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German Pages 254 [264] Year 1953
UNIVERSITÄT HAMBURG
Abhandlungen aus dem
Gebiet der Auslandskunde Band 58. Reihe B. Völkerkunde, Kulturgeschichte und Sprachen Band 32
Novellentheorie und Novellendichtung Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen von
Walter Pabst
HAMBURG CRAM, D E GRUYTER & CO. 1953
Novellentheorie und Novellendichtung Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen von
Walter Pabst
HAMBURG CRAM, DE GRUYTER & CO. 1953
Die „ A b h a n d l u n g e n aus dem Gebiet der Auslandskunde" (Fortsetzung der Abhandlungen des Hamburgischen Kolonialinstituts) erscheinen in folgenden Reihen: A . Rechts- und Staatswissenschaften (auch politische Geschichte umfassend), B . Völkerkunde, Kulturgeschichte und Sprachen, C. Naturwissenschaften, D. Medizin und Veterinärmedizin. Sämtliche Zeitschriften und Sendungen, die den Druck und die Herausgabe der A b handlungen betreffen, insbesondere sämtliche druckreifen Manuskripte bittet man zu richten An die Schriftleitung der Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde
H a m b u r g 13 Universität
Druck v o n J. J . A u g u s t i n , Glückstadt
Meiner lieben Frau
Inhalt Seite
Fragestellung und Einführung
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I. Exempla, novas und narratio in der Theorie des Mittelalters II. Italien: 1. Boccaccios Protest 2. Prologtradition und Novelle antiche 3. Die Historia de duobus amantibus im Zwielicht der Topoi 4. Masuccio : Rahmen als Maske 5. Theoretischer Nachhall : Bembo 6. Von den Einheiten zur Gattung 7. Castigliones Rückgriff auf Pontanus-Cicero Rückblick und Exkurs : Autoren gegen Theoretiker. — Der Pedante als komische Novellenfigur III. Spanien und Portugal : 1. Tradition der exempla von 1110 bis 1613 2. Cervantes: Märchen im Rahmen der Ernüchterung 3. Lope de Vegas „wissenschaftliche" Novellistik Rückblick und Exkurs : Theorie als Irreführung und Selbsttäuschung
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IV. Frankreich: 1. Eine Bedeutungsnuance von nouvelle 163 2. Die Theorie der zeithchen und räumlichen Nähe 168 3. Des Periers, Novellendichter und Antidoktrinär 174 4. Theorie und Ideal in novellistischer Umrahmung 187 5. La Fontaines ironisches Spiel mit der Antinomie 203 Rückblick und Exkurs : Das Ende der Antinomie. — Contes und nouvelles ohne Gattungsgrenzen 231 Schlußbetrachtung
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Zum Geleit
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Register
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I'estimois fort VEloquence, & i'estois amoureux de la Poesie; mais ie pensois que l'vne & Vautre estoient des dons de l'esprit, plutost que des fruits de l'estude. Ceux qui ont le raisonnement le plus fort, et qui digerent le mieux leurs pensées, affin de les rendre claires & intelligibles, peuuent tousiours le mieux persuader ce qu'ils proposent, encore qu'ils ne parlassent que bas Breton, et qu'ils n'eussent iamais apris de Rhetorique. Et ceux qui ont les inuentions les plus agreables, & qui les sçauent exprimer auec le plus d'ornement & de douceur, ne lairroient pas d'estre les meilleurs Poètes, encore que l'art Poétique leur fust inconnu. Descartes
— Discours de la Méthode, I
Fragestellung und Einführung Unser Gegenstand ist das Dilemma, in das die Dichtung gerät, wo immer eine Theorie ihr die Wege und Ausdrucksformen vorzuschreiben unternimmt ; geplant ist die Demonstration eines literarästhetischen Phänomens am Beispiel der italienischen, spanischen und französischen Novellistik : eines Konfliktes, der in diesem Zweig der Erzählkunst — wie ihn die romanistische Forschung ohne einengende Gattungstheorie zu verstehen pflegt — nicht auf den Kampf zwischen schöpferischen Autoren und logisch erkennenden Doktrinären beschränkt bleibt, sondern den Dichter gelegentlich mit sich selbst entzweit und seine künstlerischen Aussagen für Mit- und Nachwelt verhüllt oder entstellt. Hauptanliegen dieser Untersuchung wird es sein, o f f e n e A u f l e h n u n g v o n N o v e l l i s t e n g e g e n t h e o r e t i s c h e Z u m u t u n g e n und gegen den Zwang der literarästhetischen Tradition nachzuweisen. Ungewöhnliche Begabung verleiht Autorität, und wir dürfen vermuten, daß gegen das Diktat des Katheders sich bedeutende Novellendichter erhoben, daß mit ihnen Autorität der Schaffenden gegen „Gesetz" steht. Aufgabe eines Restaurators von Werken der bildenden Kunst ist es mitunter, von fremder Hand übermalte Bilder freizulegen; seine Behutsamkeit und Schonung gelten allein dem durch minderwertige Zutat verfälschten oder verdeckten, in der ursprünglichen Gestalt wieder herzustellenden Werk. Die Zutat des Fremden, Unbedeutenden, vielleicht Unbekannten gilt wenig oder nichts; sie darf ohne Bedauern beseitigt oder vernichtet werden. — Mögen uns hin und wieder analoge Fälle begegnen — Übersetzungen, Bearbeitungen, Kompilationen oder Fälschungen —, die schwierigeren Nachweise der Antinomie werden aus Werken zu erbringen sein, die ein und dieselbe Hand geschaffen und „übermalt", gedichtet und verhüllt, ausgesagt und bewußt „maskiert" hat. Zweites Hauptanliegen ist es also, die theoretische „Maske" unzerstört vom dichterischen Werk zu lösen und mit ihm zu konfrontieren. Obwohl Schöpfungen ein und derselben 1
Novellentheorie
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Hand, werden beide sehr verschiedenes Gewicht haben : die auf literarische Konstanten, Traditionen, ästhetische Dogmen Rücksicht nehmende T a r n u n g auf der einen, die ehrliche A u s s a g e des Dichters auf der andern Wagschale. Und doch werden solche Nachweise der Antinomie, der Unstimmigkeit von Theorie und Praxis in ein und demselben Werk, Fälle erfreulicher „Entlarvung" sein; denn große urwüchsige Begabungen verfügen auch über hohe Verstellungskünste ; sie sind Meister auch in der Tarnung. Werden aber Rebellion und Tarnung überall klar zu scheiden sein ? Sie werden sich berühren, sich überschneiden, sich vermischen. Denn die wichtigsten Waffen der Dichtung im Kampf gegen das „Gesetz" sind Gehorsamsverweigerung und scheinbarer Gehorsam, das Nein und das Als ob. Das Verhältnis der großen Novellisten zu Theorie und Gattungsgesetz heißt: I r o n i e . Wie verhält sich dagegen das Mittelmaß vor dem „Gesetz" ? Wenige Beispiele werden genügen, um zu zeigen, welch spärlichen ästhetischen Genuß eine im Bewußtsein der Gattungsgrenzen, nach Topik und Regeln fromm erzeugte Novellistik zu vermitteln vermag. Wird aber, wer mit der Tradition gebrochen hat und sich eigene Gesetzesschranken, ein individuelles Dogma errichtet — wie Lope de Vega —, im selbstgeschaffenen Notstand glücklich sein ? Oder wird auch ihn aus den eigenen Fesseln nur Ironie befreien ? Häufig fällt dem Prooemium oder Widmungsbrief, dem Prolog oder der Rahmenerzählung von Novellenzyklen oder Einzelnovellen der Auftrag zu, das Erzählte gegen den Andrang theoretischer Postulate abzuschirmen. In der Unstimmigkeit von Prooemium und Narratio kann die Antinomie von Theorie und Dichtung verziffert sein. Es ist das dritte Anliegen dieser Arbeit, die F u n k t i o n des R a h m e n s und die Möglichkeiten einrahmender Verklammerung bis in die bloße Präsenz eines fiktiven Unterredners hinein unter den Aspekten der Antinomie zu erhellen. Aber auch mit dem Hinweis auf die vorübergehende historische Konvergenz und Verzahnung von Antinomie und Rahmen glauben wir kein „Gesetz" und kein Gattungsmerkmal gefunden zu haben. — In vorbereitenden Studien wurde jedem der beiden Phänomene in seinem abgesonderten Bereich nachgegangen 1 ). Sie bleiben grundsätzlich gesonderte Probleme, obgleich das Verhältnis von Rahmen und Erzählung häufig die Antinomie von Theorie und Dichtung spiegelt, und obwohl die ironische Zerstörung der Antinomie sich in einem rahmenlosen Novellenwerk des 17. Jahrhunderts vollzieht. Weder ist Antinomie das Gesetz des Rahmens noch der Rahmen ein Symptom literarästhetischer Inkongruenz. *
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Über mehrere Jahrhunderte erstrecken sich die Bemühungen französischer und italienischer Theoretiker um die Aufrechterhaltung und Wiederbelebung aus der !) „U Intelligenza", eine Rahmenerzählung, in Romanistisches Jahrbuch I, Hamburg 1947 bis 48, S. 276ff. (bei Hinweisen im Folgenden = R J b I); Die Theorie der Novelle in Deutschland, (1920—1940), Forschungsbericht in Romanistisches Jahrbuch II, Hamburg 1949, S. 81 ff. (bei Hinweisen im Folgenden = R J b II). Ebda, bibliographische Angaben zur Fachliteratur.
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Antike überkommener ästhetischer Traditionen. Auf solchen Doktrinen beruhende Gattungsgesetze und Normen der Poetik wurden in der Renaissance zu autoritärer Macht erhoben. Diesen Traditionen und Lehrmeinungen haben berufene Sachkenner in jüngerer und jüngster Zeit umfassende Untersuchungen gewidmet1). Im Anschluß an die ersten kritischen Editionen, Übersetzungen und Kommentare der „Poetik" des A r i s t o t e l e s und der „Ars poetica" des Horaz 2 ) begann in Italien im 16. Jahrhundert eine Blütezeit der Theorien und eine für das Schicksal der Dichtung entscheidende Epoche des Polemisierens über Formgesetze. Neben Traktaten, deren Bedeutung sich auf Italien beschränkte3), wurden Bischof Vidas De arte poetica (1527), Scaligere lateinische Poetik in sieben Büchern (Agen 1561) und C a s t e l v e t r o s Kommentar zur „Poetik" des Aristoteles (1570, Basel 21576) für das übrige Europa, namentlich für Frankreich, wichtig. Ein Teil der in Italien aufgestellten Lehren kam durch die Schriften der in Holland wirkenden Humanisten Daniel H e i n s i u s (De tragoediae constitutione, 161 Iff.) und Gerhard Johann V o s s i u s (De artis poeticae natura ac constitutione; Poeticae in-
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) Marcelino M e n é n d e z y P e l a y o , Historia de las ideas estéticas en España, Madrid 1883—91, 2 1890—1901, Bd. I u. I I ; Eug. L i n t i l h a c , Un coup d'État dans la république des lettres: Jules César Scaliger, fondât, du classicisme cent ans avant Boileau, in Nouv. Revue X L I V (1890), S. 333—46, S. 528—47; E d u a r d N o r d e n , Die antike Kunstprosa vom Vl.Jahrh. υ. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, 2 Bde., Lpz. 1898, 2 1909; I. E . S p i n g a r n , A History of Literary Criticism in the Renaissance, with special reference to the influence of Italy in the formation and development of modern classicism, New York, Col. Univ., 1899; Georges S a i n t s b u r y , A History of Criticism and Literary Taste in Europe from the earliest Texts to the present Day, Bd. I I : From the Renaissance to the Decline of eighteenth Century Orthodoxy, Edinb. and London, 1902; K . B o r i n s k i , Die Antike in Poetik und Kunsttheorie vom A usgang d. class. Altert, bis auf Goethe u. W. v. Humboldt, in Das Erbe der Alten, H . 9/10, Leipz. 1914; Benedetto C r o c e , Estética come scienza dell'espressione e linguistica generale, Bari 5 1922, I I (Storia), K a p . I I , I I I , X I X 2 u. Bibliographie S. 535ff.; René B r a y , LaFormation de la Doctrine Classique en France, Lausanne-Genève-Neuchâtel-Vevey-Montreux-BerneBâle 1931, mit weiteren Literaturangaben S. 367ff.; J . F . D ' A l t o n , Roman Literary Theory and Criticism, London 1931; A. S c h i a f f i n i , Tradiz. e poesia nella prosa d'arte ital. della latinità medievale a G. Boccaccio, Genova 1934; W. M u l e r t t , H . G m e l i n , W. G i e s e , M. B l o c k , Kultur der romanischen Völker, Potsd. 1939, bes. S. 163ff. u. 174ff.; E r n s t Robert C u r t i u s , Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 1948 (bei Hinweisen im Folgenden = Curtius ELLM). 2 ) Aristoteles: erste lat. Übersetzung d. Ital. Georgius V a l l a , Venedig 1498; in Italien besorgter Erstdruck des griechischen Textes, 1503; zweite lat. Übersetzung d. Ital. Alexander P a c c i u s , 1536; Textausgaben mit gelehrten Kommentaren der ital. Humanisten R o b o r t e l l i , 1548, Bernardo S e g n i , 1549, M a g g i , 1550, V e t t o r i , 1560, P i c c o l o m i n i , 1575, Paolo B e n i , 1613. — Horaz: erste ital. Übersetzung von D o l c e , 1535. 8 ) U . a. T r i s s i n o , Poetica (ital., 4 Bücher), 1529; D a n i e l l o , Poetica (ital.), 1536; M u t i o , Arte poetica, 1551; G i r a l d i C i n t h i o , Discorsi (Intorno al comporre delle comedie e delle tragedie) 1543, (Intorno al comporre dei romanzi) 1548; F r a c a s t o r o , Naugerius, sive de Poetica, 1555; M i n t u r n o , De poeta, 1559; Derselbe, Arte poetica, 1563; T r i s s i n o , Poetica (ital., 2 weitere Bücher) 1563; Franc. P a t r i z z i , Della Poetica, 1586; Torquato T a s s o , Discorsi, 1587 u . 1594. — Gegen die Autorität des aristotelischen Dogmas richteten sich die Arbeiten von Giraldi Cinthio und F r . Patrizzi. Der eigenwilligste und unabhängigste Kommentar war der des C a s t e l v e t r o . Der namhafteste italienische Dichter, der sich f ü r die Freiheit der K u n s t von jeder Doktrin einsetzte, war G u a r i n i . l*
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stitutiones; De imitatione; 1647) zur Kenntnis der Franzosen1). Frankreichs doktrinäre Neigungen empfingen durch den Aristotelismus der Italiener entscheidende Impulse. Dies beweisen die Préface à l'Adonis (1623) und Les Sentiments de VAcadémie française sur la tragicomédie du Cid (1638) von Chapelain 2 ), sowie R a c i n e s , C o r n e i l l e s und anderer französischer Dichter Kenntnis italienischer Theorien. Im einzelnen bietet sich hier der Forschung noch ein weites Feld 3 ). Da man glaubte, in den Lehren des Aristoteles und des Horaz Rezepte gefunden zu haben, nach denen die Dichter der Antike gearbeitet, und da man im 17. Jahrhundert kein höheres Ziel kannte, als es den „Alten" gleichzutun, steigerte sich das Theoretisieren zum wahren Aristotelesfanatismus. Seine hervorragendsten Vertreter wurden Chapelain, S c u d é r y und La M é n a r d i è r e . Den Höhepunkt erreichte die Bewegung zwischen 1635 und 1655. Auf den Sockel des durch Beimischung eigenwilliger italienischer Interpretationen und römisch-horazischer Nützlichkeitsthesen verzerrten Aristotelismus wurden vielerlei Vorschriften, Regeln und Gesetze erhoben. Aber wenn einerseits das scheinbar Neue auf eine ehrwürdige, weit ins Mittelalter hinaufreichende Tradition zurücksah (Kunstwerke ohne moralischen Nutzen wurden verpönt ; der Dichter sollte im Vollbesitz von „Genie", „Ars" und „Wissenschaft" sein; den unumstößlichen Regeln der Wahrscheinüchkeit, der Schicklichkeit, der Einheiten von Handlung, Episoden, Ort, Zeit und Stimmung hatte sich seine Aussage zu unterwerfen4) ; durch Nachahmung der „Natur" hatte es ein jeder den „Alten" gleichzutun5)) —, wenn dies René Bray a. a. O. S. 39. ) Typisch f ü r die Antinomie von Theorie und dichterischer Praxis erscheint es, daß derselbe Giambattista M a r i n o , dessen Adone der französischen Öffentlichkeit durch C h a p e l a i n s Préface, den eigentlichen Katechismus der Doctrine Classique, vorgestellt wurde, in einem Brief an Girolamo Preti alle Regeln verdammte : „Io pretendo di sapere le regole più che non sanno t u t t i i pedanti insieme; m a la vera regola è saper rompere le regole a tempo e luogo, accomodandosi al costume corrente e al gusto del secolo" (Marino, Lettere, Venezia 1627, S. 127, zit. bei Croce a. a. O. S. 498). Zur Abtrennung der Dichtkunst von der moralisierenden Rhetorik bei Marino das in F n . 5 unten genannte Tassobuch Ulrich L e o s (S. 124ff.). s ) Ernest Β o v e t , La préface de Chapelain à l'Adonis, in Aus roman. Sprachen und Literaturen, Festschrift H . Morf, Halle 1905, S. 1—52; L a n s o n , Compte-rendu de la Préface à l'Adonis, in Rev. Univers. 1905, S. 414; Colb. S e a r l e s , Italian Influences as seen in the Sentiments of the French Academy on the Cid, in The Romanic Review 1912; R . Bray a. a. O. Chap. I I I , mit weiteren Literaturangaben ; ebda. S. 48 : ,,ΙΙ y aurait encore bien des rapprochements à faire. Espérons qu'on y travaillera de plus en plus : il y a là une importante lacune à combler". Sämtliche kritische Schriften Chapelains i n : J e a n C h a p e l a i n , Opuscules critiques publiés sous le patronage de la Soc. des Textes Français Modernes avec une Introduction par A. C. H u n t e r , Paris 1936. 4 ) Auswirkungen der von Italien ausgehenden Lehre von den Regeln sind in ganz Europa fühlbar: L o p e d e V e g a , Arte nuevo de escribir comedias, 1609; Philip S i d n e y , Apology for Poetry, 1595; L a u d u n , Art poétique, 1598; V a u q u e l i n d e l a F r e s n a y e , Art poétique, 1605. Die Regeln beschränkten sich in Frankreich seit 1630 nicht n u r auf die großen Gattungen, sie wurden analog auch auf die kleineren Genres (Rondeau, Satire, Ballet) angewandt. Von 1640 a b ist ihre absolute Herrschaft in Frankreich gesichert. (Bray a. a. O. S. 108 u. S. 305—06.) — Über das Verhältnis des Dichters zur Wissenschaft: Curtius, Zur Geschichte des Wortes Philosophie im MA., in R F L V I I (1943), S. 302ff. 5 ) Die Vorstellung vom Nutzen der Poesie war ein altrömisches Element. Durch Ciceros Rede pro Archia poeta und durch die horazische „Ars poetica" (Ep. ad Pisones) ging sie in 2
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zwar die ehrwürdige Tradition war, so berief man sich auf sie doch nicht überall mit Recht. Wollte man doch Gesetze und Regeln des Stagyriten für literarische Genera gelten lassen, die er nicht gekannt hatte — wie für den Roman —, lobte man doch als Aristotelismus, was Horaz oder Scaliger abgelauscht war — wie das Grundgesetz vom moralischen Nutzen, dessen beispielhafte Erfüllung ein S carrón an den Novellen der Spanier so sehr bewunderte1). Schon in den Anfängen dieser Bewegung, soweit man die Anfänge in der Renaissance suchen darf, hatte der Italiener Giraldi C i n t h i o in seinem Traktat Intorno al comporre dei romanzi (1548) die Romane als moderne Erzählform dem Geltungsbereich antiker Traditionen und Doktrinen, vor allem der Vorschrift der Einheit der Handlung zu entziehen versucht2). Was er für die Romane geltend machte, hätte auch den Novellen zugutekommen können, waren sie doch wie jene in der Antike nicht als eigenständiger Ausdruck unterschieden worden3). Auch im Frankreich des 17. Jahrhunderts fehlte es nicht an Versuchen, jüngeren Ausdrucksarten der Erzählkunst wenigstens einige Freiheit zu sichern. Das bedeutendste Beispiel dieser Art dürften La F o n t a i n e s „Préfaces" zum ersten und zweiten Teil seiner Contes et Nouvelles (1665, 1666—67) sein. Sie werfen grelles Licht auf die Situation eines Novellenautors im Zeitalter hochblühender literarischer Gesetzgebung. Da heißt es unter anderem: „II faut laisser les narrations étudiées pour les grands sujets, et ne pas faire un poème épique des aventures de Renaud d'Ast. Quand celui qui a rimé ces nouvelles y auroit apporté tout le soin et l'exactitude qu'on lui demande, outre que die literarästhetische Tradition ein. Quintilian forderte für die Schule die Lektüre moralisch wertvoller Dichter. — Die Idee, daß zum Dichten universales Wissen gehöre, ist ebenfalls antik. Schon Quintilian hielt Homer für aller Wissenschaften kundig. Seit dem 4. Jahrh. n. Chr. galt Virgil als Kenner aller Wissenschaften. Schließlich forderten die Poetiken des 12. Jahrh. vom Dichter enzyklopädisches Wissen. Man vgl. Curtius ELLM. S. 211, 436ff., 533. — Das Prinzip der Imitatio in den romanischen Literaturen der Renaissance behandelt H . G m e l i n , Erlangen 1932. Über die Kontinuität dieses Prinzips seit der Antike vgl. man Curtius ELLM S. 123, 358, 463, 483, 544. In ZrPh LVIII (1938) S. 230 charakterisiert Curtius den Unterschied zwischen ma. und Renaissance-Imitatio : „Ein Tasso hatte den klaren Vorsatz, ein klassisches Epos auf dem Wege der Imitatio zu liefern. Das MA. kennt d i e s e Form der Imitatio nicht. [ . . . ] Die ma. Poesie hält sich weniger an Modelle als an rhetorisch-poetische Vorschriften, die teils als Lehrgut überliefert, teils aus der Erklärung von Musterdichtern belegt werden." — Bedeutende Beweise für die Antinomie von Theorie und dichterischer Praxis bringt neuerdings, im Zusammenhang mit der Untersuchung der „imitatio": Ulrich L e o , Torqu. Tasso, Studien ζ• Vorgeschichte des Secentismo, Bern 1951, bes. Teil II, Kap. 3ff. Über die Unabhängigkeit der spanischen Dichtimg vom Aristotelismus : Curtius ELLM in den Exkursen über spanische Kunsttheorien ; Bray a. a. O. Chap. I I (L'Influence des théoriciens espagnols); über S c a r r o n und die moralisierende Theorie des Romans in Frankreich, der sich im 17. Jahrh. allein L a C a l p r e n è d e mit dem Geständnis widersetzt: „Mon unique but est mon divertissement", ebda. S. 70. ») Bray a. a. O. S. 35. s ) Über die Stellung der in der hellenistischen Spätzeit entstandenen schwankhaften Συβαριτικά und erotischen Μιλησιακά: Erwin R o h d e , Über griechische Novellendichtung und ihren Zusammenhang mit dem Orient, Vortrag 1875, in Der griech. Roman und seine Vorläufer, Lpz. 8 1914.
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ce soin s'y remarqueroit d'autant plus qu'il y est moins nécessaire, et que cela contrevient aux préceptes de Quintilien, encore l'auteur n'auroit-il pas satisfait au principal point, qui est d'attacher le lecteur, de le réjouir, d'attirer malgré lui son attention, de lui plaire enfin: car, comme l'on sait, le secret de plaire ne consiste pas toujours en l'ajustement, ni même en la régularité ; il faut du piquant et de l'agréable, si l'on veut toucher. Combien voyons-nous de ces beautés régulières qui ne touchent point, et dont personne n'est amoureux?" 1 ) Aber wie die Romane sich auf die Dauer dem Zwang der Doktrin nicht entziehen konnten und sich vielfach den Regeln unterwarfen, die ursprünglich für epische Gedichte geprägt waren — mit dem kleinen Unterschied, daß ,,Le roman doit avoir plus d'amour que de guerre, et le poème épique plus de guerre que d'amour" 2 ) —, wie sie den Regeln der Einheit der Handlung, manchmal sogar der Zeit und des Ortes, des merveilleux, der bienséance, vor allem aber der vraisemblance unterliegen sollten —, gehorchten so dem Dogma auch die Novellen ? Die Frage, ob die Renaissance eine spezielle Doktrin der Novelle aufgestellt habe, ist nicht mit der Feststellung abzutun, daß die Dogmatiker nur den großen Gattungen (Tragödie, Heldenpoem u. dergl.) ihre Aufmerksamkeit schenkten und daß das aristotelisch-horazische Gesetz in Analogie ohne weiteres auf die kleineren Ausdrucksformen angewandt worden sein muß 3 ). Die Autorität des Dogmas war so groß, daß die Novellisten nicht stillschweigend an ihm vorübergehen konnten und daß viele von ihnen, meist in Vorworten, Einleitungen, Rahmenberichten, zur Theorie Stellung nahmen. Freilich stehen diese theoretischen Äußerungen häufig im Gegensatz zur dichterischen Praxis. Der späte Betrachter gewinnt den Eindruck, daß starke künstlerische Potenzen es meist mit geistreicher Dialektik und liebenswürdiger Verbeugung vor der Kritik so darzustellen verstanden, als ob sie genau nach den Vorschriften der Doktrin gearbeitet hätten —, was in Wirklichkeit nur die Vertreter des Mittelmaßes, die novellatori minori taten. So läßt sich aus den Prooemien und Préfaces eine No1
) Les grands Écrivains de la France, Oeuvres de La Fontaine, IV, S. 146—47. ) C o r a s , préface de „Josué", dazu Bray a. a. O. S. 347—49. — Symptomatisch ist eine gewisse Tendenz zur „Freiheit der Form" schon in ma. Romanen, für die es — ebenso wie für jede andere Axt der Dichtung — poetische Gesetze gab. Edmond F a r a i , Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIle siècle, Recherches et documents sur la technique littéraire du MA., Biblioth. de l'école des hautes études, 238. fase., Paris 1924, S. 60, bemerkt dazu: „Beaucoup de romans et des plus réputés, manquent totalement d'unité et de proportions. On se l'explique si l'on considère qu'ils n'ont pas été faits, en général, pour soutenir l'examen d'un public qui lisait et pouvait commodément juger de l'ensemble, mais pour être entendus par des auditeurs auquels on les lisait épisode par épisode". — Wir werden öfter auf die ma. und antiken Quellen der poetischen Doktrinen zu verweisen haben. Hier sei nur vermerkt, daß die Einheitsregeln auch in den Poetiken des MA. zu den selbstverständlichen Forderungen der Theorie gehören. Man vergi, u. a. Farai a. a. O. S. 315—17. 8 ) In der Tat widerspräche dies auch der Gattungsfreudigkeit der Doktrin. — In Joachim D u B e i l a y s Deffence et Illustration de la Langue francoyse (1549) begegnen weder „exemple" noch „histoire", weder „conte" noch „nouvelle". Auch A. R o s e n b a u e r , Die poet. Theorien der Plejade nach Ronsard u. Dubellay. Ein Beitr. z. Gesch. d. Renaissancepoetik in Frankreich (Münch. Beitr. z. rom. u. engl. Philol., X) Erlangen-Lpz. 1895, erschließt Diesbezügliches weder in den Untersuchungen über das Epos noch über die Komödie. 8
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vellendoktrin erschließen, die im Grunde nichts anderes ist als eine raffinierte oder ironische Replik der Dichtung auf das Kommando der Kritik. Ist es aber erst in der Renaissance so gewesen ? Soll man vermuten, daß die Novellen als junge Erzählart von Anfang an eine eigene Theorie hatten ? Aber wo liegt der „Anfang" ? Die Frage, seit wann es Novellen im weiteren Sinne gibt, wird kaum zu beantworten sein. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß der literarisch belegten eine ungeschriebene oder wenigstens verschollene mittelalterliche Novellistik vorausgegangen sein muß, die alle Möglichkeiten zur künstlerischen Entwicklung in sich trug. Man bedenke nur das analoge Beispiel der verlorenen milesischen und sybaritischen Stadtgeschichten! ,,Die an witzigen Einfallen nicht arme lateinische Literatur des frühen Mittelalters — sagt Olschki 1 ) — hat weder indische, noch persische, noch arabische Quellen aufzuweisen. Die vulgären Schwanke achtete man nicht eines Pergamentblattes wert, und sie verbreiteten sich durch mündliche Wieder- und Nacherzählung in privaten Kreisen und öffentlichen Zusammenkünften. Wenn man die Existenz einer vulgären Erzählungsliteratur vor den orientalischen Einflüssen ebenso ableugnet, wie die der Heldengeschichte vor ihrer Niederschrift, so kann man sich kaum etwas vorstellen, was die „joculatores" vor 1100 ihrem Publikum vorzutragen pflegten". Diese ungeschriebene Novellistik dürfte auch in theoretischen Äußerungen kaum belegt oder beschrieben sein2). Wohl aber sind es die Exempla, die einen ersten Einblick in den Bereich der Novellistik bieten mögen.
I. Exempla, novas und narratio in der Theorie des Mittelalters Aus der lateinischen und vulgärsprachlichen Predigtliteratur des Mittelalters hat die Forschung eine Fülle moralischer E x e m p l a erschlossen, die ausdrücklich und systematisch zur Illustration, Auflockerung und Aufrechterhaltung der Spannung in die Sermone eingestreut zu werden pflegten. Wenn sie auch zunächst kein selbständiges literarisches Gewächs waren, so dienten sie doch — und das ist ihre literarische Seite — dem Zweck belehrender Unterhaltung; einer Aufgabe, die seit Horaz als mehr oder minder moralistisches Grundgesetz der Dichtung galt, die in verändertem Sinn und in Anlehnung an die Traditionen des spanischen Mittelalters auch Cervantes in den Novelas Ejemplares erfüllte. Das von dem 1294 verstorbenen Dominikanergeneral E t i e n n e de B e s a n ç o n zusammengestellte Alphabetum Exemplorum und spätere Kompilationen beLeon. O l s c h k i , Die roman. Literaturen des MA., in Handb. der Literaturwissensch., Wildpark-Potsdam 1928, S. 131. 2 ) Ihre Existenz und humoristische Art scheint im 12. Jahrh. J o h a n n v o n S a l i s b u r y durch die Bemerkung zu bezeugen, daß der Weise auch kurzweiligen Vorführungen beiwohnen dürfe: nec apologos refugit aut narrationes aut quaecumque spectacula (Polieraticus 106 C) [zit. bei Curtius in R F 53 S. 7]. — Von ungeschriebenen Erzählungen spricht Lope de Vega in der Einleitung zu seinen Novellen, „A la Señora Marcia Leonarda" (Novelas de Lope de Vega, Clásicos Españoles, Valencia, Prometeo, o. J., S. 5) ; dasselbe in BAE XXXVIII.
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weisen, daß die Exempla sich als Fremdkörper von den Predigten abhoben, daß die Kirche sich offiziell dieser literarischen Hilfe bediente. Nicht nur ist das „Alphabetum" eine Art Zitatenschatz für Prediger, sondern der Kompilator stellt auch die Überlegenheit der Exempla über die nur dogmatische Predigt fest. „Exempla plus movent quam praedicatio subtilis", ja unter Berufung auf B e d a kann auf die Überzeugungskraft der Exempla bei der Christianisierung Englands verwiesen werden1). Vor Etienne hatte schon A l a n u s v o n L i l l e die Anwendung der Exempla empfohlen2), aber kanzelfähig scheinen sie seit Gregor d e m G r o ß e n um die Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert gewesen zu sein. Daß die Exempla bei der Weckung des Sinnes und Geschmacks für novellistische Erzählweise eine wichtige Rolle gespielt haben, da sie das Allgemeine auf den Einzelfall zurückführten und am vorbildlichen oder bemängelnswerten Verhalten des Individuums die Bedeutung der Universahen erläuterten, leuchtet nicht nur ein, sondern ist erwiesen und literarisch belegt. Es ist dabei nur zu unterscheiden, daß es Exempla verschiedener Herkunft und daher auch verschiedene lehrhafte Quellen abendländischer Novellistik gegeben hat. Neben den Beispielen christlichdogmatischer Provenienz gab es die auf dem Umweg über Nordafrika, Spanien und Sizilien durch die Araber importierte orientalische Exemplaliteratur, die ihren ersten abendländischen Niederschlag Anfang des 12. Jahrhunderts in der Disciplina Clericalis des P e t r u s A l f o n s i fand. Diese unterhaltende Mönchsweisheit des Ostens bereicherte, obgleich fremdartigen Charakters, das europäische Erzählrepertoire nicht unwesentlich3). Aber die Exempla sind nicht Erfindungen der Kanzel und des Mittelalters. Die 1
) Zitiert in Introduction zu Les Contes Moralises de Nicole Bozon frère mineur, p. p. la première fois d'après les ms. de Londres et de Cheltenham, p. Lucy T o u l m i n S m i t h et Paul M e y e r , Soc. des Anciens Textes franç., Paris 1889, S. X I . — Zur „Technik" der ma. Predigten: Étieime G i l s o n , Michel Menot et la technique du sermon médiéval, in Les idées et les lettres, Paris 1932, S. 93—154. 2 ) Summa de arte praedicatoria, in M i g n e , Patrologiae cursus completus, Series latina, CCX S. 114. 3 ) Die mittellateinische Exemplaliteratur wurde erst in neuerer Zeit teilweise erschlossen. Wir verweisen auf die Ausgaben in der in Heidelberg begonnenen „Sammlung mlat. Texte", hrsg. von A. H i l k a (1. Die Disciplina Clericalis des P. Alfonsi, 1911 ; 2. Exempla aus Handsehr. d. MA., 1911; 7. Johannes Monachus Liber de Miraculis, 1913; 9. Die Exempla zu den Sermones feriales et communes des Jakob von Vitry, 1914). In den Einleitungen der Hsg. Wichtiges über die Problematik der Exempel und weitere Literatur. Hier noch die Titel einiger ma. Sammelwerke: Thomas C a n t i p r a t a n u s , Bonum universale de Apibus; Caes a r i u s von Heisterbach, Dialogue Miracolorum; É t i e n n e de B o u r b o n , De diver eis materiis praedicabilibus, sowie Anecdotes historiques; Johannes G o b i i Junior, Scala caeli; Johann H e r o l t , Promptuarium Exemplorum Discipuli. Auch die spät kompilierten Gesta Romanorum sind durch den dogmatisch moralisierenden Kommentar zu jeder Geschichte als Exemplasammlung ausgewiesen. Der Engländer E u d e d e C h e r i t o n hinterließ Exempla in drei Predigtsammlungen und eine Fabelsammlung (um 1219 ?), die als Vorlage für das im 14. Jahrh. entstandene kastilianische Prosabuch El libro de los Gatos diente. Auf Tausende unausgebeuteter Predigthandschriften verwies Joseph K l a p p e r im Vorwort zu Slg. mlat. Texte Bd. 2 a. a. O. Besonderer Beachtung würdig sind der Prologus des P. Alfonsi zur Disciplina Clericalis (vgl. uns. Kap. II 2) und der des Jakob v. Vitry zu seiner Exemplasammlung.
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„Theorie, wonach die Geschichte eine Sammlung von exempla darstellt", — so konstatiert Ernst Robert C u r t i u s in seinen Mittelalterstudien 1 ) — war „für die gesamte spätantike, mittelalterliche, Renaissance- und Barockliteratur" von eminenter Bedeutung; aus einem lateinischen Gedicht des B a u d r i v o n B o u r g u e i l (1046—1130) lasse sich eine „förmliche Theorie der exempla" mit folgender Tendenz erschließen: man muß „die g e s a m t e literarische Tradition (quaevis mundi littera) dem moralischen Zweck der Dichtung nutzbar machen, so daß die ganze Menschheit (omnis et omnis homo) zu Worte kommt und die ganze Welt gleichsam eine Sprache spricht". Aus dieser und anderen westfranzösischen Poetiktraditionen führe der Weg zur „Grundstruktur von Dantes Poesie und seiner Handhabung der exempla", der auffallenden Parallelordnung christlicher und heidnischer Beispielfiguren. Der Gebrauch der Exempla als Einleitungstopoi (in Prooemien und Prologen) erweist sich älter als die Poetiken des 12. Jahrhunderts 2 ). Die literarische Hochschätzung der Beispiele beweist im 14. Jahrhundert ihre Erwähnung und Beschreibung in dem poetikartigen Traktat Las Leys d'amore, der, auf Veranlassung der 1324 in Toulouse entstandenen Gesellschaft der „gaia sciensa" (Dichtkunst) geschrieben, „novas" und „novelas" unerwähnt läßt. Dem Exempel widmete sein Verfasser folgende Würdigung unter dem Stichwort „paradigma": „Aquesta figura se fay tostemps qu' om reconte alqun yssemple o alquna hystoria de la Scriptura a nostra estructio. [ . . . ] Ayssi quo dizo soen li religiös en lors sermos. E t cant han pro parlat, il dizo soen a la f i de lor paraulas ayssi : E que aysso sia vertat, comtar vos hay un ysshemple : Lieg se en aytal loc que una ves fos us hermitas . . . " 3 ). Die Erwähnung des Paradigma als einer figura, als einer der provenzalischen Dichtung bekannten „Form", gewinnt an Bedeutung, w e i l F r a n c e s c o d a B a r b e r i n o (1264—1348), der wichtigste Vermittler !) ZrPh LIX (1939) S. 178ff.; auch Curtius ELLM S. 366ff. sowie ZrPh LXIII (1943) S. 249. 2 ) Über die Verwendung der Exempla bei Dante ferner: Curtius in R F LVII (1943) S. 167—75; A. B u c k , Grundzüge der ital. Geistesgeschichte (Erbe und Schöpfung Nr. 12) Urach 1947, bes. S. 35: „Die Begegnung, in der die Beispielerzählung zum Dialog verlebendigt wird, ist Dantes ureigenste Schöpfung". — Farai a. a. O. S. 58—59: Hinweis auf eine von J e a n d e G a r l a n d e erwähnte Sonderform kunstreichen Auftaktes, die darin bestand, einen Prolog und eine summarische Inhaltsangabe, ein „Argumentum", voranzuschicken. Nach Farai bezieht sich die Mitteilung anscheinend auf die Komödie. Der Brauch habe im MA. bei der sog. elegischen Komödie fortbestanden (Beispiele: Querulus und Geta von V i t a l i s ) . — Bedenkt man, daß z . B . die volkstümliche ital. Novellistik des 14. und 15. Jahrh. (die sog. beffe) stofflich oft aus den elegischen Komödien herkommt, so mag damit auch die Brücke sichtbar werden, über die das „Argumentum" als Requisit des Novellenauftaktes in die Renaissance gelangte. Bekanntlich stellt das „Argomento" in der Renaissancenovellistik fast durchweg einen Bestandteil des Titels dar. — Über Verwendung der Exempla im Auftakt altfranz. Romane : Farai a. a. O. S. 60; dazu G e o f f r o y d e V i n s a u f , Poetria Nova, Vers 141—50 (ebda. S. 201); Analyse von Garlandes Poetria ebda. S. 379 (III P. 905). — Dazu auch D o r n s e i f f , Literarische Verwendung des Beispiels, in Vorträge der Biblioth. Warburg 1924—25, Lpz. 1927, S. 206ff.; J. Th. W e l t e r , Uexemplum dans la littérature religieuse et didactique du MA., Paris 1927; Hildegard K o r n h a r d t , Exemplum. Eine bedeutungsgesch. Studie. Diss. Göttingen 1936. Zur Herkunft des Exemplum aus der antiken Rhetorik: Curtius ELLM S. 67ff. u. S. 117. 3
) Zit. nach Introduction zu Contee Moralisés de Nicole Bozon, a. a. O. θ
provenzalischer Novellenstoffe für das Italien Dantes, die in den lateinischen Prosakommentar zu seinen Documenti d'Amore, eingestreuten Beispiele abwechselnd oder gleichzeitig „exemplum" und „novum" ( = prov. novas) zu nennen pflegte. Mit solchen exempla und nova und mit italienischen Inhaltsangaben provenzalischer Novellen trachtete er sein vor 1309, also etwa gleichzeitig mit den Documenti d'Amore begonnenes Werk Reggimento e Costumi di Donna1) um 1318—20, angeregt durch seinen Aufenthalt in Südfrankreich, aufzulockern; aus ihnen stellte er vermutlich seine leider verlorene vulgärsprachliche Sammlung Flores Novellarum oder Fiore di Novelle zusammen. In diesem Sammelwerk, das einen wesentlich anderen Charakter gehabt haben muß als die zwar zur gleichen Zeit umlaufenden, aber erst später gesammelten Novelle antiche — die Kompilationen der Cento novelle antike erschienen später als das Decameron —, dürften moralisierende Exempla und Inhaltsangaben belehrender novas der Trobadors zum ersten Mal literarisch gleichberechtigt in einer neuen Sprache neben einander getreten sein. Aber Francesco da Barberino, dem wir so bedeutende Nachrichten über verschollene provenzalische Literaturdenkmäler und vergessene Dichter Südfrankreichs verdanken, hat auch über das novellistische Element mehr verlauten lassen als die Poetik der Leys d'amors. Durch ihn allein wissen wir, daß der Trobador P e i r e R a i m o n eine Erzählweise gepflegt hat, die anscheinend weniger gravitätisch als das Exemplum war, aber doch diesem analog eine beispielhafte Überzeugungskraft auf erotischem Gebiet bewies. Ein Vorteil, den der hochliterarische Francesco da Barberino übrigens mit Skepsis glossiert. Er spricht in der Pars prima der Documenti d'Amore (Comment, fo 9a, a. a. O. I S. 90) von „novellettis" und führt als Beweis ihrer Existenz folgendes Beispiel an: „ E t dixit in lingua sua petrus Raymundi quod cum istis brevibus novellettis animum domine sue ad se honeste amandum multum adtraxerat. contra quem est Augustinus scilicet quod numquam cum eis aliter debemus loqui quam aspere. [ . . . ] securius tarnen credo consilium augustini". Zwar zeigen einerseits die theoretischen Bemerkungen über die Exempla, daß diese verwendet werden sollten, um den Gottesdienst anziehender zu gestalten; aber ein J a c q u e s d e V i t r y ging dabei oft so weit, Dinge zu erzählen, die mit seinem Predigttext überhaupt nichts zu tun hatten, die also auch keine Exempla mehr waren, sondern als Exempla getarnte unterhaltende Geschichten; ein Fall, der uns in der Novellistik mutatis mutandis immer wieder begegnen wird, da man die Unterhaltung hinter belehrender Fassade zu verstecken liebte oder zu verbergen gezwungen war. Das Novellistische war da, bevor man es eingestand. Andererseits beweist die Notiz Francesco daBarberinos von den „novellettis", daß Benutzte Ausgaben der Hauptwerke Francesco da Barberinos : I Documenti di Amore, Ediz. critica a cura di F. E g i d i , secondo i ms. originali, 4 vol. Roma 1905—27; Del Reggimento e Costumi di Donna, Ediz. per cura del conte B a u d i di V e s m e , sec. la lezione dell'antico testo a penna barberiniano, in Barberino, Opere volgari, vol. II, Bologna 1875. — Zu Franc, da Barberinos literarhistorischer Stellung: Antoine T h o m a s , Fr. da Β. et la Littérature provençale en Italie au MA., Paris 1883; E. G o r r a , Studi di critica lett., 1892; A. Zen a t t i , Una fonte delle novelle del Sercambi, in Atti d. R. Acc. lucchese X X V I I I , Lucca 1895; F. N o v a t i , I detti d'amore d'una contessa pisana, in Attraverso il ME., Bari 1905.
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auch diese Trobadorschöpfungen einen, wenn nicht moralisierenden, so doch erzieherischen oder belehrenden Zweck erfüllten. Durch Beispiele wurde die abendländische Christenheit von der Kanzel herab unterhalten; durch Geschichten wurde die Dame des Trobadors erzogen ; auch novas und novelas der Provenzalen hatten ja belehrenden Beigeschmack oder eine Moral, während ausgesprochene Lehrgedichte ( = ensenhamens) oft novellistische Einkleidung oder Einleitung erhielten. Die Novellen, über die wir auf literarisch-theoretischem Weg erste Kunde erhalten, entstanden aus dem Wunsch, die Belehrung, der ja alle Dichtung damals diente, unterhaltender zu gestalten. Wenn solches gerade in einem Zeitalter deutlich wird, das abstrakter Belehrung, alter Stoffe und breiter Epik müde 1 ) sich nach Unterhaltung und kurzweiliger Anregung sehnte, so ist damit nicht die Entstehungszeit „der Novelle" nachgewiesen, sondern nur eine Begleiterscheinung novellistischen Ausdrucks, die auch zu anderen Zeiten, nicht nur in epigonalen Leistungen wie E r i z z o s Le sei Giornate im Cinquecento, sondern auch bei Marg a r e t e v o n N a v a r r a , C e r v a n t e s und G o e t h e begegnet 2 ). So lassen sich den frühen theoretischen Äußerungen zwar Hinweise auf gewisse Traditionen, aber keine Gattungstheorien und vor allem keine ästhetischen Kriterien für die Beurteilung einzelner Werke abgewinnen. Doch gestatten diese Äußerungen, wenn man sie mit bekannten Tatsachen in Zusammenhang bringt, Rückschlüsse, die den Gedanken einer gattungsmäßigen Entwicklung, etwa von der primitiven zur hochliterarischen Novelle, von vornherein ausschließen. Die als gelegentliche Begleiterscheinung novellistischer Intuition, nicht als Gattungsmerkmal, erkannte Akzentverschiebung vom Belehrenden ins Unterhaltende ist nicht an eine Epoche gebunden, obgleich sie in einer bestimmten Zeit, an der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance offenbar besonders günstige Bedingungen vorfand. Sie wiederholt sich in verschiedenen Zeitaltern und in verschiedenen Künstlertemperamenten, und wenn es in dieser oder jener Epoche an 1
) Über die Eposmüdigkeit im 12. Jahrh. und als typische Situation in der Geschichte aller Literaturen und über die daraus erklärliche Bevorzugung anderer Gattungen: Curtius, Der Archipoeta und der Stil der ma. Dichtung, in R F 54 (1940), S. 131. Daß die Neigung zur Novellistik auch mit der Alternative amplificatio-brevitas im 13. Jahrh. (ebda. S. 126—29) in Zusammenhang gebracht werden darf, scheint aus Gottfried von Vinsauf, Poetria Nova (um 1210) hervorzugehen, wo als Beispiele für brevitas drei Kurzfassungen des Schwankes vom Schneekind, also eines Novellenmotivs, angeführt werden. — Das Ausspielen der „Neuigkeiten" gegen das allzu bekannte alte epische Repertoire gehörte ja zu den Merkmalen ma. Dichtimg. Curtius, der dies am Beispiel des mlat. Cid-Rhythmus demonstriert („nova bella", Vers 7—8, in bewußtem Gegensatz zu vorangegangenem „vetustate"; ZrPh LVIII (1938) S. 162), spricht vom Topos „Ablehnung abgedroschener epischer Stoffe". 2 ) Le sei giornate di messer Sebastiano Erizzo usw., Neuausgabe in Novellieri Minori del Cinquecento, G. Parabosco — S. Erizzo. A cura di G. G i g l i e F. N i c o l i n i (Scrittori d'Italia) Bari 1912, ist eine Exemplasammlung. Das wird ausdrücklich auch in Lodovico D o l c e s Vorwort von 1567 (ebda. S. 427) und im Proemio des Autors (S. 203ff.) betont. — Die Exempla bestehen durch Jahrhunderte unverändert fort. C. F r a t i , Ricerche sul „Fiore di Virtù", in Studi di Filologia romanza VI, S. 247—449, weist nach, daß noch ein Neudruck des Fiore di Virtù vom Jahre 1774 achtzehn Exempla „aggiunti e suppliti ad altri" aufgenommen hat. Der Vergleich dieser nachträglich eingefügten Exempla mit den ursprünglichen zeigt, daß sie zwar stofflich z. T. modern, aber wie die alten Exempla moralisierend oder rein anekdotisch sind.
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Nachweisen solcher Neigung fehlt, so schließt dies die Existenz von Novellen nicht aus. Den Vorgang der Akzentverschiebung aus dem belehrend Allgemeinen ins unterhaltend Besondere wies schon Erwin R o h d e für das hellenistische Zeitalter nach, indem er aufzeigte, daß die sophistischen Rhetoren der Übung halber und zum Nachweis der Richtigkeit bestimmter Lehrsätze sich poetische Themen stellten, die wir durchaus als novellistisch bezeichnen würden, und daß sich die Rednergabe an der improvisierenden Ausgestaltung solcher Erzählstoffe (Beispiele) formen und ausbilden sollte1). Solche Übungen sind in fingierten Liebesbriefen der Rhetoren Lesbonax, Philostratus, Alciphron und Aristaenetus (Rohde S. 367—68) überliefert, deren beide letzteren sich laut Rohde in ihren erotischen Briefen „kleinen Liebesnovellen" nähern, „indem sie die hin und wider wogenden Empfindungen in zierlich begrenzten Bildern und Skizzen anschaulich gestaltet darbieten". Es gab, immer nach Rohde, bei den Rhetoren Übungen ,,in der selbständigen Ausbildung erotischer Erzählungen. Wir besitzen unter den rhetorischen Progymnasmen eine Anzahl Muster und Vorbilder der zierlichen Erzählung alter erotischer Legenden" (ebda. S. 370). Aus verlorenen größeren Zyklen solcher Sagen und Märchen hat sich ein höchst reizvolles Stück, freilich nicht in der ursprünglichen Fassung, die es noch in der Sammlung des griechischen Erzählers Aristophantes von Athen beibehalten haben dürfte, bis auf unsere Tage erhalten: Amor und Psyche, in der lateinischen Nachbildung des A p u l e i u s . Für das ganze Phänomen ist typisch, daß die Stoffe überliefert waren und nicht frei erfunden wurden, daß der Wert der Übungen danach bemessen wurde, wie der Rhetor den bekannten Stoff gestaltete. — Was taten Boccaccio, Ariost, Chaucer, Shakespeare anderes als bekannte Motive ins überzeitlich allgemein Menschliche erheben ? Sind La Fontaines Contes et Nouvelles nicht unter ausdrücklicher Quellenangabe den Novellen Boccaccios, Ariosts und anderer nacherzählt ?2) Den Einzelfall aus der Fülle des Allgemeinen herauszugreifen, an Hand „gestellter" Themen sich zu üben, das Beispielhafte des Sonderfalles darzulegen oder konkrete Beispiele für hypothetisch erwogene Möglichkeiten und Komplikationen anzuführen, das ist ein wesentlicher Zug novellistischer Ausdrucksweise auch im Mittelalter. An den Rhetorenschulen der römischen Kaiserzeit beliebte controversiae (Gerichtsreden und fingierte Kriminalfälle) wurden im Mittelalter als 1
) Erwin Rohde, Der griech. Roman usw. a. a. O. S. 326ff. — Als älteste Novelle der Weltliteratur hört man oft die Aphrodite-Ares-Episode („Odyssee" VIII) bezeichnen. Diese Auffassung hat viel für sich, da sie einerseits nur den Charakter der Rahmermovellistik (Erzählen als Spiel unter Spielen und Fiktion des begrenzten Hörerkreises) hoch hinauf datiert, andererseits aber schon an diesem frühesten vereinzelten Anfang keine Gattungsmerkmale unterstellt. 2 ) Überzeugend ist die von Rohde a. a. O. S. 572—76 aufgestellte Hypothese eines Zusammenhanges zwischen einem unbekannten sophistischen Roman und Decameron V 1, zumal der bei den Sophisten willkürlich ins Schicksal eingreifenden Tyche Boccaccios Lieblingsmotiv, die launische Fortuna mit dem Rad, überraschend nahesteht. — Über die Rolle der Fortuna in der Novellistik handelt ausführlich: Erhard L o m m a t z s c h , Beiträge z. älteren ital. Volksdichtung. Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin (Veröffl. d. Inst. f. Roman. Sprachwiss. Nr. 3) Berlin 1950/51, Bd. II, Kap. IV.
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Novellen aufgefaßt. Der Italiener A n s e l m v o n B e s ä t e gab um 1050 in seiner Rhetorimachia sogar eine Beispielsammlung fingierter Streitfälle. Wie die Übungen der antiken Rhetoren oft in Versifizierung von Seeräuber-, Zauberergeschichten und anderen Fiktionen mündeten, so entstand im 12. Jahrhundert aus einer dem Quintilian zugeschriebenenProsa-declamatio eine Versnovelle ( B e r n a r d u s Silv e s t r i » oder H i l d e b e r t ( ì) : Mathematica)1). Gerichtsrede und fingierter Streitfall schlugen so die Brücke von der Antike zum Minnesang und zum J o e p a r t i t , der vermutlich erst nach 1180 aufgekommenen Tenzonenart, auch partimen, partida, partía genannt, einer Äußerung der Liebeskasuistik, die — häufig in Beispielen — Antwort auf spielerisch gestellte gesellschaftstheoretische Fragen gab. Derartige zwei- oder mehrgliedrige Fragen (Ist es richtiger, lange Zeit eine und dieselbe Dame zu verehren oder öfter zu wechseln ? Was ist leichter zu ertragen, Tod oder Verrat der Geliebten ? Ist die Liebe zu einer Dame größer vor oder nach ihrer Einwilligung?) hätten nahezu auch die sophistischen Rhetoren der hellenistischen Zeit als Vorwürfe für ihre Übungen wählen können. Bemerkenswert bleibt auch beim Streitgedicht und Fragespiel der erzieherische Wert, denn die im Wettbewerb siegreiche Antwort sollte als allgemein verpflichtend, höfische Auffassung und höfisches Verhalten bestimmend angesehen werden. Wie stark die im Tenzonenspiel angeführten Beispiele zur Darstellung der Individualität von Menschen oder Typen tendierten, wurde von anderer Seite bereits hervorgehoben 2 ). Beim Joe partit begegnet auch die Auflockerung der Aussage durch das Prosimetrum. Durch Voransetzung der Razos in ungebundener Sprache wird die Bedeutung des strophischen Frage- und Antwortspiels erzählend in den menschlich ansprechenden Rahmen eines individuellen Erlebnisses gestellt. Eines der schönsten Beispiele dieser Art ist die razos zu L a n f r a n c C i g a l a s Tenzone mit G u i l l e l m a de Rosier 3 ). — Hier darf nur beiläufig auf die häufige Verwendung der novellistischen razos, auf ihre Bedeutung als Rahmen, ihre Auswirkung in der italienischen Novellistik des Due- und Trecento (ζ. Β. Atressi con VoUjanz als Vorbild der 64. der Novelle antiche im Gualteruzzitext) und auf die Übernahme des Schemas des Joe partit in die „Questioni" von B o c c a c c i o s Filocolo und von dort in die rahmenden Kommentare des Decameron4), des Heptaméron, der Unter*) Curtius in ZrPh LXIII (1943) S. 237—38 u. ELLM. S. 161ff. ) Erich M ü l l e r , Die altprovenzalische Versnovelle, Halle 1930 (Bd. X V der Romanist. Arbeiten) S. 75ff.. Zinn Joe partit im allgemeinen : A. S t i m m i n g , Provenzalische Literatur, in Gröbers Grundriß I I 2 S. 25. ®) Text bei Cam. C h a b a n e a u , Les Biographies des Troubadours en langue provençale etc., Toulouse 1885, S. 105—06. Inhalt : Zwei Brüder, die ihr Schloß nie gleichzeitig verlassen, teils aus Furcht vor Überfällen, teils aus gastfreundlichem Pflichtbewußtsein, brechen eines Nachts mit ihrem Grundsatz, weil beide von ihren Damen erwartet werden. Unterwegs hören sie einige Ritter die Absicht äußern, im Schloß der gastfreundlichen Brüder Aufnahme zu erbitten. Einer von beiden kehrt um, weil er die Pflichten des Schloßherrn über die Pflichten gegenüber der Dame stellt. — Thema der Tenzone : Welcher Bruder verdient mehr Lob Î *) P. R a j n a , Le Questioni d'Amore nel „Filocolo", in R X X X I (1902) S. 28—81. Zu einem Detail in der ersten „Questione" von Filocolo findet Rajna u. a. eine Parallele in Jamblichus' Βαβυλωνιακά, die in Boccaccios mutmaßlicher provenzalischer Vorlage fehlt — eine interessante Ergänzung zu E. Rohdes zitierter Hypothese. — Weitere Beispiele des literarischen Fortlebens: der Schluß der 10. Novelle Firenzuolas; Ausgangspunkt für die Novelle I / X I I I a
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haltungen deutscher Ausgewanderten und des Sinngedichts verwiesen werden. Nach D i e z hat Boccaccio das aus Frankreich stammende Fragespiel als Gesellschaftsspiel am Hof in Neapel kennengelernt 1 ). R a j n a (a. a. 0 . S. 69 Fn.) weist es als solches vor Boccaccio, aber auch noch im Cinquecento in Italien nach. Literarische Niederschläge des Spiels lassen sich allenthalben in der italienischen Novellistik belegen: im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts in den „domande di giudizio" am Ende der 14., 16., 17., 18., 21., 22., 29. und 37. der Novelle di Gentile Sermini da Siena?); in der zweiten Hälfte des Quattrocento bei M a s u c c i o i n den Geleitbriefen zur 24., 26., 33. und 48. Novelle seines Novellino; im Cinquecento (1550) in vier Questioni des zweiten Tags von P a r a b o s c o s Diporti; in den regelmäßig wiederkehrenden Rätseln am Schluß der Erzählungen in S t r a p a r o l a s Piacevoli Notti (von 1550 ab); in einer Aufzählung von Spielen in der Introduzione zu B a r g a g l i s Trattenimenti3). Zwar steht so die Novellistik bis in neuere Zeit, durch Fragespiel, Streitgedicht und fingierte Gerichtsfälle, mit rhetorischen Gepflogenheiten der Antike in Verbindung, aber das ist nur die Überlieferung eines Rahmenschemas, kein Beweis für die Existenz einer Gattung „Novelle". Wie ließe sich sonst die farbige Vielfalt ausgesprochener Novellen-Individualitäten inmitten der ermüdenden Eintönigkeit immer wieder verwendeter Rahmenschablonen erklären ? Es geht nicht an, von der Rahmentradition auf die Kontinuität irgend einer „Novellenform" zu schließen. Wo über den Rahmen hinaus auch die „ F o r m " einzelner Novellen übernommen wird, handelt es sich um plattes Epigonentum. I m „ R a h m e n " der Verserzählung Castia-gilos des Trobadors R a i m o n V i d a l (1170?—1230?), die als eines der wichtigsten Denkmäler der provenzalischen Novellistik gilt, empfiehlt nicht nur der darin auftretende König Alfons von Kastilien die von einem Joglar erzählte Geschichte — las novelas — zur Beherzigung als abschreckendes Beispiel, sondern in diesem Gedicht werden die Termini novas, razos und novelas synonym gebraucht 4 ). Die singularische Form nova kommt dagegen in der provenzalischen Literatur nur einmal, als Bezeichnung der razos zu Lanfranc Cigalas Tenzone mit Wilhelmine von Rozers vor, während der Singular novela, oft in der Bedeutung Abenteuer, seltsame Geschichte, Novelle, vielleicht den literarischen Terminus der Italiener — novella — geformt hat 5 ). Bandellos ist die Frage, ob Freude oder Leid häufigere Todesursache sei. Als „un popolare travestimento delle antiche corti d'amore, dove si proponevano delle questioni" faßt Luigi R u s s o , G. Boccaccio, il Decameron, 25 novelle scelte e 27 postille cHtiche, Firenze 1939, S. 290, auch das intermezzo realistico zwischen den Bediensteten Pindaro und Licisca in der Introduzione des 6. Tages auf. — Ferner zum Thema: P. R a j n a , Una questione d'Amore, in Raccolta di studi critici dedic. ad Al. D'Ancona, Firenze 1901. !) Fr. D i e z , Über die Minnehöfe, Bln. 1825, S. 53. 2 ) Livorno 1874; Neudruck: a cura di A. C o l i n i , Lanciano 1911. 8 ) Raccolta de' Novellieri Italiani, Vol. XV, Milano 1815, S. 109. 4 ) Text bei C. A p p e l , Provenzalische Chrestomathie, Lpz. 41912, Nr. 5. — Zum Terminus: E. Müller a. a. O. S. 8ff., der betont, daß novas stets ein Werk in Versen bedeutet. 5 ) Die pragmatische Bedeutung der altital. Vokabel belegt bestens der Ritmo Cassinese, den -— nach vielen anderen — K. R. v. E t t m a y e r , Vademecum für Studierende der roman. Philologie, Heidelb. 1919, S. 165ff. interpretiert: Str. 4e ambo addemandaru de nubelle; Str. 4f. l'unu e 'll'altru dicuse nubelle. Str. 7a Boîtier audire nubelle de sse toe dulci fabeile. Hier sind nubelle ( = novelle) Nachrichten, Auskünfte, Mitteilungen. — Neueste kritische
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Fällt es schon auf, daß novas und novelas in der Poetik der Leys ft amors nicht gewürdigt und beschrieben werden, so deuten auch andere Anzeichen darauf hin, daß Novellieren den Provenzalen nicht als hohe Kunst erschien. Der Umstand, daß Francesco da Barberino verkleinernd von brevibus novellettis spricht, deren ernsthafte pädagogische Wirkung er obendrein anzweifelt, während er das novum ( = exemplum) auf Schritt und Tritt selbst anwendet, dürfte nur ein Reflex jener Auffassungen sein, die der Italiener in Südfrankreich mit der provenzalischen Dichtung studiert hatte. Wenn in der Biographie des E l i a s F o n s a l a d a 1 ) gesagt wird: „No bon trobaire mas noellaire fo", so erscheinen analog auch die Wörter novela oder novas, die einigen Jogiaren als Beinamen beigelegt wurden (z. B. G u i l l e m A u g i e r , N o v e l l a und P e i r e B r e m o n , R i c a s n o v a s ) im Licht einer leichten, vielleicht nicht einmal bösartigen Verspottung oder Verächtlichmachung, die später auch das benachbarte Spanien mit nuevo und novedad und das ausgehende 16. Jahrhundert mit nouveauté in Frankreich verband 2 ). Jedenfalls war ein noellaire, ein Geschichtenerzähler, offenbar noch kein trobaire, kein Trobador und Beherrscher der Dichtkunst. Die Bemerkung in der Biographie Fonsaladas beweist — objektiv richtig oder nicht —, daß eine gewisse Hierarchie oder poetikartige Einstufung bestanden haben muß, die dem Novellieren einen niederen Rang zuwies. Dafür spricht auch der Umstand, daß Beinamen wie Novella und Ricas novas nicht einem Raimon Vidal de Besaudun beigelegt wurden, der als Verfasser des Castia-gilos, des So fo e-l temps und der didaktischen Erzählung Abrils issi' e mays intrava novellistische Begabung in hoher Form besaß, so daß ihn Stimming (a. a. 0 . S. 12) als den wichtigsten provenzalischen Novellisten bezeichnen kann. Vielleicht hätte sich ein solcher Beiname nicht mit dem Ansehen eines echten Trobadors vertragen. Leiser Hochmut gegenüber der behaglichen Breite nordfranzösischer Erzählkunst spricht ja auch aus den Worten, mit denen eben dieser aus Bezalu (Gerona) in Katalonien stammende Raimon Vidal die Kargheit der provenzalischen Epik zu entschuldigen versucht: „La parladura francesca val mais et es plus avinenz a far romanz, retronsas e pastorellas, mas cella de Lemosin val mais per far vers et cansons et serventes" 3 ). Bei der ausgesprochenen Neigung des Mittelalters, Äußerungen des menschlichen Geistes zu klassifizieren (thomistische Abwertung der Poesie gegenüber der Theologie; Aimerics Rangstufen der christlichen Literatur nach dem Schema Gold—Silber—Zinn—Blei4)), kann die abschätzige Beurteilung des Novellierens nicht überraschen. Zwischen der literarischen Funktion eines Novelliere und der Ausgabe des Ritmo Oassinese in Raccolta di Testi antichi italiani a cura di W. v. W a r t b u r g , Bibliotheca Romanica, Series altera, Scripta Romanica Selecta I, Bern 1946, Nr. 36. Text bei Chabaneau a. a. O. S. 257. 2 ) Uber diesen abschätzigen Nebensinn: Werner K r a u s s , Novela-Novelle-Roman, in ZrPh L X (1940) S. 25ff. — Über Vermutungen zur Entstehung des Beinamens (Guillem Augier) Novella (weil A. die novas besonders gut vortrug, oder weil ihn die Italiener nach 1220 von anderen Joglars des Namens Guillem unterscheiden wollten) : E. Müller a. a. O. S. 7 — Chabaneau a. a. O. S. 127 Fn. : „Novella était, pour un jongleur, un surnom des mieux appropriés". 3 ) Text bei C. Appel a. a. O. Nr. 123. 4 ) Nach Curtius ELLM S. 460.
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eines gewöhnlichen Neuigkeitenkrämers war keine klare Grenze gezogen. „Nach Kristian von Troyes, Ramón Lull und seinem kastilischen Übersetzer, dem Infanten Juan Manuel — schreibt Werner K r a u ss 1 ) — gehört novelero sein zu dem schlimmsten Tadel, dem sich der angehende Ritter aussetzt". Nicht nur Jorge M a n r i q u e soll abfällig über „phantasias de novelas" (Krauss S. 19) geschrieben haben, nicht nur in Spanien und im Mittelalter haftete der Novellistik ein Unwert an. Auch der bedeutendste Novellist des Cinquecento, Matteo B a n d e l l o , der nicht im Verdacht steht, seine Kunst mißachtet zu haben, läßt noch die traditionelle Geringschätzung des Novellierens anklingen, wenn er z. B. im Widmungsbrief zu Novella I / X X I sagt: „poi che la disputazione de la poesia si é finita, io sarei di parere che entrassimo in alcun ragionamento più basso e piacevole, overo che si legesse una o due de le novelle del Boccaccio" 2 ). Bei dieser Kontrastierung von poesia mit novelle dürfte es sich kaum um einen Topos affektierter Bescheidenheit handeln. Alle diese Einzelheiten bestätigen Olschkis Vermutung einer ungeschriebenen vulgärsprachlichen Schwankliteratur im Mittelalter. Viele von den Jogiars vorgetragene Geschichten wurden der Aufzeichnung sicher nicht für würdig erachtet. Wenn später L o p e d e V e g a i n der Einleitung zu seinen Novellen behauptete, die alten cuentos seien nicht aufgeschrieben worden, weil die Menschen weiser waren und mehr Gedächtnis hatten, so ist das zwar kein Beweis, auf den wir uns berufen dürften, aber es ist ein Schluß, der sich an die verschiedenartigsten Beobachtungen knüpft. Wenn einiges aus dem verschollenen Repertoire trotzdem der Nachwelt überliefert wurde, so ist dies vor allem ein Verdienst des Francesco da Barberino, dessen lateinische und italienische Inhaltsangaben und literarhistorische Notizen teils auf mündlicher Weitergabe und persönlicher Kenntnis, teils auf dem Studium eines nicht erhaltenen provenzalischen Sammelwerkes, der Flores Dictorum Nobilium Provincialium, also auf einer literarischen Quelle, beruhen dürften3). Unsere Beobachtungen lassen auf Verhältnisse schließen, die den Autoren Verstellung auferlegten, längst bevor das literarästhetische Dogma der Hochrenaissance kompliziertere Tarnkünste erforderlich machte. Die Neigung zur Erzählung unterhaltender Sonderfälle mußte in einem Zeitalter der Belehrung und literarischen Hochmutes den Anschein wahren, als ob sie den allgemein anerkannten und einzig erlaubten Zwecken diente. Daher die belehrende Einkleidung der novas; daher Barberinos Reserviertheit gegenüber den novellettis, deren er doch eine ganze Anzahl unter dem schützenden Siegel des Exemplum in seinen lateinischen Kommentar einfügt; daher aber auch die Aufmachung phantasievoller Erzählungen a l s T r o b a d o r v i t e n oder die Einfügung novellistischer, romanhafter Züge und Details in sonst getreue trobadorbiographische Darstellungen. Die Novellen, die unter dem Titel der Trobadorbiographien überliefert sind, stellen eigene ästhetische Probleme dar4). Für die Stellung ihrer Verfasser !) In ZrPh L X (1940) S. 26—27. «) M. B., Novelle, Scrittori d'Italia, Bd. I, Bari 1928, S. 259. 8 ) Bartsch, Orundriß, S. 63. *) Zum Problem der Trobadorbiographien gibt es eine reiche Literatur. Wir nennen, unter Ausschluß monographischer Arbeiten, nur Fr. D i e z , Leben und Werke der Troubadours,
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gegenüber Theorie, Kritik und Zeitauffassung ist allein die Tatsache charakteristisch, daß sie in vielen Fällen zu bieten vorgaben, was sie garnicht bieten wollten : echte Lebensläufe, Würdigungen von Männern, die wirklich gelebt und gedichtet hatten, Ergebnisse einfacher literarhistorischer Forschung. Mögen manche Biographen in dem guten Glauben geschrieben haben, echte Lebensbilder und getreue historische Darstellungen zu liefern —, andere waren selbst Dichter und schoben den Trobadors eine Fülle spannender, aber frei erfundener Erlebnisse unter 1 ). Sie bekannten sich nicht zur Fiktion, weil Fiktion suspekt war, weil es die Beliebtheit der Geschichten steigerte, wenn ihre Protagonisten allgemein bekannte Persönlichkeiten waren, weil das Novellieren, das Berichten nicht verbürgter Geschichten, Erfindungen, Fabeln zu den wenig angesehenen Geschäften des Jogiars, nicht des Trobadors gehörte. Es genügt der Vergleich mit den Novelle antiche, um zu erkennen, daß auch die italienischen Geschichtenerzähler des 13. und 14. Jahrhunderts alle möglichen Anekdoten, deren antike, orientalische, mittellateinische oder sonstige u. U. entlegene Quellen heute bekannt sind, an damals allgemein vertraute, mit der Geschichte des Landes verbundene Persönlichkeiten wie Barbarossa, Friedrich II., Ezzelino zu knüpfen pflegten, weil das Erzählte dadurch glaubwürdiger, interessanter, verbürgt oder auch besonders komisch erschien2). Allgemein Menschliches wurde dort gleichsam am Beispiel der Prominenten bewiesen ; Sprichwörter, Lebensweisheiten, schlagfertige Antworten erhielten als angebliche Aussprüche von Zeitgenossen oder noch unvergessenen Toten exemplarischen Erlebnisgehalt. So verbindet sich Unterhaltung mit Beispielhaftigkeit auch in den Novelle antiche und den Trobadorviten, die als „Formen" den Exempeln, den Novas und dem Joe partit doch völlig fernstehen. Die ausdrückliche Behauptung oder stillZwickau 1829, Lpz. 1882; Ad. B i r c h - H i r s c h f e l d , Über die den prov. Troubadours des XII. und Xlll.Jahrh. bekannten epischen Stoffe, Halle 1878 (Habil.-Schrift); Gröbers Grundriß I S. 5; Jos. Z a n d e r s , Die altprov. Prosanovelle. Eine literarhist. Kritik der Trobador-Biogr., Romanist. Arbeiten II, Halle 1913 (Kieler Dissert.). x ) Uber die Frage, ob die Trobadorviten von einem oder von mehreren Verfassern herstammen: Chabaneau a. a. O. S. 4; S u c h i e r u. Birch-Hirschfeld, Gesch. der französ. Literatur, Lpz. u. Wien 2 1913,I S. 95; G. B e r t o n i , Studi su vecchie e nuove poesie e prose d'amore e di romanzi, Modena 1921, S. 46ff. (Artikel Marcabruno). Daß diese Biographien größtenteils in Italien geschrieben wurden und daß die meisten von ihnen U c de St. Circ verfaßt hat, scheint nicht mehr bestritten zu werden. Bertoni a. a. O. hält die historische Unzuverlässigkeit dieser „Lebensläufe" für eine Folge der Unbildung und Fahrlässigkeit italienischer Kompilatoren (s. a. im gleichen Bändchen seine Aufsätze über Una poesia di Jauf re Rudel und Gome fu che Peire Vidal divenne imperatore). — Der wahrscheinlich von Uc de St. Circ für Alberico, seit 1239 Markgraf von Treviso, verfaßte Liber Alberici, der die oder einige der ursprünglichen Trobadorbiographien enthielt, und den der Philologe Gian Maria B a r b i e r i (1519—74), Verfasser des literarhist. Traktates Origine della Poesia in Rima, noch besaß, ist leider verloren. Wir schließen uns der Meinung an, die A n g l a d e , Les Troubadours, Paris 1908, S. 33, vertritt: „Quel que soit l'auteur, on doit lui reconnaître, à défaut de sens historique, le sens poétique. Lui aussi a raconté la vie légendaire des troubadours, parce que déjà de son temps on ne connaissait de leur vie que des légendes ; mais il semble avoir choisi parmi les plus intéressantes". a
) Rud. B e s t h o r n , Ursprung und Eigenart der älteren italien. Novelle, Romanist. Arbeiten X X I V , Halle 1935, S. 177ff. 2
Novellentheorie
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schweigende Unterstellung, daß alles Berichtete buchstäblich wahr sei, gehörte zur Tradition aller Erzählkunst. Die theoretische Erkenntnis dieses Kunstgriffes, dessen sich schon Virgil und die spätantiken Romanschreiber bis zu Dictys und Dares bedienten und der zu den wichtigsten Requisiten der Erzählliteratur gehören dürfte, ist unter dem Stichwort „adtestatio rei visae" bei M a c r o b i u s Sat. IV 6, 13 nachgewiesen 1 ). Fast das gleiche Verfahren wie bei den Trobadorviten schlug man b e i H e i l i g e n l e b e n ein, die, wie das Novellieren, in der mittelalterlichen Poetik einen der untersten Plätze einnahmen 2 ). Curtius, der die Verbindung von vita und passio als Mischgattung definiert, sieht in dem ,,βίος προ μαρτυρίου einen nachträglichen Zusatz [ . . . ] , vergleichbar jener Gattung der chansons de geste, welche die Kindheit berühmter Epenhelden darstellen (Enfances Guillaume usw.)" 3 ). Solche Zusätze beruhten nicht auf historischen Zeugnissen, sondern auf Phantasie unter Zuhilfenahme hagiographischer Topoi. Die Analogie zur razos drängt sich auf. In der Vortäuschung des biographisch Verbürgten offenbart sich die Reaktion auf die literarische Theorie. Die Erzähler taten, als ob sie dem Gesetz der historischen Zuverlässigkeit oder der Berufung auf anerkannte Autoritäten gehorchten. Dieses Gesetz war im Grunde nichts anderes als die Regel der Wahrscheinlichkeit in ihrer mittelalterlichen Gestalt. Beweise für die Existenz dieser Regel finden sich in den Poetiken des 12. und 13. Jahrhunderts, z. B. in M a t t h i e u d e V e n d ô m e s Ars versificatoria (vor 1175), wo es im Artikel 73 heißt: ,,meum consilium erit ut, si quaelibet res describatur, in expressione descriptionis maximum fidei praetendatur nutrimentum, u t vera dicantur vel veri similia, juxta illud Oratii: (Poet. 119) ,Aut famam sequere aut sibi convenientia finge' " 4 ). Die Geltung dieser Regel für die Novellistik wird bei der Analyse des Prologus zur Disciplina Clericalis nachzuweisen sein (s. u. Kap. I I 2). Die Stellung der Novellen war also durch literarästhetische Traditionen beengt. Wenn im ganzen christlichen Mittelalter nicht die Kriterien: christlich oder heidnisch, sondern moralisch fördernd oder schädlich — für Anerkennung oder Verurteilung eines Werkes maßgebend waren, wenn Mythologie, Heroensage und Erotik nach diesem Gesichtspunkt verworfen werden mußten 5 ), so wird ohne weiteres begreiflich, warum aus Mythos und Sage herkommende und erotische Novellen sich den Anschein moralisierend-exemplarischer Belehrung zu geben suchten. Es gab im Mittelalter für die poetische narratio, den Vorschriften für die Gerichtsrede nachgebildete allgemeine Empfehlungen und Regeln, wie die, anstelle des natürlichen Ablaufs der Handlung eine künstliche Disposition zu setzen 6 ) oder den Bericht durch amplificatio auszuschmücken bzw. durch brevitas zu straffen 7 ), Curtius ELLM S. 181 sowie ZrPh LVIII (1938) S. 229: „Berufung auf Augenzeugen" als altes Traditionselement. 2 ) Z. B. in der Ars lectoría (1086) des Franzosen A i m e r i c u s ; man vgl. Curtius ELLM 460. 9 ) In RF L U I (1939) S. 14. *) Text bei Farai a. a. O. S. 135, dazu S. 180 IV. 1. 6 ) Curtius in ZrPh LIX S. 169. e ) Dazu Farai a. a. O. S. 56—57. η Ebda. S. 61 ff., S. 218ff., S. 277ff.
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wobei gelegentlich schon damals ein Abrücken von den Gepflogenheiten der Antike sogar in der Theorie spürbar wurde. Ein Beispiel dafür bietet Matthieu de Vendôme, Ars versificatoria IV. 5, wo Kürze als Modernität gilt: „Antiquis siquidem incumbebat materiam protelare quibusdam diversiculis et collateralibus sententiis, ut materiae penuria poetico figmento plenius exuberans in artificiosum luxuriaret incrementum. Hoc autem modernis non licet. Vetera enim cessavere novis supervenientibus"1). Die beiden antithetischen Elemente, amplificatio und brevitas, wurden verschieden bewertet; es muß Autoren und Richtungen gegeben haben, die entweder die eine oder die andere Art der Gestaltung der narratio bevorzugten, ein in der Forschung offenbar weniger beachtetes Faktum2). F a r a i , der die Theorie der amplificatio-brevitas bei Geoffroi de Vinsauf, Evrard l'Allemand und Jean de Garlande nachweist (S. 6Iff.), meint lediglich, daß die brevitas ,,ne paraît pas intéresser beaucoup la littérature en langue vulgaire, non seulement parce que tous les procédées qu'elle recommande n'y sont pas applicables, mais aussi parce que la brièvité n'y est pas souvent recherchée. Au contraire, en beaucoup d'écrits latins, certaines parties des thèmes, parfois même les thèmes entiers sont traités au plus bref, par exemple dans le conte du Miles gloriosus ou dans le poème fameux Ρ ergama fiere volo" (S. 85). Ohne dieses Sonderproblem analysieren zu wollen, sei doch der Auffassung des französischen Forschers einiges entgegengestellt. Von den sieben procédés (,,Γ emphasis, Varticulus, le particip absolu, la proscription de toute répétition, le sousentendu (intellectio), l'asyndète (dissolutum ou disjunctum), la fusion de plusieurs propositions en une seule"), die Geoffroi de Vinsauf in seiner Poetria (Vers 690ff.) und Johannes von Sizilien in seiner, bei Farai nur nebenbei erwähnten, nicht näher beschriebenen Ars dictandi aufzählen, ist die Mehrzahl in einer der damaligen Volkssprachen, nämlich im Italienischen, durchaus applikabel. Daß die „brièvité n'y est pas souvent recherchée", läßt sich mindestens für eine der Vulgärliteraturen, nämlich die italienische, ebenfalls nicht aufrechterhalten, denn diese unterschied sich gerade von Anfang an durch ihren bewußten Lakonismus von anderen Literaturen, besonders von der französischen. Wenn die Grenze amplificatiobrevitas zwischen lateinischen und volkssprachlichen Werken verlaufen sollte, so müßte das für Italien noch bewiesen werden. Daß eine solche Grenze aber de facto zwischen französischer und itaüenischer Dichtung verläuft, ist bereits erwiesen. Man denke an Italiens zähen Widerstand gegen den Import der epischen Ausdrucksweisen Frankreichs, an die italienischen Kurzbearbeitungen des Roman de la Rose, an den Lakonismus des (vielleicht aus provenzalischen Tenzonenformen entwickelten) Sonetts, das eine italienische Schöpfung ist, an den Lakonismus Petrarcas und Marinos, an den von den Novelle antiche bis zu Margarete von Navarra während der ganzen Renaissance spürbaren Unterschied zwischen knapp pointierender italienischer und behaglich ausmalender französischer Novellistik. Im übrigen liegt es nahe, daß die Italiener nicht auf Grund der Theorie, Text bei Farai a. a. O. S. 181. Man vgl. aber neuerdings Curtius E L L M Exkurs X I I I (Kürze als Stilideal, wo u. a. auf die im 12. Jahrh. auffallende Menge von Kurzbearbeitungen antiker Stoffe verwiesen wird). 2)
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sondern durch Affinität den Lakonismus aus einem Teil der lateinischen Dichtung übernahmen und daß es dieser Neigung zu danken ist, wenn in Italien novellistische Knappheit ihre erste, Jahrhunderte überstrahlende Blüte erlebt hat. Es fehlt nicht an Beispielen dafür, daß schon mittelalterliche Autoren sich weigerten, dem Regelzwang zu gehorchen, oder daß sie sich über das Ansinnen, ihre Arbeiten nach Art antiker Rhetoren zu „kolorieren", lustig machten. So schrieb im Anfang des 13. Jahrhunderts der Novellist J e a n de H a u t e - S e i l l e in der Einleitung zum Dolopathos1): ,,ηοη tarn materiam phaleratis verborum pompis cupiens colorare (vel ut verius „decolorare" dicam), quam materiae veritatem . . . simplici pedestrique calamo satagens declarare . . . Ceterum rogo te, o lector, si quid incultum vel minus apte positum reperis, dones veniam sciasque me non multum in Prisciani regulis desudasse, necdum me in florígeros Quintiliani Tulliique ortulos recubasse". Die theoretischen Anschauungen der Zeit über das Novellieren lassen sich aber auch aus der Bedeutung des Terminus n o v e l l a erkennen. Obgleich die Sammlungen der Cento novelle antike, wie neuerdings von R. B e s t h o r n erkannt2), erst nach dem Decameron kompiliert wurden, bestehen sie zum großen Teil aus älteren Einzelstücken aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Wenn der etwa zwanzigmal in den Geschichten vorkommende Terminus keine Zutat des späteren Herausgebers, sondern im ursprünglichen Zusammenhang überliefert ist, so hatte die Vokabel bei den alten Erzählern, die größtenteils vor Boccaccio und vielleicht auch vor Francesco da Barberino, jedenfalls aber unabhängig von diesen beiden novellierten, grundsätzlich die ursprüngliche Bedeutung: Nachricht, Neuigkeit, und nur ausnahmsweise den literarischen Sinn: Erzählung, Novelle. Laut Besthorn kommt das Wort als literarischer Terminus nur einmal innerhalb der Sammlungen vor3), wo ein Höfling beim Erzählen einer novella keinen Schluß, also keine Pointe findet und deshalb von einem Diener unterbrochen und beschämt wird. Hier also ist von einer Erzählung die Rede, nicht nur im Sinne eines Berichtes über einen Vorfall, sondern im Sinne der Unterhaltung. Vorwiegend in literarischer Färbung gebraucht hingegen Francesco da Barberino den Terminus, vor allem wo es darum geht, die in die Verse seines Buches Del Reggimento e Costumi di Donna eingelegten Prosa- oder Prosimetrum-Beispiele hervorzuheben: „Per essemplo porete Legiere qui una legiadra e bella Novella."
Parte I, XVI 16
„Segniala mo' la novella che cade A buono exemplo di questa cotale"
Parte III, I I I 18
,,e per una esemplo a tutte Udite novella"
Parte IV, V 79
!) Zitiert bei Farai a. a. O. S. 92. ) Besthorn a. a. O. S. 165ff. — Wir schließen uns Besthorns Kennzeichnung der verschiedenen Kompilationen (B = B i a g i , G = G u a l t e r u z z i ) an. s ) In Β 125 = G 89. 2
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.Pongo ad essemplo una cotal Novella"
>>
Parte V, X X X 8
5,Ma I sì ti volgilo, per indurre al bene,
Una Novella d'una santa donna Contare"
Parte V i l i , I I 89
((
Parte IX, IV 1
„Ora seguita qui una Novella" si segue alchuna Novelletta J„Ora 1
(i
Parte X, I I I 1.
Nicht nur die unterschiedliche Häufigkeit der Anwendung des literarischen Namens ist bemerkenswert und bestätigt den von vorn herein zu vermutenden Bildungs- und Rangunterschied zwischen einem der hervorragendsten Kenner der provenzalischen Dichtung und den joglaresken Geschichtenerzählern; es stellen sich auch Bedeutungsunterschiede heraus, die weder Besthorn noch u. W. andere neuere Ausleger bemerkt haben. Schon Besthorns Behauptung (S. 184), Francesco da Barberino habe durch die Tendenz zur Belehrung den „ursprünglichen sinn der novelle aufgegeben", ist nicht stichhaltig. Aufgegeben hat er lediglich den pragmatischen Sinn der Vokabel {novella = Nachricht), nicht den der Novellen, deren Mehrzahl und bekannte Vorbilder zu seiner Zeit durchaus beispielhaft und belehrend waren, ohne daß man daraus heute ein „Formgesetz" herleiten dürfte, und ohne daß sie deshalb nach dem Geschmack der Zeit an Grazie und Kurzweil eingebüßt hätten. Die Novellen Francesco da Barberinos bedeuten auch nicht „in jeder hinsieht einen rückschritt" gegenüber den Novelle antiche (Besthorn S. 184), sondern sie sind etwas ganz anderes und wollen etwas anderes sein. Denn in Barberinos novella hegt das Erbe von provenzalisch novas und novelas, in der von den italienischen Spielleuten gebrauchten Bezeichnung liegt aber der buntschillernde Nebensinn des italienischen „nuovo". Die Übersetzung Neuigkeit, Nachricht, Bericht enthält noch nichts von dem Neben- und Untersinn, den die italienische Sprache mit nuovo und novella verband und verbindet. Auf die abschätzige Nebenbedeutung von spanisch nuevo und novedad in einer späteren Zeit wurde bereits verwiesen. Lateinisch novus und altitalienisch nuovo umfaßten eine ganze Skala von Tönen, deren höchste Sprosse vielleicht D a n t e s Vita Nova repräsentiert 1 ), während die niederen Stufen von Fall zu Fall einen Nebensinn zum literarischen novella beisteuern, etwa den des Überraschenden oder Merkwürdigen, des Komischen oder Witzigen, des Lustigen oder Burlesken, des Närrischen oder Pikaresken, des Erfinderischen oder gar Lügenhaften. Franco S a c c h e t t i im 14. Jahrhundert ist nicht der erste, bei dem sich eine dieser Wortbedeutungen abzeichnet, wenn er von gewissen Florentinern spricht, „Ii quali erano più nuovi l'uno che l'altro" (einer immer ein größerer Witzbold als der 1
) Über die religiösen Inhalte E . E b e r w e i n - D a b c o v i c h , Das Wort novus in der altprov. Dichtung und in Dantee „Vita Nova", in RJb II (1949) S. 171—195. — Hier sei noch daran erinnert, daß schon klass. lat. novum in den Wendungen novae res (Umsturz), homo novus (Emporkömmling), novis rebus studere (Revolution vorbereiten, nach politischen Neuerungen streben) einen Verdacht ausdrückte, den, ins Religionspolitische verschoben, etwa die Prosa M o n t a i g n e s wieder belegt: les nouuelletez de Luther, l'amour de la nouuelleté (Apologie de Raimond Sebond, Essais II, XII, Edit. Strowski, Paris 1928, Bd. III S. 156, 160). 21
andere). Auch Boccaccio meinte schon das Lachen, als er im Proemio zum Decameron den Frauen als Heilmittel gegen die Melancholie seine „nuovi ragionamenti" in Aussicht stellte. Was die Novelle antiche anbelangt, so hat einer ihrer späten Herausgeber, Vincenzio B o r g h i n i , sie mit einem kleinen Glossar1) versehen, wo es heißt: „Nuova, volea dir Piacevole per semplicità, e stravaganza; onde è rimaso a noi Nuovo pesce [ = Streich, Aprilscherz]. In questo libro Novissima risposta; ed altrove usata è spesso. Franco Sacchetti n'è pieno. Il Boccaccio l'usa più volte. E con le sue nuove Novelle. E perchè Calandrino gli parea un nuovo uomo; e Cominciò a fare i più nuovi atti del mondo. Di qui le favole, e li racconti piacevoli Novelle fur dette." Diese Semasiologie Borghinis erweist sich bei Stichproben in den Novelle antiche als durchaus zutreffend : novella bedeutet in G X X I I I den Bericht über einen Scherz und ulkigen Streich ; in G XL zunächst nur Neuigkeit, aber in der Auslegung einer in der Geschichte auftretenden Person : Narretei, Albernheit; in G L X X X Witz schlechthin, Anzüglichkeit. Dazu tritt in G V i l l i „nova quistione e rozza, non mai più avenuta" ( = eine spaßige, tolle, unerhörte Streitfrage). Dagegen ist Francesco da Barberinos Terminus still, vornehm, höfisch, wie es seiner Herkunft aus dem Lande der hohen Poesie geziemt. Wenn auch er mit dem Beispielhaften das Heitere und Kurzweilige verbindet („legiadra e bella Novella" ; „Novelletta"), so bleibt es doch immer in der Sphäre des Gesellschaftlichen. Es stehen einander in diesen widersprüchlichen Schattierungen also nicht zwei Zeitalter der Kultur oder zwei Perioden der Novellistik gegenüber, sondern zwei Arten der Unterhaltung. Nicht zwei Gattungen der „Novelle", sondern unzählige Gestalten, in zweierlei Licht getaucht. Über den ästhetischen Wert der einzelnen Werke sagt die Verschiedenheit dieser Nüancen ihres Namens nichts aus, wie ja die theoretischen Belege, Ansichten und Kriterien mit der ästhetischen Würdigung der Novellen zunächst nichts zu tun haben. Die Deutung der Termini und der überlieferten theoretischen Äußerungen des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts bliebe unvollständig, zöge man aus der Neigung der scheinbar dokumentierenden novellistischen Erzählweisen zur Verknüpfung allgemein menschlicher oder religiöser Erkenntnisse, Grundsätze oder Situationen mit den Namen bekannter oder imaginierter Individuen nicht eine weitere Konsequenz. Trobadorviten und anekdotische Novellen, Predigtexempel und novas, altfranzösische dits, mots und fabliaux verbinden — Menschen und Ereignisse oder Aussprüche willkürlich mit einander in Zusammenhang bringend — Geschichte mit Sage, Überlieferung mit Erfindung, Dichtung mit Wahrheit. Die zahlreichen Blütenlesen ( = „Fiori") der alten italienischen Novelhstik lehnen sich an Sage, Historie, Heilige Schrift und Legenden an 2 ). Einzelne Persönlichkeiten wie Saladin, Bertrán de Born, die beiden Hohenstaufen Friedrich, der Re giovane, der Priester Giovanni werden mit ganzen Anekdotenzyklen umgeben, 1
) Dichiarazioni d'alcune voci antiche, le quali si trovano perentro le Novelle, in Libro di novelle, e di bel parlar gentile, Fiorenza 1572. 2 ) Aus der Fiori-Literatur nennen wir: Fiori di filosafi ed altri Savj (zwischen 1260 u. 1290), Fiore di Virtù (um 1300), Fiore d'Italia (nach 1321), Fiore di rettorica von G u i d o t t o d a B o l o g n a , Über kritische Ausgaben: Besthorn a. a. O. S. 187ff.
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die ihr geschichtliches Charakterbild willkürlich verändern und sie zu Musterbeispielen der Tugend, der Schlagfertigkeit, der Selbstverleugnung, der wissenden Überlegenheit, der kalten Berechnung oder anderer Gaben machen. So wirkt das Bedürfnis oder die vermeintliche Verpflichtung zur individuellen Lokalisierung novellistischer Details legendenbildend. Mehrere Länder und Jahrhunderte überspannt wie ein buntbemalter Gewölbehimmel die Gestaltenfülle der legendären Geschichten aus Altrom, von Trajan und anderen Kaisern, von Aristoteles mit dem Sattel, von weltbezwingenden Philosophen und Weisen, vom geradezu allwissenden, allmächtigen Zauberer Virgil, schließlich vom witzigen, weltgewandten, einfallreichen Dante 1 ). Das Novellistische ist vom Legendären nicht minder durchwoben als vom Exemplarischen, so daß es ein pedantisches Unternehmen wäre, die drei einander innig durchdringenden Elemente in streng geschiedene „Gattungen" auseinanderreißen zu wollen. Gewiß gab es reine Heiligenlegenden, gewiß rein moralisierende Exempla, rein durch Pointierung verblüffende novellistische Schwänke. Aber ihre Grenzen kannte man nicht, ihre Bezeichnungen unterschied man nicht genau. Der erste italienische Dichter, der eines seiner Werke „novella" betitelt, war B o n v e s i n d r a R i v a , der um die Mitte des 13. Jahrhunderts schrieb. Was war aber jene novella (ein Zwiegespräch zwischen der Jungfrau Maria und einem Sünder in altmailänder Mundart, unter dem lateinischen Titel De peccatore cum virgine), was war sie anderes als eine Nachricht aus dem Reich der Legende, als ein Teil der „frohen Botschaft" ? Abseits vom frivolen Scherz- und Lügenbericht der Spielleute steht hier die erquickende Neuigkeit im Sinn religiöser Verkündigung, wie sie ein gläubiger Mönch aus zuverlässigem Wissen überliefert 3 ). Domenico C o m p a r e t t i , Virgilio nel ME., Livorno 1872, Firenze z 1896; Derselbe, Virgil im MA., aus dem Ital. übersetzt von H. D ü t s c h k e , Lpz. 1875; das von C. entworfene Virgilbild des MA. erwies sich unterdessen als überholt und wurde durch die Nuova edizione a cura di Giorgio P a s q u a l i , 2 voi. Firenze 1937, berichtigt (Rez. in ZrPh LXIII [1943] S. 224); Gio. P a p a n t i , Dante, secondo la tradizione e i novellatori, Livorno 1873 (Rez. inReinh. K ö h l e r , Kleinere Schriften zur erzähl. Dichtung d. MA., hsg. von Joh. Β o I t e , 2 Bde., Bln. 1900, Nr. 70); Alb. W e s s e l s k i , Die Legende um Dante, Weimar 1921; Derselbe, Dante-Novellen, Wien-München 1924. — Man vgl. auch Curtius, Mißverstandene Antike, in ZrPh LXIII (1943) S. 225ff. — In diesen facetienartigen Legenden ging es freilich nicht darum, den Anschein der Verbürgtheit zu erwecken, wie in den Trobadorviten, sondern durch den Kontrast der Verknüpfung witziger Einfalle mit den Namen hoher Autoritäten den Lachreiz zu steigern. Aristoteles mit dem Sattel oder Dante mit der dressierten Katze reizten umso stärker zum Lachen, je mehr man sich der Würde dieser Protagonisten bewußt war. 2 ) Besthorn a. a. O. S. 16ff. ist diese Nüance entgangen. — Noch im 18. Jahrhundert läßt sich diese Bedeutung des Wortes novella bei P.Alessandro B a n d i e r a (1699—1770) nachweisen, der unter dem verballhornten Titel Gerotricamerone [ = frommes Dreitagebuch] ovvero tre sacre giornate, nelle quali s'introducono dieci virtuosi e costumati giovani a recitare in volta ciascuno per modo di spiritual conferenza, alcuna narrazione sacra das Schema des Decameron auf die Heiligenlegenden zu übertragen versuchte. Noch im 19. Jahrhundert wurde sein Werk von den Herausgebern der Raccolta de'Novellieri Ital., Milano 1815, Bd. XV, Novelle di Autori Senesi, II, warm empfohlen. Sie druckten drei Proben daraus (S. 287ff.) und betitelten sie als Novelle ovvero sacre narrazioni del P. Al. M. Bandiera, Sánese. — Zum Thema auch Curtius, in R F LIII (1939) S. 11. — Die Einengung des Begriffs beweist: Vocabolario della Crusca, 1612: novella = narrazione favolosa, favola.
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Novella kann also auch Legende sein. Mit Recht ist gesagt worden, daß die Fioretti des San F r a n c e s c o d ' A s s i s i zum Schönsten der alten Novellistik gehörten 1 ), und daß Franz — der sich selbst mit der Vieldeutigkeit des vulgärsprachlichen, lateinisch verhüllten Terminus den „novellus pazzus" nannte — mit der Parabel von Madonna Povertà geradezu einen „conto (di antichi cavalieri)", also eine Novelle, gedichtet habe 2 ). Schwanke und Heiligenleben, Exempla und Trobadorviten, Legenden und Anekdoten erweisen sich als Wirkungsbereiche, Quellen, Grenzgebiete und Ausdrucksmöglichkeiten der mittelalterlichen Novellistik. Die „Novelle" als „Form" herauszupräparieren ist angesichts der Vielfalt dieser Überschneidungen unmöglich. Aber als ob der Nachweise nicht genug erbracht wären, drängt sich ein weiterer Tatbestand auf, den wir bisher nur beiläufig zu erwähnen hatten: die Verzahnung des Novellistischen mit der „Komödie". Es ist charakteristisch für mittelalterliche Vorstellungen und Traditionen, daß literarische Gebilde, die wir heute im weiteren Sinne als Novellen bezeichnen würden, unter Umständen Komödien oder e l e g i s c h e K o m ö d i e n genannt wurden, während andererseits Komödien in unserem Sinn der Kategorie der fabulae zugeordnet werden konnten. Dies beweist, daß man weder feste Form- noch Gattungsvorstellungen hatte, und daß es in die Irre führen muß, solche nachträglich dem damaligen Denken und Empfinden aufzwingen zu wollen. Wenn I s i d o r v o n S e v i l l a unter fabula sowohl die Tierfabel wie den Mythos wie die Komödie begreift 3 ), so mag das von der Ebene moderner Gattungsdefinitionen wirr erscheinen; aber von Boccaccio bis zu Robortello herab bedeutete ja fabula das Erfundene, die Fiktion schlechthin, im Gegensatz zur Wirklichkeit des Tages, der historia, der narratio rei gestae, die Isidor denn auch der Grammatik, also der Wissenschaft unterordnet. Plautus und Terenz gehören bei ihm zur Kategorie der Fabelschreiber. Innerhalb des großen Bereiches der Fiktionen waren die Grenzen fließend. So konnte die mittellateinische elegische Komödie, die Curtius4) als „ein produktives A. von G r o l m a n , Novelle, in M e r k e r - S t a m m l e r , Reallexikon der deutschen Literaturgesch., Bd. II, S. 514b. 2 ) G. Bertoni a. a. O. S. 116 (San Francesco Cavaliere). Text: Tre Sodi, 50,1; 2 Celano 11, sowie S a b a t i e r , Vie de S.F., Paris 1904, III. — Noch heute ist eine der landläufigen Bedeutungen von novella = Märchen, auch in der ital. Literaturwissenschaft. Man vgl. die Bibliographie der Volksmärchen bei Letterio di F r a n c i a , Fiabe e novelle calabresi, in „Pallante", VIII fase. I l l f f . , Torino 1929, S. 26ff. u. S. 35; den von G. P i t r é geprägten Terminus „novellistica comparata" = vergleichende Märchenforschung (in Fiabe, novelle e racconti popolari siciliani, Palermo 1875,1 S. XLIIIff.); B. Croce, Saggi della letteratura ital. del Seicento, Bari 2 1924, S. 91 : „molte delle novelle più celebri e divulgate presso i più varí popoli", mit nachfolgender Aufzählung von Märchen. — Eine weitere Schattierung von nuovo und novità ergibt sich u. a. bei Boccaccio, Decameron, Introduz. zum 1. Tag, Bd. I S. 19: „una vista orribile non so donde in loro nuovamente venuta"; Novelle IV 1, Bd. I S. 277: „seco pensò ima nuova malizia", S. 279: „varie e diverse novità pensate", wo im Begriff der Neuigkeit das Furchtbare und Schicksalhafte, vielleicht auch das Grausame enthalten ist. — L. Russo a. a. O. Fnn. S. 167, 19 ; S. 191, 9 ; S. 261, 129, findet bei Boccaccio und Petrarca nur die Bedeutung nuovo — strano, curioso, bizarro, non senza una sfumatura di ridicolo; singolare; stravagante. 8 ) Curtius ELLM S. 450. ZrPh LVIII (1938) S. 141.
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Mißverständnis des P l a u t u s " bezeichnet, zur Brücke zwischen Komödie und Novellistik werden. Nach E. Farals Beweisführung 1 ) sind aus der elegischen Komödie die altfranzösischen Fabliaux entstanden; nach D. G u e r r i 2 ) wurde aus einer lateinischen elegischen Komödie des Vitalis an der Schwelle des Quattrocento die italienische Versnovelle von Geta e Birria, die fast zwei Jahrhunderten als Anregung zur Abfassung volkstümlicher Schwanknovellen diente. So wurden „quintilianische Deklamationen als Erzählungsstoffe gelesen und lateinische Versnovellen daraus gemacht" (Curtius a. a. O.), und so hießen im 12. Jahrhundert dialogisierte Schwanke in elegischem Versmaß einfach „Komödien" 3 ). I m Bereich der Fiktion rückten Komödien und Novellen besonders nah zusammen, galt doch die Erotik nach antiken und mittelalterlichen Theorien als Dominium der Komik. Damit hängt auch die abschätzige Beurteilung der Novellistik im Mittelalter und bis in die Renaissance herab zusammen. O v i d hatte die erotischen Stoffe aus der Komödie in die „erotische Elegie" transponiert, aber die erotische Elegie schied schon für Q u i n t i l i a n (Institutio oratoria I 8) aus der Kategorie der für Schulzwecke verwendbaren moralisch wertvollen Gattungen aus. Wurden solche Traditionen im Mittelalter auch nicht mit gleichbleibender Strenge beobachtet, so erklärt es sich doch aus ihnen, daß noch für Dante im Brief an Can Grande die Komödien eine Gattung „poetischer Erzählungen in niedrigem Sprachstil" sind, daß sie also im Sinn der alten Lehre von den drei Stilarten auf der untersten Stufe der literarischen Rangordnung stehen. Das Bewußtsein solcher Zusammenhänge war im Spanien des 17. Jahrhunderts noch durchaus lebendig, rechnet doch A v e l l a n e d a im Prolog zu seinem zweiten „Don Quijote" die Novelas Ejemplares von Cervantes zu den „comedias en prosa". „Es t u t sich damit ein Formzusammenhang auf, schreibt W. Krauss (a. a. O. S. 23), den Kerényi schon für den griechischen „Roman", Farai für die Genesis des mittelalterlichen Fabliau beleuchtete. I n Spanien ist die Pamphiluskomödie De vetula in das Corpus des Libro de buen amor eingegangen, also in ein Werk, das formell dem epischen Bereich der Schule des Mester de clerecía zugehört e. Dasselbe mittellateinische Stück steht auch unter den Quellen der Celestina in erster Reihe. Der Typus des also entstandenen ,novellistischen Lesedramas' reicht bis zu Lope de Vegas Dorotea hin, und zweifellos ging von diesen Dialogen ein starker Anreiz auf die novelas ejemplares aus. Wenn nicht der Form, so dem Gehalt nach gipfeln alle Werke des Cervantes in dialogischer Auseinandersetzung. Umgekehrt empfindet der Bühnenheld sein Schicksal als ,novellistisch'." Aus solchen Erkenntnissen erklärt es sich, daß M e n é n d e z y P e l a y o in seinen Orígenes de la Novela (Begründung in Bd. I I S. CXL Fn. 2) unter die Beispieltexte auch „novelas dramáticas" und verschiedene „diálogos satíricos afines á la novela" aufgenommen hat. Was die italienischen Verhältnisse anbelangt, so ist endlich auf eine weitere, 1
) F a r a i , Les Jongleurs en France au MA., 187. fase. Bibl. de l'École des h. études, 1910. ) D. G u e r r i , La corrente popolare nel Rinascimento, Bibl. Stor. del Rinasc. V i l i , Firenze 1931. 8 ) Dies und das Folgende in Anlehnung an Curtius ELLM S. 390 Fn. 3 und S. 436—37. Texte bei G. C o h e n , La „comédie" latine en France au 12 e siècle, 2 vol., Paris 1931. 2
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von Francesco F l o r a 1 ) angedeutete Analogie zu verweisen, die zweifellos mehr bedeutet als ein äußeres kulturhistorisches Merkmal: „Alcune novelle [seil, der novelle antiche] son da considerare soltanto uno schema per la narrazione, come minimi scenari della commedia dell'arte. E veramente, anche prima della commedia dell'arte, esisteva la novella deWarte: ed esisterà nel Cinquecento dei racconti bandelliani, e anche più tardi". Wenn die Improvisation bei Bandello auch vorwiegend Fiktion sein dürfte, so kannten doch die Spanier offenbar im 16. Jahrhundert Stegreifnovellen, wenn wir einer Gebrauchsanweisung T i m o n e d a s trauen dürfen. Dem Buch El sobremesa y alivio de caminantes de Joan Timoneda: en el quai se contienen affables y graciosos dichos, cuentos heroycos y de mucha sentencia y doctrina (Zaragoza 1563) wurde in der gereinigten Ausgabe von 1576 (Alcalá de Henares) eine „Epistola al lector" mit folgender Bemerkung beigefügt: „facilmente lo que yo en diversos años he oido, visto y leido, podras brevemente saber de coro, para decir algún cuento de los presentes. Pero lo que más importa para ti y para mi, porque no nos tengan por friáticos, es que estando en conversación, y quieras decir algún contecillo, lo digas al propósito de lo que trataren". Menéndez y Pelayo bemerkt zu diesen contecillos, sie seien „narrados con brevedad esquemática, sin duda para que ,el discreto relatador' pudiese amplificarlos y exornarlos a su guisa" 2 ). Teilweise waren diese Geschichten Timonedas nur dürre Inhaltsangaben fremder Erzeugnisse, die durch Stegreifausschmückung sozusagen rekonstruiert werden konnten (a. a. O. S. X L I I I ) . Von Stegreiferzählung wollte Timoneda aber schon in seinem Patrañuelo (1566 ?) nichts mehr wissen, dem er im Prolog u. a. das Rezept mitgab : „Tú, trabajador, [ . . . ] yo te desvelaré con algunos graciosos y asesados cuentos, con tal que los sepas contar como aquí van relatados, para que no pierdan aquel asiento y lustre y gracia con que fueron compuestos" (a. a. 0 . S. XLVIII). Über die Tradition des frei improvisierenden Erzählens ungeschriebener volkstümlicher cuentos und contos in Spanien und Portugal, die freilich an die Voraussetzung der Existenz einzelner, mit Gedächtnis und Mimik wohlbegabter Erzählertalente gebunden sein mußte, handelt Menéndez y Pelayo mehrfach in Kapitel I X seiner Orígenes de la Novela. I n Briefen D i d e r o t s an Mlle Voland (1760) sind schließlich einige Inhaltsangaben von Erzählungen des Abbé G a l i a n i überliefert, Grundrisse echter italienischer „novelle dell'arte" in französischem Gewand, die Galiani selbst nicht für literarisch fixierbar gehalten zu haben scheint. „On a dit — schreibt dazu R i s t e l h u b e r 3 ) — que les contes perdaient à la lecture, parce que leur auteur ne se contentait pas de les débiter, mais qu'il les jouait comme un mime et faisait de chacun d'eux une petite pièce, une parade en action, s'agitant, se démenant, dialoguant chaque scène, et faisant accepter les libertés et même les indécences. Nous le voulons bien". Damit ist — in Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, vom 13. bis zum 18. Jahr1
) Francesco F l o r a , Storia della Letteratura ital. I, Milano 1940, S. 122. ) Orígenes de la Novela II S. XLII. 3 ) In Introduction zu Un Napolitain du dernier Siècle. Contes, Lettres et Pensées de L'ABBÉ GALIANI avec Introduction et Notes, Paris 1866, S. I. 2
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hundert — nicht die Existenz einer an Formgesetze gebundenen Gattung nachgewiesen, sondern gerade das Gegenteil : die Fähigkeit und Tendenz der Novellistik, nicht nur literarischen Niederschlag zu finden, sondern eine Freiheit künstlerischen Ausdrucks zu bewahren und die Grenzen offenzuhalten zwischen Erzählung und Dialog, zwischen Komödienstil und epischem Stil, zwischen Distanzierung und Vergegenwärtigung. Das Beispiel des Abbé Galiani, dessen Stegreifnovellen nicht einmal ein Diderot anders als im Skelett der Inhaltsangabe zu überliefern vermochte, beweist zugleich, daß das Novellieren eine seltene, nicht leicht erlernbare Kunst und das „Reihumerzählen", das in der literarischen Novellistik eine so bedeutende Rolle spielt, immer Fiktion ist 1 ).
II. Italien 1. B o c c a c c i o s P r o t e s t Aus Zeugnissen des 12., 13. und 14. Jahrhunderts wurde deduziert, daß das Mittelalter im novellistischen Ausdruck belehrende Unterhaltung, Verknüpfung des Angenehmen mit dem Nützlichen, individuelle Belege universaler Wahrheiten, Beispiele immer wiederkehrender Fälle suchte, daß das Novellieren nicht in dem gleichen Ansehen stand wie die hohe Dichtkunst, daß die Autoren aber gerade darum den Anschein historischer Zuverlässigkeit als eine der Grundlagen literarischer Autorität anstrebten. Dem sei gegenübergestellt, was der Autor des Decameron in seinem Proemio und in verschiedenen Teilen der Rahmenerzählung über das Wesen und die Bestimmung seiner Novellen äußert. Das Programm, das sich im Untertitel seines Hundert-Novellen-Buches kundgibt — II Decameron — cogniominato principe galeotto — bleibe hier außer Betracht 2 ). Auch die reiche theoretische Literatur über x
) Zur Fiktion des Reihumerzählens, an deren kulturhistorische Grundlagen noch moderne Literarhistoriker wie M e n é n d e z y P e l a y o , O. W a l z e l und J. N a d l e r (ζ. Β. Italien u. die dt. Romantik, in Germania, Jahresbericht des Ital. Kult.-Inst. Wien 1942, S. 32ff.) glauben: P. Rajna, in R X X X I (1902) S. 28ff. sowie Verf. in R J b II (1949) S. 86. 2 ) A. F. M a s s é r a , nach dessen Ausgabe des Decameron (Scrittori d'Italia, Boccaccio, Opere VII u. VIII, Bari 1927) im Folgenden zitiert wird, unterdrückt im Titel die Worte „cogniominato principe galeotto", die er für apokryph hält. Wir schließen uns mit anderen dieser Auffassung nicht an (man vgl. Verf. Fürst Galeotto, in Deutsche Beiträge (1949) III, S. 168ff.). — Diesbezgl. Fn. bei Russo a. a. O. S. 1. — Zur kritischen Literatur der Kommentare und Deutungen des Decameron, Bibliographie bei Russo a. a. O. S. X I u. S. 301, sowie im Anhang zu Carlo G r a b h e r , G. Boccaccio, Leben u. Werk des Frühhumanisten, Hamburg 1946 (Original in „I grandi Italiani", Collana di Biografie dir. da L. F e d e r z o n i , unter d. Titel: Gio. Boccaccio, Torino 1941). — In Boccaccios Elegia di Madonna Fiammetta (wahrscheinlich 1342) Cap. I wird „novella" definiert als an Erlebtes anknüpfende, Erlebtes tarnende, durch Einsetzung fingierter Namen irreführende und daher für die Eingeweihten belustigende, phantasievoll ausgeschmückte Liebesgeschichte oder Lügengeschichte: „Né a questo contento stando, s'ingegnò, per figura parlando, e d'insegnarmi a tale modo parlare, e di farmi più certa de' suoi disii, me Fiammetta, e sé Panfilo nominando. Oimé! quante volte già in mia presenza e de' miei più cari, caldo di festa e di cibi e d'amore, fignendo Fiammetta e Panfilo essere stati greci, narrò egli come io di lui, ed esso di me primamente stati
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Boccaccio steht hier nicht zur Debatte, sondern seine „Poetik", soweit sie sich aus dem Rahmen des Decameron erschließen läßt. Boccaccios Bemerkungen über Wesen und Zweck des Werkes stellen sich in zwei deutlich von einander geschiedenen Gedankengruppen dar. Das „Proemio", die „Introduzione" und die „Chiuse" zum 1., 2. und 3. Tag enthalten eine unvoreingenommene ruhige Darlegung dessen, was der Autor seinen Leserinnen (er wendet sich an die Frauenwelt) mit den Novellen bieten will. Mit dem Proemio zum 4. Tag ändert sich der Ton der Erörterung, denn unterdessen hat die Kritik sich zum Wort gemeldet, und der Dichter antwortet den Theoretikern in scharfer Polemik, die er in der „Conclusione dell'Autore" abklingen läßt. Im Vorwort sagt er über seine Absichten unter anderem folgendes aus : Die Novellen des Decameron sollen einen nützlichen Zweck erfüllen; sie sollen den durch Sittengesetze und äußeren Zwang zur noia (Bd. I S. 3, 4, 5) und malinconia (S. 4) verurteilten Frauen durch „nuovi ragionamenti" (S. 4) Erleichterung und Trost verschaffen; sie sollen durch Darstellung des angenehmen oder schwierigen Verlaufs von Einzelfällen der Liebe gleichzeitig kurzweilige Unterhaltung und nützlichen Rat bieten. Als Beispiel heilsamer Wirkung solcher „piacevoli ragionamenti" (S. 3) führt der Autor sich selbst an, der durch guten Zuspruch eines Freundes am Leben erhalten worden sei, als ihn der Schmerz über eine erkaltende Liebe zu töten drohte. Das treibende Motiv seiner Erzählungen sei das Streben nach „sostenimento, o conforto che vogliam dire" (S. 4), die besonders dort angebracht seien, „dove il bisogno apparisce maggiore, sì perchè più utilità vi farà" (ebda.). Er schreibe und erzähle „in soccorso e rifugio di quelle che amano" (S. 5). Die „cento novelle, o favole o parabole o istorie che dire le voghamo" werden enthalten: „piacevoli ed aspri casi d'amore ed altri fortunosi avvenimenti [. . . ] così ne' moderni tempi avvenuti come negli antichi". Während die Leserinnen „parimente diletto delle sollazzevoli cose in quelle mostrate ed utile consiglio potranno pigliare, e conoscere quello che sia da fuggire e che sia similmente da seguitare", wird ihnen die noia schon vergehen. Dieses Ergebnis freilich wird nur Amore zu verdanken sein, „il quale liberandomi da' suoi legami mi ha conceduto di poter attendere a' loro piaceri" (ebda.). Das Proemio macht für die Novellen des Decameron offenbar die gleichen Merkmale geltend, wie sie für die verschiedenen Sonderarten novellistischer Erzählkunst vor Boccaccio bereits erschlossen wurden : Verbindung des Unterhaltenden mit dem Belehrenden, Darbietung von individuellen Sonderfällen zur Exemplifizierung richtigen oder falschen Verhaltens, Verknüpfung von Nutzen und Vergnügen; die Novellen als eine definierbare Gattung mit Formgesetzen und theoeravamo presi, con quanti accidenti poi n'erano seguitati, e a' luoghi e alle persone pertinenti alla novella dando convenevoli nomi. Certo io ne risi più volte, e non meno della sua sagacità che della semplicità degli ascoltanti. [. . . ] Io, semplicissima giovane e appena potente a disciogliere la lingua nelle materiali e semplici cose tra le mie compagne, con tanta affezione li modi del parlare di costui raccolsi, che in brieve spazio io avrei di fingere e di parlare passato ogni poeta ; e poche cose furono alle quali, udita la sua posizione, io con una finta novella non dessi risposta dicevole". [Edit. P e r n i c o n e , Scrittori d'Italia N. 171, S. 26—27.] Man vgl. damit den Gebrauch angeblicher Decknamen für die Rahmen-Personen des Decameron.
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retischer Grundlage aufzufassen, kommt Boccaccio ebenso wenig in den Sinn wie seinen Vorgängern. Er unterstreicht sogar die Vielgestaltigkeit der Novellistik, die ,,o favole o parabole o istorie", sowohl erfundene Geschichten und Legenden wie Gleichnisse und Märchen oder wahre Begebenheiten in sich begreift, ohne sie von einander abzugrenzen. Leicht ließe sich das Wirken der topischen Tradition im Proemio nachweisen. Die „taedium"-Formel findet sich in der noia und malinconia wieder, die „nuovi ragionamenti" sind, wenn man von ihrem ironischen Hintersinn absieht, eine Abwandlung des Topos „noch nie Gesagtes" 1 ). Aber Boccaccio beweist, wie eben ein origineller Geist die alten Formeln sprengt, wie man der Welt das Bekannteste in neues Licht rückt. Er müßte nicht Trobador und Joglar am neapolitanischen Hof gewesen sein, um, sobald mit der Introduzione zum 1. Tag die Fiktion einsetzt, nicht verbürgte Tatsachen vorzutäuschen. Die Personen des Rahmens werden unter Berufung auf zuverlässige Zeugenaussagen eingeführt: sie versammelten sich in Santa Maria Novella „sì come io poi da persona degna di fede sentii". Nur die den vornehmen Gesellschaftskreisen geschuldete Diskretion zwingt den Autor angeblich, ihre wirklichen Namen durch Decknamen zu ersetzen: „Li nomi delle quali io in propria forma racconterei, se giusta cagione da dirlo non mi togliesse" (S. 17—18). Er müßte nicht Dichter gewesen sein, wenn er innerhalb der Fiktion das Beispielhaft-Belehrende, das er im Proemio versprochen hatte, nicht völlig hinter dem Erzählgenuß zurücktreten ließe. Der „montagna aspra ed erta" wird „un bellissimo piano e dilettevole", der „brieve noia" der einleitenden Pestbeschreibung werden ,,la dolcezza ed il piacere" folgen (S. 9). Die kleine Gesellschaft freut sich auf „quella festa, quell' allegrezza, quello piacere", denen nur zwei Grenzen gesetzt sind: „il segno della ragione" (S. 20) und die Gepflogenheiten ,,di costume e di leggiadra onestà" (S. 17). Obgleich die Verbindung von Vergnügen und Nutzen beim Novellieren auch später gelegentlich in Erinnerung gebracht wird — „al novellare torneremo, nel quale mi par grandissima parte di piacere e d'utilità similmente consistere" (Bd. I S. 86); „ciascun pensi di dire alcuna cosa che alla brigata esser possa utile o almeno dilettevole" (I S. 178); „Questo così [ . . . ] gli animi vostri ben disposti a valorosamente adoperar accenderà" (Bd. I I S. 232) —-, kennzeichnet der Autor das Spiel des Novellenerzählens (denn es handelt sich zum ersten Mal um die Fiktion eines Gesellschaftsspiels) als ein unernstes Unternehmen, zu frivol um auch am Freitag, dem Tag der Leiden Christi, oder am Sonnabend, der nicht nur der Körperpflege, sondern auch der Anbetung der Jungfrau Maria geweiht ist, fortgesetzt zu werden: „quello a memoria riducendoci che in così fatti giorni per la salute delle nostre anime addivenne" (II S. 99; vgl. I S. 177—78). Alle Traditionen der älteren Novellistik scheinen also in Vorwort und Rahmen 1
) Zu diesen Topoi Curtius ELLM S. 93. — Boccaccios Nützlichkeitsthese wird einmal von Matteo Bandello (vielleicht unabsichtlich) ad absurdum geführt. Er behauptet in seiner Novelle II 24, die Protagonisten dieser Erzählung hätten sich zweifellos klüger benommen, wäre ihnen Decameron III 2 bekannt gewesen. Das heißt doch, daß die Novelle Bandellos gegenstandslos, also ungeschrieben geblieben wäre, hätte das Decameron den von seinem Autor versprochenen Nutzen gebracht.
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gewahrt zu sein: Exemplifizierung zum Zweck der Belehrung, Verbindung von Nutzen mit Kurzweil, Vortäuschung verbürgter Tatsachen, Auffassung des Geschichtenerzählens als einer mit ernsten Dingen unvereinbaren Kunstübung. So stellt sich von der theoretischen Seite her das Decameron auf den ersten Blick als das gleiche dar wie die vorangegangene Prediger- und Spielmannsnovellistik. Sind aber solche, ohne Heranziehung der Novellen und ihrer dichterischen Ausgestaltung gefundene Übereinstimmungen hinreichende Kriterien für die Findung eines Gattungsgesetzes oder einer „gemeinromanischen Urform" ? Boccaccios Vorwort, Rahmen und Nachwort schließen sich in vieler Hinsicht an die jüngst von E . R . C u r t i u s in Erinnerung gebrachten Prooemien-, Prologund Epilogtraditionen an, die seit dem Altertum durch das ganze Mittelalter wirksam geblieben waren1). Mit den Beteuerungen über die Nützlichkeit und die Trostwirkungen seiner Erzählungen, über die „Neuigkeit" seiner Beweisführungen (im Terminus „nuovi ragionamenti" stecken, abgesehen von den Nebenbedeutungen von nuovo, die Traditionen der Gerichtsrede und der Topos „nie Gesagtes" 2 )), über den angeblich belehrenden Inhalt seiner Exemplifizierungen, spielt er ohne Zweifel auf die literarischen Konstanten der Poetik (Cicero und Horaz: „Nutzen der Poesie"; Beda: „Trostwirkung" u. dergl.) an. Trotzdem zeigt die kritische Betrachtung der Anschauungen Boccaccios allein in der einleitenden, noch nicht durch die Polemik gegen die Kritik belebten Darlegung seines Planes, daß er nur scheinbar an der Tradition hing, nur scheinbar auf die Theorie Rücksicht nahm. Neben überlieferte Auffassungen tritt gerade bei Boccaccio das Neue. Er ist ein Rebell gegen das „Gesetz". Neu ist es, daß der Autor sich von vorn herein zu den favole und parabole unter seinen Novellen ausdrücklich bekennt. Nicht grundsätzlich behauptet er, nur verbürgte Tatsachen zu berichten. Die Beteiligung der Fiktion am Werk wird zugegeben. Favole und parabole treten gleichberechtigt neben istorie. Die „casi d'amore ed altri fortunosi avvenimenti [ . . . ] così ne' moderni tempi avvenuti come negli antichi" werden damit — zum ersten Mal — bewußt in jenes Zwielicht zwischen Wahrheit und Dichtung gerückt, das den Reiz und das Erregende der großen Erzählkunst ausmacht. Umstürze vollziehen sich auch in der Gepflogenheit des Exemplifizierens. Gewiß ist die Themenstellung, „la data proposta" (I S. 68) für einzelne Tage und die Verpflichtung der Erzählenden zur Darstellung von Einzelfällen als individueller Belege des allgemein Gewußten und Vorausgesetzten, eine die Freiheit der Erzählung einengende Selbstbeschränkung, zu der in der Chiusa des ersten Tages gesagt wird, sie sei gegeben, „a restrignere dentro ad alcun termine quello di che dobbiamo novellare" (S. 66). Gewiß hegt diese Beschränkung in der Tradition des die Lehre illustrierenden Exempels oder der tenzonierenden Kasuistik. Das Exempel moralisiert hier nicht mehr, aber es belehrt offenbar doch noch in praktisch-erotischem Sinne. Wie nahe „la data proposta"
1) Vor allem R F L U I (1939) S. 147ff.; R F LIV (1940) S. 140ff.; ZrPh LXIII (1943) S. 245ff. sowie ELLM. — Über die von germanistischen Theoretikern unterstellte „gemeinromanische Urform": R J b I I S. 81 ff. 2 ) Dazu Curtius u. a. in ZrPh LXIII S. 247—48.
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dem Diskussionsthema des Joe partit stehen kann, zeigt die Fragestellung des dritten Tags : di „chi alcuna cosa molto disiderata con industria acquistasse o la perduta recuperasse". Die Gewohnheit des Exemplifizierens ist aber im Decameron dreifach durchbrochen. Gleich am ersten Tag „si ragiona di quello che più aggrada a ciascuno", weil zu Vorbereitung und Überlegung von Beispielen angeblich nicht die erforderliche Zeit zur Verfügung steht. In der Chiusa des achten Tags durchbricht die Königin des neunten das Gesetz des Beispielzwanges mit folgenden Worten: „Dilettose donne, assai manifestamente veggiamo che, poi che i buoi alcuna parte del giorno hanno faticato sotto il giogo ristretti, quelli esser dal giogo alleviati e disciolti, e liberamente dove lor più piace, per li boschi, lasciati sono andare alla pastura : e veggiamo ancora non esser men belli, ma molto più, i giardini di varie piante fronzuti che i boschi ne' quali solamente querce veggiamo ; per le quali cose io estimo, avendo riguardo quanti giorni sotto certa legge ristretti ragionato abbiamo, che, sì come a bisognosi, di vagare alquanto, e vagando riprender forze a rientrar sotto il giogo, non solamente sia utile ma opportuno. E per ciò quello che domane seguendo il vostro dilettevole ragionar sia da dire, non intendo di ristrignervi sotto alcuna spezialtà, ma voglio che ciascuno secondo che gli piace ragioni, fermamente tenendo che la varietà delle cose che si diranno non meno graziosa ne fia che l'avere pur d'una parlato" (II S. 184). Einer der Beteiligten aber fordert von vorn herein, sich dem Beispielzwang nicht unterziehen zu müssen. Es ist Dioneo, der in der Chiusa des ersten Tags der Königin des zweiten die Bitte vorträgt, „che io a questa legge non sia costretto di dover dire novella secondo la proposta data, se io non vorrò, ma qual più di dire mi piacerà. Ed acciò che alcun non creda che io questa grazia voglia sì come uomo che delle novelle non abbia alle mani, infino da ora son contento d'esser sempre l'ultimo che ragioni" (I S. 68). Eine Bescheidenheit, die kaum verhehltes Raffinement ist, gibt doch die letzte Geschichte jedem Tag den nachhallenden Schlußakzent, ist es doch ein alter Kunstgriff in der Literatur, das Bedeutende oder das, worauf der Autor den höchsten Wert legt, an den Schluß zu stellen —, wie es später auch P e t r a r c a in jenem Brief an Boccaccio betonte, mit dem er ihm seine lateinische Übersetzung der „Griseldis" übersandte, der letzten der hundert Novellen1). Schon während Dioneo spricht, hat man den Eindruck, Boccaccio selbst aus dem Buch heraus reden zu hören ; und die Gedanken der Königin, die Dioneos Bitte gewährt, scheinen unseren Verdacht zu bestätigen: „La reina, la quale lui e sollazzevole uomo e festevole conoscea, ed ottimamente s'avvisò, questo lui non chieder se non per dovere la brigata, se stanca fosse del ragionare, rallegrare con alcuna novella da ridere, col consentimento degli altri lietamente la grazia gli fece" (I S. 68). Womit Dioneo als der nie ermüdende, witzige, originelle Erzähler 1
) Petrarca, Epistolae seniles, lib. XVII ep. 3 (vom 8. VI. 1374) : „Cogitatio supervenit fieri posse, ut nostri etiam sermonis ignaros tam dulcís historia delectaret, cum et mihi semper ante multos annos audita placuisset, et tibi usque adeo placuisse perpenderem, ut vulgari eam stilo tuo censueris non indignam et fine operis, ubi rhetorum disciplina validiora quaelibet collocar! jubet". (Opera I S. 540.)
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herausgestellt ist, von dem zweifellos in erhöhtem Maße „nuovi ragionamenti" zu erwarten sind, wie sie der Autor im Vorwort versprach 1 ). Gesetz, Gewohnheit, Vorschrift, Tradition empfangen in diesen drei Ausnahmen des ersten und des neunten Tages und des Erzählers mit der Redefreiheit schon empfindliche Schläge, so daß es unverzeihlich wäre, sie in Boccaccios Novellenpoetik nicht zu verbuchen und an den Bekenntnissen zur dichterischen Freiheit in der Ansprache der Königin des neunten Tages und in Dioneos Bitte achtlos vorbeizugehn. Aber damit sind wir schon in die zweite Phase von Boccaccios Gedanken zur Novellistik, in die polemische Auseinandersetzung mit der Theorie, eingetreten. Offiziell beginnt diese Replik mit dem Proemio zum vierten Tag (I S. 269ff.), wo der Autor sich gegen ,,lo 'mpetuoso vento ed ardente della 'nvidia", gegen „il fiero impeto di questo rabbioso spirito" (S. 269) zu verteidigen beginnt und „da cotanti e da così fatti soffiamenti, da così atroci denti, da così aguti strali" sich „sospinto, molestato ed infino nel vivo trafitto" fühlt (S. 270). Er berichtet selbst, was die Kritik an den, nach seiner Auffassung einfachen und anspruchslos geschriebenen Geschichten („le presenti novellette [ . . . ] , le quali non solamente in florentin volgare ed in prosa scritte per me sono e senza titolo, ma ancora in istilo umilissimo e rimesso quanto il più si possono" (S. 269)) auszusetzen hat 2 ). Die häufigsten und schärfsten Einwände sind moralischer Natur und unterscheiden sich nur durch den Grad der Entrüstung, mit dem sie vorgetragen sind. Getadelt werden Boccaccios Freude an erotischen Stoffen, seine angebliche Absicht erotischer Beeinflussung des weiblichen Geschlechts und die vermeintliche Unvereinbarkeit solcher Tendenzen mit der Reife seiner Jahre. Statt dieser frivolen Neigungen empfehlen die Kritiker — immer nach Boccaccios eigenem Bericht : „che io farei più saviamente a starmi con le Muse in Parnaso che con queste ciance mescolarmi tra voi" (S. 269) oder, was er als beleidigender empfindet: „che io farei più discretamente a pensare donde io dovessi aver del pane che dietro a queste frasche andarmi pascendo di vento" (S. 270). Für diese große Gruppe der Zensoren sind demnach Boccaccios Novellen bloße Albernheiten (ciance) und Possen (frasche) ohne Gehalt, fern von allem, was als Dichtung und Beschäftigung mit den Musen gelten darf. Nach ihrer Meinung vergißt der Autor sein Seelenheil, da er, statt nach „Brot" zu streben, sich „vom Winde nährt". Andere Kritiker werfen ihm schließlich Ungenauigkeit der erzählerischen N. S a p e g n o , Il Trecento, Milano 1934 (Storia letteraria d'Italia) S. 348, nennt die drei Männer der Rahmengesellschaft, Panfilo, Filostrato, Dioneo „tre facce dell'uomo stesso Boccaccio". — L. Russo a. a. O. S. 286 lehnt den Gedanken einer Selbstdarstellung Boccaccios ab, er sieht in Dioneo lediglich „l'animalità giovanile nella sua fase più ingenua e più sfrontata". Zur „comparsa diretta dell'autore" im Decameron-Rahmen: Giuseppe B i l l a n o v i c h , Restauri Boccacceschi (Storia e Letteratura. Racc. di Studi e Testi a cura di A. S c h i a f f i n i e G. d e L u c a , N. 8) Roma 1945 S. 3ff. 2 ) In diesem Satz wirkt aus der antiken Prologtradition nach, was Curtius in R F LIY (1940) S. 153ff. und ZrPh LXIII (1943) S. 245ff. unter dem Topos affektierte Bescheidenheit zusammenfaßt. Wie nachhaltig durch diesen Satz Boccaccios die „Unfähigkeitsbeteuerung" der Prooemientopik und die römischen Formeln der parvitas und der mediocritas zusammen mit dem Dogma der Stillage in die novellistische Prologtradition eingeführt werden, zeigen Masuccio und Bandello, um die sich beliebige weitere Beispiele gruppieren ließen.
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Berichte vor: „in altra guisa essere state le cose da me raccontatevi che come io lo vi porgo, s'ingegnano [ . . . ] di dimostrare" (S. 270). Es ist, wie aus Boccaccios späterer Entgegnung hervorgehen wird, der Vorwurf mangelhafter „imitatio", zu freier Behandlung der Stoffe, des Abweichens von den Quellen, der Untreue gegenüber den Vorbildern. Diese vom Autor aufgezählten Vorwürfe der Gegner zeigen auch ihrerseits das Fortwirken jener aus der Vergangenheit erschlossenen Anschauungen über das Novellieren : ciance und frasche — das sind die Kennzeichen joglaresker Unterhaltung ; sie sind dem Dominium der Musen fern ; noch steht das Novellieren im Geruch der Spielmannsgaukelei, wie im Mittelalter alle nicht moralisch-dogmatischen Zwecken huldigende Poesie den „lusus" zugerechnet wurde 1 ). Der Kunstgriff, mit dem Boccaccio seine Novellen als nützliche Unterweisung in die Tradition der Exempla zu rücken versucht hatte, war bemerkt und mißbilligt worden. Seine Belehrung war nicht moralisch beispielhaft, sondern exemplarisch erotisch. Außerdem hatte sich, was er vortrug, als nicht verbürgt erwiesen und als dem Gesetz der Imitatio nicht entsprechend. Man wußte, daß in der Überlieferung alles anders ausgesehen hatte, und man tadelte — nicht etwa, daß er die Motive seiner Geschichten nicht selbst erfunden, sondern daß er die alten Stoffe mit neuem Sinn, mit neuer Gesinnung, mit neuem Ausdruck beladen. Damit sind die Beanstandungen der Zensur aber noch nicht erschöpfend gedeutet. Die Kritik stellt Forderungen, die in nuce die Gesetze der späteren Renaissancedoktrin enthalten, zwei Jahrhunderte vor der Entfaltung des eigentlichen Aristoteleskultes. Die Bemängelung der erotischen Tendenzen war nichts als Tadel wegen mangelnden moralischen Nutzens. Die Verächtlichmachung der Novellen als ciance und frasche war nur Unwille über die Mißachtung der Ratio. Jenes „che onesta cosa non è che io tanto diletto prenda di piacervi e di consolarvi [ . . . ], peggio : di commendarvi", was ist es anderes als ein Verweis wegen fehlender convenevolezza und bienséance ? Die Feststellung, daß die Vorgänge anders dargestellt seien als sie sich zugetragen hätten, beweist schließlich die allgemeine Geltung der Nachahmungspflicht, da die Wahrheit durch die Autorität der Vorbilder festgelegt war. Aus Boccaccios kurzer Zusammenfassung der Vorwürfe seiner Kritiker im Proemio zum vierten Tag sind die mittelalterlichen Überlieferungen der Poetik abzulesen, aus denen später die „klassische Doktrin" entstehen sollte. Hier liegt einer der Beweise dafür, daß die Verbreitung und Kommentierung der „Poetik" des Aristoteles im 16. Jahrhundert nur willkommene Vorwände bieten wird, um alte theoretische Neigungen und nie unterbrochene Traditionen durch Berufung auf eine neu entdeckte klassische Autorität zu restaurieren und sie mit neuer Kraft der immer stärker sich regenden Bewußtheit freien schöpferischen Dranges entgegenzustellen. Das 14. Jahrhundert stand, wenngleich ohne Aristotelesfanatismus, auf dem Boden der Tradition, seine Theoretiker widerstrebten Neuerungsversuchen mit der gleichen Zähigkeit wie B e m b o im Cinquecento. Das 16. Jh. wird die Lehre des Stagyriten auch keineswegs unverfälscht proklamieren, !) Näheres bei Curtius, in RF LUI (1939) S. 18. 3
Novellentheorie
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sondern es wird sie auswerten, wie es gerade zur überlieferten Lehrmeinung paßt, es wird sie nur in das überkommene mittelalterliche Lehrgebäude einfügen 1 ). Schon im Mittelalter traten einander aus verschiedenen Überlieferungen genährte Auffassungen gegenüber, deren Auswirkung noch Boccaccio zu spüren bekam. Auf der einen Seite stand die aus der „Metaphysik", noch nicht aus der „Poetik" des Aristoteles hergeleitete Dichtungslehre des T h o m a s v o n A q u i n ; auf der anderen die Poetik des Albertino M u s s a t o (1261—1329) und seines Zeitgenossen G i o v a n n i del Virgilio 2 ). Während der Aquinate mit der Abwertung der Dichtung, nach der Beweisführung von Curtius, gleichsam die moderne Wissenschaftsund Kunstlehre vertrat (Poesie = weltliche Wissenschaft, vom Menschen erfunden, der Theologie nicht ebenbürtig), ging Mussatos Auffassung vom poeta theologus über die Patristik des Mittelalters (Harmonistik, Bibelpoetik, Ursprung der artes aus Gott) und über die Lateiner auf eine altgriechische Prägung zurück, so daß sie, immer nach Curtius, nicht als humanistisch, sondern eher als reaktionär zu betrachten ist. Wie lebhaft diese Fragen im Jahrhundert Boccaccios diskutiert wurden, beweist die Kontroverse Mussatos mit dem Dominikaner G i o v a n n i n o v o n M a n t u a , der seinerseits für Einordnung der Poesie in das thomistische System, also für die Modernisten eintrat. Das beweist auch das die Dichtung gegenüber der Theologie abwertende Urteil des V e r n a n i v o n R i m i n i über Dante, das eine thomistische Kritik ist3). Thomistisch urteilte auch Cecco d ' A s c o l i über Dante: „Lasso le zanze [ = ciance, wie bei Boccaccios Kritikern] e torno su nel vero, Le favole me fo sempre mimiche". Tradition war die Auffassung von der Verpflichtung der Kunst zu Moralität und Pädagogik, auf die sich ja Boccaccio im Proemio ironisch berief, da er Geschichten von belehrendem Nutzen versprach. Nur sub specie utilitatis wurde Fiktion geduldet, und wenn ein Autor die pädagogische Forderung nicht zu erfüllen gedachte, wie Boccaccio, so gab er sich doch den ironischen Anschein es zu tun 4 ). *) Hier bestätigt der Einzelfall, was B. Croce, Estética a. a. O. S. 198, vom Cinquecento und seinen Theorien her feststellt: „Niente giova meglio a dimostrare che il Rinascimento non oltrepassò i confini dell'antico pensiero estético, quanto il fatto che, nonostante la risorta conoscenza della Poetica aristotelica e i lunghi lavori di cui questa fu oggetto, la teoria pedagogica dell'arte non solo persistette e trionfò, ma venne addirittura trapiantata in pieno testo aristotelico, nel quale gli interpreti la lessero di solito con una sicurezza, che noi ora sentiamo a ritrovare." Die Neuerung der Renaissancepoetik bestand nach Croce a. a. O. S. 201 „non già nella ripetizione della teoria pedagogica dell'antichità e del Medioevo, ma nella ripresa [ . . . ] delle discussioni sul possibile, sul verisimile (εικός) aristotelico, sulle ragioni della condanna platonica e sul procedere dell'artista che crea imaginando". Auf Croce, Estética II Kap. II, können wir uns auch in den folgenden Angaben über die Kontinuität der moralisch-pädagogischen Poetik im MA. und in der Renaissance stützen. 2 ) Vgl. Curtius, Theol. Poetik im ital. Trecento, in ZrPh LX (1940) S. Iff. s ) Abgedruckt bei Curtius a. a. O. S. 14. 4 ) Im Alter äußerte sich Boccaccio mehrfach theoretisch über Fragen der Poetik. So vor allem in De genealogiis deorum gentilium, in der Vita di Dante und im Commento zur Divina Commedia. Er bekannte sich zur theol. Dichtungstheorie, also zur Richtung M u s s a t o s und zur Poesie nicht nur als Inspiration, sondern auch als „arte", d. h. als Beherrschung der grammatischen und rhetorischen Regeln, der wissenschaftlichen Kenntnisse, der poetischen Technik. Zu diesen Fragen : K. V o s s l e r , Poetische Theorien der ital. Frührenaissance, Bln. 1900; Nat. Sapegno, Il Trecento a. a. O. S. 381ff.; Curtius ELLM S. 231—32. 34
Mag nun Boccaccio auch beteuern, er nehme die Rüffel seiner Kritiker „con piacevole animo" hin, um sie „con alcuna leggera risposta tôrmegli dagli orecchi" (I S. 270), so ist seine Entgegnung doch von erfrischender Leidenschaftlichkeit. An den Beginn seiner Replik stellt er ein Exemplum: ,,ηοη una novella intera, acciò che non paia che io voglia le mie novelle con quelle di così laudevole compagnia quale fu quella che dimostrata v'ho, mescolare, ma parte d'una, acciò che il suo difetto stesso sè mostri non esser di quelle", womit er das Exempel gleichsam als unfertige oder kunstlose Novellenskizze hinstellt und ausdrücklich von den 100 anderen Novellen und von der Fiktion der „novellatori" absondert. Es handelt sich um die alte, weitverbreitete Parabel von dem in großer Weltabgeschiedenheit aufgewachsenen, asketisch erzogenen, in eroticis völlig unwissenden Jüngling, der beim ersten Anblick junger Frauen, und obwohl ihm diese als Ausgeburten des Bösen dargestellt werden, in helles Entzücken ausbricht und sie begehrt 1 ). Natürlich macht Boccaccio aus dem orientalischen Königssohn den figliuolo eines Florentiner Bürgers namens Filippo Balducci und aus den ,,Teufelinnen' ' einfache „papere" und „mala cosa". Aber die Geschichte hat deshalb keinen geringeren Gleichniswert. Durch die Placierung in den polemischen Zusammenhang beweist sie durch eine scheinbar nicht weit hergeholte Begebenheit, die sozusagen noch in aller Erinnerung sein sollte, die alle Berechnungen und Hindernisse umstoßende, elementare Gewalt, mit der die Liebe eines noch so unwissenden männlichen Wesens zum weiblichen Geschlecht ausbricht. Ihr Hintersinn aber ist zu beweisen, welch natürlicher Regung der Dichter nachgegeben, als er dieses beanstandete Buch zur Verherrlichung der Liebe zu schreiben unternahm. Über die Abfertigung der moralischen Einwände hinaus bezweckt die Parabel aber noch einen allgemeinen polemischen Ausfall. Zeigt sie doch die Sinn- und Wirkungslosigkeit des theoretischen Kalküls, das Versagen pädagogischer Mühen gegenüber der Gewalt schöpferischer Kräfte. Sie ist also nicht nur Entgegnung auf die moralisierende Strafpredigt, sondern ironische Abfertigung der didaktischen Literarästhetik. Das spontane Entzücken des Jünglings beim Anblick der Frauen, von denen man ihn mit allen Überredungskünsten abwenden will, symbolisiert die künstlerische Intuition, die über Vorschriften, Gesetze und Traditionen der Theorie hinweg zum dichterischen Schöpfungsakt sich sehnt. Nirgends dürfte der Umsturz der ästhetischen Grundanschauungen an der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance von der Seite und dem Standpunkt des Autors her so deutlich und in so tiefem Widerspruch zur Doktrin aufgezeigt worden sein wie in diesem hintersinnigen Exempel. Der Jüngling, der sich von der theologischscholastischen Haltung des asketischen Vaters ab und den Frauen zuwendet, ist Die Parabel des Theonas gelangte durch das früher fälschlich dem J o h a n n e s D a m a s c e n u s zugeschriebene, im 6. oder 7. Jahrh. in Syrien geschriebene, auf der Buddhalegende basierende Buch Barlaam und Josaphat aus dem Orient nach dem Abendland. Schon 1612 soll der Portugiese Diogo do C o n t o das Buch mit der Buddhalegende verglichen haben. Den buddhistischen Ursprung behauptete als erster in neuerer Zeit L a b o u l a y e im Journal des Débats vom 26. VII. 1859. Aber erst F. L i e b r e c h t gelang es, im Jahrb. f . roman, u. engl. Literatur II (1860) S. 314ff., und in Zur Volkskunde, Heilbronn 1879, S. 44Iff. den Beweis zu erbringen. (Man vgl. M . W i n t e r n i t z , Gesch. der indischen Litteratur, in Die Litteraturen des Ostens, II 1. H., München 1913, S. 285ff.).
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der humanistisch empfindende, ein neues Zeitalter heraufführende Dichter. Die Frauen aber sind nicht mehr die Trägerinnen der Sünde, die Beauftragten des Bösen, als welche sie dem Mittelalter und der orientalischen Priesternovellistik erschienen, sondern Inbegriffe eines neuen Lebensgefühls, Ausdruck einer neuen, von Universalien, Pädagogik und Unterweisung sich abkehrenden, nicht theoretisch formulierten Ästhetik, in der sich das Verhältnis des Menschen zur Welt verändert1). Auf diese Parabel, die eigentlich schon alles aussagt, was den Dogmatikern entgegnet werden soll, folgen nun, Punkt für Punkt, Boccaccios kurze Entgegnungen auf die Einwände der morditori und riprensori. Der Vorwurf sträflicher Neigung zum weiblichen Geschlecht wird durch Sätze beantwortet, die ohne Übertreibung ein Gedicht in Prosa zur Verherrlichung der Frauen und der Liebe genannt werden dürfen2). Wegen der vermeintlichen Unvereinbarkeit solcher Liebe mit Boccaccios Alter beruft sich der Autor auf ,,Guido Cavalcanti e Dante Alighieri già vecchi e messer Cino da Pistoia vecchissimo" (S. 273)3) und auf eine Reihe historischer Persönlichkeiten, die noch in reifen Jahren den Frauen zu gefallen strebten —, was sich auf Grund der „istorie" beweisen ließe, stände die Schreibweise des Historikers nicht im Widerspruch zur hier erstrebten Kunst, zur novellistischen Fiktion: ,,E se non fosse che uscir sarebbe del modo usato del ragionare, io producerei le istorie in mezzo" (S. 273)4). Eine Erwiderung, die in sich schon eine Antwort auf den Vorwurf der Ungenauigkeit in der Wiedergabe bekannter Motive enthält. Bevor aber diese letzte, sozusagen handwerkliche Frage angeschnitten Über die Bedeutung der Frauen in den poetischen Anschauungen Boccaccios handelt im Hinblick auf das Proemio zum 4. Tag: L. Russo a. a. O. S. 275—76. Zur Invokation und Abwertung der Musen: Curtius, Die Musen im MA., in ZrPh L I X (1939) S. 129ff., ZrPh L X I I I (1943) S. 256ff. und ELLM S. 233ff.; zu Boccaccio auch ebda. S. 244. 2 ) Da eine Inhaltsangabe dieses programmatische Stück früher ital. Prosa seines wesentlichen Reizes entkleiden würde, geben wir es im vollen Wortlaut: „Dicono adunque alquanti de' miei riprensori che io fo male, o giovani donne, troppo ingegnandomi di piacervi, e che voi troppo piacete a me. Le quali cose io apertissimamente confesso, cioè che voi mi piacete e che io m'ingegno di piacere a voi ; e domàndogli se di questo essi si meravigliano, riguardando, lasciamo stare all'aver conosciuti gli amorosi basciari ed i piacevoli abbracciari ed i congiugnimenti dilettevoli che di voi, dolcissime donne, sovente si prendono, ma solamente ad aver veduto e veder continuamente gli ornati costumi e la vaga bellezza e l'ornata leggiadria ed oltre a ciò la vostra donnesca onestà : quando colui che, nudrito, allevato, accresciuto sopra un monte salvatico e solitario, infra li termini d'una piccola cella, senza altra compagnia che del padre, come vi vide, sole da lui disiderate foste, sole addomandate, sole con l'affezion seguitate. Riprenderannomi, morderannomi, lacererannomi costoro se io, il corpo del quale il cielo produsse tutto atto ad amarvi, ed io dalla mia puerizia l'anima vi disposi sentendo la vertù della luce degli occhi vostri, la soavità delle parole melliflue e la fiamma accesa da' pietosi sospiri, se voi mi piacete o se io di piacervi m'ingegno: e spezialmente guardando che voi prima che altro piaceste ad un romitello, ad un giovanetto senza sentimento, anzi ad uno animai salvatico ? Per certo chi non v'ama e da voi non disidera d'essere amato, sì come persona che i piaceri nè la virtù della naturale affezione nè sente nè conosce, così mi ripiglia: ed io poco me ne curo" (I S. 272—73). s
) Nicht ganz mit Recht, nach Russo a. a. O. S. 276, der auf „L'ascesi spirituale dei poeti dello stil novo" verweist. *) Boccaccios Amorosa Visione bietet, freilich auch nicht im Sinne geschichtlicher Dokumentierung, die Fülle der Beispiele, die hier aus dem Rahmen fiele.
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wird, gilt es, natürlich ironisch, die Anregung der Kritiker aufzugreifen, lieber „con le Muse in Parnaso" zu verweilen als sich mit Frauen von dieser Welt abzugeben. Nun, meint Boccaccio, das ist nicht so übel, denn auch Musen sind Frauen, und gefielen mir die Frauen nicht ohnehin, dann täten sie es, weil sieden Musen irgendwie ähnlich sind : „senza che, le donne già mi für cagione di comporre mille versi, dove le Muse mai non mi furono di farne alcun cagione" (S. 273—74). Wenn die dichterische Inspiration auch nicht von den Musen ausging, so kam sie doch von den Frauen: „per che, queste cose tessendo, nè dal monte Parnaso nè dalle Muse non mi allontano quanto molti per avventura s'avvisano" (ebda.). Diese neue Huldigung vor den Frauen ergänzt, was bereits aus der Parabel zur Ästhetik Boccaccios erschlossen werden konnte und was die zitierten Untersuchungen Russos (a. a. 0. S. 275—76) bestätigen. Die gröbste Antwort gibt der Autor auf die sorgenvollen Äußerungen der Widersacher über sein gefährdetes Seelenheil. Die Metapher vom Brot wörtlich nehmend, stellt er sich als ausreichend versorgt und allen Wechselfällen gewachsen hin: ,,e per ciò a niun caglia più di me che a me" (ebda.)1). Schließlich die Antwort auf die Behauptung derer, „che queste cose così non essere state dicono". Sie ist die kürzeste aller Erwiderungen. Sie widerlegt nichts. Sie fordert nur höhnisch heraus: „avrei molto caro che essi recassero gli originali, li quali se a quel che io scrivo discordanti fossero, giusta direi la lor riprensione e d'ammendar me stesso m'ingegnerei : ma infino che altro che parole non apparisce, io gli lascerò con la loro oppinione, seguitando la mia, di loro dicendo quello che essi di me dicono" (I S. 274). Wie daraus hervorgeht, handelte es sich nicht um die Frage mehr oder weniger frei nacherzählter zeitgenössischer Begebenheiten, sondern um das Problem der imitatio, dessen Gesetzen Boccaccio sich nicht beugte. Es geht um die literarischen Vorlagen und Muster, von denen er sich in unerlaubter Weise entfernt hatte, deren Autorität er durch sein eigenwilliges Verfahren verletzte und stürzte. Das Entscheidende ist geschehen, daß in seinen Novellen seit langem bekannte und weither überlieferte Stoffe nur noch den Vorwand abgaben, nicht mehr um ihrer selbst willen, um ihrer Beispielhaftigkeit willen, weitererzählt werden, daß der Akzent sich aus dem Stofflichen in den Ausdruck verlagert hat. Man konnte damals noch nicht formulieren, was in Boccaccios Novellistik vor sich gegangen war. Man sah nur das eine: mit den „Originalen" hatte diese Erzählweise nichts mehr zu tun8), die imitatio fehlte, der Autor hatte ein altes Gesetz verletzt. Getreue Berichte über Begebenheiten, wie sie wirklich waren, istorie im Sinne der Wissenschaft, hätten sich — das stellte Boccaccio ausdrücklich fest — mit seinem „modo usato del ragionare" auch nicht vertragen. Der Tadel der Zensoren tut ihm also nicht weh, beweist er ihm doch nur, daß sein Vorhaben ge*) Zur Metapher vom Brot und zu „andarmi pascendo di vento" : Curtius, Speisemetaphem, in R F L V (1941) S. 169ff. a ) Eine klare Erkenntnis, der sich die motivvergleichende Quellenforschung des 19. Jahrhunderts in ihrer Unempfindlichkeit für das Dichterische hochmütig verschloß. Die Übereinstimmung der Motive, die ihr als eine „Entdeckung" erschien und aus der nur wenige Forscher die Mittel zur Bewertung der Werke zogen, bildete im 14. Jahrh. nur den Ausgangspunkt, nicht den Gegenstand einer freilich ebenfalls engstirnigen Anklage.
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glückt ist. Triumphierende Selbstbestätigung ist das höhnische „avrei molto caro che essi recassero gli originali", denn mit seinen Mustern und Quellen stimmt. Boccaccios Darstellung nur im Unwesentlichen überein; ein nach den Gesichtspunkten der geltenden pädagogisch-imitatorischen Poetik angestellter Vergleich des Decameron mit den Motivvorlagen ließe ja die verdammungswürdigen Abweichungen (in unserem modernen Sinn die Originalität) offen zu Tage treten. Boccaccio war sich seiner Sache absolut sicher: jeden Beweis einer Diskordanz zwischen Mustern und Novellen hätte er nicht nur sich zum Lobe angerechnet, sondern als Waffe gegen die Kritiker benutzt. Denn wo keine Übereinstimmung ist, kann der Quellennachweis angezweifelt werden. Wer hätte die Vorlage, das stoffliche oder Formmuster bringen sollen, das Boccaccio als sein Vorbild anerkannt hätte ? Bei der ungeheuren Fülle möglicher Motivparallelen hätte er von Fall zu Fall nur zu antworten brauchen : dies war nicht mein Vorbild —, um die Zensoren in neue Verlegenheit zu bringen und zu neuen Studien und Recherchen zu veranlassen. Wie der Schelm Marcolf in der Salomonlegende, der sich als letzte Gnade ausbittet, wenigstens den Baum wählen zu dürfen, an dem er gehenkt werden soll, und den er natürlich niemals findet, so h ä t t e Boccaccio seine Kritiker im Irrgarten der Novellenmotive bis ans Ende der Tage herumführen können, ohne irgend eine Quelle anzuerkennen oder sich zu irgend einem Vorbild zu bekennen 1 ). Ton und Form seiner Herausforderung zeigen, wie ironisch er sich zur Lehre von der imitatio verhielt. Zuletzt aber, in der „Conclusione dell'Autore", läßt er durch Verflechtung des Quellenproblems mit der Fiktion des Rahmens die Frage wieder in jenes Zwielicht zurücktreten, in dem die „cento novelle, o favole o parabole o istorie" schon im Proemio erschienen waren. Ich selbst, so deutet er an, habe diese Novellen weder erfunden noch erzählt; meine Gewährsleute sind die jungen Damen und Herren, die sich bei Florenz in einer Villa zum Erzählen trafen: „ma io non potea nè doveva scrivere se non le raccontate, e per ciò esse che le dissero le dovevan dir belle, ed io l'avrei scritte belle. Ma se pur presuppor si volesse che io fossi stato di quelle e lo'nventore e lo scrittore, che non fui, dico che io non mi vergognerei che t u t t e belle non fossero" (II S. 325). Auch die Frage des belehrenden Wertes, des moralischen Zweckes läßt er a m Ende wieder anklingen, denn er ist sich der Fragwürdigkeit des pädagogischen Nutzens seiner Novellen (gemessen am Postulat der Doktrin) durchaus bewußt. Das weitgehendste diesbezügliche Eingeständnis läßt er in der Chiusa des zehnten Tags in die Schlußrede Panfilos einfließen: „se io ho saputo ben riguardare, quantunque hete novelle e forse attrattive a concupiscenza dette si sieno, [ . . . ] , cose t u t t e da incitare le deboli menti a cose meno oneste, niuno atto, niuna parola, niuna cosa [ . . . ] ho conosciuta da biasimare" (II S. 319). Mögliche Bedenken der Leserinnen, „che io abbia nello scriver queste novelle troppa licenza u s a t a " (II S. 323), werden mit kühner Dialektik zerstreut. Man könne auch das Gewagteste mit anständigen Worten erzählbar machen; wenn aber etwas Anstößiges in Daher Russo a. a. O. S. 277: „sfida monellescamente i suoi morditori". — Mit dem Dogma der imitatio brachen schon bewußt die „moderni von 1175", wie Curtius in R F LIV (1940) S. 125 einige Theoretiker des 12. Jahrh. nennt.
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irgend einer Geschichte vorkomme, dann liege es an den Eigenschaften der betreffenden Novelle („le qualità delle novelle l'hanno richiesta", S. 323), die nicht anders als in solcher Gestalt erzählt werden könnte: „se io quelle della lor forma trar non avessi voluto, altramenti raccontar non poterle" (S. 324). Welche Parodie auf das „Gesetz' ' Î1). Kurz—und wieder unter polemischem Akzent abschließend— : dem Reinen ist alles rein. „Ciascuna cosa in se medesima è buona ad alcuna cosa, e male adoperata può essere nociva di molte; e così dico delle mie novelle" (S. 325). Der letzte Teil dessen, was wir als Boccaccios Novellenpoetik auffassen, unterstreicht in Form von Entschuldigungen die Merkmale, die seine Novellen noch weiter aus dem Geltungsbereich theoretischer Traditionen hinausrücken. Die „Conclusione dell'Autore", die sich mit der Anrede „Nobilissime giovani" noch deutlicher an die Frauen wendet als das Proemio und den traditionellen Dank des Autors an die Musen durch eine vertrauliche Ansprache an das weibliche Geschlecht ersetzt, sucht den unterschiedlichen Wert und die Uneinheitlichkeit der Form der hundert Novellen nachträglich zu rechtfertigen. „Conviene nella moltitudine delle cose, diverse qualità di cose trovarsi". Auf jedem Acker wachse „tra l'erbe migliori" auch wildes Kraut. Denn es ist nicht mehr wie in jüngst vergangenen Tagen, wo der Dichter sich ausschließlich an einen Leserkreis von Grammatikern, Theologen und Philosophen wandte; nein: „ad avere a favellare a semplici giovanette, come voi il più siete, sciocchezza sarebbe stata l'andar cercando e faticandosi in trovar cose molto esquisite e gran cura porre di molto misuratamente parlare" (S. 325). Deutlicher konnte die Absage an die Dogmatiker nicht ausfallen, schärfer konnte der Schnitt zwischen mittelalterlicher und boccaccesker Poetik nicht sein. Vertieft wird er noch durch eine Entgegnung auf die hypothetische Annahme, daß eine oder die andere Novelle einer Leserin als zu lang erscheinen könnte. Wer keine Zeit hat, braucht sie ja nicht zu lesen; und der Autor erinnert sich „me avere questo mio affanno offerto all'oziose e non alle altre: ed a chi per tempo passar legge, niuna cosa puote esser lunga" (S. 326). Zum Zeitvertreib lesen —, das ist etwas anderes als Lesen nach dem Sinne des literarischen Dogmas. Es ist Verhöhnung der pädagogischen Doktrin, für die es nur Erbauung der Seele, Erhebung des Geistes zu seinen höheren Zielen, nur ein verantwortungsvolles Amt des Dichters in der Hierarchie der ad majorem Dei gloriam Schaffenden gab. Den Unterschied macht Boccaccio mit herausforderndem Spott deutlich: „Le cose brievi si convengon molto meglio agli studianti, li quali non per passare ma per utilmente adoperare il tempo faticano" (ebda.). Das ist nicht Stellungnahme zur brevitas-Formel, sondern humanistische Verachtung des Nützlichkeitsprinzips. Welche Ironie in diesem „utilmente adoperare il tempo", in diesem „faticano" ! Also war auch die ganze im Proemio vorgetäuschte utilità der Novellen nur ein boshafter Witz. Zwei Welten stehen einander gegenüber. Auf der einen Seite die Erudition der 1
) Es bedarf nicht der ausdrücklichen Feststellung, daß Boccaccios Vokabel „forma" mit dem Formbegriff der modernen Literaturwissenschaft nichts zu tun hat, zumal letzterer in Anlehnung an die Terminologie der Kunstgeschichte und in vielfach schillernder Bedeutung gehandhabt wird (man vgl. R J b II S. 87ff.).
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um ihr Seelenheil besorgten Kleriker, die nie Zeit haben und jede Minute „nutzbringend" verwenden; auf der andern das Leben mit seiner Schönheit, seinen Freuden, seiner Fülle von Zeit, die man köstlich vergeuden kann. Zur Leichtigkeit, ja zum Leichtsinn seiner Novellen bekennt sich der Autor deshalb mit fröhlichem Sarkasmus. Wenn eine der Damen etwa meinen sollte, das Decameron enthalte zu viele motti und ciance, zu viele Witze und Possen, deren Erzählung sich nicht für einen Mann in gesetztem Alter gezieme (,,uno uomo pesato e grave", S. 326), so irren sie, denn ,,io non son grave, anzi sono io sì lieve, che io sto a galla nell'acqua" (ebda.), eine ironische, nicht den Frauen zugedachte, sondern an eine andere Adresse gerichtete Antwort; denn „considerato che le prediche fatte da' frati per rimorder delle lor colpe gli uomini, il più oggi piene di motti e di ciance e di scede si veggiono, estimai che quegli medesimi non istesser male nelle mie novelle, scritte per cacciar la malinconia delle femine" (ebda.). Was unter der Maske des Exemplum in die Predigt sich einschleicht, warum sollte es nicht unter der Maske der Novelle zur Kurzweil dienen ? Und was soll überhaupt die ganze Heuchelei der Theorie, wenn die Dogmatiker auf der Kanzel ihren Spott damit treiben ?x) Dies sind Boccaccios beständig mit der Fiktion verwobene Äußerungen zur Novellenpoetik. Was sie an herkömmlichen Ideen enthielten, ist ausgesondert. Daß über sie hinweg die Renaissancetheorie wieder an die didaktischen Doktrinen anknüpfte, ist ebenfalls gezeigt worden. Boccaccios revolutionäres Unternehmen steht also isoliert und ohne einen Umsturz der geltenden Kunsttheorien herbeizuführen, im aufschäumenden Strom der Tradition. Er schuf für sich selbst — und andere große Novellisten werden es halten wie er — einen Ausnahmezustand. Sein Verhältnis zum Werk beruhte auf anderen Voraussetzungen als beim theoriefrommen Mittelmaß. Ähnlich wird sich beispielsweise die Haltung La Fontaines zur Doctrine Classique darstellen. Was aber die Novellen des „Decameron" und ihre Eigenart oder Form angeht, deren „Gesetze" in jüngerer Zeit wieder zum Gattungsgesetz und zur „romanischen Urform" erklärt wurden, so hat einerseits der Dichter selbst nie daran gedacht, das Vielfältige und Unterschiedliche als Gattung oder Norm aufzufassen, während andererseits gerade der Kritiker verpflichtet ist, als Interpret von Werk und Rahmen zu erkennen, mit wievielen Kunstgriffen Boccaccio sich dem Zwang doktrinärer Vorschriften und Einengungen zu entziehen verstand, wie sehr es ihm auf Vielfalt der qualità, auf licenze moralischer, stofflicher und formaler Art ankam, wie genial er sein eigenes Gesetz der „proposta data", der Themenstellung für jeden Tag, aufzulockern, zu entkräften, durch Ausnahmen und „novelle da ridere" ins Erfindungsreiche zu wenden verstand. Einer Täuschung erläge aber, wer, gestützt auf einige (meist ironische) Übereinstimmungen zwischen Boccaccios Novellenpoetik und der Tradition, eine Kontinuität oder Gemeinsamkeit der Regeln und Praezepte in Mittelalter und Frühx
) Ein Hinweis auf Boccaccios spätere moralistische Abwendung von seinen eigenen künstlerischen Schöpfungen und die frömmelnde Reue, die er über die eigenen licenze empfand, würde das Ergebnis unserer Untersuchung nicht beeinträchtigen. Der „Widerruf" konnte weder die einmal geäußerten Ideen noch das Werk widerlegen.
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renaissance oder die „Urform" deduzieren wollte. Eine solche Urform kam nicht einmal den damaligen Theoretikern in den Sinn, denn was sie unter belehrendem Nutzen verstanden, war kein Formkriterium und daher ästhetisch nicht bewertbar. Ihre ästhetischen Konstanten aber waren lediglich technische Kniffe und Vorschriften. Boccaccio nimmt so ausführlich und so leidenschaftlich Stellung, seine Absonderung von der „Schule" ist ihm selbst so bewußt, daß er, hätte er der geltenden Lehrmeinung eine eigene Novellentheorie entgegenstellen oder eine neue „ F o r m " kreieren wollen, dies in denProoemien zum ersten und vierten Tag oder in seinem polemischen Epilog ausgedrückt hätte. An analytischem Scharfsinn und logischen Mitteln hätte es ihm nicht gefehlt. Aber er sagte nein zu jeder Theorie. Er widerlegte nicht nur die landläufigen Theorien, sondern er bekannte sich — vor allem mit der die Polemik einleitenden Parabel — eindeutig zur dichterischen Freiheit. Jede Unterstellung theoretisch kalkulierter Formabsichten oder insgeheim beabsichtigter Gesetzmäßigkeit des Ausdrucks gegenüber einem solchen Werk scheint absurd. Lediglich das Rahmenschema mit der Unterteilung der hundert Novellen in zehn Tagesgruppen erweckt den Anschein der Gesetzmäßigkeit; nur die Bemühung späterer Autoren, dieses Schema mit Novellengruppen und fiktiven Erzählern nachzuahmen, machte den Eindruck der Novellentradition. Aber gerade diese Nachahmung stand im Widerspruch zu Boccaccios persönlichem Bekenntnis, war imitatio, denn nur wenige Auserwählte hatten die K r a f t und das Maß, ihm ebenbürtig zu werden. Ebenbürtig durch eigene, den Prägungen Boccaccios abgewandte Aussagen.
2. P r o l o g t r a d i t i o n u n d Novelle
antiche
Wenn die Sammlungen der Novelle antiche, nicht die einzelnen darin enthaltenen, aus dem 13. und beginnenden 14. Jahrhundert stammenden Stücke, später als das Decameron entstanden — wie B e s t h o r n (a. a. 0 . S. 165—72) mit überzeugenden Argumenten darlegt —, muß eine Untersuchung des als Novella I aufgemachten Vorwortes der Ciento novelle antike oder des Novellino Einblick in die Novellenpoetik zwischen 1353, dem J a h r der Fertigstellung des Decameron, und 1525, dem J a h r des Erstdruckes der alten Novellen, gewähren. Neben der überragenden Persönlichkeit Boccaccios wird der Herausgeber der älteren Novellistik ein literarisch interessierter Vertreter des Durchschnitts, neben der revolutionären Novellenpoetik des Decameron muß die des Geleitwortes zu den alten Novellen entweder traditionell gebunden, vielleicht reaktionär antiboccaccesk oder aber durch Boccaccio beeinflußt sein. Dabei ist zu beachten, daß der Kopist und Kompilator nicht für eigene und moderne Schöpfungen, sondern für etwas Historisches, für alte Geschichten, Anekdoten und Motti eintritt. Die beiden ersten Sätze des kleinen Proemio 1 ) sprechen denn auch völlig aus der Tradition heraus: „Quando lo nostro Singniore Giesu Cristo parlava humanamente con noi, in fra l'altre sue parole, ne disse ke dell'abondanza del quore parla la lingua. Voi c'avete i quori gentili e nobili in fra li altri, acconciate le vostre *) Zitate nach der von Enrico S i c a r d i besorgten Ausgabe: Le Cento Novelle Antiche, Il Novellino, BR 71/72, Straßb. o. J. 3 S. 27—28.
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mentí et le vostre parole nel piacere di Dio, parlando ; honorando et temendo e laudando quel Singniore nostro che n'amò prima ke elli ne criasse, et prima che noi medeximi ce amassimo." — Angeredet werden nicht die Frauen, wie bei Boccaccio, sondern eine Elite frommer Leser, die durch die Adresse ,,Voi c'avete i quori gentili e nobili in fra li altri" in einer stilnovistischen Sphäre geistiger Entrücktheit und Noblesse erscheinen könnten, wenn diese Wendung nicht ein billiges Zitat, eine dem Geist des Dolce stil novo entfremdete captatio benevolentiae wäre1). Der dritte Satz wagt vorsichtig mit dem Motiv der Unterhaltung hervorzutreten, die unter Vorbehalten und Entschuldigungen der vorangegangenen seelischen Erbauung als körperliche Entspannung folgen darf: „Et, in alcuna parte, non displaciendo a lui, si può parlare per rallegrare il Corpo, et sovenire, et sostentare; facciasi con più honestade e più cortesia che fare si puote." Dies sind Topoi der Novellenprologe. Schon P e t r u s A l f o n s i erkannte fleischliche Schwäche in dem menschlichen Bedürfnis nach Unterhaltung: „Fragilem eciam hominis esse consideraui complexionem : que ne tedium incurrat, quasi prouehendo paucis et paucis instruenda est; duricie quoque eius recordatus, et facilius retineat, quodammodo necessario mollienda et dulcificanda est" (S. 1). Er empfahl, sich „exercitatione philosophie" — was nach der mittelalterlichen Poetik Bemühung um gelehrtes Wissen, nicht um Philosophie bedeutete 2 ) — gegen Unglück zu wappnen: „moderata uiuere studeat continencia et ab imminentibus sciat sibi precauere aduersitatibus" (ebda.). So sah A l b e r t a n o da B r e s c i a , der zwischen 1238 und 1248 bei der Niederschrift seines lateinischen Liber consolationis et consilii auch die Disciplina Clericalis ausbeutete, in Unterhaltung, Unterweisung und Tröstung durch Beispiele und Geschichten sogar Möglichkeiten ärztlicher Hilfeleistung: „Imperciò che molti son che si conturbano e affligonsi tanto de l'aversità e ne la tribulazione, che per lo duolo nonn ànno da sè consiglio nè consolamento neuno, nè nonn aspettan d'avere d'altrui, e tanto si contristano e si disconsigliano che ne vengono tal fiata di male in pegio ; voglio ad te, figliolo mio Jovanni, lo quale adoperi l'arte di cirorgia e spesse fiate ne truovi di questi contrarli, mostrarvi alcuna dottrina e ammajestramento, per lo quale co la grazia di Dio tu possi a que' cotali huomini dare medicina, non solamente quanto che per guarire lo corpo loro, ma eziandio tu li possi dare consiglio e acconsolamento, per lo quale ricevano conforto e rallegramento, acciò che non possano di male in peggio divenire."3) !) Das Vorwort der Cento Ν. A. ist größtenteils dem „Prologus" des Petrus Alfonsi zur Disciplina Clericalis (entstanden um 1110) nachgebildet. Auch Petrus beruft sich in den ersten Sätzen auf Gott und die Erleuchtung durch Christi Wort und setzt als Seelenzustand für den rechten Genuß seines Buches fromme Einkehr und Sammlung voraus. Zitate nach: „Sammlung mlat. Texte" Nr. 1 a. a. O. S. 1—2. — Zu Petrus Alfonsi, A l b e r t a n o da B r e s c i a und anderen mlat. Novellisten: Besthorn a. a. O. S. 4ff. mit Literaturnachweisen. 2 ) Laut Curtius ZrPh L X S. 10. 3 ) Zitiert nach Crestomazia ital. dei primi secoli ecc. per Ernesto M o n a c i , Città di Castello 1889, Nr. 114 A (Volgarizzamento von A n d r e a da G r o s s e t o , Paris 1268). Monaci gibt zum Vgl. auch den kürzer gefaßten Text des Volgarizzamento v o n S o f f r e d i d e l G r a z i a , Pistoja 1275. Über Albertanos Einfluß auf die ma. Novellistik, u. a. auf C h a u c e r , ebda. —
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Das von B u s o n e d a G u b b i o wahrscheinlich nur entworfene, nach 1333 von einem Bearbeiter vollendete Buch Fortunatus Siculus ossia l'Avventuroso Ciciliano, das novelleske Erzählungen enthält, verspricht ebenfalls den vom Schicksal Geschlagenen durch „schöne" Beispiele Trost: „belli essempri per ammaestramento di tutti quelli che saranno percossi dalla fortuna del mondo, a donare loro conforto che non si disperino" 1 ). Diese der Novellistik zur Rechtfertigung dienende Schwäche und Trostbedürftigkeit des geplagten Menschengeschlechts machte sich schließlich ja auch Boccaccio zunutze, als er in seinem Proemio die noia der schwachen Frauen zu lindern versprach, „acciò che per me in parte s'ammendi il peccato della fortuna, la quale dove meno era di forza, sì come noi nelle dilicate donne veggiamo, quivi più avara fu di sostegno" (I S. 5). In der ersten Hälfte des vierten Satzes deutet der Herausgeber die Beispielhaftigkeit der Handlungen und Äußerungen der „nobili e gentili" an, unter denen er ebenso wohl die in den Geschichten auftretenden Personen wie seine Leser verstanden wissen will: „ E t a ciò che li nobili e gentili sono, nel parlare et ne l'opere, quasi com'uno Specchio appo i minori, acciò che il loro parlare è più gradito, però ch'escie di più dilicato stormento;" die zweite Hälfte des Satzes charakterisiert hingegen die Beispiele seiner Sammlung und teilt sie in Gruppen ein: „facciamo qui memoria d'alquanti fiori di parlare, di belle cortesie, et di belli risposi, et di belle valentie, di belli donari, et di belli amori, secondo che, per lo tempo passato, ànno fatto già molti." 2 ) — Dieser viel beachtete Satz, der mit wenig Worten die Buntheit und Vielgestaltigkeit der mittelalterlichen Novellistik skizziert und der durch die Häufung von „belle" und „belli" nachdrücklich den unterhaltenden, ergötzlichen Charakter der Sammlung unterstreicht, bildete in jüngerer Zeit die Basis einander widersprechender Vermutungen über die Eigenart der alten italienischen Novellen. Dabei bestand keine Einigkeit über die Bedeutung und Auslegung der Wendung „fiori di parlare" oder des „bei parlare", wie es im letzten Satz des Vorwortes und im Titel von Borghinis Ausgabe {Libro di novelle, e di bel φατίαν gentile, Fiorenza 1572) heißt. Diese Wendung wurde einmal als Andeutung des dichteDie von Monaci abgedruckte No vellenprobe, die Geschichte der Prudentia, läßt schon Züge der Humanistennovellistik erkennen. Der Stoff begegnet auch in Frankreich, ζ. B. im Ménagier de Paris, Traité de Morale et d'Économie domestique, composé vers 1393 par un bourgeois parisien etc., p. p. la prem. fois par la Soc. des Biblioph. franç., Paris 1846. Avec Introduction de J. P i c h ó n , I S. 186ff. x ) Zitiert von G. M a z z a t i n t i , Bosone da Gubbio e le sue opere, in Studj di Fil. Rom. I 2, S. 277—334, nach Fortunatus Siculus ossia l'Avventuroso Ciciliano di Bus. da G., romanzo storico scritto nel M. CCC. XI, pubbl. da G. F. N o t t , Firenze 1832, S. 47 (gleiche Ausgabe: Bibl. Scelta di Opere Ital. ant. e mod., Milano 1833; Neudruck von M. M a z z i n i u. G. G a s t o n in Bibl. dei Classici I 3, Firenze 1867). 2 ) Der Kompilator reiht seine Gedanken fast genau nach dem Vorbild des Petrus Alfonsi aneinander. Letzterer zählt ebenfalls im Anschluß an das Versprechen der „Entspannung" die in seiner Sammlung vertretenen Belehrungsarten auf: ,,Propterea ergo libellum compegi, partim ex prouerbiis philosophorum et suis castigacionibus, partim ex prouerbiis et castigacionibus arabicis et fabulis et uersibus, partim ex animalium et uolucrum similitudinibus". (S. 2.) Vorher und wenige Zeilen danach nochmals ist auch das Motiv der „memoria" angeschlagen: „quia et obliuiosa est, multis indiget que oblitorum faciant recordari" (S. 1—2) und „Scientes uero per ea que hic continentur oblitorum reminiscantur" (S. 2).
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rischen Kerns, einmal als rein stoffliches Element aufgefaßt1). Selbstverständlich ist diese Wendung im nachträglich geschriebenen Vorwort oder Titel kein Beweis für ihre Geltung als Merkmal und Voraussetzung der älteren Novellen. Aber der Terminus „bei parlare" tritt hier nicht zum ersten Mal in Zusammenhang mit der Kunst des Erzählens auf. Namentlich die Verknüpfung von „fiori di parlare" mit „memoria" in dem Satzstück „facciamo qui memoria d'alquanti fiori di parlare", die u. W. bisher nicht beachtet wurde, enthält den Schlüssel zu einer Deutung des „bei parlare". In der Novelle über Federigo degli Alberighi {Decameron V 9) begegnet zu Beginn des dritten Absatzes die Wendung: „la qual cosa egli meglio e con più ordine e con maggior memoria ed ornato parlare che altro uom seppe fare" (nämlich das Geschichtenerzählen), was L. Russo (a. a. O. S. 149 Fn. 19) u. a. so kommentiert : „memoria ed ornato parlar: sono due note della poetica medievale. La memoria è celebrata anche da Dante [ . . . ] . L'altra nota è quella dell'ornato parlare, e anche qui l'esempio di Dante rincalza. Beatrice così prega Virgilio: ,Or movi, e con la tua parola ornata . . . l'aiuta sì ch'i' ne sia consolata' (Inf., 11,67—69)." Nach medievalem Sprachgebrauch sind parola ornata, ornato parlare, fiori di parlare, bel parlar gentile, gepaart mit memoria — Gaben des Erzählers, Voraussetzung einer hohen Kunst, die dem Zuhörer consolazione und conforto spenden2). So ist E. A u e r b a c h s Deutung des bel parlare: „Sobald die Erzählung selbst etwas enthält, um dessentwillen sie erzählt wird, gelangt sie zu derjenigen Rundung und irdischen Wahrheit, die sie zum Kunstwerk, zur Novelle macht. Dieses etwas war im späten italienischen Dugento, und vorzüglich in Florenz, das elegant gesprochene Wort, das bel parlare" (a. a. O. S. 40) —, so ist sie, wie wir im Gegensatz zu Besthorn meinen, der mittelalterlichen und Frührenaissancepoetik durchaus kongenial. Wenn Auerbach von der Voraussetzung ausgeht, daß auch das Vorwort der Novelle antiche noch im Duecento geschrieben sei, so kann es eben keinen schlagenderen Beweis für die Starrheit und Traditionsgebundenheit der didaktischen Poetik geben, als die Richtigkeit seiner Interpretation ohne Rücksicht auf die Entstehungszeit des Proemio3). Der Verfasser der Novella I war sich übrigens darüber klar, daß nicht alle Geschichten seiner Sammlung auf dem elegant gesprochenen Wort basierten; er spricht bei der Aufzählung der vertretenen Erzählarten ausdrücklich von „alquanti fiori di parlare". Der Testo x)
R. Besthorn a. a. O. S. 180ff. Polemik mit E. A u e r b a c h . Über die Lehre vom „ornatus" von Quintilian bis ins 18. Jahrh. : Curtius ELLM S. 75ff. (System der antiken Rhetorik), S. 83ff. (Ars dictaminis) sowie S. 105, 276, 296, 485. Der Herausgeber der Cento Ν. Α. steht also auch mit dem „bei parlare" in der großen Poetiktradition. a ) Zur ma. Ästhetik des „ornate loqui": Alcuin, De rhetorica: „Legendi sunt auctorum libri eorumque bene dicta memoriae mandanda : quorum sermoni adsueti facti qui erunt, ne cupientes quidem poterunt loqui nisi ornate" (zit. nach Farai a. a. O. S. 99 Fn.). — Den rhetorischen Topos des Ornamentum kannte auch Guido F a b a , in dessen Parlamenta et epistulae (1. H. d. 13. Jahrh.) die Verpflichtung zum bel parlar gentile schmackhaft gemacht wird: „avegnache costume sia di gentile favellare ornatamente e dire belleça de parola, aço che possano atrovare grande presio e nomo precioso" (zit. nach O. B a c c i , La critica letteraria, Milano o. J., S. 74ff.). 2)
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panciatichiano, bzw. Borghini, setzt auch nicht: novelle = bel parlar gentile, sondern koordiniert : novelle, e bel parlar gentile. Nach vorsichtiger Andeutung des Vergnügens („si può parlar per rallegrare il Corpo") und seiner fast anaphorischen Akzentuierung durch die Häufung von „bello" behauptet der Kompilator im fünften Satz, wo er die Leser zum dritten Mal unter Berufung auf den Dolce stil novo anredet, die Sammlung enthalte nützliches Material zur angenehmen Belehrung Wissensdurstiger. E r folgt damit nicht nur der Doktrin ganz allgemein, sondern einem speziellen Vorbild, dem Petrus Alfonsi, was folgende Konfrontierung zeigen mag : Disciplina Clericalis Prologue, S. 2, Ζ. 5—8 Modum tarnen consideraui, ne si plura necessariis scripserim, scripta honeri pocius sint lectori quam subsidia, ut legentibus et audientibus sint desiderium et occasio ediscendi.
Ciento novelle antike Proemio, fünfter Satz, S. 2 E t chi avrà quore nobile et intelligentia sottile si le potrà simigliare per lo tempo che verrà per innanzi, et argomentare, et dire, et raccontare in quelle parti dove avranno luogo, a prode et a piacere di coloro che non sanno et disiderano di sapere.
Bis hierher erweist sich das Vorwort der alten italienischen Novellen als eine Manifestation der Hörigkeit gegenüber der Doktrin, deren Erfüllung freilich mit ähnlicher Unaufrichtigkeit wie im Proemio des Decameron versprochen wird ; denn daß der Herausgeber die oft anzüglichen und ,,unpädagogischen" Anekdoten seiner Sammlung wirklich für harmlos gehalten, ist auch bei weitgehenden Zugeständnissen an den Zeitgeist nicht anzunehmen. Es wurde schon bei der Ableitung der poetischen Anschauungen, denen sich auch die novellierenden Spielleute des Mittelalters offenbar unterwarfen, auf die Heuchelei solcher Beteuerungen hingewiesen. Schon Petrus Alfonsi spricht aus diesem Zwielicht heraus. Ob aber die vorgegebene Berufung unseres Kompilators auf die didaktische Poetik im Namen der Jogiare ausgesprochen wird, oder ob ihr Boccaccios höhnische Verheißung „nützlicher" Geschichten als Muster diente, könnte nicht entschieden werden, wenn der fünfte und sechste Satz des Vorwortes nicht lebhafte Erinnerungen an Proemio und Conclusione des Decameron wachriefen. Bei Boccaccio ist das desiderium ediscendi modern in weibliche Sehnsucht nach Ersatz für verlorene Freuden umgedeutet: ,,E quantunque il mio sostenimento, o conforto che vogliam dire, possa essere e sia a' bisognosi assai poco, nondimeno parmi, quello doversi più tosto porgere dove il bisogno apparisce maggiore, sì perchè più utilità vi farà e sì ancora perchè più vi fia caro a v u t o " (I S. 4). Aber während diese Analogie angesichts der stärkeren Übereinstimmung des Anonymus mit dem Prologus der Disciplina Clericalis verblaßt, springt im sechsten Satz des Vorwortes die Verwandtschaft mit Ideen Boccaccios ins Auge: Decameron, Conclusione (Bd. I I S. 325) Conviene, nella moltitudine delle cose, diverse qualità di cose trovarsi. Niun
Ciento novelle antike Proemio, sechster Satz, a. a. 0 . E t se i fiori che proporremo fossero 45
campo fu mai sì ben coltivato, che in esso o ortica o triboli o alcun pruno non si trovasse mescolato tra l'erbe migliori. Giornata V i l i , Chiusa (Bd. I I S. 184) e veggiamo ancora non esser men belli, ma molto più, i giardini di varie piante fronzuti che i boschi ne' quali solamente querce veggiamo.
misciati in tra molte altre parole, non vi dispiaccia: chè Ί nero è ornamento dell'oro, et per un frutto nobile e dilicato piacie talhora tutto un orto, et per pochi belli fiori tutto un giardino.
Der Kompilator, der mit dem sechsten Satz sein mittellateinisches Muster beiseite schiebt1), bedient sich bei der Täuschung der Theoretiker zweier Argumente, die auch Boccaccio in ähnlicher Form und zum gleichen Zweck verwendete. Auf der einen Seite die Analogie des freilich alten Gedankens, daß die Geschichten am besten dort angebracht wären, wo man ihrer zum Trost oder zur Belehrung bedürfe, wo man also nach ihnen verlange. Auf der anderen die Übereinstimmung mit einem Bild Boccaccios : Feld oder Garten mit Unkraut oder weniger schönen Blumen zwischen Nutzpflanzen oder herrlichen Blüten; Analogie also in der Rechtfertigung der nach dem Gefühl des Autors der ästhetischen Konvention nicht entsprechenden oder moralisch suspekten Geschichten durch Hinweis auf das Übergewicht der exemplarischen. Sicher ist diese Analogie kein reiner Zufall, zumal der Kompilator sich durch den Buchtitel Le ciento novelle antike auf den populären Gentonovelle Boccaccios bezieht2). Gedankliche Anleihen Boccaccios bei dem Kompilator der alten Novellen brauchen nicht in Erwägung gezogen zu werden. Nach dieser Gegenüberstellung bietet der siebente und letzte Satz — „Non gravi a' leggitori : kè sono stati molti che sono vivuti grande lunghezza di tempo, et, in vita loro, anno appena tratto uno bel parlare od alcuna cosa da mettere in conto, fra i buoni" — wenig Überraschendes. Die Verknüpfung des bel parlare mit der cosa da mettere in conto verrät freilich einen Schreiber, der mit der Kenntnis der literarästhetischen Tradition jenes erst im Trecento ausdrückbare Bewußtsein verband, daß in den Anekdoten, Motti und Novellen ein Fries von Gestalten vorüberzieht, die sich vom grauen Hintergrund der Namenlosen abheben, durch ihr Verhalten oder Wort unter den unendüch Vielen ausgezeichnete Einzelne. In der zugrunde gelegten Redaktion des Vorwortes kommt die Vokabel novella nicht vor. Die Bezeichntingen Le ciento novelle antike und Novellino treten im Zusammenhang mit den alten Geschichten nicht vor dem Jahre ihres Erstdruckes (1525) auf und sind von anderen Büchern erborgte oder auf andere Novellenwerke anspielende Titel. Anspielung auf die hundert modernen Novellen BocEr muß es tun, weil P. Alfonsi in dem entsprechenden Satz des Prologus den Titel Disciplina Clericalis erläutert, womit er offenbar für Jahrhunderte die Belehrung durch Geschichtenerzählen zum Programm der Novellenpoetik erhob. Übrigens verspricht Petrus gleich danach: „Vitandum tarnen decreui pro possibilitate sensus mei, ne quid in nostro tractatu inueniatur quod nostre credulitati sit contrarium uel a nostra fide diuersum". 2 ) Besthorn a. a. O. S. 170—72. 46
caccios und Übernahme des Titels, den Masuccio Salernitano seinem 1476 erschienenen Sammelwerk gegeben hatte. Dieser Tatbestand verpflichtet zu der Frage, ob zwischen Titeln und Vorwort vielleicht ebenso wie zwischen Vorwort und Geschichten ein Abstand oder sogar eine Diskrepanz besteht. Ob die fiori di parlare, die belle cortesie, belli risposi, belle valentie, belli donari, belli amori und das bel parlare nicht erst nachträglich und willkürlich vom Drucker ohne Rücksicht auf innere Unstimmigkeiten dem Sammelbegriff des Novellistischen unterstellt worden sind. Gegenbeweis ist nicht nur das häufige Vorkommen des Terminus novella in den Erzählungen. Es bestand nicht nur ein inniger Zusammenhang zwischen fiori di parlare, bel parlare und mittelalterlicher Novellenpoetik. Auch die Häufung des beziehungsreichen Epithetons belli, belle erhebt die innere Zusammengehörigkeit von Vorwort und Titel über jeden Zweifel. Ist bel parlare dem ornato parlare aequivalent, sind belli amori und belle cortesie gleichbedeutend mit piacevoli amori und oneste cortesie, so springt die Bedeutungsverwandtschaft, wenn nicht die Synonymität von belli risposi mit nuovi risposi, von belle valentie mit nuove valentie (in der nachgewiesenen Bedeutung von nuovo — bizzarro, stravagante) in die Augen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf unseren Text ist dies durch das Vocabolario dell' Accademia della Crusca (Vol. I Firenze 41738) belegt: „ B e l l o § VI Per Frizzante, Acuto. Lat. argutus. Bocc. nov. 5, 2. Mi piace noi essere entrati a dimostrare colle novelle, quanta sia la forza delle belle, e pronte risposte. Nov. ant. pr. Facciamo qui memoria ec. di belli risponsi, e di belle valentie." So führt auch durch die Nebenbedeutung des nicht ohne Absicht im wichtigsten Satz so stark akzentuierten bello die Verbindung zum nuovo und zur novella1).
3. D i e Historia
de duobus
amantibus
im Zwielicht der Topoi
Eine systematische historische Darstellung der Novellentheorien durch Analysen aller Novellenprologe könnte noch manches Einzelproblem erhellen; die wesentliche Erkenntnis, daß die Doktrin jahrhundertelang aus den gleichen Wurzeln genährt wurde, daß sie starr blieb, die Autoren zur Heuchelei zwang, daß die großen Erzähler ihre Gesetze übertraten, während die Epigonen sich an sie hielten —, diese Erkenntnis freilich wäre durch noch so viele Analysen kaum zu erschüttern oder zu bereichern. Es könnte auch nur zur Häufung nichtssagender Belege führen, wollte man die von Boccaccio erstmals eingestandene Vieldeutigkeit des Wortes novella im Spiegel theoretischer Deutungen oder seiner praktischen Anwendung durch Jahrhunderte verfolgen. Dabei wäre nicht viel mehr festzustellen, als daß — trotz Boccaccio — das 14. Jahrhundert als novella vielfach schon das bloße historische oder anekdotische Detail ansah (z.B. Giovanni F i o r e n t i n o im Pecorone oder Franco S a c c h e t t i im „Trecentonovelle"), daß M a s u c c i o Salernitano im 15. seine Novellen als „istorie" bezeichnete, daß im 16. B a n d e l l o stets Tagesereignisse, keine Fiktion zu berichten vorgab, während 1
) Die von Besthorn a. a. O. S. 169—70 zitierte textkritische Untersuchung von A. A r u c h in Ross. bibl. della letteratura ital., XVIII, Pisa 1910, war uns nicht erreichbar. 47
Grazzini (Lasca) sich nachdrücklich zur favola bekannte, also zur Erfindung, und auch Boccaccios Novellen gern als favole bezeichnete1), daß Straparola die Geschichten seiner Piacevoli Notti, auch soweit sie keine Märchen waren, favole nannte, während im 17. Giambattista Basile seine barocken Volksmärchen im Cunto delli Cunti oder Pentameron als novelle empfand. Ein Literarhistoriker des 18. Jahrhunderts hielt endlich, durch die Mehrdeutigkeit des Terminus und die vorgebliche Verbürgtheit der Novelle antiche irregeführt, diese Anekdoten für Geschichtsdokumente, die er verächtlich beiseite schob, worauf ein anderer sie am Anfang des 19., unter der gleichen falschen Voraussetzung, für ganz besonders wertvoll hielt2). Dem Ziel unserer Untersuchung glauben wir näherzukommen, wenn wir Äußerungen einiger Autoren hervorheben, die sich entweder als extreme Anhänger einer Theorie auszeichneten oder als schöpferische Persönlichkeiten und im Kampf gegen die Doktrin der Novellendichtung neue Wege wiesen. Als erster verdient neben Boccaccio zu treten: Enea Silvio Piccolomini, nachmals Papst Pius II., Verfasser der in der Renaissanceliteratur Gesamteuropas sich weithin auszeichnenden lateinischen Historia de duobus amantibus Eurialo et Lucretia. Sein vom 3. Juli 1444 aus Wien datierter Brief an Mariano Sozzini, der diese Novelle enthält, und ein etwa am gleichen Tag an den kaiserlichen Kanzler Kaspar Schlick gerichtetes lateinisches Begleitschreiben zur Abschrift der Erzählung belehren die Nachwelt über die Ansichten des großen humanistischen Epistolographen, der nur diese einzige Novelle verfaßt hat, über die Novellenpoetik. Man glaubt die Widersacher Boccaccios reden zu hören, wenn der Brief an den italienischen Freund mit den Worten anhebt: „Rem petis haud convenientem etati mee, tue vero et adversam et repugnantem. quid enim est, quod vel me jam pene quadragenariam scribere, vel te quinquagenariam de amore conveniat audire?"3) und wenn er kurz darauf fortfährt : „ego vero cognosco, amatorium scriptum mihi non convenire, qui [S. 354:] jam meridiem pretergressus in vesperam feror. sed non minus me scribere quam te deposcere dedecet." Was soll diese Selbstanklage in einer Epistel, die als Humanistenbrief keine vertrauliche oder private Mitteilung sondern zur Verbreitung und Veröffentlichung bestimmte, klug vorbedachte, berechnete und erwogene, in der exklusiven Man vgl. aber Kap. II Rückblick u. Exkurs, S. 96 Fn. 1. D. M. Manni, in Prefazione alle „Cento Novelle1778; zit. bei G. F e r r a r i o , in Prefaz. zum Libro di Novelle e di bel parlar gentile contenente Cento Novelle Antiche, Milano 1804, S. V i l i — I X (Racc. di Novelle dall'origine della lingua ital. fino al 1700. Vol. I). 3 ) Zitate nach Fontes Rerum Austriacarum. Österreichische Geschichts-Quellen. Hrsg. v. d. Hist. Kommission d. Kais. Ak. d. Wiss. in Wien. 2. Abt. Diplomataria et Acta. L X I . Bd. Der Briefwechsel d. E.Silvius Piccolomini. I. Abt. : Briefe aus d. Laienzeit (1431—1446). I. Bd.: Privatbriefe. Wien 1909. (Hrsg. v. Rudolf W o l k a n ) , S. 353ff., Nr. 152. E. S. an Mariano Sozzini, Wien, 3. Juli 1444. etc. „Eneas Silvius, poeta imperialisque secretarius, salutem plurimam dicit Mariano Sozino utriusque juris interpreti et concivi suo." — Deutsche Zitate nach: E. 8. P. Briefe übers, u. eingeleitet von Max Meli (Das Zeitalter der Renaissance, Ausgewählte Quellen zur Gesch. der ital. Kultur, hsg. von M. H e r z f e l d , I S., Bd. III, Jena 1911). 2)
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Hochsprache der Gebildeten formulierte und ausgefeilte literarische Abhandlung ist ? Für die Welt der Literaten und Humanisten von einem Humanisten bestimmt, setzt sie Gedanken und Ansprüche von humanistisch Gebildeten, von Gelehrten voraus. Aber gegen die Schicklichkeit — die convenevolezza und bienséance der Hochrenaissance —, die der Gelehrte zu verletzen fürchtet, verstößt der Dichter in ihm nur allzu gern. Darum gebraucht er, getreu der heuchlerischen Tradition der Novellenprologe, mit Vergnügen den Vorwand, daß ein anderer, nämlich der Empfänger des Briefes, die Verantwortung für den Verstoß zu tragen habe: ,,ego tibi debeo morigerus esse; tu vide, quid postules, nam quanto es natu maturior, tanto equius est parere amicitie legibus, quas, si tua justitia non veretur mandando infringere, nec stultitia mea transgredí timebit obediendo. tua in me tot sunt beneficia, ut nichil negare petitionum tuarum queam, etiam si admixtum sit aliquid turpidinis. parebo igitur petitioni tue, jam decies multiplícate, nec amplius negabo, quod tanto convento postulas." (ebda.) Der weitere Inhalt des Briefes, der in enger Beziehung zum Begleitschreiben an Kaspar Schlick (S. 173—75) steht, hat in der Literaturwissenschaft die Auffassung begründet, daß Piccolominis Novelle auf einer wahren Begebenheit beruht. In der Tat weist der Autor seines Freundes „Geheiß, etwas zu erfinden, zu erdichten", mit scheinbarer Entrüstung von der Hand. ,,quis enim tarn nequam est, ut mentiri velit, cum verum potest se tueri ? [ . . . ] nec fingam, quando tanta est copia veri. [ . . . ] sed alíenos quam meos amores attingam, ne dum vetusti ciñeres ignis evolvo, scintillam adhuc viventem reperiam. referam autem mirum amorem peneque incredibilem, quo duo amantes, ne dicam amentes, invicem exarsere. nec vetustis aut obliteratis utar exemplis, sed nostri temporis ardentes faces exponam. nec Trojanos aut Babilonios sed nostre urbis amores audies, quam vis alter ex amantibus sub arcteo natus fuerit celo." (ebda.) Der Brief an Kaspar Schlick (ebda. S. 393, Nr. 153), in dessen ersten Zeilen der Auftrag Sozzinis allerdings als weniger präzis dargestellt wird („Marianus Sozinus Senensis, conterraneus meus, vir tum mitis ingenii tum litterarum multarum scius, cujus adhuc similem visurus ne sim hereo, duos amantes ut sibi describerem, rogatum me his diebus fecit, nec referre dixit, rem [S. 384:] veram agerem an more poetico fingerem."), schiebt wiederum die Verantwortung für das „unschickliche" Unternehmen auf den italienischen Freund: „at, homo tantarum virtutum, cur nunc rem leviusculam exigat, non scio, illud scio, nichil me negare illi fas est. eum nanque, dum Senis essem, unice dilexi, nec diminutus est amor, quamvis separatus sit. is quoque, cum esset ceteris nature dotibus preditus, tum hac maxime pollebat, ut nullius erga se sterilem esse amorem sineret. hujus ergo rogatus non censui respuendos" (S. 395). Der Schlußakzent dieses Schreibens fällt wieder auf die „wahre Begebenheit" als angeblichen Inhalt der Geschichte, mit unmißverständlicher Anspielung auf den kaiserlichen Kanzler selbst, der offenbar jenes im andern Brief erwähnte „eine von den Liebenden" sein soll, das „unter nordischem Himmel geboren war", „scripsi quoquo duorum amantum casus, non finxi. res acta Senis est, dum Sigismundus imperator illic degeret. tu etiam aderas et si verum his auribus hausi, operam amori dedisti. civitas Veneris est. ajunt, qui te norant, ve4
Novellentheorie
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hementer quod arseristi, quodque nemo te gallior fuerit. nichil ibi amatorie gestum te inscio put ant. ideo historiam hanc ut legas precor, et an vera scripserimvideas nec reminisci te pudeat, si quid hujusmodi nonnunquam evenittibi." (ebda.) Es darf bezweifelt werden, daß die Geschichtsschreibung aus den Anspielungen Enea Silvios das Recht herleiten würde, die Historia de duobus amantibus als biographisches Dokument zu betrachten. Für die Literaturwissenschaft sind derartige ausdrückliche Beteuerungen der Verbürgtheit eher Beweise der Fiktion und Erfindung als der historischen Wahrheit. Abgesehen vom Bekenntnis Boccaccios zu den favole — welcher Erzähler von Homer-Odysseus über Rousseau herab bis auf den heutigen Tag behauptet nicht, im Zwiegespräch mit seinem Leser „wahre Begebenheiten" oder „eigene Erlebnisse" zu schildern oder „aus zuverlässiger Quelle' ' genau darüber informiert zu sein ? So verhält es sich auch bei Piccolomini, der wohl eine ihm andeutungsweise bekannte Begebenheit der Erzählung zugrunde gelegt, aber durch seine bezaubernde Kunst und durch sein ungewöhnliches schriftstellerisches Talent diese Begebenheit in die Sphäre der Dichtung gehoben, mit kunstvollen Details ausgeschmückt und so zu einem Ausdruck höherer Wirklichkeit gemacht hat. Die Spielmannsnovellistik hatte irgendwelche Begebenheiten an bekannte Persönlichkeiten geheftet, um sie literarisch interessant zu machen. Boccaccio hatte Ort und Zeit der Rahmenerzählung genau fixiert und die Namen der Beteiligten diskret abgeändert. Auch Piccolomini ändert die Namen, verweist aber in seinen Geleitbriefen, die den Rahmen der Novelle bilden, auf einen geschichtlichen Hintergrund, auf eine zeitgenössische politische Persönlichkeit, die sogar selbst zum Zeugen der Wahrheit angerufen wird — allerdings unter dem verallgemeinernden, die „wahre Begebenheit" sehr geschickt ins Universal-Erlebensmögliche hinausschiebenden Zusatz: „homo enim fueras, qui nunquam sensit amoris ignem aut lapis est aut bestia, isse nanque vel per deorum medullas, non latet, igneam favillam. vale." (ebda.) Das Zwielicht, das der Schlußsatz an Kaspar Schlick wieder über die Begebenheit rieseln läßt, glimmt auch schon in dem Brief an Sozzini, wo es, das Individuelle verallgemeinernd und auf die Universalien zurückverweisend heißt: „ quid enim est toto terrarum orbe amore communius, que civitas, quod opidulum, que familia vacat exemplis ? quis trigesimum natus annum amoris causa nullum peregit facinus 1 ego de me facio conjecturam, quem amor in mille pericula misit. ago superis gratias, quod structas insidias millies fugi, felicior astro Martis, quem Volcanus, cum Venere jacentem, ferreo illaqueavit retículo deridendumque diis ceteris ostentavit." (S. 353.) Die Berufung auf die Venus-Mars-Episode (vgl. oben S. 12 Fn. 1) entschlüpft dem Autor wie ein ungewolltes Eingeständnis. Sie verrät den wahren (novellistischen) Standort des Briefschreibers. — Dagegen und gegen die Beweiskraft der in so vielen Jahrhunderten begegnenden Prooemialtopoi scheint uns auch die Beteuerung der „wahren Begebenheiten" durch Enea Silvios deutschen Bewunderer und Übersetzer N i k l a s v o n W y l e zu seiner „Translatz" (1462) der Novelle (vgl. N. v. W., Translatzen, ed. A. v. K e l l e r , Bibl. d. Litt. Ver. Stuttg. Nr. 57, Tübingen 1861) nicht anzukommen. Gerade dieses Mißverstehen („Ernstnehmen") 50
der Topik und des novellistischen Spiels zeigt den Abstand, der damals die deutschen von den italienischen Humanisten schied. Nein, das ganze Spiel mit der „wahren Geschichte" ist nichts als die übliche Tarnung der Fiktion, als der hergebrachte, unumgängliche „Nachweis" der Zeugenschaft, die „adtestatio rei visae" im Sinne der literarästhetischen Tradition1). Das Bild mußte nach der Natur gemalt, es mußte wahrscheinlich sein. Es durfte nichts erfunden, nichts fingiert sein, weil Fiktion keine Beweiskraft besessen hätte, weil der Lüge keine belehrende Autorität innewohnt, weil nicht Erzeugnisse der Phantasie, sondern nur Erlebnisse und verbürgte Tatsachen als Beispiele oder Warnungen dienen können. Denn auch Enea Silvio will angeblich belehren und warnen, er gibt vor, ein Exempel zu berichten, wie es nun einmal beim Geschichtenerzählen der Brauch war, seit Petrus Alfonsi, seit Gregor dem Großen. So schreibt Piccolomini, unter Hinweis auf jene merkwürdige, kaum glaubliche Liebe, die sich in der Gegenwart und „in unserer Vaterstadt" zugetragen, an Sozzini: „forsitan et hinc sugere aliquid utilitatis licebit. nam cum puella, que in argumentum venit, amatore perdito, inter plorandum mestam et indignantem exalaverit animam, alter vero nunquam post hec vere letitie particeps fuerit, commonitio quedam juvenibus erit, his ut abstineant nugis. audiant igitur adolescentule et hoc edocte casu videant, ne post amores juvenem se eant perditum. instruit hec historia juvenes, ne militie se accingant amoris, que plus [S. 355:] fellis habet quam mellis, sed obmissa lascivia, que homines reddit insanos, virtutis incumbant studiis, que possessorem sui sola beare potest, in amore autem quot lateant mala, si quis nescit, hinc poterit scire, tu vale et historie quam me scribere cogis attentis auditor esto." Noch in einem weiteren Punkt beweist der Dichter Treue zur Tradition. Wie die Trobadors das Novellieren als eine untergeordnete Kunstübung ansahen, wie der Scholastiker Cecco d'Ascoli die favole als zanze abtat und sich als ihr Feind erklärte, wie die Zensoren Boccaccios Novellen als ciance und frasche hinstellten, ja wie Boccaccio selbst in der Rahmenerzählung einfließen läßt, das Geschichtenerzählen vertrage sich nicht mit dem religiösen Ernst des Freitags und des Sonnabends — so spricht auch Enea Silvio, der doch die Novellenkunst durch sein gepflegtes Humanistenlatein, als erster seit Petrarcas „Griselda"-Übersetzung auf die Höhe großer Literatur zu führen strebt, im Brief an Sozzini von der Unschicklichkeit, als Vierzigjähriger „ein verliebtes Werkchen zu verfassen". Noch viel weiter geht er im Brief an Schlick, wo er den Humanisten Sozzini als einen Mann „von Gaben und Gelehrsamkeit, wie ich bisher keinem ähnlichen begegnet bin," hinstellt und ihn mit großer Ausführlichkeit schildert, nur um seine Novelle danach als eine umso größere Nebensächlichkeit und Bagatelle erscheinen lassen zu können. Über Sozzinis Sprachkenntnisse, über sein philosophisches, mathematisches, medizinisches und landwirtschaftliches Wissen, über seine körperlichen Fähigkeiten, seine Beherrschung der Künste, seine sittliche Größe, seine hervorragende gesellschaftliche Stellung, sein soziales Gewissen und seine sokratische Überlegenheit werden Wunderdinge berichtet, wie man sie nur in der ReCurtius E L L M S. 181 u. 442.
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naissance und nur von einem „Renaissancemenschen" behaupten konnte. Aber das alles steigert nur die überraschende Kontrastwirkung jenes nachdenklich stimmenden Satzes: „Wieso aber ein Mann von derartigen Vorzügen eine solche Nichtigkeit von mir erbitten kann, das ist mir rätselhaft". Selbstverständlich hätte ein solcher Mann von Enea Silvio keine Geschichte erbeten, wenn er nicht etwas Außergewöhnliches von ihm hätte erwarten dürfen. Sicher hätte aber auch der Dichter seine (in der deutschen Übertragung mehr als 50 Druckseiten umfassende) Novelle nicht lateinisch stilisiert, wenn er sie wirklich für eine Nichtigkeit gehalten hätte. Er wußte genau, daß sein „verhebtes Werkchen" mit allen Finessen der Sprache und Erzählkunst ausgestattet war. Er wußte auch, daß vor ihm noch niemand die Liebe so dargestellt hatte, als übermächtig hereinbrechendes, zu tragischem Ende führendes Phänomen. Er war sich seiner Leistung und ihrer Tragweite voll bewußt. Gerade darum machte er aus der Not der Überlieferung eine Tugend, berief er sich in affektierter Bescheidenheit auf die Spielerei, als die das Novellieren schon lange angesehen worden war. Denn er war in der Heuchelei ein (boccaccesker) Anhänger novellistischer Prologtradition. Zu diesem boccaccesken Element, das er durch die raffinierte Dialektik seiner Rahmenbriefe virtuos verhüllt, bekennt er sich nur nebenbei an einer einzigen Stelle mit Zitaten aus Martial und Juvenal : „quia tu sepe amator fuisti nec adhuc igne cares, vis tibi duorum amantum ut historiam texam. nequitia est, que te non sinit esse senem. ero morigerus cupiditati tue et hanc inguinis egri canitiem prurire faciam" (Brief an Sozzini, S. 353). Wer Piccolominis Äußerungen in den beiden Briefen wörtlich nimmt, wer die Ironie in dem heuchlerischen Treuebekenntnis zum Dogma nicht spürt, wird allerdings nicht begreifen, warum ein solcher Rahmen ein umstürzendes Werk umschließt. Eine Sprache, wie diese Novelle sie über die Liebe spricht, hatte die Welt noch nicht gehört. Denn Boccaccios Elegia di Madonna Fiammetta, die Ähnliches ausdrückte, hatte aus sprachlichen Gründen keine abendländische Wirkung erzielt. Was Piccolomini über das Novellenerzählen gedacht, was er für diese „Nichtigkeit" im Reich der Dichtung offenbar hat tun wollen, das spricht er in den Rahmenbriefen nicht einfach als Mitteilung aus. Unter Wahrung der Etikette gleichsam präsentiert er seine Gabe. Er paßt sich, ein wenig spöttisch lächelnd, aber höfisch, dem Zeremoniell der Prologe an, er gefällt sich darin und bewegt sich, fast kokett, im alten Kostüm. Er spielt den Novelliere; aber die novelleske „Nichtigkeit" rückt er dadurch zum erstenmal ins Blickfeld derer, die sie seit Jahrhunderten verachtet hatten und die sie jetzt zur Kenntnis nehmen müssen, weil einer der ihren, jener „Mann von Gaben und Gelehrsamkeit, wie ich bisher keinem ähnlichen begegnet bin", jener tiefgelehrte und weltgewandte Renaissancemensch Mariano Sozzini aus Siena, es nicht für seiner unwürdig erachtet hatte, eine solche Geschichte zu erbitten, und weil ein anderer aus ihrer Mitte das angeblich „Unschickliche" im Prachtgewand des Humanistenlatein präsentierte. Piccolomini bietet seine einzige Novelle im Zwielicht der Topoi dar. Nur durch Interpretation der beiden Rahmenbriefe aus der Prooemientradition heraus ergibt sich der Beweis, daß die Novelle eine Fiktion ist, die der Briefrahmen als Wirklichkeit tarnt. Die Behauptung, auf Wunsch eines andern geschrieben zu haben, 52
ist einer der ältesten Topoi literarischer Tradition. Das „Schreiben auf Befehl" ist Element affektierter Bescheidenheit. Als ein Musterstück dieser Art bezeichnet C u r t i u s 1 ) Ciceros Einleitung zu seiner an Brutus gerichteten Schrift Orator: „Die Behandlung des Themas geht über Ciceros K r ä f t e ; er befürchtet daher die Kritik gelehrter Männer; darf nicht hoffen, mit der Sache glücklich fertig zu werden ; sieht voraus, daß Brutus Besonnenheit an ihm vermissen werde, und fügt sich nur, weil die Aufforderung des Brutus berechtigt ist". Schon Cicero behauptet also auf Befehl geschrieben zu haben, und „oft ist die Bescheidenheitsformel verbunden mit der Mitteilung, man wage sich nur deshalb an das Schreiben, weil ein Freund oder ein Gönner oder ein Höherstehender eine entsprechende Bitte, einen Wunsch, einen Befehl geäußert h a b e " (a. a. O. S. 92). Weder Cicero noch ein anderer braucht deshalb das individuelle Vorbild Piccolominis gewesen zu sein, denn das Schreiben auf Befehl ist wie die Beteuerung der Unzulänglichkeit, der dargebotenen Nichtigkeit, der Unschicklichkeit des Schreibens in vorgerücktem Alter, ein aus der Antike in die Tradition des Mittelalters und der Renaissance eingegangener „Gemeinplatz". So gehorchte Virgil angeblich dem Befehl des Maecenas (Geórgica I I I 41); so sammelte der jüngere Plinius seine Briefe (I 1), um einer entsprechenden Aufforderung nachzukommen; so schrieben Sidonius, Eugenius von Toledo und zahlreiche mittelalterliche Autoren auf „Befehl". So wird auch Lope de Vega geradezu widerwillig Novellen schreiben, weil eine Dame mit fingiertem Namen es von ihm verlangt. Das angebliche Verlangen des Senesen Sozzino in Piccolominis Briefen steht also in der Tradition der affektierten Bescheidenheit, genauer: des Schreibens auf Befehl. Das Verlangen ist keine historische Tatsache, sondern literarische Konstante, also Fiktion. Daraus erklärt sich auch die Diskrepanz zwischen den Angaben über die mehr oder weniger präzise Formulierung des Schreibauftrages in beiden Briefen. I n die Irre geht, wer solche Behauptungen als „verbriefte Tatsachen" und historische Realität bewertet und Einflüsse, Abhängigkeiten, kulturhistorische Zusammenhänge daraus herleiten will. Wenn das Schreiben auf Befehl, die Nichtigkeit, die mangelnde Besonnenheit, die der Empfänger beanstanden wird, wenn die adtestatio rei visae und die andern Formeln und Topoi in der Prooemientradition seit der Spätantike auf Schritt und Tritt begegnen, warum sollten sie bei dem italienischen Humanisten Piccolomini plötzlich die Bedeutung autobiographischer Geständnisse haben ? Und warum — der analoge Fall drängt sich nochmals auf — sollte der erfundene Name jener Dame, die angeblich bei Lope de Vega Novellen bestellt hat, von deren Abfassung er wiederum vorgeblich nichts verstand — warum sollte er, wie die Biographen wollen, einer platten historischen Entschlüsselung bedürfen und nur Deckname für Lopes Freundin Marta Nevares Santoyo sein ? Dies alles ist der Zauber der Fiktion, und wäre sie nichts als ein Spiel mit uralten Elementen der Rhetorik. Ein köstliches, labyrinthisch verschlungenes Spiel war es, der Tradition der Prologtopoi folgend Vorwände und Namen zu erfinden, ein ebenso reizvolles, geistreiches Spiel aber auch, diese Fiktionen zu durchschauen. Autor und Leser begegneten sich darin auf der Basis heiterer Bildung und Belesenheit. Curtius ELLM S. 91—93; auch zum Folgenden.
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Es war ein literarhistorisches Ereignis ersten Ranges, daß Enea Silvio das lateinisch lesende Europa, die humanistische Welt des Jahres 1444, durch seine beiden Rahmenbriefe zu diesem eleganten Spiel und durch das Spiel zum Genuß einer Novelle einlud. Der Erfolg war denn auch enorm 1 ). Bis zum J a h r e 1500 wurde die „Historia" dreiundsiebzigmal aufgelegt, zunächst lateinisch, bald aber auch in anderen Sprachen: deutsch erstmals 1462, italienisch erstmals 1477, französisch erstmals 1493, spanisch erstmals 1496 und englisch erstmals 1550 oder 1560. Die Auswirkung beschränkte sich nicht auf Neuauflagen, Übersetzungen und Bearbeitungen, sie zeigt sich vielmehr im allgemeinen Aufschwung, den die europäische Novellistik nun n a h m . Dies sei nur in Stichworten angedeutet: 1458 richtete Antoine d e l a S a l l e eine Lettre de Réconfort an Mme de Fresne, die zwei Beispiele enthält, deren eines — die Erzählung über Madame de Chastel — die erste große originale Novelle der französischen Literatur genannt zu werden verdient. 1462 wurden die Cent Nouvelles nouvelles vollendet, in denen zum erstenmal in Frankreich die novellistische Gesinnung Boccaccios ein Echo f a n d ; 1472 wurde endlich das Decameron zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt 2 ). Denn durch Enea Silvios Latein war „die Novelle" — wenn hier einmal der Gattungsname angebracht erscheint — aus der provinziellen Enge des italienischen Volgare befreit, in einem hinreißenden Beispiel der Welt entdeckt und empfohlen worden. Mögen Erfindung der Buchdruckerkunst und erstmalige Drucklegung des Decameron (1470 in mehr als 11 verschiedenen Ausgaben) zu dieser Entwicklung auch einiges beigetragen haben —, der geistige Impuls war nicht aus diesem späten technischen Ereignis gekommen, sondern, wie die Daten zeigen, nur aus der Offenbarung, als die sich Piccolominis einzigartige Briefnovelle erwies. x
) Zum Folgenden : Charles E. K a n y , The Beginnings of the Epistolary Novel in France, Italy and Spain. Univ. of California Publications in Modern Philology. Vol. 21 No. 1, Berkeley 1937, S. 39—40. Ebda. S. 40 über Auswirkungen in England : „It has been said that with the English translation of this work (1550 or 1560) the influence of Italy upon Elizabethan prose fiction began, and that the convention of the letter reached English fiction from the Italian. (Cf. S a v a g e , The Beginnings of Italian Influence in English Prose Fiction, Pubi. Mod. Lang. Assoc. X X X I I (1917): 1—21)". — Über ital. Bearbeitungen und die Auswirkungen in Spanien, bes. auf D i e g o d e S a n P e d r o : Menéndez y Pelayo, Orígenes de la Novela I, S. CCCIII. Über den Einfluß auf die deutsche Renaissance: A. W e i ß , E. S. de' P. Sein Leben und sein Einfluß auf die lit. Cultur Deutschlands, mit 149 bisher ungedruckten Briefen, Graz 1897; C. K a r s t i e n , Beitr. zur Einfuhrung des Humanismus i. d. dt. Literatur, in GRM X I (1923); über Piccolominis Freunde in Deutschland: Arturo F a r i n e l l i , Divagazioni erudite (Germania e Italia), Torino 1925, S. 149ff. — Die Wirkungen der Historia de duobus amantibus auf die Literaturen Deutschlands, Spaniens, Italiens und Frankreichs sind dargestellt in dem Band: Aeneas Sylvius, Eurialus und Lukrezia, übersetzt von Octovien de Saint-Qelais, nebst Bruchstücken der Anthitus-Übersetzung. Mit Einl., Anm., u. Glossar hsgg. v. Elise R i c h t e r . Halle, Niemeyer, 1914. a
) Der Übersetzer, ein Geistlicher namens Heinrich S c h l ü s s e l f e l d e r , verbarg sich unter dem Pseudonym „Arigo". Vorher war nur eine Novelle des Decameron, die Griseldis (X 10), nach der lateinischen Redaktion Petrarcas ins Deutsche übersetzt worden, 1436 durch Gerhard Groß (Nürnberg) und 1471 durch N i k l a s v o n W y l e , der 1477 auch noch die Novelle von „Guiskard und Ghismonda" (IV 1) übertrug.
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4. M a s u c c i o : R a h m e n als Maske Sämtliche Requisiten der Tradition wurden von der Doktrin des 16. Jahrhunderts übernommen. Viele Autoren kopierten nicht nur das Rahmenschema des Decameron, indem sie einfach die Zahl der Tage änderten oder die Giornate in Serate oder Mesate verwandelten oder die Novellatori nicht in einer Villa und während der Pest, sondern in einer Florentiner Stadtwohnung während des Karnevals (Grazzini Cene) oder beim Karneval in der venezianischen Lagune (Straparola Le piacevoli notti) oder in der Lagune bei schlechtem Wetter (Parabosco Diporti) oder in Siena während der Belagerung der Stadt (Bargagli Trattenimenti) oder unter sonstigen heiteren oder ernsten Umständen zusammenkommen ließen. Sie bedienten sich zur Rechtfertigung ihrer Erzählkünste der alten Topoi, ohne sie freilich jemals so geistreich zu handhaben wie Boccaccio1). B a n d e l l o , der merkwürdige Tagesereignisse und geschichtliche Wirklichkeit, nicht favole zu erzählen vorgibt, verläßt den zyklischen Rahmen zugunsten des jeder einzelnen Erzählung beigegebenen Briefrahmens. Er mußte dies um der Fiktion des von Fall zu Fall berichteten Ereignisses willen tun. Und er war nicht der erste, der es tat. Sein Vorgänger in der Kunst des individuellen Briefrahmens war im Quattrocento M a s u c c i o Salernitano. ,,Νοη essendo le mie novelle soggetto d'istoria continovata — sagt Bandello im Vorwort zur Parte III seiner Novelle —, ma una mistura d'accidenti diversi, diversamente e in diversi luoghi e tempi a diverse persone avvenuti e senza ordine veruno recitati"2), und er bleibt 1
) Zum Problem des Rahmens: Otto L ö h m a n n , Die Bahmenerzählg. d. Decameron, ihre Quellen und Nachwirkungen. Ein Beitr. z. Gesch. d. Rahmenerz., Romanist. Arbeiten 22, Halle 1935. a ) Mit geradezu belustigender Naivität wird die Prologtopik von Bandellos Widmungsbriefen zu Anfang unseres Jahrh. „ernst genommen". Nachdem schon Domenico M o r e l l i n i , M. Bandello, Studj, Sondrio 1900, die Novellenwidmungen einer biographischen Darstellung zugrunde gelegt und R e n i e r in der Rezension dieser „ S t u d j " (Giorn. Stor. 37, S. 148—51) eine kulturhistorische Untersuchung der Widmungen und Novellen (!) gefordert hatte, folgte die Arbeit M. Bandello nach seinen Widmungen von H . M e y e r , in ASNS 108 (1902) S. 324—67 u. 109 (1902) S. 83—106. Für diesen vertrauensseligen Forscher war jedes Wort des Novellisten ein persönliches Bekenntnis. Die Topoi des Schreibens auf Befehl (356), der affektierten Bescheidenheit (339 u. 345), des Fürstenlobs (339—40), des Schreibens wider Willen (344), des Unvermögens (345), aber auch der Verewigung (345) benutzte er in ihrer psychologischen Unvereinbarkeit als Canevas für ein völlig unsinniges Charakterbild. Er zerbrach sich den Kopfüber die erzieherische Wirkimg (Nützlichkeitstopos) der Novellen und bewertete sie treuherzig als „ein Abbild des italienischen Lebens jener Zeit" (349). Da Bandello sie so oft beteuert, glaubt auch sein später „Biograph" an die absolute Verbürgtheit aller Novellen; sie erscheinen ihm so historisch, ,,daß sie unmöglich erfunden sein können" (350), obgleich er doch weiß, daß sich Nacherzählungen ältester Novellenmotive „bis auf Ramses von Ägypten zurück" (354—55) darunter befinden. Den Exempelcharakter des novellistischen Anschlusses an „ragionamenti" (354) erkennt er nicht. Auf Grund der novellistischen Widmungstopik erscheint der verkannte Bandello als ein „verträglicher, ehrbarer, aber kein starker Charakter" (346), dem der Humor so gut wie völlig abgehe (363). Bandello ist „mehr Diplomat als Novellist", doch er bleibt „ein echter Gelehrter, dem seine Bücher über alles gehen" (342). Boccaccio hat sich über seine Novellenkunst „in Schweigen" gehüllt ( !), aber Bandello „spricht sich gern" darüber „aus" (352), wobei übersehen wird, daß Bandellos Polemik gegen seine Kritiker [Nov. I I 11, bei Meyer S. 364ff.] ganz wie „imitatio"
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bei der angeblichen Absicht nützlicher Unterhaltung: „affermo bene che per giovar altrui e dilettare le ho scritte" (Parte I Vorwort) ; „non ad altro fine certamente se non per dilettare ed avvertir ogni sorte di persone che, lasciate le sconcie cose, debbiano attender a vivere onestamente" (Parte I I I Vorwort) ; er bleibt bei der Geringschätzung des Novellenerzählens: „Pigliatevi piacere, se tali le mie ciancie sono che possino piacervi. J o vi confesso bene che a cotal fine furono da me scritte" (Parte II Vorwort). Sogar G r a z z i n i (Lasca) behauptet, daß die oft derben, sarkastischen, grausamen „beffe", die er in den Cene erzählen läßt, „doveranno porgere, per una volta, con qualche utilità non poco piacere e contento; sendo tra noi delle persone ingegnose, sofistiche, astratte e capricciose" 1 ). Seine Erzähler läßt er sogar Gott um Gnade anflehen, „che la mia lingua e la loro non dica cosa niuna, se non a tua lode, e a nostra consolazione" (ebda. S. 67) —-, obwohl er doch gleichzeitig traditionsgetreu die Unschicklichkeit seines Beginnens durch einen Hinweis auf die ungewöhnlichen Freiheiten der Karnevalszeit zu rechtfertigen versucht: „noi semo ora per carnevale, nel quai tempo e lecito ai religiosi di rallegrarsi, e i frati tra loro fanno al pallone, recitano commedie, e travestiti suonano, ballano e cantano, e alle monache ancora non si disdice nel rappresentare le feste, questi giorni vestirsi da uomini, colle berrette di veluto in testa, colle calze chiuse in gamba, e colla spada al fianco. Perchè dunque a noi sarà sconvenevole o disonesto il darci piacere novellando?" Derartige Nachweise ununterbrochener Geltung der topischen Tradition ließen sich auch aus anderen Novellenprologen des Cinquecento erbringen2). Dabei von Boccaccios Rahmenpolemik klingt. — Zu Bandellos Novellentheorie vgl. man außer unseren im Text angeführten Zitaten auch die Geleitbriefe zu I I 10 u. I I 11. — ,,Die heroisierende Lebensauffassung der Renaissance und die Novellen des Bandello" behandelt Georg Weise in ASNS 166 (1935) S. 134—248. Die dort in Anlehnung an G. T o f f a n i n , II Cinquecento, Milano 1929, S. 206 u. 213ff., vertretene Meinung, daß erst Bandello „das volkstümliche und bisher abseits der gelehrten Bildung stehende Genus der Novelle zur Höhe der vom Humanismus befruchteten literarischen Kunstübung und höfischen Kultur erhoben hat" (S. 235), läßt sich u. E . im Hinblick auf E . S. Piccolominis lateinische Briefnovelle, Petrarcas Griseldis-Version und sogar Masuccios Widmungsbriefe nicht ganz aufrecht erhalten. — Unsere Bandello-Zitate nach: Matteo Β., Le Novelle, a cura di G. B r o g n o l i g o , 5 vol. (Scrittori d'Italia) Bari 1911, 2 1928. — Masuccio fürchtet am wenigsten die Kritiker, die ihm zutrauen, er könne nicht wahre Begebenheiten, sondern favole geschrieben haben; man vgl. : Der Novellino des Mas. von Salerno, zum erstenmal vollständig ins Deutsche übertragen von H. F l o e r k e , in Perlen ält. roman. Prosa, hsg. von Dems., Bd. X X I V u. X X V , München 1918, 2. Bd. S. 353. x ) Grazzini-Zitate nach : La prima e La seconda Cena, Novelle di Antonfrancesco Grazzini detto il Lasca, alle quali si aggiunge una Novella che ci resta della terza Cena, in Raccolta di Novelle dall'origine della Lingua ital. fino al 1700, I I I , Milano 1810. Zit. Stelle: S. 64. 2 ) Hier nur wenige Stichproben: zum Motiv der nutzbringenden Unterhaltung : „una o novella, o istoria, non meno piacevole, che piena di saggi ammaestramenti" (Luigi A l a m a n n i , in Racc. di Nov. a. a. O. I I S. 228); „avisandosi che la novella fosse non men utile che piacevole" (G. P a r a b o s c o , in Novellieri Minori del Cinquecento a. a. O. S. 15); „ I molti ravvolgimenti di fortuna ch'io narro nel seguente ragionamento [ . . . ] mostrano quanto siano qua giù poco ferme le cose nostre, e quanto ci sia di danno cagione il fondarvi i pensieri" (Asc. De' M o r i , in Racc. de' Nov. ital. X I I S. 5); zum Motiv der Trostspendung: „la ragunanza dell'onesta brigata ch'in quel fortunoso tempo, per iscacciar malinconia, s'accolse insieme a prendere spasso e consolazione" (Scipion B a r g a g l i , in Racc. de' Nov. ital. X V
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würde man vergeblich nach jener neuen Note suchen, die der hochblühende Humanismus mit den neubeschworenen aristotelisch-horazischen Lehren auch der Novellentheorie hätte verleihen müssen. Aber grundsätzlich neu waren eben die Ideen und Theorien dieses Jahrhunderts nicht, sondern nur grundsätzlicher, starrer, mit größerem Anspruch und Ausschließlichkeitswillen vorgetragen. Theoretische Terminologie dringt mehr und mehr in Novellenrahmen und Prologe ein. Man spricht dort häufig von der geschuldeten imitazione, von erstrebenswerter eloquenza, man beruft sich auf die natura, auf die umanità, man verknüpft die affektierte Formel von der „Nichtigkeit" und den ciance mit der Bitte, den mangelhaften stilo zu entschuldigen. Aber nicht einmal diese Terminologie ist neu, sie wird nur mit größerem Nachdruck angewandt. Auch die Termini der Rahmen und Vorworte des Cinquecento sind schon Tradition. Üb erlieferungswürdig sind sie mindestens seit Masuccio, der sie in den Einleitungen und Rahmenbriefen seines Novellino (Erstdruck 1476) virtuos verwandt hatte 1 ). Der salernitanische Novelliere, der einem Pontanus, einem Panormita und anderen das Lateinische beherrschenden Fürstensekretären, Dichtern und Humanisten seine Novellen widmen konnte, der sich — bei aller Derbheit seiner Geschichten — in der Literarästhetik des Humanismus bestens auskannte (was nicht zuletzt die eigenartige allegorische Fiktion in der Einleitung zum dritten Teil des Novellino glänzend beweist) —, Masuccio also hatte schon mit humanistischer Gesinnung von der Natur gesprochen. „Masuccio mio, — sagt Merkur in der Rahmenvision (S. 180) — come tu a te medesmo pòi rendere ragione da li teneri anni te ho cognosciuto multo piü de ingegno che de littere de la natura dotato"; ,,da la natura" (198) glaubt Masuccio die ruchlosen Taten der Menschen verdammt; in Gott oder der Natur (206), in Gott und der Natur (403) sieht er die verantwortlichen Mächte des Alls; von der Natur glaubt er die Geschöpfe vernachlässigt, benachteiligt oder bevorzugt; ihm dünkt sogar, daß „gli mondani principi e da Dio e da la natura e da le divine e umane leggi siano in terra a lo reggimento e governo de' populi e ministramento de iusticia stati ordinati e istituiti" (374). Dem Religiösen der Caritas mischt Masuccio in seiner Vorstellung von der S. 106); zum Motiv der Nichtigkeit, Albernheit: „di pubblicare novelle o ciance mie" (De' Mori a. a. O. S. 265); „Tavola ossia registro delle chiacchere, filastrocche, frappe, chimere, castelli in aria, saviezze, aggiramenti e lambiccamenti di cervello, fanfaluche, sentenze, bugie, girelle, ghiribizzi, pappolate, capriccj, frascherie, anfanamenti, viluppi, grilli, novelle, cicalecci, parabole, baje, proverbj, motti, umori, ed altre girandole" (Anton Francesco D o n i , Zucca, zit. nach Gius. M a f f e i , Storia della Lett. ital. II, Milano 1824, S. 289) ; zum Motiv der Beispielhaftigkeit : „possiate, leggendola, più chiaramente vedere a quai rischi, a quai trabocchevoli passi, a che crudelissime morti e miseri e cativelli amanti sieno il più delle volte da amore condotti" (L. da P o r t o , in Racc. di Nov. II S. 174); „sicché se leggendo voi, trovate donna alcuna degna di biasimo, allora voglio che consideriate quanto degna siate di eterne lode per non in voi trovarsi un simil vizio" (Pietro F o r t i n i in Racc. de' Nov. Ital. XIV S. 178); „Io adunque . . . per mostrare al mondo che, ancoraché della virtù pochissima, anzi nessuna parte possegga, che io non sono almeno così vile, ch'io non cerchi con ogni diligenza di conoscere gli uomini virtuosi" (Parabosco a. a. O. S. 3). 1
) Masuccio-Zitate nach: M. Salernitano, d'It. N. 173, Bari, Laterza 1940.
Il Novellino,
a cura di Alfr. M a u r o , Scritt.
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umanità den humanistischen Gesittungsbegriff bei, wenn er „un detestendo e più diabolico che umano appetito" verurteilt (198); wenn er meint, ,,che multo inumano se porrà iudicare colui che ad uno perfetto amico non discuopre ogni suo grandissimo secreto" (223); wenn er sagt, „che, leggendo o ascoltando de l'altrui li infelici, avversi et orribili casi, da umanità siamo costretti a dovergli con le nostre più amare lagrime ne le loro miserie piangendo accompagnare", und wenn er sich mit dieser Gesinnung an eine Dame wendet „più ch'altra madonna de umanità e compassionevole carità vestita" (252). — Im 16. Jahrhundert redet Bandello seine Leser als „candidi ed umani lettori" (Parte I Vorwort), als „lettori miei umanissimi" (Parte I I Vorwort), als „candidi ed umanissimi lettori" (ParteIII Vorwort) an, bemüht Grazzini die ganze „Humanitas", um den Jünglingen seiner Rahmengesellschaft Einfalle zu entlocken: „E voi, giovani, avete tutti buone lettere d'umanità, siete pratici coi poeti, non solamente Latini o Toscani, ma Greci altresì, da non dover mancarvi invenzione, o materia di dire" (a. a. O. S. 64), beruft sich Bargagli in der „Introduzione a' Trattenimenti" (a. a. 0 . S. 105) auf die täglichen „diversi umani accidenti" und auf die „umane condizioni". Sogar das Vorwort der 1525 erschienenen Ciento novelle antike scheint mit dem einleitenden Satz: „Quando lo nostro Singniore Giesu Cristo parlava humanamente con noi" an die moderne Ausdrucksweise Anschluß zu suchen. Im 16. Jahrhundert ist die Natur in aller Munde. Bargagli sagt : „ [ . . . ] Ί dolce, che per natura si trae dalla cosa piacevole" (a. a. O. S. 105), er spricht von „quella perfezione [ . . . ] che per natura da un fecondo intelletto [ . . . ] si sariano [ . . . ] potuti produrre" (ebda. S. 109). Luigi A l a m a n n i stellt die natura im Widmungsbrief zu einer Novelle schon wieder in Frage, denn er versucht zu widerlegen diejenigen „i quali affermano le forze della natura esser di più valore, che quelle d'amore" 1 ). Diese Termini, Vorstellungen und Begriffswandlungen sind zwar für die Geschichte der Novellendoktrin an sich unwichtig, aber da sie in den Prologen des Quattrocento vorkommen und zur Novellistentopik des Cinquecento gehören, beweisen sie die Einwirkung humanistischer Denkweisen auf die Novellenautoren. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, wenn die Gelehrsamkeit mit dem Übergewicht ihrer Autorität und mit dem analytischen Geist der Theoriefreudigkeit die Grundlagen verschiedener novellistischer Ausdrucksmöglichkeiten erschüttert. Der Humanismus bereicherte die novellistische Prooemientopik durch Wiederbelebung von Überlieferungen, von denen ein Boccaccio sich mit vollem Bewußtsein abgekehrt hatte. In Masuccios Prolog und Widmungsbriefen begegnen mit der humanistischen Terminologie die ältesten Prologtraditionen. Wenn er von dem „suono della mia bassa e rauca lira", von seinem „grosso e radissimo ingegno, e de la pigra e rozza mano", von „il mio rusticano stile" (ebda. S. 3ff.) spricht, denen es nicht gezieme „de libro comporre" (S. 3), wenn er von Anfang an auf Lob für irgendwelche Vorzüge seines Stiles verzichtet und behauptet, er habe nur „voluto quelle che erano già disperse congregare, e di quelle insieme unite fabricare il presente üb retto, e quello per la sua poca qualità nominare il Novellino" (S. 3), „il molto pisto e lutulente libretto" (S. 4) —, so nimmt er mit allen diesen 1) Race, di Novelle a. a. O. II, S. 227—28.
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Wendungen nicht nur die Gepflogenheit mittelalterlicher Geringschätzung des Novellierens, sondern geradezu „den affektierten Manierismus der spätrömischen Literatur", dessen stereotype Ausdrucksweise sich freilich ebenfalls durch das ganze Mittelalter vererbt hatte 1 ), wieder auf. Unfähigkeitsbeteuerungen wie diejenigen Masuccios gehörten zum Inventar der captatio benevolentiae, seine rauca lira, sein rusticano stile entsprechen genau der „incondita et rudi voce", der „rusticitas" spätantiker Autoren. Dabei ist Masuccio nicht der einzige italienische Novellist mit derartigen Tendenzen zu topischer Manieriertheit, sondern nur ein, freilich durch die Antinomie zwischen letzterer und der Derbheit seiner Erzählkunst besonders anziehendes, Musterbeispiel. Was im 11. Jahrhundert schon durch die Artes dictaminis 2 ) gelehrt worden war, das demonstriert Masuccio, durch die Humanisten wieder zu den Gesetzen und zum Gepränge der Eloquenz verführt, in seinen Prologen und Rahmenbriefen. Schon die Disposition seines Novellino bekundet die humanistische Freude an gelehrter Ausstattung. Die Novellen scheinen in einem geistvoll in einander verschränkten und mit großartiger Präzision funktionierenden Mechanismus, in einem Rahmenfachwerk von geradezu metallisch hartem Glanz versteckt zu sein. Ein Prolog in Form einer Widmung zum Gesamtwerk, eine Widmung an den König zur 1. Novelle; Anrufung der Götter; Disposition zu jedem Teil des Buches; Unterteilung jeder einzelnen Novelle in a) Argomento = Inhaltsangabe, b) Esordio = Widmungsbrief, c) Narrazione = eigentliche Erzählung, d) mit dem Namen Masuccio überschriebenen Kommentar oder Epilog; allegorische Vision in der Einleitung zum dritten Teil ; Parlamento de lo Autore al libro suo als Epilog zum Ganzen mit gelöbnishaftem Nachruf auf den inzwischen verstorbenen Fürsten von Salerno — dies alles steht an ausgeklügelter Künstlichkeit dem Dispositionsschema in der Einleitung von Arnulfs mittellateinischen Deliciae cleri3) kaum nach. Niemand vermutet hinter der Traditionsgebundenheit, Preziosität und Überzeugungslosigkeit eines solchen Rahmens eine so derbe, saftige, streitbare Novellistik. Mag der Rückgriff auf die Topoi der durch Erudition wiederbelebten Rhetorik mit der Überzeugung des Autors und seiner aus dem gleichen Repertoire schöpfenden Berufskollegen auch wenig oder fast nichts zu tun haben, das Bild der Novellistik verwirrt er doch und die schöpferische Phantasie bringt er in Verlegenheit. Allein durch die Anwendung der Prooemienschablone, durch die theoretischen, der humanistischen Modeströmung manieristisch nachgeäfften, im Grunde aber doch anachronistischen Unfähigkeitsbeteuerungen bereitet Masuccio schon die Scheidung von Form und Inhalt vor, auf die später der Theoretiker Pietro Bembo verfallen wird, und auf die sich dann wieder Bembos nichttoskanische Zeitgenossen herausreden werden, um sich dem drückenden Zwang, der Hegemonie des Florentin volgare zu entziehen. Denn wenn Masuccio im Widmungsbrief zur 1. Novelle (an Ferdinand I. von Aragon) behauptet: ,,ho voluto più presto, ottemperando a tanto volere, errando scrivere, che in alcun modo a' toi ossequii, tacendo, non satisfare. Per la cui cagione, e non per veruna 1
) Curtius in RF LIV (1940) S. 162. ) Curtius in RF a. a. O. S. 107ff. s ) Curtius in RF a. a. O. S. 142. a
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temerità, ho pure proposto volere nel travagliato labirinto intrare" (S. 7), wenn er im Brief zur 5. Novelle (an Angelo Caracciolo) bittet: „Supplicote dunque con amor la ricevi ; e se in tutto o in parte il rozzo idioma de mia materna lingua te dispiace, che non il fiore del mio inculto e inesercitato ingegno ma il solo frutto de quella prender debbi" (S. 51), so ist das zwar affektierte Bescheidenheit und hat mit Masuccios wirklichen Überzeugungen nichts zu tun; dem Leser und dem nacheifernden Novellisten stellt es aber die Erzählungen als Gebilde dar, deren stofflicher Kern auch unabhängig von der sprachlichen Einkleidung genossen werden könne, die der Autor in seiner untergeordneten Rolle nur weiterzureichen habe, die eigentlich keine Dichtungen, sondern eben nur die Streiche der darin geschilderten Personen, die witzigen Einfälle der Protagonisten seien. Bei solcher Verdrehung der Tatsachen darf Masuccio, ohne des Eigenlobes verdächtig zu erscheinen, einzelne Novellen als ,,facete" bezeichnen oder durch andere Epitheta preisen, wie etwa im Epilog zur achtzehnten, wo er ,,le tre racontate novelle" als Einfälle bezeichnet ,,quali in vero tutte se ponno dire piacevoli e con grande astucia e sottilissimi partiti adoperate" (S. 162). Mit orientalisch anmutender, zeremoniöser, rhetorisch affektierter Selbsterniedrigung schreibt er zur 4. Novelle: „Esistimo, magnifico mio maggiore, che volendo dar principio a scrivere a te, mare d'ogni retorico stile, se in me fosse la lira di Orfeo o la eloquenzia di Mercurio, non altramente che un vii canto d'un cieco al grosso volgo te parrebbe. Questo solo me fu cagione, perch' io infino a qui ho differito scrivere la seguente novella; ma pur, cognoscendola assai faceta e bella, così inornata e ruginosa de inviartela ho deliberato. Quale avvenga che a te profitto alcuno render non possa, per aver de' mundani travenuti casi soverchia noticia, nientedimeno, ad altrui leggendola, non dubito che assai utile consiglio ne prenderanno, e serra forse a loro efficiente cagione fargli da la nuova fraudolente setta de' santi guardare [ . . . ] " (S. 41—42). Natürlich ist Masuccios Verächtlichmachung seiner sprachlichen Leistung ebenso unaufrichtig wie Piccolominis Worte über die „Nichtigkeit", denn in Wirklichkeit will er die Interessen der Volkssprache, des Volgare, gegenüber dem Humanistenlatein vertreten. Selbstbewußt tritt er dem lateinisch dichtenden P a n o r m i t a mit dem Brief zur 15. Novelle entgegen. Einer übertriebenen Lobpreisung des Angeredeten folgt die Feststellung: ,,lo averti talvolta visto pigliar non picciolo piacere degli inordinati disvarioni e grosso parlar de' volgari, e per quello porre da canto le digne e ornatissime scritture, come quel che nissuno alto e retorico stile a te, novello Apolline non solo ammirativo non sarebbe, ma nuovo piacer nullo ne prenderesti" (S. 137). Welche Verdienste sich Masuccio auf diesem Gebiet zuschreibt, das sagt er in seiner „Bescheidenheit" nicht selbst; das läßt er sich in der Rahmenfiktion zum 3. Teil von keinem Geringeren als dem Gott Merkur bestätigen, und das war freilich in humanistischer Zeit das höchste Lob : „troverai a man sinistra una usitata strada, ove, ben mirando, cognoscerai gli lassati vestigli del vetusto satiro Jovenale e del famoso commendato poeta Boccaccio, l'ornatissimo idioma e stile del quale te hai sempre ingegnato de imitare" (S. 180). Dies ist bis in jedes Epitheton und bis in die Wortstellung hinein latinisierende Humanistensprache. 60
Im Parlamento de lo Autore al libro suo wird durch die Parabel vom mächtigen Xerxes, der es nicht verschmäht, aus den schmutzigen Händen eines armen Bauern einen Schluck Wasser anzunehmen (S. 400 ff.), der Topos der affektierten Bescheidenheit konsequent noch einmal als Ausklang paraphrasiert. Wie Boccaccios Parabel vom asketisch erzogenen Jüngling ist dieses Gleichnis nicht nur ein Glanzstück des Rahmens, sondern ein Beitrag zur Geschichte der Novellenpoetik in der Renaissance 1 ). Aber auch die größte Häufung von Unfähigkeitsbeteuerungen sagt über Masuccio und seine Überzeugungen nichts aus. Nur der vom Humanismus wiederbelebten literarästhetischen Tradition, nicht seinem persönlichen dichterischen Gestaltungswillen sind die Briefe entflossen, in denen er mit scheinbarer Selbstüberhebung von fernen Nachwirkungen seiner schriftstellerischen Tätigkeit spricht. Auch diese Selbstüberhebung ist affektiert; sie rangiert — um es wiederum mit Curtius zu sagen — unter die Topoi „verewigende Wirkung der Poesie" und „Selbstlob". So heißt es beispielsweise im Brief zur 40. Novelle: ,,il presente cestarello mal pieno de mei non limate littere; quali si, como penso, adesso al tuo bisogno profitto alcuno non rendono, puro gioveranno a fare col tempo il tuo dignissimo nome con l'altre toe singulare parte insiemi con eterna memoria celebrare" (S. 313) oder im Brief zur 50. : „Reducome a memoria, generoso e magnifico Buffilio, che tu non solo fusti principe del mio adormito ingegno svegliare, ma potissima cagione di farmi quasi, scrivendo, immortale tra' mortali cognoscere e connumerare" (S. 391). Dies sind keine durch ihre Anmaßung ungeheuerlichen Einfälle des Autors, sondern humanistische, durch Tradition geheiligte Requisiten. Einer der ersten, die in der Renaissance behaupteten, Fürsten Ruhm spenden zu können, war Masuccios 18 Jahre älterer Zeitgenosse F i l e l f o , dem der Novellist auch an superlativischen Schmeicheleien gegenüber Fürsten und Fürstendienern nicht nachstehen wollte2). Aber hinter den Unfähigkeitsbeteuerungen, dem Selbstlob und allen anderen Formeln der Geleitbriefe tritt Masuccio als Persönlichkeit und als Erzähler völlig zurück. Nur die Novellen können offenbaren, was er denkt und wer er ist. Nur zwei Grundgedanken kann er auch im Rahmen nicht ganz unterdrücken, nicht einmal gegenüber der hochgepriesenen Eloquenz 3 ). Denn was hilft wohl alle Beredsamkeit angesichts der Ver*) Zum Topos affektierte Bescheidenheit vgl. man auch den Widmungsbrief zur Novelle I, X X X Bandellos, a. a. O. Bd. I S. 414: „Io il tutto [ . . . ] in forma d'una novella ridussi [ . . . ] ho voluto questa novella darvi, imitando i poveri contadini, i quali, quando vengano a la città, per non apparir dinanzi al padrone a man vote e non avendo altro che recare, porteranno due capi d'aglio e una cipolla, che talora saperanno meglio al padrone che non fanno i capponi". 2 ) Der Gedanke, daß Dichtung verewige, ist freilich älter. Alb. M u s s a t o schrieb z. B. : „Per merito mio è tramandata in eterno ricordo la storia del mondo : le grandi imprese sono fissate per sempre ne' miei ritmi" usw. (zit. in Sapegno, Il Trecento a. a. O. S. 154). Curtius in ZrPh LIX S. 146 Fn. : „Antik ist die Auffassung der Poesie als Verewigung". Zum Topos Lob der Zeitgenossen: Curtius, in DV 1938 S. 469ff. Zur Tradition des literarischen Selbstlobes, anläßlich A n s e l m s v o n B e s ä t e (Ital. 11. Jahrh.), Curtius in ZrPh LIX S. 172 sowie ELLM S. 47Iff. 3 ) Über das Verhältnis der Dichtung zur Rhetorik in den Theorien des MA. : Curtius in ZrPh L X I I I (1943) S. 241 ff. Dichtung und Rhetorik waren für Spätantike und MA. wesenseins, daher auch Dantes De vulgari eloquentia. 61
worfenheit der Pfaffen, was gegenüber der abgründigen Verworfenheit des weiblichen Geschlechts ? Vor diesen Plagen versagt auch die Eloquenz. In dem boshaften Brief zur 3. Novelle, wo Masuccio dem Pontanus kompromittierenden Verkehr mit Ordensleuten aller Art vorwirft, heißt es ironisch: „cognoscendote di tante singularissime virtù accompagnato, che lume de' retorici e specchio de' poeti meritamente appellar te potemo, oltre le infinite altre notivole parte che in te sono, e vedendo quelle de una sola macchia contaminate, quale facilmente nettar si puote, non ho voluto in alcun modo tacerla. E ciò è il continuo e con stretta prattica tuo conversare con religiosi d'ogni sorte [ . . . ] " (S. 30). Merkur sogar muß die Grenzen der Beredsamkeit resigniert anerkennen: „Però che de questo putrido, villano e imperfettissimo muliebre sesso niuna esquisita eloquenzia seria sufficiente a bastanza posserne parlare [ . . . ] " (S. 180). Masuccio ist der Erzähler mit der Maske des Humanisten. I m Licht der historischen Topik offenbart der Novellino zwei Aspekte, enthüllt sich die Unstimmigkeit von Theorie und dichterischer Praxis. War der Salernitaner ein ausgezeichneter Kenner rhetorischer und ästhetischer Konstanten, Regeln und Vorschriften, so war er doch auch ein bissiger Satiriker von ungestümem Temperament. E r beherrschte zwar die „ars", die uralte Wissenschaft des Dichterhandwerks, die ganze, bis in die Antike hinaufreichende Tradition, und er legte Wert darauf, diese seine Kenntnis ins rechte Licht zu rücken; aber er war auch ein derber Schwanknovellist, und als Novellist ein bedeutendes Talent. Seine Rahmenbriefe sind heute nur noch Kuriositäten, aber aus seinen Novellen tönt noch immer der Herzschlag des neapolitanischen und salernitanischen Quattrocento. Wenn Masuccio meinte, nicht einmal die Beredsamkeit Merkurs reiche hin, um die Schlechtigkeit der Mönche und Frauen zu schildern, so war das nur eine witzige und bösartige Abwandlung des durch das Mittelalter und die Spätantike über Virgil bis zu Homer zurück verfolgbaren Topos der Unsagbarkeit; in den Novellen hat er dagegen seinem Zorn freien Lauf gelassen und durchaus dargelegt, f ü r wie schlecht er seine Umwelt — offenbar mit guten Gründen — hielt. Wenn er behauptete, die Natur habe diesen und jenen vernachlässigt, Gott und die Natur seien für allerlei Mißgeschick verantwortlich, so war das nur eine durch Überlieferung geadelte Denk- und Ausdrucksweise, schon von der mittellateinischen Dichtung im 11. und 12. Jahrhundert als Konstante weitervererbt, bekannt aus den höfischen und lateinischen Romanen bis ins 3. Jahrhundert hinauf. Kein aufklärerischer Zug des Humanismus oder Originalität Masuccios waren die Gegenüberstellung, Gleichsetzung oder Vergleichung von Gott und Natur. Schon C r e s t i e n d e T r o y e s sprach von einer Schönheit, die die Natur allein nicht hätte erschaffen können: „Gewiß hat Gott sie mit nackter Hand geschaffen, um Natur in Staunen zu versetzen" 1 ). Ein Mädchen, „an dessen Schönheit die Gottheit und Mutter Natur arbeiteten", schildert Nr. 170 der Carmina huraña. Auch der Locus amoenus, den die Rahmenvision zum 3. Teil des Novellino schildert und der nichts ist als ein Teil der dort beabsichtigten captatio benevolentiae, steht auf dem Boden der großen Tradition 2 ). Ganz zu schweigen von allen anderen Topoi, mit denen Y vain, Vers 1492 ff. ) Zum Unsagbarkeitstopos : Curtius ELLM S. 166ff., über den Naturatopos ebda.
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Masuccio sein Werk fröhlich spielend ausschmückt und gegen denkbare Angriffe der Kritik abschirmt. Nicht umsonst war dieser Autor mit den Humanisten befreundet und von ihnen hoch geschätzt. Bevor noch der Humanismus den Stab über der italienischen Vulgärprosa brach, hatte Masuccio es verstanden, mit seinen volkssprachlichen Novellen bei Humanisten Gefallen zu erregen. Wer hätte auch besser als die Humanisten den eigenartigen Reiz empfinden sollen, der darin bestand, einen vulgären Schwank im silbernen Rahmen der Rhetorik, hinter der glänzenden Fassade eines nach allen Regeln der Prooemientopik konzipierten Widmungsbriefes dargereicht zu bekommen! War die Sprache auch nicht das Latein, so war es doch lateinischer Geist, lateinische Eleganz, die aus diesen Briefen sprach. Die Maske funkelte, sie war für Kenner transparent. Wer sich auf die Konstanten und die Topik verstand, sah Maske und Gesicht zugleich, ihn faszinierte der Kontrast von Esordio und Narrazione. Man nahm die Antinomie als Spiel : Unordnung der Fabliauwelt im Rahmen rhetorischer Gesetzmäßigkeit. Zwar setzte der Humanismus des Quattrocento der vulgärsprachlichen Novellistik schon Widerstände entgegen. Aber auch der Humanismus war noch liberal, er bestand noch nicht auf seinen Forderungen wie der des Cinquecento. Man war noch nicht so streng, das brillante Spiel der Briefrhetorik wörtlich zu nehmen. Wie anders hätte sonst ein Jovianus P o n t a n u s , wegen des Umgangs mit Ordensleuten aller Art in einem offenen Brief zur Rede gestellt, dem salernitanischen Novelliere ein so treffendes, gerechtes und weltmännisches Epitaph in der Sprache der hohen Poesie gewidmet : TVMVLVS MASVTII SALERNITANI FABVLARVM E GRE GII SCRIPTORIS. Hic quoque fabellas lusit, tinxitque lepore, Condidit ornatis et sua dieta jocis. Nobilis ingenio, natuque nobilis idem Et doctis placuit, principibusque viris. Masutius nomen, Patria est generosa Salernum: Haec simul et ortum praebuit, et rapuit. 1 ) Der literarische Sinn dieser Grabschrift zeigt sich nur angesichts der Novellentheorie, die Jovianus Pontanus in seinem Traktat De sermone (1473) aufgestellt hat und die sich zugleich als Formulierung eines neuen Gesellschaftsideals definieren läßt. Neben Enea Silvios Sozzino-Porträt, das wir als zeitgenössische Darstellung des „Renaissancemenschen" aufzufassen wagten, tritt bei Pontano als Idealbild der „homo facetus", in dem sich antike Postulate mit der modernsten der damaligen Tugenden elegant verbinden sollen. Dem aus antiken Autoren (Aristoteles, nikomachische Ethik; Cicero, De oratore und Orator; Quintilian, S. 187—88 mit Yvain- und Carmina burana-Zitaten, sowie ZrPh LVIII (1938) S. 180ff. (Natura mater generationis), über locus amoenus ELLM S. 203, über Dichtung als Verewigung ebda. S. 471. 1 ) Zitiert nach II Novellino di M. Salernitano in Toscana favella ridotto. AlV orrevole Aristarco Scannabue della Frusta Letteraria Autore dedicato, vol. I, Ginevra 1765 S. XXVII.
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Institutio oratoria) gewonnenen Rhetoren- und Bildungsideal mischt sich hier als neues Element die echt italienische Forderung nach „gentilezza", nach einer durch Witz erholenden Geselligkeit, einer Urbanen menschlichen Verkehr erhellenden, scherzenden Phantasie bei. Antikes und modernes Streben verschmelzen zum Bild seelischer Harmonie. Innerhalb dieses Strebens hat die Kunst einen hervorragenden Platz; denn der „homo facetus" hat Scherz und Phantasie zur Kunst entwickelt; auf seiner „facetudo" (das Wort ist Pontanos Neuprägung) beruht die Erheiterung des idealen gesellschaftlichen Daseins. In diesen theoretischen Entwurf fügt sich der Kernsatz obigen Epitaphs glücklich ein: danach hatte Masuccio „erfundene Geschichten [fabellas] im Spiel vorgestellt [lusit] und mit Witz gefärbt [tinxitque lepore] und seine Aussagen mit schmückenden Scherzfiguren [ornatis jocis = stilistischem Schmuck] gewürzt". Der Novellist Masuccio hatte also in Pontanos Augen das Ideal vom ,,homo facetus" erfüllt; denn „Et doctis placuit, principibusque viris"; in seiner Erzählkunst hatte die Novellistik ihre gelehrte (antike) und ihre gesellschaftliche (moderne) Wendung vollzogen. Die Theorie bestätigt hier nachträglich der novellistischen Praxis ihr Einverständnis. Dies dürfte der geschichtliche Punkt der Übereinstimmung sein, die freilich nur erzielt werden konnte, weil der Theoretiker in seinem humanistischen Streben die mittelalterliche Vorstellung vom Unwert des Novellierens überwunden hatte, während der Novellist sie in seinen Widmungsbriefen in affektierter Bescheidenheit noch tradierte 1 ). *
Auch einer stilgeschichtlichen Untersuchung enthüllt sich die Antinomie bei den Quattrocentisten, ja sogar in Boccaccio. Raffaele S p o n g a n o stellt in La Prosa letteraria del Quattrocento2) u. a. fest: „Anche il Valla scriveva più animato e libero che non consentissero le sue regole, più vario e sbrigliato che non consen1
) Ernst W a l s e r s Zürcher Dissertation Die Theorie des Witzes und der Novelle nach dem de sermone des Jovianus Pontanus. Ein gesellsch. Ideal vom Ende des XV. Jh., Straßburg 1908, blieb uns leider unzugänglich. Wir folgen in obigem Resümé von Walsers Erkenntnissen der Darstellung von Werner K a e g i Über die Renaissanceforschung E. W.s (S. X I X f f . ) in dem Band: E. W., Oes. Studien zur Geistesgeschichte der Renaissance, hrsg. v. d. Stiftung von Schnyder v. Wartensee, Basel 1932. Laut Walser sind die Darlegungen des Pontanus im Traktat De sermone erst von C a s t i g l i o n e im „Cortegiano" benutzt worden (ebda. S. X I X u. S. 145). Walser trennt übrigens Praxis und Theorie mit allem Nachdruck: er weigert sich (S. 145), mit Castiglione-Pontanus-Cicero zwischen „Novelle" und „Fazetie" einen Gattungsunterschied zu machen, und bemerkt ebda, zur Auswertung Pontanos durch Castiglione: „All dies passierte reichlich 50 Jahre nach der Abfassung von Poggios Witzsammlung und ist lediglich Theorie". Das Verhältnis Pontanus-Masuccio ist u. W. noch nicht genau untersucht worden. War der Salernitaner schon durch die theoretischen Vorstellungen des gelehrten Staatsmannes beeinflußt, oder hat vielmehr der Eindruck des Novellino (geschrieben zwischen 1460 und 1476) bei der Abfassung des De sermone (1473) mitgewirkt ? M.s Novellenbuch hat ja auch in anderen Werken P.s gelegentlich Spuren hinterlassen: in den Dialogen Antonius und Charon (beide 1491 gedruckt) wird z. B. eine Geschichte über Bettelmönche erzählt, die stofflich mit Novellino II übereinstimmt (J. B u r c k h a r d t , D. Kult. d. Renaiss. in Ital., Lpz. ">1908, II S. 187 Fn. 3). a ) „Introduzione" zu L. B. A l b e r t i ,1 primi tre libri della Famiglia, Firenze, Sansoni 1946.
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tissero le sue „Elegantiae". Rotto, aguzzo, nervoso nella polemica personale, non meno nervoso e polemico nel trattato espositivo, nella discussione storica, nell'impostazione e risoluzione dei problemi filologici, rivela i modi mentali moderni, tutt'altro che ciceroniani [ . . . ] " (S. IX—X). Das Wiederkehren der, schon in Dantes Prosa überwundenen, vorwiegend relativischen Satzverknüpfung in einigen Teilen des Decameron wird (ebda. S. XIX) mit bewußten rhetorischen Absichten Boccaccios im Rahmen erklärt: „Se il nesso per relativi conserva ancora qualche peso nelle pagine meno spedite del „Decameron 1 ', bisogna ricordarsi che questo peso era quasi interamente dileguato mezzo secolo avanti nel capolavoro in prosa di Dante, e che perciò non avrebbe riacquistato consistenza senza un proposito consapevolmente retorico nelle cornici del „Decameron"." Als persönliche, unverfälschte Aussage der Autoren erscheint dem Stilforscher Spongano (obgleich er mit B e m b o den Vorwurf erhebt, die Novellenprosa des Quattrocento bedeute einen erheblichen Rückschritt gegenüber Boccaccio, einen Absturz in „popolarità" und Barbarei [S. XXIV—XXV]) die Sprache der Novellen, nicht die der rhetorisch verkünstelten, durch theoretische Erwägungen bedingten, nach antikem Vorbild konstruierten Vorworte (S. XVI) : „L. B. Alberti inizia il proemio ai tre libri della „Famiglia" con un solennissimo periodo ciceroniano; e, scrivendo dieci anni dopo per una gara letteraria il quarto libro della medesima opera, non ritrova più il proprio stile. Masuccio Salernitano racconta in stile veloce e disadorno — se non arido — le sue novelle ; ma usa la forma più ornata nelle dedicatorie e nei commenti che le accompagnano. Solo nella prosa politica del Cinquecento e in quella scientifica del Seicento, e per opera d'ingegni sommi come quelli del Machiavelli e del Galilei, cesseranno simili convivenze." Was die „popolarità" und Barbarei des Quattrocento anbelangt, so bedürfte dieses seit dem Cinquecento mitgeschleppte Vorurteil mancher einschränkenden Dämpfung. Hat man doch sogar in Verkennung der Auflockerungstendenzen und der gesellschaftlichen Fabulierfreude des quattrocentistischen Humanismus einen der kostbarsten Einfälle jenes Jahrhunderts, das Fazetienschreiben, geradezu als unhumanistische Unkultur abtun wollen. Selbst ein so feiner Kenner der Renaissance wie Ernst W a l s e r sagt mit Bezug auf Poggios Liber facetiarum (1438 bis 51), das er als „Vermummung des Vulgären ins Antike" bezeichnet: „Poggio sammelte in roher, doch gesunder Unkultur, wahrlich nicht Überkultur, die Witze, die in seinen Tagen italienisch umliefen. Es waren z. T. Tagesereignisse, z. T. flössen sie aus dem ungeheuren Strome der novellistischen matière roulante; von einem Einfluß des Altertums, des Humanismus oder von Epikur ist in den Fazetien gründlich nichts zu spüren." 1 ) Das heißt aber den Humanismus in die Formel „Wiederbelebung der Antike" zurückbannen, während gerade die Entspannung und das liebenswürdige Entgrenzen der Form und die Erhebung des 1
) E. Walser a. a. O. S. 61. — Während Walser, wie Kaegi ebda. S. X X V berichtet, sich anfänglich über Poggios Frivolität wunderte, revidierte er sein Urteil in seinem Poggivi Florentinus, Leben und Werke, Teubner 1914 (in Beiträge z. Kulturgesch. d. MA. u. d. Renaiss., hrsg. v. Walter G o e t z , Bd. 14). Dort sieht er lt. Kaegi in den Fazetien nur noch die Freude an der witzigen Erzählung, am befreienden Lachen. „Papst Nikolaus V. [ . . .]war der letzte, der Poggio ob seiner Fazetien getadelt hätte" („Poggius" 266). 5
Novellentheorie
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Witzes zum geistreichen Gesellschaftsspiel, mit einem Wort : die neu erlebte Gegenwart, unbedingt mit dazu gehörte 1 ). Wenn das Fazetiöse der gelehrten Tendenz des Humanismus und seiner oft anachronistischen Bemühung um Reaktivierung antiker Oratoren- und Gattungsgesetze zu widersprechen scheint, so ist auch dies nur ein Stück der Selbstentzweiung, die eben das theoretische Streben der Zeit, nicht aber das Fazetienschreib en, in den Autoren hervorrief. Auch die Fazetien eines Poggio sind durch den Kontrast, den sie, als ungezwungene Aussage, mit dem übrigen Werk dieses Humanisten bilden, Belege der großen (novellistischen) Antinomie; sie deshalb unhumanistisch zu nennen, ist niemand berechtigt. Fazetiöses und Novellistisches begegnen sich übrigens in der Freude am Aktualisieren der oft weither überlieferten Erzählstoffe. Wie schon die Novelle antiche namhafte Zeitgenossen zu Protagonisten alter Geschichten machten, so treffen die Fazetien nicht nur durch einen (u. U. längst bekannten) Witz Gesprächspartner oder anwesende oder abwesende Zeitgenossen, sondern sie werden — und das ist, von Franco Sacchettis Gepflogenheiten abgesehen, die wesentliche Neuerung seit G i o v a n n i da P r a t o s Paradiso degli Alberti (1389) — auch berühmten Männern, am liebsten bekannten Zeitgenossen, in den Mund gelegt. Poggios Liber facetiarum, des Pontanus De sermone, die Fazetien P o l i z i a n o s , aber auch S a b a d i n o d e g l i A r i e n t i s 1478 veröffentlichtes Novellenbuch Le Ρ or retane2) sind bedeutende Beweisstücke dieser Tendenz, die im Cinquecento bei Castiglione, Bandello, Parabosco und in Frankreich von den Cent Nouvelles nouvelles bis zu Margarete von Navarra weiterblühen wird. *) Vgl. Curt Sigmar G u t k i n d , Poggio Bracciolinis geistige Entwicklung, in DV X (1932) S. 548—596. „Ganz entkleidet aber jeder humanistischen Allüre u n d jeder exemplaren Altertumsliebhaberei ist das luftigste und pfiffigste Produkt seiner dichterischen Muse, die ,Facetiae'. Hier läßt dieser geborene „Causeur" seiner Laune frei und unbeschwert die Zügel schießen und ü b t seinen Witz und spitzen Geist, zeigt seine K r a f t der knappen, beobachtungsscharfen, das Wesentliche allein erraffenden Schilderung, beweist er seine künstlerische Begabung für die anekdotische Novellette in der Formung und Hererzählung irgendeines (oft selbsterlebten) Ereignisses. Verschwindend gering sind die Stoffe, die ihm seine Gelehrsamkeit aus Aesop zuträgt, absolut vorherrschend dagegen „die wahre Geschichte", in deren Mittelpunkt entweder geradezu ein Bekannter oder einer der Poggio so verhaßten Mönche oder auch nur ein ungetreues Weib s t e h t " (S. 577). 2 ) Benutzte Ausgabe: Sabadino d. Α., Le Porretane, a cura di Gio. G a m b a r i n (Scrittori d'Italia) Bari, Laterza 1914. Als „novelle" bezeichnet Sabadino unterschiedslos: beffe (ζ. B. I — X X u. v. a.), platonisierende Humanistenerzählungen ( X X X I I , L I I I ) , m o t t i (XXXI),eine Tierfabel (L), einen religiösen Stoff (LVI), eine kasuistische „questione" (LXI) und eine scholastische Predigt (am Ausgang). I m R a h m e n imitiert er Boccaccio (Fiktion der Flucht vor der Pest, Zitat in der „Lettera dedicatoria" (S. 2): „piacevoli ed aspri casi d'amore e altri advenimenti, cosi ne' moderni tempi come negli antiqui avenuti" u. dergl.). I n der Gesamtkomposition zeigt sich mancherlei dem Novellino Masuccios Analoges (Widmungsbrief, Prolog, Nachwort zu jeder Novelle, gelehrter Ausklang, „Erudizione de l'auctore a l'opera"). Filippo Beroaldo und andere Prominente sind fingierte Erzähler. Lit. : S. v. A r x , G. Sabadino d. A. und seine Porretane, Freiburg (Schweiz) 1909; E r h . L o m m a t z s c h , Ein ital. Novellenbuch d, Quattrocento: G. Sabadino d. A.s ,Porretane*, Halle Niemeyer 1913.
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5. T h e o r e t i s c h e r N a c h h a l l : B e m b o Unter dem Druck der humanistischen Gelehrsamkeit verschob sich der Akzent in der Literarästhetik zugunsten des sprachlichen Ausdrucks, der Beredsamkeit, der darstellenden Form; aber nicht erst im 16. Jahrhundert, sondern schon im Quattrocento 1 ). Schon Masuccio hat den Kunstgriff gebraucht, den Gesetzen der Rhetorik und Tradition in seinen Esordii und in der Künstelei seines Rahmens einen Tribut zu zollen, um den narrazioni die erforderliche Freiheit zu sichern. Innerhalb der eigentlichen Novellen ging er über die Nachahmung des selbstverständlichen Vorbildes Boccaccio kaum hinaus. Wenn dann im Cinquecento die Lombarden und Venezianer mit ihrem starken schöpferischen Anteil an der Novellistik nur ungern die Hegemonie des Florentin volgare anerkannten, war dies im Grunde nur eine Abwandlung des schon von Masuccio geführten Kampfes um die Autonomie der erzählenden Prosa. Schon im 15. Jahrhundert hatte der Humanismus seine hochmütigen Verdikte über die Sprache Dantes, Petrarcas und Boccaccios gefällt. Schon damals nahm Giovanni Gherardo da Prato in seinem Paradiso degli Alberti, das auch Novellen enthält, das Volgare temperamentvoll in Schutz, weil er es hinreichend ,,rilimato e copioso" fand, um damit „ogni astratta e profonda materia" zu behandeln 2 ). Wenn die Novellisten des Quattrocento keine anderen Verdienste hätten, so müßte die italienische Literaturwissenschaft doch immer anerkennen, daß sie dazu beitrugen, die Kontinuität der volkssprachlichen Prosa aufrecht zu erhalten, als sie ernstlich in Gefahr war, unter dem Gewicht und der Autorität des Humanistenlateins zu ersticken. Wenn aber schon in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Streit sich zugunsten des Volgare entschied, so übernahmen die Autoren damit die Verpflichtung, die Volkssprache gleichsam konkurrenzfähig zu machen, sie auf die Höhe der dem Latein nachgerühmten Elegantia zu erheben. Als Pietro Bembo dieses Bestreben in den Prose della volgar lingua (Venedig 1525) mit systematischer Wissenschaftlichkeit fundierte, war die Legitimität des Italienischen als Schriftsprache schon gesichert. Dieser Gewinn mußte durch den Gesetzeszwang, den Bembo nun allen italienischen Autoren auferlegte, gleichsam nachträglich teuer erkauft werden. Durch Bembos Autorität wurde die Sprache der großen Trecentisten : Dante, Petrarca, Boccaccio — zum ausschließlichen Vorbild des literarisch zulässigen Italienisch. An solchen Maßen gemessen, erwies sich nahezu alles nach Petrarca und Boccaccio geschriebene Volgare als verwerflich, denn jeder Prosaschriftsteller ,,vinto et superato fu dal Boccaccio: et questi medesimo da se stesso : conciosia cosa che tra molte compositioni sue tanto ciascuna fu migliore; quanto ella nacque dalla fanciullezza di lui più lontana. [ . . . ] Sono dopo questi stati nell'una facultà e nell'altra [scil. nella poesia e nella prosa] molti scrittori : vedesi tuttauolta che il grande crescere della lingua a questi l
) René B r a y a. a. O. ignoriert die Existenz der poetischen Theorien und des Aristotelismus vor dem Cinquecento. a ) Zitate nach Fr. F l o r a , Storia della Letteratura ital. I, Milano 1940, S. 527. Die große vierbändige Ausgabe: Il Paradiso degli Alberti a cura di Al. W e s s e l o f s k y , Bologna 1865 bis 69, blieb unerreichbar.
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due, al Petrarcha et al Boccaccio solamente peruenne: da indi innanzi non che passar più oltre; ma pure a questi termini giugnere anchora niuno s'è veduto. Il che senza dubbio a vergogna del nostro secolo si trarrà [ . . .]" x ). So wurde durch Bembos Lehre Boccaccio, der schon Masuccios selbstverständliches Vorbild (auch in sprachlich-stilistischer Hinsicht) gewesen war, obligatorischer Gegenstand sprachlicher und stilistischer Nachahmung für alle italienischen Novellisten. Wenn Bandello also schreibt: „Io non voglio dire [ . . . ] che queste mie novelle siano scritte in florentin volgare, perchè direi manifesta bugia, non essendo io nè fiorentino nè toscano, ma lombardo. E se bene io non ho stile, chè il confesso, mi sono assicurato a scriver esse novelle, dandomi a credere che l'istoria e cotesta sorte di novelle possa dilettare in qualunque lingua ella sia scritta" (Parte I Vorwort, Bd. I S. 2); wenn er später hinzufügt: „Ora ci saranno forse di quelli che vorrebbero ch'io fosse, non so se mi dica, eloquente, o vie più di quello che io mi sia in aver scritte queste novelle ; e diranno che io non ho imitato i buoni scrittori toscani. A questi dirò io, [ . . . ] che io non sono toscano nè bene intendo la proprietà di quella lingua, anzi mi confesso lombardo [ . . . ] " (Parte I I I Vorwort, Bd. IV S. 119); wenn er sich danach mit einem Hinweis auf Petrarca verteidigt, ,,il coltissimo ed inimitabile messer Francesco Petrarca", der in seinen Gedichten, obwohl er Toskaner war, keine zwei oder drei „voci pure toscane" gebraucht habe; wenn er schließlich auf alle ungerechtfertigten Angriffe verweist, die die Kritik gegen Virgil, Livius, Homer geführt habe (ebda. S. 120) — so sind das alles nur Erwiderungen auf Bembos Theorie, die ihrerseits nichts anderes als Modernisierung und Nachhall der Literarästhetik des 12. und 13. Jahrhunderts war 2 ). Wenn Bandello damit auch in der Prologtradition steht, aus der heraus Masuccio seine Novellen, die Erzeugnisse seiner ,,rozza lira" darbot, wenn er auch die Theorie der imitatio, die Topoi der affektierten Bescheidenheit, die alten Wechselbeziehungen zwischen Rhetorik und Poesie, die der Humanismus zu neuer Geltung brachte — wenn er dies alles mit leichter Akzentverschiebung in den sprachlichen und regionalpatriotischen Bereich anspricht, so zählt er doch grundsätzlich zu den Feinden jeder Doktrin. Was er sagt und was er meint, ist eine einzige nachdrückliche Verwahrung gegen Eingriffe der Theorie in seinen schöpferischen Bereich. Auch Grazzinis Ausfall in der Introduzione zur Seconda Cena (a. a. O. S. 182): „senza usarvi altri rettorici colori, o farvi altri proemj verrò prestamente al1
) Zit. nach: Prose di M. Pietro Bembo nelle qvali si ragiona della volgar lingva scritte al Cardinale De Medici che poi fu creato a Sommo Pontefice et detto Papa Clemente Settimo divise in tre libri, Firenze 1549, S. 49—50 (Libro Secondo). a ) Konfrontierung der Prose della volgar lingua mit der Theorie der drei Stilgattungen und der zwei Formen des ornamentum in den Poetiken des 12. und 13. Jahrh. (siehe F a r a i a. a. O. S. 86) zeigt, daß Bembos Leistung vorwiegend in der Übertragung der alten theoretischen Prinzipien aus dem lateinischen in den ital. Sprachbereich bestand. Die „voci", die nach Bembos Forderung der „materia grande", „mezzana" und „bassa" angepaßt werden sollen, finden genaue Entsprechung in der dreigeteilten „roue de Virgile" (Farai S. 87), deren Sektoren bedeuten : gravis, mediocris und humilie stylus. Weitere Parallelen auch in Einzelheiten.
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l'effetto", zeigt die herkömmliche Haltung des von den theoretischen Forderungen gelangweilten Autors. Ähnliche Feindseligkeit bekundet Pietro F o r t i n i im Briefprolog an Faustina Braccioni1), wo er überlieferungsgemäß das Ansinnen der Nachahmung (Boccaccios) ablehnt: „Ora a mè e parso, senza dare un minimo fastidio ad alcun poeta, di farvi questo mio mal composto libro" (S. 177), um Nachsicht bittet für ,,tale stile di novellesco parlare", für ,,il mio debole e basso ingegno se con poca eloquenzia parlo nelli successi casi", wo er nach altem Rhetorenbrauch auf seine literarische Unbildung verweist: „ciò ha causato la povertà di Iettare [senes. = lettere] con il mio poco studio" und die Empfängerin bittet, ihre gewohnte hochliterarische Lektüre und Bildung für kurze Zeit zu vergessen : „lasciando da canto tutta la sottigliezza di questi arguti parlari" (ebda.)2). Nur ein Teil der Termini, die als Gemeinplätze der Novellentheorie erscheinen, wurde bisher untersucht. Aus der partiellen Analyse ergibt sich folgende Situation der Autoren : Die Nachahmung literarischer Vorbilder gilt im Cinquecento ebenso wie in früheren Jahrhunderten als Pflicht. Für italienische Novellisten besteht die Notwendigkeit, Boccaccio nicht nur hinsichtlich des schematischen Aufbaus der Novellensammlungen und ihrer Einrahmung durch Prologe, Epiloge, Fiktionen und gegebenenfalls durch verbindenden Text zwischen den Binnenerzählungen, sondern auch in stilistischer und sprachlicher Imitatio nachzueifern. Nichtbefolgung der Nachahmungspflicht und Nichtbekenntnis zu vorbildlichen Autoren und zu Florentin volgare bedurften besonderer Rechtfertigung. Diese wiederum bestand in Äußerungen affektierter Bescheidenheit, also in topischer Heuchelei. Ein ererbtes Dilemma, das sich lediglich verschärft und die Lage der Autoren noch unbequemer, die Erfüllung ihrer wesentlichen Aufgaben noch schwerer macht. Schon in der zweiten Hälfte des Quattrocento führte das Schwanken zwischen Theorie und Praxis, dieser durch Topik und Hypokrisie getarnte Zwiespalt, zur gelegentlichen Scheidung zwischen Novellen als Stoff und als Resultat der Erzählkunst. Kein Zweifel, daß eine solche, nur dem logischen, analytischen, forschenden Verstand, nicht der schöpferischen Intuition zustehende Betrachtimgsweise, diese Aufspaltung von Kunstwerken in zwei Bestandteile, deren einer vernachlässigenswert oder allein wichtig erscheinen mochte, den Erzählern doktrinär aufgezwungen war und zu immer stärkerer Theoretisierung des Novellierens führen mußte, solange nicht aktiver Widerstand geleistet wurde. Die Scheidung zwischen Form und Inhalt hat zuletzt Pietro Bembo eindeutig formuliert. Die Rahmenbriefe Masuccios hatten sie nur aus literarischen Konstanten konstruiert, ohne sie ernst zu nehmen und eine Lehre daraus zu machen. Im zweiten Buch der Prose della volgar lingua interessiert Bembo nicht das „suggetto", der behandelte Gegenstand oder Stoff der Dichtung, sondern die „forma", der „modo col quale si scrive" und der nach seiner Lehre aus zwei Vorgängen besteht, aus der „elezione" und der „disposizione" der Wörter. So gelangt er dazu, den Schriftsteller Boccaccio auch dort, wo er nicht „prudente" und ohne „giudicio" geschrieben (wo er sich also thematisch oder stofflich vergriffen) hatte, !) A. a. O. S. 177. a ) Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, ohne tiefere Erkenntnisse zu vermitteln. Musterbeispiel: die zitierte Introduzione α' Trattenimenti von Scipion B a r g a g l i , bes. S. 103—09.
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unter dem Gesichtswinkel der Komposition und des Stils völlig zu rechtfertigen : „ [ . . . ] Che quantunque del Boccaccio si possa dire, che egli nel vero alcuna volta molto prudente scrittore stato non sia : conciosia cosa che egli mancasse talhora di giudicio nello scriuere non pure delle altre opere, ma nel Decamerone anchora : nondimeno quelle parti del detto libro, lequali egli poco giudiciosamente prese a scriuere, quelle medesime egli pure con buono et con leggiadro stile scrisse t u t t e : ilche è quello, che noi cerchiamo. [ . . . ] " (a. a. O. S. 92—93, Libro sec.). Durch Aufbau der Lehre vom Wesen der italienischen Dichtkunst auf diesen Elementen legte Bembo den Grund zur unbestritten großen sprachlichen Kultur der Hochrenaissance, aber er lieferte zugleich auch weite Bezirke intuitiven Schaffens dem theoretischen Raisonnement aus. Seine in den Grundzügen einfach wirkende Lehre war die systematische Übertragung bisher nur für das Latein geltender Humanistenansprüche in den Bereich italienischer Sprache und Dichtung. Sie führte zur Einengung des Nachahmungsprinzips, das von Bembos Nachfolgern mit zunehmender pedantischer Strenge überwacht wurde 1 ). ,,A quel fervore platonico che animò le lettere quattrocentesche — so charakterisiert Francesco F l o r a 2 ) die zunehmende Verwissenschaftlichung der Renaissanceliteratur — succede un gusto ciceroniano e un culto aristotelico che farà corrispondere alla teoria dell'imitazione letteraria Yipse dixit filosofico, che riprendeva forse l'antico detto scolastico dei greci e dei latini o meglio il Kâl (dixit) del gran comento di Averroè. L'imitazione alla quale gli scrittori volgari devono dar opera, nasce dal concetto stesso dell'imitazione, quali gli umanisti posero e i trattatisti di poetica del Cinquecento, se si eccettui il Castelvetro, portarono all'estremo elogiando col Vida i „ f u r t i " fatti sagacemente ai classici. Il Bembo concepì, dunque, umanisticamente anche il volgare: nel che riprendeva l'insegnamente di Dante il cui autore fu Virgilio, e del Petrarca che gli spiriti dei classici trasfuse nel Canzoniere " Wenn, wie allgemein als erwiesen gilt, gegen Ende des Cinquecento die italienischen Novellen allmählich aufhören, Novellen im herkömmlichen Sinn, auf dem Boden der Dichtung gewachsene Erzählungen zu sein, wenn sie sich in absurder Stoffwahl, in sprachlichen Experimenten, in der Suche nach Unerhörtem (aber nicht im Sinn von Goethes „unerhörter Begebenheit", sondern des Abstrusen, Paradoxen, Perversen) verlieren, so hat das nicht nur, wie Croce 3 ) mit gewichtigen Argumenten nachweist, äußere kulturhistorische Gründe, sondern es ist auch die Folge des verhängnisvollen, langsam zermürbenden, vernichtenden Einflusses der Doktrin. Mit der Andeutung des ungefähren Zeitpunktes, an dem dieser Zersetzungsprozeß begann, ist es nicht getan. Es bedarf des Nachweises der Argumente und Autoritäten, auf die sich die fatale Bereicherung der alten Lehre im Quattrocento x
) H. G m e l i n , Das Prinzip der Imitatio in den roman. Literaturen der Renaissance, Erlangen 1932, S. 212: Bembos „geschichtliche Tat ist die Übertragung des puristischen Imitationsprinzips aus dem Humanismus in die Vulgärliteratur". Ferner Curtius ELLM S. 230ff. (Kap. „Petrarca und Boccaccio"). 2 ) Flora a. a. O. II, S. 122. 8 ) B. Croce, Novelle del Cinquecento, in La Critica X X X , S. 401—12; dasselbe in Poesia popolare e poesia d'arte, Bari 1933, S. 487—502. 70
berief. Einer der Ausgangspunkte war die humanistische Versteifung auf die rhetorischen Gesetze. Was vom Katheder herab über die Eloquenz gesagt wurde, schien zugleich Definition der Dichtkunst zu sein. Es deckt sich teilweise sogar mit den Zielen der älteren Novellistik. So sagte der Humanist Ugo B e n z i da Siena in einer wahrscheinlich 1421 gehaltenen Inauguralrede in Florenz über die „rhetorica [ . . . ] , quam Latinae eloquentiae princeps Cicero [ . . . ] quinquefariam divisit : inventionem, elocutionem, dispositionem, memoriam et pronuntiationem", u. a. Folgendes: „haec cum ab antiquissimis rerum domina, tum ab Aristotele ars pretiosissima est appellata, quis autem huius disciplinae vim ac potestatem queat referre ? haec namque, ut Cicero ad Brutum scribit, vagos dissipatosque homines ab ferina atque agresti vita ad humanum cultum civilemque deduxit; hac una languentes excitamus, nimium tímidos elatosque sedamus, consolamur afflictos, a timore atque formidine perterritos relevamus, iracundias cupiditatesque restringimus, docemus inscios, docemur ignari; hac una maximarum rerum memoria tenetur clarissimorumque virorum nomen immortalitati commendatur" 1 ). In Venedig hatte im Jahre 1413 Andrea G i u l i a n o in der Einleitung zu einem Cicero-Interpretationskolleg über die Eloquenz gesagt: „quis enim non sentit omnes artes atque disciplinas oportere auxilium consiliumque ab hac una tandem expetere ? [ . . . ] duabus enim maximis rebus a beluis nos natura seiunxit, oratione scilicet et ratione, ab homine vero hominem oratione. [ . . . ] haec utramque philosophiam exornat, leges expolire videtur ceterasque omnes scientias atque artes ita perficit, ut, nisi ea ipsa fuisset eloquentia, harum quaelibet disciplina cum prima ipsius aetate proprios spiritus amisisset" (ebda. S. 117). Auch diese Nachweise ließen sich in beliebiger Zahl vermehren. Die Proben zeigen hinreichend, wie getreu die mittelalterliche bzw. antike Lehre des Trostspendens, der Belehrung Unwissender, der kurzweiligen Unterhaltung, also auch die Nützlichkeitsformel der Novellenprologe, vom Humanismus wieder aufgenommen wurden. Wahre Eloquenz wohnte nach der Lehre der Quattrocento-Humanisten nur dem Latein inne. Aber das Latein konnte und durfte — nach der gleichen Lehre — nicht Sprache der Novellen sein, weil es zu edel war für die frivolen Stoffe, die es dort hätte in sich aufnehmen müssen. Piccolominis Historia de duobus amantibus, Poggios Liber facetiarum und andere in seinem Gefolge erschienene Fazetiensammlungen bewiesen freilich, daß auch das Latein novellistischen Ausdrucks, daß Novellistisches auch lateinischer Prägung fähig war2). Aber nicht Reden und Briefe ital. Humanisten. Ein Beitrag zur Gesch. der Pädagogik des Humanismus [ . . . ] von K. M ü l l n e r , Wien 1899, S. 110—111. 2 ) Zur Stellung des Volgare, zu seiner Verteidigving durch den Novellisten Giovanni G h e r a r d i da P r a t o im Paradiso degli Alberti und über den Zusammenhang zwischen Novellistik und Legitimierung des Volgare als Schriftsprache im Quattrocentou. a. Fr. F l o r a , Storia della Letteratura ital. a . a . O . I, S. 404; 317; 526; Giuseppe T ó f f a n i n , Storia dell'Umanesimo, Napoli 1933. — Poggio Bracciolini entschuldigt sich im Vorwort zum Liher Facetiarum (1438—51) (Edit.: Les Facéties de Pogge. Traduites en Français, avec le Texte Latin. Paris 1878. 2 Bde.) bei denen, die das Facetienschreiben für unschicklich halten und „größere Eleganz" des sprachlichen Ausdrucks fordern; er suche nicht „Eleganz", er strebe danach, daß „nostrae confabulai iones" nicht schlecht erzählt erscheinen sollen. 71
allein aus diesem, erst im Quattrocento hervorgetretenen Antagonismus zwischen Novellen und Eloquenz, zwischen Erzählungen in Volkssprache und hoher Dichtung in lateinischem Gewand, erklären sich die häufigen Ausfälle der Novellieri gegen die „sottigliezze" und ihre nicht immer nur affektierte Bescheidenheit, ihr oft bewußtes Streben nach Anspruchslosigkeit. In dem aus den Novellenprologen erschließbaren Kampf zwischen zwei Ausdrucksmöglichkeiten — der komplizierten, hochkultivierten, lateinischen oder durch gepflegtes Florentin volgare und feinen stilo ausgezeichneten Art und der schlichten, anspruchslosen, volkssprachigen und fehlerhaften, dem „stile di novellesco parlare" — in diesem durch Prologtopik und Eloquenzideale hochgezüchteten Zwiespalt berufen sich (und darin liegt die Pointe und das Paradoxe dieser Novellendoktrin) beide Parteien auf die gleiche Autorität, auf den Verfasser des Satzes: ,,le presenti novellette [ . . . ] , le quali non solamente in florentin volgare ed in prosa scritte per me sono e senza titolo, ma ancora in istilo umilissimo e rimesso quanto il più si possono" —, also auf den ersten großen Feind der Nachahmung und jeglicher Theorie in der Sphäre der Novellistik1). Bembo ließ sich übrigens weder durch Boccaccios affektierte Bescheidenheit irreführen noch durch die Hundertzahl der Novellen im Decameron zur Annahme eines Gattungsmerkmals oder einer „Urform" verleiten. Auf den von uns soeben zitierten Satz anspielend, zerreißt er den Schleier der topischen Sprache: „Ne il Boccaccio altresì con la bocca del popolo ragionò: quantunque alle prose ella molto meno si disconuenga, che al verso. Che come che egli alcuna volta, massimamente nelle nouelle, secondo le proposte materie persone di volgo a ragionare traponendo s'ingegnasse di farle parlare con le voci, con lequali il volgo parlaua ; nondimeno egli si vede, che in tutto'l corpo delle compositioni sue esso è cosi di belle figure di vaghi modi, et dal popolo non vsati ripieno ; che merauiglia non è, se egli anchora viue, et lunghissimi secoli viuerà" (a. a. 0 . S. 40; Libro primo). — Die besonders für Prosaschriftsteller geforderte Variationspflicht sieht Bembo in Boccaccios Novellen vorbildlich erfüllt: „Bene si può questo dire; che di quelle [scil. cose], la variatione delle quali nelle prose può capere, gran maestro fu a fuggirne la satietà il Boccaccio nelle sue Nouelle : ilquale hauendo a far loro cento proemi, in modo tutti gli variò ; che gratioso diletto danno a chi gli ascolta : senza che in tanti finimenti et rientramenti di ragionari tra dieci persone fatti schifare il fastidio non fu poco" (a. a. O. S. 88—89; Libro sec.). 1
) Über die Umstrittenheit des Terminus „senza titolo" in diesem Satz handelte u. a. Marcus L a n d a u , G. B., sein Leben und seine Werke, Stuttg. 1877, S. 145—46. U. E. kann es sich nicht um die Frage der fehlenden Widmung oder ähnliches handeln, sondern nur um einen Topos affektierter Bescheidenheit im Sinne der Prologtradition (vgl. C u r t i u s , Prologe und Epiloge, in ZrPh LXIII (1943) S. 245ff.), also um eine Beteuerung der Nichtkompetenz und der mangelnden Befähigung des Autors, etwa mit der Bedeutung: „ohne Berufsqualifikation". — Bei Landau S. 141 ff. über das Decameron als Lehrbuch und Muster im 16. Jahrh. ; S. 147 ff. über die moralistische Epuration des Buches durch die kirchliche Zensur; S. 155 über die Sprachregeln des Cinquecento. Aus der Kritik des Decameron von seinem Erscheinen bis ins 17. Jahrh. läßt sich ein Teil der Novellentheorie ablesen. Die Geschichte dieser Kritik gibt V. B r a n c a , Linee di una storia della critica al Decameron, Koma 1939.
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6. V o n d e n E i n h e i t e n z u r G a t t u n g Als Resultat der bisherigen Untersuchungen ist die Erkenntnis zweier Phänomene herauszustellen : Wo immer Novellen erschienen, im Mittelalter oder in der Renaissance, ob lateinisch oder in einer Volkssprache, ob als moralisierende Exempel, als Schwänke oder Fazetien, ob als Spielmannsberichte oder Humanistenbriefe —, die seit der Antike nicht unterbrochene literarästhetische Tradition lastet schwer auf den Schultern der Autoren. Das Verhältnis der Erzähler zur Theorie bleibt durch die Jahrhunderte, geringfügige Wandlungen ausgenommen, immer gleich: sie versuchen sich der Doktrinen zu erwehren, einmal durch vorgetäuschte Hörigkeit, einmal durch offene Auflehnung, durch Spott, Heuchelei oder verwirrende Dialektik. In diesem ununterbrochenen Kampf erweist sich das Prooemium, der Prolog, der Geleitbrief, der Epilog, der Rahmen als schützender Schild, hinter dem jeder Autor die Schöpfungen seiner Phantasie in Sicherheit zu bringen sucht. Der Rahmen, bei Boccaccio eine geniale Verflechtung von Fiktion und literarischer Polemik, erstarrt zum Schema und zur langweiligen hundertfach wiederholten Fassade; aber er bewahrt seine Verteidigungsfunktion bis in den Todeskampf der Renaissancenovellen hinein. Noch heute kann der phantasieärmste Novellenrahmen des Cinquecento, als aufschlußreiches Dokument jenes Abwehrkampfes der Erzählkunst gegen Doktrin und Tradition, mit Gewinn interpretiert werden. Vom Prologus zur Disciplina Clericalis und vom Vorwort zum Dolopathos über die Proemii und die Conclusione des Decameron bis herab zu den Vorworten Bandellos und seiner Zeitgenossen lassen sich diese Erscheinungen verfolgen. Elegantia, imitatio, eloquentia, ornamentum, Einheiten, Disposition, Wahrscheinlichkeit — alle Bestandteile der Renaissancedoktrin — sind gleichsam alte Vertraute, nicht nur der Novellisten, sondern schon ihrer antiken Vorläufer. Nirgends freilich begegnet in jenen Jahrhunderten eine Theorie, die auch nur annähernd der modernen germanistischen Novellendoktrin, den Theorien des Wendepunkts, der Situation, der Distanz, der offenen oder geschlossenen und der inneren „Form" ähnlich wäre 1 ). Bei aller Kompliziertheit war die literarästhetische Tradition wesentlich naiver als die neuzeitlichen Abstraktionen, die im Grunde nach naturwissenschaftlichem Vorbild Wachtumsgesetze für Schöpfungen der Phantasie aufstellen wollen, wobei die handwerklichen Poetikregeln der Cicero, Quintilian, Horaz und Aristoteles gleichsam in Bereiche des Mythos zurückprojiziert werden. Zur Stützung der Gattungshypothese, von der fast alle modernen Theorien ausgehen, läßt sich aus der Geschichte der Literarästhetik von der Antike bis zur Gegenwart mancherlei beibringen: die drei großen genera Epik, Lyrik, Dramatik; sämtliche Untergattungen dieser drei; die ciceronianischen genera der Kurzerzählung ; die genera des ornamentum ; die genera des stilus und andere empirische Begriffe ähnlicher Art, die für Unterrichts- und Verständigungszwecke wohl unentbehrlich, als ästhetische Kriterien aber irreführend sind. !) Hierzu RJb II S. 81 ff. 73
Es wurde gezeigt, daß das Streben der Theoretiker stets darauf hinzielte, auch die Novellen den Regeln zu unterwerfen. Die Novellisten selbst bestätigen durch ihre Entgegnungen die Existenz solcher Forderungen. Wie mußten sie B a n d e l l o beunruhigen, daß er im Vorwort zur „Parte P r i m a " (a. a. 0 . Bd. I S. 1—2) über seine regellose Art des Novellenschreibens ausdrücklich bemerkte, sein Sinn habe ihn getrieben ,,a scrivere or questa or quella novella, secondo che l'occasione mi s'offeriva, di modo che molte ne scrissi. [ . . . ] non avendo io servato ordine veruno, secondo che a le mani venute mi sono, le ho messe insieme, e fattone tre parti, per dividerle in tre libri, a ciò che elle restino in volumi più piccioli che sarà possibile" ; daß er im Vorwort zur „Parte seconda" eingestand, er habe sie ,,a la meglio che ho potuto" zusammengebracht, „essendomi stato necessario da diversi luoghi molte d'esse novelle raccogliere secondo che erano state disperse" (II S. 295); daß er im Vorwort zur „Parte terza" schließlich eine offene und ausführliche Auseinandersetzung mit der Kritik einleitete: „ E non avendo potuto servar ordine ne l'altre, meno m'è stato lecito servarlo in queste ; il che certamente nulla importa, non essendo le mie novelle soggetto d'istoria continovata, ma una mistura d'accidenti diversi, diversamente e in diversi luoghi e tempi a diverse persone avvenuti e senza ordine veruno recitati" (IV S. 119). Mit dem gehäuften „diversi", das die fehlende Einheit von Handlung und Episoden (accidenti diversi), die fehlende Einheit des Tones (diversamente), die mangelnde Einheit des Ortes und der Zeit (diversi luoghi e tempi) mit Nachdruck unterstreicht und besonders betont, daß es sich überhaupt nicht um ein zusammengehöriges Ganzes (diverse persone) handelt, sagt sich Bandello von Gattungen und Einheitsregeln los. Nichts schien theoretischem Denken die Vorschriften der Einheit idealer zu verwirklichen als eine Rahmenerzählung, die eine Mehrzahl von Binnenerzählungen einer fortlaufenden Handlung einordnete, die sich in abgemessenem Zeitraum, an bestimmtem Ort, im Kreis weniger Personen, im einheitlichen Ton eines Gesellschaftsspiels abwickelte. Auf nichts anderes als den Rahmen des Decameron und seine beispielhafte Einheit spielt Bandello an, wenn er sagt: „non essendo le mie novelle soggetto d'istoria continovata". I m Rahmen des Decameron schienen die Einheiten auch geradezu zahlensymbolisch oder durch das Dezimalsystem architektonisch ausgedrückt zu sein. Jeder Tag gewann seine eigene Einheit durch Themenstellung und Zehnzahl der Novellen. Der rhythmische Fassadencharakter des Rahmenschemas scheint ein deutliches Bekenntnis zu den Einheiten auszusprechen. Angesichts eines solchen Musters, dem er ja in keiner Weise gefolgt war, hielt Bandello es für angebracht, sich bei der Zensur zu entschuldigen, indem er darauf verwies, daß sein Werk wenigstens mit seinem Streben im Einklang stand, daß es den Einheiten fernblieb, weil der Autor die Einheiten nicht gesucht hatte. Zwar hatte schon Masuccio so regelwidrig gehandelt, aber laut Bembo war ja die vulgärsprachliche Dichtung des Quattrocento nicht nachahmenswert. I m Widerspruch zur geltenden Ästhetik berief sich also Bandello auf die Regellosigkeit der Gesamtanlage, wie er sich im Widerspruch zur Vorherrschaft des Florentin volgare auf die Rechte seiner lombardischen Heimatsprache berief. Der bedeutendste Novellist des Cinquecento negiert also in mehr als einer Hinsicht die Doktrin. Aber seine Negation zeigt, daß B o c c a c c i o , der Verächter aller 74
Theorie, wider Willen zum Begründer der novellistischen Einheiten geworden war. Hundertfältige Einheit hatte er zum „soggetto d'istoria continovata" gemacht. Erst nachträglich erschien dieses großartige Gefüge als Resultat eines Strebens nach vorgegebenen Formidealen. In Boccaccios Werk, in das Werk eines Mannes, der sich auf Vielgestaltigkeit der Erzählungen und weitgehende Freiheiten der Novellistik berief, hat die Hochrenaissance das Gesetz erst hineininterpretiert . Den originellen Einfall der Rahmengesellschaft und der Pestschilderung erklärt Boccaccio gerade im Widerspruch zum Gedanken der Einheit. Ihm kam es vor allem auf künstlerische Kontrastwirkung an. In der Introduzione zum ersten Tag betont er, auf den düsteren Auftakt unter keinen Umständen verzichten zu können, weil gerade durch diesen die Schönheit und Heiterkeit der Novellen umso eindrucksvoller hervortrete. Alles ist darauf angelegt, den im Proemio aufgezeigten Kontrast zwischen weiblicher malinconia und novellistischem diletto, zwischen noia und conforto, durch den Kontrast zwischen Rahmen und Binnenerzählungen künstlerisch zu veranschaulichen. Die Pestschilderung wird als noia bezeichnet, der „seguirà prestamente la dolcezza ed il piacere". Im dritten Einleitungssatz heißt es sogar: „Questo orrido cominciamento vi fia non altramenti che a' camminanti una montagna aspra ed erta, appresso la quale un bellissimo piano e dilettevole sia riposto, il quale tanto più viene loro piacevole quanto maggiore è stata del salire e dello scendere la gravezza" (Bd. I S. 9). Schon Boccaccio rechtfertigt also das Wagnis eines Kontrastes, der die Einheit der Stimmung durchbricht, durch Unterstreichung künstlerischer Erfordernisse. In der Conclusione dell'Autore zeigt er, daß er sich auch der Uneinheitlichkeit und des unterschiedlichen Wertes seiner Erzählungen wohl bewußt ist (II S. 325). Der Vergleich mit den Nutzpflanzen zwischen Unkraut und Dornsträuchern im Feld, ein Topos der Novellenprologe, ist Boccaccios Absage an die Vorstellung der Einheiten 1 ). Frühzeitig hatte sich auch bei anderen Novellisten die Erkenntnis durchgesetzt, daß sogar innerhalb eines Einheit vortäuschenden Rahmens die Novellen verschiedenartige Erzählungen bleiben. Es dürfte kaum einen Erzähler mit künstlerischem Instinkt gegeben haben, der nicht von der Unanwendbarkeit der Einheitsregeln auf die Novellistik überzeugt gewesen wäre, wenigstens solange es darum ging, den Gedanken der Einheit über die einzelne Erzählung auf eine ganze Sammlung auszudehnen. So war sich schon der Senese Gentile S e r m i n i im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts bei der Zusammenstellung seiner Novellensammlung darüber klar, daß eine bunte, uneinheitliche und ungeordnete, regellose Blütenlese wie die seine bei der Kritik Anstoß erregen müßte. Mit dem gleichen Argument wie später Bandello versucht er sich zu entschuldigen: „non avendole in iscrittura per ordine, ma per iscartabelli e squarciatogli, quali per le casse e quali altrove, dettimi a Boccaccios Altersbekenntnis zu den Regeln und Theorien widerlegt sein praktisches Verfahren und seine Polemik im Decameron ebenso wenig, wie die späte, frömmelnde Selbstverdammung die hundert Novellen und ihre Wirkung widerrufen kann.
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ritrovarle" 1 ). Und da er wohl selbst spürte, daß diese Ausrede bei der Zensur nicht verfing, bekannte er rundheraus — offenbar aber durch Boccaccios Bild vom verwilderten Felde ermutigt, er habe Novellen zusammengelesen wie ein Mann, der im Garten Kräuter in ein Körbchen sammelt, um seinem Freund einen Salat vorzusetzen. Dabei sei eben kein Buch, sondern nur ein bescheidener Salat herausgekommen: „Però adunque mi pare che questo meritamente non libro, ma uno panerotto d'insalatella si debbi chiamare, e però questo nome gli pongo : nel quale, senza dell'altrui niente toccare, tutte sono erbe di nostro orto ricolte" (ebda.). Damit ist beiläufig auch der Nachahmungspflicht eine Absage erteilt. Aber Sermini — und darin war er nicht der einzige — zeigt sich von der autoritären Kritik so eingeschüchtert, daß er die Humanisten gleich bittet, von seinem „Korb Salat" gar keine Notiz zu nehmen: „avvisandoti — schreibt er dem Adressaten — che di questa non dia ad uomini di grande scienza, perchè non è vivanda da loro" (S. 4). Hinter der Maske affektierter Bescheidenheit verbirgt sich hier Furcht. Das Bild vom Salat gebraucht im Quattrocento auch Masuccio in seinen Widmungsbriefen: „da tale necessità astretto ho avuto ricorso alle non saporose erbicciole del mio inculto giardino, delle quali composta la presente insalatuccia a te fiume di eloquenza la mando" (II S. 203). Nicht zuletzt spielt auch der 6. Satz des Prologs der Ciento novelle antike auf die Einheitsregeln an: „Et se i fiori che proporremo fossero misciati in tra molte altre parole, non vi dispiaccia : chè Ί nero è ornamento dell'oro, et per un frutto nobile e dilicato piacie talhora tutto un orto, et per pochi belli fiori tutto un giardino" (ebda.). Mit diesem ganz aus der künstlerischen Gesinnung Boccaccios konzipierten Satz hält sogar der einfache Kompilator der Doktrin, die zur Zeit der Drucklegung der Novelle antiche im Schwange war, ein ästhetisches Kriterium entgegen. Im 16. Jahrhundert war es durchaus nicht selbstverständlich, daß in einem der Unterhaltung und Zerstreuung bestimmten Werk Töne von tieferem Ernst angeschlagen werden durften. Die Kritik des Cinquecento verwarf, durch die inzwischen aufgekommene Theorie des Witzes geblendet (vgl. das folgende Kap.), Boccaccios Pestschilderung; der Gegensatz zwischen ernstem Rahmen und „frivolen" Geschichten störte die Fanatiker der Stimmungseinheit 2 ). Es könnte entgegnet werden, daß die Bilder: Distelfeld und Blumengarten, Salatkorb, Schwarz als Ornament des Goldes, ins Gebiet der affektierten Bescheidenheit und der Widmungstopik gehören. Curtius zitiert aus dem prologus galmtus des H i e r o n y m u s , zum Nachweis der Widmung als „Weihung" im Sinne biblischer Vorschriften, die Stelle: „Im Tempel Gottes bringt jeder dar, was er kann: die einen Gold, Silber und Edelgestein; die anderen feines Linnen, Scharlach und Hyazinthstein [ . . . ] ; uns mag es genügen, wenn wir Felle und Ziegenhaar opfern", und aus dem Prolog zu W a l t h e r v o n S p e y e r s Scolasticus das Gleichnis vom Sämann, der sein Gedicht als Erstlinge der Ernte dem Bischof darbringt 3 ). In solcher Tradition stehen auch das Gleichnis vom Landarbeiter, der 2
Eacc. de' Novellieri Ital. X I V S. 3. ) M. Landau a. a. O.; Branca a. a. O.
») Curtius ELLM S. 94r—95. 76
Xerxes mit den Händen einen Schluck Wasser darreicht (in Masuccios Parlamento dell'Autore col suo libro) oder der gelegentlich von Bandello gebrauchte Vergleich einer seiner Novellen mit den Zwiebeln und dem Knoblauch, den die Bauern ihren Dienstherren als Gabe in die Stadt mitbringen. Der Umstand aber, daß es sich um Topoi handelt, beweist noch nichts gegen die Wendung, die ihnen der einzelne Autor durch den Gebrauch gibt. Auf Zeitpunkt und Zweck der Verwendung kommt es an. Von Fall zu Fall half die Beherrschung der Topik den Autoren auch im Kampf gegen unbequeme Regeln. Wie ein Jurist mußte man die Fülle der Paragraphen kennen, um die richtigen Ausnahmebestimmungen im rechten Augenblick bei der Hand zu haben. Unter Umständen konnten geistreich angebrachte Widmungstopoi die Umgehung der Einheitsregeln erleichtern und elegant entschuldigen. Eine Tradition ließ sich durch eine andere neutralisieren. Was die Mischung oder Überschneidung von Gattungen anbelangt, so war das Mittelalter darin großzügiger als die Renaissance. Stile und genera kreuzten sich damals ohne Einspruch gelehrter Kontrollorgane. — Wie anders war die Gesinnung des 16. und 17. Jahrhunderts! Wie stark und starr nun die Einheitsregeln geworden waren, beweist u. a. das Schicksal der „heroisch-komischen Gattung". Die Mischung komischer Elemente mit heroischen, die dem Mittelalter nichts weniger als anstößig, ja geradezu selbstverständlich erschien1), rief, als sie im Seicento von einigen italienischen Autoren wieder versucht wurde, einen Sturm kritischer Entrüstung hervor. Die Regel von der Einheit des Tones war das Grundgesetz der Gattung geworden. Heiteres, Ernstes, Tragisches, Komisches, Heroisches, Elegisches, waren Gattungselemente, aus denen theoretisch die Tragödie, die Komödie, das Heldenepos, die Elegie und anderes hergeleitet wurden. Während das Mittelalter sich nicht gescheut hatte, solche Elemente zu mischen, nahmen das 16. und 17. Jahrhundert an ihrer Vermengung Anstoß. Tatsächlich starb das „heroisch-komische Gedicht" im 17. Jahrhundert nach kurzem Daseinsexperiment wieder aus, weil die Kritik es nicht aufkommen ließ. Gäbe es keine anderen Nachweise, so ließe schon die Analogie des „HeroischKomischen" Schlüsse auf die Novellistik und ihre Stellung als Gattung zu. Aber wir besitzen Beweise dafür, daß im 16. Jahrhundert die Einkleidung von Novellen in einen ernsten Rahmen ein besonderes Wagnis war. Die wiederholt zitierte Introduzione α' Trattenimenti (1581 ? 1587 ?) Scipion Bargaglis gewährt interessante theoriegeschichtliche Ausblicke. Der Autor gibt zu (a. a. 0 . S. 103), es sei unschicklich (male convenevole), unterhaltsame oder vergnügliche Dinge durch lästige, düstere Beigaben zu beeinträchtigen; dennoch könne er auf diese „sconvenevolezze, come ad alcuni paiono" nicht verzichten; er müsse der Darstellung einiger Spiele die Schilderung der jüngst vergangenen Belagerung Sienas gleichsam als Eskorte beigeben. Offensichtlich ist hier die Berufung auf die Regeln der Schicklichkeit mit der Nachahmung von Boccaccios künstlerischem Kontrast gepaart. Aber wir erfahren dabei, daß eben dieser von Boccaccio gewagte Kon1
) Zur Kreuzung der Stile und Gattungen im MA. Curtius ELLM S. 263; zur Komik im Heroischen Ders. in RF LUI (1939) S. 17ff., S. 26. 77
trast neuerdings die Kritik herausgefordert hat, da auch der Tadel der Zensoren an Boccaccios Kontrastierungskunst Bargagli nicht von seinem Vorhaben abhält : „Nè ancora veggo che, per farmene guardare, m'abbia prestato aiuto o modo alcuna riprensione, che altri di somma autorità non hanno avuto poter di schifare, avendo già essi posto in fronte delle lor piacevolissime scritture le malinconose memorie delle crude pestilenzie mandate sopra i mortali" (S. 103—04). Boccaccio war nicht der einzige, der harte Kritik über sich ergehen lassen mußte: ,,Nè meno da ciò mi hanno saputo ritrarre l'accuse, le quali poi altri autori ancora di non oscuro grido, non sentendo, o di esse forse non curando, non hanno parimente potuto sfuggire; essendosi per questi, in opere di simili giocondi subbietti, fatti udire i fieri e dannosi romori delle mirabili città prese per forza, e saccheggiate da barbari nimici, davanti all'armonia ch'essi principalmente v'intendevano di formare co' sollazzevoli detti loro" (S. 104). Und nun schlägt Bargagli die Kritik mit ihrer eigenen Theorie, denn: angesehene Autoren wie Boccaccio müssen ja nachgeahmt werden, auch auf die Gefahr hin, daß es Tadel einbringt. J a hier ist geradezu das Getadeltwerden nachahmenswert: ,,Anzi più tosto, per non andar facendo punto contra il vero, questi tali essempi m'hanno recato alquanto più di fidanza, di potermi, senza troppo pericolo, difender sotto il loro saldo scudo appo coloro da' quali per avventura venissero giamai questi nostri giuochi veduti" (ebda.). Daran schließt sich eine Art Theorie des künstlerischen Kontrastes, die hier nicht weiter interessiert. Wichtig ist, daß nach Auffassung der Theoretiker des 16. Jahrhunderts eine ernste oder düstere Rahmenerzählung nicht mit dem Charakter der „Novelle" vereinbar war. In der Tat scheinen sich Autoren wie Grazzini, Parabosco, Straparola an diese Auffassung gehalten zu haben, indem sie heitere Erzählungen in einen heiteren Rahmen stellten. Sie erkannten damit den fröhlichen oder burlesken Ton als Gattungsmerkmal an. Erst im Cinquecento wurde somit die „Novelle" auf jene Scherzhaftigkeit, Lustigkeit, Unterhaltsamkeit und Leichtigkeit festgelegt, die man im überwiegenden Teil der Novellen des Decameron beobachtet zu haben glaubte, zumal Boccaccio sie in den ironischen Sätzen seines Proemio versprach, und die dem semasiologischen Stammbaum des Terminus novella zu entsprechen schien. Damit gelangte in die aus alten Traditionen schöpfende Theorie ein gelehrter Rigorismus, von dem das Mittelalter sich freigehalten hatte. Im Mittelalter galt das Komische als Bestandteil des Heldenepos, in der Renaissance wurde ein ernster Bericht als Novellenrahmen „unschicklich". Die theoretische Festlegung der Novellistik auf den Witz (vgl. das folgende Kap.) mußte einer natürlichen Entwicklung den Weg verbauen; tatsächlich trug diese Doktrin dazu bei, die Erzähler auf den Abweg des Bizarren und Abstrusen zu treiben — den eine andere Doktrin später als „Zertrümmerung" der „strengen Form" beklagte 1 ). Die Enge des Gattungsbegriffs ignoriert, daß Boccaccio, obwohl er Zerstreuung, Trost und Freude für Melancholische und Unglückliche versprach, selbst eine Anzahl ernster, nachdenklicher oder erschütternder Novellen in sein Decameron R J b I I S. 81 ff.
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aufgenommen hatte, daß also sein Trost- und Zerstreuungswille mit oberflächlicher Unterhaltung wenig zu tun hatte. Nur aus der VerfJachung und Einengung der Erlebnisfähigkeit, aus der zunehmenden Pedanterie des Humanismus ist die Entstehung eines so rigorosen und schulmeisterlichen Gattungsprinzips zu verstehen. Hatte schon das Mittelalter in der amplificatio-brevitas-These die Qualitätsbezeichnungen der Antike mißverstanden, so sahen die Rigoristen des Cinquecento nicht mehr die Vielschichtigkeit und Tiefe von Boccaccios Stimmungsskala. Die einengende Begriffssetzung steht im Widerspruch zu allem novellistischen Streben in allen Sonderformen der Kurzepik. Stets waren die Grenzen dieser Erzählformen unscharf und fließend gewesen, stets hatten sich im Novellistischen verschiedene Formen und Traditionen vermählt 1 ). Dem Ausdrucksvermögen einer so schwer definierbaren Erzählweise, die alle Schichten menschlichen Empfindens zu durchdringen und darzustellen trachtete, stand der logisch ordnende Intellekt verständnislos gegenüber. Wieviel geringer mußte das Verständnis in einer Epoche werden, die durch Kategorisierung und analytisches Denken Ordnung in die geistige Erzeugung bringen wollte, die in der Mischung der Gefühle ein Sinnbild chaotischer Zustände sah ! Verächtlich erschien nun eine Epoche, die in den Novellen das Religiöse mit dem Schwankhaften, den Witz und die Zote mit der Erschütterung, Frivolität mit moralischer Beispielhaftigkeit, Treue mit Spott, Narrheit mit Pathos verbündet hatte. Jetzt wurden menschliche Gefühle pedantisch getrennt, etikettiert und auf adäquate Ausdrucksgattungen verteilt. Die Regel erhob sich über das Leben. Das Gesetz erstickte die novellistische Kunst 2 ). *) Zum Ausgreifen des Novellistischen sogar in den Traktat und zur Auflockerung didaktischer Form durch Novellen-Elemente: Fritz S c h a l k , L. B. Albertis Buch ,De Amicitia' (Della Famiglia IV), in Symbola Coloniensia Iosepho Kroll sexagenario [...] oblata, Coloniae a. Rh. 1949, S. 163—171. „Wie überall im Humanismus lenkt man von der strengen Systematik zur Nachbildung leichter und lockerer Formen. [ . . . ] Symposion, Traktat, Dialog [ . . . ] , Panegyrikus, Disputatio, Novelle treten in einen inneren Zusammenhang miteinander — auch Alberti hat in der Manier der Ars amatoria und der Remedia amoris zwei Novellen geschrieben — und trugen dazu bei, die Bedeutung des geselligen Moments zu steigern." (166) — , , [ . . . ] im Zusammenhang aber mit der Situation der italienischen Novellistik muß man so manches Kapitel aus Della Famiglia verstehen und Technik und Komposition der Novelle begegnen sich gerade im Buch De amicitia mit dem lehrhaften Gehalt : [ . . . ] schon in den ersten Sätzen enthüllt sich ganz unverschleiert vor dem Leser jene an die ital. Novelle — an Boccaccio — anklingende Betrachtungsweise, durch die der Beginn einer kühnen Unternehmung [ . . . ] erzählt werden soll. [ . . . ] eine persönliche erfinderische, der Novelle verwandte Kunst fließt in seinen Büchern zusammen mit der mächtigen Einwirkung des Humanismus [ . . . ] " (170). Außer den von Schalk angeführten Beispielen vgl. man auch Leon Battista Alberti, I primi tre Libri della Famiglia, Testo e Commento di F. C. P e l l e g r i n i , riveduti da R. S p o n g a n o con una nuova Introduzione, Firenze, Sansoni 1946, S. 30—31, 40—41, 117 als Belege novellistischer Formen im Libro Primo. 2 ) Zum Begriff der „Gattung" im MA.: Farai a. a. O. S. 98 summarisch unter „Théories diverses". Zur Auffassung der „Novelle" als grundsätzlich heiterer „Gattung" mag, neben dem Lehrsatz Ciceros (vgl. das folgende Kap. d. vorl. Arbeit), der Umstand beigetragen
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7. C a s t i g l i o n e s R ü c k g r i f f a u f P o n t a n u s - C i c e r o Erst nach Bembos „Prose" wird in Italien (und von dorther in Westeuropa überhaupt) eine ausgesprochene Novellentheorie wirksam. 1528 erscheint in Venedig die Editio princeps von Baldesar Castigliones Libro del Cortegiano, dessen Libro secondo in den Abschnitten XLII bis C Gespräche über die Kunst der Fazetien und Novellen enthält 1 ). Dem Charakter des Werkes gemäß wird das Witzehaben, daß schon im MA. die Erotik in den Bereich des Komischen gehörte, wie Curtius in R F L I I I (1939) S. 25 nachweist. — Historischer Grundriß der Gattungsvorstellung vom Altertum bis in die Gegenwart bei Croce, Estética a. a. O. I I (Storia) K a p . X I X 2 mit Bibliographie ebda. S. 550—51, P a r . 2. — Aus C u r t i u s ELLM wird der Traditionsbruch zwischen antiken und modernen Gattungsvorstellungen deutlich : „Das Altertum, auch das ,klassische', kannte den Begriff der Komposition streng genommen n u r in Epos u n d Tragödie, f ü r welche Aristoteles die Geschlossenheit der Handlung forderte. Eine allgemeine Theorie der Prosa und ihrer Gattungen h a t es nicht besessen und konnte es nicht besitzen, da es die Rhetorik als allgemeine Literaturtheorie h a t t e " (S. 78). „Erwachsen unter der Obhut der hellenischen Philosophie, wurde die Literaturwissenschaft mündig in Gestalt der hellenistischen Philologie. Sie mußte die literarische Materie — studiorum materia [ . . . ] in zwiefachem Sinn klassifizieren : nach Gattungen und nach Autoren. Die Auswahl der Autoren setzt eine Sonderung der Gattungen voraus. Das antike Gattungssystem entspricht dem modernen nicht. Denn neben Gedichtgattungen wie Epos, Komödie, Tragödie werden auch Versgattungen t . . . ] als klassifikatorische Prinzipien benutzt. Stehen die Gattungen fest, so bleibt noch ihre Rangordnung zu bestimmen. Es gibt ,große' u n d ,kleine'. Ist das Epos oder die Tragödie die vornehmste ? Wieviel kleine Gattungen gibt es ? Boileau zählt neun auf, schließt aber die Fabel aus. Mit Recht ? K a n n ein Dichter zum Klassiker aufsteigen, der nur eine ,kleine' Gattung pflegt ? Oder gar n u r die Fabel ? Boileaus Theorie m u ß t e es verneinen. I h r zum Trotz setzte sich L a Fontaine d u r c h " (S. 252). „Die Terminologie f ü r die Einteilung der Literatur in Formgruppen ist schwankend" (S. 253). „Das antike System der poetischen Gattungen h a t t e sich in dem Jahrtausend vor Dante bis zur Unkenntlichkeit und Unverständlichkeit zersetzt" (S. 361—62). „ I n der Welt des Geistes ist das schöpferische Neue sehr viel seltener, als B e r g s o n anzunehmen scheint. Ohne ein ihm vorschwebendes Gestaltschema (platonisch: είδος) kann der Dichter nicht dichten. Die literarischen Gattungen, die metrischen und strophischen Formen sind solche Schemata" (S. 395). Damit tritt Curtius auch in Gegensatz zu Croce, den er kritisiert, weil er „die Gattungen . . . aus philosophischem Systemzwang f ü r irreal erklärt!" (S. 23). (Hierauf die Replik B. C r o c e s : Dei filologi „che hanno idee", in Quaderni della Critica, 16 (1950) S. 118—121.) — Trotzdem anerkennt auch Curtius die Unabhängigkeit schöpferischer Naturen : „Mit voller Beherrschung der klassischen Sprachkunst — so sagt er S. 455 über Prudentius — erschloß er der Dichtung weite neue Gebiete. E r schuf aus hoher Begabimg u n d starkem Erleben heraus. Seine reich dahinströmende Poesie ist von dem System der antiken Gattungen unabhängig und deshalb nicht genötigt, sich mit der antiken Literaturtheorie auseinanderzusetzen". Zur Geschichte der Stilarten und Gattungen ebda, ferner: S. 74 (Asianismus), S. 361 (Dantes Theorie), S. 362 („comedia" als Titel einer Verserzählung), S. 439 (Schema des Diomedes im MA.), S. 450 (Erzväter und biblische Schriftsteller als Begründer der poetischen Gattungen), S. 339 (Die Gattungen im „Panegyrico por la poesia"). Zu dem im Cinquecento wieder hervortretenden Antagonismus zwischen fabula (Robortelli) und istoria (Bandello) bietet Curtius' analytisches Kapitel über Isidor von Sevilla (S. 449ff.), der diese Scheidung bereits vollzog und als Drittes eine mittlere Gattung ( = Mitteilung von Dingen, die möglich sind, auch wenn sie nicht geschehen sind — „argumenta") aus der Rhetorik hinzufügte, f ü r die Geschichte der Novellentheorie aufschlußreiche Parallelen. *) Benutzte Ausgabe : Il Libro del Cortegiano del Conte Baldesar Castiglione, a cura di Vittorio C i a n , Firenze «1947.
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und Geschichtenerzählen in den fingierten Gesprächen am Hof von Urbino als integrierender Bestandteil eines hochkultivierten höfischen Gesellschaftslebens hingestellt. Der Erziehung des idealen Höflings dienen die Regeln und Gesetze, die Gattungsmerkmale, die Einteilung der Kurzerzählungen in Arten und Unterarten, die Anweisungen für eine elegante und situationsgerechte Erzähl-, Pointierungs- und Übertrumpfungspraxis innerhalb einer streng abgeschlossenen Bildungsschicht, der es ausschließlich auf Sichtbarmachung der geistreichen Einzelpersönlichkeit im Wettkampf der Konversation ankommt. Das Erzählen ist also dem literarischen Bereich entrückt, ohne doch mit der archaischen, aller literarisch niedergelegten Novellistik vermutlich voraufgegangenen Erzählweise in irgend einem Zusammenhang zu stehen; hier wird auch nicht um des Erzählens und der Fazetien willen erzählt, sondern um den Erzählenden ins Licht zu rücken, ja mehr noch, um den Gesprächspartner oder den Protagonisten der Fazetie (der meist ein den Zuhörern bekannter Zeitgenosse ist) zu treffen, dem Gelächter der Gesellschaft preiszugeben. So ist die Grundlage dieser Theorie die Nützlichkeit der Erzählkunst, und zwar nicht im antiken Sinne des Nutzens durch Belehrung, sondern im typisch modern-italienischen: der Besiegung des Gegners im gesellschaftlichen Spiel1). Damit ist die Gebundenheit der Theorie Castigliones an das 16. Jh. gekennzeichnet. Ihre nachträgliche Anwendbarkeit auf die im Quattrocento aufgeblühte Fazetienliteratur und auf die noch ältere Novellistik wäre mit Vorsicht zu prüfen; ihre Unübertragbarkeit auf spätere (etwa gar auf die heutigen) Verhältnisse bedarf keiner Nachweise. Castiglione sieht in der Fähigkeit, facezie und motti zu erzählen, „più presto dono e grazia di natura che d'arte"; für besonders begabt hält er Toskaner und Spanier (XLII) 2 ). Er unterscheidet zunächst zwei große Gattungen von facezie: 1. die im „ragionar lungo e continuato" bestehende, 2. die „brevissima: detti pronti ed acuti, mordaci", die auch „detti" oder „arguzie" heißen (XLIII); 1. „facezie che sono nell'effetto e parlar continuato" und 2. „quelle che consistono in un detto solo, ed hanno quella pronta acutezza posta brevemente nella sentenzia o nella parola" (LVII). Nach Einflechtung einer theoretischen Auslassung über das Lachen und den Witz (XLVff.) fügt er eine dritte Gattung hinzu: die „burle", die ihrerseits wieder lang oder kurz sein können, mitunter aber nicht auf 1
) Von der Tendenz des Triumphierens befreite die Witze und burle dann Giovanni d e l l a C a s a in seinem Galateo overo de' Costumi (in der benutzten Ausg. Rime et Prose di M. Giovanni della Casa [ . . . ] . In Fiorenza appresso i Giunti, 1564, S. 196ff.); wie der „Galateo" denn überhaupt in mancher Hinsieht die Überwindung der Gesellschaftstheorien des ,,Corte giano" darstellt. Besonders was den Gebrauch der motti, burle, scherni sowie der von Castiglione gerühmten bugìa betrifft, ist della Casa diametral entgegengesetzter Meinung (vgl. ebda. S. 174ff., 176ff.). „Er ist der Herold einer Reaktion, die eintreten mußte" — sagt Jac. B u r c k h a r d t in Abschn. II, Kapitel 4: „Der moderne Spott u. Witz" (Die Kultur der Renaissance in Italien, Bd. I, Leipzig 10 1908, S. 173). Aber dies alles ist theoretischer Nachhall in den Erziehungsbüchern des Cinquecento, nachdem Novellistik und Fazetien schon ihre Blüte erreicht hatten. 2 ) Schon in Pontanus, De sermone, werden Senesen, Peruginer, Florentiner und der spanische Hof als besonders witzbegabt bezeichnet. (Dazu auch J. Burckhardt a. a. O. S. 172 Fn. 2). β
Novellentheorie
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das bloße Erzählen beschränkt bleiben, sondern auch mit „qualche operazione" vor sich gehen, d. h. daß sie den Schabernack nicht nur berichten, sondern bewirken, daß sie de facto der böse Streich sind. Von den langen wird ausdrücklich gesagt, sie seien „quasi che l'omo racconti una novella" (XLVIII). Großes Gewicht legt Castiglione (obgleich er nicht von Literatur, sondern von Gesellschaftskunst spricht) auf die Lüge; sie gilt als schmückendes Element; die facezia soll man „adornar., con qualche bugietta" (XLIX), unter Umständen auch durch „una grande e ben composta bugìa" (LI). Neben die Theorie des Witzes tritt dann eine Theorie des mündlichen Vortrage mit genauen Anweisungen für den Gebrauch der „gesti", der „voce viva" und der mimischen Darstellung der Protagonisten durch den Erzähler („contrafacendo o imitando"); durch solche Mittel werde die Wirkung erheblich gesteigert, wenngleich — wie im Hinblick auf Boccaccio beiläufig bemerkt wird — die Erzählungen „ancor in scritto" genießbar seien (XLIX). Die beiden Hauptgattungen werden jeweils in Untergruppen geschieden. So erfährt man ein Rezept für die Unterteilung der langen facezie (Gruppe I) im 1. Satz des Abschnitts LI: „Induce ancor molto a ridere, che pur si contiene sotto la narrazione, il recitar con bona grazia alcuni difetti d'altri, mediocri però, e non degni di maggior supplicio, come le sciocchezze talor semplici, talor accompagnate da un poco di pazzia pronta o mordace ; medesimamente certe affettazioni estreme ; talor una grande e ben composta bugìa" (a. a. O. S. 215). Über die Subspecies von Gruppe I I (kurze Fazetien) informieren die Abschnitte LVIII—LXXXII. Da wird z. B. der Ursprung des Witzes in der „ambiguità" (LVIII) gesehen; „Ma dei motti ambigui sono molti sorti" (LIX); das „moteggiare" kann darin bestehen, den Gegner mit den eigenen Witzworten zu schlagen (LX) oder „bischizzi" ( = bisticci) vorzutragen (Wortwitze, die in der Zufügung oder Weglassung eines Buchstabens oder einer Silbe bestehen), oder in der Anwendung von Zitaten im Widerspruch zur Absicht des Autors zu glänzen (LXI); da gibt es Namenwitze (Verdrehung von Eigennamen etc.; LXII), Gebrauch von Wörtern im uneigentlichen Sinn (LXIII), witzigen Gebrauch der Metapher, der Überraschung, des Vergleichs (wobei aber stets die Religion zu schonen ist), der Unwahrscheinlichkeit (LXX), der Ironie (LXXII), das harmlose Reden vom Anstößigen (LXXIV), Sichdummstellen (LXXV), absichtliches Falschverstehen (LXXXII), Unmögliches wünschen und so fort. Dies alles führt, wie man sieht, weit aus der Literatur hinaus. Wir sagten eingangs: erst mit dem „Cortegiano" sei eine ausgesprochene Novellentheorie wirksam geworden. Wir dürfen auf dieser Feststellung beharren, obgleich Castigliones Doktrin in ihren Grundzügen nicht seine eigene Schöpfung, sondern weither tradiert war. Aber gerade weil sie erst im theoriefreudigen Cinquecento zur praktischen Anwendung empfohlen und tatsächlich auch erst dort von Novellenautoren als Vorlage benutzt wurde1), mußte ihre Untersuchung bisher zurückgestellt werden. Der berufenste Sachkenner, Ernst W a l s e r , stellt in seinen Renaissancestudien fest, daß eine Doktrin des Quattrocento — die in *) Zweiter Teil des vorliegenden Kapitels.
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dem Werk De sermone von Jovianus P o n t a n u s enthaltene Theorie des Witzes und der Novelle — erst von Castiglione im „Cortegiano" benutzt worden ist1). Übrigens lag bei Pontanus das Gewicht nicht auf der Ausarbeitung theoretischer, auf das Novellieren bezüglicher Lehrsätze wie bei Castiglione, sondern auf der Illustration der auch von Pontanus schon ererbten (ciceronianischen) ZweiGattungen-Lehre2) durch entsprechend klassifizierte Fazetien3). De sermone ist !) Vgl. unser Kapitel II 4, S. 64 Fn. 1, Die Novellentheorie des Pontanus findet sich im I I I . u. IV. Buch seines De sermone. Von uns eingesehener Druck: Joannis Joviani Pontoni librorum omnium, quos soluta oratione composuit, Tomus Secundus. Basileae o. J . [1556]. Die 6 Bücher des De sermone füllen die Seiten 1545—1746. Die Schrift ist im Widmungsbrief an Jacobus Mantuanus auf das Jahr 1473 datiert. Die Brückenstellung der Schrift zwischen De oratore und „Cortegiano" bezw. die Vorläuferschaft gegenüber dem letzteren wird schon aus K a p i t e l ü b e r s c h r i f t e n deutlich; so im 1. Buch Cap. I U I Maximam esse in hominibus orationis uarietatem ac diuersitatem, Cap. VI A natura inesse homini cupiditatem quietis ac recreationis, im 2. Buch Cap. V Plura esse mendacium genera, im 3. Buch Cap. I Vnde ductae sint facetiae, ac facetudo, I I Facetudinem uirtutem esse, XV De facetis, XVI De dictorum, jocorumque diuersitate, XVII De locis unde dicuntur dicta ac facetiae, X I X Duo esse secundum Ciceronem facetiarum genera, im 4. Buch Cap. VII Vultum esse dictis ipsis accomodandum et gestum, et uocem, V i l i Mimica et theatralia parum facetis conuenire, im ö.Buch Cap. I I I Cuiusmodi esse debeant fabellarum expositiones, usw. Für die U n t e r g l i e d e r u n g besonders wichtig ist 3. Buch Cap. X X I I Diuisio in Jocos, Dicta, Ridicula, Fabellas (S. 1663—64): „Quae quo expressius a nobis ostendantur, ea partiemur in Jocos, in Dicta, in Ridicula, ac Fabellas. Totum autem ipsum genus est iocari. Joca uero et dictia constant, et ridiculis, et fabellis: ac dicta quidem alia lepida, alia salsa sunt, alia et salsa simul et lepida, alia obscena, dicacia, eaque non unius generis, alia breuia, atque ex uno tantum uerbo, alia e pluribus constituta. [. . . ] Fabellae iucundissimae ipsae sunt, atque ad omne facetiarum genus accommodatae, locisque omnibus congruunt, si non fortasse temporibus, quanquam et temporibus et item personis, si delectus accesserit: Quarum duplex est genus [folgt 1. Definition der Tier- und Naturfabel und 2.:] Alterum, quod siue fictum, siue uerum, uel ut uetus tarnen uersatur in ore hominum, uel ut nouum refertur. [Dies ist die humanistische Formulierimg des zentralen Kunstgriffs aller durch einen fiktiven Erzähl Vorgang eingerahmten Novellistik.] [Folgt Definition der Kindermärchen; dann S. 1664:] Ponenda quoque uidentur in hoc ipso genere fabellarum, carmina, et quae amatoria sunt, et quae siue ludunt ad citharam, aut tibiam, siue ad uirtutem hortantur, afferunt enim quoque modo delectationem auditoribus. Nam quid dicendum est de explicationibus historiarum ? Qua enim e re maior uoluptas afferri honeste potest, quam e relatione rerum gestarum. Itaquae persaepe etiam seria relaxationem in consessibus inducunt et laborum, et curarum. Sed hoc fortasse ad facetudinem minime spectauerit, etiamsi spectet ad recreationem. De quibus ipsis deinceps quidem dicemus, etiam exemplis propositis." a ) Am Anfang aller Novellendoktrinen stehen C i c e r o s : „duo genera [ . . . ] facetiarum, alteram aequabiliter in omni sermone fusum, alterimi peracutum et breve, illa a veteribus superior cavillatio, haec altera dicacitas nominata est" (De oratore I I 54); „duo sunt genera facetiarum, quorum alteram re tractatur, alteram dicto" (ebda. 59). s ) Vittorio R o s s i , II Quattrocento (Storia Letteraria d'Italia) Milano o. J . S. 350, sieht im Verfasser von De bello neapolitano (nach 1494) und De sermone ausschließlich den Liebhaber der Anekdote und farbigen Erzähler. ,,Ιη quelli gli episodi particolari e curiosi tengono volta a sé l'attenzione dello scrittore più che il logico concatenamento dei fatti principali; questo, il De sermone, è addirittura più che un'opera dottrinale, ima raccolta di piacevoli racconti. Ben è vero che vi sono esposte le norme che devono regolare il sermo civilis, cioè la conversazione, e vi si teorizza sulle virtù necessarie ad un uomo per riuscire gradito, sulVurbanitas, la veracitas, la facetudo o facetitas, ecc., ma gli esempi illustrativi son tanti che a' 6*
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in erster Linie eine Fazetiensammlung, ähnlich dem Liber facetiarum Poggio Bracciolinis ; es enthält neben der humanistischen Gesellschaftstheorie über die Bedeutung des Witzes in zweiter Linie auch novellentheoretische Äußerungen. In dem Dreigestirn Cicero—Pontanus—Castiglione ist Pontanus der Praktiker (der Fazetiendichter) ; denn auch die zahlreichen facezie, motti e burle, mit denen Castiglione seine Doktrin illustriert, befreien sein Buch nicht vom Übergewicht der Theorie. Die Stellung des Pontanus läßt sich nicht zuletzt auch auf Grund der Quellenforschungen zum „Cortegiano" leicht beweisen: nach unserer Zählung im Fußnotenapparat des modernsten Castiglione-Forschers, Vittorio Cian 1 ), wird Ciceros De oratore — das offenbar bis in die Gegenwart hinein den Ausgangspunkt aller klassifizierenden Novellentheorien bildet — in den Abschnitten XLII—LXXXIV im Libro secondo des „Cortegiano" 48 mal mit theoretischen Äußerungen (darunter 19 mal an markanten Abschnitt-Anfängen) und 15mal mit Fazetienbeispielen zitiert bezw. ohne ausdrückliche Zitierung ausgeschrieben, während dem Pontanus diese Ehre nur mit 10 theoretischen Punkten (darunter 2 Abschnitt-Anfänge) und 7 Fazetien zuteil wird. Pontanus war offenkundig nur der Anreger, der Castiglione zum Rückgriff auf Ciceros Thesen veranlaßte, und der durch Pontanus-Castiglione wiederentdeckte Lehrsatz des Cicero von den zwei Gattungen der Kurzerzählung wurde so im 16. Jh., um eine dritte Gattung bereichert, zur Basis retrospektiver Analysen und Gliederungstendenzen, von denen sich die Nachwelt noch nicht wieder befreit hat. Im Cinquecento zum ersten Mal erweckte das intensive Studium der aristotelischen Poetik den Wunsch, die Abstraktion der genera litteraria zu verwirklichen. Die petrarchisierenden Aristoteliker wurden ,,I creatori dei limiti dei singoli generi [ . . . ] : e intimidirono anche coloro che, da innata libertà spirituale, eran tratti a seguire un'armonia più spontanea e vera, che non quella esteriore delle regole aristoteliche" (Fr. Flora a. a. O. II S. 125). Freilich, schöpferische Autoren stellten sich nie die Aufgabe, nach abstraktem Regelkonzept zu dichten. Ein Speron Sperone, der nach Poetikregeln und aristotelischem Gesetz „die Tragödie' ' ins Leben rufen wollte, wurde trotz eifriger Anstrengungen kein Dichter. Ein überzeugter Anhänger der Freiheit der Form und einfallreicher Erzähler wie Bandello hingegen kam gar nicht auf die Idee, Novellen nach Gattungsvorschriften zu konzipieren. Zwar sagt er gelegentlich, er habe diesen oder jenen Vorfall „in forma di una novella" gebracht, aber damit meint er nicht die durch vorgeschriebene Merkmale eingeengte Idee „novella", mit der sich ein ernster Rahmen nicht vertragen sollte, weil sie nur ein Scherz sein durfte. Auch von einem Francesco Robortelli, der mit seinen In librum Aristotelis de Arte Poetica explications, Florenz 1548, die Aufgaben der Dichtung theoretisch aus dem Wirklichen, Beweisbaren, Überzeugenden oder Wahrscheinlichen in den Bereich des Fabelhaften und der rein phantastischen Fiktion zu transponieren versuchte, ließ er sei libri pontaniani bene si addice un posto accanto alle Facetiae del Poggio." — Dazu auch unser Kapitel II 4 (Schluß). V. Cian fußt seinerseits auf L. V a l m a g g i , Per le fonti del Cortegiano, in Giorn. stor. X I V S. 72—93.
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sich nicht einschüchtern 1 ). Bandello bleibt, auch den Theoremen Castigliones gegenüber, fest beim Anspruch des eigenwilligen Dichters. Seine eigenen Novellen bezeichnet er im Vorwort zum ersten Teil (I S. 2) als ,,l'istoria e cotesta sorte di novelle", d. h. als eine novellistische Art, Geschichte, tägliches Geschehen, Wirklichkeit darzustellen 2 ). Wirklichkeit fragt aber nicht nach Gattungsgesetzen, noch dazu wenn deren erste Vorbedingung „heitere Spaßhaftigkeit" heißt, „cotesta sorte di novelle" ist also Bandellos individuelle Novellistik, bewußt abgegrenzt gegen die Versuche, dem gestaltenden Geist Schemata, Formen oder Inhalte vorzuschreiben. Um die Auswirkungen der ciceronisch-castiglionischen Gattungsgesetze in der Novellistik zu studieren, muß man sich an Autoren zweiten Ranges halten, an die novellieri minori. Girolamo P a r a b o s c o (gest. 1556/571), der Verfasser der Diporti (1550), ist ein guter Gewährsmann. Schon die Disposition seines Buches ist aufschlußreich 3 ). Eine Herrengesellschaft, der neben dem Komödienschreiber Ercole Bentivoglio, neben Pietro Aretino und anderen Persönlichkeiten auch der Gattungsfanatiker Speron Sperone angehört, unterhält sich bei schlechtem Wetter drei Tage lang in einer Anglerhütte der venezianischen Lagune mit Erzählungen und Diskussionen. Am ersten Tag werden 9 Novellen erzählt; am zweiten Tag folgen auf 7 Novellen 4 Questioni; am dritten Tag gibt es nur eine Novelle, dafür aber umso zahlreichere Motti, Madrigali, Sonetti und Lodi di Dame. In der Rahmenerzählung macht der Autor nicht nur terminologische Unterscheidungen zwischen verschiedenen Ausdrucksformen, sondern er gibt auch Definitionen. Dabei erweisen sich seine Novelle, Questioni, Motti, Madrigali usw. als Exempla zum Nachweis der Existenz von Gattungen. Das Fundament des Buches ist literaturwissenschaftlich. Nicht allgemeine Lebensweisheiten, sondern literarische Kategorien werden darin durch Beispiele belegt. Bei der Suche nach einem „ragionamento utile e piacevole, il quale avesse lungo spazio a rimaner fra noi" und „che più a tutti parrà che ci arrechi utilità e diletto", einigt man sich auf das Novellenerzählen: „Ma alla fine meglio giudicarono che fusse il novellare avisandosi che 1
) Natürlich war auch diese Lehre nicht neu. Sie basiert auf der Doktrin Q u i n t i l i a n s , daß der Zweck der Poesie Ergötzung sei und daß er durch Erfindung von „Unwahrem" und sogar „Unglaubwürdigem" erreicht werden müsse (Curtius ELLM S. 437 im Exkurs V. Spätantike Literaturwissenschaft). a ) Folgende Äußerungen spiegeln Bandellos Auffassung über seine Novellistik: (Widmungsbrief zu I 1, Bd. I S. 3 :) „sempre ne la brigata che vi concorre v'è alcun bello e dilettevole ragionamento degli accidenti che a la giornata accadono, così de le cose d'amore come d'altri avvenimenti". (S. 4 :) „Sovvenendomi poi che voi più e più volte esortato m'avete a far una scielta degli accidenti che in diversi luoghi sentiva narrare e farne un libro, e già avendomi molti scritti, pensai, [ . . . ] metter insieme in modo di novelle ciò che scritto aveva." — (Widmungsbrief zu I 8, Bd. I S. 113:) „Se ai tempi nostri [ . . . ] s'usasse quella cura e diligenza che appo i romani ed i greci fu lungo tempo usata in scriver tutte le cose che degne di memoria occorrevano, io porto ferma openione che l'età nostra non sarebbe meno da esser lodata di quelle antiche. [ . . . ] Ma il male è che ai nostri tempi non v'è chi si diletti di scriver ciò che a la giornata avviene; onde perdiamo molti belli ed acuti detti, e molti generosi e memorandi fatti restano sepolti nel fondo de l'oscura oblivione. E pure tutto il dì avvengono bellissime cose, che sono degne d'essere a la memoria de la posterità consacrate." s ) Parabosco-Zitate nach: Novellieri Minori del Cinquecento a. a. O.
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la novella fosse non men utile che piacevole, per essere e satira e piacevolezza e, oltre ciò, esser soggetto finito e grato a t u t t i " (S. 15). Entscheidend ist in diesem Satz nicht Paraboscos Meinung vom Wesen der Novellistik, denn nicht einmal in der „satira" enthält diese Meinung eine neue Schattierung. Wichtig ist vielmehr sein Wille zur Abstraktion und Definition, der sich in dem Singular „la novella" kundtut und durch die Singulare „satira e piacçvolezza" und „soggetto finito" unterstrichen wird. Den „cento novelle, o favole o parabole o istorie che dire le vogliamo" des von der Fülle der Gesichte und Gestalten bedrängten Boccaccio, der die Merkwürdigkeit und den Reiz der Vereinzelung freudig bestaunte und sich am Zauber der tausend menschlichen Individualitäten berauschte, stellt hier ein logisch denkender, aus der Vielfalt der Einzelheiten das Gemeinsame abstrahierender Verstand die Erkenntnis gegenüber : novella — satira e piacevolezza = soggetto finito. Parabosco leistet damit die Arbeit eines Beurteilers und Kritikers, der sich von der aufregenden Entdeckung des Trecento, von der Frührenaissance-Entdeckung des Einzelwesens und des Sonderfalles mit der Kühle und Nüchternheit des späten Unbeteiligten abwendet. Natürlich ist er nicht der erste Unbeteiligte, nicht der „abstracteur" des universalen Kerns in der leuchtenden Gestaltenfülle dreier Jahrhunderte, bei weitem nicht etwa der Gegenspieler Boccaccios, nicht der Zerstörer einer von jenem aufgebauten Welt. Dazu hat Parabosco, bei aller Intelligenz, weder die Statur noch die Originalität. Aus ihm spricht der abstrakte Geist seines Jahrhunderts. E r ist mehr Literarhistoriker und Analytiker als Erzähler. E r ist der typische Schüler Castigliones. Sein Buch enthält interessante Exkurse über die Gesinnung der damaligen italienischen Gesellschaft, über die Stellung seiner Zeit zur Frauenfrage, über den landläufigen Persönlichkeitsbegriff, über die Problematik des „freien Willens" oder der „Macht des Schicksals", über den ausgeprägten Formensinn der Cinquecentoliteraten. Die Diporti stehen dem Wesen eines Traktates näher als der Novellistik; wenigstens haben seine Geschichten als Werke der Erzählkunst nur begrenzten Wert. Einige sind bis zur Absurdität überspitzte Schilderungen von astuzie und beffe nach Castigliones Rezept ; die meisten basieren auf derber Situationskomik. So darf Parabosco als das Musterbeispiel eines Anhängers der Theorie aus begrenzter erzählerischer Begabung aufgefaßt werden; die Diporti zeigen, daß aus Gattungsdefinitionen keine dichterischen Leistungen gewonnen werden. Die geradezu literaturwissenschaftliche Freude des Verfassers an Formdistinktionen beweist die Verpflichtung der Diporti gegenüber dem „Cortegiano". Der aus dem literarischen Fragespiel herkommenden Verflochtenheit der Novellen mit dem Rahmen glaubt Parabosco am Ende der 3. Novelle (S. 52) entgegentreten zu müssen, indem er einen der Teilnehmer vorschlagen läßt: ,,e' non sarebbe forse mal fatto che si dicessero novelle le quali non partorissero quistione alcuna, perciò che male nel fine si gusta la dolcezza del soggetto per cagione di questo contendere". Statt der traditionellen Verknüpfung von questione und novella, die immer ein Beweis für das Fließen der Grenzen und f ü r die relative Freiheit novellistischer Formen war, schlägt er nun eine Trennung und klare 86
Scheidung zwischen Diskussion und novellistischem Beispiel vor: „Ma sarei bene di parere [ . . . ] , che doppo le novelle si ponessero in campo le quistioni, se pure alcuno avrà questo desiderio, o se più novella veruna da qui innanti qualcuna ne partorirà". Es werden also zuerst die Novellen erzählt, und erst am 2. Tag, nach der 16. Novelle (S. 139) leitet die Aufforderung, „che [ . . . ] sieno poste in campo parte delle quistioni che ciascuno si sforzava di far nascere nella sua novella", zum Fragespiel über, das nun unabhängig von den Novellen ( = Beispielen) als selbständige Unterhaltungsform bestehen soll, wobei es seinen künstlerischen Charakter vollständig einbüßt. Ohne novellistischen Nährboden ist dieses Spiel nur noch dialektische Übung. Wo früher Sentenzen oder allgemeine Wahrheiten durch Bilder aus dem Leben illustriert wurden, wechseln jetzt geistreiche Fragen mit psychologischen, „wissenschaftlichen" Argumenten ab. Mag diese Dialektik auch den Anschein einer reifen, überlegenen Gesinnung erwecken, wie in der 4. Questione, wo die Liebe, auch zur häßlichen Frau, als Erzeugnis freien Willens möglich erscheint — Werke der Erzählkunst und Novellistik sind diese Dispute nicht mehr. Sie sind lediglich aus dem Zusammenhang mit den Novellen gerissene, zur selbständigen „Gattung" erhobene Rahmenfragmente. Die Zerstörung des Novellierens im weiten Sinne dieser alten, auf fingiertem Reihumerzählen und Diskutieren beruhenden Kunst durch die Theorie der Gattung kann kaum deutlicher illustriert werden als durch Paraboscos unglücklichen und gewaltsamen Eingriff. Eine Parallelerscheinung dazu ist seine vielgliedrige Definition der motti (natürlich nach Castiglione) und ihre Herauslösung aus der ursprünglichen Unabgegrenztheit des Erzählstromes oder der Exemplifizierung. Die einzige Novelle des 3. Tages, die 17., an sich die novellistische Illustration einer Redensart, bietet in dem anschließenden Gespräch den Vorwand für theoretische Erörterungen über die Termini motto und proverbio. Damit wird das Novellistenverfahren der Dokumentierung des Allgemeinen durch das Individuelle umgekehrt. Dies ist das deutlichste Eingeständnis von Paraboscos analytischen Tendenzen, die nun (von Seite 163 bis zum Schluß des Buches, S. 199) Revue passieren. „Io non so — damit wird die 17. Novelle S. 163 kommentiert —, se a queste parole si possa dar nome di „motto" overamente più tosto di „proverbio"." Es beunruhigt einen der Herren der Gesellschaft, „che noi non facciamo distinzione alcuna delle spezie de' motti, e però dicemo spesse volte quello essere proverbio che veramente è motto. Il proverbio a me pare che solamente sia quella cosa che si dice per sentenza e che s'applica in un solo proposto, ancoraché diversamente e in diverse materie; ma il motto è quello veramente che subito nasce in noi, non più detto da altri, allorachè, per pungere altrui o difendendo noi dalle altrui percosse, lo lanciamo al compagno. Ve ne sono di questi di mille sorti e di mille nature, come Marco Tullio e molti altri dei moderni trattato ne hanno". Parabosco kannte die Poetik und die Vorkämpfer der literarischen Ästhetik; er stellt sein Licht nicht unter den Scheffel, wie die Anspielung auf Ciceros De Oratore (Lib. II) beweist, auf das „Duo enim sunt genera facetiarum, quorum alterum re tractatur, alterum dicto", jene sibyllinische Kategorisierung, aus der denn auch (über Pontanus-Castiglione) bei Parabosco „mille sorti" und „mille 87
nature" werden. Damit nicht genug, wird nun, ganz nach Art des „Cortegiano", nach der Regel gefragt, nach der man motti konstruiere und anwende: „Non si potrebbe dare [ . . . ] regola di formarne e dirne ad ogni suo piacere all'uomo, sì come si fa degli argomenti ?" Obgleich der Autor im ersten Augenblick sich die „molti avvertimenti", d. h. die Definitionen, fernhalten und es bei einem Hinweis auf die allgemein menschliche Voraussetzung der Kunst des „motteggiare", die „vivacità di natura", bewenden lassen möchte, verlockt ihn schließlich doch sein literaturwissenschaftlicher Definitionsdrang, zuerst „due sorti di motti" (S. 164) und dann noch weitere Gattungen zu unterscheiden. Wenn der Leser hofft, der Ausrufeines der Herren der Rahmengesellschaft: „Lungo fôra [ . . . ] , se noi volessimo distinguere le nature de' motti, perchè tutti sono, per la spezie loro, in qualche parte differenti" (S. 169—70), werde dem nüchternen Unternehmen ein Ende bereiten, so sieht er sich enttäuscht. Denn jetzt kommen erst die eigentlichen, die spitzfindigen Unterscheidungen. Da gibt es, was zuvor nur Castiglione wußte, die Gattung der motti „che si dicono giocosamente o in qualche proposto, e offendono solamente le persone assenti, e si possono dire senza timore alcuno nè di biasmo nè d'inimicizia", und die Gattung jener anderen „che si dicono in difesa di colui che non si sa diffendere" (S. 171); da gibt es das „motto ambiguo" (S. 174), das „motto bello e ascoso" (S. 175) und „una sorte di detti molto belli e ingegnosi, che sono quando pare che contrastiamo ad uno una cosa, e parliamo differentissimi in ogni cosa" (S. 176). Es werden zwar auch Beispiele dieser motti angeführt, aber Paraboscos Anliegen ist nicht das eines wirklichen Erzählers. Die Novellisten hatten motti aller Art erzählend paraphrasiert, Redensarten und witzige Antworten dokumentarisch zu belegen vorgegeben oder in phantasievoller Ausschmückung bestimmten Individuen in den Mund gelegt. Parabosco ist ein ordnender und klassifizierender, logisch erkennender Geist, der, von der Lehre der Gattungen angezogen, Beweise für ihr Vorhandensein sammelt. In solcher Absicht stellt er in den Diporti einen genau nach Gattungen gegliederten Katalog zusammen: a) novella, b) questione, c) motto, d) madrigale, e) canzone, f) sonetto — und schließt ihn mit einem Katalog der Damen der Gesellschaft, den er ebenfalls genau, nämlich nach Städten, gliedert, und der nichts anderes als eine durch die Bezeichnung Lodi di dame als besondere Gattung getarnte captatio benevolentiae ist. Von Paraboscos Definitionen (1550) zu Boileaus Art poétique (1674) ist es trotz des zeithchen Abstandes nur ein Schritt. Die Parallelität der Filiationen: motto— madrigale—sonetto, und pointes—madrigal—sonnet, spricht für sich. Zeit und Gesinnung scheinen stehen geblieben zu sein. Parabosco legt, bezeichnenderweise, dem Sperone folgende Definition in den Mund: „Di questa vivacità [ . . . ] vogliono essere i madrigali, cioè così acuti e d'invenzione salsa e leggiadra. [ . . . ] Ma, sopra ogni altra cosa, il madrigale e lo strambotto vuole andare vago d'arguzia e di invenzione, sì come appunto vuole apparire il motto" (S. 177). Weiter heißt es über die Madrigale : „In un certo modo le arguzie di simil sorte si possono chiamar ,motti'" (S. 178). Von Paraboscos Herrengesellschaft werden die Motti, diese Witzworte, schlagfertigen Antworten, zugespitzten Bemerkungen, Nadelstiche, 88
Pointen 1 ), durch verschiedene literarische Gattungen hindurch verfolgt und herausdestilliert. Man entdeckt sie nicht nur im Madrigal, sondern auch im Capitolo (S. 179), in der Sestina (S. 182), von dort gelangt man zur Canzone pastorale (S. 183) und zum Sonett (S. 189ff.). Sie alle stehen in dieser dialogisierten, „novellistisch" getarnten Kulturgeschichte auf dem Boden des motto. Das ganze gesellschaftliche Leben stützt sich in dieser gattungsfrommen Atmosphäre auf motti, sagt doch Parabosco durch den Mund des Komödienautors Ercole Bentivoglio: „La virtù [ . . . ] quale negli uomini, tale ancora nelle donne alberga; ancorché l'uso onestissimo, che toglie loro gran parte della conversazione de' forastieri, non lascia che persone d'altra città siene degne di godere gli acuti motti, le pronte e sagge risposte, le maniere gentili [ . . . ] , che infinite gentildonne di questa città fanno" (S. 191). Und Parabosco paraphrasierend scheint Boileau die Theorie des Witzes von Pontanus-Castiglione zu verspotten : „Jadis de nos auteurs les pointes ignorées Furent de l'Italie en nos vers attirées. Le vulgaire, ébloui de leur faux agrément, À ce nouvel appas courut avidement. La faveur du public excitant leur audace, Leur nombre impétueux inonda le Parnasse. Le madrigal d'abord en fut enveloppé ; Le sonnet orgueilleux lui-même en fut frappé ; La tragédie en fit ses plus chères délices ; L'élégie en orna ses douloureux caprices ; Un héros sur la scène eut soin de s'en parer, E t sans pointe un amant n'osa plus soupirer... " (Art poétique II, Vers 105ff.)3) Hatte im Quattrocento die liebenswürdige novellistische Form (ζ. Β. bei Leon Battista A l b e r t i ) zur Auflockerung didaktischer Traktate beigetragen3), so bringt im Cinquecento die Spekulation das Novellistische in wachsende Bedrängnis. Für einen Neuplatoniker dieses Jahrhunderts werden Fazetien, Motti und Novellen zum Erziehungsmittel im Rahmen eines belehrenden Werkes: Giovan Battista G i r a l d i C i n t h i o benutzt in seinen, äußerlich dem Decameron nachgebildeten Hecatommithi onero Cento Novelle (1565)4) die Erzählungen als gefälligen Vorwand für den Vortrag moralphilosophischer und pädagogischer Die Vorstellung der Pointe, des Stechenden, Spitzen im motto, wird bei P. fortwährend unterstrichen: „motto pungente" (S. 164), ,,il motto ancorché trafigga" (S. 164—65), „sia sopra modo falso e acuto" (S. 165), „solamente si punge colui che è presente" (S. 166), „che sia e non sia mordace" (S. 166), „una donna trafisse e leggiadramente" (S. 168), „uno [ . . . ] acutissimo" (S. 168), „parola così pungente" (S. 170) usw. 2 ) Zum Pointenstil und zu unserem Boileauzitat Curtius ELLM S. 295ff. Paraboscos Diporti (1550) sind schon eine Vorstufe der von Curtius ebda.. S. 296 Fn. 1 genannten „Concetti' ' -Traktate. ») Unser Kapitel II 6, S. 79 Fn. 1. 4 ) Benutzte Ausgabe: Venedig 1608. Genauer Titel in d. folg. Fn.
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Lehren. E r mischt Boccaccios Rahmenschema (Schilderung des „Sacco di R o m a " ; Flucht einer Gruppe von Damen und Herren aus der Gefahr; Reihumerzählen auf der Seefahrt Civitavecchia-Marseille; am 1. Tag „si ragiona di quello, che più ad ognuno è a g r a d o " ; 10 Gruppen von je 10 Novellen, zu denen allerdings noch 10 Beispiele in der „Introduzione" treten) mit Castigliones Gattungsthesen ( „ L a settima Deca de gli Hecatommithi, nella quale si ragiona di vari motti, et di altri detti, o risposte subito vsate, o per mordere, o per rimordere, o per schifare pericolo, o vergogna") u n d mit neuplatonisch-moralpädagogischen Tendenzen, die nicht nur auf dem Titelblatt und in den Argomenti der einzelnen Decaden (mit Ausnahme der 1. und 7.) plakatiert werden 1 ), sondern tatsächlich die Auswahl und Gruppierung der Novellen bestimmen. Auch die mit aller Freiheit erzählten Hetärengeschichten der Rahmenerzählung sollen der heranwachsenden Jugend zur Warnung und Aufklärung dienen. Entscheidend ist der pädagogische Ton der „Introduzione" und die Einfügung von drei belehrenden Dialogen zwischen 5. und 6. Dekade: Il primo Dialogo delV allenare, et ammaestrare i figliuoli nella vita ciuile — Il secondo Dialogo della vita ciuile — Il terzo Dialogo della vita ciuile, die — 138 Druckseiten füllend — ein in sich geschlossenes, auf den Lehren antiker Philosophen aufgebautes Buch der guten Sitten und einer praktischen Ethik, ähnlich dem „Cortegiano" oder dem „Galateo", darstellen. Der Leser, durch den Buchtitel angelockt u n d durch die Lektüre von 60 Novellen gut vorbereitet, ist gezwungen, nun auch die Dialoge, d. h. den T r a k t a t , auf den es dem Autor ankommt, zu lesen; denn die Personen der Rahmenerzählung, die novellatori, sind auch Diskussionspartner der aufklärenden Gespräche, die „Dialoghi" sind Bestandteil der Rahmenfiktion. I m Dialogo Secondo (Bd. I I S. 65—66) erfährt man auch die theoretischen Ansichten des Autors über die Novellen, die er hier zwar nicht mit dem Gattungsnamen, aber deutlich genug vom Stofflichen her, charakterisiert: „Imperoche non dannò Platone la Poesia, ma solo i Poeti, che male usauano cosi eccellente facultà, scriuendo le cose che non sapeano, et per ciò si dauano ad vna sciocca imitatione. E t riprese parimente le cose, ch'essi Poeti ascriuono a gli Idij immortali, che sarebbono anco disdiceuoli a gli huomini, quantunque lasciui, come l'adulterio di Marte con Venere, et di Gioue con Semele, con Europa, con Danae, con Calisto, et altre tali cose (quantunque non ui manchino di quelli, che sotto simile velame, inducono sentimenti morali, et marauigliosi ; il che mostra anco Platone, nell'Alcibiade secondo). Ma non sono da lui biasimati quelli che ad l
) Titelblatt: Hecatommithi, onero Cento Novelle di Oio. B. G. G., Nobile ferrarese: Nelle quali non solo s'impara, et s'esercita il vero parlar Toscano; ma ancora vengono rappresentate, come in vaghissima Scena, et in lucidissimo Spechio, le varie maniere del viuer Humano; Dalle qvali può imparare qual si voglia persona vtilissimi auuertimenti, sì di presentarsi libera da infiniti inganni, che li potessero esser contra machinati in varij tempi, et in diuerse occasioni: e sì ancora (schifando il male) abbracciar, e seguir la vera Vita Ciuile, e Christiana. Parte Prima [resp. Parte Seconda] Con licentia de' Superiori, et Priuilegio. [ . . . ] " — Es werden folgende Gegenstände behandelt : in der 2. Deca heimliche oder von Vorgesetzten mißbilligte Liebesverhältnisse, in der 3. Untreue in der Ehe, in der 4. bestrafte Hinterhältigkeit, in der 5. eheliche Treue, in der 6. die Höflichkeit, in der 8. der Undank, in der 9. wechselndes Glück, in der 10. „alcuni atti di Caualleria".
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honore de li I d i j immortali, alla modestia, alla u i r t ù compongono l'opere l o r o . " E r z ä h l e n u m des Erzählens, u m der bloßen Darstellung menschlicher Leidens c h a f t e n willen, ist v e r d a m m e n s w e r t : „ c o m e a n c h e indegni n e sono coloro, che d a t i alla libidine, n o n scriuono altro, che dishonestissime lascivie, a t t e a leuare ogni maschio pensiero degli a n i m i di coloro, che a leggergli si d a n n o : questi sono quelli, che sono d a essere scacciati dalle R e p u b . come c o r r u t t o r i de gli a n i m i giouanili, che sono come scogli sparsi nel m a r e di q u e s t a v i t a , perche ui facciano N a u f r a g i o quei giouani, che v ' i n c a p p a n o , et a f f a t t o , nella libidine affogati, se n e muoiono alle v i r t ù . " D i c h t u n g h a t also lediglich Belehrung in a n g e n e h m e r F o r m zu sein, ,,et ci insegna la v i r t ù con a m m a s t r a m e n t i singolari, coperti s o t t o fauolose f i t t i o n i [ . . . ] " . So freilich lassen sich d a n n a u c h die gerade eben suspekt erschienenen (novellistischen) Gegenstände aus einer belehrenden Absicht der A u t o r e n r e c h t f e r t i g e n : ,,Ma r i t o r n a n d o a Poeti, che anco misurerà quelle cose, che scritte h a n n o d e gli I d i j H o m e r o , Vergilio, et altri Poeti, u e d r à , che a n c h o r a che nel p r i m o a s p e t t o p a i a n o sconcie, h a n n o n o n d i m e n o s o t t o t a l velame cose n a t u r a l i , e t diuine nascose." Dies ist der entscheidende P u n k t u n d die R e c h t f e r t i g u n g v o n Cinthios eigenen Hecatommithi; d e n n bei aller d e m Leser aufg e d r ä n g t e n platonisierenden Spekulation sind die Novellen dieser S a m m l u n g doch größtenteils b e r ü h m t e u n d erregende Nachweise weder d u r c h Moralphilosophie noch d u r c h Religiosität gezügelter menschlicher Urtriebe, wie „ I n t r o d u z i o n e " N o v . 7 (zu der das L e b e n der Tullia v o n Aragonien den Stoff geliefert h a b e n soll), wie Deca I 1 (der gleiche Gegenstand wie Milun v o n Marie de F r a n c e ) oder I I 2 (der Stoff v o n Cinthios Tragödie Orbecche) oder I I I 7 (die Quelle v o n Shakespeares Othello). So ist letzten E n d e s a u c h Giraldi Cinthio ein R e p r ä s e n t a n t jener Antinomie, u m deren Nachweis wir u n s b e m ü h e n : der u n t e r d e m D r u c k (anachronistisch reaktivierter) a n t i k e r T h e o r e m e b e w i r k t e n u n b e w u ß t e n E n t z w e i u n g des A u t o r s m i t sich selbst ; des Versteckspiels der E r z ä h l k u n s t h i n t e r der F a s s a d e belehrender A u t o r i t ä t 1 ) .
Rückblick und Exkurs: A u t o r e n gegen Theoretiker. — Der P e d a n t e als komische Novellenfigur H i e r schließt sich der erste Kreis unserer Nachweise. Von der A n t i k e bis auf die H ö h e der Renaissance, v o n den f r ü h e s t e n nachweisbaren R e g u n g e n novellistischen Ausdruckswillens bis in die Epoche, d a eine G a t t u n g s t h e o r i e i h m d a s F e l d a b s t e c k t , erheben D o k t r i n e n den H e r r s c h a f t s a n s p r u c h . A u s verschiedenen Quellen gespeist, m i t u n t e r sich in verschiedene S t r ö m u n g e n teilend, v e r s u c h t die theoretische T r a d i t i o n Gesetze vorzuschreiben. I m Mittelalter sind die Novellen zu klein, zu frivol, zu u n b e d e u t e n d , zu j u n g oder zu vielgestaltig, f o r m a l 1
) Giraldi Cinthio, der von 1528 bis 1565 an den „Hecatommithi" arbeitete, wirkte als Professor der Philosophie und Rhetorik ( !) (er war Aristoteles- und Seneca-Spezialist) zuerst in Ferrara, dann in Turin und Pavia. 91
zu wenig abgegrenzt, also zu frei, um einer eigenen Theorie gewürdigt zu werden. Noch ist die Blütezeit der Exempla, die hinreichend moralisch und nützlich erscheinen, um innerhalb der pädagogischen Dichtungslehre einen eigenen Platz zu erobern. Erst das 16. Jahrhundert findet durch Ausbeutung der Doktrinen von Pontanus und Cicero und Analyse, Reinigung und Plakatierung des Decameron eigentliche Novellentheorien. Durch Schematisierung und nachweisliche Verschweigung von Tatsachen wird die Novellistik nachträglich auf den Bereich der „piacevolezza", des Witzes, der Frivolität, der Satire festgelegt. Durch Imitationszwang, Regeln der Einheit, Fazetien-, Burle-, Motti-Gliederung, Sprachhegemonie des Florentin volgare wird sie in heiteren Rahmen, geordnete Themenfolge und stilistisches Korsett gezwängt. So ist, wenigstens in der Vorstellung der Theoretiker und der von ihnen eingeschüchterten zweitrangigen Novellisten des 16. Jahrhunderts, die „Novelle" kaum mehr als ein, unter Nachahmung vorbildlicher florentinischer Autoren, in gepflegtem Toskanisch, zum Zweck der Zerstreuung vorgetragener Spaß. Es gibt in der Tat Renaissancenovellen, die dieser Definition im Sinne theoretischer Ansprüche entsprechen ; unterhaltende Geschichten der Novellieri minori, Tatsachenberichte über die besonders in Florenz beliebten bösen aber geistreichen Streiche, die sogenannten beffe, burle, baie, astuzie, oder wie sie sonst heißen mögen ; literarische Späße, denen vielleicht kulturhistorische, sittengeschichtliche, chronistische, aber nicht immer ästhetische Bedeutung zukommt. Vom ästhetischen Gesichtspunkt erscheint diese Art Novellistik eher als eine Verkrüppelung und Erstarrung erzählerischen Ausdrucks. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Erstarrung und Verkrüppelung dieser Art auf das Schuldkonto der Theorie zu setzen ist. Denn wenn die Novellistik auf den burlesken Ton festgelegt wurde, so geschah es nur, weil man die Stimmung zweier Tage des Decameron, der Tage der Erzählungen über böse Streiche, und des Pontanus Gesellschaftstheorie des Witzes zu einengenden Vorschriften erhoben und damit die Stoffwahl wie den Ausdruck unter dem Gesetz der imitatio widersinnig beschränkt hatte. Auf dem üppigen Nährboden der beffe des 7. und 8. Tages im Decameron wucherte nun eine gewaltsam, geradezu ghettohaft eingeschnürte Epigonenphantasie. Man brauchte nur Namen, Schauplätze und Umstände von Boccaccios Schelmennovellen abzuändern, um mit dieser zugleich volkstümlichsten Art von Scherzerzählungen publizistische Erfolge einzuheimsen. Ein NovellenJicÄie?· brauchte man deshalb noch lange nicht zu sein. Keinem noch so scharfsinnigen Kritiker dürfte es heute gelingen, diese burleske Novellistik gegenüber Fazetien und Anekdoten durch sichere Formmerkmale abzugrenzen. Denn die beffa ist eine ausführlich erzählte und ausgeschmückte Fazetie oder Anekdote, meist auf wirklichen lokalen Begebenheiten beruhend. Wichtiger als die formale Abgrenzung wäre ja auch in jedem Fall die Feststellung des literarischen Wertes. Was die Streiche bei Boccaccio oder Grazzini zur Dichtung erhebt, ist die Originalität des Ausdrucks und die Zeichnung wirklicher Charaktere, das Hervortreten der Täter aus der grausamen Tat. Grundsätzlich aber gehört die Erzählung der beffa nicht in die Literatur-, sondern in die Kulturgeschichte. Wenn also moderne Theoretiker ihre Beobachtungen über die Novellenform großenteils auf die zähe 92
Existenz dieser Abart von Erzählungen — die im Niveau etwa den Kriminalberichten unserer Tageszeitungen gleichkommen — und auf die Abstraktion oder Stenographie ihres „Ausdrucks" stützen 1 ), so gehen sie von einem Material aus, dem ein Platz nur in den Niederungen des Schrifttums, nicht in der Dichtung gebührt. Wir haben es hier hingegen auf ästhetisch bewertbare Erzählkunst abgesehen. Da ist es denn bemerkenswert, daß die Novellistik Boccaccios und anderer bedeutender italienischer Novellenautoren unabhängig von Regeln und Gesetzen, ja meist im Kampf mit ihnen entstanden ist. Wenn die Autoren oft die Befolgung doktrinärer Vorschriften vortäuschten und damit bei der Kritik Erfolg hatten, so ändert das nichts an den Tatsachen. Zu den reizvollsten Aufgaben der modernen Literaturwissenschaft gehört die Sichtbarmachung des Gegensatzes zwischen topischer Einkleidung und originellem Kern in den Erzeugnissen jener Jahrhunderte, die durch ästhetische Lehren zur Heuchelei gezwungen wurden. Wenn die Erforscher literarischer Traditionen und Dogmen ihre wichtigste Stütze in den theoretischen Schriften des Rinascimento finden, so zeigt die offene oder versteckte Auflehnung schöpferischer Autoren der gleichen Epoche, daß die Theorien bei weitem nicht so wirksam waren, wie es bei einseitiger Betrachtung ihres Anspruchs den Anschein hat. „Wo je ein grammatischer, stilistischer oder rhetorischer Diktator auftritt, ein Bembo, Trissino oder Minturno, und sich autoritativ gebärdet — schreibt Karl Vossler 2 ) — springt gleich ein Berni oder Aretino hervor und klopft ihm auf die pedantischen Pinger. Die Italiener haben keinen Malherbe, Vaugelas und Boileau, auch keinen Gottsched gehabt, d. h. sie haben keinen über sich geduldet. [ . . . ] In den literarischen und künstlerischen Dingen [ . . . ] fühlte ein jeder sich sicher genug und hinlänglich begabt, um das Richtige selbst zu treffen, das eigene Maß zu erfüllen, den eigenen Stil sich zu formen". Im Bereich der Novellen und weit über ihn hinaus ist dieser italienische Autorenstolz nachzuweisen. Ein geschworener Feind der imitatio war Pietro A r e t i n o ; den Aristotelikern trat er mehr als einmal mit der Feststellung entgegen, daß das Wesen der Dichtung nicht Nachahmung, sondern Originalität ist3). L e o n a r d o d a V i n c i hielt es keineswegs mit den humanistischen Theoretikern: „Chi disputa allegando l'altorità, non adopra lo'ngegno, ma più tosto la memoria. Le buone lettere so'nate da un buon naturale; e perchè si de' più laldare la cagion che l'effetto, più lalderai un buon naturale sanza lettere, che un buon litterato sanza naturale" 4 ). Leonardos Bekenntnis, daß !) Näheres in RJb II S. 81 ff. ) K. V o s s 1er, Der Geist der ital. Dichtungsformen und ihre Bedeutung für die europ. Literaturen, in Südl. Romania, München-Bln. 1940, S. 38ff. (unser Zitat S. 44—45). 3 ) Näheres bei K. V o s s l e r , P.A.s künstlerisches Bekenntnis, in Neue Heidelb. Jahrbücher X (1900). 4 ) Il Codice Atlantico, a cura di G. P i u m a t i , Milano 1894—1904, Fol. 76, r. a., zit. nach A. B u c k , Grundzüge der ital. Geistesgeschichte a. a. O. Fn. 209. Ebda, zum Thema S. 72ff.; Ders., Das Ringen um die Erneuerung der geistigen Tradition in der ital. Literarästhetik der Barockzeit, in Zs. f. dt. Geisteswiss. VI (1943—44) S. 204ff.; Bucks Italienische Dichtungelehren vom Mittelalter bis zum Ausgang der Renaissance (Beihefte z. ZRPh 94), Tübing6n 1952, erreichten uns erst während der Korrekturlesung und konnten nicht mehr verwertet werden. 2
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er ein „omo sanza lettere" sei, ist kein Topos affektierter Bescheidenheit, sondern, wie obiges Zitat beweist, eine Äußerung geistiger Überlegenheit, die auf die Krücken der Belesenheit verzichtet. Aus der Auflehnung gegen den Regelzwang der Renaissance erklärt sich die Originalitätssucht der italienischen Barockdichter, vor allem Giambattista Marinos mit seiner vielgeschmähten „bizarría della novità". Wie das Selbstbewußtsein der Autoren im allgemeinen, so reagierte auch der Originalitätsanspruch der Novellenerzähler im besonderen. Aus Prooemien, Prologen und Geleitbriefen wurden Nachweise dieser Haltung erbracht. Der Wille zu selbständiger Prägung der Novellen war beispielsweise bei einem Bandello so stark, daß er durch die Boccacciovergötterung seiner Zeit gereizt diesen unbestrittenen Meister der Novellierkunst kritisierte, um zu zeigen, daß er nicht gewillt war, sich der Imitationspflicht zu unterziehen. In der Novelle I I 10 (Bd. II S. 414), wo er die Streiche eines Veroneser Malers erzählt und sich dabei Calandrinos und maestro Simones (im Decameron) erinnert, sagt er: „se il facondissimo Boccaccio avesse avuto questo soggetto, io mi fo a credere che ne averebbe composta una o due bellissime novelle ed ampliatele e polite con quella sua larga e profluente vena di dire. Ma io dirò semplicemente il caso come occorse, senza fuoco d'eloquenza e senza altrimenti con ampliazioni e colori retorici polirlo". Aus solchen Sätzen spricht die ganze Aufgebrachtheit und Entrüstung eines urwüchsigen Erzählers gegen die poetischen Topoi, die man unterdessen in Boccaccios Erzählungen nachgewiesen hatte, von den „colori retorici" bis zur Eloquenz, von den „ampliazioni" bis zum Ornamentum (,,polito"), von der imitatio bis zur „composizione". Nicht zuletzt muß hier ein sprachliches Phänomen als Beweis für die Nichtbeachtung der Theorien herangezogen werden. Bekanntlich nahm Bandello für sich die Freiheit in Anspruch, nicht in Florentin volgare, nicht unter Nachahmung vorbildlicher Toskaner, sondern mit bewußter Unterstreichung seiner lombardischen Herkunft und der durch sie bedingten sprachlichen Sonderart, Novellen zu schreiben1). Andere Autoren gingen noch weiter und trieben die sprachliche Unabhängigkeit bis zur Auflehnung gegen die Lehre Bembos, bis zur Provokation. Zwei der Favole in Giovan Francesco Straparolas Piacevoli notti sind in norditalienischen Dialekten geschrieben: Nr. V 3 in Bergamaskisch, Nr. V 4 in Venezianisch. Das in die Weltliteratur eingegangene Meisterwerk der Barocknovellistik, Giambattista Basiles Cunto delli Cuntí oder Ρentamerone, ist vollständig in altneapolitanischer Mundart verfaßt und wurde erst von Benedetto Croce durch Übersetzung für ganz Italien erschlossen, nachdem es in Deutschland und England schon längst bekannt war2). Bei der Entstehung solcher Werke spielte also Hierzu die Vorworte zu den drei Teilen seines Novellenwerkes. Lo cunto de li curiti overo lo trattenemiento de' peccerille, Napoli 1634. Deutsche Ausgabe : Der Ρentamerone oder: Das Märchen aller Märchen von Giambattista Basile. Aus dem Neapolitanischen übertragen von Felix L i e b r e c h t . Nebst einer Vorrede von Jacob Grimm. 2 Bde. Bresl. 1846. — Ital. Ausgabe: G. B. Il Pentamerone ossia La Fiaba delle Fiabe tradotta dall'antico dialetto napoletano e corredata di note storiche da B. Croce, 2 vol., Bari 1925. Über die englischen Bearbeitungen: Croce ebda. I S. I X — X . Vgl. Κ. K a i s e r , Basile, in Hand2)
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der Widerspruchsgeist der durch die Doktrinäre gereizten Autoren eine entscheidende Rolle. Anton Francesco Grazzini, genannt „II Lasca" (1503—1584), einer der Begründer der Accademia della Crusca, hat in der Einleitung zu seiner Komödie La Strega den Freiheitswillen der Dichtung gegenüber der Doktrin originell formuliert 1 ): „Aristotele e Orazio viddero i tempi loro, ma i nostri sono d'un'altra maniera. [. . . ] Questi tuoi dottori e artefici fanno un guazzabuglio d'antico e di moderno, di vecchio e di nuovo, e tal che le loro composizioni riescono sempre grette, secche, stitiche e sofistiche di sorte che elle non piacciono a persona, come s'è veduto mille volte per esperienza". Zwar findet er, was die Beachtung der Poetik anbelangt, die großen Italiener von Dante bis Ariost den antiken Autoren ebenbürtig, aber die Verfechter der imitatio und der Dichtung nach Rezept bekämpft er mit beißendem Sarkasmus: „Infine il Varchi non ha invenzione", und Ruscelli ist ein „pedantuzzo stracco", den man wie einen Säugling versorgen und verstecken sollte: „Trovategli la culla, La pappa, il bombo, la ciccia e'I confetto, Fasciatel bene e mettetelo a letto". Sein tiefstes Mitleid gilt der „poesia italiana, toscana, volgare o fiorentina ch'ella sia", denn sie ist „venuta nelle mani dei pedanti". Damit gibt Grazzini das Stichwort zu einem das Kapitel über die italienischen Theorien abschließenden Exkurs. Eine der komischen Figuren und Zielscheiben von Spott und Satire in der Renaissancenovellistik ist, neben dem Bettelmönch (dem frate), und dem „astrologo" 2 ), der pedante. Komödien und Novellen arbeiten einander in die Hand. Durch Novellen dreier Jahrhunderte wandern die Pedanti in verschiedener Gestalt : als Ärzte oder Philosophen, als Hauslehrer oder Universitätsprofessoren, als berühmte Schriftsteller oder weitabgewandte Asketen; einmal namenlos, einmal in voller Identität angeprangert, hier durch erfundene, dort durch verdrehte oder redende Namen charakterisiert oder verhöhnt. Im Grunde ist der Pedante stets Repräsentant der gleichen Schwäche : der Weltfremdheit aus Gelehrsamkeit. Immer ist er die Karikatur des Humanisten. Symbolisch ragt diese Schattenfigur aus dem Rahmen des Decameron als jener Asket, der den Jüngling vergeblich in Keuschheit und Unwissenheit natürlicher Dinge erzieht, ein Theoretiker vermeintlicher Tugend, Sinnbild unrealisierbarer pädagogischer Thesen. In dieser Figur nimmt Boccaccios Abneigung gegen Theorie und literarästhetisches Dogma Gestalt an. Denn frühzeitig hatte der italienische Wirklichkeitssinn die Schwächen der Humanisten durchschaut. Die Florentiner Spottlust vor allem gefiel sich darin, die komische Seite des Humanismus anzuprangern. Nichts erscheint den Florentinern heute wie damals unverzeihlicher Wörterbuch des dt. Märchens, I, Bln.-Lpz. 1930—33, S. 177ff. — Neudruck Straparolas: G.F. Str., Le piacevoli notti, a cura di Gius. R u a , 2 vol. (Scrittori d'Italia) Bari 1927. !) Zitate nach Fr. Flora a. a. O. I I S. 362—63. a ) Über die Vorliebe von Novellen und Komödien für „stehende, bekannte Typen", „bei welchen die Phantasie leicht das nur Angedeutete ergänzt" : J. Burckhardt, D. Kult. d. Renaiss. in lud., Kap. V I 2 (Die Religion im tägl. Leben) a. a. O. Bd. I I S. 184ff., mit besonderer Hervorhebung Masuccios. Außer den dort behandelten Spöttereien der Novellisten über Bettelmönche und Weltklerus, ebda. S. 249 über die Abwehr der astrologischen Wahnwissenschaft durch die vernünftigen Novellisten.
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als mangelnder Tatsachensinn und Selbstüberhebung. Alle Gelehrsamkeit in Ehren! — wer dabei aber den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen verliert, wird zur favola, zum Leutegespött — bei Bandello, Grazzini und anderen1). Mag dieser satirische, burleske, sarkastische Zug als volkstümliche und ästhetisch wenig ergiebige Strömung abgewertet oder geringgeschätzt werden, er bleibt ein aufschlußreiches historisches und gesinnungsgeschichtliches Phänomen. Der novellistische Kunstgriff bei der Verspottung des Pedante besteht meist darin, daß dem Weltfremden, dem „marito sciocco" oder was er im Sonderfalle jeweils darstellt, wie in der Komödie eine oder mehrere Kontrastfiguren gegenübertreten, die nach Auffassung der Autoren den gesunden Menschenverstand, den Witz, die Lebensklugheit, die überlegene Intelligenz repräsentieren. Diese Kontrastfiguren, die den Pedante zum besten halten, sind — und das ist in unserem Zusammenhang wichtig — meist Künstler. Theoretisches Wissen, Hochschulbildung und Gelehrsamkeit, Belesenheit und Beherrschung von Fachsprachen machen einen Dummkopf nicht gescheit; Originalität und Begabung sind häufiger bei Künstlern als bei Humanisten anzutreffen ; im Wettbewerb der Urteilskraft, raschen Auffassung und Lebensklugheit unterliegen stets die Theoretiker. Dies ist das Leitmotiv der burlesken Renaissancenovellen. Das „klassische" Beispiel der Künstler-beffa, der ein Pedante zum Opfer fällt, ist Decameron VIII 9: „Maestro Simone medico da Bruno e da Buffalmacco, per esser fatto d'una brigata che va in corso, fatto andar di notte in alcun luogo, è da Buffalmacco gittato in una fossa di bruttura e lasciatovi" (a. a. 0. II S. 158ff.). Alles in dieser Novelle zielt auf Verspottung derer hin, denen wissenschaftliche Ausbildung nur zu guter Kleidung, Ehren, Dünkel, nicht aber zu geistiger Überlegenheit, ja nicht einmal zu klarem Denken verhilft, „i nostri cittadini da Bologna ci tornano quai giudice e quai medico e qual notaio, co' panni lunghi e larghi e con gli scarlatti e co'vai e con altre assai apparenze grandissime, alle quali come gli effetti succedano, anche veggiamo tuttogiorno" (ebda. S. 159). Dem Einfaltspinsel im Doktorhut erteilen die Maler Bruno und Buffalmacco eine Lektion, wie man sie offenbar an der Universität Bologna nicht zu erhalten pflegte. Das wird im Schlußsatz als Sentenz mit allem Nachdruck ausgesprochen : „Così adunque, come udito avete, senno s'insegna a chi tanto non n'apparò a Bologna" (S. 173). Ein Musterbeispiel solcher Gesinnung um die Wende des 14. zum 15. Jahrhundert ist die einer lateinischen Commedia elegiaca des Vitalis von Blois (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts) nachgebildete italienische Versnovelle Oeta e Birria. Sie ist eine burleske Umdeutung des Amphitryonthemas mit Verlagerung des Schwerpunktes in die Bedientensphäre. Hier ist Amphitryon nicht Feldherr, sondern Bürger, er verläßt seine Frau nicht aus zwingenden Gründen, sondern „per seguir filosofía". Seine humanistische Verstiegenheit färbt so stark auf den !) Aus dieser Bedeutung des Wortes favola und nicht aus Robortellis erwähnter Theorie vom „Fabelhaften" als obligatorischem Gegenstand der Dichtung erklärt sich Grazzinis Vorliebe für den Terminus. Von seinen eigenen und von Boccaccios Novellen spricht G. in La Introduzione al Novellare, dem Vorwort zu den Cene, gern unter Verwendung dieser Vokabel: „le favole di messer G. Boccaccio" oder „venendo alla mia favola".
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Diener ab, daß dieser durch einen Scherz zum Zweifel an der eigenen Identität gebracht werden kann. Aus dem Mythos der Irreführung des Sosias durch Merkur wird die Burleske der Trübung gesunden Menschenverstandes durch übermäßiges Studium. Noch dazu verdirbt das böse Beispiel des gelehrten Herrn die guten Sitten des von Natur ganz vernünftigen Dieners. Die Theorie konnte nicht schneidender parodiert werden. In der Pedantenverspottung der Novelle Geta e Birria zeigt Domenico Guerri 1 ) stoffliche und gesinnungsmäßige Ursprünge der Novellenburlesken des Quattro- und Cinquecento auf. In diese Reihe gehören der dem Grasso legnaiuolo gespielte Streich und die Beffa, der Bianco Alfani zum Opfer fiel, Tatsachenberichte über wahre Begebenheiten, die nach dem Vorbild der Novelle Geta e Birria inszeniert worden waren. ,,la varia beffa — argumentiert Guerri2) — per ciò che ha più che fare con gli studi, batte sul chiodo del sofisma, della confusione mentale, della vanità formale, della mancanza del gusto, della povertà dell'estro ; e questo è sentimento istintivo che caratterizza l'età ; ma s'alimenta anche delle idee che gli umanisti disputavano tra di loro e della nuova cultura che andavano creando. Quando i fiorentini ridevano del filosofo Geta che non sa più s'è lui, non ridevano dei rinnovatori, ma dei tradizionalisti". Die gleiche Gesinnung, die Gesinnung des Autors von Geta e Birria und Boccaccios, treibt noch die Novellisten des Cinquecento zur Verhöhnung der Pedanti. Vom Grasso legnaiuolo und vom Bianco Alfani zur Studentenburleske des 16. Jahrhunderts, von Boccaccios witzigem Künstlertrio: Bruno, Buffalmacco, Calandrino zu Grazzinis grausamem Quartett: Scheggia, Pilucca, Monaco, Zoroastro — deren beide ersteren „furono [ . . . ] dell'arte loro ragionevoli maestri; che l'uno fu orafo, e l'altro scultore" (a. a. O. S. 249—50), ist nur ein kleiner Schritt. Der große Gelehrte, der ein „sciocco marito" ist und an der fehlenden Lebensklugheit zugrundegeht, entwickelt sich, aus der Situationskomik früher Novellen, im Cinquecento sogar zum tragikomischen Charakter, tragikomisch der Theorie zum Trotz. Straparola — um nur einen Bearbeiter dieses Charakters herauszugreifen — leitet eine favola vom betrogenen Humanisten in Piacevoli notti IV 4 (a. a. 0 . Bd. I S. 189) mit den vielsagenden Worten ein: „Sono molti, dilettevoli donne, i quali per avere lungo tempo dato opera al studio delle buone lettere, si pensano molte cose sapere, e poi o nulla o poco sanno. E mentre questi tali credonsi signare in fronte, a sè stessi cavano gli occhi : sì come avenne ad uno medico molto scienziato nell'arte sua; il quale, persuadendosi di altrui uccellare, fu non senza suo grave danno ignominiosamente uccellato"3). Bei Grazzini steigert x
) D. G u e r r i , La corrente popolare nel Rinascimento. Berte, burle e baie nella Firenze del Brunellesco e del Burchiello. Bibl. Stor. del Rinascimento V i l i , Firenze 1931. — Eine aufschlußreiche Zusammenstellung bieten Die 75 ital. Künstlernovellen der Renaissance, gesammelt, übersetzt, mit Anm. versehen u. herausgeg. von Hanns F l o e r k e , MünchenLpz. 1913. 2 ) Guerri a. a. O. S. 21. 3 ) Man vgl. auch in den Ausgaben der Piacevoli Notti von 1553 und 1554 die später eliminierte Erzählung VIII 3. Es ist die beffa eines Bildhauers an einem Magister der Theologie. Deutsche Übers, in Die 75 ital. Künstlernovellen usw. a. a. O. — Das Motiv des durch einen schlauen Studenten geprellten Professors hat auch L a F o n t a i n e im zweiten Teil von Novelle IV 8 seiner Contes et Nouvelles aufgegriffen. 7
Novellentheorie
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sich die Abneigung gegen die Pedanti zum blutigen Haß, wie aus den fürchterlichen beffe, die Florentiner an zwei „pedagoghi" (kleinen Hauslehrern) verüben (Cene I 2 und I I 7), zu schließen ist. Bandello hingegen scheut sich nicht, diesem oder jenem berühmten Zeitgenossen unter voller Namensnennung einen kompromittierenden Streich spielen oder den Betreffenden im Licht theoretischer Yerstiegenheit lächerlich erscheinen zu lassen. So erzählt er in Novelle I I 10 (Bd. I I S. 411) Piacevoli beffe d'un pittor veronese fatte al conte di Cariati, al Bembo e ad altri, con faceti ragionamenti. Bembos Rolle ist dabei doppelt lächerlich, weil er sich erstens eines armen ungebildeten Verwandten schämt, und weil er zweitens nicht bemerkt, daß es gar nicht sein Verwandter, sondern ein verkleideter Maler aus seinem engsten Freundeskreis ist. Sogar vor Machiavelli macht Bandellos Spottlust nicht halt. Den Widmungsbrief an Giovanni de' Medici zu Novelle I 40 (Bd. I I S. 83) leitet er mit folgender Anekdote ein: „Egli vi deveria sovvenir di quel giorno quando il nostro ingegnoso messer Niccolò Machiavelli sotto Milano volle far quell'ordinanza di fanti di cui egli molto innanzi nel suo libro de l'arte militare diffusamente aveva trattato. Si conobbe alora quanta differenza sia da chi sa e non ha messo in opera ciò che sa, da quello che oltra il sapere ha più volte messe le mani, come dir si suole, in pasta e dedutto il pensiero e concetto de l'animo suo in opera esteriore, perciò che sempre il pratico ed essercitato con minor fatica opererà che non farà l'inesperto, essendo l'esperienza maestra de le cose, di modo che anco s'è veduto alcuna volta una persona senza scienza, ma lungamente essercitata in qualche mestieri, saperlo molto meglio fare che non saperà uno in quell'arte dotto ma non esperimentato. Niente di meno quel dotto benissimo ne parlerà e disputerà dottamente. Messer Niccolò quel dì ci tenne al sole più di due ore a bada per ordinar tre mila fanti secondo quell'ordine che aveva scritto, e mai non gli venne fatto di potergli ordinare. Tuttavia egli ne parlava sì bene e sì chiaramente e con le parole sue mostrava la cosa esser fuor di modo sì facile che io che nulla ne so mi credeva di leggero, le sue ragioni e discorsi udendo, aver potuto quella fanteria ordinare." Man könnte vermuten, Bandello habe die diesem Brief folgende Novelle dem Machiavelli nur in den Mund gelegt, um den bösartigen Geleitbrief dazu schreiben und darin seiner Verachtung für die Theoretiker Luft machen zu können. Jedenfalls ist dieser Brief ein bedeutendes Dokument zum Nachweis des begrenzten Ansehens der Theorien und ihrer begrenzten Wirkungsmöglichkeiten im Kreis der schöpferischen Autoren des Cinquecento. Was im übrigen die Figur des lebensuntüchtigen Theoretikers und „marito sciocco" anbelangt, die aus der mittellateinischen Commedia elegiaca in die Quattrocentonovellistik einging, so hat sie gerade Machiavelli wieder durch die Komödie Mandragola unsterblich gemacht: der Doktor Nicia „è el più semplice e el più sciocco omo di Firenze", der Prototyp des Filosofo, der vor lauter Wissen, Weisheit und Theorie die Wirklichkeit nicht sieht und sein Glück verscherzt. Machiavellis ganzer Spott ergießt sich über diese Gestalt, den Pedante, die Fratze des Humanisten. Objektiv wird durch diese Nachweise nichts gegen den Humanismus und seine Doktrinen vorgebracht. Es ist aber bewiesen, daß die schöpferischen Autoren die 98
Erudition und die aus ihr gewonnenen Erkenntnisse für eine Sache hielten, die Dichtung und das Novellenerzählen aber für eine andere. Schriftsteller, die sich so leidenschaftlich gegen das theoretische Wissen und die Stubengelehrsamkeit, für die Originalität der Künstler, für Urwüchsigkeit und gesunden Menschenverstand aussprechen, können unmöglich dem Zwang der Doktrinen widerspruchslos gehorchen. Groß ist das Gewicht der Tradition, ein jeder kennt sie, weil sie zu seinem Handwerk gehört, aber einige Bezirke der Dichtung wurden doch erfolgreich gegen Anachronismen und logische Schulweisheit verteidigt. Die Theorie existiert. Aber die Autoren, deren Namen in der Geschichte der Novellistik noch heute Klang haben, nehmen sie nicht ernst.1)
III. Spanien und Portugal 1. T r a d i t i o n der exempla
v o n 1110 bis 1613
1567 erschienen in Venedig Le sei giornate di messer Sebastiano Erizzo nelle quali, sotto diversi fortunati e infelici avenimenti da sei giovani raccontati, si contengono ammaestramenti nobili e utili di morale filosofia. Da dieses Buch, in dessen Titel sich die Auswirkungen des Tridentinischen Konzils spiegeln, fast alles hielt, was es versprach, ging es in den Wogen der Renaissancenovellistik unter. Weder im 16. noch im 17. Jahrhundert wurde es neu aufgelegt. Erst am Ende des 18. entdeckte der Philologe und Novellenliebhaber Gaetano Poggiali es wieder. Im 19. Jahrhundert wurde es schließlich aus Poggialis Sammlungen in philologische Textausgaben übernommen2). Das späte Cinquecento aber verlangte in der No1
) Nicht nur die Theorien, sondern auch der bewußte Widerstand der Dichter gegen die Doktrinen steht in einer Tradition, deren Darstellung schon Ed. N o r d e n , Die antike Kunstprosa [ . . . ] a. a. O. unternahm (2. Buch, 1. Abschnitt, 1. Abt., 3. Kap. „Der Gegensatz von Auetores und Artes", 4. Kap. „Der Kampf der Auetores gegen die Artes", 2. Abt., 2. Kap. „Die Fortsetzung des ma. Kampfes der Auetores gegen die Artes in der Frühzeit des Humanismus" usw.). — Zur Geringschätzung der Novellistik und ihrer Überwindung sei auf die theoretischen Äußerungen Filippo S a s s e t t i s i n einem Brief an Francesco Bonciani verwiesen: Nr. XXXIV, S. 78—84, in Lettere di Filippo Sassetti corrette accresciute e dichiarate con note aggiuntavi La Vita di Francesco Ferrucci scritta dal medesimo Sassetti rivista ed emendata, mit Prefazione von Eugenio C a m e r i n i , Milano Sonzogno o. J . Anknüpfend an Boncianis Vorlesungen [gedruckt in Prose Fiorentine (1716—1745) Parte I I vol. I, zit. von Ettore M a r c u c c i , vgl. Prefazione Camerini S. 6] handelt Sassetti über das Komische in den Novellen; er unterscheidet „9 spezie dell'azione ridicole" (S. 78) und entnimmt dazu Beispiele aus dem Decameron. Er gliedert sie nach stofflichen Prinzipien (S. 80—81), leugnet aber die „bassezza delle novelle: anzi vi se ne dimostra la grandezza e'I modo di dire [ . . . ] " (S. 82), während B o n c i a n i sich entschuldigt hatte, weil er über Novellen sprach: ,,Nè io doverò esser ripreso se alla presenza vostra, ingegnosi uditori, avendo a parlare per compiacere al nostro Consolo, ragionerò della natura delle novelle [ . . . ] " (zit. ebda. S. 82 Fn. 1). — Zum Gesamtkomplex der ital. Novellistik sei nochmals verwiesen auf: E. L o m m a t z s c h , Beiträge zur älteren ital. Volksdichtung, Untersuchungen u. Texte (Dt. Akad. d. Wiss. zu Berlin, Veröff. d. Inst. f. Roman. Sprachwiss., Dir. Prof. Dr. W. von Wartburg, Nr. 2, 3, 4) Berlin, Akademie-Verlag, 1950—51; Ergänzungen dazu in Ν S 1951 (Ν. F.) S. 341—353. 2 ) Edit. P o g g i a l i : Le sei giornate di messer S. E., Londra (Livorno) presso Rice. Bancker, o. J . — Über spätere Ausgaben „Novellieri Minori del Cinquecento" a. a. O. S. 441 Fn. 2. 7
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vellistik mehr als ammaestramenti und morale filosofia. Die Zeiten der Exempla waren für Italien vorbei. I n Spanien lagen die Dinge anders. Noch 1613 konnte C e r v a n t e s im Vorwort zu den Novelas ejemplares versichern: ,,ηο hay ninguna de quien no se pueda sacar algún ejemplo provechoso; y si no fuera por no alargar este sujeto, quizá te mostrara el sabroso y honesto fruto que se podría sacar, así de todas juntas como de cada una de por sí" 1 ), ohne die Leser zu verärgern. Zweifellos besteht zwischen den Qualitäten eines Erizzo und denen des Cervantes nicht die entfernteste Vergleichsmöglichkeit ; aber das pädagogische Vorzeichen, das dem italienischen Buch die Leser abspenstig machte, mochte doch bei dem spanischen eine Wirkung erzeugen wie heutzutage eine dem Zeitgeschmack gut angepaßte Werbung auf dem Umschlag eines Bestsellers. Dabei bleibe bis auf weiteres dahingestellt, ob der Inhalt in allen Punkten den Versprechungen der Präambel entsprach. Jedenfalls war die Betonung der Beispielhaftigkeit das Unoriginellste an der Novellensammlung des Cervantes, mag sie sich bei genauer Interpretation auch als noch so bedeutsam erweisen. Mit der Versicherung des Exemplarischen stellte der Dichter seine Erzählungen durchaus nicht als etwas Neues hin, sondern im Gegenteil als dem durchschnittlichen Geschmack des spanischen Lesers und alter katholischer Tradition entsprechende Erzeugnisse. Eine erstaunliche Tatsache, da er doch gleichzeitig behauptet, der erste Spanier zu sein, der echte, ursprüngliche Novellen schreibe. Eine genaue Analyse des „Prólogo" wird erst später möglich sein, aber eines steht von vornherein fest: daß es in Spanien zur Betonung der Beispielhaftigkeit im Vorwort eines Novellenbuches weder des Tridentinums noch besonderer dichterischer Eigenwilligkeit bedurfte, denn die theoretische Tradition der spanischen Novellistik heißt, vom 12. Jahrhundert bis über Cervantes herab: Exemplum 2 ). Um 1110 schickte Petrus Alfonsi den 34 Exempeln der Disciplina Clericalis jenen Prologus voraus, in dem wir das unmittelbare Vorbild des kurzen Vorwortes zur späten Kompilation der Ciento novelle antike erkannten (vgl. unser Kap. I I 2), und in dem es u. a. heißt: „Propterea ergo libellum compegi, partim ex prouerbiis philosophorum et suis castigacionibus, partim ex prouerbiis et castigacionibus arabicis" und ,,Huic libello nomen iniungens, et est nomen ex re: id est Clericalis Disciplina; reddit enim clericum disciplinatum" (a. a. O. S. 2; unsere Markierungen). Es ist zu bekannt, um belegt werden zu müssen, daß nicht alle Exempla des Petrus Alfonsi der in den Zitaten unterstrichenen pädagogischen Verheißung entsprechen, daß die praktische Befolgung aller dieser „Beispiele" wohl kaum einen clericum disciplinatum gemacht hätte, ja daß sie nicht einmal nach unseren heutigen Vorstellungen in die Hand des Schülers gehören. Die Inkongruenz von Vorwortmoral und Exempeln hat aber nichts mit der Persönlichkeit des Verfassers und mit seinen zufälligen Lebensumständen zu tun, sondern sie ist eine der Konstanten der literarischen Tradition. Zwischen Prologtheorien Cervantes-Zitate nach BAE I, S. 99S. ) Über Synonymität von novela und ejemplo: W. K r a u s s, Novela—Novelle—Roman, in ZrPh L X (1940) S. 16—28, bes. S. 19. Ebda. Wegweisendes zur spanischen Novellentheorie. 2
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und schriftstellerischer Praxis bestand eben schon im 12. Jahrhundert (und nicht erst dort) jene Antinomie, die sich weit über das Mittelalter hinaus mit den literarästhetischen Doktrinen vererbte. Man braucht nur des Chevalier de la Tour Landry zu gedenken, der, mit geistlichem Beistand, im 14. Jahrhundert ein Erziehungsbuch für seine Töchter aus Exempeln aller Art zusammenstellte (oder wenigstens vorgab, daß es zur Erziehung der jungen Mädchen dienen sollte), der aber merkwürdig oft den pädagogischen Zweck des Unternehmens „vergaß" und höchst pikante oder auch abscheuliche, eher für erfahrene Damen als für kleine Mädchen unterhaltsame galante Abenteuer auftischte (vgl. unser Kap. IV 1). So ist es auch keine Garantie für erzieherischen oder belehrenden Wert von Geschichten, wenn sie als Exempla aus der Disciplina Clericalis oder, entsprechend der Vorwortdoktrin, unter der Devise der moralischen Nützlichkeit in alle möglichen Sammelwerke eingehen. Über den moralischen Wert oder pädagogischen Unwert von Büchern, die nachweislich durch das Vorbild des Petrus Alfonsi angeregt wurden, ist also durch die Feststellung dieser Filiation nichts ausgesagt. Bekanntlich hat auch Boccaccio aus den Exempeln und castigacionibus der Disciplina Clericalis Nutzen gezogen, ohne deshalb als Verbreiter frommer Tugendlehren angesehen zu sein. Die suggestive Wirkung von Prologen und Prooemien ist außerordentlich stark und nachhaltig. Auch moderne Literarhistoriker fallen ihr zum Opfer. Die Versicherung spanischer Geschichtensammler und Novellenübersetzer des 16. Jahrhunderts, daß sie moralische Exempla oder nützliche Geschichten zusammengetragen hätten, genügt oft, um die Meinung zu befestigen, die spanische Novellistik zeichne sich grundsätzlich durch sittliche Reinheit und Wohlanständigkeit (obwohl beides keine literarästhetischen Kriterien sind) vor anderen Literaturen des Südens oder des Westens aus. Noch Ρ f a n dl lobte unter solchen Auspizien die „reine Hand" des Cervantes, der im Celoso estremeño des vollendeten Ehebruchs entraten könne1), was erstens sachlich unrichtig ist, da eine Fassung der Novelle mit dem vollendeten Ehebruch existiert und Cervantes sich nicht genierte, das Thema mit aller Schwankderbheit in dem Entremés El viejo celoso auf die Bühne zu bringen2) — und zweitens über den künstlerischen Wert der Novelle nichts aussagt. M e n é n d e z y P e l a y o , dessen Orígenes de la Novela die Wissenschaft unter anderem den ersten geordneten und mit profunder Gelehrsamkeit dargebotenen Überblick über die „Cuentos y Novelas cortas" der spanischen Literatur (Bd. II Kap. IX) verdankt, kann sich keinen Augenblick von der moralistischen Unterscheidung zwischen „cuentos llenos de honestidad" und „cuentos sucios" freimachen. Ihm sind aber sehr wohl die Autoren bekannt, die in Buchtiteln oder Prooemien von der Beispielhaftigkeit oder moralischen Lehr1
) L. P f a n d l , Gesch. der span. Nationalliteratur in ihrer Blütezeit, Freibg. i. Br. 1929, S. 304ff. Unter Hinweis auf das Manuskript von 1606 empfiehlt Pfandl, S. 306, den Dichter stillschweigend zu verbessern „und die Schuld der leichtsinnigen Gattin als vollendet" anzunehmen. — Eine Konfrontierung der beiden Versionen bietet Américo C a s t r o , El Pensamiento de C., E F E Anejo VI, Madrid 1925, S. 243—44. a ) Man vgl. L. S p i t z e r , in Kölner Roman. Arbeiten I I (Roman. Stil- und Literaturstudien), Marbg. 1931, S. 141—42.
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haftigkeit ihrer Erzeugnisse oder Übersetzungen handeln, ohne sich in den Geschichten oder ejemplos pedantisch an dieses Versprechen zu halten. Menéndez y Pelayo erliegt dieser Suggestion wenigstens insofern, als er die häufige Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis nicht hervorhebt und nicht als Konstante der literarischen Tradition erkennt. Wir behaupten übrigens nicht, die Antinomie sei ein Gesetz oder überall nachweisbare Regel. Es handelt sich vielmehr, wie bei der häufig beobachteten Hypokrisie in italienischen Novellenprologen, um die Ausnahme begabter und eigenwilliger Autoren von jener Regel, der Erzähler zweiten und dritten Ranges gehorchen — eine immer wiederkehrende Ausnahme und Konstante, die die exemplarisch-moralistische Tendenz der spanischen Novellistik kontrapunktiert. Die Gründe, die die Autoren veranlaßten, belehrenden Wert und moralische Nützlichkeit anzustreben oder vorzutäuschen, wurden bereits aus der Tradition und der Macht rhetorischer und poetischer Doktrinen erschlossen. Der Topos des moralischen Nutzens mußte im katholischen Spanien der theologischen Kunsttheorie1) besonders tief und nachhaltig mit der Praxis verbunden sein. Trotzdem gab es auch hier Autoren, mit deren Erzählkunst der Topos ebenso wenig und mit deren Prooemienterminologie er ebenso viel zu tun hat wie die von Curtius nachgewiesene Topik der affektierten Bescheidenheit, der Unsagbarkeit, des Schreibens auf Befehl, wie die Panegyrik usw. Hier einige Belege aus der spanischen Praxis : gern ordneten spanische Übersetzer oder Bearbeiter italienischer Novellen die Erzählungen, die im Original novelle oder favole hießen, dem Begriff des ejemplo unter. Dies brauchte nicht immer mit einer moralisierenden Bearbeitung oder Reinigimg des Stoffes verbunden zu sein, sondern es war oft nur eine Tarnung, ein publizistischer Kniff, der dem Werk spanische Leser gewann. Der Vorgang, der in Italien aus Exempeln hatte novelle werden lassen, wurde in Spanien gleichsam rückgängig gemacht 2 ). Sehr leicht war das im Falle der „Griseldis", die denn auch den ersten Beleg für das Phänomen liefern kann. Die letzte Novelle des Decameron wurde, bevor das ganze Werk die Grenze des italienischen Sprachbereichs überschritt, durch Petrarcas lateinische Redaktion der Weltliteratur erschlossen. Der Titel dieser lateinischen Fassung, De obedientia acfide uxoria, kam der pädagogischen Literartheorie Spaniens schon entgegen. Bernat M e t g e ging noch einen Schritt weiter, indem er seine katalanische Übersetzung (vor 1403) traktatartig verallgemeinernd Historia de las bellas virtuts überschrieb (dieser Titel ist in einer Handschrift überliefert). Noch stärker unterstrich die belehrende Tendenz ein kastilischer Anonymus, der seine kürzende Version Castigos y dotrinas que un sabio dava a sus hijas betitelte und damit die Boccaccionovelle — wenigstens äußerlich — 1
) Hierzu C u r t i u s ELLM (Exkurse über span, theolog. Kunsttheorien). ) Zum Folgenden: die bibliographischen Nachweise M e n é n d e z y P e l a y o s in Orígenes de la Novela, Madrid 1905—10, Bd. II, Kap. I X , S. I l l f f . (bei Zitaten = Orig.). (Die Edición preparada por D. Enrique S á n c h e z R e y e s , Edic. Nacional de las Obras Completas de M. P., dirig. por D. Miguel A r t i g a s (Consejo Superior de Investigaciones Científicas, Bd. XIII—XVI) Santander, Aldus S. A. de Artes Gráficas, 1943, lag uns bei Ausarbeitung des vorlieg. Kap. noch nicht vor). 2
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neben die Exempla der Disciplina Clericalis rückte, deren Rahmen im Titel gleichsam an die Stelle des dem Übersetzer vermutlich unbekannten DecameronRahmens trat. So war das Griseldismotiv für Spanien zum Exempel deklariert, und diese Änderung der Tonart behielt es durch die künftigen Bearbeitungen bei, sei es als Comedia muy ejemplar de la Marquesa de Saluzia oder als Lope de Vegas Komödie El exemplo de casadas y prueba de la paciencia, sei es in der späten Romanzenparaphrase (der Übersetzung Bernat Metges) von Antonio B u l b e n a y T u s e 11: Historia de Griselda la quai lo marques Valter prengué per muller essent una humil pastorela e isqué lo més singular exemple de la obediencia que tota dona casada deu tenir a son marit (Barcelona 1895). Menéndez y Pelayo — um auch das spanische Urteil der Gegenwart nicht zu vergessen — findet „aquel sabroso aunque algo inverosímil cuento" (die „Griseldis" Boccaccios) „tan recomendable por su intención moral" (Orig. a. a. O. S. III). Womit die Kontinuität der spanischen Exemplatradition vom 12. bis ins 20. Jahrhundert — mit Boccaccios Hilfe — demonstriert ist. Auf Umwegen brachten es auch Bandellos Novellen in Spanien zum Ehrentitel der Exempla. Aus der französischen Paraphrasierung von Pierre B o a y s t u a u (Launay) und François de B e l l e f o r e s t 1 ) übertrug Vicente de Millis G o d i n e z 14 Stücke, „las que le parecieron de mejor ejemplo" (sagt Menéndez y Pelayo S. XXII), unter dem Titel Historias tragicas exemplar es sacadas de las obras del Bandello Verones (Salamanca 1589). In der Widmung „A D. Martin Idiaquez" teilte der Bearbeiter u . a . mit: „destas escogí catorce, que me parecieron a proposito para industriar y disciplinar la juventud de nuestro tiempo en actos de virtud, y apartar sus pensamientos de vicios y peccados", und im Geleitwort „al lector" fügte er hinzu: „assi las recogí, añadiendo o quitando cosas superfluas, y que en el Español no son tan honestas como devieran, attento que la Francesa tiene algunas solturas que acá no suenan bien" (Orig. S. X X I I Fn. 2). — Willkommen waren den Spaniern natürlich Novellensammlungen, die unter der Einwirkung des Tridentinischen Konzils schon im Original Exemplifizierung und ammaestramenti anzustreben behaupteten, wie die Hecathommiti des Italieners Giraldi Cinthio (vgl. unser Kap. I I 7). Der Titel Primera Parte de las cien Novelas de M. Ivan Baptista Giraldi Cinthio: donde se hallaran varios discursos de entretenimiento, doctrina moral y politica, y sentencias, y avisos notables (Toledo 1590) ist symptomatisch für diese Tendenz. Noch deutlicher macht sie der Übersetzer Juan Gaitán de V o z m e d i a n o , indem er die Erzählungen als exemplos bezeichnet und über die cuentos fabulosos in einem „Prólogo al lector" sagt: „en todos ellos debe de haver muy pocos verdaderos, puesto que muy conformes a verdad y a razón, exemplares y honestos. Honestos digo, respecto de los que andan en su lengua, que para lo que en la nuestra se usa no lo son tanto que 1
) Diese Paraphrasierung behandelt die 1947 an der University of Missouri, Columbia, vorgelegte Dissertation: The French Bandello. A Selection. The Original Text of Four of Belleforests ,Histoires Tragiques' translated by Geoffrey Fenton and William Painter. Anno 1567. Edited with an Introduction by Frank S. H o o k . The Univ. of Missouri Studies Vol. X X I I No. 1, Columbia 1948. — Bandellos Novellistik fand später auch Lope de Vega exemplarisch (man vgl. die Einleitung zu seinen Novellen sowie die Kap. III 3 und IV 4 der vorliegenden Arbeit).
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se permitieran imprimir sin hacer lo que se ha hecho, que fue quitarles lo que notablemente era lascivo y deshonesto. Para lo quai uvo necessidad de quitar clausulas enteras, y aun toda una novela, que es la segunda de la primera Decada. [ . . .] Esto y otras cosas semejantes hallará quitadas y mudadas el que confiriere la traducion con el original, especialmente el Saco de Roma que se quitó por evitar algunos inconvenientes que pudieran seguirse de imprimirle" (Orig. S. XXIV Fn.). Wir haben diese Stelle ausführlich zitiert, weil sie den Schleier vom Geheimnis der spanischen Exemplatheorie ein wenig wegzieht. Sogar Novellen, die in Italien schon als ammaestramenti Zugeständnisse an die tridentinischen Zensurvorschriften gemacht hatten, durften in Spanien nicht ohne erhebliche Retuschen gedruckt werden. Der Übersetzer sagt deutlich, daß er unter dem Druck einer rigorosen Zensur gekürzt hat. Er fordert den Leser geradezu auf, das Original zum Vergleich heranzuziehen, ja es hegt ihm daran, auf die Schönheit der italienischen Novellen ganz allgemein hinzuweisen, ,,ya que hasta aora se ha usado poco en España este género de libros". Dieser Übersetzer ist ein Mann mit literarischem Fingerspitzengefühl und mit Liebe zur Sache. Historisch gesehen ist sein Vorwort das Praeludium zum Novellenprolog des Cervantes, dessen literarhistorische Behauptungen er im voraus bestätigt: ,,ηο solo avrà de aqui adelante quien por su gusto los traduzga — sagt Gaetán de Vozmediano über die italienischen und französischen Novellenbücher — pero será por ventura parte el ver que se estima esto tanto en los estrangeros, para que los naturales hagan lo que nunca han hecho, que es componer Novelas" (Orig. a. a. 0.). Kühner war es, die Piacevoli notti Giovan Francesco Straparolas da Caravaggio durch den Übersetzungstitel Primera y segunda parte del honesto y agradable entretenimiento de damas y galanes in exemplarischer Harmlosigkeit erscheinen zu lassen, wie es Francisco T r u c h a d o nach einigen moralisierenden Eingriffen tat. Auch dieser Übersetzer macht darauf aufmerksam, daß er nur einen verdünnten Aufguß des Originals liefern darf. Im Vorwort ,,A1 discreto y prudente lector", dem er die Kenntnis des italienischen Textes zutraut, bittet er sogar wegen der Änderungen um Verzeihung, ,,pues bien sabéis la diferencia que hay entre la libertad Italiana y la nuestra". Mit scheuem Seitenblick auf den Zensor fügt er hinzu : Wunsch des Bearbeiters sei es gewesen, ,,de acertar con la verdadera sentencia, y ponerlo en estilo más puro y casto que me fue posible, y que vos [ . . . ] cogiessedes délias sus morales y virtuosas flores, sin hacer caso de cosas que sólo sirven al gusto" (Orig. S. XXV). Einige cosas que sólo sirven al gusto waren eben doch mit durchgeschlüpft und hielten die Spanier nicht von der Lektüre dieses Buches ab, das mit drei Auflagen (Granada 1583, Madrid 1598, Madrid 1612) einen für eine Übersetzung ungewöhnlichen Erfolg erzielte. Uns will scheinen, daß nach solchen dokumentarischen Nachweisen das spanische Streben nach honestidad, nach estilo casto und nach sentencias und ejemplos nicht mehr ohne weiteres als echter Ausdruck von Autorengesinnung und Lesergeschmack aufgefaßt werden darf. Man lese nur die in den Fußnoten Menéndez y Pelayos abgedruckten Zensorengutachten zu Novellenübersetzungen. Man wird erkennen, daß keineswegs die Übersetzer von sich aus auf „cosas que 104
sólo sirven al gusto" Jagd machten, auf den „estilo más puro y casto" Wert legten, auf „sentencias" und Beispielhaftigkeit bestanden oder an den „maneras de hablar algo desenvueltas" der Franzosen und Italiener Anstoß nahmen. Man wird sich die Frage vorlegen, ob nicht die rigorose spanische Zensur ihr Teil Schuld daran hatte, daß damals „se ha usado poco en España este género de libros". Es wäre ein dankenswertes Unternehmen (dem wir uns hier nicht unterziehen können), durch systematische Vergleiche der Zensorengutachten mit den Prologen und Widmungsbriefen nachzuweisen, unter welchem Gesinnungszwang die Autoren und Übersetzer im damaligen Spanien arbeiteten, wie sie in ihren Einleitungen um die Gunst der kirchlichen Behörden buhlten, wie gelegentlich der Wortlaut der polizeilichen Druckerlaubnis mit dem des Prologs übereinstimmt, weil entweder der Zensor ein Auge zudrückte und sich einfach auf das Vorwort verließ, oder weil der Verfasser angesichts der rigorosen Streichungen des Zensors sich mit dessen gutachterischen Argumenten vor seinen Lesern zu entschuldigen versuchte. Das spanische ejemplo und das italienische novella sind unter derartigen Voraussetzungen nicht grundsätzlich synonym 1 ). Nur Unkenntnis der Sache kann angesichts der grundlegenden Unterschiede von italienischen novelle und spanischen ejemplos dazu verführen, von einer „gemeinromanischen Urform der Novellen" zu sprechen. Wenn schon die spanischen „Übersetzungen" und Redaktionen italienischer Novellen in Form, Sprache und Tendenz, also im gesamten Ausdruck, von den italienischen Vorbildern abweichen, wieviel stärker mußten es originale spanische Novellen tun! Wenn man dennoch für beide Arten der Erzählung die gleiche Bezeichnung (ital. novella, span, novela) verwendete, so beweist dies nur die Undefinierbarkeit und Vieldeutigkeit ihres Inhaltes und die Unmöglichkeit, ihr nachträglich eine Gattungsbedeutung unterzuschieben. Die Spanier des 16. und 17. Jahrhunderts waren sich dieser Unterschiede vollauf bewußt. Deshalb mußte das Wort novela — abgesehen von allen anderen, durch W. K r a u s s (a. a. 0.) nachgewiesenen Ursachen— mit der Zeit aufhören, ausschließlich eine Sache zu bezeichnen, mit der es aus Italien importiert worden war, die sich aber beim Import völlig verändert hatte. Die „libertad Italiana", die Truchado als Zeugin seiner unfreiwilligen chirurgischen Eingriffe aufruft (obwohl sie im Cinquecento schon stark unter Trient, Castiglione, Bembo und Aristotelismus litt) — diese Freiheit novellistischen Ausdrucks sollte es in Spanien, auch ohne Aristotelismus und ohne Bembo, nicht geben. Novellen brauchen Freiheit des Ausdrucks. Das Spanien des 16. Jahrhunderts gewährte sie noch nicht. Und das Italien des 16. Jahrhunderts verlor sie. Das Überwuchern der Rhetorikund Poetiktraditionen, der ciceronianischen Regeln, der castiglionischen Vorschriften, der Topoi und Formeln, des Imitationsgesetzes, der toskanischen Sprachhegemonie, der pontanianischen Witztheorie und des Rahmenschemas Hierzu W. Krauss a . a . O . S. 20: „wenn Antonio de Torquemada in den Coloquios satíricos sagt : Quiero deciros en breves palabras una novela, que quando niño me acuerdo que me contaron so kündigt er tatsächlich eine Nacherzählung Boccaccios an, die aber in der gedrängten spanischen Fassung ganz das Gesicht eines alten ejemplo annahm." — Zur Novellenzensur: V. C i a n a. a. O. (,,Cortegiano"-Edit.) S. 278 Fn. 57 sowie die dort zit. Arbeit Un episodio della storia della censura in Italia·, dazu unser Kap. II 5, S. 72 Fn. 1.
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erstickte Italiens Freude am Novellieren. Nicht zuletzt hat sogar Spanien, das immer stärker ins italienische Schicksal eingriff, diesen Vorgang beschleunigt: „Si esaurì — schreibt Croce in einem Aufsatz über die Novelle del Cinquecento (a. a. 0 . S. 410) — perchè le beffe e le farse e le facezie, che ne erano uno degli elementi, fiorite un tempo nella cerchia del comune e in una certa semplicità di costume popolano e borghese, non trovavano più rispondenza nella nuova società spagnolesca e monarchica e cortigiana, fastosa e tumida". Und doch wird Spanien Novellen hervorbringen, ganz andere Novellen als das Italien der Renaissance, Novellen von erstaunlicher Freiheit des Sujets, aber immer unter der magischen Formel des ejemplo. Welches auch immer die Ursache der zähen Existenz der Exemplatheorie im Spanien des 16. Jahrhunderts gewesen sein mag, ob Druck der Zensur oder Traditionsbewußtsein der Autoren, ob Frömmigkeit oder literarische Fiktion — sie war allgemein verbreitet und hatte neben den widerwilligen auch überzeugte und brave Anhänger. Einer von ihnen war der Portugiese Gonzalo F e r n á n d e s T r a n c o s o , der trotz stofflicher Abhängigkeit von den Italienern seine erstmals 1575 gedruckten Contos e historias de proveito e exemplo mit aufrichtig belehrender und moralisierender Tendenz vortrug. Einige seiner Geschichten gleichen frommen mittelalterlichen Exempeln, andere geben nützliche Ratschläge und Lehren für die Hauswirtschaft und für das moralisch einwandfreie Benehmen junger Mädchen und Ehefrauen. Trancoso ist ein Mann von feierlicher Humorlosigkeit und scholastischer Gravität. Sein Buch erscheint als ein verspätetes Seitenstück der durch Beispiele novellistisch aufgelockerten italienischen und französischen Damen- und Hauskatechismen des 14. Jahrhunderts, des Reggimento e Costumi di Donna und des Menagier de Paris. Mit vollem Recht wird der Inhalt im Titel einer Lissabonner Ausgabe von 1608 durch folgende Verse umrissen: Diversas Historias, et contos preciosos, Que Gonçalo Fernandez Trancoso ajuntou, De cousas que ouvio, aprendeo, et notou, Ditos et feytos, prudentes, graciosos : Os quaes com exemplos bôs et virtuosos, Ficäo en partes muy bem esmaltados : Prudente Lector, lidos, et notados, Creo acharéis que sam proveitosos. (Orig. I I S. LXXXIX.) Einige im 17. Jahrhundert erschienene Neuauflagen des volkstümlichen und langlebigen Werkes enthielten sogar — ohne daß dies sehr aus dem Rahmen fiel — eine Breve Recopilaçam da Doctrina dos Misterios mais importantes de nossa Sancta Fe, a quai todo o Christào he obrigado saber e crer com Fe explicita usw.1). Für die Geschichte der Theorie ist das Buch besonders durch seinen Titel und die zitierte Oktave wichtig, in denen offenbar zum erstenmal auf der iberischen Halbinsel zwischen historias und cuentos (= contos) unterschieden wird. Und zwar scheint bei Trancoso deutlich ausgedrückt, daß das Herz bei den contos und nur die Neugier bei den historias war; denn den etwas gleichgültig und kühl angei) Zum Ganzen: Orig. II, S. LXXXVII—XCVII. 106
kündigten „Diversas historias" stellt er die „contos preciosos" mit der liebevollen Unterstreichung gegenüber, daß es sich um „cousas que ouvio, aprendeo, et notou" handle; ja die aus dem Italienischen übertragenen Novellen, mit denen offenbar die „Diversas historias" gemeint sind, werden im Vorspruch geradezu isoliert und als Prunkfassade vorgeschoben. (Mit welchem Recht wir in den Historias gerade die Novellenbearbeitungen vermuten, wird noch darzulegen sein.) Bis ins späte 17. Jahrhundert hinein standen die Erzählungen der Portugiesen im Zeichen des „ejemplo moral en libros ascéticos ó de materia predicable" 1 ). Zur Entschädigung für eine fehlende Novellistik (im italienischen Sinn) gab es aber einen portugiesischen Novellentheoretiker, Francisco R o d r í g u e z L o b o , der im 11. und 12. Dialog seines Buches Corte na aidea e noites de inverno (1619) mit zwei ausdrücklich zu unterscheidenden Erzählungsarten bekannt macht: mit den contos populärer Art und den historias nach Art der toskanischen novelle. Kennzeichen der historias sind nach Lobo 2 ): „la buena descripción de las personas, relación de los acontecimientos, razón de los tiempos y lugares, y una plática por parte de algunas de las figuras que mueva más a compasión y piedad, que esto hace doblar después la alegría del buen suceso" (was Menéndez y Pelayo ais „todos los recursos patéticos y toda la elegancia retórica de Boccaccio y sus discípulos" interpretiert). „Esta diferencia me parece — so sagt Lobo weiter — que se debe hacer de los cuentos y de las historias, que aquéllas piden más palabras que éstos, y dan mayor lugar al ornato y concierto de las razones, llevándolas de manera que vayan aficionando el deseo de los oyentes, y los cuentos no quieren tanta retórica, porque lo principal en que consisten está en la gracia del que habla y en la que tiene de suyo la cosa que se cuenta". Natürlich hat Lobo den Novellenprolog des Cervantes gelesen und in seiner Theorie mitverarbeitet. Er kennt die Bemerkung über die zwei Arten der Erzählkunst im Coloquio de los ferros (BAE I S. 228, vgl. unser Kap. I I I 2). Er scheint sich auch an Trancoso anzuschließen, dessen Unterscheidung von „Diversas historias, et contos preciosos" er gleichsam erläutert. Auch Lobo interessieren die contos offenbar mehr als die historias; den contos widmet er eine ganze Theorie, sie unterteilt er zunächst in drei Gruppen: „unos fundados en descuidos y desatientos, otros en mera ignorancia, otros en engaño y sutileza", denen er eine Liste weiterer Gruppen wie „hurtos, engaños de guerra, otros de miedos, fantasmas, esfuerzo, libertad, desprecio, largueza y otros semejantes" folgen läßt. Diesem durch Beispiele illustrierten Katalog der cuentos schließt sich eine Liste der dichos galantes und ihrer Anwendungsarten an; dieser folgt wiederum der Vorschlag, aus „cuentos galantes, dichos graciosos y apodos risueños" einen neuen, besseren Alivio de Caminantes zu kompilieren. Auf den unverkennbaren Einfluß von Castigliones „Cortegiano" auf diese Kategorisierung hat schon Menéndez Pelayo (a. a. 0 . S. XCVIII) beiläufig hin!) Hierzu: Orig. II, S. XCVII. 2 ) Zitate nach Orig. II, S. XCVIIff. aus der kastilianischen Übersetzung Corte en aldea y noches de invierno de Fr. JRodr. Lobo von Juan Bautista de M orales, Valencia 1793 (Erstdruck 1622).
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gewiesen 1 ), um freilich mit besonderem Nachdruck die Bodenständigkeit der Auffassungen von Rodríguez Lobo zu betonen: „Aunque R. L. imita en cierto modo el plan de El Cortesano de Castiglione, donde también hay preceptos y modelos de cuentos y chistes, sus advertencias recaen, como se ve, sobre el cuento popular é indígena de su país, y prueban el mucho lugar que en nuestras costumbres peninsulares tenía este ingenioso deporte, aunque rara vez pasase á los libros". — So locker wie der spanische Gelehrte die Beziehung zur italienischen Theorie darstellen möchte, war sie aber nicht. Ein Vergleich macht die starke Verpflichtung von Rodríguez Lobo gegenüber dem „Cortegiano" sichtbar, die um so wichtiger erscheint, als wir gerade hier an einer Brücke stehen, über die Ciceros Lehrsatz von den zwei Gattungen der Kurzerzählung nach Spanien gelangt ist. Lobos Definition der historias (,,que a q u é l l a s p i d e n m á s p a l a b r a s que éstos, y dan mayor lugar al ornato y concierto de las r a z o n e s , llevándolas de •manera que vayan aficionando el deseo de los oyentes") entspricht ziemlich genau der Formel („Cortegiano", Libro Secondo, X L I I I 9—13): „delle quai l ' u n a s ' e s t e n d e n e l r a g i o n a r l u n g o e c o n t i n u a t o ; come si vede di alcun'omini, che [ . . . ] così piacevolmente narrano ed esprimono una cosa [. . . ] che la mettono inanzi agli occhi, e quasi la fan toccar con mano" (unsere Markierungen). Lobos cuentos-Formel hingegen („los ,cuentos' no quieren tanta retórica, porque lo principal en que consisten está e n l a g r a c i a d e l q u e h a b l a y en l a q u e t i e n e d e s u y o la cosa que se cuenta") findet ihre Entsprechung in folgenden Klauseln Castigliones (a. a. 0 . 19—21): „Dico adunque che nel primo modo, che è quella festiva narrazione, non è bisogno arte alcuna, perché la n a t u r a m e d e s i m a c r e a e f o r m a gli o m i n i a t t i a n a r r a r e piacevolmente" und vorher (ebda. 10): „omini che c o n t a n t a b o n a g r a z i a e così piacevolmente narrano ed esprimono u n a c o s a c h e s i a l o r o i n t e r v e n u t a , o veduta o udita l'abbiano" (Unsere Markierungen). Bemerkenswert ist dabei, daß Castigliones Beschreibung einer und derselben (nämlich der längeren) Erzählart beide Formeln Lobos ent1
) Auch an Paraboscos Diporti (1550) klingen sie an, deren Einfluß sich in der Widmung an Don Juan de Austria zu zeigen scheint, die Melchor de Santa Cruz 1574 seiner Floresta Española de apotegmas y sentencias voranschickte. Auszug in Orig. II, S. LXVff. — Wenn S a n t a Cruz von „primor y elegancia del buen decir" und von einem angeblichen Gesetz einer toledanischen Sprachhegemonie im Kastilianischen spricht (Menéndez y Pelayo nennt diese, auch von anderen Autoren der Zeit aufgestellte, durch nichts erwiesene Behauptung eine „fantástica ley"), so ist das offenbar Nachahmung der ital. Novellentheorien vom ,,bel parlar gentile" und von der Hegemonie des ,,florentin volgare". An Topoi ital. Novellenprologe {Distelfeld, Garten, Salatkorb, Blumenstrauß), also an Boccaccio, Sermini, Novelle Antiche usw., schließt sich auch das Gedicht an, mit dem Santa Cruz seine, nicht nur ejemplos und moralische Lehren enthaltende „Floresta" witzig und graziös eröffnet: De aquesta Floresta, discreto lector, Donde hay tanta copia de rosas y flores, De mucha virtud, olor y colores, Escoja el que es sabio de aquí lo mejor. Las de linda vista y de buen saber Sirvan de salsa á las virtuosas, Y no de manjar, si fueran viciosas, Pues para esto lae sembró el autor.
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stammen. Auf Castigliones ausgedehnte Fazetienart ( = die Novellendefinition) gehen Lobos historia- und cuento-Formel zurück, während Castigliones mottiFormel in Lobos Untergliederungen eingeht. Seine Unterteilung des cuento („Son estos cuentos de tres maneras: unos fundados en descuidos y desatientos, otros en mera ignorancia, otros en engaño y sutileza. Los primeros y segundos tienen más gracia y provocan más á risa y constan de menos razones, porque solamente se cuenta el caso, diciendo el cortesano [ !] con gracia propia los yerros ajenos. [ . . . ] " ; „Orig." a. a. 0.) findet eine recht genaue Entsprechung im „Cortegiano" (LI 1—6): „Induce ancor molto a ridere [ . . . ] il recitar con bona grazia alcuni difetti d'altri [ . . . ] come le sciocchezze talor semplici, talor accompagnate da un poco di pazzia pronta o mordace ; medesimamente certe affettazioni estreme ; talor una grande e ben composta bugia". (Unsere Markierungen). Entscheidend bei diesen Vergleichen, auf deren Fortführung wir verzichten, ist die Erkenntnis, daß die These einer nicht literarisch, sondern mündlich geübten und überlieferten Erzählkunst ausschließlich spanisch-portugiesischer Provenienz, die Theorie des Erzählens „con gracia propia" von Selbstgehörtem, -gesehenem oder -erlebtem (die in der iberischen Literatur von Trancoso über Rodríguez Lobo und Cervantes bis in die jüngste Literaturwissenschaft hinein begegnet) aus Castigliones „Cortegiano" stammt, der seit 1534 (Barcelona) in der berühmten Übersetzung Β o sc ans vorlag. Die Formel des Erzählens ,,con buena gracia" ( = con tanta bona grazia) hat sich — wie bei Cervantes zu zeigen sein wird — mit der These des Italieners fortgeerbt; wo immer diese Formel im 16. und 17. Jh. begegnet, ist Einwirkung von Castiglione-Pontanus-Cicero mit Bestimmtheit anzunehmen. (Wir zweifeln damit nicht die Existenz echter spanischer cuentos, Märchen, Volkserzählungen u. dergl. an, sondern nur den Anspruch, daß die mündliche Überlieferung solcher Dinge einer spezifisch iberischen Massenbegabung zu danken sei. Wie sollten denn „unbegabtere" Völker ihre Märchen tradiert haben?) Dieser seit dem 16. Jh. (d.h. seit dem Bekanntwerden des „Cortegiano") in Spanien auftretende Glaube an das Überwiegen einer bodenständigen mündlichen Erzähltradition — und hier stehen wir wieder vor dem Phänomen der Antinomie ! —· hat die Autoren doch nicht gehindert, angebliche cuentos ( = ungeschriebene Volkserzählungen) mit literarischer Kunst auszustatten, ohne Rücksicht auf die vermeintliche außerliterarische Tradition aufzuschreiben und in hochliterarische Werke einzufügen. Nein, dieser Glaube ist nur ein literarischer Vorwand, der sehr willkommen war, um den Lesern glaubhaft zu machen, daß nicht der Dichter, nicht Cervantes, der sich des Kunstgriffs so gern bediente, die cuentos seinen Roman- und Novellenfiguren in den Mund legte, sondern daß in Wirklichkeit und schon vor langer Zeit jeder Mensch in Spanien und Portugal so wunderbar und „con buena gracia" erzählte, wenn sich die Gelegenheit bot, daß also der Dichter nur nach dem Leben die Wahrheit und wahre Begebenheiten erzählte. Jedenfalls ist dieses „improvisierende" Erzählen der Protagonisten bei Cervantes und anderen durchaus kein kulturgeschichtlicher Beleg für die Existenz einer Volksbegabimg, sondern genau so Fiktion wie das Novellieren im Decameron. Der Unterschied liegt nur darin, daß Boccaccio und seine Nacheiferer die Erzählbegabung einer gehobenen Gesellschaftsschicht an109
dichteten, Cervantes und seine Vorläufer aber auch dem Mann aus demVolk. Im Don Quijote begegnet hie und da die castiglionische Formel des mündlichen Vortrage von Erzählungen „con bona grazia". Don Quijote unterbricht z. B. die Erzählung eines Burschen über das Ende des in Marcela verliebten Grisóstomo (I, XIII): „Así es la verdad, dijo Don Quijote, y proseguid adelante, que el cuento es muy bueno, y vos, buen Pedro, le contáis con muy buena gracia" (Edit. R. A. E. Madrid 41819, I S. 105). Und am Ende bedankt sich der Ritter: „y agradezcoos el gusto que me habéis dado con la narración de tan sabroso cuento" (ebda. S. 108). Wie aber die graue cuento-Theorie von der uralten Erzählbegabung des Volks unter der Hand des Dichters zerrinnt, beweist das köstliche Gespräch Don Quijotes mit Sancho beim Walkmühlenabenteuer (I, XX) : „Dljole Don Quijote que contase algún cuento para entretenerle, como se lo había prometido; a lo que Sancho dijo que sí hiciera, si le dejara el temor de lo que oía; pero con todo eso yo me esforzaré en decir una historia, que si la acierto a contar y no me van a la mano, es la mejor de las historias, y estéme vuestra merced atento, que ya comienzo" (ebda. S. 206). Cervantes bezweifelt schon im voraus, daß Sancho in der Lage sein wird, die Geschichte zusammenhängend und fesselnd zu erzählen; darum läßt er Sancho mit ,,me esforzaré" und „si la acierto a contar" vorbeugen. Tatsächlich kommt die Erzählung stockend und mit Wiederholungen längst gesagter Dinge heraus, so daß der Zuhörer, im Genuß des cuento gestört, sein Mißfallen äußert. Die Vorwürfe beantwortet Sancho mit dem Bekenntnis (das natürlich das ironische Urteil des Dichters über die cuento-Theorie darstellt), daß eben in seiner Heimat nicht anders erzählt wird : „De la misma manera que yo las cuento, respondió Sancho, se cuentan en mi tierra todas las consejas, y yo no sé contarlo de otra, ni es bien que vuestra merced me pida que haga usos nuevos" (ebda. S. 207). Die „usos nuevos" bedeuten die theoretischen Ansprüche; im wegwerfenden Sinn des letzten Satzes, besonders aber von „nuevos", äußert sich der Grimm des Bauern über Zumutungen aus der Sphäre des vornehmen Herrn (Castigliones Erzähldoktrin war für den Salon geschrieben), die, auf den Bauer übertragen, lächerlich sind. Das Hirngespinst von der „buena gracia" des Erzählens kann nur ein Don Quijote einem einfachen Mann zumuten; Sancho aber weiß, wie das Volk wirklich erzählt. Und so spiegelt dieser Dialog die unmißverständliche Meinung des Dichters über die in Spanien zur cuento-Theorie umgemodelte italienische Novellendoktrin. Sollten, da die Spanier sich ihrer „Begabung" erst im 16. Jh. zu „erinnern" begannen, Castiglione-Pontanus-Cicero weder römische, noch italienische, sondern eindeutig spanische Verhältnisse ihren Theorien zugrunde gelegt haben? Nein, die römisch-italienische Doktrin wurde von spanisch-portugiesischen Autoren so gut mit heimatlichem Kolorit geschmückt, daß sie faszinierte. Niemand bemerkte, daß schon Trancoso in den Contos e historias von 1575 mit der Oktave über die „contos preciosos, Que Gonçalo Fernandes Trancoso ajuntou, De cousas que 110
ouvio, aprendeo, et notou" auf Castigliones Theorie von den Leuten, „che con t a n t a bona grazia e così piacevolmente narrano ed esprimono una cosa che sia loro intervenuta, o veduta o udita l'abbiano" (XLIII) zuriickgriff. Wenn also Menéndez Pelayo meinte, daß die Ausführungen von Rodríguez Lobo „recaen, como se ve, sobre el cuento popular e indígena de su país, y prueban el mucho lugar que en nuestras costumbres peninsulares tenía este ingenioso deporte, aunque rara vez pasase a los libros" — so ließ er sich, wenigstens an dieser Stelle seines Werks, durch die Theorie von seinen eigenen Wissenschaft" liehen Erkenntnissen ablenken. Beginnt doch das gleiche Kapitel, das diesen Satz enthält, das große, grundlegende Kapitel I X der „Orígenes" über die „Cuentos y novelas cortas" mit den Worten: „Los orígenes más remotos del cuento ó novela corta en la literatura española hay que buscarlos en la Disciplina Clericalis, de Pedro Alfonso, y en los libros de apólogos y narraciones orientales traducidos e imitados en los siglos X I I I y XIV. Más independiente el género, con grande y verdadera originalidad en el estilo y en la intención moral, se muestra en El Conde Lucanor, y episódicamente en algunos libros de Ramón Lull y en la Disputa del asno, de Fr. Anselmo de Turmeda." Doch unbeirrt durch die Vielfalt der Regeln, Gesetze und rhetorischen Traditionen, die das Jahrhundert Bembos reaktivierte, hält die Mehrzahl der spanischen Nacherzähler, wenigstens in Titeln und Vorworten, an der moralisierenden Tendenz als wichtigster Richtschnur fest. Eine gelegentlich durchschlüpfende Pikanterie, wie sie sich Sebastian M e y in seinem Fabulario en que se contienen fabulas y cuentos diferentes, algunos nueuos y parte sacados de otros autores (Valencia 1613) erlaubte, beeinträchtigt kaum den nach außen hin bewahrten Gesamteindruck der didaktischen Beispielhaftigkeit der spanischen Novellen. Mey beruft sich in seinem Prolog (Orig. I I S. XCIX En. 2) auf „lo que ordena Platon en su República, encargando que las madres y amas no cuenten a los niños patrañas ni cuentos que no sean honestos". Fabeln bevorzugt er, „porque a mas de entretenimiento tienen dotrina saludable". Ganz platonisch gibt er als Zweck seines Buches an: „aprovechar con él a la república". Auf dem Altar der „dotrina saludable", in der er sich möglicherweise an Giraldi Cinthios Rahmendialoge anlehnt, brachte Mey sein zweifellos vorhandenes satirisches Erzählertalent zum Opfer — ein Verlust für die Dichtung, den Menéndez y Pelayo (a. a. O. S. CXIII) bei aller Ehrerbietung für die Exemplatradition beklagt. Mey wäre ein ausgezeichneter Novellensatiriker geworden — meint er — „si no hubiese encerrado constantemente su actividad en un cauce t a n estrecho como el de la fábula y el proverbio moral. Su intención pedagógica no podía ser más honrada y cristiana [ . . . ] ; pero es lástima que no hubiese tenido más ambición en cuanto á la extensión y forma de sus narraciones y al desarrollo de la psicología de sus personajes". Solche Beispielnovellistik konnte leicht in ein Handbuch der guten Sitten eingehen, wie es in der spanischen Bearbeitung von Giovanni della Casas „Galateo" geschah. Der Galateo Español (1599) von Lucas G r a c i á n D a n t i s c o gab pädagogische Anweisungen zum Gebrauch der eingestreuten „novelas y cuentos". Freilich lebte in der relativen Großzügigkeit seiner Ratschläge wie in den ästhetischen Forderungen, die er erhebt, etwas vom Geist der italienischen Renaissance. 111
Dantisco verbietet nicht ausdrücklich die Erzählung des Anstößigen, sondern nur die anstößige Art des Erzählens ; denn mit geschickten Wendungen kann und darf man alles ausdrücken: „procure el gentil hombre que se pone á contar algún cuento ó fábula, que sea tal que no tenga palabras desonestas, ni cosas suzias, ni tan puercas que puedan causar asco á quien le oye, pues se pueden decir por rodeos y términos limpios y honestos, sin nombrar claramente cosas semejantes; especialmente si en el auditorio hubiesse mugeres, porque allí se debe tener más tiento, y ser la maraña de tal cuento clara, y con tal artificio que vaya cevando el gusto hasta que con el remate y paradero de la novela queden satisfechos sin duda". Die dichterische Freiheit ist auch unter schwierigen Voraussetzungen noch gewahrt, wenn man die „rodeos" kennt und spricht ,,sin nombrar claramente cosas semejantes". Im Vordergrund des Interesses steht nicht die Beispielhaftigkeit, sondern die Unterhaltung, denn „tales pueden ser las novelas y cuentos que allende del entretenimiento y gusto, saquen délias buenos ejemplos y moralidades; como hazian los antiguos fabuladores, que tan artificiosamente hablaron (como leemos en sus obras), y á su imitación deve procurar el que cuenta las fábulas y consejas, o otro qualquier razonameniento, de yr hablando sin repetir muchas vezes una misma palabra sin necesidad (que es lo que llaman bordon) y mientras pudiere no confundir los oyentes, ni trabajalles la memoria, excusando toda escuridad, especialmente de muchos nombres" (Orig. II. S. CXXXIX). Beispiele und Moralitäten sind hier Begleiterscheinungen, nicht alleiniger Sinn und Zweck des Erzählens. Dagegen melden ästhetische Kriterien ihren Anspruch an: imitatio, gepflegter Stil, Vermeidung der Eintönigkeit und Schwerfälligkeit, der Wiederholungen, der verwirrenden Tatsachenfülle, der Überanstrengung des Gedächtnisses, der Unverständlichkeit, der Namenhäufung. Es ist ein liberaler Versuch, italienische mit spanischen Tendenzen zu versöhnen. Die von Menéndez y Pelayo in diesem Zusammenhang aufgestellte Hypothese aber, die Anstandsregeln Gracián Dantiscos legten hinreichendes Zeugnis dafür ab, daß in Tertulias des 16. Jahrhunderts das Novellieren, das „Reihumerzählen" von Novellen „era ya cosa corriente" — diese Konjektur bedürfte noch der schlüssigen Beweise. Denn Dantiscos Empfehlung, daß jeder, der eine Geschichte erzählt habe, auch wenn er noch so viele andere wisse und man ihm gern zuhöre, Gelegenheit geben solle, „que cada quai diga la suya", beweist doch höchstens, daß es einzelne, im Anekdoten- und Geschichtenerzählen nie ermüdende, besonders begabte und deswegen beliebte Individuen gab, die manchmal des Guten ein wenig zu viel taten und keinen Schluß finden konnten; aber durchaus nicht, daß „cada quai" imstande gewesen wäre, auch nur eine Geschichte im Zusammenhang vorzutragen. Aus dieser Anstandsregel eines noch dazu der italienischen theoretischen und Erziehungs-Literatur entnommenen Buches einen Beweis für die Gepflogenheit des „Reihumerzählens" im Spanien des 16. Jahrhunderts herzuleiten, ist ebenso gewagt wie der oben erwähnte Rückschluß von den Thesen Lobos (und Castigliones) auf die Vorherrschaft ungeschriebener cuentos. Gracián Dantiscos auf die „rodeos y términos limpios" bezügliche Emp112
fehlungen erleichtern das Verständnis der eigenartigen Sonderstellung aller der Exemplatradition folgenden spanischen Erzählungen. Die Strenge, mit der die Zensoren bzw. Übersetzer in Bearbeitungen italienischer oder französischer Erzählungen auf moralische Sauberkeit hielten, steht in auffallendem Gegensatz zu der stofflichen Freiheit, die zur gleichen Zeit etwa in den Fortsetzungen und Nachahmungen der Celestina herrschte. Wenn B. C. A r i b a u in der „Advertencia" zum dritten Band der Biblioteca de Autores Españoles (Novelistas anteriores â Cervantes) über die Lektüre der im 16. Jahrhundert entstandenen CeZestáwa-Bearbeitungen urteilt: „nos sentimos tan empalagados de tanta prostitución y tercería que tememos sucediera lo mismo á la mayor parte de nuestros lectores" (S. Y), und wenn er deshalb auf den Abdruck dieser Denkmäler verzichtet, so erscheint es zunächst erstaunlich, daß derartige Erzeugnisse im 16. Jahrhundert neben den moralisierenden Exempeln überhaupt geduldet wurden. Der Schlüssel zum Verständnis der Erscheinung liegt darin, daß Ejemplos und Geschichten, die exemplarische Belehrung versprachen, die sich damit an einen bestimmten Leserkreis und an die Jugend zu wenden schienen, strenge Beurteilung geradezu herausforderten, während die Celestina und ihre Fortsetzungen sich — obgleich sie gleichfalls Erzählungen waren — als „tragicomedias" oder „comedias" auf eine andere Tradition beriefen und sich im Gelächter Eselsfreiheit erkauften. Entscheidend für die zensorische Beurteilung war weniger das Sujet als die Aufmachung. Aber auch innerhalb der Exemplatradition gab es Ausweichmöglichkeiten. Offenbar richtete sich dort die strenge Zensur in erster Linie auf die Sprache. Für Vozmediano war das entscheidende Kriterium die „lengua honesta" ; Truchado sprach vom „estilo más puro y casto"; man distanzierte sich von den „maneras de hablar algo desenvueltas" der Nachbarvölker; Dantisco spricht ganz offen von „rodeos", vom Erzählen unter Vermeidung der „palabras deshonestas", von den Künsten eines Ausdrucks „sin nombrar claramente cosas semejantes". Von der Möglichkeit, „cosas que sólo sirven al gusto" und „cosas semejantes" (d. h. Erotisches und Anzügliches) novellistisch darzustellen, hatten denn auch einige Autoren des 16. Jahrhunderts Gebrauch gemacht. Hier sei nur Juan de T i m o n e d a genannt 1 ), der freilich auf die Tarnung durch das ejemplo verzichtete. El Patrañuelo (BAE. I I I S. 129ff.) ( = die Lügensammlung) verspricht im Untertitel : Las Patrañas de Juan de Timoneda, en las cuales se tratan admirables cuentos, graciosas marañas, y delicadas invenciones para saber contar el sabio y
discreto relatador, also Aufschneidereien, erstaunliche Geschichten, komische Verwicklungen und spitzfindige Einfälle zum Weitererzählen. In einer einleitenden „Epistola al amantissimo lector", womit offenbar nicht die Schuljugend oder fromme Jungfrauen gemeint sind, wird nur „algun pasatiempo y recreo humano" in Aussicht gestellt, wird vor der Annahme, daß es sich um wahre Begebenheiten handele, gewarnt („porque Patrañuelo se deriva de patraña, y patraña no es otra cosa sino una fùlgida traza tan lindamente amplificada y compuesta, que paresce 1
) Im Gegensatz zur moralischen und didaktischen Tendenz stand im 17. Jahrh. auch Gaspar L u c a s H i d a l g o mit den Diálogos de apacible entretenimiento. Man vgl. Orig. II, S. CXVIIff. 8
Novellentheorie
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que trae alguna apariencia de verdad"), wird schließlich als spanisches Aequivalent der toskanischen novella nicht das ejemplo sondern die patraña, hingestellt („semejantes marañas las intitula mi lengua natural valenciana Rondalles, y la toscana Novelas", was auf Castigliones bugía-These anzuspielen scheint; vgl. unser Kap. I I 7) mit einer burlesken Etymologie, die die Spaßhaftigkeit des Unternehmens beleuchtet („Novelas, que quiere decir: tú, trabajador, pues no velas, yo te desvelaré con algunos graciosos y asesados cuentos"). Wer aus der undefinierbaren Formenvielfalt und Grenzenlosigkeit der italienischen Novellen auf das Experimentierfeld der spanischen Erzählungen des 16. Jahrhunderts tritt, erschrickt zunächst vor den einengenden Synonymen, mit denen man hier das unübersetzbare novella wiederzugeben versucht. Es ist ein philologisches Wagnis, diese terminologischen Paradoxen überhaupt als Synonyma zu bewerben. Wenn Timoneda, mit dem von seinen Zeitgenossen bevorzugten Übersetzungsversuch ejemplo offenbar unzufrieden, durch patraña den Akzent aus dem Belehrenden genau ins Gegenteil, nämlich ins Burleske verschiebt, so engt er doch den Inhalt von novella damit nicht weniger ein. E r näherte sich zwar der cinquecentistischen Theorie der „piacevolezza", der auf das Spaßhafte festgelegten Novelle, mit der sich ein ernster Rahmen nicht vertragen sollte, aber der durch das italienische Wort umspannten Weite der Vorstellungen und Assoziationen blieb er fern. Für Spanien war sein Einfall, das erbauliche Exemplarische durch die freche, dick aufgetragene Lüge zu ersetzen, originell. Aber, an den italienischen Verhältnissen gemessen, war das nur die Übernahme eines Lehrsatzes, und mit den im Patrañuelo tatsächlich enthaltenen Geschichten verglichen, war es nur eine andere Form der Prologhypokrisie. Denn so wenig alle ejemplos wirkliche Belehrung und moralischen Nutzen boten, so wenig waren alle patrañas kurzweilige Lügengeschichten. Schon das zweite Stück ist eine Redaktion von Boccaccios „Griseldis"; nach spanischer Übersetzertradition also ein reines Exempel ; das siebente Stück ist das Beispiel der Duquesa de la Rosa, die „Siendo sin culpa culpada, Por justicia fué librada, Dándola por virtuosa", also die Geschichte eines Tugendsieges; das einundzwanzigste ist die erbauliche Geschichte der Königin Geroncia, die „por ser E n bondad fértil, benina, Vino á pobre peregrina; Después tornó en su poder". Demnach ist patraña gegebenenfalls synonym mit ejemplo, denn auch das Tugendbeispiel kann erfunden und kurzweilig sein. Aber nicht überall trifft dies zu, und die Divergenz der Übersetzungsversuche ejemplo und patraña beweist nur, daß weder der eine noch der andere die ideale Lösung war, und daß die Autoren je nach Geschmack ihre Darbietungen so oder so maskierten. Offenbar bedurfte das fremd klingende novela (oder in der italianisierenden Schreibung: novella) im 16. Jahrhundert noch der kommentierenden Einführung in Untertiteln und Prologen. Aber trotz aller Hispanisierungsversuche sollte es doch nicht gelingen, die Sache, die es bezeichnete, wirklich nach Spanien zu verpflanzen. Spanien ist eine andere Welt mit anderen sozialen und politischen Verhältnissen, mit anderen Sitten und anderen literarästhetischen Traditionen, vor allem aber mit anderen Menschen. Und Novellen spiegeln das konkrete Einzeldasein, das Einzelwesen in seiner nächsten Umgebung. Eine echte spanische Erzählung, 114
mochte sie nun als ejemplo oder patraña oder novela oder wie sonst immer auftreten, sah anders aus als eine italienische novella. Es gab in Spanien keine Sache und keine Vorstellung und keine Tradition, die einer novella genau entsprochen hätte. Es gab aber die Tradition des Exempels; die Tradition der frei erfundenen, nur auf Imagination beruhenden Geschichte (der patraña) im Ritterroman; die Tradition des cuento, des Märchens, das aus dem Bereich des Unwahrscheinlichen Belehrung bot; die Tradition des zwischen Mimus und Erzählung schweifenden Dialogs, der nicht zur Aufführung bestimmten tragicomedia oder comedia. Lauter Nachbarbereiche der italienischen Novellen, aber kein genaues Äquivalent. Der Augenblick der Begegnung der italienischen Erzeugnisse mit den spanischen Ausdrucksgepflogenheiten ist von höchstem literarhistorischem Interesse und Reiz. Das Zaudern, das ihrer beiderseitigen Befruchtung vorausgeht, dauert nicht weniger als zwei Jahrhunderte, von Bernat Metges „Griseldis"-Bearbeitung bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Was bleibt angesichts der Begegnung solcher Formenvielfalt — der italienischen novelle, die Schwank, Belehrung, beffa, facezia, Anekdote, Stegreiferzählung, heitere, traurige, burleske und obszöne Liebesaffären, Scharfsinnsproben, Zoten und erschütternde Fiktion umschließen, und der spanischen cuentos, patrañas, comedias, diálogos, ejemplos, consejas und historias — was bleibt angesichts des faszinierenden Spiels ihrer Namenvertauschung und Tarnung, ihrer offenkundigen Affinität, aber auch unleugbaren Selbstbehauptung, von der hypothetischen „gemeinromanischen Urform der Novelle" übrig? Hätte diese „Urform", hätte die „Novelle" als Gattung existiert, wäre dann das zweihundertjährige Experiment um die Vermählung italienischer mit spanischer Erzählweise erforderlich gewesen, bis endlich einem Genie im Jahre 1613 die einmalige, nie wiederholte Lösung der Aufgabe gelang ? — Darüber hinaus blieb Spanien von dem ganzen Geschehnis nur ein Wort, aber mit bald verändertem Gehalt: Novela.1) 2. C e r v a n t e s : M ä r c h e n i m R a h m e n d e r E r n ü c h t e r u n g Buenaventura Carlos A r i b a u , der verdienstvolle Schöpfer der bis heute unübertroffenen „Biblioteca de Autores Españoles" (Madrid, Rivadeneyra, 1849ff.), meint in der Vida de Miguel de Cervantes Saavedra, die er dem ersten Band dieser Sammlung voranstellt, der Dichter sei im Irrtum gewesen („no estaba en lo cierto", S. XXVIII), als er das Coloquio de los perros, das „Gespräch zwischen Cipion und Berganza, den Hunden des Auferstehungs-Hospitals", als Schlußstück der Novelas ejemplares dem Sammelbegriff „Novelle" unterstellte. Aribaus 1
) Die Arbeit von Mariano B a q u e r o G o y a n e s , El Cuento español en el Siglo XIX, R F E Anejo L, Madrid 1949 (701 S.), die in Cap. I den Terminus „cuento" und in Cap. II die Gattung „cuento" behandelt, wurde erst nach Fertigsteilling vorliegender Untersuchung zugänglich; sie kann zur Aufhellung der hier behandelten Fragen nichts beitragen, da sie gerade in den Anfangskapiteln Anhäufungen grober Fehler enthält, die die Inkompetenz des Verf. beweisen. Man vergleiche uns. Glosse in R J b IV (1951), S. 473 ñ. : Premio „Menéndez Pelayo" 1948. 8·
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Äußerung ist typisch für die Auffassung jener wissenschaftlichen Theoretiker, die nicht nur mit nachträglich konstruierten Gattungsbegriffen Urteile zu bilden hoffen, sondern den Autoren vorwerfen, diese Abstraktionen des logischen Erkennens nicht beachtet oder — schlimmer! — falsch angewandt zu haben 1 ). Immerhin räumte der spanische Gelehrte ein, was die modernen Verfechter des Gattungsbegriffs und der hypothetischen „romanischen Urform der N o v e l l e " nicht ohne weiteres zugeben dürften : daß mit den Novellen des Cervantes weder die Werke früherer Novellisten noch die Nachahmungsversuche seiner Nachfolger zu vergleichen sind: „Cervantes dió á la novela una nueva forma y dirección, que no acertaron á conservar y seguir los imitadores que le sucedieron" (a. a. O.). Die Frage, ob Cervantes den richtigen Terminus wählte, als er seine im Jahre 1613 erschienenen zwölf Erzählungen Novelas ejemplares betitelte, geht von der irrigen Voraussetzung aus, als ob es vor oder um 1613 in Spanien einen fest umrissenen Begriff novela gegeben hätte. Das war aber nicht der Fall. W i e immer das Wort in den spanischen Wortschatz eingedrungen sein mag — vieles deutet auf Entlehnung aus dem Italienischen hin — im 15. und im 17. Jahrhundert war es für die Spanier nachweislich kein literarischer Gattungsname, sondern damals bezeichnete es in abschätzigem Sinne „die Lockung einer gehaltlosen Lektüre" 2 ). Freilich wurde im 16. Jahrhundert durch den Massenimport italienischer Novellen die abwertende Bedeutung zurückgedrängt. Aber die großartige Vielfalt und Unterschiedlichkeit dieser ausländischen Erzeugnisse, die trotz energischer Eingriffe der geistlichen Zensur spürbar blieb, ließ keine für die Entstehung eines engen Gattungsbegriffs erforderlichen präzisen Vorstellungen aufkommen. Dieses Faktum drückt sich nicht zuletzt in der Bemühung der spanischen Bearbeiter aus, den italienischen Erzählungen durch Namengebungen wie ejemplos (Beispiele), consejas (Märchen), historias (Begebenheiten), patrañas (Erfindungen), cuentos (Märchen, Klatschgeschichten, Schnurren, Schwanke, Geschwätz) entweder Plätze in verschiedenen Bezirken spanischer Erzähltradition anzuweisen oder das exotisch anmutende novela (in einigen Ausgaben der Decameron-ÜbeTsetzung auch italianisierend novella geschrieben) seinem bunten Inhalt gemäß verschiedenartig zu deuten. Unter solchen Umständen darf Cervantes nicht vorgeworfen werden, er habe den Terminus im Fall des Coloquio de los perros irrtümlich gebraucht. Die spanische Vokabel glich damals einem leeren Behälter, den jeder mit beliebigem Inhalt füllen konnte. Dem einen war sie ein wegwerfender Ausdruck für literarischen Schund ( N e b r i j a 1492; G r a c i á n 1653); dem andern bedeutete sie fremdländische, für spanische Verhältnisse reichlich rhetorische und prezióse Ware ( L o b o 1619); dem dritten erschien sie als nachahmenswerte, in Spanien leider noch verkannte köstliche Kunst ( V o z m e d i a n o 1590). Wenn Cervantes sich dieses Ausdrucks ohne Sinnkraft annahm, so brauchte er kaum auf irgendwelche Begriffsabgrenzung Rücksicht zu nehmen, es sei denn auf die lose Verx)
Auch in der Historia de la Literatura Española von H u r t a d o - P a l e n c i a , Madrid s1943, S. 483, werden El Licenciado Vidriera und das Coloquio de los perros als „dos obras extrañas, que propiamente no son novelas" bezeichnet. 2 ) W . Krauss a. a. O. S. 19.
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bindung, die das Wort mit der Kunst des Erzählens unterhielt. Ob es eine bestimmte Sorte von Erzählungen meinte, hätte man in einem Land und in einem Zeitalter, die der Vokabel so viele Inhalte liehen, vergeblich gefragt. Das cervantinische „Novelas" entspricht weder dem italienischen „novelle", noch dem durch Definitionsversuche divergentester Art eingeengten Abstraktum „Novelle" der modernen, vorwiegend deutschen Dogmatiker. Wer sich mit den Novelas ejemplares beschäftigt, kommt mit den Vokabelerläuterungen der Wörterbücher und Reallexika nicht aus. Diese zwölf Geschichten entsprechen keiner allgemeinen Formdefinition, zumal mit gewaltsamen Vereinfachungen, wie es die Definitionen sind, wenig für die ästhetische Beurteilung oder das Verständnis von Kunstwerken gewonnen wird. Man kann auch nicht von „der cervantinischen Novelle" sprechen, sondern nur von den Novellen des Cervantes. Man mag eine einzelne von ihnen analysieren, mag daraus Erkenntnisse für das tiefere Verständnis auch dieser oder jener anderen gewinnen; aber man hat damit nicht alle zwölf, geschweige denn die nicht zu dieser Sammlung gehörigen Novellen des Dichters interpretiert. — Dabei bedarf es keines Kommentars, um die Novelas ejemplares überhaupt zu verstehen. Jeder aufgeschlossene Leser kann sie heute noch genießen. Aber er wird sich manchmal wundern und den Kopf schütteln, über das merkwürdige Verhalten der Personen, über die unglaubwürdige UnPsychologie, die großzügige Vergeßlichkeit, die Widersprüchlichkeit des Seins und Handelns in dieser einmal komischen, einmal teuflischen, einmal poetischen, einmal verkehrten Welt. Die Novelas ejemplares sind ein Irrgarten. Haben sie aber nicht zum mindesten eine gemeinsame Eigenschaft ? Nennt der Dichter sie nicht mit bestimmter Absicht Novelas ejemplares, exemplarische Novellen, beispielgebende oder Musternovellen oder wie das geheimnisvolle Epitheton immer übersetzt werden mag? Das Attribut und die Aufreihung der zwölf Geschichten in einer Sammlung sind gewiß Zeichen der Zusammengehörigkeit und einer ausdrücklich unterstrichenen künstlerischen Absicht. So ist es in der Tat. Aber das Wichtigste ist die Koordinierung, die der Deutung bedarf, und nicht das Beiwort „exemplarisch". Es hieße offene Türen einrennen, wollte man heute noch beweisen, daß diese Geschichten gar nicht exemplarisch sind in dem Sinn, den das Adjektiv aus einer jahrhundertealten spanischen Tradition herleitete. Von den lateinischen Exempeln in der um 1110 entstandenen Disciplina Clericalis des Petrus Alfonsi, über die Castigos y Documentos {— Belehrungen und Unterweisungen) Sanchos IV. (1292), von Juan Manuels Libro de los enxemplos del Conde Lucanor et de Patronio (gegen 1348), über die katalanische Sammlung Ricull de exemplis e miracles (1489), bis zu den Coritos e historias de proveito e exemplo (1575) des Portugiesen Gonzalo Fernándes Trancoso und der kastilianischen Überarbeitung der Historias trágicos exemplares des Italieners Bandello ist eines der häufigsten Kennworte der Erzählungen: exemplo oder ejemplar. Bis ins späte 19. Jahrhundert herab erstreckte sich in Spanien die Überlieferung des vorgeblich moralisierenden, belehrenden, exemplarischen Nutzens aller Geschichtenerzählung. Aber der moralische Nutzen, das Exemplarische, war schon im 12. Jahrhundert ein Gemeinplatz, ein Topos, eine literarische Theorie, denn einige der Geschichten, mit denen Petrus Alfonsi den Kleriker disziplinieren 117
wollte, waren galant, schlüpfrig, anzüglich, nicht moralisch. Und so blieb diese Überlieferung bei vielen Autoren (nicht bei allen) Etikette, Formel, Maske, Fassade. Auch im 16. Jahrhundert verbarg sich dahinter oft das Pikante. Eine Tradition, welche die Erzähler des frommen Durchschnitts ernst nahmen, die aber Einfallreichen, Talentierten, Satirikern, Scherzbolden und Erotikern als willkommene Tarnung diente, nicht nur in Spanien, sondern in aller Welt. Musterbeispiel: Boccaccio, der das Decameron mit der Beteuerung vorlegte, daß die Leserinnen aus den hundert Geschichten „utile consiglio potranno pigliare". So legte eben auch Cervantes, getreu einer uralten Gepflogenheit, seine Erzählungen unter dem Vorwand exemplarischer Belehrung und erzieherischer Beispielhaftigkeit vor. Er betonte diesen vorgeblichen Zweck in seinem Vorwort, wo er nicht nur versicherte, daß ,,los requiebros amorosos [ . . . ] son tan honestos y tan medidos con la razón y discurso cristiano, que no podrán mover á mal pensamiento al descuidado ó cuidadoso que las leyere", sondern behauptete: ,,ηο hay ninguna de quien no se pueda sacar un ejemplo provechoso", ja: „si por algún modo alcanzara que la lección de estas novelas pudiera inducir á quien las leyera á algún mal deseo ó pensamiento, antes me cortara la mano con que las escribí, que sacarlas en público" (BAE I S. 100)1). Es ist keine Respektlosigkeit, hier von Hypokrisie, von der althergebrachten Prologhypokrisie und von der Antinomie zwischen Novellentheorie und Novellendichtung zu sprechen. José O r t e g a y G a s s e t hat es in den Meditaciones del Quijote (Madrid 1922, S. 131) unumwunden ausgesprochen: „Das ejemplares ist nichts Merkwürdiges: dieser Moralitätsverdacht, den der profanste unserer Schreiber über seine Erzählungen gießt, gehört zu der heroischen Hypokrisie, deren sich die großen Männer des 17. Jahrhunderts bedienten" 2 ). Man lege zur Probe einmal den Maßstab an, den Cervantes den Lesern durch seine einleitenden Beteuerungen in die Hand gibt, und man wird sehen, was es mit der „Beispielhaftigkeit" der einzelnen Novelas ejemplares auf sich hat, wie schulmeisterlich sich aber auch eine moralisierende Analyse ausnimmt 3 ). Tatsächlich erfüllt der Dichter seine Prologversprechungen nur sehr mangelhaft. Weder La Jitanilla noch El amante liberal noch Rinconete y Cortadillo enthalten moralisch Beispielhaftes. An La española inglesa fügt der Autor nachträglich eine P f a n d l , der in seiner „Nationalliteratur" a. a. O., S. 313ff., alle Topoi des Prologs für bare Münze nahm, schien u. a. zu glauben, daß C. mit der Beteuerung des „deleitar aprovechando", die dem „docere delectando" entspricht, etwas Neues in die Novellentheorie eingeführt habe. 2 ) José O r t e g a y G a s s e t , Meditaciones del Quijote, Madrid s 1922, S. 131 : „Lo de »ejemplares' no es tan extraño : esa sospecha de moralidad que el más profano de nuestros escritores vierte sobre sus cuentos, pertenece á la heroica hipocresía ejercitada por los hombres superiores del siglo XVII." Dazu S. 158: „ima manera de decir, una presentación convencional de la obra, como lo fue la sospecha de ejemplaridad con que cubre sus novelas cortas". s ) Cervantes-Zitate nach BAE I. — Hier sei zugleich auf die jüngste deutsche Gesamtübersetzung verwiesen : M. de Cervantes Saavedra, Die beispielhaften Novellen, Novelas ejemplares. Deutsch von G . V . U s l a r , mit Gedichtübertragungen und Nachwort von Rudolf G r o ß m a n n . Sammlung Dieterich Bd. 115, 116, Wiesbaden 1948. Das Nachwort von R. Großmann kennzeichnet literarhistorische Position und Auswirkungen des Novellenzyklus in der Weltliteratur.
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Belehrung an, die gestrichen werden könnte, ohne den ästhetischen Wert der Novelle zu beeinträchtigen: „Esta novela nos podría enseñar cuánto puede la virtud y cuánto la hermosura, pues son bastante juntas y cada una de por sí á enamorar aun hasta los mismos enemigos, y de cómo sabe el cielo sacar de las mayores adversidades nuestras, nuestros mayores provechos" (S. 158). Nur durch diese „Fußnote", die an die Schlußsentenzen der Enxemplos Don J u a n Manuels erinnert, wird die Novelle als „Beispiel" abgestempelt. Es ist — um einen Vergleich aus Benedetto Croces „Ästhetik" zu gebrauchen — wie wenn ein Bildhauer an die Statue einer schönen Frau nachträglich ein Schild mit der Aufschrift „Erbarmen" oder „ G ü t e " heftete; eine Allegorie postfestum, die am Kunstwerk nichts mehr ändert, „ein einem Ausdruck äußerlich angefügter anderer Ausdruck" 1 ). — Wo liegt in El Licenciado Vidriera, in La fuerza de la sangre, diesem Schicksal der toledanischen „Marquise von O." 2 ), das Vorbildliche oder die pädagogische Nutzanwendung ? Nur in El celoso extremeño ist wirklich alles belehrend, ejemplo, abschreckendes Beispiel. Und darum doch kein geringeres Kunstwerk. Der eifersüchtige Greis wird mit einer H ä r t e belehrt, die ihn das Leben kostet, die ihm aber noch im Tode die K r a f t beispielhafter Selbstüberwindung und Größe gibt: „mas porque todo el mundo vea el valor de los quilates de la voluntad y fe con que te quise, en este último trance de mi vida quiero mostrarlo de modo que quede en el mundo por ejemplo, si no de bondad, al ménos de simplicidad jamas oida ni vista" (S. 182). Auch dies ist das nie Dagewesene, noch nie Gesehene, der Ausnahmefall. Aber er wird der Nachahmung empfohlen, soweit Herzenseinfalt erlernbar und musterhaft sein kann. Wie nahe kommt diese Einfalt, dieses nie Gehörte und Gesehene der „unerhörten Begebenheit", als die G o e t h e im Gespräch mit Eckermann das Wesen der Novelle definierte. Damit könnte es sein Bewenden haben, aber auch dieser Erzählung wird noch ein Plakat angeheftet, „ein dem Ausdruck äußerlich angefügter anderer Ausdruck": „y yo quedé con el deseo de llegar al fin deste suceso, ejemplo y espejo de lo poco que hay de fiar de llaves, tornos y paredes, cuando queda la voluntad libre ; y de lo ménos que hay que confiar de verdes y pocos años, si les andan al oido exhortaciones destas dueñas de monjil negro y tendido, y tocas blancas y luengas" (S. 183). B. Croce, Estética a . a . O . S. 40: „posta una statua di bella donna, lo scultore può appiccarvi un cartello per dire che la sua statua rappresenta la ,Clemenza'' o la ,Bontà'. Quest' allegoria, che giunge ,post festum', a opera compiuta, non altera l'opera d'arte. [ . . . ] E un'espressione a g g i u n t a estrinsecamente ad un'altra espressione." 2 ) Zum Verhältnis Cervantes—Kleist vgl. man Hermann P o n g s , Grundlagen der deutschen Novelle des 19. Jahrh., in Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Frankf. a. M. 1930, S. 151 ff. — Das Motiv Schändung einer Bewußtlosen begegnet schon in Francesco da Barberino, Documenti d'Amore, Pars VI (Ediz. E g i d i a. a. O. III, S. lOff.) in einer allegorischen Erzählung der „Hoffnung": Olis betrank sich auf einem Gastmahl, wurde von ihrem Diener Cerbum in bewußtlosem Zustand geschändet und tötete sich später mit dem Schwert. „Hoffnung" erläutert: Olis hätte nicht zu sterben brauchen, hätte sie sich des Weines enthalten, ja auch nach ihrer Entehrung nicht, wenn sie „ad mentem rediens michi credere voluisset. dixi enim illi cum gladium iam cepisset, cur ad hoc tendis, cum reservaveris castam mentem, quam violatum corpus maculare non potest [nec profuit] dedignata enim a servo se lesam, mortis desiderium vite solatio antemisit."
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La ilustre fregona, Las dos doncellas und La señora Cornelia enthalten zu viel Unwahrscheinlichkeit, um beispielhaft zu sein. El casamiento engañoso, die Geschichte des betrogenen Betrügers 1 ), ist eine Schelmennovelle. Wie in Rinconete y Cortadillo wird durch einen kühnen Kunstgriff das Gaunerpaar zum abschreckenden Beispiel gemacht. Ein Zuhörer, dem die Geschichte erzählt wird, hängt dem Bericht einen sentenziösen Kommentar an. Die belehrende Wendung ist an die amüsante Begebenheit ebenso geschickt, aber auch ebenso lose angefügt wie das stofflich und formal selbständige Coloquio que pasó entre Cipion y Berganza. Dieser satirische Fabeldialog im Rahmen des Casamiento engañoso ist eine zyklische Rahmenerzählung, die eine ganze Serie von Erlebnissen und Beispielen ( = Sonderfällen), deren jedes ein abgerundetes Bild darstellt, durch Betrachtungen und Schilderungen, Rede und Gegenrede nach novellistischer Rahmentradition trennt und verbindet 2 ). Selbstverständlich kann die Verleihung der Gabe des Sprechens an zwei Hunde nichts Beispielhaftes sein. Sie ist Fabelimagination. Und wenn dieser Rahmen hie und da Beherzigenswertes in sich schließt — wer wird sich schon darum kümmern, da es aus der Hundeperspektive geboten wird ? Hier ist wie im Licenciado Vidriera alles Vorwand, um dem Autor Redefreiheit zu verschaffen, denn ein Hund und ein Narr dürfen Dinge sagen, die einen Erwachsenen mit gesundem Verstand vor den Richter brächten 3 ). Aus diesem satirischen Feuerwerk strahlt Licht auf die ganze Novellensammlung zurück. Dies ist der nachträglich um das Ganze gelegte Rahmen, der viel zu kompliziert ist, um ein Exempel abgeben zu können. In ihm spiegelt sich noch einmal die ganze bunte Welt der vorangegangenen Novellen. In Ironie getaucht, ziehen die Gestalten noch einmal vorüber. Es ist wie in der Komödie, wo zum Schluß noch einmal alle auf der Bühne erscheinen, um sich unter dem Gelächter der Menge zu verneigen: der Gaunerkönig Monipodio aus Rinconete y Cortadillo tritt an die Rampe; namenlos tanzen die Schatten einer Zigeunerin und ihres adligen Liebhabers vorüber; lustige Studenten, böses Gelichter, Picaros und durchtriebene Soldaten, und nicht zuletzt die närrischen Humanisten, die vor Schustern Latein reden, schweben wie Marionetten herab, von der unsichtbaren Hand hinter der Bühne bewegt. Unter Lachsalven kann der Vorhang fallen. Eine eigenartig verschachtelte, kunstvoll ausgeklügelte Komposition: der in die Schelmengeschichte eingeschobene zyklische Bericht über ein Hundeleben, das in Verkleinerung die ganze Welt der Menschen spiegelt und abgrenzt. Dieses Prachtstück künstlerischer Verflechtung ist zugleich eine Satire auf die Für Pfandl a. a. O. S. 308 war er „ein tapferer, rechtschaffener Soldat". ) Pfandl a. a. O. S. 310ff. erkannte zwar den Rahmencharakter des Casamiento engañoso, nicht aber den des „Coloquio", obwohl ihm der Gegensatz zwischen der nüchternen bzw. satirischen Weltbetrachtung in letzterem und den von ihm als „romantisch" bezeichneten Novellen des Typs Gitanilla auffiel. — Daß C. sich grundsätzlich für das Rahmenschema interessierte, beweist die wiederholte Ankündigung einer zweiten Novellensammlung mit dem Titel Las Semanas del Jardín, die entweder ungeschrieben blieb oder verloren ging. 3 ) Für Pfandl a. a. O. S. 311 ist das „Coloquio" doch ein Exempel, weil es die Erkenntnis belege, daß Wahrheit und Vernunft in der Narrenkappe stecken müssen, um sich Geltung zu verschaffen, Sechs der zwölf Erzählungen bezeichnet Pfandl S. 316 sogar als Thesennovellen, a
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ejemplos, eine Verspottung der Beispielhaftigkeit, die das Versprechen des Prologs widerruft. Als Berganza belehrend werden will, ruftCipion dazwischen: ,,ηο quiero que parezcamos predicadores: pasa adelante" (S. 230); und wo Cipion in den gleichen Fehler zu verfallen droht, revanchiert sich Berganza: „Todo eso es predicar, Cipion amigo" (ebda.). Bezeichnenderweise erscheinen im sarkastisch rühmenden Bild vom Schulbetrieb der damaligen Zeit unter den bewährten Erziehungsmitteln auch die Beispiele: „consideraba cómo los reñían con suavidad, los castigaban con misericordia, los animaban con ejemplos" (S. 231)1). Worauf Cipion seine höhnische Tirade vom Stapel läßt: „Muy bien dices, Berganza, porque yo he oido decir desa bendita gente, que para repúblicos del mundo no los hay tan prudentes en todo él, y para guiadores y adalides del camino del cielo, pocos les llegan: son espejos donde se mira la honestidad, la católica doctrina, la singular prudencia, y finalmente la humildad profunda" (ebda). So sind die Beispiele in der antiklerikalen, reformatorischen Atmosphäre und Tradition der Schelmennovelle mitsamt ihren pädagogischen Verfechtern und Vorbetern dem Gelächter preisgegeben. Das wäre das letzte Wort, das ihnen Cervantes in den Novelas ejemplares widmet, wenn nicht noch einmal und beiläufig der Terminus in der neutralen Bedeutung von Beleg, Nachweis, Einzelfall vorkäme: ,,si no fuera por no hacer ahora una larga digresión, con mil ejemplos probara lo mucho que las dádivas pueden" (S. 233). Man braucht also die Novelas ejemplares nur auf moralische Beispielhaftigkeit zu prüfen, um zu erkennen, daß die Exempeltheorie des Prologs nicht verwirklicht ist. Von zwölf Erzählungen haben elf ihrem inneren Wesen nach nicht den Charakter von Exempeln im Sinne der Tradition. Acht von ihnen berühren sich nicht einmal äußerlich mit Zügen der Exempla. Die modernen Interpreten deuten deshalb auch den Titel der Novelas ejemplares, in Abkehr von der mittelalterlichen katholischen Überlieferung, etwa in dem Sinne, daß Cervantes nicht moralisieren, sondern „durch ein tieferes Wissen um die Lebensgesetze überzeugen wollte", denn die „Novellen lenken, den sanften Zwang der Ergötzung übend, zur richtigen Einsicht, mit ihren unvergeßlichen Beispielen"2), d.h. nicht durch das erzieherische Vorbild, sondern durch den Beleg, den Nachweis, die Dokumentierung der Wahrheit. Kann aber Unwahrscheinliches, anscheinend Absurdes, Wahrheit beweisen? Bei der Prüfung dieser Frage wird die Unterteilung der zwölf Erzählungen in wesensverschiedene Gruppen, wie sie bisher öfter versucht wurde, nicht befriedigen. Mit Kategorien wie pikareske und nichtpikareske Erzählung 3 ), „novelas amatorias" und „novelas de costumbres" 4 ), Erfindungsnovellen, realistischpikareske Schilderungen und Mischformen aus diesen beiden5) oder „sucesos inverosímiles, inventados, irreales" und Erzählungen, wo „sólo nos interesa el Die zitierte deutsche Übersetzung sagt für „con ejemplos": „durch ihr Beispiel". ) W. Krauss a. a. O. S. 22. 3 ) H. W. A l l e n in der Einleitung zum Neudruck der engl. Celestina-Vbersetzung, London 1908. 4 ) Marqués de C a s a - T o r r e , in La España Moderna, April 1896, S. 28. б ) Hurtado-Palencia a. a. O. а
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modo como el autor deja reflejarse en su retina las vulgares fisonomías de que nos habla" 1 ) oder „romantische" Novellen, satirische Sittenbilder und Spruchweisheit in Novellenform 2 ) ist wenig anzufangen. Mit Ausnahme der auf Cervantes' eigenen Gruppierungsversuch zurückgreifenden Definition Ortegas basieren sie alle auf rein stofflichen Unterscheidungsmerkmalen. Sie sind empirische Formeln für den Schulgebrauch, führen aber nicht zum Kern der Sache. Die von Ortega angezogene Definition des Dichters, eine Äußerung Cipions im Hundekolloquium, hat folgenden Wortlaut: „quiérote advertir de una cosa [ . . . ] ; y es que los cuentos unos encierran y tienen la gracia en ellos mismos, otros en el modo de contarlos : quiero decir, que algunos hay, que aúnque se cuenten sin preámbulos y ornamentos de palabras, dan contento ; otros hay, que es menester vestirlos de palabras, y con demostraciones del rostro y de las manos, y con mudar la voz se hacen algo de nonada, y de flojos y desmayados se vuelven agudos y gustosos" (S. 227—28). Es ist fast immer irreführend, den theoretischen Äußerungen der Dichter Glauben zu schenken. Auch die cuentos-Theorie von Cervantes kann nicht auf die Novelas ejemplares angewandt werden. Einerseits hat er keine Geschichten „sin preámbulos y ornamentos de palabras" erzählt, die „encierran y tienen la gracia en ellos mismos"; andererseits würden sie sämtlich durch die von Cipion empfohlene Stegreifwiedergabe zur Farce und gerade dessen beraubt werden, was sie zu Kunstwerken macht, nämlich der unentbehrlichen Wortausschmückung des Cervantes. Nein, die cuento-Theorie paßt nicht zu Cervantes und stammt auch nicht von ihm. E r h a t sie bereits fertig vorgefunden und als hübsches „Beispiel" von Hundenaseweisheit in sein satirisches Kolloquium eingefügt. Nirgends behauptet er, sie enthalte den Schlüssel zu seiner eigenen Novellistik. Cervantes müßte kein Dichter, er müßte vor allem nicht Cervantes sein, wenn er sich bei der Abfassung seiner Novellen nach diesem simplen Rezept gerichtet hätte. Leo S p i t z e r hat in seiner Studie über Das Gefüge einer cervantinischen Novelle3) die Formel Cervantes-Ortega „nicht ganz überzeugend!" genannt und ihren vermutlichen Ursprung in Cicero {De oratore, Lib. I I : „Duo enim sunti genera facetiarum, quorum alteram re tractatur, alteram dicto") aufgezeigt. Wer unseren Nachweisen von K a p . I I 7 ab gefolgt ist, erkennt hier sogleich die jüngere Tradition, aus der die cervantinische Unterscheidung fließt. Der Dichter spricht bei der Charakteristik der zweiten Art der cuentos von „demostraciones del rostro y de las manos", von „mudar la voz", von „vestirlos de palabras". Mit Ausnahme der Ausschmückung durch Worte, die auch schriftlich vor sich gehen kann, sind dies Kennzeichen einer unliterarischen Kunst, einer Vortragsweise, einer Mischung von Bericht und Mimus, offensichtliche Anspielungen auf eine Stegreifhovellistik, von der Cervantes nicht als einziger spanischer Autor jener Zeit Kunde gibt, und deren Rezept Baldesar Castiglione in Abschnitt X L I X des Libro secondo seines „Cortegiano" publiziert hatte. Man beachte, daß Cervantes x
) Ortega y Gasset a. a. O. S. 133—35. 8) Pfandl a. a. O. S. 301. 3 ) L. Spitzer, in ZrPh LI (1931) S. 194ff. sowie in Köln. Roman. Arbeiten II a. a. O. S. 143—44 Fn.
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(wie Rodríguez Lobo) den Stegreiferzählungen mehr und ausdrucksvollere Worte widmet als der kurz definierten ersten Art von cuentos, die durch Stoff und Form festgelegt, der willkürlichen Ausschmückung entzogen, durch Überlieferung und Formulierung tabu, also schriftlich fixiert war (an die im Wortlaut festgelegte, aber ungeschriebene indische Erzählungsliteratur religiösen Charakters dürfte er dabei kaum gedacht haben). Warum sollte der Schriftsteller Cervantes zu seinen schriftlich niedergelegten Novellen eine Theorie erfunden haben, die eine Stegreiferzählweise höher stellt als die Literatur ? Nun, seine eigene Theorie ist es nicht, es handelt sich um die seit dem „Cortegiano" eingebürgerte Auffassung, die wir 1619 bei F. Rodríguez Lobo in der Unterscheidung zwischen populären contos und literarischen historias ( = toskanischen novelle), aber auch schon 1575 bei G. Fernándes Trancoso in der Gegenüberstellung von „historias diversas" und „contos preciosos" antrafen, wobei den angeblich auf eigenen Erlebnissen oder mündlicher Überlieferung beruhenden, liebevoll ausgeschmückten contos der Vorzug gegeben wurde. Cuento und conto galten im Anfang des 17. Jh. auf der Halbinsel als angestammte, weit über das Mittelalter hinaus gepflegte Stegreiferzählweise1). Auch L o p e de Vega glaubt an die von dem Italiener Castiglione und seinen spanischen Epigonen aufgebrachte „Tradition" 2 ): „En tiempo menos discreto que el de ahora, aunque de hombres más sabios, llamaban á las novelas cuentos. Éstos se sabían de memoria, y nunca, que yo me acuerde, los vi escritos" 3 ). Sollten wirklich die cuentos und ihre iberische Tradition nur in einem Bruchteil der Novelas ejemplares, nämlich in „el modo como el autor deja reflejarse en su retina las vulgares fisonomías de que nos habla", also in der von Ortega unterschiedenen Gruppe „Rinconete", „Estremeño" usw. nachwirken? Hieße das nicht, nur die italienische Theorie der Vortragsweise und Darbietung anerkennen, die echt spanische Tradition von Intuition und Ausdruck aber leugnen ? Entspricht nicht gerade die von Ortega so stark betonte inverosimilitud der andern Novellengruppe, in der es weniger auf die Darstellungsweise als auf die Erfindung und Imagination ankommt {El amante liberal, La española inglesa, La fuerza de la sangre usw.), dem innersten Wesen von cuentos ( = Fabeleien und Märchen) ? Im Prolog der Novelas ejemplares stellt Cervantes die stolze Behauptung auf: „yo soy el primero que he novelado en lengua castellana; que las muchas novelas que en ella andan impresas, todas son traducidas de lenguas extranjeras, y estas son mias proprias, no imitadas ni hurtadas: mi ingenio las engendró y las parió mi pluma" (BAE. I S. 100). Unter anderem Blickwinkel sagt er im Viaje del Parnaso (Cap. IV, a. a. O. S. 687) dasselbe: Yo he abierto en mis Novelas un camino, Por do la lengua castellana puede Mostrar con propiedad un desatino. Orig. II, Cap. IX. ) W. Krauss a. a. O. S. 21: „Man spürt den von Mal Laras ,Philosophía Vulgar' (1568) überkommenen Glauben der folklorisierenden Humanisten, mit dem Cervantes, von Lope kaum verstanden, in seine große Auseinandersetzung getreten war." s ) Einleitung zu Lope de Vegas erster Novelle. 2
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Das sind (vieldeutige) Wahrheiten, die heute niemand mehr bestreitet. Sie werden auch nicht geschmälert durch Aufzeigung der verschiedenen spanischen Traditionen, auf deren Nährboden allein die cervantinische Novellistik erblühen konnte, und ohne deren Kenntnis die Novelas ejemplares schließlich doch unverstanden und verkannt bleiben müßten. Diese vielfältigen Überlieferungen ruft Werner Krauss in seinem mehrfach zitierten Aufsatz in Erinnerung (S. 16ff.). Sie heißen: „comedias en prosa", „apologéticas", „exemplos" und „cuentos" 1 ); aber auch die „patrañas", die ausschließlich auf Imagination, auf Einbildung beruhen (wie die Ritterromane) und denen López Pinciano die ästhetische Behauptungsmöglichkeit absprach, gehören dazu. Patrañas, apologéticas und cuentos liefern den Vorrat und die Formen der Imagination, aus denen sich die Novelas ejemplares nähren 2 ). „Der gewollte Verzicht auf die Beziehungsinhalte der herrschenden Gesellschaft", der, nach Krauss, „Cervantes charakterisiert und die Bedingung seiner Schöpfung wurde" (S. 21), ist ja freie Imagination, eigenartiges Wiederaufleuchten der Unglaubwürdigkeiten spätgriechischer Romane, alter Fabeln, der caballerías und patrañas und der Märchenphantasie der cuentos. Gerade das hat Lope de Vega nicht erkannt, als er in der Einleitung zu seinen eigenen Novellen die ungerechte Kritik an den Novelas ejemplares durch ein Lob der alten cuentos unterstrich. Zugespitzt war die Einseitigkeit der Betrachtung, durch die wir die Antinomie von Exempeltheorie und Novelas ejemplares zu beweisen suchten. Der moralistischen muß die ästhetische Analyse folgen. Ort der Handlung — um mit dem Konkreten zu beginnen — sind in den meisten Novellen des Cervantes Straßen, Wege, Land und Meer. Betreten die Protagonisten Häuser oder Räume, so sind diese meist nur Stationen am Weg, liegen fern ihrer Heimat, die sie erst am Ende der Fahrt Wiedersehen sollen. Kaum eine der Hauptgestalten erlebt ihr Schicksal daheim. Gitanilla und ihr Liebhaber wandern als Zigeuner kreuz und quer durch Spanien. Das ganze Mittelmeer ist Schauplatz des Geschehens in El amante liberal. Rinconete und Cortadillo sind Vagabunden. Die Spanierin in England ist entwurzelt und verschleppt. Seefahrten, Pilgerreisen, Gefangenschaft sind das Los ihres Verlobten. Nach großen Reisen in Spanien, Italien und Flandern erkrankt der Licenciado Vidriera, dann schweift er ruhelos von Stadt zu Stadt, schließlich verläßt er die Heimat. Zweimal offenbart sich La fuerza de la sangre auf der Straße : in der Entführung Leocadias und dem Erbarmen von Rodolfos Vater für ihr verunglücktes Kind. Sogar das Ende des eifersüchtigen Extremadurers ist „der tragische Schlußakkord eines 1
) A v e l l a n e d a im Prolog zu seinem zweiten Don Quijote, BAE XVIII S. 2, über C.: „comedias en prosa; que éso son las más de sus novelas"; L ó p e z P i n c i a n o , Philosophie, antigua poetica, Madrid 1596, S. 168: Werke, die auf einer Lüge und Fiktion eine Wahrheit aufbauen „como las del Esopo dichas Apologéticas, las quales debaxo de vna hablilla muestran un consejo muy fino y verdadero" ; Juan M a n u e l , Enjemplos del Conde Lucanor, Neuausgabe 1575; dazu Lope de Vega a. a. O. über die cuentos. 2 ) Ortega y Gasset a. a. O. S. 133, 149, 150, 153—54, 156, hat die Mitwirkung der patrañas überzeugend dargelegt. Auch über den Formzusammenhang von novela und comedia vgl. man Ortega a. a. O. S. 187—88.
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bewegten Wanderlebens, [ . . . ] einer stürmischen Erdenpilgerschaft" 1 ). In La ilustre fregona gibt es kaum eine Gestalt, die nicht auf Wanderschaft wäre, von der in der Fremde geborenen, spät identifizierten Titelheldin bis zu ihren Eltern, ihrem Liebhaber Tomas und dessen vagabundierendem Freund. Die Landstraßen Spaniens sind Schauplatz von Las dos doncellas, die Straßen Bolognas von La señora Cornelia. Das Casamiento engañoso ist nur kurze Station auf dem Weg eines ruhelosen Soldaten. Ganz zu schweigen von dem Globetrotter Berganza, der es nirgends lange ausgehalten und sein Heil in der Wanderschaft gesucht hat. Dieses Wandern und Schweifen der Protagonisten ist Ausdruck ihrer inneren Unruhe. Bei einigen erleben wir, wie sie sich plötzlich von Hause aufmachen, wie eine unbekannte Macht sie hinaustreibt, ihnen die Ruhe raubt. Bei anderen werden wir Zeugen einer aufregenden Inversion des Umherirrens : von der konkreten, realen Wanderung heimkehrend, werden sie zu irrealer Pilgerschaft gezwungen, schlägt die Kurve ihres Weges nach innen um, packt sie ein Wahn, gehen sie auf seelische Irrfahrt. Dies ist der Fall des gläsernen Lizentiaten, des eifersüchtigen Extremadurers. Überall wird der Schwerpunkt der Menschen verschoben, verrückt, aus dem Haus in die Fremde, aus der Ruhe ins Wandern, aus dem Gleichgewicht in den Absturz. Manche trifft das Schicksal wie Blitzschlag aus heiterem Himmel: die entführte und bewußtlose Leocadia, den nichtsahnenden Lizentiaten. Andere tragen es von Geburt an in sich : die Scheuermagd Costanza, die Gitanilla. Wieder andere sind mit ganzer Seele und vollem Willen dabei: Rinconete und Cortadillo, Las dos doncellas. Ohne ein Gesetz der cervantinischen Novelle aufstellen zu wollen, könnte man für das Schicksal aller dieser Menschen eine Formel prägen. Ihre Bahnen gleichen Parabeln oder Halbkreisen, in denen sie sich über der idealen Basis ihres Seins, wie von unbekannter Macht getrieben, hinbewegen. Die ideale Basis, zu der sie zurückkehren, wenn auch nicht alle von ihr ausgegangen sind, ist der Ruhe- oder Gleichgewichtszustand oder die Heimat. Die Bahn führt durch ein buntes oder dunkles, von Angst, Abenteuern, aufregenden Eindrücken und Gefühlen aller Art durchwittertes Chaos. Sie ist ein desatino, ein Verirrtsein, ein Herumtappen, ein Suchen. Die Ordnung liegt stets in der Basis, zu der sämtliche Wegkurven sich zurückbiegen, niemals im Raum, den die Bahn durchmißt 2 ). Das ist wesentlich für die Novellen des Cervantes, aber es ist auch charakteristisch für Spanien. Kaum wird es gelingen, in einer anderen Literatur ein ähnliches Phänomen als Charakteristikum einer geschlossenen Novellensammlung eines Autors nachzuweisen. Man pflegt zu behaupten, die Novellistik der Italiener basiere auf der Pointe. Von Cervantes wird man das nicht sagen können. Merkwürdigerweise schrieb Lucas Gracián Dantisco schon 1599 in seinem „Galateo español" vom „remate y paradero de la novela", von der Pointe und einem Novellenausgang, der !) Pfandl a. a. O. S. 305. ) „cruzan vertiginosos el horizonte cómo astros errantes y encendidos" sagt Ortega y Gasset a. a. O. S. 132 allerdings nur über die Helden der von ihm unterschiedenen ersten Novellengruppe, der reinen „Imaginationen". — Der cuento-Theorie Ortegas schließt sich Américo Castro a. a. O. S. 236 insofern an, als er meint, die Stegreiftradition sei in die Novellen vom Typ „Rinconete", ganz den Empfehlungen Berganzas entsprechend, eingeflossen. 2
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ein Haltepunkt, ein Ruheplatz, ein Bestimmungsort sein solle (denn das ist der Sinn des Wortes paradero) 1 ). Wo die cervantinischen Novellen den -paradero erreichen, kommen sie ins Gleichgewicht. Sie sind als Kunstwerke wohl ausgewogen durch den Gegensatz zwischen der Welt der Unruhe, durch die sich die Bahn der Protagonisten bewegt, und der Ordnung, in die sie mündet. Dem Chaos menschlichen Irrens — dem desatino, wie es im Viaje del Parnaso heißt — steht überall der paradero als Kosmos gegenüber, und sei es auch, wie im Fall des eifersüchtigen Carrizales, die höhere Einsicht und Selbstüberwindung im Augenblick des Todes oder, wie im Fall der Vagabunden Rinconete und Cortadillo, die Rückbesinnung auf Bildung, Religion und tiefere Verpflichtung oder, wie bei Preciosa und Andrés Caballero, die Vereinigung in der Ordnung der gleichen Gesellschaftsschicht. Typisch für das Gleichgewicht der Novelas ejemplares ist auch der eher symmetrische als parallele Verlauf der Schicksalskurven. Die Wege der Protagonistenpaare kreuzen sich, schneiden sich unter Umständen mehrmals, verlaufen aber erst gegen Ende der Novellenhandlung konvergent oder parallel, bis sie im paradero zusammenlaufen. Das ist sogar im Celoso extremeño zu beobachten, wo die Weltentsagung der jungen Frau und das Sterben des alten Mannes zum erstenmal eine beiden gemeinsame Seelenhaltung symbolisieren. Wieviel Symmetrie liegt aber auch in den äußeren Ereignissen anderer Novellen. Durch Liebeswünsche von Personen, die Macht über ihr Leben haben, geraten Leonisa und Ricardo in gleiche Gefahr, aus der sie sich trotz äußerer Unfreiheit durch gleiche List befreien. Sowohl auf Isabellas wie auf Ricaredos Leben wird, zu verschiedenen Zeiten und auf jeden außerhalb seiner Heimat, ein Anschlag verübt ; trotz hoher sozialer Vorrechte ist keiner Herr seines Willens; jeder erleidet Gefangenschaft, Isabella am Anfang, Ricaredo am Ende des Wegs; jedem werden jahrelange Prüfungen fern vom anderen auferlegt. Fast konzentrische Kreisbogen beschreiben die Wege Rodolfos und Leocadias in den acht Jahren der Trennung zwischen der ersten und der zweiten Bewußtlosigkeit, die wie Symbole am Anfang und Ende der Handlung stehen: Zeichen der Unschuld und Erkennungszeichen. Symmetrisch ist sogar die Tarnung der Liebespaare in La Jitanilla und La ilustre fregona, ihre Standesgleichheit auch in der Verkleidung. La señora Cornelia und El celoso extremeño verbergen die Symmetrie in den Kontrasten : Cornelia und der Herzog sind durch die Klasse ihres Adels, Leonora und Carrizales durch den Altersunterschied getrennt ; das unstete Wanderleben des spät Vermählten wird durch die Verirrung des zu früh in die Ehe gegangenen Kindes, die Verfehlung Cornelias wird durch die Mesalliance des Herzogs aufgewogen. Das durch die Lebenskurve gekennzeichnete desatino ist Selbstentfremdung, die Rückbesinnung, Heimkehr, Erlösung verlangt. Es ist eine Unruhe der Seelen, mehr Irren als Umherirren, eine aufregende Fahrt ins Unbekannte, die meist gut, geradezu märchenhaft gut endet. Den irrenden Seelen wird überall Erlösung zuteil, denn bei der „Heimkehr" helfen ihnen unsichtbare Kräfte, die außerhalb ihres Charakters oder ihrer Einsicht liegen. Nicht alle werden einfach dadurch !) Die ganze Textstelle in Orig. II, S. C X X X I X .
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ins Gleichgewicht zurückgebracht, daß die Ursache ihres desatino sich selbst aufhebt oder durch ihren Willen beseitigt wird. Welches ist aber diese Ursache, was wirft sie aus ihrer Ruhe? Ursache der meisten Verwicklungen scheint die Liebe zu sein. Aber das ist nur ein summarisches Urteil. Rinconete y Cortadillo und das Coloquio de los perros haben als Schwerpunkt kein Liebesmotiv. Der giftige Liebestrank, an dem der gläserne Lizentiat erkrankt, ist nur ein die Satire steigernder Vorwand; die gleiche Bedeutung hat die Ehe im Casamiento engañoso. Carrizales wird nicht Opfer der Liebe, sondern seiner maßlosen Eifersucht. Die verbleibenden sieben Novellen demonstrieren verschiedene Schattierungen der Liebesleidenschaft, von der lange Zeit aussichtslos erscheinenden platonischen Werbung des Amante liberal bis zum ungezügelten Trieb Robertos, der einer Ohnmächtigen Gewalt antut. Da steht der heimlich liebende Don Rafael neben dem Verführer Marco Antonio (Las dos doncellas), der in jäher Leidenschaft begehrende Graf Arnesto neben dem unbeirrbar treuen Ricaredo (La española inglesa), der poetisch zaghafte Don Tomas neben dem durch List und Gewalt zum Ziel gelangenden Don Diego de Carriazo (La ilustre fregona), der selbstvergessene Herzog von Ferrara (La señora Cornelia) gegenüber dem zu jahrelanger Prüfung und Selbstverleugnung bereiten Don Juan (La Jitanilla). So ist weder Liebe noch überhaupt Leidenschaft schlechthin regelmäßiger Anlaß der Novellenhandlung. Einmal ist es eine kleine Gaunerei (El casamiento engañoso), ein andermal „ein Unfall" (El licenciado Vidriera), ein drittes Mal das Schicksal, wenn auch nur Hundeschicksal (Coloquio). Eine Anzahl der weiblichen Heldinnen gerät ohne eigenes Verschulden in Konflikte. Die eine wurde als Kind von Zigeunern gestohlen, die andere von Engländern aus der Vaterstadt entführt, die dritte wird von türkischen Korsaren geraubt, die vierte ist durch Geburt ohne Heimat und Zugehörigkeit, die fünfte erleidet bewußtlos Gewalt. Der Dichter meint aber nicht, daß Frauen ohne Willen und Selbstbestimmungsrecht seien; an den „Verführten" beweist er das Gegenteil. Sie sind zwar durch fremde Einflüsse auf den Weg der Leidenschaft gelockt, aber durch eigene Bereitwilligkeit in Schuld verstrickt. Die junge Gattin des Carrizales gibt dem Drängen und den Tricks ihrer Dueña und Loaysas nach; ihr tiefes Schuldgefühl äußert sich nicht nur im Entschluß, der Welt zu entsagen, sondern (sogar noch in der zweiten, durch Weglassung des Ehebruchs problematischen Fassung der Novelle) in der zweifelnden Schlußfrage des Dichters: „Solo no sé que fué la causa que Leonora no puso mas ahinco en disculparse y dar á entender á su celoso marido cuan limpia y sin ofensa había quedado en aquel suceso ; pero la turbación le ató la lengua, y la priesa que se dió á morir su marido no dió lugar á su disculpa" (BAE I S. 183). Teodosia, die ihren Fehltritt mit den angeblichen Verführungskünsten Marco Antonios zu entschuldigen sucht, wird nach ihrem Erlebnisbericht vom Bruder zur Rede gestellt : „conforme á esto os debió de engañar mas vuestra voluntad rendida que las persuasiones de Marco Antonio, todavía quiero tomar por disculpa de vuestro yerro vuestros pocos años" (BAE I S. 201); später bekennt sie selbst: „mi ofrecí á que hiciese de mí todo lo que quisiese" (ebda. S.204). Und Leocadia, die dem gleichen „Verführer" gegenüber ähnliche Rechte zu haben glaubt wie Teodosia, muß sich von ihm sagen lassen: „con esto confieso 127
que la cédula que os hice, fué mas por cumplir con vuestro deseo que con el mío" (ebda. S. 203). Auch die „Verführung" der Señora Cornelia durch den Herzog von Ferrara geschieht mit vollem Einverständnis des „Opfers", das selbst gesteht: „entregúeme de toda mi voluntad á la suya por intercesión de una criada mia" (ebda. S. 214). Auffallenderweise sind die Entführten nicht auch die „Verführten", sie sind die Nichthandelnden, die warten und warten lassen, die Nichtv erführbaren. So stürzen die einen unverschuldet, die anderen durch Leidenschaft, also durch eigenen Willen, in die Gestirnbahn des Lebens. Nur eine Protagonistin, weder eine Wartende noch eine Verführte, handelt entschlossen aber böse: es ist die Pícara Doña Estefanía in El casamiento engañoso. (Alle anderen entschlossen und böse handelnden Frauen sind Nebenfiguren: die Dueña in El celoso extremeño, das eifersüchtige Bauernmädchen in La Jitanilla, die liebestolle Halima in El amante liberal, die erste Kammerfrau in La española inglesa, die Dame, die den Lizentiaten vergiftet, die Weiber, denen Berganza begegnet.) Geburt, Leidenschaft, Schicksal, Bosheit, ein Unfall — lauter verschiedene Faktoren — sind Anlässe der Unruhe und des Irrens in den Novelas ejemplares. Es gibt aber keine, in der die einfache Aufhebung des Anlasses den Gleichgewichtszustand der Seelen wieder herstellte. Die Lösung hängt jeweils von einer ganzen Verkettung von Umständen, von einer oft unglaubwürdigen Kräftekonstellation ab. Da müssen nicht nur Prüfungen bestanden, zurückgehaltene Gefühle als gereift erkannt und Geheimnisse der Geburt aufgedeckt sein, sondern es müssen rechtzeitig Mitwisser auftreten, merkwürdigerweise alle Beteiligten an einem Ort vereinigt sein, plötzlich lange verschwiegene Wahrheiten oder langsam herangereifte Einsichten geäußert werden. Nur durch das Zusammentreffen mehrerer Faktoren kommen die Beziehungen der Protagonisten in die ideale Lage. Darum haftet den Ausgängen der 1., 2., 4., 6., 8., 9. und 10. Novelle etwas Unwahrscheinliches, aber doch im tieferen Sinne Zufriedenstellendes an wie gewissen Komödienschlüssen, oder etwas Irreales und doch Wahrhaftiges wie glücklichen Märchenausgängen. Da nicht nur die Entwicklung der Helden und nur ausnahmsweise ihr Charakter das Ende entscheidet, offenbart sich in der komplizierten Kräftekonstellation am Schluß die unsichtbar eingreifende Hand, die Fügung und Vorherbestimmung. Mancher Faktor ist menschlich glaubwürdig und novellistisch, aber ihr Zusammentreffen, ihre Häufung, das „zufällige" Aufeinandertreffen vieler Strahlen in dem einen entscheidenden Punkt, beweisen die unausgesprochene Überzeugung des Dichters, daß der Mensch zwar durch eigenes Verschulden in Konflikte gerät, daß aber nur höhere Hilfe ihn daraus erlöst. Diese Überzeugung an verschiedenen Einzelfällen zu exemplifizieren, ist der tiefere Sinn der Koordinierung der Novelas ejemplares. Ohne moralistische Tendenz ist es ,,el sabroso y honesto fruto que se podría sacar, así de todas juntas, como de cada una de por sí" (BAE I S. 100). Mehrere Formtraditionen wirken zusammen, um dieses Resultat zu erzielen. Über die schon aufgezeigten Grenzüberschreitungen zwischen Komödie und Novelle und über die dialogische Grundlage der Novelas ejemplares hinaus zeigen sich Strukturverwandtschaften in der Typisierung einiger „Charaktere", wie in 128
der Entwirrung bestimmter Situationen 1 ). Bezeichnend ist die falsche Beschuldigung des lächerlichen Rivalen des Amante liberal, einer komischen Figur, die Unrecht über sich ergehen lassen muß, weil sie von vornherein zum Unterliegen bestimmt, weil in ihrer Lächerlichkeit eine Schuld impliziert ist wie beim Nebenbuhler in der Komödie. Ebenso komödienhaft ist der Soldat, der den vermeintlichen Zigeuner und Dieb Don Juan ohrfeigt und dafür wie eine Marionette fallen muß, ein lächerlicher Philister wie im Entremés, der sich über den (wie der Zuschauer weiß) zu unrecht verdächtigten Liebeshelden erhebt, ihn kleinlich für ein nicht begangenes Verbrechen zur Rechenschaft ziehen will und (zur Genugtuung des Zuschauers) stirbt, weil fallen muß, wer sich dem Glück in den Weg stellt. Eine solche Komödiengestalt ist Don Pedro, der erste Verehrer der Ilustre fregona, der bei aller Aufrichtigkeit der Gefühle von vornherein durch den Standesunterschied lächerlich erscheint ; die Gäste des Wirtshauses witzeln darüber, daß der Sohn des Corregidor die Küchenmagd anschwärmt und mit Gedichten und Ständchen bedenkt; während die Verkleidung des Don Tomas — wie in der Komödie — den Verdacht heraufbeschwört, daß auch die Angebetete vielleicht eine verkannte Dame sein könnte. Avellaneda hatte mit der Behauptung, die Novelas ejemplares seien „comedias en prosa" vielfach recht, denn sie sind nicht nur im innersten Wesen dialogisch angelegt (von dem Coloquio de los ferros ganz zu schweigen), sondern tragen Komödientradition in die Charakteristik und Konstellation der Figuren, sie teilen bisweilen Glück und Unglück, Lohn und Strafe, Schuld und Ehre nach der Art der Komödie oder des Entremés zu2). Sogar ihre Symmetrie ist komödienhaft. Die komische Figur in El amante liberal wird durch die Lüge einer anderen Nebenfigur, des erfinderischen Mahamut, mattgesetzt; der Makel der Intrige fällt auf diesen, damit der männliche Held rein und der weiblichen Hauptfigur ebenbürtig bleiben kann. Eine ähnliche Funktion erfüllt in La Jitanilla das eifersüchtige Bauernmädchen: auf sie fällt der Makel der gemeinen, berechneten Tat, während Don Juan nur in aufwallendem Affekt den Beleidiger tötet und deshalb als jugendlicher Held rein, als Vordergrundfigur unangetastet bleibt. Mehr als die leicht zu identifizierenden Komödientypen und die oft spürbare Komödienstimmung fesselt in den Novelas ejemplares das märchenhafte Element 3 ). *) Mit der Feststellung verschiedener Überlieferungen dichterischen Ausdrucks, wie der Traditionen der ejemplos, comedias, cuentos, schließen wir uns nicht der Lehre von den Gattungsgesetzen an, da es uns fernliegt, aus diesen Gepflogenheiten Definitionen oder ästhetische Urteile herzuleiten. Die Osmose der Traditionen in den cervantinischen Novellen beweist im Gegenteil, daß gerade ohne Beachtung der theoretischen Grenzen Kunstwerke von höchster Vollendung entstehen. 2 ) Man vgl. R. M e n é n d e z P i d a l , El honor según los géneros literarios, in Del honor en el teatro español (De Cervantes y Lope de V., Colección Austral, Buenos Aires-Mexico, s 1945, S. 156). 3 ) Ortega y Gasset a. a. O. S. 133 spielt darauf an: „Ello es que los temas referidos por C. en parte de sus novelas son los mismos venerables temas inventados por la imaginación aria, muchos, muchos siglos hace. Tantos siglos hace, que los hallaremos preformados en los mitos originales de Grecia y del Asia occidental. [ . . . ] este género literario consiste en la narración de sucesos inverosímiles, inventados, irreales." Dazu Ausführungen über griech. Romane 9
Novellentheorie
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Dieses scheint die weitaus stärkste Formtradition zu sein, die in diese Erzählungen eingeflossen ist. Das beständige Wandern auf Straßen, über Land und Meer, das Entführtwerden, Unbekanntgeborensein, Sichverlieren, Erkanntwerden und Heimfinden sind Märchenzüge. La Jitanilla und La ilustre fregona haben etwas von verwunschenen Prinzessinnen, die nur unter schwer erfüllbaren Bedingungen zu bestimmter Zeit von bestimmten (meist ebenbürtigen) Personen entzaubert und in ihr wahres Prinzessinnenleben heimgeführt werden können. Aus dem Fluch einer bösen Fee, der am Anfang der Märchenhandlung zu stehen pflegt, ist bei Cervantes der Fluch irgend einer Tat, aber nicht der Tat der Heldin, geworden. Preciosa und Costanza sind von märchenhafter Reinheit, von ihnen strahlt Märchenpoesie auf das Zigeunermilieu und auf das Wirtshaus aus. Wie im Märchen müssen die Befreier in Verkleidung kommen ; wie dort geht alles gut aus, denn die Novelas ejemplares teilen mit den Märchen den wesentlichen Zug der Exemplifizierung von Erlösungen. Dort wie hier wird den Befreiern eine Probezeit, eine Zeit der Bewährung in der Tarnung auferlegt; sie siegen hier wie dort, obgleich sie durch eigene oder fremde Torheit (Don Juans Totschlag in La Jitanilla; Don Diegos Eselshandel in La ilustre fregona) in Gefahr geraten. Das Märchenhafte in diesen Novellen ist so stark, daß es durch alle anderen Elemente und Traditionen hindurchschimmert. I m Exemplarischen von El celoso extremeño wirkt die unheimliche Macht einer bösen Fee durch die Dueña. In der Burleske des Hundegesprächs wird auf Schritt und Tritt das Märchenwunder der Redebegabung der Tiere in Erinnerung gebracht. Sogar die autobiographischen Schilderungen in La española inglesa und in El amante liberal sind durch eine an „Tausend und eine N a c h t " erinnernde Atmosphäre gedämpft. La Jitanilla ist eine bukolische Märchenerscheinung. An spätgriechische Romane erinnern der Zaubertrank in El licenciado Vidriera und das blinde Schicksalsvertrauen, mit dem in La señora Cornelia das Neugeborene bei Nacht einem zufällig Vorübergehenden mitgegeben wird 1 ). Die Unternehmungslust der „dos doncellas" ist Märchenphantastik aus Ritterromanen. Ein, sogar in der Diktion, unverkennbarer Märchenschluß beendet die unglaubwürdigen Erlebnisse der Señora Cornelia: „Todo se hizo así: la duquesa murió, Cornelia entró en Ferrara alegrando al mundo con su vista, los lutos se volvieron en galas, las amas quedaron ricas, Sulpicia por mujer de Fabio, D. Antonio y D. J u a n contentísimos de haber servido en algo al duque, el cual les ofreció dos primas suyas por mujeres con riquísima dote [ . . . ] " (BAE I S. 222). „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch . . . " — fügt man in Gedanken hinzu oder, wie die Chinesen, in Erinnerung an ihr Nomadentum, am Ende ihrer Märchen sagen: „Nun hätten sie sich niederlassen und viele Söhne zeugen können". Der Märchencharakter der Novelas ejemplares ist kein zufälliger, ungewollter ebda. S. 149; die „literatura de imaginación", S. 150; zur Definition der patraña, S. 153—56, zu „novela de aventuras" und cuento, S. 163. Pfandl a. a. O. S. 313 verweist in Anlehnimg an Rohde, Der griech. Roman a. a. O., 1. Aufl., S. 468, auf das Motiv des als geiststörendes Gift wirkenden Liebestranks bei Achilles Tatius. — Die Atmosphäre eines spätgriechischen Romans herrscht auch in Juan de Timonedas Patraña Novena, aus der sowohl C. wie Lope de V. geschöpft haben dürften.
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Zug, sondern bewußte künstlerische Absicht 1 ). Novellistisches und Märchenhaftes durchdringen sich nicht nur im Erlösungsmotiv, das die Erzählungen miteinander verbindet, nicht nur in einzelnen Gestalten, die wie unter Bann oder Zauber oder Verwünschung handlungsunfähig zum Warten verurteilt erscheinen, sondern in dem Schleier der Unwahrscheinlichkeit, der — Rinconete y Cortadillo, El celoso extremeño, El casamiento engañoso und das Coloquio de los perros ausgenommen — über den Novellen liegt. Cervantes war sich des Kontrastes zwischen der Wirklichkeit und seinem Märchenambiente vollauf bewußt. Er unterstreicht diesen Gegensatz durch die Einstreuung der 3., 7. und 11. Novelle, ganz besonders aber durch das der ganzen Sammlung als Rahmen dienende Coloquio de los perros, diese satirische Entlarvung der zuvor nur im Märchenglanz präsentierten Zigeuner, Frauen, Aristokraten, Studenten. Dieser Rahmen enthält gleichsam des Novellenrätsels Lösung; er zieht den Schleier weg, der alles rosenfarbig verklärte. Das Coloquio ist zweifellos ein Meisterwerk, auch wenn es isoliert betrachtet wird. Seine wahre Bedeutung gewinnt es aber erst als Reprise der Novellenmotive, die es — einige Oktaven tiefer — auf dem Boden der Wirklichkeit wiederholt. Cervantes wollte die Unwahrscheinlichkeit, er bedurfte der Märchenelemente zur Erreichung seines dichterischen Ziels. Nur mit ihrer Hilfe ließ sich der Eindruck des jeder Novelle zugrunde liegenden desatino, der in wirklichkeitsnaher Verbindung mit den Beziehungsinhalten der damaligen Gesellschaft schwer erträglich gewesen wäre, novellistisch dämpfen. Die Märchenzüge erfüllen in den Novelas ejemplares die gleiche Aufgabe, die im Decameron und in den nach seinem Schema konzipierten italienischen Novellensammlungen den als novellatori zwischen Autor und Leser tretenden Rahmenfiguren zufällt: die erzählten Geschehnisse durch Vorspiegelung einer unbestimmten, zeitlichen oder räumlichen Distanz aus dem unmittelbaren Lebenskreis des Lesers hinauszurücken und zu mildern. Dies beleuchtet den fundamentalen Unterschied zwischen der Novellistik Boccaccios und derjenigen des Cervantes. Bei dem Italiener lebt die Wirklichkeit in den einzelnen Geschichten, beim Spanier im Rahmen. Für den Italiener hat der Rahmen die distanzierende, allzu kräftige Novelleneffekte dämpfende, gesellschaftliche Funktion; der Spanier hebt durch den Coloquio-Rahmen den mit Märcheneffekten erzeugten Abstand zwischen Novellenfiguren und Leser nachträglich wieder auf. Boccaccios Rahmenfiktion schafft horizontale Distanzen ; die cervantinische Märchenimagination vertikale. Die Novellengestalten des Spaniers sind von einer anderen, höheren Welt; erst im Coloquio de los perros steigen sie zu uns herab. Boccaccios Gestalten — die Griseldis ausgenommen — sind ganz von dieser Welt, aber durch den Rahmen werden sie in den versöhnlichen Dunst der Erinnerung zurückgeschoben. Hier wie dort erleben wir einen faszinierenden Schattentanz, aber Perspektive und Ablauf sind verschieden. Nach der Eingangsfiktion von Boccaccios Rahmen überrascht die Erdennähe seiner Helden; nach 1
) Zur „inverosimilitud" bei C. schreibt Ortega y G. a. a. O. S. 133: „El ,Persiles', que es como una larga novela ejemplar de este tipo, nos garantiza que C. quiso la inverosimilitud como tal inverosimilitud" ; dazu seine Schrift Teoria de la inverosimilitud, in Personas, obras, cosas, Madrid 1922.
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der Imagination der cervantinischen Märchenwelt zerreißt der Schleier vor dem Schwarz-Weiß der Rahmenwirklichkeit. Das Charakteristikum von Cervantes' Novellistik kann nicht die Pointe sein; aber eine starke, überwältigende Pointe (eine „rückspringende Novellenpointe" würden es die Theoretiker nennen) enthalten die Novelas ejemplares doch; es ist die Vernichtung der Märchenillusion im Rahmenschluß des Coloquio: die Ernüchterung. Unsere Interpretation des Coloquio de los perros als Rahmen der Novelas ejemplares deckt sich nicht mit der herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Vorstellung vom Wesen der Rahmenerzählung 1 ). Wie die empirischen Versuche einer Definition und Gliederung der Novellistik beruhten auch die Klassifizierungen der Rahmenerzählung bisher fast ausschließlich auf stofflichen, technischen, schematischen, äußerlichen Kriterien. Es ist ebenso leicht, neben der Zwiebeltechnik orientalischer Einschachtelungen einfache und zyklische Rahmenerzählungen zu unterscheiden, wie eine Unterteilung der Novellen in Geister-, Spuk-, Legenden-, Künstler- und Ideennovellen durchzuführen. Sujet oder Anzahl und Anordnung genügen als Grundlage. Diese Schulterminologie erweist sich als überholt, sobald man von Gattungsvorurteilen und vom rein Stofflichen absieht. Die alten Definitionsschemata für den Begriff Rahmenerzählung passen schon nicht mehr zu der von Pongs angewandten Gruppierung: Gesellschaftsnovelle, Schicksalsnovelle2). Zu einer neuen, gedankenvolleren Unterscheidung von Rahmentypen gelangte Leo Spitzer mit der Entdeckung, daß die Lais der Marie de France ein „Rahmen der Erinnerung" umspannt 3 ). Der Rahmen der Erinnerung ist weder Schema noch Punktion einer Zahl oder Anordnung eingeschachtelter oder aufgereihter Geschichten, sondern nur eine Qualität der Distanzierung zwischen Werk und Leser. Die Erinnerung kann dabei verschiedenartig sich manifestieren, sei es in der Fiktion von Bildern (L'Intelligenza, Boccaccios Amorosa visione4)J, sei es in der fühlbar gemachten Präsenz des schreibenden Dichters (Marie de France, E. S. Piccolomini), sei es im vorgeblichen Spiel des Reihumerzählens (Decameron, Heptaméron, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten) oder im Zusammenwirken mehrerer dieser Faktoren (Bandello fingiert nachträgliche Aufzeichnung von Erzählungen seiner Zeitgenossen, also doppelte Distanz). Die vorgeblichen Sprecher oder Malereien und der als schreibende Mittelsperson ausdrücklich zwischen Leser und Werk geschobene Autor sind nur äußerlich unterschiedene Erscheinungsformen des gleichen, kunsterzeugenden Elementes: der Erinnerung. Der Rahmen der Erinnerung ist nicht an Schemata wie die der Disciplina Clericalis, des Decameron oder von „Tausend und eine Nacht" gebunden, er braucht überhaupt nicht in einer Erzählung, einem Brief oder einem Vorwort zu bestehen. Bei Marie de France ist er in der Koordinierung der zwölf aus dem Gedächtnis der Dichterin gehobenen Märchen an1
) Definitionen in G r ö b e r s Grundriß II 1, Französ. Literatur, 1902, S. 604; Otto L ö h m a n n , Die Rahmenerzählung des Decam. a. a. O. ; M e r k e r - S t a m m l e r , Reallexikon a. a. O. Über den neueren Stand: Wolfgang Κ a y s er, Das sprachliche Kunstwerk, Bern 1948. 2 ) H. Pongs im zitierten Aufsatz. 8 ) L. Spitzer a. a. Ο. I, S. 55ff. und in ZrPh 1930 S. 29ff. *) Hierzu R J b I (Hamburg 1947—48) S. 276ff.
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gelegt; bei VIntelligenza in Wandgemälden, die bestürzend konkret aus der Vision der Palastbeschreibung hervortreten, um nachträglich in die doppelte Distanz von „belle rimembranze" innerhalb der Allegorie verflüchtigt zu werden. Der Rahmen der Erinnerung ist also auch nicht an die Existenz einer „Gesellschaftsnovelle" gebunden, denn von der gesellschaftlichen Kultur, aus deren Perspektive ein Boccaccio (aber noch nicht in der Amorosa visione) schrieb, waren weder Marie noch der Autor der Intelligenza berührt. Die Problemmärchen und das allegorische Poemetto sind, gemessen am Decameron, innere Monologe. Ein Rahmen kann also auch dort existieren, wo von einer Rahmenerzählung im Sinne der literaturwissenschaftlichen Definition nicht die Rede ist. Die müßige Frage, ob des Odysseus Bericht über seine Irrfahrten eine Rahmenerzählung im strengen Sinne sei, oder ob der Fiktion einer Darstellung von Selbsterlebtem durch den Protagonisten eine solche Qualifizierung nicht zukomme, wird durch die Feststellung hinfällig, daß auch in diesem Falle das Kunstmittel der perspektivischen Verjüngung, der durch Erinnerung geschaffenen räumlichen Tiefe angewandt, daß also ein Teil des Gesamtberichtes dem Leser ferngerückt, durch Rückerinnerung gegen das unter Führung des Dichters unmittelbar Erlebte abgegrenzt ist. Dem Rahmen der Erinnerung, der im Leser das Bewußtsein der Entfernung vom Gegenstand erweckt, stellt Cervantes seinen Rahmen der Ernüchterung mit der entgegengesetzten Funktion gegenüber. Eine durch Unwahrscheinliches und Märchenhaftigkeit in den Erzählungen geschaffene, weniger zeitliche als metaphysische Distanz wird nachträglich verkürzt, wenn nicht völlig aufgehoben. Der Rahmen bedeutet bei Cervantes Entzauberung von Wundern, desengaño. Auch dies entspricht nicht den herkömmlichen Auffassungen der Literaturgeschichte von der Rahmenerzählung. Die stoffliche Verklammerung des Coloquio de los perros mit den vorangehenden Novelas ejemplares ist nur sehr lose ; es kann ohne Gewalt losgelöst und individuell betrachtet werden; auch die anderen Novellen bleiben in sich geschlossene Werke von faszinierender Schönheit, wenn der Rahmen wegfällt oder — gar nicht erkannt wird. Es ist ein ungesellschaftlicher Rahmen. Aber im Gegensatz zu den Lais der Marie und zu UIntelligenza ist die satirisch eingerahmte Novellenrunde des Spaniers nichts weniger als monologisch: sie ist szenisch. Nichts leichter, als sich den ganzen Zyklus mit dem starken Anteil darin aufgefangener Komödientradition auf einer zweistöckigen Bühne im Simultanspiel aufgeführt zu denken. Das Obergeschoß wäre der Bereich der Märchenimagination mit den Fügungen, mit einer beglückungs- und erlösungsfähigen Menschheit, eine Welt an der Grenze des Wunderbaren; das Untergeschoß wäre der nüchterne Alltag, die gleichen Menschen wie oben, aber ohne poetische Verklärung, verstrickt in alle menschlichen Schwächen, Laster, Lächerlichkeiten, unfähig zu der göttlichen Vergeßlichkeit, Nachsicht, Beziehungslosigkeit der Oberen, belastet mit Heuchelei, Verbrechen, Dummheit, Niedertracht. Die in beiden Stockwerken herrschende szenische Bewegung demonstriert die beiden Seiten oder die beiden Möglichkeiten des Seins. In der Gleichzeitigkeit sind zwei Schichten der Seele versinnbildlicht; ihre Konkretisierung in Bildern enthält eine erregende Frage133
Stellung ; ist eine Verbindung zwischen dem Spiel in der Höhe und dem Spiel in der Tiefe möglich Ì Könnten die Darsteller vertauscht werden ? Was würde aus dem Lizentiaten ohne seinen begabten Wahnsinn werden, aus dem er auf die Unterbühne herabgestiegen ist zu den Soldaten in Flandern ? Würden Rinconete und Cortadillo wirklich die Kraft haben, einmal hinaufzusteigen und sich droben zu behaupten ? Welches Ende nähme einer der oben gezeigten Konflikte, wenn ihn die Unteren darzustellen hätten ? Die ganze Dramatik dieser Novellen liegt also in der Frage, die der Kontrast aus der „rückspringenden Pointe" des Coloquio de los perros gebiert. Unser imaginäres Inszenierungsexperiment zeigt eine Art „Gran teatro del mundo", ein Rätselspiel vom Stamm der Autos Sacramentales. Es lenkt alle Blicke nach innen und rührt an äußerste Dinge1). So liegt — um wieder vom Nacheinander der Lektüre zu sprechen — der Schlüssel zum tieferen Sinn der Novelas ejemplares in ihrer vom Dichter ausdrücklich betonten Zusammengehörigkeit („así de todas juntas, como de cada una de por si"). Erlösungsbeispiele und Zerstörung der Illusion sind koordiniert durch die Symbolzahl zwölf (die auch Marie de France nicht unabsichtlich für ihre Lais gewählt hat), die Zahl der Apostel, die sich teilen läßt in die Drei der Trinität, der theologischen Tugenden (Fides, Spes, Caritas) und in die Vier der kardinalen Tugenden (Prudentia, Justitia, Fortitudo, Temperantia) — eine Zahl, die im katholischen Spanien des 17. Jahrhunderts, im Spanien der theologischen Dichtungstheorie, nicht zufällig gewählt sein kann2). Wenn die Exemplifizierungen der Erlösungsidee von der im Prolog dargelegten moralisierenden Exempeltheorie im Wesentlichsten abweichen, da sie nicht moralisieren, nicht Vorbildliches, sondern nur Paradigmata von Wünschbarem bieten, so besteht auch zwischen dem Märchengehalt der Novellen und der von Cipion vorgetragenen cuento-Theorie keine Kongruenz. Niemand wird mit gutem Gewissen behaupten können, El licenciado Vidriera oder das „Coloquio" seien durch Worte und Vortrag aufgeputzte Nichtigkeiten, enthalten sie doch nichts Geringeres als des Autors eigene Stellungnahme zu den Erscheinungen seiner Für Joh. K l e i n , Erscheinungsformen und Wesen der deutschen Novelle, in GRM X X I V (1936) S. 81—100, ist Fragestellung ein novellistisches Gesetz (S. 85: Kleists „Kohlhaas" ist [ . . . ] der Beweis, daß der Ausklang in Frage zu den wesentlichen Wirkungen der Novelle zählt). 2 ) Zur Zahlensymbolik und zur spanischen theologischen Kunsttheorie Curtius ELLM S. 249, 270—71; 532ff.; 543ff. — Daß die Zwölfzahl bewußt gewählt wurde, geht aus der Existenz anderer, nicht in die Sammlung aufgenommener cervantinischer Novellen wie La Tia fingida und El curioso impertinente hervor, deren Ausschließung man u. a. gelegentlich aus der mangelnden Beispielhaftigkeit zu erklären versuchte; u. E. zu unrecht. Auch der Anfang des Don Quijote (Kap. I—VII) bildet ja eine in sich abgerundete Novelle, ein „desatino", das mit der ersten Heimkehr des Helden und mit dem „escrutinio" in einen novellistischen „paradero" mündet, in eine Lösung, die sich erst durch die Fortsetzung im VII. Kapitel als Schein-Erlösung erweisen soll. Wie stark dieser Anfang auch stoff- und motivgeschichtlich sich vom übrigen Don Quijote abhebt, haben die Forschungen R. M e n é n d e z P i d a i s erwiesen: De G. y Lope de V., Un aspecto en la elaboración del ,Quijote'', bes. Kap. „El Entremés y la primera aventura del Quijote" (Vortrag von 1920) a. a. O. Die strukturelle Verwandtschaft des großen Romanwerkes mit den Novelas ejemplares bedarf keiner besonderen Nachweise mehr.
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Zeit, also eine Substanz von hohem spezifischem Gewicht. Die cuento-Theorie legt der Vokabel cuento keinerlei Qualitätsnuance bei, grenzt ihren stofflichen Inhalt nicht ab, sagt kein Wort von der darin enthaltenen Möglichkeit des Unwahrscheinlichen, von den Märchen, die auch cuentos heißen, nichts von ihrer Verwandtschaft mit den Erzählungen des Cervantes. Diese Theorie ist (bewußte oder unbewußte) Irreführung wie die meisten theoretischen Äußerungen von Dichtern; sie verschleiert den wahren Tatbestand. Im übrigen verwendet Cervantes das Wort cuento in solcher Bedeutungsvielfalt (allein im Coloquio für 1. Episode in der größeren Erzählung, 2. lange Geschichte, synonym mit historia, 3. kurze Geschichte, 4. Gespräch; plur. cuentos = Ausreden, Geschwätz, Fabelei1)), daß ein Kriterium für die Deutung der Theorie nicht daraus zu gewinnen ist. Wie andere Novellisten in Prooemien und Prologen so tarnte eben auch Cervantes seine wahren künstlerischen Absichten durch den herrschenden literarästhetischen Auffassungen entgegenkommende Theorien. Es ist das alte Spiel des Als ob, nur daß begreiflicherweise der Spanier eine andere Maske trug als die Renaissancenovellisten des aristotelisierenden Italien. Wenn er sich in seinem Prolog so überaus „platonisch" gebärdet — ,,Y así te digo (otra vez lector amable) que destas novelas que te ofrezco, en ningún modo potrás hacer pepitoria, porque no tienen ni piés ni cabeza, ni entrañas, ni cosa que les parezca" (a. a. O. S. 100) — so wissen wir, die wir die Novellen gelesen haben, es besser als der dort beim Beginn der Lektüre angesprochene Leser. Denn ohne Beine und Köpfe und Eingeweide könnten die Protagonisten schwerlich in ihre Bedrängnisse und peinlichen Situationen geraten. „Platonische" Schwärmereien sind diese Märchen nicht; und die Vergewaltigung einer Bewußtlosen oder die Durchtriebenheit einer Heiratsschwindlerin sind keine „requiebros amorosos [ . . . ] tan honestos y tan medidos con la razón y discurso cristiano [ . . . ] que no podrán mover á mal pensamiento", wie es uns im Vorwort versprochen worden war. Nach der Tradition und Topik der Novellenprologe seit Petrus Alfonsi wird der wahre Sachverhalt nur sehr vorsichtig angedeutet: „que no siempre se está en los templos, no siempre se ocupan los oratorios, no siempre se asiste á los negocios por calificados que sean: horas hay de recreación, donde el afligido espíritu descanse: para este efeto se plantan las alamedas, se buscan las fuentes, se allanan las cuestas, y se cultivan con curiosidad los jardines" (ebda.). In origineller Abwandlung begegnet dort der Unschicklichkeitstopos mit der üblichen Anspielung auf das gesetzte Alter des Autors, wie alles andere ein Faktor milder Verschleierung: lieber würde er sich die Hand abhauen, als im Leser böse Gedanken erwecken, denn ,,mi edad no está ya para burlarse con la otra vida, que al cincuenta y cinco de los años gano por nueve mas, y por la mano" (ebda.). Was ist am Ende die scheinbar selbstbewußte, scheinbar auf konkrete Elemente höfischer oder hoffähiger Unterhaltungskunst anspielende Bemerkung: „que pues yo he tenido osadía de dirigir estas novelas al gran conde de Lemos, algún misterio tienen escondido, que las levanta" — was ist sie, gemessen an der auf 1
) Man vgl. auch die verschiedenartige Anwendung der Vokabeln cuento und historia in BAE I S. 201, 225—28, 231—35, 237, 242—44.
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ein echtes Mysterium weisenden Fragestellung der kontrastreichen Novellenrunde, anderes als ein Topos affektierter Bescheidenheit ? Spanien blieb bekanntlich vom Aristotelismus fast verschont. Erheblich geringer als die ständig wachsende Bürde ästhetischer Postulate, mit denen Italiens Theoretiker seit dem 15. Jahrhundert die freischaffende Phantasie zu ersticken drohten, war die Last, die auf den Schultern der spanischen Autoren ruhte. Trotzdem fand Cervantes Anlässe genug, um sich über literarische Moden und Dichterrezepte lustig zu machen. Der Satire auf die Ritterromane im Don Quijote stellte er die kleinere Satire auf die Schäferdichtung im Coloquio de los perros (a. a. O. S. 228—29) zur Seite. Aber es gibt noch andere, nicht minder überzeugende Beweise für seine ablehnende Haltung gegenüber Theorie und Dichterschule überhaupt. Cervantes war der Bekenner der Vereinzelung und Urwüchsigkeit par excellence. Auf die Frage, warum die Dichter meist so arm seien, antwortete der Licenciado Vidriera (a.a.O. S. 162): „porque ellos querían, pues estaba en su mano ser ricos, si se sabían aprovechar de la ocasion que por momentos traían entre las manos, que eran las de sus damas, que todas eran riquísimas en extremo, pues tenían los cabellos de oro, la frente de plata bruñida, los ojos de verdes esmeraldes, los dientes de marfil, los labios de coral, y la garganta de cristal trasparente, y que lo que lloraban eran líquidas perlas, y mas que lo que sus plantas pisaban, por dura y estéril tierra que fuese, al momento producía jazmines y rosas, que su aliento era de puro ámbar, almizcle y algalia ; y que todas estas cosas eran señales y muestras de su mucha riqueza." Dies ist die Verspottung eines Systems, einer Schule, einer Dichtungstheorie, die für Cervantes die Theorie schlechthin repräsentierte. Den Sohn des corregidora, der Costanza nächtliche Ständchen bringt, nennt der Stallbursche Barrabás einen „trovador de Judas", weil er ,,á una fregona cosas de esferas y de cielos, llamandola lúnes, martes y ruedas de fortuna" vorsinge, ein Zeichen dafür „verdaderamente que hay poetas en el mundo, que escriben trovas que no hay diablo que las entienda" (S. 191) — womit Barrabás den Feinden der Theorie (und Cervantes den Gegnern des Culteranismo) aus dem Herzen spricht. Eine wahre Fundgrube von Verhöhnungen literarischer Verstiegenheit und Theorien ist des Coloquio de los perros, diese Demonstration einer durch beständiges Dazwischenreden eines Theoretikers (Cipion) unterbrochenen und gestörten erzählerischen Bemühung (Berganza). Serienweise werden dort die Requisiten der rhetorischen Doktrin — von der Eloquentia (S. 226) bis zur Imitatio (S. 229), von der künstlichen Reihenfolge und Disposition (S. 229) bis zur Metapher (S. 232), vom Topos des Niegesehenen (S. 229) bis zum Philologismus (S. 232—33), von der Theorie der Brevitas bis zum Adynaton (S. 229) — mit der Lauge des Sarkasmus übergössen. Cipions ciceronisch-horazische Belehrung über die zwei Arten der cuentos und alle dazugehörige Schulweisheit nimmt der Erzähler Berganza mit überlegenem Spott zur Notiz (S. 228) : ,,Υο tomaré tu consejo y esperaré con gran deseo que llegue el tiempo en que me cuentes tus sucesos; que de quien tan bien sabe conocer y enmendar los defectos que tengo en contar los míos, bien se puede esperar que contará los suyos de manera que enseñen y deleiten á un mismo punto". Deutlicher konnte die 136
ironische Anspielung auf das „docere delectando" und auf die Lehre von der didaktischen Verpflichtung der Kunst nicht sein. Horaz' Poetik, Gattungen, Regeln, Dispositionsvorschriften, Manierismus, was alles zusammen doch immer noch keine Dichtung ausmacht, werden am Ende in der Klage jenes Poeta lächerlich gemacht, die Berganza im Hospital erlauscht haben will (S. 244): „habiendo yo guardado lo que Horacio manda en su Poética, que no salga á luz la obra que despues de compuesta no haian pasado diez años por ella, y que tenga yo una de veinte años de ocupacion y doce de pasante: grande en el sujeto, admirable y nueva en la invención, grave en el verso, entretenida en los episodios, maravillosa en la division, porque el principio responde al medio y al fin, de manera que constituyen el poema alto, sonoro, heroico, deleitable y sustancioso, y que con todo esto no hallo un principe á quien dirigirle V Dieser Mann hat alles getan, was die literarästhetischen Gesetze vorschreiben, alles für den Dichterberuf Erlernbare hat er gelernt und angewendet. Aber was ist dabei herausgekommen? Niemand kümmert sich um sein Werk, niemand nimmt sich seiner an, er findet nicht einmal einen Eitlen, dem er es widmen dürfte. Und was enthält das verkannte Buch in der Schublade ? ,,Trata de lo que dejó de escribir el arzobispo Turpin del rey Artus de Ingalaterra, con otro suplemento de la historia de la demanda del santo Grial, y todo en verso heroico, parte en octava y parte en verso suelto ; pero todo esdrújulamente, digo, en esdrújulos de nombres sustantivos, sin admitir verbo alguno" (ebda.). Das ist — unter Seitenhieben auf den Gongorismus — die moralische Vernichtung des nach Rezepten dichtenden braven Anhängers ästhetischer Doktrinen: Cervantes zeigt ihn als blutloses Wesen ohne Fähigkeit zur Autorschaft, verwandt dem alles besser wissenden, alles theoretisch beherrschenden Hund Cipion, dessen oft versprochener Lebensbericht am Ende doch unerzählt bleibt 1 ). 1
) Unserem Nachweis der Märchentradition in den Novelas ejemplares widerspricht die These vom realistischen Charakter ,,der Novelle", die, durch die Autorität ihrer Urheber gestützt, seit der Romantik besonders nachhaltig auf die deutsche Novellentheorie gewirkt und sich mit der Vorstellung von der Existenz eines Idealtypus „Novelle" bis in die Gegenwart vererbt hat. Nachweise gibt Arnold H i r s c h , Der Gattungsbegriff ,Novelle', Frankf. Diss., Bln. 1928 (Teildruck; das Ganze: German. Studien 64, Bln. 1928), Kap. II: Geschichte des Worts, Geschichte der Novellentheorie, bes. S. 24ff.: „Friedr. Schlegel [ . . . ] erwähnt die N. und ihren .unendlichen' Gegensatz zum Märchen". -— Die französ. Abwandlung dieser romantischen Auffassung formulierte M m e de S t a ë l , De VAllemagne, Chap. X X V I I I (Des romans), Abs. 6 : „Plusieurs écrivains allemands ont composé des contes de revenants et de sorcières, et pensent qu'il y a plus de talent dans ces inventions que dans un roman fondé sur une circonstance de la vie commune : tout est bien si l'on y est porté par des dispositions naturelles; mais en général il faut des vers pour les choses merveilleuses, la prose n'y suffit pas. Quand les fictions représentent des siècles et des pays très différents de ceux où nous vivons, il faut que le charme de la poésie supplée au plaisir que la ressemblance avec nous-mêmes nous feroit goûter. La poésie est le médiateur ailé qui transporte les temps passés et les nations étrangères dans une région sublime où l'admiration tient lieu de sympathie." (Edit. Paris-Londres, Bd. II, 1813, S. 282—83).
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3. L o p e de V e g a s „ w i s s e n s c h a f t l i c h e " N o v e l l i s t i k Auch Lope de Vega stellt seine Novellen — Las fortunas de Diana, El desdichado por la honra, La mas prudente venganze, Quzman él Bravo1) — in einen Rahmen. Hatte Boccaccio sein Decameron den liebe- und trostbedürftigen Frauen gewidmet, so wendet sich Lope an eine einzelne Leserin, eine unbekannte Señora Marcia Leonarda, in der einige seiner Biographen die Geliebte des Dichters, Marta Nevares Santoyo, vermuten; hatte Piccolomini vorgegeben, auf Wunsch des Humanisten Sozzino aus Siena und gegen seinen eigenen Willen die Novelle von Euryalus und Lucretia aufgezeichnet zu haben, so behauptet Lope, auf Befehl der angeredeten Dame, ohne Hoffnung auf Erfolg, in einer ihm gänzlich fremden Gattung und Stilart sich versuchen zu müssen. Zwischen dem Rahmenschema des Florentiners, der eine ganze Gesellschaft von novellatori reihumerzählen läßt, und dem Briefrahmen des Senesen, der zwei Freunden eine Novelle sendet — dem einen, weil er sie angeblich erbeten, dem andern, weil er vielleicht ähnliches erlebt hat — findet Lope seine eigene Form : er macht nicht nur die Gegenwart des schreibenden Erzählers bewußt, sondern fingiert auch die Präsenz einer verehrten, begehrenswerten, die Novellen liebenden Leserin, die er sowohl am Beginn jeder Geschichte und am Schluß der letzten wie auch mitten in den Erzählungen — Handlung und Stimmung unterbrechend — mehrfach anredet. Der „Dialog" mit der Partnerin ist eine in die vier Novellen verwobene elegische Impression, zu handlungsarm, um Rahmenerzählung genannt zu werden, aber doch immerhin ein deutlich erkennbarer Rahmen. Originell daran ist die „aktive" Stummheit der Zuhörerin, die zwar — wie der Autor berichtet — eine Novelle bestellt und sie dann überschwänglich gelobt haben soll, so daß im Lob schon der Wunsch nach weiteren Novellen impliziert war, die aber dann durch ihr Verhalten, und ohne ein Wort zu äußern, im Erzähler erst die Befürchtung erweckt und dann die melancholische Gewißheit befestigt, daß er um den erhofften Lohn für sein „Opfer" (er novelliert ja gegen Neigung und Begabung, nur um Ergebenheit und Liebe zu beweisen) betrogen werden wird. Am Schluß ist er so resigniert (oder novelliert er schließlich doch nicht ungern?), daß er, auch ohne Hoffnung auf Liebeslohn, die Leserin zu einer weiteren Novelle, dem Pastor de Galatea einlädt, die in einem anderen Buch, dem Laurel de Apolo folgen soll. Diese Dialog-,.Pantomime" stellt nicht nur die Verbindung zwischen den thematisch voneinander unabhängigen vier Novellen her, sie betont zugleich auch den zeitlichen Abstand zwischen der Fertigstellung der ersten und der durch die Rahmenelegie enger zusammengefaßten anderen drei Erzählungen. Denn das elegische Element der Werbung durch das Erzählopfer wird erst mit der Einleitung zur zweiten Novelle in den Rahmen eingeführt, nachdem der ersten lediglich das „Schreiben auf Befehl" zum Vorwand gedient hat. Eine Interpretation dieses Rahmens und eine Gegenüberstellung der in ihn verarbeiteten Novellentheorie mit Lopes Novellenpraxis setzen die Kenntnis der 1
) Erstdruck von Las fortunas de Diana in La Filomena con otras diversas Rimas, Prosas y Versos, Madrid 1621; Erstdruck der drei anderen Novellen in dem Sammelband La Circe con otras rimas y prosas, Madrid 1624.
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allgemeinen Entwicklung seiner literarästhetischen Ideen voraus. Ramón Men é n d e z P i d a l 1 ) hat nachgewiesen, daß sich etwa um 1617 in Lopes theoretischen Anschauungen eine Wandlung vollzog. Hatte er bis dahin die freischaffende Phantasie gegen das aristotelische Dogma, gegen die Theorie überhaupt in Schutz genommen und „naturaleza" gegen „arte" ausgespielt (wobei arte in traditionellem Sinn als die Beherrschung der Regeln und Prinzipien, der „technischen" Konventionen, kurz als die rhetorisch-poetische Kunstbeflissenheit aufgefaßt war), so zeigte er sich seit 1617 von der Überzeugung durchdrungen, daß auch theoretisches Wissen zum Handwerk gehört, daß es ohne arte nicht geht, daß nach Plan und Gesetz, wenngleich nicht eines antiken Philosophen, gedichtet werden muß. So schuf sich Lope eine eigene, unsichtbare Poetik, die auf anderen Anschauungen beruhte als beispielsweise der 1609 veröffentlichte Arte nuevo de hacer comedias. Freilich blieb Lopes wichtigster Richtungspunkt auch für die neuen Theorien: das Publikum; aber es hieß jetzt bezeichnenderweise nicht mehr „vulgo", sondern „pueblo". Er legte seinen theoretischen Erkenntnissen eine systematische Beobachtung des Zuschauerraums und der dort erzielten Wirkungen seiner Stücke zugrunde, er machte zum Gradmesser nicht die Reaktion der Ungebildeten, sondern die verfeinerte Sensibilität urteilsfähiger Personen. Jetzt läßt er die Komödien nicht mehr wild wachsen wie „flores del campo de su vega, que sin cultura nacen", jetzt ist er der vorsichtig seine Mittel wählende und gebildete Autor einer „poesia científica", der die Überzeugung bekundet, man müsse auch Bühnenwerke „con erudición" schreiben und ohne Rücksicht auf die urteilslose Masse, mit der „non hay que hablarle en su lengua" 2 ). Diese literarästhetische Auffassung wird auch im Zusammenhang mit den Novellen bekundet, die nach 1617 (1621 und 1624) veröffentlicht sind. IhrePublikumsbezogenheit wird durch die Rahmenfiktion des Schreibens auf Wunsch einer bestimmten Leserin und innerhalb des Rahmens durch ausdrückliche diesbezügliche Äußerungen betont: „yo he pensado que tienen las novelas los mismos preceptos que las comedias, cuyo fin es haber dado su autor contento y gusto al pueblo" 3 ). Wie weit aber die Theorie in Lopes Novellen verwirklicht ist, bleibt zu untersuchen, denn es wäre denkbar, daß seine These der „poesia científica" ein Scheinzugeständnis an die machtvoll sich durchsetzende gongoristische Geschmacksrichtung war, und daß der ursprüngliche Lope mit seinem Glauben an die naturaleza sich nur hinter der Rahmenmaske des arte und der Wissenschaft versteckt. In anderem Zusammenhang hat schon Menéndez Pidal vor den Mißverständnissen gewarnt, die noch heutzutage durch blindes Vertrauen in Lopes theoretische Äußerungen entstehen: „hay también quien cree, como Morel-Fatio, que la comedia apenas ofrece interés fuera de España, tanto a causa de su vestimenta, muy típicamente española, como per la calidad ingénita de un arte que Lope siempre, en sus declaraciones, excluía del santuario de la gran literatura, concibiéndolo como un género popular espontáneo, que no quiere ser transportado del R . M e n é n d e z P i d a l , Lope de V. — El arte nuevo y la nueva biografia, in RFE X X I I (1935) S. 337ff. Unsere Zitate nach seinem Bändchen De Cervantes y L. de V. a. a. O. 2 ) Nach Menéndez Pidal ebda. S. 96. 3 ) BAE X X X V I I I S. 14b. Alle weiteren Lope-Zitate nach BAE (gleicher Band).
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tablado al libro. Siempre tropezamos con las declaraciones del autor entendidas al pie de la letra" (a. a. O. S. 103). Wenn man — die Analogie drängt sich auf — den italienischen Erzählern und ihren Vorworten glauben sollte, wären alle Novellen vom Tre- bis zum Seicento als „Nichtigkeiten" aus dem „Santuario de la gran literatura" auszuschließen; in der Tat haben die Topoi affektierter Bescheidenheit, die in so vielen Novellenprologen begegnen, das Urteil der Nachwelt über die italienische Literatur nicht wenig getrübt 1 ). Sogar ein Kritiker von der profunden Gelehrsamkeit Menéndez Pidais hat sich durch die Beteuerungen des „Fénix de los ingenios" ein wenig täuschen lassen, wenn er zu dem Schluß kommt : „Lope, perdido el respecto al Aristóteles de los comentaristas, no se desvela sobre las páginas de las poéticas al uso, sino que quiere crear la nueva poetica desentrañándola afanosamente del gran libro invisible que la sensibilidad moderna le pone delante de los ojos" (a. a. O. S. 93—94). Daß der vielbeschäftigte Bühnenautor seine Nächte nicht mit dem Studium der „poéticas al uso" verbrachte, wollen wir gern glauben; aber die Einleitungen zu seinen vier Novellen und die theoretischen Zwischenbemerkungen, mit denen er den Fluß seiner Erzählungen beständig unterbricht, offenbaren doch eine ausgedehnte Kenntnis der auf antiken Vorbildern fußenden Prooemientopik und den ausgeprägten Willen, durch elegante Betätigung rhetorisch-poetischer Traditionen das Wohlwollen einer durch den „Culteranismo" an raffinierte Genüsse gewöhnten Leserwelt zu gewinnen. Solche Leser mußte es schon ergötzen, den einstigen Verteidiger der naturaleza und Gegner des als Preziosität geschmähten Kunstwillens nun selbst in der Einleitung zur ersten Novelle im culteranen Kostüm an die Rampe treten zu sehen. Mochte die Señora Marcia Leonarda, der die Novelle gewidmet war, sein wer sie wollte — die culteranen Leser interessierten sich weniger für die Realität oder Irrealität ihrer Person als für das gezierte Prologspiel des Bühnenroutiniers, der mit der Beteuerung anhob, er sei dem Auftrag der Dame, eine Novelle zu schreiben (Topos des Schreibens auf Befehl) nicht etwa aus Undank bisher nicht nachgekommen, sondern aus Furcht, ihren Auftrag nicht erfüllen zu können (Topos des Unvermögens). Denn obgleich Arcadia und Peregrino einiges von diesem „genero y estilo mas usado de italianos y franceses que de españoles" enthielten, „es grande la diferencia y mas humilde el modo" (affektierte Bescheidenheit), und vor allem: „mandarme que escriba una novela ha sido novedad para mí" (den Tatsachengehalt entkräftendes Wortspiel: novela—novedad) (S. la). Es mußte diese Leser bestricken, das Spiel der Prooemientopik mit den durch den Culteranismo zu überschwänglichen Ehren erweckten Tropen verwoben zu sehen wie in folgender Periode: „Yo, que nunca pensé que el novelar entrara en mi pensamiento [Formel des Unvermögens; Wortspiel: pensé-pensamiento], me veo em1
) Diese Vorurteile charakterisiert ζ. Β. M m e de Staël, Corinne ou de l'Italie, Liv. VII (De la littér. ital.) Chap. II, Paris 1820 I, S. 255: „Alfieri, impatienté de vivre au milieu d'une nation où l'on rencontrait des savants très-érudits et quelques hommes très-éclairés, mais dont les littérateurs et les lecteurs ne s'intéressoient pour la plupart à rien de sérieux, et se plaisoient uniquement dans les contes, dans les nouvelles, dans les madrigaux [ . . . ] , a voulu donner à ses tragédies le caractère le plus austère".
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barazado entre su gusto de vuestra merced y mi obediencia [Formel des Schreibens auf Befehl ; Antithese] ; pero por no faltar á la obligación, y porque no parezca negligencia [Schreiben auf Befehl; Antithese; Tautologie], habiendo hallado tantas invenciones para mil comedias [Topos Selbstlob], con su buena licencia de los que las escriben [ironische captatio benevolentiae], serviré á vuestra merced con esta [Schreiben auf Befehl], que por lo menos [affektierte Bescheidenheit] yo sé que no la ha oido [Topos Niegehörtes] ni es traducida de otra lengua" [ironische Anspielung auf Cervantes' Novellenprolog; imitatio] (ebda.). Was die Topoi des Schreibens auf Befehl, des Unvermögens, des Selbstlobes, die Formeln affektierter Bescheidenheit, der captatio benevolentiae, des Niegehörten und andere anbelangt, so brauchen wir nur auf das in früheren Kapiteln Gesagte und nochmals auf die Mittelalterstudien von E. R. C u r t i u s zu verweisen. Charakteristisch für Lope ist, daß er seiner Novellentheorie innerhalb des Rahmens noch einen Sonderrahmen gibt: die theoretischen Äußerungen in der Einleitung zur ersten Novelle sind eingebettet in die soeben interpretierten, den Gongorismus bewußt und witzig kopierenden Sätze; ein ähnliches Verfahren wurde drei Jahre später in den Einleitungen zu den Novellen II, I I I und IV praktiziert. In der Einleitung zu El desdichado por la honra (S. 14) sind Äußerungen zur Novellentheorie in die topische Fiktion des Schreibens auf Befehl eingeschachtelt. Wieder wird vorgegeben, ,,que [vuestra merced] me manda escribir un libro délias [de novelas], como si yo pudiese medir mis ocupaciones con su obediencia" (Antithese; Schreiben auf Befehl; culterane Abstraktion). Wieder wird Inkompetenz und Unlust vorgeschützt: ,,en esta [ . . . ] fuerza que hago á mi inclinación, que halla mayor deleite en mayores estudios" (affektierte Bescheidenheit und Selbstlob). Wieder verflicht sich dieProoemientopik mit einem Feuerwerk culteraner Stilmittel: , , [ . . . ] aparece como la luz que guiaba á Leandro [mythologische Anspielung; Bild], la llama resplandeciente de mi sacrificio [Metapher], así opuesta al imposible como á las objeciones de tantos [Hyperbel], á que está respondido con que es muy proprio á los mayores años [Metonymie] referir ejemplos" (Exemplatheorie). Auf die novellistischen Prologtraditionen wird sogar ausdrücklich verwiesen: ,,con este advertimiento, que á manera de proemio introduce la primera fábula". Daß es sich hier nur um Manifestationen von Lopes eigener, selbsterfundener, „unsichtbarer" Poetik, nicht aber um manieristische, dem Culteranismo direkt abgelauschte Ornamentik handle (die ihrerseits eine noch nicht genau erforschte, in die Antike zurückweisende Tradition hat 1 ), daß darüber hinaus nicht auch die Register der rhetorischen Poetik gezogen seien, kann er uns heute nicht mehr einreden. Lope kannte diese Traditionen sehr genau und bediente sich ihrer mit Raffinement. Immer wieder versuchte er neue Abwandlungen der Topoi des Unvermögens, des Schreibens wider Willen. In der Einleitung zur dritten Novelle (S. 24) kreuzt er sie mit einer neuen Interpretation seiner einstigen naturalezaThese: „Prometo á vuestra merced que me obhga á escribir en materia que no sé cómo pueda acertar á servirla, que, como cada escritor tiene su genio particular, á que se aplica, el mio no debe de ser este, aunque á muchos se lo parezca. Es l
) Curtius ELLM Kap. 15.
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genio, por si vuestra merced no Io sabe, que no está obligada á saberlo, aquella inclinación que nos guia mas á unas cosas que á otras ; y así, defraudar el genio es negar á la naturaleza lo que apetece" und nochmals: „Advirtiendo primero que no sirvo sin gusto á vuestra merced en esto, sino que es diferente estudio de mi natural inclinación". So entwickelt der Autor aus dem Topos des Schreibens auf Befehl die Fiktion des Schreibens gegen Neigung, Begabung und naturaleza, eine manieristische, verschnörkelte Darstellung des Novellierens als Akt der Selbstverleugnung, des arte als „sacrificio", das die Leserin zu Dank verpflichte: „pues en lo que se hace por el gusto proprio se merece menos que en forzalle, obligúese mas vuestra merced al agradecimiento." Immer künstlicher, komplizierter, assoziationenreicher und culteraner wird diese Prooemialfiktion. In der Einleitung zur letzten Novelle (S. 34a) steigert sie sich zu einer Anhäufung verneinter und antithetisch gebrauchter Zitate, Anspielungen, Vergleiche und Bilder: ,,Si vuestra merced desea que yo sea su novelador, ya que no puedo ser su festejante, será necesario, y aun preciso, que me favorezca y que me aliente el agradecimiento. Cicerón hace una distinción de la liberalidad en graciosa y premiada; benigna la llama, siendo graciosa, y si ha tenido premio, conducida. No querría caer en este defecto; pero como yo no tengo de hacer cohecho, así no querría perder derecho; que no es razón que vuestra merced me pague como Enéas á Dido, remitiéndome á los dioses, cuando dijo [ . . . ] " . Dies ist die barocke Übertreibung des Topos Schreiben auf Befehl, eine metaphorische Übersteigerung des Erzählopfers zum Novellieren als bewußtem „Sich um Geistesfrüchte betrügen lassen"; heißt es doch (ebda.) unmißverständlich : ,,yo me dejo engañar porque lo entiendo". Damit streift die culteran ornamentierte Prologtopik zugleich Lopes Novellentheorie, allerdings an einer Stelle, wo unsere Analyse nicht beginnen darf. Fangen wir bei der Einleitung zur ersten Novelle, bei den berühmten, im Verlauf der vorliegenden Arbeit schon mehrfach zitierten Worten über die ungeschriebenen Erzählungen an (S. 1): „En tiempo menos discreto que el de ahora, aunque de mas hombres sábios, llamaban á las novelas cuentos. Estos se sabían de memoria, y nunca, que yo me acuerde, los vi escritos ; porque se reducían sus fábulas á una manera de libros que parecían historias, y se llamaban en lenguaje puro castellano caballerías, como si dijésemos : Hechos grandes de caballeros valerosos". Die doppelte Verankerung der spanischen Novellistik in der von Rodríguez Lobo u. a. nach Castiglione-Cicero aufgebrachten „Tradition" der ungeschriebenen cuentos und der caballerías wird im Hinblick auf die Wirksamkeit der reinen Imagination (la invención) in den letzteren nachdrücklich hervorgehoben: „Fueron en esto los españoles ingeniosísimos, porque en la invención, ninguna nación del mundo les ha hecho ventaja, como se ve en tantos Esplandianes, Febos, Palmerines, Lisuartes, Florambelos, Esferamundos y el celebrado Amadis, padre de toda esta máquina, que compuso una dama portuguesa". Die spanische invención habe über die Grenzen hinaus gewirkt, auch die Italiener „el Boyardo, el Ariosto y otros siguierón este género, si bien en verso"; für Lope sind also die Ursprünge der Novellistik nicht in den Exempeln Dantes, nicht im Decameron, nicht im Erbe der italienischen Renaissance zu suchen, deren er nur mit einer Anspielung auf die 142
spanischen Übersetzungen und Nachahmungsversuche gedenkt: „y aunque en España también se intenta, por no dejar de intentarlo todo, también hay libros de novelas, délias traducidas de italianos, y délias proprias", sondern in jener angeblich ungeschriebenen, an der Grenze zwischen Schwank, Märchen und Fabel liegenden heimischen Erzählweise, in jenen abenteuerlichen Rittergeschichten voller UnglaubWürdigkeiten, in jener Imagination und Erfindungsart, deren Tradition in die Novelas ejemplares gemündet ist. Aber Lope bleibt angesichts der cervantinischen Prägung unbefriedigt. Zwar gesteht er zu, daß unter den heimischen Novellisten ,,ηο faltó gracia y estilo á Miguel Cervantes"; aber was hätte gerade dieser aus der Sache machen können, wäre er der richtige Mann dazu gewesen! „Confieso que son libros de grande entretenimiento, y que podrían ser ejemplares, como algunas de las historias trágicas del Vandelo; pero habían de escribirlos hombres científicos, ó por lo menos grandes cortesanos, gente que halla en los desengaños notables sentencias y aforismos": ein Idealbild der spanischen Novellistik, eine ganze Liste von Forderungen, die — obgleich mit dem Stich wort „cortesanos" an Castigliones Doktrin anknüpfend — Lopes eigene Novellen-,,Poetik" darstellt, deren Verwirklichung in den Novellen erwartet werden soll. Durch den Hinweis auf Bandellos im bewußten Widerspruch zur Novellentheorie des Cinquecento konzipierte Novellen wird eine deutliche Grenze gegen Italien gezogen; nur einige der von den Franzosen überarbeiteten ernsten Geschichten Bandellos bestehen vor Lopes Kritik. Das ist wenig, wenn man an die Hunderte italienischer Renaissancenovellen denkt, die im Original oder in Bearbeitungen nach Spanien gelangt waren. Aber das „entretenimiento" soll mit Beispielhaftigkeit und mit Ernst Hand in Hand gehen, es soll also grundsätzlich anders angelegt sein als die italienische piacevolezza, jene theoretisch von Pontanus begründete gesellschaftliche Fazetienkunst, die im Cinquecento nicht einmal im Rahmen einen dunklen Kontrast dulden wollte. Mag das Lob der „historias trágicas" im Munde des Komödienautors überraschen — eine flüchtig hingeworfene Bemerkung ist es nicht; eine solche Annahme verbietet nicht nur der trockene Ton der Einleitung zur ersten Novelle, sondern auch die Praxis der dritten. Denn für das „Tragische" — vorsichtiger gesagt: für den Ernst beim Novellieren — einzutreten, hält sich der Dichter in der Einleitung zu La mas prudente venganza verpflichtet, wenn es ihm mit seinen persönlichen Neigungen auch nicht vereinbar scheint: „es diferente estudio de mi natural inclinación, y mas en esta novela, que tengo que ser por fuerza trágico ; cosa mas adversa á quien tiene, como yo, tan cerca á Jupiter" (S.24). Dies wäre das stärkste Bekenntnis eines Novellendichters zu einem Gattungszwang, das wir nachweisen können, stünde es nicht in der topischen Fiktion vom Erzählopfer, mit dem der Autor seine Leserin zu einer zärtlichen Dankesbezeigung zwingen will. Wenn schon das Novellieren Selbstüberwindung kostet, wieviel mehr, wenn der heitere, witzige, lebenslustige Lope sich einem der Novelle innewohnenden Zwang zum „Tragischen' ' beugt ! Diese Folgerung läßt sich aus der dritten Novelle und ihrer Einleitung ziehen; sie zeigt, wie nahe an der Grenze der Fiktion die theoretischen Äußerungen eines Dichters liegen. 143
Eine Deutung des zweiten Teiles des oben zitierten programmatischen Satzes ist mehrfach versucht worden. Wir stützen uns zunächst auf die Interpretation von Werner Krauss. E r sieht in der Forderung, daß Novellenautoren „hombres científicos" sein sollten, einen Topos ohne Sinnkraft 1 ) und versteht die Kritik an den Novelas ejemplares vor allem aus Lopes Weltvertrautheit: „Der Mangel an Welterfahrung bedingte demnach die ästhetische Fehlanlage der Novellistik von Cervantes! Die Kunst des höfischen Zuschnitts, die Lope bei ihm vermißt, konnte nur im vertrauten Umgang mit höfischer Welt erworben werden" 2 ). Dem Weltmann und Beherrscher der spanischen Bühne waren die Novelas ejemplares zu still, zu versponnen, zu wenig publikumsbezogen; er fand sie nicht nur nicht exemplarisch; er vermißte darin „notables sentencias y aforismos", wie sie ein durch Intrigen und gesellschaftlichen Umgang gewitzter, desillusionierter (er sagt nicht ausdrücklich: durch Castiglione erzogener) Hofmann in Hülle und Fülle hätte bieten können. E r warf Cervantes das Fehlen jenes Elementes vor, das Pontanus und der „Cortegiano" doktrinär gefordert hatten: das Fehlen der gesellschaftlichen Anlage der Novellen, der Pointierung. Die Novelas ejemplares hatten für seinen Geschmack zu viel Distanz; sein in unmittelbarer Erdnähe wirkender Geist vernahm nicht die aus der Antithetik von Märchenwelt und Parodie resultierenden metaphysischen Fragen seines ganz anders gearteten Zeitgenossen. Lopes Novellenprogramm und die Novelas ejemplares beweisen, daß die Tradition der cuentos, caballerías und ejemplos als drei Schattierungen spanischer Erzählkunst und die Theorie der Italiener von zweien der repräsentativsten Spanier des 17. Jahrhunderts in diametral entgegengesetztem Sinn verstanden und bewertet wurden. *
Um aber zu Lopes Idealbild vom Novellendichter zurückzukehren, so ist in der Literarästhetik das Wort scientia zu oft gefallen, als daß die Hypothese „hombres científicos" nicht auf einen Deutungsversuch Anspruch erheben dürfte. Auf die Vieldeutigkeit des Terminus ist dabei selbstverständlich zu achten. Mit einigen Traditionen, die dem Begriff der Gelehrsamkeit innewohnten, verträgt er sich offensichtlich nicht. So zum Beispiel nicht mit der Dreiteilung des Sprachstils im 16. Jahrhundert in korrekte Gelehrtensprache, höfische Diktion und Vulgärsprache — was von Werner K r a u s s bereits gezeigt wurde 3 ). Zweifellos auch nicht mit der Vorstellung von der Gelehrtheit des „poeta theologus", um die sich die Theoretiker des Mittelalters stritten und die bis in Lopes Jahrhundert herab die spanische Literarästhetik beeinflußt hat 4 ). Wenn Lope dem Novellisten Cervantes fremd und verständnislos gegenüberstand, mußte er dann nicht auch unter einem gelehrten Dichter etwas grundsätzlich anderes verstehen als jener ? ZrPh L X S. 21. ) W. K r a u s s , L. de V.s poetisches Weltbild in seinen Briefen, in Gesammelte Aufsätze zur Literatur- u. Sprachwissenschaft, Frankf. a. M. 1949, S. 199ff. ') ZrPh L X S. 21 Fn. *) C u r t i u s , Theol. Poetik im ital. Trecento, in ZrPh L X (1940) S. Iff. sowie ELLM Kap. 12 u. Exkurse X X I I , X X I I I . 2
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Cervantes hatte durch den Mund des Licenciado Vidriera folgendes Bekenntnis abgelegt (BAE I S. 162 a): „Preguntóle otro estudiante que en qué estimación tenia á los poetas. Respondió que á la ciencia en mucha, pero que á los poetas en ninguna. Replicáronle que por qué decía aquello. Respondió que del infinito número de poetas que habia, eran tan pocos los buenos, que casi no hacían número; y así como si no hubiese poetas, no los estimaba; pero que admiraba y reverenciaba la ciencia de la poesia, porque encerraba en sí todas las ciencias; porque de todas se sirve, de todas se adorna y pule, y saca á luz sus maravillosas obras, con que llena el mundo de provecho, de deleite y de maravilla. Añadió mas : Yo bien sé en lo que se debe estimar un buen poeta, porque se me acuerda de aquellos versos de Ovidio, que dicen: Cura ducum fuerunt olim Regumque poetas : Praemiaque antiqui magna tulere chori. Sanctaque majestas, et erat venerabile nomen Vatibus : et largae saepe dabantur opes. Y ménos se me olvida la alta calidad de los poetas, pues los llama Platon intérpretes de los dioses, y de ellos dice Ovidio: Est Deus in nobis, agitante calescimus ilio. Y también dice: At sacri vates, et Divum cura vocamur." Offenbar drückt diese cervantinische Prägung gerade das aus, was die lope'schen „hombres científicos" auf keinen Fall sein sollten oder konnten. Die von Menéndez Pidal zusammengestellten literarästhetischen Ansichten des älteren Lope de Vega (über das Komödienschreiben ,,con erudición"; über die „arte", die nicht mehr die Sprache des vulgo spricht; über die „poesia científica") sind wesentlich pragmatischer angelegt als die seherische „ciencia de la poesia" des gläsernen Lizentiaten, die nichts anderes als den „poeta theologus" in sich schließt. Erudición, die sich auf Beobachtung der Wirksamkeit von Bühnenstücken im Publikum stützt, hat nichts mit der ciencia zu tun, aus der die Worte der Vates fließen; das Ablauschen culteraner Stilelemente, die Kenntnis derProoemientopoi und der antiken Autoren, sind einem Gesamtwissen im Sinne religiösen Tiefenblicks diametral entgegengesetzt. Und doch hat auch Lope sich zur theologischen Dichtungstheorie bekannt. In der Juan de Arguijo gewidmeten Question sobre el honor debido ά la poesia (vor 1623) verwies er auf die Autoren der Antike, die den Dichter heilig nannten, auf die kultische Poesie bei Barbaren, Heiden und Christen, untersuchte er die außerhalb des religiösen Charakters der Dichtung liegenden Anlässe zu ihrer Anfeindung (heidnische Mythologie oder Verstöße gegen Sitte und Anstand), gab er einen Uberblick über die Poesie Spaniens unter besonderer Hervorhebung der Dichter adligen Standes1). Es fällt schwer, diesem der spanischen Poetiktradition Rechnung tragenden Bekenntnis zum „poeta theologus" das gleiche Gewicht bei1
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) Unsere Inhaltsangabe im Anschluß an Curtius ELLM S. 535. Novellentheorie
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zumessen wie der cervantinischen ciencia de la poesia. Weder können mit den hombres científicos Dichtertheologen im Sinne der literarästhetischen Tradition gemeint sein noch Forscher und Gelehrte. Die Formel erweist sich also in zwei Richtungen als „Topos ohne Sinnkraft" 1 ). Dagegen weist eine andere Wendung der „Question" aus dem theologischen oder fachlichen Bereich der ciencia in ihren weltlichen, erfahrungsmäßigenVordergrund, nämlich zu den durch das Wissen um Menschen und Menschenbehandlung ausgezeichneten „grandes cortesanos" der Novelleneinleitung zurück. Das Zitieren vorzugsweise adliger Autoren in der „Question" offenbart die gleiche Auffassung wie der hier zu analysierende Prolog : daß nämlich im Gesellschaftsleben stehende Männer durch desengaños ein Erfahrungswissen sammeln, das der Mitteilung und Veröffentlichung wert ist, das in „notables sentencias y aforismos" Niederschlag finden, also belehrend in der Dichtung verwendet werden kann. Eine Auffassung, die mit der Entstehung der Bezeichnung „klassischer ( = zur höheren Gesellschaftsklasse gehörender2)) Dichter" zusammenhängt und als Lehrmeinung keine eigene „unsichtbare" Poetik Lopes, sondern eine Abwandlung des horazischrömischen Nützlichkeitsprinzips, des docere delectando darstellt. Die Erhellung von dieser Seite her und die Abgrenzung von Lopes Novellistenideal gegen die cervantinisch-theologische ciencia rückt die Deutung der hombres científicos als culteranos oder allgemeiner als Humanisten in den Bereich des Möglichen. Die — zum mindesten in den Rahmen — eingeträufelte starke Dosis culteranismo wurde bereits sichtbar gemacht. Die Novellen enthalten ferner als auffallende Elemente: beständiges Zitieren antiker Autoren 3 ), fortwährende Anspielungen auf Mythen, häufige „philologische" Abschweifungen ins Gebiet der Etymologie und Semasiologie, ausdrückliche Unterstreichungen stilistischer Kunstgriffe u. dergl. — lauter gelehrte Züge, über deren preziose Verwendung zu dichterischen Zwecken sich der Cervantes des Don Quijote-Vro\oga, des Coloquio de los perros, der ironischen Ausfälle gegen den Gongorismus spöttisch ausgelassen hätte. Lopes „hombres científicos" sind Autoren, die die Theorie der Erzählkunst, die „ars" des Novellierens beherrschen. Sein aus dem Widerspruch gegen Cervantes konzipiertes Ideal einer von „hombres científicos" und „grandes cortesanos", von theoretisch gebildeten und zugleich gesellschaftlich erfahrenen Schriftstellern geschriebenen Novellistik trägt den Stempel der Herkunft von Pontanus und Castiglione. Lope de Vega nennt in seiner großzügigen Skizzierung der Ursprünge der Novellistik den Italiener Bandello ausdrücklich als Ausnahme. Das ist ein charakteristischer Zug seiner „unsichtbaren" Poetik. Denn in Wirklichkeit hatte er die Italiener gut studiert. Gerade einer unter ihren hombres científicos, ein Humanist W. Krauss, in ZrPh L X S. 21. ) Die Freiheit der rhetorischen Spiele war z. B. bei S a n t i l l a n a vom soziologischen Standort der Erzeugung her zur Grundlage einer Dreistufung der Dichtung gemacht (hierzu Krauss, Novela—Novelle—Roman, a. a. O. S. 21 Fn.). — Über den Zusammenhang des Begriffs „klassischer Autor" mit den Vermögens- und Gesellschaftsklassen: Curtius ELLM Kap. 14, bes. S. 253. 9 ) Über Lopes Novellistik und ihre Struktur: John D. F i t z - G e r a l d in R F X X X I V (1915) und G. Cirot, Valeur littér. des nouvelles de L. de F., in BHisp. X X V I I I (1926) S. 321ff. 2
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von europäischer Statur, hatte bei der Ausschmückung von Lopes Novellen mit „gebildeten" und „gelehrten" Zutaten verschiedener Art die unleugbare Patenschaft übernommen. Wo anders war der fein stilisierte Briefwechsel zwischen Liebenden, waren erlesene Zitate aus antiken Autoren, war der Vorwand des Erzählens für einen individuellen Novellenempfänger so kokett zum novellistischen Ausdruck verdichtet worden als in E. S. Piccolominis (1496 erstmals ins Spanische übersetzter) Historia de duobus amantibus ? Und hatte nicht längst ein anderer Gelehrter, der italienische Humanist Pontanus, der Novellentheoretiker des Quattrocento, Lopes Ideal von den hombres científicos und den grandes cortesanos in jener Definition des Novellendichters vorweggenommen, die er dem Masuccio aufs Grab schrieb : Nobilis ingenio, natuque nobilis idem E t doctis placuit, principibusque viris ? So weit die polemische, aus der Kritik an Cervantes konzipierte Novellentheorie von 1621. — Die 1624 erschienene Novellengruppe, die durch elegische Färbung des Rahmens von der ersten Novelle kaum merklich abrückte, trägt auch die theoretischen Äußerungen in verändertem Tone vor. Aus der durch die erste Novelle befestigten Position des hombre científico und grande cortesano spricht der Autor jetzt mit größerer Nonchalance. Seine „unsichtbare" Poetik ist deshalb nicht weniger mit der Tradition verklammert. Darauf weist Lope in der lakonischen Erläuterung der ejemplos-Theorie (S. 14a): „que es muy proprio á los mayores años referir ejemplos, y de las cosas que han visto contar algunas; verdad que se hallará en Homero, griego, y en Virgilio, latino, bastantes á mi crédito, por ser los príncipes de las dos mejores lenguas; que de la santa no se pudieran traer pocos, si mi propósito fuera disculparme". Die Berufung auf die antike und auf die biblische Tradition der Exempla (und zugleich der Novellen) konnte mit weniger Worten kaum angedeutet werden. Auch hier muß man wieder auf einen älteren Italiener zurückgreifen, um in ähnlicher Weise das Beispielerzählen als dichterische Figur mit höchster Ehrfurcht, humanistisch-theologisch, an göttliche Ursprünge geknüpft zu sehen. I n den Epistölae de rAus familiaribus et variae1) des Petrarca lesen wir: „Quid vero aliud parabolae Salvatoris in Evangelio sonant, nisi sermonem a sensibus alienum, sive, ut uno verbo exprimam, alieniloquium, quam allegoriam usitatiori vocabulo nuncupamus ?" Nachzuweisen, ob und wie Lope solche Äußerungen italienischer Humanisten bekannt geworden sind, müßte einer speziellen Untersuchung vorbehalten bleiben. Unser Anliegen ist vor allem, das vielseitige Wissen des Dichters um diese Tradition, seine überraschende „Verbundenheit" mit Autoren, die wir guten Gewissens als hombres científicos auffassen dürfen, glaubhaft zu machen und zu zeigen, daß seine Novellenpoetik an die Überlieferung Anschluß sucht. Auch wo es kaum zu vermuten wäre, steht der Theoretiker Lope auf dem Boden der den italienischen Novellisten l
) Brief P.s an seinen Brader Gerardus, edit. J. F r a c a s s e t t i , II, Firenze 1862, S. 82—83. Uber die Filiation: Gleichnis im NT. — Exemplum—Novelle vgl. Rud. Brummer, Die erzählende Prosadichtung in den roman. Literaturen des XIII. Jahrh., I, Bln. 1948, S. 27—28 (danach auch unser P.-Zitat). 10*
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vertrauten Gepflogenheiten. Wie Boccaccio sein Verhältnis zur Theorie durch die in die Rahmenfiktion des Decameron gefügte Parabel vom mißglückten Erziehungsexperiment des Asketen charakterisiert, wie Masuccio die Topoi affektierter Bescheidenheit und des künstlerischen Unvermögens im „Parlamento dell'autore al suo libro" versinnlicht durch die Parabel vom Bauern, der Xerxes aus schmutzigen Händen einen Schluck Wasser bietet — so konkretisiert Lope seine preziose Doktrin durch zwei in den Rahmen gefügte Parabeln. Das erste dieser Gleichnisse (Einleitung zur zweiten Novelle, S. 14) bekennt mit starker Ironie und Selbstironie des Autors Verpflichtung gegenüber den Spracherneuerern seiner Zeit: „Confieso á vuestra merced ingenuamente que hallo nueva la lengua de tiempos á esta parte, que no me atreva á decir aumentada ni enriquecida; y tan embarazado con no saberla, que por no caer en la vergüenza de decir que no la sé, para aprenderla, creo que me ha de suceder lo que á un labrador de muchos años". Dem unglücklichen labrador de muchos años verweigerte der Pfarrer die Absolution, weil er den Wortlaut des Glaubensbekenntnisses vergessen hatte. Was tat aber der schlaue Alte, um sich des Glaubensbekenntnisses zu „erinnern", ohne vor aller Welt seine Gedächtnisschwäche einzugestehen (zumal er ,,á la cuenta tampoco sabia leerle") ? „Vivia un maestro de niños dos casas mas arriba de la suya, sentábase á la puerta mañana y tarde, y al salir de la escuela decia con una moneda en las manos: ,Niños, esta tiene quien mejor dijere el credo.' Recitábale cada uno de por sí, y él le oia tantas veces, que ganando opinion de buen cristiano, salió con aprender lo que no sabia." Wenn diese Parabel Lopes Verhältnis zum Culteranismo und Conceptismo definiert — und auf welches andere Sprachphänomen sollte sie sich beziehen ? — dann drückt sie zugleich aus, in welchem Vollgefühl der Überlegenheit in den Novellen mit den neuen Sprachgepflogenheiten gespielt werden soll, wie wenig der Autor seine Kunst damit zu vertiefen glaubt, wie nachsichtig er lediglich auf den gerade herrschenden Publikumsgeschmack eingehen will. Um alle Mißverständnisse auszuschließen, hängt Lope dieser Parabel eine Art Kommentar an, der freilich stark von den apodiktischen Äußerungen der Einleitung von 1621 abweicht. „Paréceme que vuestra merced se promete con esta prevención la bajeza del estilo y la copia de cosas fuera de propósito, que le esperan" ; das sind zwar Topoi affektierter Bescheidenheit, aber in diesem Sonderfall zugleich boshafte Sticheleien gegen die Culteranos und Conceptisten und deutliche Ankündigung einer geplanten literarischen Persiflage. Die nun folgende „Novellendefinition" setzt das Wissen der hombres científicos und die Erfahrungen der grandes cortesanos nur noch beiläufig voraus: „pues hágala á su paciencia desde ahora, que en este género de escritura ha de haber una oficina de cuanto se viniere á la pluma, sin disgusto de los oidos, aunque lo sea de los preceptos; porque, ya de cosas altas, ya de humildes, ya de episodios y paréntesis, ya de historias, ya de fábulas, ya de reprehensiones y ejemplos, ya de versos y lugares de autores, pienso valerme, para que ni sea tan grave el estilo, que canse á los que no saben, ni tan desnudo de alcun arte, que le remitan al polvo los que entienden." In dem „cuanto se viniere á la pluma, sin disgusto de los oidos, aunque lo sea de los preceptos" wird der Theorie — und nicht nur der Lopeschen 148
von 1621 — eine Absage erteilt. Was folgt, beweist den Willen zu einer Kompromißlösung, wiederum mit Rücksicht auf einen großen Leserkreis, der Gebildete und weniger Gebildete umfassen soll. Der Erzähler hat über den Theoretiker gesiegt. Die Einleitungstheorie, die erst drei Jahre zurückliegt, gilt nicht mehr. Man erzählt nicht den preceptos, sondern den oidos zuliebe, unter Umständen sogar den preceptos zum Trotz. Die ganze Weite des Novellenbereichs, wie ihn schon das Mittelalter und das Trecento gekannt hatten, öffnet sich in dieser Ankündigung: ,,en este genero de escritura ha de haber una oficina de cuanto se viniere á la pluma". In der fröhlichen, überschwänglichen Antithetik der Aufzählung sind die verschiedensten Kategorien rubriziert : das Erhabene und das Alltägliche; Episoden und Einklammerungen oder Abschweifungen (die allen Novellendoktrinären unbekannt bzw. verabscheuungswürdig sind) ; wirkliche Begebenheiten und Fabeleien (man gedenke der Formel Boccaccios „cento novelle, o favole o parabole o historie che dire le vogliamo") ; ernste Ermahnungen und Exempel ; Zitate aus Poesie und Prosa ; das Ganze weder preziös noch kunstlos, allgemein verständlich, aber sin disgusto de los oidos vorgetragen. Das ist die neue, am weitverzweigten Stammbaum erzählender Formen und Möglichkeiten gewachsene Theorie des Novellisten Lope de Vega. In Wirklichkeit aber, gemessen am Prolog zur ersten Novelle, schon nicht mehr Theorie! Dort sprach tatsächlich ein Doktrinär, der unter dem Vorwand, aufgefordert worden zu sein, ein eigenes Ideal der Novelle verwirklichen und den Ruhm des vor wenigen Jahren verstorbenen ersten und größten spanischen Novellisten verdunkeln wollte. Hier hingegen spricht der wieder zum ruhigen Selbstbewußtsein zurückgekehrte schöpferische Autor. Mit der ironischen Parabel vom Alten, der das Credo repetiert, stellt er sich nicht gegen, sondern neben Cervantes. Mit dem Kommentar dazu widerruft er sein eigenes Dogma von 1621. Er kehrt zurück zu seiner Komödienpraxis, zu seiner Beobachtung des Zuschauerraumes, und sei es auf Kosten der handwerklichen Vorschriften, „aunque se ahorque el arte". Der Satz: „Demás, que yo he pensado que tienen las novelas los mismos preceptos que las comedias, cuyo fin es haber dado su autor contento y gusto al pueblo, aunque se ahorque el arte", den Menéndez Pidal als Beweis für Lopes Hinwendung zur gebildeten Schicht heranzieht, muß gleichzeitig als teilweise Abwendung von der These des Dichtens con erudición verbucht werden: und sollten auch alle Regeln der Kunst verletzt werden, auf die Wirkung kommt es an. Das Ziel des Erzählers heißt nicht mehr notables sentencias y aforismos, sondern : contento y gusto al pueblo ( = Ergötzung und Kurzweil für den Leser). Das Novellieren hat keinen ausschließlich didaktischen, sondern vorwiegend unterhaltenden, keinen gelehrten sondern künstlerischen Zweck. Wie ein cervantinischer Scherz aus dem Coloquio de los perros oder aus dem „Quijote"-Prolog wird noch hinzugesetzt: ,,y esto, aunque va dicho al descuido, fué opinion de Aristoteles, y por si vuestra merced no supiere quien es este hombre, desde hoy quede advertida de que no supo latin, porque habló en la lengua que le enseñaron sus padres, y pienso que era en Grecia"(S. 14b). Lopes literarästhetische Ideen haben also, soweit sie sich aus seiner Novellentheorie ablesen lassen, ihre gelehrte Zuspitzung wieder überwunden. Zwar ist an 149
die Stelle des einst umworbenen vulgo das gebildetere pueblo getreten, aber von den hombres científicos und den grandes cortesanos als idealen Novellenautoren war doch nur ein einziges Mal — 1621 — die Rede. Das ist 1624 bereits soweit überholt, daß ein Dementi für notwendig erachtet wird. Denn die Rahmenparabel zur Novelle El desdichado por la honra und der Kommentar über die unbegrenzten Möglichkeiten der Novellen sind ein Widerruf des im Tone eines Manifestes abgefaßten Prologs zur vorangegangenen Novelle. Von der damals konstruierten Theorie werden die Novellen I I , I I I und IV abgerückt. Und diese zweite Verlautbarung wird nicht mehr rückgängig gemacht. Die Einleitung zu La mas prudente venganza bringt in dieser Hinsicht nichts Neues, und die zweite Rahmenparabel (in der Einleitung zur letzten Novelle, S. 34) bestätigt nur die Erkenntnisse, die bei der Analyse der ersten gewonnen wurden. Die zweite Parabel parodiert nicht nur den Geschenktopos der Novellenprologe (Novellen pflegt man darzubringen wie einen Schluck Wasser oder einen Korb Salat [Masuccio, Sermini u. a.], wie Erstlinge der Ernte, wie Zwiebeln und Knoblauch [Bandello u. a.]), sondern auch den darin implizierten Appell an ein großherziges Mäzenatentum, der die Novellieri im Schein der Juglartradition, der Kunstübung niederen Ranges, der auf milde Gaben angewiesenen Armut, also einer ganz und gar nicht „klassischen" Autorschaft auftreten ließ. Die kurze Parabel hat folgenden Wortlaut: ,,Y aunque la gracia siga al que la da, y no al que la recibe, creo que habernos de ser vuestra merced y yo como el caballero y el villano que refiere Faerno, autor que vuestra merced no habrá oido decir, pero gran ilustrador de las fábulas de Esopo. Dice pues que llevando una liebre un rústico apiolada, así llama el castellano á aquella trabazón que hacen los piés asidos, despues de muerta, le topó un caballero, que acaso por su gusto habia salido al campo en un gentil caballo, y que preguntando al labrador si la vendía, le dijo que sí, y pidiéndole que se la mostrase, le preguntó al mismo tiempo cuánto quería por ella. El villano se la puso en las manos, viendo que quería tomarla á peso, y le dijo el precio ; pero apenas la tomó el caballero en ellas, cuando poniendo las espuelas al caballo, se la quitó de los ojos. El labrador burlado, haciendo de la necesidad virtud y del agravio amistad, quedó diciendo : , Que le digo, Señor, yo se la doy dada, cómasela de balde, cómala alegramente, y acuérdese que se la he dado de mi voluntad, como á mi buen amigo'." Auch dieses Gleichnis erhält einen umständlichen, auf die hypochondrischen „aplicaciones" eines Don Roseli de Fuenllana anspielenden Kommentar, der in der Erklärung gipfelt: „pues claro está que,fiando de vuestra merced estas novelas, me las corre. Y así, me parece que seria bien comenzar esta, diciendo por la pasada: ,Llévesela vuestra merced, yo se la doy de mi voluntad;' si bien del villano á mí hay esta diferencia, que le engañaron á él sin entenderlo, y yo me dejo engañar porque lo entiendo." Womit auch der Topos des Schreibens auf Befehl, auf dem die ganze Rahmenfiktion beruht, in eine Komödienpointe mündet, die ihn und die Vorstellung eines zärtlichen Mäzenatentums der Novellenfreundin zerstört. Hier ist die Rahmenimpression zu Ende, die Elegie wird zur „burla". Die kommende Novelle kann also nur die letzte dieses Kreises sein. Nach dieser Wendung der Rahmenfiktion, die Theorie und Topik ad absurdum 150
führt, stellt der Schlußsatz von Guzman el Bravo nur noch eine prospektartige Verlagsnachricht dar: Ankündigung einer Novelle, die in einem anderen Buch erscheinen soll. Nur der Culteranismo wird dabei noch einmal abklingend parodiert: ,,si á vuestra merced le parecieren pocos amores y muchas armas, téngase por convidada para el Pastor de Galatea, novela en que hallará todo lo que puede amor, rey de los humanos afectos, y á lo que puede llegar una pasión de celos, bastardos suyos, hijos de la desconfianza, ansia del entendimiento, ira de las armas e inquietud de las letras; pero no será en este libro, sino en él que saldrá despues, llamado Laurel de Apolo" (S. 44b). Nun erschöpft sich aber die Rahmenfiktion nicht in den Einleitungen zu den vier Novellen und im Schlußsatz. Sie ist durch beständige Unterbrechungen des Erzählstromes innig mit den Novellen verwoben. Das Ganze macht den Eindruck einer Intarsie. Auch die kleinste Einlage ist integrierender Bestandteil dieser spielerischen Erzählweise, soll doch Seite für Seite der Charakter der vertrauten Plauderei des Autors mit seiner zurückhaltenden Novellenfreundin bewußt werden. Auch theoretische Äußerungen sind noch gelegentlich in dieses barocke Gitterwerk des Rahmens eingefügt. Die erste Novelle, Las fortunas de Diana, enthüllt sich als ernsthafte Bemühung um Verwirklichung der in ihrer Einleitung proklamierten Theorie. Ein nach dem Muster spätgriechischer Abenteurerromane und spanischer caballerías, lose verknüpfter patrañas und ans Märchenhafte rührender cuentos konzipierter Stoff wird mit dem gelehrten Apparat klassischer Zitate, literarhistorischer Analogien, etymologischer Randglossen ausgestattet, mit angeblichen aphoristischen Äußerungen großer Höflinge, mit Spruchweisheiten, philosophischen Kernsätzen und Sentenzen durchsetzt, mit den überraschend nüchternen Wendungen eines durch Weltkenntnis und Menschenbeobachtung gewonnenen desengaño gemischt und mit dem stilistischen Zierrat eines epigonalen Culteranismo ausstaffiert. Unwahrscheinliches ist realistisch detailliert, Belangloses erhält durch Einschübe, Analogien und Zitate untragbares Gewicht. Lappalien bilden Vorwände für Belehrungen und Syllogismen. Wo an die Gutgläubigkeit des Lesers besonders hohe Anforderungen gestellt werden, müssen literarische Parallelen und Zitate die dem Dargestellten fehlende Überzeugungskraft ersetzen. Dafür nur ein Beispiel: der wegen seiner Armut nicht gesellschaftsfähige, aber wegen seiner Tugenden hoch gerühmte Celio flüstert der vornehmen Diana, der Schwester seines Freundes Octavio, während eines Empfanges im Palast ihrer Mutter zu: „¡Qué deseada tenia yo esta visita!" Was ihm — zu seiner und des Lesers Überraschung — keinen strengen Blick, keine Zurechtweisung einträgt, sondern: „ella respondió con agradable rostro: ,Νο estáis engañado'." Den cervantinischen Märchengestalten, die in ihren desatinos die Beziehung zur gesellschaftlichen Gebundenheit ihrer Umwelt aufgeben, könnte Derartiges ohne Verlegenheit widerfahren. In Lopes toledanischem Salon mit seinen Anstandsbegriffen und Vorurteilen bedarf aber die kühne Antwort der jungen Dame eines literarischen Alibis ; deshalb beeilt sich der Autor beizufügen: „Aquí me acuerdo, señora Leonarda, de aquellas primeras palabras de la tragedia famosa de Celestina, cuando Calisto le dijo: ,En esto veo, Melibea, la grandeza de Dios.'Y ella responde: ,¿En qué, 151
Calisto V Porque decia un gran cortesano que si Melibea no respondiera entonces l en qué, Calisto ? que ni habia libro de Celestina, ni los amores de los dos pasaran adelante. Así ahora en estas dos palabras de Celio y nuestra turbada Diana se fundan tantos accidentes, tantos amores y peligros, que quisiera ser un Heliodoro para contarlos, ó el celebrado autor de la Leucipe, y el enamorado Clitofonte." Nachdem dieser literarhistorische Exkurs die Verblüffung des Lesers ein wenig gedämpft hat, kann die Wirkung von Dianas Antwort geschildert werden: „Admirado Celio de la respuesta amorosa, donde la esperaba tan áspera, en castigo de su atrevimiento, quedó como fuera de sí" (S. 2). Angesichts der häufigen Anwendung dieses Kunstgriffs 1 ) ist man geneigt zu glauben, Las fortunas de Diana seien ein literarischer Scherz. Aber diese erste Novelle ist noch ebenso ernst gemeint wie die vorangestellte Novellendoktrin, denn gerade an Höhepunkten der Handlung läßt sich der Autor die Gelegenheit ironischer Pointierung entgehen. Er will uns einreden, daß eine junge Dame der toledanischen Gesellschaft (fluchtbereit, mit der mütterlichen Juwelenschatulle auf nächtlichem Balkon den Geliebten erwartend) den ersten besten Spaziergänger, der „sin advertir en nada" schon vorübergegangen ist, zurückpfeift (,,le ceceó dos veces"), um diesem vermeintlichen Freund das Brillantenköfferchen — natürlich auf Nimmerwiedersehen — anzuvertrauen (S. 4b). Er will uns weismachen, daß der Bräutigam nach der nächtlichen Flucht der Liebsten friedlich schlafen geht, um von seinem intelligenteren Diener am nächsten Vormittag geweckt und auf den Ernst der Lage aufmerksam gemacht zu werden. Schließlich sollen wir, unter lauter Detailschilderungen glaubwürdiger Ereignisse am königlichen Hof und in Spaniens südamerikanischen Besitzungen, die Ernennung der als Mann verkleideten, durch den Herzog von Bejar aus dem Stande eines Bauernburschen zum Vertrauten erhobenen Diana zum Vizekönig für möglich halten. Niemand im Staat und bei Hof kommt auf den Gedanken, nach der Herkunft eines jungen Menschen zu fragen, dem eines der wichtigsten und gefahrvollsten Ämter anvertraut werden soll. Nicht einmal der Geliebte durchschaut den „Vizekönig", der ihn aus dem Kerker befreit und auf wochenlanger Seereise täglich mit ihm zusammen ist. Nein, das alles ist kein Scherz. Der Autor distanziert sich nicht durch ein einziges Witzwort und durch keinerlei Anspielung, Zitat oder Digression von soviel milieuwidriger UnglaubWürdigkeit. E r gibt sogar eine literarische Begründung für das Unerkanntbleiben der zum höchsten Staatsamt aufgestiegenen Diana 2 ). Hätte Lope — was wir erwarteten — eine Satire auf die Beziehungslosigkeit der x
) Nach einigen auf der Strickleiter vor dem Fenster der Liebsten verbrachten Abenden werden Celios Bitten dringender. Aber der Dichter zögert, ihm einen übereilten Erfolg zu schenken, und schiebt eine literarische Analogie ein; sogar kurz vor der Erfüllung der Wünsche seines Protagonisten unterbricht der Autor die Darstellung mit gespielter Entrüstung (S. 3). a ) „Pienso [ . . . ] , que ν . m. me tendrá por desalentado escritor de novelas, viendo que tanto tiempo he pintado á Diana sin descubrirse á Celio despues de tantos trabajos y desdichas; pero suplico á v. m. me diga, si Diana se declarara [ . . . ] , ; cómo llegaba este gobernador á Sevilla î" (S. 13).
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cervantinischen Märchennovellen zur damaligen Gesellschaft beabsichtigt, so wären ihm die anfänglich verwendeten abschweifenden Unterbrechungen an Höhepunkten dieser Geschichte sehr zustatten gekommen. Ironische Zwischenrufe des Erzählers in der Balkonszene, beim gesunden Schlaf des Bräutigams, angesichts der mangelnden Menschenkenntnis Bejars oder des Königs, hätten parodistische Akzente aufgesetzt. — Wirklich erzielt wird hingegen der Eindruck einer mißglückten Kombination cervantinischer Märchenhandlungen mit der Realität der höfischen Gesellschaft, komödienhafter Details mit einer spätgriechischen Abenteurerwelt ; von Ansätzen literarischer Satire in einer unausgereiften Ritterromanskizze. Witzige Akzente sind auf unwichtige Einzelheiten gesetzt und um ihre Wirkung gebracht 1 ). Die Tendenz, starke Gefühlsausbrüche oder Höhepunkte des Geschehens durch ablenkendes Dazwischenreden zu dämpfen oder durch Gefühlsmischung zu markieren, erreicht in dieser Novelle noch nicht die Meisterschaft, die dem barocken Rahmengitter eine distanzierende Funktion verleihen könnte 2 ). So halten Las fortunas de Diana leider, was die einleitende Theorie verspricht. Die Arbeit ist nach dem Rezept konstruiert, gibt sich gelehrt, von Aphorismen und höfischen desengaños belastet, auf cuentos und caballerías begründet. Sie ist ein künstliches Gebilde, kein Kunstwerk; ein Experiment, keine Novelle. Wenn Lope geschickt genug war, aus der Not der Theorie von 1621 nach drei Jahren eine Tugend zu machen, ohne dabei die Rahmenfiktion zu zerstören, was wurde unter so veränderten Voraussetzungen im Jahre 1624 aus den Novellen? Die in der Parabel vom Credo verheißene Parodie des Culteranismo und Conceptismo wird in El desdichado por la honra folgerichtig durchgeführt. Die Gedichteinlagen sind teilweise gelungene Nachahmungen conceptistischer oder gongoristischer Poesie. Die erzählende Prosa ist von manieristischen Stilfiguren durchsetzt. Periodenkonstruktion, Einschübe, Abschweifungen sind scherzhafte Imitation der Preziosität. Es fehlt auch nicht an offener Satire auf die Cultos und an verschachtelten Satzungetümen oder sarkastischen Begriffsspaltereien3). Der modische Gebrauch der Ellipse wird komisch übertrieben 4 ), mit Antithesen wird x
) Vor der Lektüre einer eingelegten Romanze warnt der Autor (S. 6). Es wird auf die Clichéhaftigkeit der Hirtenromane verwiesen (ebda.). — Ironisch wird die Unstimmigkeit von Hirtenmilieu und Novelle angedeutet (S. 8). 2 ) Dianas Niederkunft wird durch Virgil- und Ovidzitate verklärt (S. 7). — Der Eindruck von Celios Verzweiflung an einem der Tiefpunkte seines Schicksals, im Seesturm, wird durch eine aus Erudition, Ironie und theoretischen Anspielungen gemischte Digression gemildert (S. 10b—IIa). In ähnlicher Weise dämpft ein Ausfall gegen die Komödienautoren die Wirkung von Celios Erlebnisbericht (S. IIa). 3 ) „como amor está en la sangre, vase presto al corazon y da aviso al aima" (S. 13a). — „Dejemos de disputar si era culto, si puede ó no puede sufrir esta gramática nuestra lengua, [. . . ] juzgando lo que desean entender por entendido, y remitiendo al que los escribió la inteligencia y la defensa" (S. 15a). — „Todos los músicos huyeron, que es gente á quien embarazan los instrumentos por la mayor parte, que no se entiende en todos [ . . . ] " (S. 16b) u. dergl. 4 ) „Holgóse mucho Amath de conocer al emperador Cárlos V, al rey II y III" (Ellipse des Eigennamens Felipe) (S. 19b).
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virtuos gespielt1), die Metapher wird ad absurdum geführt 2 ), culterane Bilder werden in rührende Situationen eingebaut 3 ), der Unsagbarkeitstopos weitet sich zu einer spaltenlangen Serie antimanieristischer „intercolunios" aus4). Warum so viel Ablenkungen in einer ergreifenden Szene ? Treibt den Komödienpraktiker nur die Abneigung gegen Beschreibungen zum Spiel mit Dämpfung und Distanzierung ? „Todos estos intercolunios han sido, señora Marcia, por aliviar á vuestra merced la tristeza que le habrán dado las lágrimas de Silvia, y excusarme yo de referir el contento y alegría de los dos amantes, habiéndose conocido" (S. 21a). Auch in dieser zweiten Novelle unterbricht Lope sich selbst durch ironische Zwischenrufe. Gleich zu Beginn klagt er sich an: ,,Mal he hecho en confesar que escribo historia de tiempos presentes" (S. 14b), denn von Scherereien wegen Verwendung von Aktualitäten weiß der Bühnendichter ein Lied zu singen; darum fügt er auch gleich eine nicht zur Sache gehörige Anekdote ein. Einmal empfiehlt er der Leserin, eine Seite zu überschlagen5), ein andermal macht er einen spaßigen philologischen Exkurs®), ein drittes Mal zitiert er Autoren oder weit hergeholte Textstellen aus vergessenen Traktaten. Auf Schritt und Tritt begegnen philosophische Leitsätze, Aphorismen, boshafte Randglossen über die „Technik" des Erzählens oder Komödienschreibens 7 ). Auch die literarische Analogie hilft wieder über schwierige Situationen hinweg8). Diese scherzhaft, ironisch oder parodistisch verwendeten Formspiele, diese feinen psychologischen Erkenntnisse sind nicht ohne Reiz und können einen literarisch gebildeten Leserkreis geistreich unterhalten. Aber die Parodie verträgt sich schlecht mit dem Sujet der Novelle. In El desdichado for la honra soll ein zeitgenössisches Problem novellistisch gelöst werden. Durch „el nuevo bando del rey don Felipe I I I acerca de los moriscos" (S. 17—18) werden Feiisardos Eltern, deren Stammbaum auf die Abencerrages zurückgeht, zur Emigration aus Spanien gezwungen. Felisardo selbst, der in Sizilien im Dienst des spanischen Vizekönigs steht, wäre hingegen nicht genötigt, seine Position in der überseeischen Besitzung aufzugeben, zumal er vom Statthalter Seiner Katholischen Majestät hochgeschätzt und zum Bleiben aufgefordert wird. Auch dringende persönliche Gründe — seine Liebe zu der Palermitanerin Silvia Menandra, die ein Kind von ihm erwartet — sollten ihn an Sizilien binden. Aber seine Ehre ist durch das königliche Dekret verletzt, er folgt seinen Eltern nach Konstantinopel. Er wird nur zurückkehren, falls eine aufsehenerregende, für Spanien nützliche Tat ihm die Wiedereinsetzung in alle Rechte eines Dieners der spanischen Krone sichern sollte. Er tritt in türkische Dienste, aber sein hochfliegender und gestaltloser Plan läßt sich nicht verwirklichen. Er „enternecido de justas memorias y arrepentido de injustas ofensas" (S. 20a). ) „porque no hay papeles mas declarados y efectivos que unos ojos que asisten á mirar amorosamente" (S. 20a). 3 ) BAE a. a. O. S. 21a. *) BAE ebda. *) BAE ebda. S. 23a. β) Ebda. S. 16a und S. 22a. 7 ) Ebda. S. 19a. 8 ) Ebda. S. 23b. a
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fällt im Kampf mit den Häschern des Sultans unter Umständen, die seine Ehre keineswegs wiederherstellen, und der Autor schließt resigniert mit der Feststellung: ,,así quedaron sus pensamientos burlados, y Silvia creando aquella desdichada prenda suya" (S. 24a). Falls die Sinnlosigkeit eines überlebten Ehrbegriffs in dieser Geschichte gegeißelt werden sollte, oder falls es auf die Unzulänglichkeit der vom Helden gewählten Mittel ankam, hätte dies parodistisch oder kritisch verdeutlicht werden müssen. Es entsteht jedoch der Eindruck, als habe der Autor den dramatischen Konflikt zwischen Liebe und Ehre, der nach einer tragischen Lösung zugunsten der Ehre (etwa wie inAntoine de la S a l l e s Novelle von M m e de Chastel) verlangt, übersehen oder mit dem Charakter des Helden nicht entsprechenden Mitteln einer zwar traurigen, aber sinnlosen Zufallslösung ausgeliefert. Das angebliche Spanienheimweh der in Felisardo unglücklich verliebten „Sultana" und die blinde Wut eines Unwetters, nicht aber der Kampf für die Ehre beenden das Leben des Titelhelden, dessen charaktervoller Entschluß am Anfang Bedeutendes verheißen hatte. Lope läßt seinen zum Äußersten entschlossenen Protagonisten in der Planlosigkeit ritterromanhafter Irrfahrten verderben. So bleibt der Leser auch durch diese zweite Erzählung ästhetisch unbefriedigt. War das Wachstum der ersten durch ein Übermaß bewußter Konstruiertheit gestört, so verhindert in der zweiten die wahllose Verwendung ,,de cuanto se viniere á la pluma" eine den künstlerischen Anforderungen entsprechende Lösung. So fällt El desdichado por la honra der These von 1624 zum Opfer, dem Streben nach „contento y gusto al pueblo, aunque se ahorque el arte". Die dritte Novelle, La mas prudente venganza, ist ohne theoretische Vorbehalte, ohne „wissenschaftliches" Programm konzipiert. Zwar heißt es in der Einleitung: „que es diferente estudio de mi natural inclinación, y mas en esta novela, que tengo de ser por fuerza trágico; cosa mas adversa á quien tiene, como yo, tan cerca á Jupiter" (S. 24a); aber das ist nur topische Unfähigkeitsbeteuerung, elegische Rahmenfiktion. Zwar schmücken auch diese Novelle das stilistische Beiwerk eines epigonalen Culteranismo und Conceptismo, „gelehrte" Randglossen und erlesene Zitate, aber diesmal dient alles mehr der Mischung von Stimmungen und Gefühlen als der literarischen Parodie, ist alles mehr Spiel als Persiflage 1 ). Die prezióse Redeweise verbindet sich mit dem die Katastrophe herbeiführenden Briefwechsel des Liebespaares zu einem reizvollen, für die spanische Novellistik neuen Element leidenschaftlich-zärtlichen Ausdrucks, wenn Lisardo etwa schreibt : „Yo partí de Sevilla por fuerza, navegué sin vida, llegué á Méjico sin alma, viví muerto, guardé lealtad invencible, volví con esperanza, hallé mi muerte, y para todo he hallado consuelo en el engaño desta carta; mas para tanto desprecio será imposible; que tenerme en poco, aunque sea sobra de contento en el nuevo estado, es falta de discreción en la cortesía" (S. 30a), oder wenn Laura antwortet: „porque podré yo replicaros que, si vos no aventurais por mí cosa que vos podéis vencer con solo que queráis, ¿como quereis que yo per vos aventure lo que no puedo cobrar si una vez lo pierdo por vos ? Mirad cuál hará mas en esta turbada !) Ebda. S. 2áb, 25a—b, 27b.
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confusion de nuestro amor: yo, que sofro lo mismo que vos y soy mujer, ó vos, que me quereis perder por no sufriros á vos" (S. 31b). Es fällt auf, daß, je mehr sich die Handlung dem Höhepunkt nähert, die Ornamentik desto stärker zurücktritt. Da drängt sich plötzlich eine Fülle von Geschehen und Empfindungen in einzelne, nicht einmal lange Sätze: ,,Aqui vive Menandro, y Marcelo, su yerno" (S. 29a) — heißt die lakonische Antwort auf Lisardos Frage, wer jetzt, nach den langen Jahren seiner Abwesenheit, im Hause seiner Geliebten und ihrer Eltern wohne. Über die zweite Trennung der Liebenden erfahren wir durch dieses kommentarlose Bild: „Aguardó el desesperado mozo dos dias, al fin de los cuales salió de Sevilla von Antandro y Fabio, pasando en postas por la calle de Laura, que al ruido de la corneta y al rebato del alma, dejando la labor, se puso á una reja, dove estuvo sin color hasta que le perdió de vista" (S. 32 a)1). In der kurzen Mitteilung von Lauras verhängnisvollem Entschluß ist schon die Nemesis mitangekündigt: „Que ya estoy determinada á vuestra voluntad, sin reparar en padres, en dueño, en honra, que todo es poco para perder por vos". In solchen Augenblicken ist auch der Kunstgriff der Unterbrechung durch den Erzähler und die Apostrophe zum Zweck der Distanzierung und Gefühlsmischung mit Raffinement und Erfolg angewandt: „Realmente, señora Marcia, ruft der Dichter nach der Mitteilung dieses verhängnisvollen Briefes aus, que cuando llego á esta carta y resolución de Laura, me falta aliento para proseguir lo que queda. ¡Oh imprudente mujer! ¡Oh mujer! Pero paréceme que me podrían decir lo que el ahorcado dijo en la escalera al que le ayudaba á morir, y sudaba mucho: ,Pues, padre, no sudo yo, ¿y suda vuesa paternidad V Si á Laura no se le da nada del deshonor y peligro, ¿para qué se fatiga el que solo tiene obligación de contar lo que pasó ? que aunque parece novela, debe de ser historia" (ebda.). Hier kommt das Streben, jeden Gefühlsüberschwang durch ein Scherzwort abzufangen, jedes Erschrecken durch ein Lachen zu mildern, der Novelle köstlich zu statten. Die distanzierende Funktion des Rahmens ist durch den Temperaturwechsel dieser Zwischenbemerkung bis an die Grenze der Empfindungskontraste gesteigert. Mag zur Verwendung dieses Kunstgriffs manche Erfahrung aus der Werkstatt des Komödienautors beigetragen haben — als novellistisches Element war auch die kontrastierende Dämpfung bei den Italienern vorgebildet. Einer der wenigen italienischen Autoren, auf die Lope eingangs verweist, hat dieses dichterische Mittel häufig und glänzend gebraucht: immer bemühte sich Ariost, in der Schilderung des Schmerzes und der Leidenschaft nicht bis zum Äußersten zu gehen, jede Gewaltsamkeit zu vermeiden. Der Orlando Furioso, dessen Episoden oft die schönsten Versnovellen sind, entsprach in Abgewogenheit und vorsichtiger 1
) Die Trennung des Liebespaares erinnert lebhaft an den Abschied von Euryalus und Lucretia in Piccolominis Historia de duobus amantibus, wo auch die gleiche Art des Zitierens und der Anführving analoger Geschehnisse aus Mythos und Geschichte begegnet. Die Verlegung entscheidender Wendepunkte der Handlung in den Briefwechsel verdankt Lope offensichtlich dem ital. Humanisten. — Beweise für Lopes Kenntnis der ital. Novellistik bei Max K r e n k e l , Klassische Bühnendichtung der Spanier, Lpz. 1887, III S. 55, und Walther K ü c h l e r , Vom Bild des Menschen in der ,Comedia', in R J b II, Hamburg 1949, S. 196ff.
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Nuancierung der Gefühle dem Schönheitsideal der Renaissance, das vom Dichter Maßhalten auch in der Leidenschaft, auream mediocritatem auch in tragischen Situationen forderte. Bei Ariost ist darum, wie einer seiner wenigen deutschen Kritiker ( G a s p a r y ) feinfühlig erkannte, das tragische Pathos zur elegischen Weichheit herabgestimmt. Wo immer im „Orlando" starke Affekte beschrieben werden, dämpft sie Ariost durch ablenkende Vergleiche oder komische Elemente, aber auch durch eine Sprache, deren Künstlichkeit aus der Realität des Gefühls hinausweist. Man kann dieses Vorgehen an mehreren Episoden (Zerbinos Tod, Bradamantes Klage, Darstellung Sacripantes, Angelica auf der Insel Ebuda, Idyll Angelica-Medoro, Brandimartes Tod usw.) kontrollieren 1 ). Lope verweist in den Novellen auf dieses Verfahren wie auf einen eigens von ihm ersonnenen Kunstgriff; er hat es aber zweifellos, bewußt oder unbewußt, als novellistisches Element von Ariost erlernt. Stimmungsgegensätze und Gefühlsantithesen treten in Lopes dritter Novelle vielfach an die Stelle der in den vorangehenden Erzählungen angewandten Formspielereien. Humorvolle Episoden und heitere Parenthesen dämpfen zuerst den Ernst des Hauptmotivs, lassen aber das blutige Ende umso furchtbarer erscheinen. So etwa, wenn Lisardo die von Laura gesandten Speisen mit einem seine Dienerschaft erschreckenden Appetit verzehrt 2 ), oder wenn bei Lauras Heirat mit Marcelo eine Anekdote über die hohen Korkabsätze an Damenschuhen eingeschoben und sogleich durch einen Kommentar abgeschwächt wird3). Die Wirkung der kalt überlegten ( = prudente) Rache des Ehemannes, der fünf Menschen zum Opfer fallen, wird durch mehrere Kontraste gesteigert. Zuerst überrascht die scheinbare Nachsicht, mit der Marcelo seinen Nebenbuhler durch eine Gartentür aus dem Haus entläßt 4 ), was in Wirklichkeit nur ein Manöver zur Täuschung des Dieners und zur Wahrung der Ehre des Hauses ist. Am Ende aber, da schon vier Menschen Marcelos Rachebedürfnis erlegen sind, bevor das gleiche Schicksal auch den fünften ereilt, erfüllt der Rahmen nochmals seine distanzierende, Autor und Leser über das furchtbare Geschehen emporhebende Funktion. Konnte Marcelos Ehrgefühl sich nicht mit drei Menschenleben zufriedengeben ? Mußte immer noch mehr Blut fließen ? — fragt der Erzähler dazwischen5). Und nun schiebt er, mitten in den Vollzug der Nemesis, eine Betrachtung über Rache und Ehre, die wie der Entwurf eines anderen, gottgefälligeren Novellenschlusses anmutet, wie die Hypothese eines milden, christlichen, weise Abgeklärtheit des Entehrten voraussetzenden Ausgangs, in unerhörtem Kontrast zum tatsächlichen Ende®). Nicht nur die dritte Novelle, sondern auch die Problematik der zweiten wird rückstrahlend durch diese weisen Betrachtungen aufgehellt: „pues ¿qué Wolfg. W i e s n e r , Ariost im Lichte der dt. Kritik, Basel 1941, S. 132—136; E. F r o m a i g e a t , Die kom. Elemente in A.s „Orl. Fur", Winterthur 1907, S. 112. Vgl. auch oben S. 153 Fn. 2. 2 ) BAE a. a. O. S. 25b. a ) Ebda. S. 28b—29a. 4 ) Das Motiv dürfte aus Bandellos Novelle I / X I übernommen sein, wo der denunzierende Diener eine ähnliehe Bolle spielt wie bei Lope. 5 ) BAE a. a. O. S. 33b—34a. e ) Ebda. S. 34a. 157
medio se ha de tener ? El que un hombre tiene cuando le ha sucedido otro cualquiera género de desdicha: perder la patria, vivir fuera della donde no le conozcan, y ofrecer á Dios aquella pena, acordándose que le pudiera haber sucedido lo mismo si en alguno de los agravios que ha hecho á otros le hubieran castigado ; que querer que los que agravió le sufran á él, y él no sufrir á nadie, no está puesto en razón ; digo sufrir, dejar de matar violentamente, pues por solo quitar á él la honra, que es una vanidad del mundo, quiere el quitarlos á Dios si se les pierde el alma" (S. 34). Mehr als die Ansicht über den Ehrenstandpunkt interessiert in dieser Untersuchung das ästhetische Gewicht der eingeschobenen Betrachtung, die sich äußerlich gibt wie ein der Novelle künstlich angehängter Exempelschluß. — Machen wir die Probe aufs „Exempel". Denken wir uns diese Einfügung fort! Kann die Novelle auch ohne sie bestehen wie La española inglesa ohne die sechs Zeilen des angehängten Kommentars ? Die Wegnahme der eingeschobenen Betrachtung würde nicht nur das Ende der Novelle einer kostbaren Kontrastwirkung berauben, sondern offensichtlich das Gleichgewicht des Ganzen zerstören. Denn die vernichtende Macht einer durch hohe Intelligenz und kluge Berechnung nicht gezähmten, sondern genährten maßlosen Leidenschaft, diese Dämonie kann in ihrer ganzen Schrecklichkeit und über den Menschen hinausweisenden Bedeutung nur begreiflich gemacht werden, wenn auch jene anderen übersinnlichen Kräfte, die ihr entgegenstehen, auch wenn sie hier nicht in Kraft traten, sich sichtbar machen oder anrufen lassen. Lopes Zwischenrufe im Schluß von La mas prudente venganza sind eine Anrufung! An Gott wendet sich der Dichter, da er seinen Protagonisten in Satans Hand sieht. Er spricht vom Opfer, das allein eine schwere Ehrenkränkung überwinden könne : „ofrecer á Dios aquella pena" — ,,digo sufrir, dejar de matar violentamente". Das ist eine die scheinbare Lehrhaftigkeit der Zwischenbemerkung ästhetisch überwindende, wahrhaft dichterische, erschütternde Wendung. Am Verlauf des Schicksals kann sie freilich nichts ändern, denn — obwohl zwei Jahre seit den unheilvollen Anlässen der Katastrophe verflossen sind — der Rächer ruht nicht, er bereitet auch seinem fünften Opfer ein ,,klug" vorausbedachtes, einen Unfall vortäuschendes Ende 1 ). So sind die scheinbar nicht zur Novelle gehörige Rahmenbetrachtung und der Schlußsatz (S. 34) nicht minder wichtig als die Handlung selbst mit ihrer Intrige, ihrer Verwicklung, ihrer Katastrophe. Aus der Exemplatradition hat Lope die „Belehrung" als novellistische Schlußwendung übernommen, aber selten dürfte dieses alte Requisit in der Novellistik so dichterisch umgewertet und als ästhetischer Faktor so glücklich in ein katastrophales Ende einbezogen worden sein wie in La mas prudente venganza. Als Echo aus dem Unsichtbaren tritt die ideale Lösung hypothetisch der realen gegenüber, als sollte der Protagonist vor der letzten schrecklichen Tat noch in einen Spiegel blicken und seinen Irrtum erkennen. Aber es ist zu spät. In die Schauer des zerstörenden Wahns mischt sich nur noch für den Erzähler und seine Leserin die tröstliche Gewißheit, daß, wenn 1
) Auch dieses wird durch den Schlußsatz in den distanzierenden Rahmen einbezogen (S. 34b).
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die Mächte des Lichts auch dem verblendeten Marcelo nicht helfen wollten, sie doch nicht Alle hienieden dem Bösen hilflos überlassen werden. Wenn die vierte und letzte Novelle — Guzman el Bravo — an künstlerischem Gewicht und Ernst der dritten auch nicht nahekommt, so darf sie ihr doch der Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit ihres humoristischen Charakters wegen an die Seite gestellt werden. Sie hat vor allem den Vorzug, die sprachliche mit der stofflichen Parodie zu einem gelungenen Scherz zu verbinden, der in der Novellistik originell dasteht. Nach dem Muster der italienischen RitterromanSatiren (in der Einleitung zu Las fortunas de Diana rühmt Lope die Versromane von Boiardo und Ariost) präsentiert diese Novelle die scheinbar zusammenhanglosen Abenteuer eines Ausbundes von Körperkraft, dessen unglaubliche „Heldentaten" der Autor selbst in Zweifel zieht 1 ) und in großsprecherischem, aber preziösem Bänkelsängerton wie für ein Publikum halbwüchsiger Culteranos vorträgt. Er versucht, seine italienischen Anreger übertreibend und, im Gegensatz zu ihnen, vor einem möglichst vertrauten historischen Hintergrund, unter humanistischem Blickwinkel die groteske Diskrepanz zwischen physischem Kraftaufwand und moralischem Erfolg, zwischen ritterlicher Einfalt und einer allen Bindungen höfischer Minne entwachsenen Frauengattung aufzuzeigen. Den Höhepunkten dieser Satire werden die witzigsten Akzente aufgesetzt. Der literarische Analogieverweis, der in keiner Lopeschen Novelle fehlt, erreicht hier durch Inkongruenz die höchste Würze. Da Guzman gegen Ende seiner Heldenlaufbahn einem Attentat seiner Neider zum Opfer fällt und halbtot vom Platz getragen wird, meint der Erzähler: „Aquí entra bien aquella transformación de un gran señor en Italia, que leyendo una noche en Amadis de Gaula, sin reparar en la multitud de criados que le miraban, cuando llegó á verle en la peña pobre con nombre de Valtenebros, comenzó á llorar, y dando un golpe sobra el libro, dijo: Maledetta sia la donna che tal te ha fatto passare" (S. 44). In solchem Rahmen wirkt auch die gewagteste und absurdeste Abschweifung erheiternd: so beispielsweise die Bemerkungen über den Meinungsstreit um die Herkunft der Guzmanes2), die Anekdote von der Frau, die allnächtlich ein Liebespaar an der Reja belauscht 3 ), der Seitenhieb auf die Cultos im philologischen Exkurs über das Fremdwort „afratelaban" 4 ), die Aufforderung, alle überflüssig erscheinenden Briefe aus der Novelle zu entfernen 5 ), die Dankbarkeitsbeteurungen des Autors gegenüber den vornehmen Verwandten seines komischen Protagonisten6), die Vorschützung eines nicht existenten Novellengesetzes7) oder die Etymologie der Vokabel mojicón6). Hier sind die Ungeheuerlichkeiten der sprachlichen Parodie zugleich Faktoren der stofflichen Satire: ,,si la falsedad es BAE a. a. O. S. 37b—38a, 43a. ) „Hay competencia entre los escritores de España sobre este apellido" (S. 35a). 3 ) „Hablaba un caballero de noche con una dama de las que no pueden abrir, aunque lo desean" (S. 35b). 4 ) Ebda. B ) Ebda. S. 36b. β ) Ebda. S. 37a. ') Ebda. S. 40b. 8 ) Ebda. S. 40b—41a. 2
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discreción y la deslealtad gusto — schreibt der wackere Guzman an die Geliebte seines Freundes, die ihm nachstellt — serán hijos bastardos de la nobleza" (S. 36a). Ein Tränenstrom steht in so verblüffendem Mißverhältnis zu seiner Ursache, daß sich ein Geheimnis darin zu verbergen scheint: „que hay ojos que lloran en poesia culta, sin que se entienda mas de que son lágrimas" (S. 40a). In der Schlacht bei Lepanto, ,,tan escrita de tantos historiadores, tan cantada de poetas, que ni á mí me está bien referirla, ni á v. m. escucharla", tat der Held so gewaltige Taten, „que allí se le confirmó el nombre de Bravo, y rindiendo una galera, sacó veinte y dos heridas de flechas y cuchilladas, que á quien le via ponia espanto, porque en las flechas parecía erizo, y en las cuchilladas toro" (S. 37 a). Hier sind Unterbrechungen ein inhärentes Element der Satire. Don Félix, der Titelheld, und sein Gefährte Mendoza (die ihm nachstellende, aber verkleidete und daher nicht erkannte Schöne) geraten in Gefangenschaft; ihr Herr aber ist ein freundlicher Jude, sie haben es gut bei ihm. Doch leider: „Tenia David una hija, hermosa como el sol; hispanismo cruel, pero de los de la primera clase en el vocabulario del novelar, porque si una mujer fuera como el sol, ¿quien había de mirarla ? Las comparaciones, ya sabrá v. m. que no han de ser tan uniformes, que pareciesen identidades, y así verá v. m. por instantes blanca como la nieve, hidalgo como el Rey, mas sábio que Salomon y mas poeta que Homero" (S. 38b). Diese hübsche Jüdin „llamábase Susana, pero no lo parecía en la castidad como en el nombre, porque puso los ojos . . . aquí claro está que v. m. dice en don Félix; pues engañóse, que era mas lindo Mendocica". Ein lückenloser Nachweis der innigen Verwobenheit von Rahmen und Bericht, von Handlung und Unterbrechungen, von sprachparodistischen Scherzen und ironischer Menschenschilderung, die den witzigen Charakter des Ganzen ausmachen, würde eine endlose Reihe von Zitaten und Einzelanalysen voraussetzen. Es dürfte aber auch aus den wenigen hier gegebenen Proben klar geworden sein, daß Guzman el Bravo eine gelungene Novellenparodie ist und als Gegenstück zu La mas 'prudente venganza bestehen kann. Je stärker Lope de Vegas novellistische Versuche von theoretischen Wunschbildern gelenkt waren, umso schwächer blieb das Ergebnis. Las fortunas de Diana, nach dem strengen, in Anlehnung an Castiglione entworfenen Dogma von 1621, unter Verwertung alter Poetiktraditionen konzipiert, leidet an Hypertrophie gelehrter und künstlicher Zutaten und ist das unglücklichste novellistische Experiment. El desdichado por la honra, dem Widerruf der Theorie zur Illustration beigesellt, verfiel in das andere Extrem : Inkonsequenz der Charakterbehandlung und Motivgestaltung. Erst die dritte und die vierte Novelle, die zwar im Rahmen der gleichen Fiktion, aber ohne weitere theoretische Belastung erschienen, sind ästhetisch befriedigende Werke. In La mas prudente venganza und in Guzman el Bravo vergißt der Dichter seine unglückliche Doktrin, läßt er sich hinreißen und gefangennehmen von rein künstlerischen Aufgaben: einmal von der Darstellung einer überwältigenden, die Grenze des Dämonischen überschreitenden Leidenschaft, das andere Mal von der Verspottung eines menschlichen Typus und einer literarischen Mode1). l
) G. Cirot a. a. O. S. 328 betrachtet La mas prudente venganza als eine historia tri-
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Rückblick und Exkurs: Theorie als I r r e f ü h r u n g u n d S e l b s t t ä u s c h u n g Die Betrachtung der spanischen Novellistik des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts hat die Antinomie von Novellentheorie und Novellendichtung an Wende- und Höhepunkten der literarhistorischen Entwicklung bestätigt. Aus der Theorie der Exempla, die alles novellistische Schaffen auf der iberischen Halbinsel vom 12. bis ins 17. Jahrhundert und darüber hinaus begleitet, darf nicht auf den Charakter der Novellen geschlossen werden, ejemplo kann ernste Belehrung u n d fromme Beispielerzählung bedeuten, ejemplo ist aber auch Tarnbezeichnung, hinter der sich das Witzige und die patraña, das Scherzhafte und das Frivole, die Lügengeschichte und die frei erfundene Schnurre verstecken. Bei der wechselnden Bedeutung der Vokabel kommt es darauf an, wieviel Geist, Einfallreichtum, Erfindungskraft und Originalität der einzelne Autor aufwendet, um dem abgebrauchten Wort einen von der Norm abweichenden Inhalt zu geben. Die „exemplarische" Herkunft und Tradition der spanischen Novellen soll damit nicht bestritten oder angezweifelt werden; nur erweist es sich als unmöglich, aus einem irreführenden Gattungsnamen auf die Sache zu schließen und sich unter ejemplos, die noch nicht auf Inhalt und ästhetisches Gewicht untersucht sind, etwas Konkretes, etwa eine religiös oder moralisch gefärbte dichterische Form oder Figur vorzustellen, wie es die Vokabulare meist bedenkenlos tun. Von den ejemplos der Spanier schlechthin zu sprechen, ist ungenau und unwissenschaftlich, weil man dabei nicht ihre Buntheit und inhaltliche Vielfalt berücksichtigt. Bot doch schon Petrus Alfonsi unter dem Tarnwort exemplum nicht ausschließlich moralische Belehrungen. Ebenso schillernd und ungenau ist der Inhalt des spanischen novela. Verächtliches, Preiswürdiges, exotisch Beunruhigendes bergen sich, je nach Standort oder Zeitpunkt der Anwendung, in diesem vieldeutigen Wort, das als Terminus zu bezeichnen paradox wäre, da es keine oder nur kurz befristete Begriffsgrenzen setzt. Die Versuche, es in Spanien als literarische Gattungsbezeichnung für kürzere Erzählungen einzuführen, waren mannigfaltig, aber sie blieben ephemer. Von Autor zu Autor, von Theoretiker zu Theoretiker wechselte die Bedeutung, bis sein Ausdrucksvermögen unter dem Druck verächtlicher Sinnbelastung schließlich in der jede theoretische Präzisierung ausschließenden, mehrere Bereiche der Erzählkunst umfassenden modernen Dehnbarkeit verblaßte. Cervantes, der die beiden Begriffsrelikte mehr zu einer einmaligen Zauberformel als zu einer exakt lösbaren Gleichung verband, betitelte damit seine zwölf zusammengehörigen Erzählungen, die Novelas ejemplares. Er legte das Ganze mit partita, d.h. als Komödie. Für ihn ist nicht nur Guzman el bravo, sondern auch Las fortunas de Diana ein künstlerischer Scherz (ebda. S. 331). Die Technik der anekdotischen Digressionen führt er auf G u e v a r a zurück (S. 337). — Über das Echo von Lope de Vegas Novellen in Deutschland: H. T i e m a n n , Über L. de V.s Bild und Wirkung in Deutschland, in R J b I (Hamburg 1947—48) S. 233ff., bes. S. 265. — Lope als Culterano — aber unter Ausschluß der Novellen — stellte K. V o s s l e r dar in: Zwei Typen von literarischem Virtuosentum: L. de F. und Góngora, in DV X (1932) S. 436ff., bes. S. 452—55.
11 No Vellentheorie
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theoretischen Erläuterungen (in Prolog und einzelnen Novellen) vor, die von der wahren Natur dieser Kunstwerke ablenken und den Leser, vor allem den Theoretiker, auf die falsche Fährte vorgeblicher Erzählkategorien setzen, während aus einer Mischung vielfältiger Traditionen hier tatsächlich eine nicht wiederholte und nie wiederholbare Synthese von Wirklichkeitsbewußtsein und Irrationalität entstanden ist : ästhetisch vollkommen ausgewogener Ausdruck einer nach zwei Seiten aufgeschlossenen Erlebensfähigkeit und der durch sie aufgeworfenen erregenden Fragen. Diesen Dichter beirrt die Theorie, von der er selber spricht, keinen Augenblick. Mit der Sicherheit des begnadeten Erzählers vollendet er hinter der täuschenden Fassade von Titel und Prolog ein Kunstwerk von höchster Kompliziertheit, das zum ersten Mal den Blick durch die heitere Landschaft novellistischer Gegenständlichkeit ins Unwirkliche freigibt und den Leser auf der Grenze zwischen Faßbarem und nur Geahntem in Bereiche tieferen Erkennens geleitet. Nicht nur den Leser, sondern sich selbst führt Lope de Vega durch seine aus Widerspruch gegen Cervantes proklamierte Lehre zeitweilig in die Irre. Es ist das seltene Beispiel eines großen Autors, der sich durch die literarästhetische Theorie (mochte sie noch so eigenwillig abgewandelt sein, es war doch die alte, von den Humanisten verengte, didaktische Theorie) vorübergehend aus dem dichterischen Gleichgewicht bringen läßt. Zwei seiner vier Novellen fallen „wissenschaftlicher" Hyperkonstruiertheit zum Opfer. Erst in der Abkehr von der Theorie, erst in der Ironie und Parodie, wird seine Novellistik Kunst. Cervantes und Lope öffnen in ihren Novellen der Dichtung die Bereiche des Irrealen und des Dämonischen. Deutlich zeichnet sich die Wirkung italienischer Novellentheorien auf das Spanien des 16. und frühen 17. Jh. ab. Die durch Baldesar Castigliones (von Boscán ins Spanische übersetzten) „Cortesano" (Libro secondo) über Pontanus aus Cicero wiederaufgefrischte Doktrin von den zwei Gattungen der Kurzerzählung verhilft der Hypothese von den zwei gegensätzlichen Erzählformen — dem heimischen (ungeschriebenen) con buena gracia vorgetragenen cuento und der aus Italien importierten (literarischen) historia — zur Geltung. Auch Cervantes und Lope de Vega schöpfen aus dem Cortegiano theoretische Anregungen : der Eine verwertet sie in Gestalt der von dem Hund Berganza vorgetragenen Zwei-Gattungen-These, die aber auf die Noveles ejemplares nicht zutrifft, und in der Fiktion des mündlichen Vortrags von Geschichten ,,con buena gracia", die in einem Dialog zwischen Don Quijote und Sancho Pansa ad absurdum geführt wird; der Andere, der den italienischen Novellisten insgesamt stärker verpflichtet ist, gewinnt daraus die (gegen Cervantes gedeutete) Vorstellung von der bewußten theoretischen (wissenschaftlichen) Konstruktion literarischer Erzählungen und vom novellistischen „desengaño" der „grandes cortesanos" — eine Zwangsvorstellung, die er wieder überwindet, nachdem sie ihm in zwei Novellen das dichterische Konzept verdorben hat. Novellentheorie und Novellendichtung stehen also auch bei den großen Spaniern im Verhältnis der Antinomie. 1 ) 1
) Erst nach Abschluß der vorliegenden Arbeit wurde zugänglich: Joaquín C a s a l d u e r o ,
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IV. Frankreich 1. E i n e B e d e u t u n g s n u a n c e v o n
nouvelle
Es soll hier nicht untersucht werden, seit wann Frankreich die Novelle als literarische „Gattung" kennt. Ob man sich darauf versteifen soll, die Anerkennung der Novellistik vom Auftreten einer hypothetischen Idealform und ihres Namens abhängig zu machen, ist letzten Endes eine Frage der Schulterminologie, kein Problem der Erzählkunst. Die Vorstellung von einer vermeintlichen „gemeinromanischen Urform" der Novelle1) entstand, weil sich das Wort „Novelle" als literarischer Terminus erst durch das Decameron und durch seine Übersetzungen oder Nachahmungen auch außerhalb Italiens stabilisiert zu haben schien. Überall hatte Boccaccio Nacheiferer gefunden, seine persönliche Schöpfung hatte mehrere Länder — Italien, Spanien, Portugal, Frankreich — fast drei Jahrhunderte lang angeregt und befruchtet. Boccaccio und seine Epigonen in den Ländern romanischer Sprache schienen also die „Urform" zu beherrschen, von der alle anderen Novellisten abwichen, wobei völlig außer Acht gelassen wurde, daß einerseits auch außerhalb des romanischen Sprachgebietes Boccaccio nachgeeifert wurde, und daß andererseits die Novellistik Boccaccios eine ganze Anzahl von Ausdrucksmöglichkeiten umspannt, deren formale Individualität nur nicht beachtet worden war. Für Anhänger der These von der „Urform" muß es also einen Terminus ante quem non für Frankreichs Novellistik geben. Sie muß mit dem Werk beginnen, das durch Titel und Novellenzahl deutlich auf das große italienische Vorbild verweist und die französische Variante von italienisch novella nachweislich zum erstenmal als Gattungsname präsentiert: mit den Cent Nouvelles nouvelles (1462). Sentido y forma de las Novelas ejemplares, Rev. Fil. Hisp., Anejo I, Buenos Aires 1943. In dieser bisher ausführlichsten und liebevollsten Interpretation des cervantinischen Novellenzyklus in spanischer Sprache hat der Verfasser die Einheit des Ganzen und die Bedeutung des Coloquio de los perros als Reprise (mit diesem auch von uns gebrauchten Terminus) erkannt und zur Grundlage tiefdringender Einzelanalysen gemacht. Innerhalb der „orgánica unidad polar de la colección" (S. 17ff.) spricht er jeder Novelle eine Sonderfunktion zu und fügt die „doce maravillas" (S. 22ff.) zu einem „Cuadro de las novelas" (S. 23ff.) zusammen: Mundo ideal (Novellen 1—4), Pecado original (Novellen 5 und 6), Virtud y libertad (Novellen 7 und 8), Mundo social (Novellen 9—12). Sehen wir in Casaldueros Deutung einige Ergebnisse unserer eigenen Interpretation vorweggenommen, so dürfen wir uns zugleich der Übereinstimmung freuen, die auf getrennten Wegen gewonnene Erkenntnisse bestätigt. — Mit Verspätung wurde uns auch Americo C a s t r o , La ejemplaridad de las novelas Cervantinas, in Nueva Rev. Fil. Hisp. II 4 (México 1948) S. 319—332, erreichbar. Die Ansichten des spanischen Forschers über die außerästhetische Bedeutung der Beispielhaftigkeit stimmen mit der von uns vertretenen Auffassung überein: „Es, en todo caso, de mediocre interés el que un autor nos obligue a aceptar su creación como un para que" (S. 332). —• Nicht zur Hand war: Pedro H e n r í q u e z U r e ñ a , Las novelas ejemplares (Plenitud de España, Edic. Losada, Buenos Aires 1945). — Auch die umfangreiche Studie von G. H a i n s w o r t h , Les 'Novelas exemplares' de Cervantes en France au XVIIe siècle — Contribution à Γ étude de la Nouvelle en France, Paris, Champion 1933 (Biblioth. de la Revue de Littérature comparée, Bd. 95) wurde leider erst bei Beginn der Drucklegung vorliegender Arbeit zugänglich und konnte nicht mehr ausgewertet werden. *) Verf. in R J b II, a. a. O. S. 81 ff. 11*
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Die Romanistik geht von anderen Voraussetzungen aus. Sie spricht von französischer Novellendichtung, auch wo die Autoren ihre Erzeugnisse noch nicht als „nouvelles" betitelten, sie faßt — durch die Fülle des Stoffes zur Vereinfachung der Terminologie gezwungen — unter dem weiten Sammelnamen des Novellistischen auch dits, mots, fabliaux und sonstige ältere Formen erzählerischen oder anekdotischen Charakters in Vers oder Prosa, wie die Geschichten im Rahmen des sog. Roman des Sept Sages, den Dolopathos u. a. zusammen, sie ordnet auch die frühen Lais der Marie de France, die als „Problemmärchen" dem Charakter boccaccesker Erzählungen durchaus fernstehen, der Novellistik zu 1 ). Ob also eine französische „Novelle" vor den Cent Nouvelles nouvelles existiert hat oder nicht — wir dürfen ohne Rücksicht auf dogmatische Grenzziehungen die Frage nach französischen Novellentheorien, nach theoretischen Äußerungen über Sinn und Zweck, Gehalt und Form kurzer Erzählungen stellen. Rund neunzig Jahre vor den Gent Nouvelles nouvelles wurde ein Buch geschrieben, das nicht nur eine Sammlung moralischer Exempel und warnender, moralisch also nicht einwandfreier Geschichten enthält, sondern diese auch im Gefolge eines aufschlußreichen „Prologue" darbietet: Le livre du Chevalier de La Tour [Landry] four Venseignement de ses filles (1371—72). Einem Teil seines Prologue den Charakter einer Novellentheorie im weiteren Sinne zuzusprechen, brauchen wir uns um so weniger zu scheuen, als dort der Terminus nouvelle schon in einer Bedeutung gebraucht wird, die den in älteren Texten begegnenden Sinn von Bericht, Mitteilung, Meldung, Neuigkeit 2 ) beträchtlich präzisiert. Der Ritter will seine Töchter — „elles estoyent jeunes et petites et de sens desgarnies" 3 ) — nach literarischem Vorbild und auf literarischem Weg erziehen: „Si les devoit l'en tout au commencement prendre à chastier courtoisement par bonnes exemples et par doctrines, si comme faisoit la Royne Prines, qui fut royne de Hongrie, qui bel et doulcement sçavoit chastier ses filles et les endoctriner, comme contenu est en son livre." In zärtlicher Sorge um seine Kinder erinnert er sich seiner eigenen Jugend, der galanten Abenteuer seiner Jugendgefährten, der Kraft des Wortes und der Sprache, die den jungen Männern bei ihren Liebesabenteuern Vorschub leistete : „Et il me souvenoit des faiz et des diz que ilz me recordoient que ils trouvoient avecques les dames et damoyselles que ilz prioient d'amours; car il n'estoit nulz jours que dame ou damoiselle peussent trouver que le plus ne voulsissent prier, et, sy l'une n'y voulsist entendre, l'autre priassent sans attendre. Et se ils eussent ou bonne ou maie responce, de tout ce ne faisoyent-ilz compte ; car paour ne honte n'en avoient, tant en estoient duiz et accoustumez, tant estoyent beaux langagiers et empariez." L. O l s c h k i , Die roman. Literaturen a. a. O. S. 129 und Leo S p i t z e r , Marie de France — Dichterin von Problemmärchen in ZrPh 50 (1930) S. 29ff. sowie Rom. Stil- u. Lit.-Studien I (Köln. Rom. Arb. I) Marburg 1931 S. 55ff. 2 ) 11. Jahrh.: ,,Jo ateindeie de tei bones noveles" (St. Alexis, 479); 12. Jahrh.: „novele" = Bericht, Schilderung (Chrestien de Troyes); 13. Jahrh.: „tu conteras grans novieles ou grans choses" (Brunetto L a t i n i , Li livres dou Tresor, III 26, in Édit. critique par J. Carm o d y , Univ. of California Press, Berkeley and Los Angeles Calif. 1948). 8 ) Zitate nach : Le Livre du Chevalier de La Tour Landry, Pour l'enseignement de ses filles. P. p. A. d e M o n t a i g l o n , Paris 1854, Bibl. Elzév., S. 2—5.
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Er gedenkt aber in seiner rhythmisch assonierenden Prosa nicht nur der Überredungskünste und Täuschungen, denen damals die jungen Damen zum Opfer fielen, sondern auch der wahren und erfundenen erotischen Abenteuer, deren sich die Kavaliere zu rühmen pflegten: ,,Car maintes foiz vouloient partout desduit avoir, et ainsi ne faisoient que decevoir les bonnes dames et demoiselles, et compter partout les nouvelles [unsere Markierung], les unes vraies, les autres mençonges, dont il en advint mainte honte et maint villain diffame sanz cause et sanz raison." Das Wort nouvelles deutet hier auf eine ganz bestimmte Art von Berichten hin und hat mit der einfachen Nachricht oder Neuigkeit nur noch losen Zusammenhang. Hier geht es um Erzählungen wahrer oder erlogener Liebeserlebnisse, um prahlerisch ausgeschmückten Klatsch über wirkliche oder angeblich empfangene Zärtlichkeiten oder Versprechungen, um manchmal verhängnisvolle Phantastereien, die den Ruf oder die gesellschaftliche Stellung von Frauen vernichten konnten. Solche diffamierenden Indiskretionen oder Prahlereien, zum Großteil Ausgeburten einer lebhaften erotischen Phantasie, nennt der Chevalier nouvelles, ihre Urheber sind „beaux langagiers et empariez". Die Analogie des italienischen favola drängt sich auf. Im Kreis jener Renaissancenovellisten, die ihre Geschichten, um auf den wirksamen Anteil der Phantasie zu verweisen, lieber favola als novella nannten, muß man sich hüten, „favola" zu sein, ins Gerede zu kommen, Leutegespött zu werden. Denn das ist die Bedeutung der bei Grazzini („Lasca"), Straparola und anderen begegnenden Wendung: „diventar favola". In solchem Sinn gebraucht schon Petrarca das Wort im Eingangssonett des Canzoniere: Ma ben veggi'or sì come al popol tutto Favola fui gran tempo : onde sovente Di me medesmo meco mi vergogno. Francesco da Barberino (f 1348), dem die Nachwelt so viele Aufschlüsse über die Kultur und die verlorenen Werke der Trobadors verdankt, liefert in italienischer Version die provenzalische Variante zur Jugenderinnerung des Chevalier de La Tour: durch die Anekdote vom indiskreten Messer Ugolino, den die Contessa d'Erdia zur Rede stellt 1 ). Was der Chevalier nun über den Charakter seines Buches sagt, nimmt unmittelbar Bezug auf die nouvelles seiner Jugendgenossen. Er verspricht nicht nur „un livret où je escrire feroye les bonnes meurs des bonnes dames et leurs bien faiz à la fin de y prendre bon exemple", sondern auch eine Sammlung böser, abschreckender Beispiele: „et aussi par celle manière feray-je escrire, poindre, et mettre en ce livre le mehaing des maulvaises deshonestes femmes, qui de mal 1
) Fr. da Barberino, Del Reggimento e Costumi di Donna, a. a. O. Parte V, XXII, Par. 17, XXIII. Über den abschätzigen Nebensinn von span, novela in vorcervantin. Zeit: W. Krauss a. a. O. — Im unliterarischen und wegwerfenden Sinn von Klatschgeschichte läßt auch Dante das Wort novella durch Venedico Caccianemico gebrauchen: Io fui colui che la Ghisolabella Condussi a far la voglia del Marchese, Come che suoni la sconcia novella. (In/. XVIII 55—57.)
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usèrent et eurent blasmes, à fin de s'en garder du mal où l'en pourrait errer comme celles qui encore en sont blasmées, et honteuses et diffamées." Durch die Wiederholung der charakteristischen Züge von „honte" und „diffame" wird an jenes Erzählen erinnert, ohne dessen Mitwirkung niemand seinen guten Ruf verloren oder Anstoß erregt hätte, an die nouvelles. Was den Chevalier beunruhigt, ist also die Sprache, das Sprechen, das Erzählen, und ihre verhängnisvollen, verführenden, diffamierenden Wirkungen. Sein Buch ist deshalb, wenn wir den Beteuerungen des Vorwortes glauben sollen, eine Exemplasammlung (exemplaire), bestehend aus nachahmenswerten und aus schlimmen Beispielen, deren letztere jungen Frauen zur Warnung vor den Überredungskünsten und den nouvelles der Kavaliere dienen sollen. Vor allem müssen die Töchter Eines aus dem Buch lernen, und dieses Eine wird dreimal mit Nachdruck unterstrichen : 1. „je leur feroye un livret pour aprendre à roumancer, afin que elles peussent aprendre et estudier, et veoir et le bien et le mal qui passé est", 2. ,,je vouloye faire un livre et un exemplaire pour mes filles aprandre à roumancier et entendre comment elles se doyvent gouverner et le bien du mal dessevrer", 3. ,,Et pour ce [ . . . ] ay-je fait deux livres, l'un pour mes filz et l'autre pour mes filles, pour aprendre à rommancier [unsere Hervorhebungen], et en aprenant ne sera pas que il ne retiennent aucune bonne exemplaire, ou pour fouir au mal ou pour retenir le bien." Das dreimal wiederholte, dreimal auf die Unterscheidung zwischen le bien und le mal bezogene romancer ist nicht nur wie das vorangegangene nouvelles sehr eigenwillig gebraucht, sondern es steht zu ihm auch in einer inneren Beziehung. Hier ist offenbar Präziseres gemeint als das Romanisch-Sprechen schlechthin. Godefroy 1 ) interpretiert die Stellen kurzerhand: „roumancier Lire un ouvrage écrit en langue romane". Diese Auslegung überspringt eine Stufe des Gedankens zwischen dem ursprünglichen Sinn des Sprechens und dem unterstellten Sinn des Lesens. Der Chevalier de La Tour ist offenbar Philosoph. Für ihn handelt es sich um die Entwicklung des Unterscheidungs- und Denkvermögens, des Scharfsinns seiner Kinder. Nicht umsonst verbindet er dreimal romancer mit seinem moralischen Objekt: „le bien" und „le mal". Das große Anliegen heißt: durch das romancer zur Unterscheidung von „bien" und „mal" gelangen. Durch das romancer, durch die Überredungskünste kann das „mal" entstehen. Durch das romancer, durch die nouvelles, kann es ans Licht kommen — also muß man es auch durch das romancer bekämpfen. Dort ist die Macht, die die Sinne betört, von dort kommt das Unheil, das Ruf und Glück vernichtet, dort ist aber auch ein Werkzeug für den Verstand. Ohne Sprache gibt es keine Erkenntnisvorgänge. Durch die Beherrschung der Sprache werden die Kinder zur Erkenntnisfähigkeit gelangen, werden sie Gut und Böse, echte und falsche Töne unterscheiden lernen, werden sie später den Gefahren der Sprache gewachsen sein und sich hüten, den „beaux langagiers et empariez" Stoff für ihre nouvelles zu liefern. In erster Linie meint also „aprendre à romancer" : von der Sprache her 1
) F. G o d e f r o y , Diet, de Vancienne Langue Franç. et de tous ses dialectes, Du IXe XV siècle. Paris 1880ff., vol. VII S. 230. e
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au
denken lernen, und erst in zweiter Linie das Lesen, romancer, das ursprünglich „sprechen" meinte, ist hier kein Synonym von raisnier mehr, dessen volkstümliche Bedeutung ebenfalls „sprechen" war. romancer als Beschäftigung mit Erzähltem kommt hingegen dem italienischen Äquivalent von raisnier : dem ragionare nahe, das im Sprachgebrauch Boccaccios und der Renaissancenovellisten „erzählen" bedeutet 1 ). Ganze Novellen werden als ragionamenti bezeichnet. Das romancer des Chevaliers bleibt dabei freilich ein recht abstrakter Vorgang. In der Tat stehen auch seine pädagogischen Exempla, seien sie nun vorbildlich oder abschreckend, der heiteren Gegenständlichkeit und Sinnenfreude italienischer Novellen diametral gegenüber als strenge, zu frommer Abkehr mahnende Belehrung und als Aufruf zu einem braven, vernünftigen Leben. So erfüllt das „Livre" die Verheißungen seines Prologue. Von der Antinomie zwischen Theorie und Dichtung verspüren wir hier nichts, denn von Dichtung darf in bezug auf diese Exempla nicht die Rede sein. Auch die moralisch „nicht einwandfreien" Geschichten — die wohl die Stelle jener von den Jugendgefährten des Verfassers erzählten nouvelles vertreten — verhindern nicht, daß diese Beispielsammlung, obgleich sie 20 Jahre nach dem Decameron geschrieben wurde, diesem gegenüber wie ein altes Mönchsbuch wirkt. (Tatsächlich waren an der Niederschrift Geistliche beteiligt.) In Uterarischer Hinsicht kann sie sich nicht einmal mit Francesco da Barberinos Reggimento e Costumi di Donna vergleichen, dem ebenfalls zu pädagogischen Zwecken ein halbes Jahrhundert früher geschriebenen, aber vom dichterischen Wesen der Trobadors durchdrungenen und mit Berichten über ihre verlorenen Novellen illustrierten Damenkatechismus der Dantezeit. Der Chevalier verwendet das Wort nouvelles nicht als literarischen Terminus, aber was er damit bezeichnet — wahre oder erfundene erotische Geschichten — kommt der Bedeutung von italienisch novella im Trecento doch recht nahe. Man darf sich nur nicht verleiten lassen, durch die kurze Formulierung dieses Wortgehaltes auf literarische Analogien zu schließen. Daß es für Boccaccios Novellen keine zeitgenössische italienische, geschweige denn eine französische Entsprechung gibt, zeigt in Italien ein Blick auf Giovanni Florentinos Pecorone oder auf die Anekdoten Franco Sacchettis, in Frankreich auf die Beispiele des Chevalier be La Tour Landry. Zwischen novella (1353) und nouvelle (1372) liegt trotz scheindarer Synonymität ein unüberbrückbarer Abstand. Der Chevalier de La Tour hat das Werk seines großen italienischen Zeitgenossen zweifellos nicht gekannt. Zwar behauptet Franco Sacchetti im „Proemio" zu seinem zwischen 1388 und 1400 geschriebenen Trecentonovelle, Boccaccios Decameron „infino in Francia e in Inghilterra l'hanno ridotto alla loro lingua", aber von einer vor 1400 erschienenen französischen Decameron-Vbersetzung ist sonst nichts bekannt geworden. Lediglich die lateinische Version der GriseldisNovelle von Petrarca fand nachweislich französische Bearbeiter, aber sie stammte ja aus dem Jahre 1375, war also drei Jahre nach dem „Livre" des Chevalier ent1
) Dizionario della Lingua Ital. nuovamente compilato dai SS. Ν. T o m m a s e o e Β. Bellini, Vol. IV, Parte I, Torino-Napoli 1872, s. v. RAGIONARE 2 (S. 38—39).
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standen. Eine ihrer ersten französischen Übersetzungen findet sich in dem um 1393 von einem Pariser Bürger zur Erziehung seiner 15jährigen Ehefrau geschriebenen Buch: Le Ménagier de Paris, unter dem Titel Histoire de Griselidis1).
2. D i e T h e o r i e der z e i t l i c h e n u n d r ä u m l i c h e n N ä h e Der Bedeutungsunterschied zwischen novella und nouvelle, den der Chevalier de La Tour unwissentlich demonstriert hat, liegt dem Titel der Gent Nouvelles nouvelles (1462) zugrunde und liefert den Hauptgegenstand für die Widmung ,,A mon trèschier et trèsredoubté Seigneur Monseigneur le Duc de Bourgoigne, de Brabant [ . . . ] " , die diesem Buch vorangeht2). Hätte es das französische Wort nouvelle in der Bedeutung Neuigkeit, Indiskretion, Klatschgeschichte nicht schon gegeben, so könnte der Verfasser der Cent Nouvelles nouvelles sich nicht über Boccaccios novella wundern oder nicht vorgeben, es zu tun3). Er staunte oder 1
) Le Ménagier de Paris a. a. O. (Griseldis-Version Bd. I, S. 99ff.). — Für Stoffgeschichte und Quellenstudien ist dieses Buch äußerst wertvoll, literarisch steht es aber kaum höher als Le Livre du Chevalier de La Tour. Immerhin bekundet der pädagogische Pariser Bürger hohes Interesse für literarisch überlieferte Erzählungen und Freude am Fabulieren. So begründet er z. B. die Ausführlichkeit seiner Sara-Paraphrase nach der Bibel: „pour ce que la matière est belle et s'entretient" (I S. 84). — Bemerkenswert ist die Erwähnung des Erzählens als Zeitvertreib bei einer Aufzählung zeitgenössischer Spiele: ,,les autres qui avoient souppé ensemble, disoient des chançons, des fables, des contes, des jeux-partis" (S. 72) in der Erzählung De Lucrèce. Die Erwähnung innerhalb einer novellistischen Nacherzählung (Quelle: des ital. Dominicaners Jacobus de Cessulis Ludus Scaccorum [um 1318], frz. Version: „Jeu des échecs moralisés") verbietet jedoch die Bewertung der Textstelle als eines historischen Belegs. Wenn in Novellen oder Nov.-Sammlungen (Decam.) vom Geschichtenerzählen gesprochen wird, so beweist dies nicht, daß das Reihumerzählen wirklich einmal Brauch oder Gesellschaftsspiel gewesen wäre, was noch moderne Forscher unterstellen (vgl. unser Kap. I, S. 27 Fn. 1). — Die im „Ménagier" enthaltenen Erzählungen lassen sich folgendermaßen gruppieren: 1. De Susanne, 2. De Raymonde, 3. De Lucrèce = Keuschheitsexempel, 4. D'Ève, 5. De Sara, 6. De Rachel = Beispiele der Güte, 7. Du chien Maquaire, 8. Du chien de Niort, 9. Histoire de Griselidis, 10. Femme laissant noyer son mari, 11. Histoire d'une Bourgeoise = Beispiele der Treue u. Untreue; es folgen Gehörsamsexempel, 12. bis 16., ein Beispiel drastischer Erziehung: 17. De la Romaine, die Gerüchte-Exempla, 18. bis 22. und zwei Beispiele weiblicher Klugheit und moralischer Überlegenheit : 23. Histoire de Mellibée, 24. De Jéhanne la Quintine. a
) Die Frage der Autorschaft der Cent Nouvelles nouvelles ist hier nicht zu erörtern. Da die Hypothese, daß es sich um ein Alterswerk von Antoine de L a S a l l e handle, sich nicht aufrechterhalten ließ, schließen wir uns den Forschern an, die der Novellistik des 15. Jahrh. Spezialuntersuchungen gewidmet haben (J. N é v e , Κ. V o s s l e r , W. K ü c h l e r , W. S ö d e r Ii j e l m ) und den Autor der Sammlung als unbekannt ansehen. s ) Da der Verfasser der Cent N. n. das Decameron stofflich nicht ausgewertet hat, konnte bisher nicht eruiert werden, in welcher Gestalt es ihm vorlag. Vielleicht kannte er das Original. Hat er eine Übersetzung benutzt, so bleibt die Frage offen, ob es die von Fr. Sacchetti im Proemio zu den Novelle (also vor 1400) unterstellte, von der sonst keinerlei Kunde vorliegt, oder ob es die gemeinhin als älteste französ. Übertragung angesehene von Laurent de P r e m i e r f a i t (1414) gewesen ist, die 1485 ihren Erstdruck und danacsh zahlreiche Auflagen erlebte (1500; 1511; 1534; 1537; 1540). Premierfait hatte seinerseits nach einer recht primitiven lateinischen Version gearbeitet, schon der Titel seiner Übersetzung ist falsch : Le
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spielte den Erstaunten angesichts der Inkongruenz von französisch nouvelle als erzählter „Aktualität" und italienisch novella als Erzählung schlechthin. Er half dem Bedeutungsunterschied ein wenig nach, übertrieb Boccaccios Indifferenz gegenüber der „Novität", nahm für sich selbst dagegen höchste Aktualität in Anspruch und machte so aus der gewaltsamen Antithese von „alter Geschichte", wie er Boccaccios novella deutete, und „neuer Geschichte", wie er das einheimische nouvelle aufgefaßt wissen wollte, seinen spaßig-polemischen Buchtitel 1 ). So erweckt die zwischen die Topoi seiner Widmung geschobene Äußerung über das Wesen seiner nouvelles den Eindruck, als ob der Autor des 15. Jahrhunderts nicht nur dem Inhalt nach neue Geschichten zu erzählen, sondern auch eine der etymologischen Bedeutung des Terminus entsprechende Auffassung und Gestalt der Novellen zu bieten habe, während die Italiener durch ihren Boccaccio sozusagen hinters Licht geführt worden seien. Semasiologisch ergibt sich aus dieser Auffassung eine scheinbare Verständnislosigkeit des Autors gegenüber den Beziehungsinhalten von novum und seinen mittelalterlichen Derivaten 2 ), die mit der platten Novität, Aktualität und Klatschgeschichte ebenso wenig gemein hatten wie Boccaccios novella. Der kurze Prolog sei zunächst im Wortlaut, mit eingeklammerten Stichwortanalysen zur Widmungstopik und kommentierender Unterstreichung der theoretischen Lehrsätze, wiedergegeben3) : „Comme ainsi soit qu'entre les bons et prouffitables passe-temps [„Docere delectando"], le trèsgracieux exercice de lecture et d'estude soit de grande et sumptueuse recommendacion, duquel, sans flaterie, mon trèsredoubté Seigneur, vous estes trèshaultement doé [Beschäftigung mit Dichtung und Wissenschaften als Zierde der Fürsten = „Herrscherlob"], Je, vostre trèsobéissant serviteur, désirant, comme je dois, complaire à toutes vos trèshaultes et trèsnobles intencions en façon à moy possible [affektierte Bescheidenheit, „Selbstverkleinerung"], ose et presume ce present petit oeuvre [affektierte Bescheidenheit], à vostre requeste et advertissement mis en terme et sur piez [Schreiben auf Befehl ( ?)4)], vous présenter et offrir; suppliant trèshumblement que agréablement soit reçeu liure de Cameron autrement surnommé le prince Galiot. Ein Novellist des 16. Jahrh., Nicolas d e T r o y e s , Verfasser von Le grand parangon des Nouvelles nouvelles (1536; Edit. E. Mabille, Paris 1869), soll eine heute unbekannte Decameron-Version benutzt haben; ob diese mit der von Sacchetti genannten identisch war Î — Über die französ. Decameron-Übersetzungen : H a u v e t t e in Bull. Ital. VIII, Bordeaux 1908. l ) Man ist sich seit langem darüber klar, daß der französ. Titel nicht auf die Cento Novelle antiche anspielen kann, da letztere erst seit ihrem Erstdruck (1525) in der Hundertzahl auftraten und genannt wurden, während das Decameron unter dem Namen II Centonovelle von Anfang an populär geworden war. a ) Elena Eberwein-Dabcovich a. a. O. (Unser Kap. I, S.21 Fn. 1). 3 ) Zitate nach: Les Cent Nouvelles Nouvelles. Texte revu avec beaucoup de soin sur les meilleurs édit. et accompagné de notes explicatives, Paris, Garnier Frères o. J. *) Ob die Wendung nur ein Topos ist, erscheint fraglich, da der in der Widmung angeredete Monseigneur le Duc de Bourgoigne (nach der Einleitung zur Ausg. von Thomas W r i g h t , Paris 1858, handelt es sich um Philippe, keinesfalls um Louis XI) auch als fingierter Erzähler mehrerer Novellen auftritt, vielleicht also doch als Anreger und Stoffsammler mitgewirkt haben dürfte.
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captatio benevolentiae], qui en soy contient et tracte cent histoires [damals üblicher, auf die „wahre Begebenheit" verweisender Terminus f ü r Novellen 1 )] assez semblables en matère, sans attaindre le subtil et trèsorné langage [Antithese Gehalt- Gestalt ; affektierte Bescheidenheit; rusticitas] du livre de Cent Nouvelles [„II Centonovelle" = Decameron]. E t se peut intituler le livre de Cent Nouvelles nouvelles [Wortspiel; vorgebliche Heteronymität]. E t pource que les cas descriptz et racomptez ou dit livres de Cent Nouvelles [Boccaccios Proemio : „piacevoli ed aspri casi d ' a m o r e " (I S. 5)] advindrent la pluspart ès marches et metes d'Ytalie, jà long temps a [„abgedroschene Stoffe" ( ?); dagegen Boccaccio: „così ne' moderni tempi avvenuti come negli antichi"], neantmoins toutesfoiz, portant et retenant nom de Nouvelles [ambiguitas], se peut trèsbien et par raison fondée en assez apparente vérité ce présent livre intituler de Cent Nouvelles nouvelles, jà soit ce que advenues soient ès parties de France, d'Alemaigne, d'Angleterre, de Haynau, de Brabant et aultres lieux [Antithesen zu d'Ytalie; „wahre Begebenheiten"]; aussi pource que Γ estoffe, taille et fasson [Metaphern; Antithese Gehalt-Gestalt] d'icelles est d'assez fresche memorie [Attribut zu l'estoffe; Antithese zu jà longtemps a] et de myne beaucoup nouvelle" [Attribut zu taille et fasson; Wortspiel zum Titel]. Die Widmung enthält also unter einer Anhäufung von Topoi eine regelrechte Novellentheorie. Sie beginnt bei den Worten „cent histoires assez semblables en m a t è r e " und besagt folgendes: Das vorliegende Buch ähnelt, was die behandelten Sujets anbelangt, dem Hundertnovellenbuch (dem offensichtlich als allgemein bekannt betrachteten Decameron), wenn es auch an sprachlicher Feinheit und stilistischer Ornamentik nicht mit ihm wetteifert. Deshalb darf es das Buch der hundert neuen Novellen (neuer „Centonovelle") betitelt werden. Wenn die in jenem beschriebenen und erzählten Fälle, die sich größtenteils in Italien zugetragen haben, ohne Rücksicht auf das Alter der Stoffe doch Novellen genannt werden, mit wieviel größerem Recht darf dann dieses das Buch der hundert neuen Novellen heißen! H a b e n sich doch die darin erzählten Begebenheiten in ganz anderen Gegenden ereignet, so daß diese Novellen nicht nur durch ihre Stoffe, sondern auch in „Zuschnitt" und „ F o r m " durchaus neuartig sind. Hier werden also mehrere Behauptungen oder Lehrsätze aufgestellt: 1. Novellen müssen entsprechend der Bedeutung ihres Namens neue Geschichten sein. 2. Boccaccio h a t seinen Erzählungen zu Unrecht den Namen Novellen beigelegt. 3. Die Cent Nouvelles nouvelles sind dem Decameron zwar thematisch verwandt, aber ihre Schauplätze liegen nicht in Italien, sie sind aktueller und haben eine andere Form. 4. Zwischen Form und Inhalt besteht ein Unterschied. 5. Die Cent Nouvelles nouvelles bieten neue Stoffe in neuer Form. Der K e r n dieser Theorie, das Ausspielen der „Neuigkeiten" gegen zum Überdruß bekannte Stoffe und die Einsetzung vertrauter Namen in alte Anekdoten, !) K. V o s s l e r , Zu den Anfängen der französ. Novelle, in SVL. II (Bln. 1902) S. 9: „Das Französ. kennt für die Novelle bis ins 15. Jahrh. hinein nur den Namen ,Istorie' ". Nach Auskunft G. G r ö b e r s an Vossler führte auch die nach Petrarcas lat. Version angefertigte französ. „Griseldis"-Bearbeitung (I4I4) in den mehr als zehn bekannten Hss. des 15. Jahrh. noch diese alte Bezeichnung.
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gehört schon zu den Merkmalen mittelalterlicher Dichtung (vgl. oben S. 11 Fn. 1), ist also ebenso wenig originell wie die Novellenmotive der Sammlung. Diese Theorie hat dem Autor der Cent Nouvelles nouvelles trefflich gedient, um seinem Buch einen Charakter zuzuschreiben, den es nicht hatte. Er setzte nach altem Novellistenbrauch eine den wahren Sachverhalt bewußt verhüllende Fassade vor das Werk. Wenn er schon den Semasiologen spielen und von der nouvelle einen aktuellen Inhalt fordern wollte, mußte er auch wissen, daß histoire die Schilderung eines in der Vergangenheit liegenden Ereignisses war. Er begann aber seine theoretische Auslassung gerade mit der Feststellung, er wolle cent histoires vorlegen. Damit widerlegt er seine nouvelle-Theorie, noch bevor sie formuliert ist. Er widerlegt sie nachträglich noch ein zweites Mal, denn die der Widmung folgende Inhaltsangabe ist folgendermaßen überschrieben: „S'ensuit la table de ce présent libre des Cent Nouvelles nouvelles lequel en soy contient cent chapitres ou histoires ou pour mieux dire nouveaux comptes à plaisance". Die ganze Doktrin der Aktualität verflüchtigt sich damit in der Anlehnung an Boccaccios Formulierung: ,,io intendo di raccontare cento novelle, o favole o parabole o istorie che dire le vogliamo" (a. a. O.). Nur der publizistische Anreiz der „Novität" bleibt bestehen. Was aber Boccaccio und das vorgebliche Alter der von ihm berichteten Begebenheiten anbelangt, so wandte der französische Novellist ihm gegenüber ein ähnliches Verfahren an wie gegenüber den beiden Termini nouvelles und histoires. Er lenkte nämlich das Interesse auf die seine theoretische Absicht fördernde Hälfte des Gedankenkomplexes und ließ die andere unter den Tisch fallen. Boccaccios Angabe, seine Novellen seien „così ne' moderni tempi avvenuti come negli antichi" (a. a. 0.), war — außer dem unmittelbaren Eindruck, den die Lektüre des Decameron vermitteln mochte — das einzige Kriterium zur Beurteilung ihres stofflichen Alters, auf das der Franzose sich stützen konnte. (Den Erkenntnissen der späteren stoff- und quellengeschichtlichen Forschung stand er, bei aller Vertrautheit mit dem großen Reservoir mittelalterlicher Gegenstände, aus dem er selbst schöpfte, natürlich fern. Hätte er sonst je an die Fiktion des Schauplatzes Italien in den Geschichten Boccaccios glauben können ?) Die tatsächlichen Quellen des Italieners, das wirkliche Alter seiner Stoffe, waren ihm nicht bekannt; sie interessierten ihn auch nicht. Was er brauchte, waren Argumente zur Stützung seiner Aktualitätsdoktrin. Darum verschwieg er die erste Hälfte von Boccaccios Angabe („così ne' moderni tempi avvenuti") und begründete mit dem Rest seinen Originalitätsanspruch gegenüber Boccaccio. Darüber hinaus hatte seine nouvelle-Theorie einen Sinn, der erst auf dieser Stufe der Analyse sichtbar gemacht werden kann. Dem Franzosen Hegt daran, den vorgeblichen Kontrast zwischen seinen eigenen Erzählungen und denen des Italierners nicht nur im Unterschied des zeitlichen, sondern auch des räumlichen Abstandes zu begründen. Boccaccio — so behauptet er — erzählt nicht nur alte Geschichten, sondern vorwiegend italienische Begebenheiten. Italien aber liegt jenseits der Alpen, ist schwer erreichbar und unbekannt. Die Schauplätze der Cent Nouvelles nouvelles hingegen liegen in Frankreich, in Deutschland, in England, in Gebieten, die, wenn nicht tatsächlich, so doch wenigstens in 171
der Phantasie des Novellisten und seiner Landsleute, leichter erreichbar, vertrauter, besser vorstellbar sind als die weit nach Süden ins Mittelmeer hinausragende Halbinsel hinter den Bergen. Das Wesen der nouvelles soll also nicht nur in der zeitlichen, sondern auch in der räumlichen N ä h e der Begebenheiten und ihrer Protagonisten angelegt sein. Wenn das erste „Nouvelles" des Titels die novella Boccaccios, also die Erzählung einer alten italienischen Begebenheit (die einen Franzosen wenig angeht) unterstellt, so meint das zweite „nouvelles" nicht nur die Neuigkeit im nachrichtlichen Sinne, sondern auch die warme Lebendigkeit u n d vertraute Nähe der zu beschreibenden Menschen und Dinge. Dies wird noch deutlicher durch die Attribute im Schlußsatz: „d'assez fresche memoire" und „de myne beaucoup nouvelle", die eine Lebhaftigkeit, Frische und Wärme der Erinnerung und vertraute Gesichter naher Menschen durch Gedankenassoziation evozieren und zur conditio sine qua non der nouvelles werden lassen. Durch Bewußtmachung dieses zeitlichen und räumlichen Doppelsinnes von nouvelle weist der Schreiber der Widmung nun freilich doch auf die mittelalterliche Verklammerung seines Terminus und auf die tatsächliche Tradition novellistischen Strebens hin. Novellieren h a t t e mit Distanzen u n d ihrer Überwindung zu t u n ; u n d wenn bei Boccaccio oder Cervantes das Bewußtsein der Abstände aus der Erzählhaltung fühlbar wird — bei diesem durch den distanzverkürzenden R a h m e n der Ernüchterung, bei jenem durch den raumschaffenden R a h m e n der Erinnerung — so ist es bei unserem französischen Novellisten in Titel und Widmungsdoktrin geäußert. Wie oft h a t t e den Novellenschreibern daran gelegen, aus fernen Überlieferungen geschöpfte Stoffe in den Erlebnisbereich und gleichsam in den Bekanntenkreis ihrer Zeitgenossen zu verlegen. Deshalb waren griechische und römische Sagen von den Erzählern der Novelle antiche den Staufern oder Ezzelino untergeschoben worden; deshalb h a t t e Boccaccio aus der orientalischen Parabel von Theonas das Exempel von einem florentinischen Bürger namens Filippo Balducci gemacht. Hier ist also der P u n k t , wo die Theorie des Franzosen der novellistischen Praxis nahekommt und einen Blick in die W e r k s t a t t freigibt. Denn wenn die Stoffe auch alt sein sollten — und sie sind alt — so holt der Autor der Gent Nouvelles nouvelles sie durch die novellistischen Kunstgriffe ganz nahe heran u n d „erneuert" sie durch Verlegung in ein zeitlich und räumlich vertrautes Ambiente. So macht er beispielsweise aus 21 Fazetien Poggios ebenso viele „neue" Erlebnisse in Frankreich oder B r a b a n t oder England. Stofflich h a t er in Wirklichkeit — und das zu verschleiern ist eine Aufgabe der Prologtheorie — k a u m etwas Neues zu bieten. Seinen Vorlagen ist die Quellenforschung inzwischen ebenso auf die Spur gekommen wie denen Boccaccios 1 ). x
) Die für die Stoffgesehichte maßgebende Arbeit ist die von W. K ü c h l e r , Die Cent N. N., ein Beitrag zur Geschichte der französ. Novelle, in ZFSL X X X (1906) S. 264—331. K. wies nach, daß nur eine „ziemlich geringe Zahl" der Novellen nicht traditionellen Charakters ist, während 21 Stücke auf Fazetien Poggios, andere auf sonstigen lat. Vorlagen, auf Legenden usw. beruhen. Die ,.Untersuchung lehrt, mit welcher Zähigkeit die ma. Novelle — ihres Inhaltes wegen müssen wir die Sammlung in das MA. versetzen — am alten Gut festhält. [ . . . ] die ma. Novelle ist der Ausdruck des Massenbewußtseins. Die Novellisten sind bis
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Die vorgebliche Polemik gegen Boccaccio ist also — wenn man will — nichts als Nachahmung, denn mit dem gleichen Recht und der gleichen Überzeugung, mit denen dieser von seinen Novellen sagt, sie seien zum Teil ,,ne' moderni tempi avvenuti", behauptet es auch der Franzose von den seinigen. Und da er gewitzt genug war, das Decameron nicht als stoffliche Vorlage zu benutzen, fand seine Theorie bei seinen Zeitgenossen und lange danach Glauben. Schwieriger war es nämlich, die tatsächlich bestehende formale und gesinnungsmäßige Abhängigkeit des französischen Werkes vom Decameron zu erkennen und zu beweisen1). Erst unserem Jahrhundert ist dies gelungen. Und so besitzen erst wir die Voraussetzungen für die Einsicht, daß auch die Behauptung der formalen Originalität in der Widmung der Cent Nouvelles nouvelles ein Stück Theorie ist und der Tarnung dient. Zwar stammen die Stoffe nicht von Boccaccio, aber eine bewußte formale Anlehnung an das große italienische Vorbild beweisen die Hundertzahl der Novellen, die Fiktion des Reihumerzählens in höfischem Kreis mit namhaft gemachten Individuen (wenn auch ohne Rahmenhandlung) und nicht zuletzt die Markierung des Schlusses durch eine auserwählt bedeutungsschwere, aus dem Rahmen der übrigen hervortretende, im Vergleich zur Mehrzahl ungewöhnlich feinsinnige Erzählung (aus der später Goethe durch Übersetzung und leichte Überarbeitung seine Prokuratornovelle in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten formte) — ganz zu schweigen von der für Frankreich überraschenden, überall fühlbaren, großzügigen erotischen Gesinnung, die, auch innerhalb der italienischen Novellistik, nur einmal in so reiner Prägung begegnet : bei Boccaccio. Weder Stoffe noch Form sind also in den Cent Nouvelles nouvelles in dem Sinne nouvelles wie es die Widmung unterstellt. Womit nicht behauptet werden soll, daß sie sich als Kunstwerke mit den Novellen Boccaccios vergleichen könnten. Originell sind — abgesehen von dem Psychologismus einzelner Stücke und von dem Sonderproblem der hundertsten Novelle2) — drei Züge der Prologtheorie: zu einem gewissen Grade Chronisten des Massenbewußtseins ihrer Zeit. Sie haben [ . . . ] genommen und von neuem gestaltet, was eine seit Jahrhunderten in dieser Masse sich fortwälzende Tradition an Gestaltungsfähigem für sie barg." (S. 330—31.) 1 ) Die gesinnungsmäßigen und formalen Einflüsse Boccaccios machten sichtbar: W. S ö d e r h j e l m , La Nouvelle franç. au XVe siècle (Bibl. du X V e s., XII) Paris 1910, Chap. IV, und E. A u e r b a c h , Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Ital. und Frarikr., Greifsw. Diss., Heidelb. 1921. 2 ) Die 100. Novelle, in der einerseits etwas vom didaktischen Charakter der ma. Exempla durchschlägt, die aber andererseits auf die jüngere Tradition der Humanistennovellen weist, ist noch heute ein reizvolles Problem. Küchler a. a. O. S. 326 nimmt an, daß ihre lat. Vorlage von einem Ital. geschrieben war und verweist auf die Analogie des Motivs im Papageienbuch: Çulcasaptati. Zu Albr. v. Eyb, bei dem die Geschichte ebenfalls begegnet, vgl. man Max H e r r m a n n , Die lat. ,Marina', in Vierteljahrsschrift f. Lit.-Gesch. III; Ders. in Schriften zur germ. Philol. IV, Bln. 1890. Zu einer auf dem gleichen lat. Text fußenden anonymen Übertragung: S t r a u c h , in Zs. f. dt. Altertum X X I X S. 325ff. Gesinnungsmäßig gehört die 100. Novelle in die Reihe: „Prudentia" (Albertano da Brescia, Trattato Morale) — „Quistione IV" (Boccaccio, Filocolo, Libro IV) — „Prasildo und Tisbina" (Boiardo, Orlando Innamorato, I, XII), denn in der Gesinnung der Heldin, die nicht nur Gegenstand der Erziehung ist, sondern auch eine Art innerer Läuterimg erlebt, und in der
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das Fehlen des didaktischen Vorwandes, die Mischung eines räumlichen mit dem zeitlichen Inhalt von nouvelle, die Unterscheidung zwischen Stoff und Form. Das belehrende Element klingt hier tatsächlich n u r im Einleitungstopos leise auf. Aber nirgends behauptet der Autor, durch seine Novellen gute Beispiele geben oder unterweisen zu wollen. Nicht einmal Boccaccios Nützlichkeitsthese schließt er sich an. Anstelle der pädagogischen Scheinziele anderer Novellisten u n d der echten Erziehungsabsicht des Chevaliers de L a Tour oder des Pariser Bürgers, der den „Ménagier" kompilierte, tritt bei ihm das Bewußtsein der literarischen Form. Einmal verneigt er sich vor der Sprachkunst Boccaccios, die er gesondert von den Sujets der Novellen als kennzeichnendes Element erkennt, ein andermal kündigt er seine eigene Arbeit, vielleicht nicht ohne witzige Anspielung auf die Anpreisung von „Modesalons" seiner Zeit, als „l'estoffe, taille et fasson" mit den verschränkten Attributen „d'assez fresche memoire et de myne beaucoup nouvelle" an. Die Scheidung zwischen Gehalt und Gestalt vollzog sich, wie bereits gezeigt wurde, gleichzeitig bei dem Italiener Masuccio, der von 1460 ab seinen Novellino bearbeitet haben dürfte. Unter völlig verschiedenen Aspekten fanden beide (unabhängig voneinander ?) den ersten Ansatzpunkt zu einer logischen Analyse dessen, was bis dahin als Einheit der Erzählkunst empfunden worden war. Hier wie dort stand diese Erkenntnis am Anfang einer theoretischen E n t wicklung, die die Naivität novellistischen Schaffens beeinträchtigen und den Zwiespalt zwischen Gesetzen der Kritik und freischaffender Phantasie in den Bereich der Dichtung tragen sollte.
3. D e s P e r i e r s , N o v e l l e n d i c h t e r u n d
Antidoktrinär
Als künstlerischer Höhepunkt der französischen Novellistik des 16. J a h r hunderts sind heute die Nouvelles Recreations et Joyeux Devis anerkannt, denen durch die Forschungen von P h . Α. B e c k e r die Autorschaft Bonaventure Des Periers' gesichert werden konnte 1 ). Die neunzig Erzählungen umfassende Sammlung, die 1558 nach dem Tode des Verfassers erschien, aber offenbar schon u m 1540 in Entstehung begriffen war, dürfte unter den Novellenbüchern der französischen Renaissance dasjenige sein, das an tendenzloser Lebensbejahung, freudigem Staunen über die Vielfalt menschlicher Individualitäten und glück Gesinnung des Protagonisten, der im Gegensatz zu anderen Novellenhelden der Zeit ein reifer Mann ist, liegt der Schwerpunkt dieser überraschenden Schlußerzählung. 1 ) Philipp Aug. B e c k e r , Bonaventure Des Periers als Dichter und Erzähler, in Sitzber. d. Wiener Akad., phil.-hist. Klasse, Bd. 200, Abh. 3, Wien 1924. — Schon im 16. Jahrh. zweifelten La C r o i x d u M a i n e und T a b o u r o t die Autorschaft Des Periers' an. Im 19. Jahrhundert erwachten neue Zweifel bei La M o n n o y e und Gaston P a r i s (1895). — Der Titel Nouvelles Recreations et Joyeux Devis, der an die Kapitelüberschrift und These „A natura inesse homini cupiditatem quietis et recreationis" in Jovianus Pontanus, De sermone, I, erinnert, könnte Beziehungen des Franzosen zu dem italienischen Theoretiker des Witzes wahrscheinlich machen. Jedenfalls war Des Periers, wie der ganze Kreis um Margarete von Navarra, mit Castigliones Cortegiano vertraut, in den die Fazetientheorie des Pontanus eingegangen war. 174
licher Verbindung von Humor mit tiefer Seelenkunde dem Decameron am nächsten kommt, ohne daß man es als Versuch einer Nachahmung empfände. 1 ) Hätte Des Periers nicht schon als Verfasser des geistvollen Cymbalum Mundi (1537) einen Platz unter den führenden Köpfen seines Jahrhunderts belegt, so wäre ihm durch die Nouvelles Recreations et Joyeux Devis doch der eines hervorragenden Erzählers und des besten französischen Novellisten seines Zeitalters gesichert. Man hat geglaubt, die Originalität dieses vom Geist Boccaccios offenkundig berührten Dichters durch den Hinweis unterstreichen zu müssen, daß seine Sammlung der Rahmenerzählung entbehre 2 ). In der Tat: durch eine Erzählung oder durch die Fiktion einer erzählenden Gesellschaft wird seine Sammlung weder gegliedert noch zur Einheit gefügt. Trotzdem hat Des Periers in Gestalt eines einleitenden und eines abschließenden Sonetts einen Rahmen geschaffen, der trotz starker Verschiedenheit der Gestalt durch Stimmung und Funktion an Boccaccios Rahmen erinnert, der aber — so möchten wir annehmen — erst nach der Analyse der Première Nouvelle en forme de preambule wird erschöpfend gedeutet werden können 3 ). Mit Boccaccio hat Des Periers gemeinsam, daß er einen Nutzen seiner Novellen verheißt, keinen didaktischen, exemplarisch-erbauenden oder moralischen Nutzen, sondern den Vorteil der seelischen Entspannung — der Vertreibung von „noia" und „malinconia", wie es bei jenem heißt — der Illustration einer einzigen Lebensweisheit: bene vivere et laetari (S. 8) — der „Recreation". Schon der Titel des Buches ist also programmatisch, aber klares Programm und urwüchsiges Temperament des Autors schließen theoretische Vorbehalte aller Art aus. Das ist der zweite wesentliche Zug der Verwandtschaft mit Boccaccio. Wie der Italiener des Trecento verwahrt sich der Franzose des 16. Jahrhunderts in seinem „preambule" gegen alle denkbaren Ansprüche literarästhetischer Doktrinen. Ist die Premiere Nouvelle en forme de preambule auch nicht in graphisch markierte Absätze unterteilt, so läßt sie sich doch durch die rhythmische Wiederkehr eines Leitmotivs umso klarer gliedern. Streng genommen lassen sich zwei Leitmotive erkennen und — um im musikalischen Bild zu bleiben — zwei Themen oder Melodien, die durch unsere Interpretation nur nacheinander, nicht gleichzeitig hörbar gemacht werden können. Wir beschränken uns daher zunächst auf die Deutung des preambule vom hellen Leitmotiv des bene vivere et laetari her, das sich in fast regelmäßigen Abständen durch Aufforderungen zur Fröhlichkeit und zum Lachen wiederholt. Jeder dieser Aufrufe steht am Ende oder Anfang eines klar erkennbaren Gedankengefüges. Sieben derartige Gedankenkomplexe lassen sich innerhalb des preambule unterscheiden. *) Die Schreibungen des Titels Nouvelles Recreations und des Namens Des Periers variieren in den alten Ausgaben; wir haben uns für die akzentlose Schreibung entschieden. a ) Fritz B e d e n b a c h e r , Die Novellistik der französ. Hochrenaissance, in ZFSL X L I X (1927) S. Iff. — Über Cymbalum Mundi vgl. E. W a l s e r , Ges. Studien a. a. O. ®) Zitate nach Oeuvres françoises de B. D. P. Revues sur les édit. originales et annotées par M. Louis L a c o u r , 2 tomes, Paris 1856 (Bibl. Elzév.). Man vgl. auch La vie et les oeuvres de B. D. P. ebda. I S. VII—XCVII, und „Préface" zu Nouvelles Recreations ebda. I I S. V—XVIII. 175
Der erste, einleitende dient der Darlegung des Programms, der letzte ist der Illustration der Fröhlichkeit durch Exempla, besonders durch die Fabel von Plaisantin gewidmet. Die das Mittelstück bildenden fünf Abschnitte drücken die Abneigung des Autors gegen theoretische Festlegung oder Einengung seines dichterischen Planes und seine Erzählweise aus. Dort äußert sich seine antidoktrinäre Haltung mit überzeugender Logik und zugleich mit schriftstellerischer Brillanz. Der erste Abschnitt (,,Je vous gardoys ces joyeux propos", S. 7, bis ,,en vous donnant de quoy vous resjouir, qui est la meilleure chose que puysse faire l'homme", S. 8) enthält, wenn man vom Buchtitel absieht, die Formel des Programms: „vous donner moyen de tromper le temps, meslant des res jouissances parmy vos fascheries". Die für die Klärung der Erzählhaltung des Dichters wichtige Frage, wen er mit vous anredet, ist aus dem ersten Satz 1 ) zunächst nur allgemein zu beantworten. Der Autor spricht zu seinen französischen Zeitgenossen. Das immer wiederholte vous, das im preambule wohl auch durch ,,Μοη amy" ergänzt, im sechsten Abschnitt sogar durch „dames et damoyselles" präzisiert wird, setzt aber doch eine einleitende, erstmalige Anrede präziseren Charakters voraus, die die Premiere Nouvelle nicht enthält. Man muß schon zu dem vorangehenden Widmungssonett zurückgreifen (das in einigen Ausgaben fehlt), um dort im ersten Vers die bedeutsame, rahmenbestimmende Adresse zu finden : „Hommes pensifz, je ne vous donne à lire" (S. 5). Die Zeitgenossen, mit denen der Autor in Sonett und Vorwort Zwiesprache hält, sind also mit Unruhe in die Zukunft blickende, sorgen- und gedankenbeladene Menschen. Ein Umstand von hoher Bedeutung für den zweiten Teil unserer Interpretation, der zunächst noch zurückgestellt werden muß. Dem programmatischen Auftakt folgt nun der erste Komplex des Kernstücks, den der Satz des Leitmotivs einleitet: „Le plus gentil enseignement pour la vie, c'est Bene vivere et laetari" (S. 8). Es ist stillschweigende Voraussetzung dieses Abschnitts, daß in Novellenprologen von Belehrungen gesprochen zu werden pflegt. Solchen belehrenden Bestrebungen tritt Des Periers' Leitmotiv gegenüber als das angenehmste, das einzig angenehme enseignement. So wird der Behauptung der chastoyement, der angeblichen moralischen Unterweisungen, der didaktischen Doktrin, die seit Petri Alfonsi Zeiten mit der Exemplaliteratur und Kurzerzählkunst verbunden war, die das Geschichtenbuch des Chevalier de La Tour und den Ménagier de Paris zu Lehrbüchern hatte werden lassen, ein lustiger Strich durch die Rechnung gemacht. Wenn also Titel und Auftakt den Nouvelles Recreations einen nützlichen Zweck zuschreiben, so wird ihm jetzt sogleich die belehrende Färbung abgesprochen. Anleitung zur Lebenslust ist das Gegenteil aller trockenen, moralisierenden, pfäffisch angehauchten Beispielerzählerei. „L'un vous baillera pour ung grand notable qu'il fault reprimer son courroux; l'autre peu parler, l'autre croire conseil, l'autre estre sobre, l'autre faire des amis". So sehen die bisher üblichen novellistischen Ratschläge aus. Aber was geschieht, wenn man sie befolgt? Der erste untergräbt die Gesundheit: „Une trop grand Lacour a. a. O. II S. 9 Fn. 1 bezieht die Anspielungen des Einleitungssatzes auf den im Jahre 1537 zwischen Franz I. und Karl Y. vereinbarten Waffenstillstand.
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patience vous consume"; der zweite ist lästig und hinderlich: „un taire vous tient gehenné"; der dritte führt aufs Eis: „un conseil vous trompe"; der vierte macht dürr und humorlos: „une diète vous desseiche"; der fünfte führt euch an den Rand der Verzweiflung: „ung amy vous abandonne". Alle zusammen unterdrücken natürliche Regungen und Gefühle. Gegen den Lauf der Welt, gegen die Grundübel des Lebens schützen sie uns aber doch nicht. Hingegen das Bene vivere et laetari hilft über alles hinweg. Der beste Rat heißt: „Bien vivre et se rejouir". Denn für hundert Francs Traurigkeit vermindert unsere Schulden auch nicht um hundert Sous. Fast gerät Des Periers nun selber ins Predigen. Aber er winkt schnell ab: „Mais laissons-là ces beaux enseignemens. Ventre d'un petit poysson! rions". Das leitmotivische rions markiert den Beginn der dritten Stufe der antidoktrinären Beweisführung (S. 9). Lachen. „Et dequoy? De la bouche, du nez, du menton, de la gorge, et de tous nos cinq sens de nature. Mais ce n'est rien qui ne rit du euer; et, pour vous y aider, je vous donne ces plaisans Comptes". Ist aber das Programm des mit Leib und Seele Lachens nicht eine neue Theorie ? Bekennt sich der Gegner der Doktrin nicht zu einem, obgleich nicht moralisierenden, so doch ebenfalls die dichterische Freiheit einengenden Dogma ? Heiterkeit um jeden Preis — ist das keine Novellentheorie ? — Nun, ein Hinweis auf die XC. Novelle: ,,De l'invention d'un mary pour se venger de sa femme" könnte genügen, um diesen Zweifel auszuschließen und die Antinomie von Heiterkeitstheorie und Novellenpraxis zu beweisen. Handelt doch diese letzte und darum besonders akzentuierte Erzählung von einer zwar nicht tragischen, aber immerhin tödlichen Gattenrache; stellt sie doch eine Reihe höchst energischer, durchaus nicht zum Lachen reizender Grundsätze, um nicht zu sagen Lebensweisheiten, an den Schluß des Buches. Aber die Heiterkeitsproklamation des preambule, die auch noch durch ein großzügiges Versprechen der Leichtverständlichkeit und der Vermeidung satirischer, allegorischer, mystischer oder phantastischer Hintergedanken unterstrichen wird1), bleibt nicht ohne Einschränkung. Müßte der Autor, wenn alles in seinen Novellen eitel Lachen und Vergnügen wäre, warnen: ,,si ung compte ne vous plait, hay à l'aultre!" ? Verwirft er nicht selbst sein allzu einheitliches Programm durch einen an Boccaccios Bild vom Unkraut im wohlbestellten Feld erinnernden Hinweis auf die Buntheit der in seinem Buch vertretenen Erzählarten, -formen und -Stimmungen? „II y en ha de tous boys, de toutes tailles, de tous estoez, à tous pris et à toutes mesures" 2 ), ausgenommen eine einzige, absolut nicht in den Rahmen passende Sorte: ,,fors que pour plorer". Diese Abschwächimg des Ausschließlichkeitsanspruches einer Tonart ist aber auch Abwehr des „Gattungs"-Verdachts. Nichts hätte einen Autor von der Theoriefeindlichkeit, Erfindungskraft und Urwüchsigkeit Des Periers' mehr verdrossen, als auf einen Typus von Novellen, auf eine „Form", ein Schema, ein Ein Versprechen, das schon Lacour a . a . O . Fn. 2 zu der Bemerkung veranlaßte: „Aujourd'hui cette observation fait sourir; mais [ . . . ] nous avons non seulement [ . . . ] fait du glossaire un appendice, mais encore abrégé autant que possible le nombre des notes". a ) Man erinnere sich auch der Metaphern „estoffe, taille et fasson" in der Widmung zu den Cent Nouvelles nouvelles. 12 Novellentheorie
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Rezept, eine „Einheit" oder Abstraktion festgelegt zu sein. Die Häufung des „tous" und „toutes" (tous boys, toutes tailles, tous estocz, tous pris, toutes mesures) beweist die Emphase, den starken Affekt, mit dem er sich gegen die denkbare Verdächtigung eines Form- oder Tonprinzips wehrt. Und im engsten Zusammenhang damit verwahrt er sich sogleich gegen theoretische Ansprüche der Reihenfolge, Anordnung, Einteilung oder Klassifizierung, gegen die seit dem Bekanntwerden des Decameron erwartete oder unterstellte Verpflichtung zur Gliederung von Novellensammlungen in „Tage". Sein italienischer Zeitgenosse Bandello hatte bekanntlich die gleichen Sorgen, empfand das gleiche Bedürfnis nach Freiheit von Theorie und Regel. „Et ne me venez point demander quelle ordonnance j'ay tenue, car quel ordre fault-il garder quand il est question de rire?" Mit dem Stichwort rire bestätigt sich der Dichter, daß er einen weiteren Gedankenkomplex zu glücklichem Abschluß gebracht hat. Vorbeugend hat er mögliche Einwände der Fachwelt, Fragen der Theoretiker nach Hintersinn, Gattung und Anordnung der Novellen, abgewehrt. Jetzt gilt es noch, die harmloseren Beanstandungen, mit denen vielleicht krittelnde Laien an das Werk herantreten könnten, zu entkräften. Deshalb geht der vierte Abschnitt auf die Frage nach Stoffen, Originalität und Echtheit ein. Schon Boccaccio hatte ja zu dem Vorwurf Stellung genommen, „in altra guisa essere state le cose da me raccontatevi che come io lo vi porgo" (a. a. 0 . S. 270). Auch Lope de Vega beklagte sich über die Scherereien, die ihm die Behandlung aktueller Themen angeblich verursachte 1 ). Durch Boccaccio dürfte Des Periers auf die Möglichkeit von solchen Einwänden aufmerksam geworden sein, denn der Italiener verteidigte sich ja im Proemio zum vierten Tag und im Schlußwort gegen Angriffe der Zensoren, die die drei ersten „Giornate" des Decameron bereits gelesen hatten, während der Franzose schon in der Première Nouvelle seiner noch unbekannten, erst posthum veröffentlichten Sammlung darauf zu sprechen kommt. Die Feststellung, wer in Wirklichkeit Held einer Novelle und welches ihr wahrer Schauplatz gewesen sei, ist für Des Periers wie für Boccaccio völlig nebensächlich und gleichgültig: „vous vous tourmenteriez pour néant" (S. 10). Theoretische Debatten über solche Lächerlichkeiten „ J e les laisse aux faiseurs de contractz et aux intenteurs de procez". Denn — und auch dieses großzügige Eingeständnis atmet etwas vom Geist Boccaccios („cento novelle, o favole") — wie vieles von dem, was in den Novellen behauptet werden mag, ist in Wahrheit gar nicht geschehen ? „Et puis j'ay voulu faindre quelques noms tout exprès pour vous monstrer qu'il ne faut point plorer de tout cecy que je vous compte, car peult-estre qu'il n'est pas vray. Que me chaut-il, pourveu qu'il soit vray que vous y prenez plaisir ?" Diese Aufforderung zur Distanzierung durch Betonung der Nichtverbürgtheit hätte sich kein Novellist geringeren Grades leisten können. Ein Boccaccio konnte zugeben, daß seine Novellen teils Fabeleien, teils Historien waren. Ein Des Periers durfte die Fiktion, die erfundenen Namen, die freie Erfindung der Begebenheiten unterstreichen, ohne damit seinen Kredit zu erschüttern. Einem novelliere im Spiel1
) B A E X X X V I I I S. 14b (Anekdote v o m Ehrenhandel bei einer Inszenierung, Novelle El desdichado por la honra). 178
mannsrang, einem Epigonen hätte immer daran gelegen, die Glaubwürdigkeit seiner „Neuigkeiten" durch die Lüge vom „zuverlässigen Zeugen" (deren sich freilich auch Große und Größte je nach Bedarf bedienten) zu erhärten. Für Des Periers erweist sich die dichterische Wahrheit nicht aus der banalen Wirklichkeit, sondern aus der Wirkung. Wahr ist nicht, was Hinz und Kunz gesehen haben; wahr ist, worüber man lacht. Mit „prenez plaisir" ist wieder das abschnittmarkierende Stichwort gefallen. Die freie Erfindung durfte sich als Miterzeugerin der Novellen bekennen, denn sie sind nicht Berichte über platte Tagesneuigkeiten. Aber nun wittert der Dichter die Gefahr, daß seine „comptes" als weithergeholte Erzeugnisse fremder oder fremdartiger Phantasie verdächtigt werden könnten. Damit verlören sie die Vertrautheit und Nähe, deren sie offenbar nach damaligem französischem (und schon nach mittelalterlichem) Empfinden als nouvelles bedurften. Die Distanz, die soeben erst als wünschbar empfunden wurde, darf nicht zu groß werden. Man soll sich nicht zu sehr erschüttern lassen, denn es ist ja garnicht alles wahr. Aber man soll sich doch angesprochen, angerührt und zu Hause fühlen, denn sonst fehlt der für nouvelles erforderliche Kontakt. Was Des Periers nun über den Charakter seines Buches — immer unter dem Akzent des „rire" ! — anmerkt, klingt wie eine Paraphrasierung der Widmung zu den Gent Nouvelles nouvelles, wo bereits die zeitliche und räumliche Nähe von Protagonisten und Schauplätzen als Voraussetzung des Novellierens gefordert worden war. Nun heißt es bei Des Periers: „Et puis je ne suis point allé chercher mes Comptes à Constantinople, à Florence, ny à Venise, ne si loing que cela : car s'ilz sont telz que je les vous veulx donner, c'est-à-dire pour vous recréer, n'ay-je pas mieux faict d'en prendre les instrumens que nous avons à nostre porte, que non pas les aller emprunter si loing ?" Das ist nicht nur die übliche Verleugnung der fremdländischen Quellen und Vorlagen, deren sich auch Des Periers nachweislich bedient hat 1 ). Hier rührt der Dichter lachend an den Kern dessen, was sein Jahrhundert und seine Landsleute offenbar als den tieferen Sinn des Erzählens betrachteten. Wenn die Novellen wirklich den in ihrem Titel — Recreations — versprochenen Zweck erfüllen sollten, worauf das „c'est-à-dire pour vous recréer" noch ausdrücklich hindeutet, dann durften sie nicht orientalische oder italienische Hilfe in Anspruch nehmen, durften nicht importiert sein. Dann mußte man sich bei ihrer Komposition der in nächster Nähe, im guten alten Frankreich erreichbaren Zutaten („les instrumens") bedienen. Denn nur am „esprit gaulois" konnten Franzosen seelische „Erneuerung", Kraft zur récréation gewinnen. So sehen die These der nouvelle von 1462 und Des Periers' scherzhafte récréaí¿em-Theorie von 1540, da sie nur verschiedene Vorwände für den gleichen, mittelalterlichen Novellistenbrauch suchen, einander zum Die von Pietro T o l d o , Contributo allo studio della novella francese del XV e XVI sec., Roma 1895, angestellten Quellenstudien wurden schon im gleichen Jahr durch G. P a r i s , La Nouvelle franç. au XVe et XVIe siècles, in Journal des Savants, 1895, Dass, in Mélangea de litt, franç. du MA., Paris 1912, S. 627—67, großenteils widerlegt. Trotzdem steht mit Sicherheit fest, daß D. P. die Fazetien Poggios benutzt hat, daß es auffallende Übereinstimmungen zwischen ihm und Straparola sowie Domenichi gibt und daß, wo Ähnlichkeiten auch nicht zu Quellennachweisen berechtigen, doch die Kenntnis weitverbreiteter Anekdoten zugrundeliegt. 12*
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Verwechseln ähnlich. Nouvelles und récréations erscheinen unter diesem Blickwinkel bedeutungsgleich. Wie der Titel der Cent Nouvelles nouvelles mit heteronym gebrauchten Synonymen spielt, so scherzt der Titel Nouvelles Recreations mit synonym gesetzten Heteronymen. Waren die nouvelles von 1462 durch Umgießung des Stoffes in französische Vertrautheit regenerierte, aufgefrischte, „erneuerte" Erzählungen, so verlegte Des Periers den Sinn der „Erneuerung" aus dem literarischen Vorgang in den seelischen Rekreationsprozeß. Humorvoll tarnt er das alte Novellistenverfahren : die seelische „Erneuerung" hält er nur dort für möglich, wo nicht schon die literarische Transformation vorausgegangen ist. Er hält Novellen nicht für transportabel (S. 10—11). „Les nouvelles qui viennent de si loingtain pays, avant qu'elles soient rendues sus le lieu, ou elles s'empirent comme le saffran, ou s'encherissent comme les draps de soye, ou il s'en pert la moitié comme d'espiceries, ou se buffetent comme les vins, ou sont falsifiées comme les pierreries, ou sont adultérées comme tout. Brief, elles sont subgettes à mille inconveniens, sinon que vous me vueillez dire que les nouvelles ne sont pas comme les marchandises, et qu'on les donne pour le prix qu'elles coustent. E t vrayment je le veux bien; et pour cela j'ayme mieulx les prendre près, puis qu'il n'y ha rien à gaigner: Ha! ha! c'est trop argûé!" So müßte denn eine aus dem Ausland importierte Novelle einem Franzosen widerstehen oder ihm die Seele verderben wie ein durch den Transport schlecht gewordener Wein den Magen. Womit wieder das Leitmotiv aus der Erinnerung taucht: „Riez si vous voulez, autrement vous me faites un mauvais tour". Ein neuer Abschnitt beginnt (S. 11)1). Dieser sechste Abschnitt hebt sich durch die Anrede ,,dames et damoyselles" deutlich von allen anderen ab. Boccaccio hatte sein Decameron nicht den Musen, sondern den Leserinnen, den Hebebegabten, liebebedürftigen Frauen gewidmet. Des Periers versäumt nicht, die Damenwelt zu den im Widmungssonett angeredeten „hommes pensifz" zu zählen und ihr seine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Freilich tut er es, um sich auf diese Weise gegen den moralisierenden Anspruch der didaktischen Literarästhetik zu verwahren. Grundsätzlich, meint er, ist nichts Unanständiges in meinen Geschichten. Vielleicht sind aber Zimperliche unter den Leserinnen, „qui ayent peur de tomber en quelques passages trop gaillars". Die mögen sich von ihren Brüdern oder Vettern die anstößigen Geschichten ankreuzen lassen, oder nein, lieber nicht: „ilz vous tromperont, ilz vous feront lire ung Quid pro quodl Voulez-vous me croyre? Lisez tout; lisez, lisez!" (S. 11—12). Und so fort, in diesem fröhlichen Ton, in dieser verwirrend natürlichen, das Problem der novellistischen Moralität einfach zuschanden plaudernden Geschwätzigkeit. Bis wieder das Leitmotiv das Zeichen zum Gedankensprung gibt, diesmal aus dem Reich der lachenden, Gewagtes lesenden und erzählenden Damen ins Land der Philosophen. 1
) Interessant ist die Bedeutung von nouveau bei D. P. Wie Sacchetti lind andere Ital. das Adj. nuovo, so gebrauchte er nouveau gelegentlich im Sinne von: komisch, lustig, witzig. Z. B. S. 153, Nov. X X X V : „Elles rioyent, elles faisoyent mille contenances nouvelles". S. 166, Nov. X L : „II y en ha un aultre [conte] qui est si vieil comme un pot à plume; mais il ne peult estre qu'il ne soit nouveau à quelqu'un."
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So beginnt der letzte Abschnitt (S. 12) mit einem Scherz über jene ernste Gedankenwelt, die mit Piaton im Kreise um Margarete von Navarra gerade eben Auferstehung feierte, eine Auferstehung, zu der Des Periers als Übersetzer von Piatons Lysis selbst Bedeutendes beitrug: ,,Ne faut-il pas rire? Je vous dy que je ne croy point ce qu'on diet de Socrate, qu'il fut ainsi sans passions. Il n'y ha ne Platon, ne Xenophon, qui le me fist accroyre. Et quand bien il serait vray, pensez-vous que je loue ceste grande sévérité, rusticité, tetricité, gravité ?" Der Novellist Des Periers distanziert sich von dem Neuplatoniker Des Periers. Aber der „novellatore", der sich hier den hommes pensifz seinerzeit lachend vorstellt, ist eine Rahmenfiktion. Der von den tiefsten Problemen seiner Zeit erschütterte Autor des Cymbalum Mundi erfindet eine für seinen Erzählrahmen notwendige Gestalt, die im Ichton redet, ohne mit Des Periers wirklich identisch zu sein. Dieser lustige „novellatore", der auch aus den verschiedenen Novellen heraus im Ichton zu seinen Zeitgenossen sprechen wird — z. B. Novelle XXXV „Pour revenir à nostre curé de Brou [ . . . ] " (S. 152); Novelle XLV „ J e devrois payer l'amende pour m'apprendre à philosofer" (S. 178); „ 0 povre homme! que ferastu ?" (S. 180); „Mais pensez qu'en chaude cole monsieur de Raschault luy donna des à doz pour son desjeuner [ . . . ] " (S. 181); Novelle LXX „Je ne m'amuseray icy à vous faire les autres comptes des Poytevins [ . . . ] " (S. 247) — dieser Geschichtenerzähler, der nichts für die gravité eines Socrates übrig hat, der die These des bene vivere et laetari vertritt und in regelmäßigen Intervallen zum rire auffordert, sorgt für den nötigen Abstand zwischen dem Dichter, den Lesern einerseits und den Ereignissen, den Gestalten der Novellenwelt andererseits. Zwischen ihm, dem Erfundenen, und Des Periers, dem Wirklichen, bestehen freilich geheime Beziehungen, die sich in der merkwürdigen Ergriffenheit äußern, die den angeblich nur auf Gelächter und Allotria eingestellten Spaßvogel von Zeit zu Zeit befällt. Lobt er nicht Plaisantin, weil er so lustig zu sterben verstand, wie er gelebt hatte ? Die Geschichte dieses Witzboldes ist die eigentliche „Première Nouvelle" und fügt sich in das preambule wie die Parabel vom asketischen Pädagogen in Boccaccios Rahmen. Sie ist das Exemplum zur These der „récréation" und des „rire". Wer macht nun aber zu diesem Exempel die nachdenkliche Schlußbemerkung: „Que voulez-vous de plus naïf que cela? quelle plus grande felicité ? Certes, d'autant plus grande qu'elle est octroyée à si peu d'hommes" (S. 13—14), der lachende novellatore oder der Neuplatoniker? Diese Frage wird durch die zweite Phase unserer Interpretation zu beantworten sein, die jetzt beginnen kann. Durch das bisher Gesagte wurde die obere „Schicht" der ersten Novelle und Präambel abgehoben. Eine zweite, darunterliegende Gedankenschicht ist freigelegt. Hier läßt sich das zweite Leitmotiv vernehmen, das die Präambelnovelle mit den Rahmensonetten verklammert. Der erste Satz des preambule (S. 7) erklärt, „ces joyeux propos" hätten angeblich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt erscheinen sollen. Nach dem erwarteten Friedens schluß hätten die lustigen Geschichten mit der allgemein heiteren Stimmung Frankreichs harmoniert, „affin que vous eussiez dequoy vous resjouir publiquement et privément et en toutes manières". Der Plan zerschlug sich, angeblich weil es nicht zum Friedensschluß kam. Aber aus der Not wird eine Tugend ge181
macht, denn wer weiß, wann wirklich wieder Friede sein wird ? „j'ay mieux aymé m'avancer pour vous donner moyen de tromper le temps". Es bleibe dahingestellt, ob es sich mit diesen Dingen wirklich so verhält, wie das preambule vorgibt, ob also der Kontrast zwischen ernsten Zeiten und lustigen Erzählungen Notlösung war oder Fiktion ist. Das mit zwei Leitmotiven komponierte preambule und die innerlich mit ihm verknüpften Rahmensonette sind jedenfalls eine in der älteren Novellistik einzig dastehende Kostbarkeit. Tromper le temps ist das Leitmotiv der zweiten Schicht. Da es ein wesentlich aufregenderes, den Dichter stärker bewegendes, tiefer angelegtes Motiv ist als Bene vivere et laetari (mit dem es auf den ersten, flüchtigen Blick identisch zu sein scheint), paßt es sich dem ruhigen Rhythmus dieses Vordergrundthemas nicht an, bricht in unregelmäßigen Intervallen aus seiner Tiefenschicht hervor, markiert keine logischen Gedankengefüge. Schon am Ende des ersten Satzes ist es wieder da: ,,en attendant qu'elle [la paix] se face de par Dieu" (S. 8). Der zweite Satz greift es sofort wieder auf: „ E t puys je me suys avisé que c'estoyt icy le vray temps de les vous donner, car c'est aux malades qu'il fault medecine". Mitten in der Polemik gegen die enseignemens läßt es sich vernehmen: ,,Une trop grand patience vous consume". In der Gestalt eines Ratschlages bekommt es etwas Hämmerndes: ,,se resjouir en attendant mieux que se fascher" — „comment me resjouiray-je, si les occasions n'y sont ?" — „prenez le temps comme il vient" — „laissez passer les plus chargez". Heute, in dieser Stunde, jetzt, in diesem Augenblick ist die Zeit und Gelegenheit gekommen ! Jetzt heißt es lustig sein, Fröhliches erzählen, lachen! Heute ist der Tag der récréation, „et puis nous vous en songerons bien d'assez sérieux quand il sera temps" (S. 9). Das Thema der zweiten „Schicht" ist das Motiv der Zeit. Es handelt sich um die Zeit als unfaßbares, ungreifbares, fliehendes, irrationales und darum desto kostbareres Element. Es dreht sich zugleich um die Zeit als drückende, traurige, unentrinnbare Gegenwart. Tromper le temps ist Flucht aus der Zeit, „prenez le temps comme il vient" ist Angst um die fliehende Stunde. Zwischen der furchtbaren Zeit und der kostbaren, verrinnenden Zeit wird hier nach einem festen Halt gesucht. Eine Seele zwischen Furcht und Bangen, ein Mensch, der seine historische Zeit verdammt und das Verwegene unternimmt, sich an die absolute Zeit zu klammern, macht aus diesem unter der Schwelle des Bewußtseins sich abspielenden inneren Kampf eine Kunst. Ihn beunruhigt die Frage nach dem richtigen Augenblick. In ihm drängt die Ahnung geheimer Wechselbeziehungen zwischen Schicksal und Stunde in die Bewußtseinsschicht. Er lacht, um den Gedanken an die Wirklichkeit der Gegenwart, um die Verzweiflung über die Ungreifbarkeit der einzigen, der auserwählten Minute zu vergessen. Der lustige novellatore des Bene vivere et laetari ist nur die Maske des in der Tiefenschicht lebenden Wesens, das zwischen Zeit und „Zeit" von tiefer Melancholie gepackt wird. Es ist durchaus kein Topos, wenn dieses Wesen bekennt (S. 8): „je ne fais pas peu de chose pour vous en vous donnant dequoy vous resjouir". Diesem bis in die Fingerspitzen vom ungleichen Pulsschlag von Zeit und „Zeit" durchbebten Dichter dürfen wir es wohl glauben, daß er nicht wenig für uns getan hat, als er seinem Erlebnis von Angst und Einsamkeit die glänzende Maske der 182
Heiterkeit erfand, die uns angenehm täuschen und vor seinem Wissen oder vor seinen Ahnungen bewahren kann. Er will im Lachen Zuflucht finden, aber er weiß auch, welche Anstrengung es ihn kostet ! Wer im Zeitalter Des Periers vermochte schon, diese innere Doppelung zu empfinden und auszusprechen? Wer hat so wie er aus zwei Schichten der Seele heraus zu Mit- und Nachwelt gesprochen ? In dem preambule spricht ein Ich mit zwei Stimmen, und der verwirrende Gegensatz zwischen seiner dumpfen, traurigen und seiner hellen, lachenden Stimme, das Hin und Her zwischen schmerzlichen und ein ernstes Weltempfinden abweisenden Stimmungen hat etwas vom ergreifenden Tanz eines bleichgeschminkten Pantomimen, über den der Zuschauer Tränen lacht. — In der Première Nouvelle sind Bilder, Vergleiche, Beispiele nur Manifestationen einer durch Lachen abgewehrten Angst. Vielfach werden Raum, räumliche Nähe oder Ferne, zum Symbol für die Zeit, die verrinnende Zeit. „Et, comme disoit le bon compagnon quand la chambrière, qui estoit belle et galante, luy venoit faire les messages de sa maitresse: A quoy faire iray-je à Romme ? les pardons sont par deçà" (S. 10). Auch das Erotische wurzelt in der Zeitangst, wie dieser anekdotische Scherz beweist, dessen eigentlicher Protagonist nicht das Element des Raumes, der Ferne, sondern der Augenblick ist, das Bewußtsein der occasion, der unwiederbringlichen Minute. Sogar die scherzhafte These, daß Novellen nicht transportabel seien, bewegt sich über dem Untergrund eines ständig vibrierenden Zeitsinnes. „Les nouvelles qui viennent de si loingtain pays, avant qu'elles soient rendues sus le lieu, ou elles s'empirent comme le saffran, ou s'encherissent [ . . . ] " (S. 10—11). Das Verderben der Ware, das Teuerwerden, das Verduften, das Muffigwerden, die Fälschung — alle diese zum Vergleich herangezogenen Vorgänge sind Ausdruck der zerstörenden Wirkung der Zeit. Zum mindesten kommt es auf die Zeit ebenso sehr an wie auf den vorgeschützten Ortswechsel. Auch in der Rede an die Frauen entscheidet die Stunde, „lisez, lisez ! — heißt es (S. 12) — Vous faictes bien les estroictes. Ne les lisez donc pas. A ceste heure verra l'on si vous faictes bien ce qu'on vous defend". Wer spricht in dem Hin und Her, in der Ungewißheit, ob sie lesen werden oder nicht, das letzte Wort ? Der Augenblick mit seiner Eingebung, nichts sonst ; denn die Überlegungen, die Vernunftgründe widersprechen einander. ,,A ceste heure verra l'on" . . . So muß auch, was zeitlich nahe ist, besser sein als das zeitlich Entfernte, und sei dieses noch so groß und bedeutend. Besser als Sokrates mit seiner gravité gefällt dem lustigen Novellatore der noch in aller Erinnerung lebende Kauz Plaisantin, der so heiter zu sterben verstand : „celuy de nostre temps" wird er bezeichnenderweise genannt. Die Äußerungen dieses Plaisantin, die der ersten Novelle Substanz geben, sind sämtlich zeitbezogen. Sie sollen ja auch die zweistimmige These vom tromper le temps und bene vivere et laetari illustrieren und exemplifizieren. ,,à l'heure mesme de la mort" ließ sich Plaisantin nicht aus der Fassung bringen, ja „combien que tous ceuLx qui y estoient le regretassent, si ne purent-ilz jamais se fascher, tant il mourut plaisamment" (S. 13). In allen Stufen dieses Sterbens ist der Humor gegenwärtig. Rückt man das Bett dicht an den Kamin, so sagt Plaisantin auf die Frage nach seinem Befinden: „II me tient [ . . . ] entre le banc et le feu, qui estoit à dire qu'il se portoit mal de toute la per183
sonne". Beim Empfang der letzten Ölung hat der Sterbende die Beine schon im Todeskrampf zusammengezogen. Der Priester fragt, wo denn die Füße des Kranken seien: „Et regardez, dit-il, au bout de mes jambes, vous les trouverez!" Dann folgt ein Dialog, der bei einem Dichter geringeren Grades schwerlich diesseits der Grenze des Zynismus geblieben wäre. Bei Des Periers aber, der das Heute und das Morgen in dieser Sterbeminute komisch gegen einander ausspielt, ist die Zeit die rettende Pointe: ,,Et, mon amy, ne vous amusez point à railler, lui disoit-on; recommandez-vous à Dieu. — Et qui y va? dist-il. — Mon amy, vous irez aujourd'huy, si Dieu plaist. — Je voudrois bien estre asseuré, disoit-il, d'y pouvoir estre demain pour tout le jour. — Recommandez-vous à luy, et vous y serez en-huy. — Et bien! disoit-il, mais que j'y sois, je feray mes recommandations moy-mesmes". Das Motiv der Zeit ist nicht nur die Begleitstimme des Bene vivere et laetari, sondern seine Voraussetzung. Ohne Angst vor dem Verrrinnen der Zeit entstünde nicht das Bedürfnis nach gesteigertem Genuß des Augenblicks. In dem kleinen Raum des preambule drängen sich eine Fülle von Wörtern und Wendungen zusammen, die dieses Motiv allgegenwärtig machen: temps (immer wiederkehrend), heure, occasion, en attendant, patience, consumer, se perdre und tromper le temps, le vray temps, prenez le temps comme il vient, quand il sera temps, à ceste heure verra l'on, celuy de nostre temps, aujourd'hui, demain pour tout le jours. Dieses Motiv der tieferen Schicht verbindet preambule und Première Nouvelle mit dem auf die historische Zeit verweisenden Rahmen, der in Gestalt zweier Sonette das heitere Werk umspannt. Die Sonette fixieren die Stellung des Buches in der Zeit, sie deuten den Kontrast zwischen dem Gelächter über die Geschichten und dem düsteren Hintergrund der Kriege als vorübergehenden Sieg einer glücklichen Stunde, die der ewig rinnenden Zeit abgerungen ist, über das Unglück einer niederdrückenden Gegenwart, als ein tromper le temps mit Hilfe des vray temps. Der Sieg wird nicht ohne Mühe und Aufwand von Willenskraft errungen. In den Rahmensonetten spricht nicht der lustige Novellatore, sondern der Autor Des Periers, mit der Maske des Novellisten in der Hand. Au Lecteur. Sonnet. Hommes pensifz, je ne vous donne à lire Ces miens devis si vous ne contraignez Le fier maintien des voz frons rechignez : Icy n'y ha seulement que pour rire. Laissez à part vostre chagrin, vostre ire Et vos discours de trop loing desseignez. Un autre fois vous serez enseignez. Je me suis bien contrainct pour les escrire. J'ay oublié mes tristes passions, J'ay intermis mes occupations. Donnons, donnons quelque lieu à folie, 184
Que maugré nous ne nous vienne saisir, Et en un jour plein de melancholie Meslons au moins une heure de plaisir. (S. 5) Nach der Analyse des preambule und seiner zwei Leitmotive bedarf das Sonett keiner Interpretation mehr. Alle in ihm angeschlagenen Stimmungen und Motive kehren im preambule wieder. Sogar die Ortsassoziationen (Icy in Vers 4 und lieu in Vers 11) haben auch hier zeitsymbolische Bedeutung. Mit dem Schlußsonett verhält es sich ähnlich. Die zeitsymbolischen Akzente liegen dort auf den beiden Terzetten. S o n n e t de l ' A u t h e u r aux lecteurs. Or çà, c'est faict : en avez-vous assez ? Mais, dites-moy, estes-vous saoulz de rire ? Si ne tient-il pour le moins à escrire. Ces gais devis j'ay pour vous amassez. J'ay jeune et vieux pesle-mesle entassez : Hay au meilleur, et me laissez le pire ; Mais rejectez chagrin qui vous empire, Tant plus songeards en resvant ravassez. Assez, assez, les siècles malheureux Apporteront de tristesse entour eux ; Donq au bon temps prenez esjouyssance; Puis, quand viendra malheur vous faire effort, Prenez un cueur, mais quel ? Hardy et fort, Armé sans plus d'invincible constance. (S. 302) Das „Attendant mieux", das in einigen alten Ausgaben diesem Schlußsonett folgte, faßt das dunkle Leitmotiv des Rahmens noch einmal so lakonisch zu sammen, daß man es wohl als das authentische Motto betrachten darf, das der Dichter seinem Buch nachgerufen hat1). Der Rahmen Des Periers' verleugnet nicht seine Inspiration aus dem Rahmen des Decameron. Was dort mit ausführlicher Breite erzählt und begreiflich gemacht wird, ist hier als lyrischer Extrakt in den konzentrierten Ausdruck zweier GeDas in D. P.s Rahmen unterstrichene Verhältnis von histor. und absoluter Zeit ist in dieser Bewußtheit eine rein persönliche Erkenntnis und Schöpfung des Franzosen. Es liegt uns fern, es zu einem Novellengesetz erheben zu wollen, wie es von anderer Seite (MerkerStammler, Beallex. II, S. 514 [v. Grolman, Novelle]) versucht wurde.
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dichte und eines kurzen Vorwortes gegossen. Aber die Grundstimmung und der rahmenbildende Kontrast sind einander dort und hier sehr ähnlich. Die Originalität von Des Periers' künstlerischer Leistung wird dadurch keineswegs erschüttert. Denn der Ausdruck, den er der vom italienischen Vorbild empfangenen Anregung zu geben wußte, ist neu und als künstlerischer Einfall einmalig.1) Die Verklammerung der beiden Sonette mit der Première Nouvelle beschränkt sich übrigens nicht auf das Gedankliche, sie ist auch in stilistischen Merkmalen spürbar. Man vergleiche nur das „donnons, donnons" (1. Sonett Vers 11) und das „Assez, assez" (2. Sonett Vers 9) mit der Einladung an die Frauen: „lisez, lisez!" (S. 12) oder Vers 6 des zweiten Sonetts: „Hay au meilleur" mit preambule (S. 9) : „hay à l'aultre!". Erste Novelle und Rahmensonette sind von der gleichen Hand geschrieben. Erzählungen und Rahmen sind zu einer wohlabgewogenen Einheit zusammengefaßt. Nach der XC. Novelle markiert der Rahmen deutlich das Ende des Buches. Die dem Schlußsonett vorangestellte Notiz : „Sur le discours des Nouvelles Récréations et Joyeux Devis contenus en ce premier livre" ist offensichtlich eine Zutat dessen, der die nach 1558 erschienenen Neuauflagen des Werkes um einen zweiten Teil vermehrte und durch Fälschung des Rahmens die Zuschreibung des apokryphen Teiles glaubhafter machen wollte. Die Zahl der hinzugefügten Geschichten (es sind 39 Novellen) und ihre Stellung außerhalb des Rahmens beweisen die unberechtigte Zuschreibung mindestens ebenso überzeugend wie die Tatsache, daß sie sich auch in der Apologie pour Hérodote finden. Des Periers hatte bewußt die Nachahmung Boccaccios vermieden, das drückt sich auch in der Zahl 90 aus, mit der er seiner Sammlung zwar eine runde Geschlossenheit gab, doch die „abgedroschene" Hundertzahl umging. Aber wie Boccaccio suchte auch Des Periers durch einen Rahmen Distanz zu schaffen, das überzeitlich Beglückende gegen das traurige Weltgeschehen abzugrenzen, durch Bewußtmachung der historischen Wirklichkeit die Anteilnahme der Leser an , ,tout cecy que je vous compte' ' zu dämpfen, „car peult-estre qu'il n'est pas vray ' '. So vernehmen wir das Lachen der französischen Renaissance wie das des Trecento aus der eine Perspektive fingierenden Kulisse tiefer Melancholie. Die Beziehungen zum Rahmen des Decameron dürfen nicht durch die Tatsache verdeckt bleiben, daß Des Periers' Einleitungssonett auf die unmittelbare Anregung durch R a b e l a i s ' Geleitgedicht zu Gargantua zurückgeht: Aux Lecteurs. Amis lecteurs, qui ce livre lisez' Despouillez vous de toute affection, Et, le lisant, ne vous scandalisez : Il ne contient mal ne infection. Vray est qu'icy peu de perfection Vous apprendrez, si non en cas de rire; Aultre argument ne peut mon cueur elire, Voyant le dueil qui vous mine et consomme : Mieulx est de ris que de larmes escripre, Pour ce que rire est le propre de l'homme. (Oeuvres de F. B. p. p. Abel L e f r a n c u. a., I, Paris 21913 S. 2. — Vgl. ebda. Bd. III S. 2 die Nützlichkeitsthese im Geleitgedicht zu Pantagruel).
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4. T h e o r i e u n d I d e a l in n o v e l l i s t i s c h e r U m r a h m u n g Im Verlauf unserer Untersuchung hat es sich als einer der beliebtesten Kunstgriffe der Novellenautoren erwiesen, Kurzweiliges hinter der Fassade des Belehrenden zu verstecken, Erziehung und Vorbilder zu versprechen, wo Unterhaltung und Kunst geboten werden sollten. M a r g a r e t e v o n N a v a r r a (1492 bis 1549) kehrt dieses Verfahren um: sie versteckt im Fragment ihrer Histoire des Amans Fortunez (Titel der Editio princeps, 1558), die seit der Ausgabe Gruget (1559) unter dem Titel Heptaméron berühmt geworden ist, ein großangelegtes pädagogisches Unternehmen unter der liebenswürdigen Maske des novellistischen passe-temps 1 ). Ennui ist die Voraussetzung des Spiels, dessen Fiktion den Canevas des Ganzen bildet. Eine Naturkatastrophe und ihre traurigen Begleiterscheinungen haben die höfische Gesellschaft, die nach dem Schema des Decameron novellieren wird, im Pyrenäenkloster zusammengeführt. Der Ort ist durch Hochwasserfluten von der Außenwelt isoliert.2) ,,Et, pour ce que les ouvriers dirent qu'ilz ne sçauroient avoir faict le pont de dix ou douze jours, la compaignie, tant d'hommes que de femmes, commença fort à s'ennuyer" (S. 243). Parlamente, in der die Autorin sich selbst porträtiert, der sie vor allem ihre Ideen und pädagogischen Tendenzen in den Mund legt, empfindet als erste die Notwendigkeit, die gesellschaftlich und seelisch untragbare Langeweile durch ein passe-temps zu bekämpfen. Von Oisille, der Seniorin der Gesellschaft, erbittet sie Beistand und R a t : ,,Ma Dame, je m'esbahys que vous, qui avez tant d'expérience [ . . . ] , ne regardez quelque passetemps pour adoulcir l'ennuy que nous porterons durant notre longue demeure, car, si nous n'avons quelque occupation plaisante et vertueuse, nous sommes en dangier de demeurer malades" (ebda.). Einziger Zweck des Unternehmens soll der Zeitvertreib sein, eine neutrale, nicht didaktische, nicht moralistische oder sonst zweckbestimmte Beschäftigung, denn das Epitheton „vertueuse" kennzeichnet zunächst nur die Gesellschaftlichkeit, nicht die Tendenz des Spiels. Von Anfang an wird kein anderes Ziel ins Auge gefaßt als Unterhaltung. Von Anbeginn an scheint sich ein rein künstlerisches, rein novellistisches Werk anzukündigen. Alle weiteren Erörterungen der Einleitung über mögliche Formen des gewünschten passe-temps bestärken den Leser in dieser Erwartung. Ennasuite, „tout en ryant", wünscht ausdrücklich „quelque plaisant exercice pour passer le temps, autrement nous serions mortes le lendemain" (ebda.). In der gelehrten Aufmachung und pädagogischen Tendenz erinnern an dieses Novellenbuch die 6 Jahre später erschienenen Hecatommithi Giraldi Cinthios (vgl. uns. Kap. II 7); unter der Nachwirkung von Margaretes leidenschaftlichem Interesse für italienische Literatur kamen sie 1583—84 auch in französischer Version unter dem Titel Gent excellentes Nouvelles heraus; der Ubersetzer war Gabriel C h a p p u y s , Verfasser der Facétieuses journées, receuillis et choisis de tous les plus excellents auteurs étrangers, contenant cent certaines et agréables Nouvelles, Paris 1584. 2 ) Heptaméron-Zitate nach: L'Heptaméron des Nouvelles de très haute et très illustre princesse Marguerite d'Angouléme Reine de Navarre publié sur les Ms. par les soins et avec les notes de MM. Le R o u x de L i n c y et A. de M o n t a i g l o n , Paris 1880, 4 Bde. — Zur Entschlüsselung der Rahmenerzählung u. a. Abel L e f r a n c , M. de N. et le Platonisme de la Renaissance, in Grands Écrivains Franç. de la Ren., Paris 1914. 187
Die Mehrheit schließt sich diesen Auffassungen an, aber allgemeine Enttäuschung wird fühlbar, da die „ancienne dame" Oisille ein ganz und garnicht auf Unterhaltung und Kurzweil abzielendes passe-temps vorschlägt: Lektüre der Heiligen Schrift. „Mes enfants — entschuldigt sie sich — vous me demandez une chose que je trouve fort difficile de vous enseigner, ung passetemps qui vous puisse délivrer de voz ennuietz" (S. 244), denn sie hat wohl begriffen, daß es ihrer höfischen Umgebung nicht um Erbauung und fromme Unterweisung, sondern um Vergnügen, um Zerstreuung, nicht um Sammlung zu tun ist. In Oisilles Anregung fällt zum ersten Mal im Heptaméron das Wort nouvelle, aber in einer Bedeutung, von der die Gesellschaft und offenbar auch die Verfasserin des Vorwortes nichts wissen wollen: „Dieu, qui pour nous a envoié son Filz en Terre anoncer ceste saínete parolle et bonne nouvelle, par laquelle il promect rémission de tous péchez". Nur aus Höflichkeit wird der alten Dame und der von ihr gepriesenen nouvelle das Zugeständnis der Beteiligung an einer täglichen Erbauungsstunde gemacht. Über das Wesen des passe-temps bestehen in der Gesellschaft divergente Auffassungen. Dieser Zug gehört schon zu Margaretes Gesellschaftskritik, also zum pädagogischen Zweck ihres Buches; aber der unvoreingenommene Leser wird sich dessen erst später bewußt. Wie in den Diskussionen, die sich jeder einzelnen Novelle anschließen, so wird auch in der Einleitung das Sujet der Konversation hin und her gewendet, durch Stellungnahme verschiedener Generationen und Geschlechter in seiner beklagenswerten Vieldeutigkeit und Verschiedenwertigkeit beleuchtet. Oisille, die unter passe-remps eine Absonderung, eine individuelle, ungesellschaftliche Verinnerlichung versteht, tritt mit ihrer Auffassung beiseite. Aber linter den anderen Neun besteht deswegen noch keine Einigkeit. Das zeigt sich in der Antwort Hircans, des Gatten Parlamentes, der sich und die Auffassung einer durch ihn repräsentierten Herrengruppe mit wenig zartfühlender Wendung gegen Oisille charakterisiert : , , [ . . . ] nous ne sommes encore si mortifiez, qu'il nous fault quelque passetemps et exercice corporel. Car, si nous sommes en noz maisons, il nous fault la chasse et la vollerye, qui nous faict oblier mil folles pensées ; et les Dames ont leur mesnaige, leur ouvraige et quelquesfois les dances [ . . . ] " (S. 245). Für ihn existiert nur der Vordergrund des physischen und praktischen Daseins, deshalb fordert er „quelque passetemps qui ne soit dommageable à l'ame [das ist in seinem Mund ein Gemeinplatz ohne Sinnkraft], soit plaisant au corps". Von Oisilles Bibellektüre distanziert er sich doppelt durch eine anzügliche Bemerkung über Kurzweil zu zweien: „Quant à moy [ . . . ] , si je pensois que le passetemps que je vouldrois choisir fust aussy agréable à la compaignie comme à moy, non opinion seroit bien tost dicte" (S. 245—46). Eine Anspielung, die durch die errötende Parlamente getadelt wird: „mais laissons là les passetemps où deux seullement peuvent avoir part, et parlons de cellui qui doibt estre commun à tous" (S. 246). In dieser kleinen Menschengruppe gibt es also mindestens drei Geschmacksrichtungen, und nur Parlamentes Vorschlag, man solle novellieren, wird die Uneinigen zusammenführen. Daß in diesem Vorgang der gesellschaftsbildende Plan des Gesamtwerkes leitmotivisch vorwegbeschrieben ist, kann nur der Kenner des 188
Ganzen wissen. Für den Unvoreingenommenen, der die Einleitung zum ersten Mal liest, handelt es sich um eine glaubwürdige Erzählung, die auf das Reihumerzählen von Geschichten vorbereitet. Parlamentes Ansprache ist so neutral gehalten und verweist so eindeutig auf das Vorbild des Decameron, daß nur mit Novellen ohne erzieherischen oder beispielhaften Gehalt gerechnet werden kann. ,,Si je me sentois aussi suffisante — so beginnt dieses Kernstück des Rahmens — que les Antiens qui ont trouvé les artz, je inventerois quelque passetemps ou jeu pour satisfaire à la charge que me donnez, mais, congnoissant mon sçavoir et ma puissance, qui à peine peult remémorer les choses bien faictes, je me tiendrois bien heureuse d'ensuivre de près ceulx qui ont desjà satisfaict à vostre demande" (ebda.). Mit kühnem Griff ist das Steuer der Konversation herumgeworfen. Die Vorschläge des Bibellesens und physischer Vergnügungen sind abgetan. Mit „les Antiens qui ont trouvé les artz" wird eine neue Szenerie beschworen. Parlamentes Anliegen ist weder sinnlicher noch religiöser Natur. Durch ,,les Antiens qui ont trouvé les artz" fühlt sich der Mensch, als begabte Einheit, der Beziehungen zu anderen Einheiten fähig, im humanistischen Sinne angesprochen. Aber auch darin liegt keine belehrende Tendenz. Der Leser erwartet nach dem Anklingen dieses Motivs ästhetischen Genuß auf der Höhe humanistischer Bildung. Und Parlamente fährt fort: „Entre autres, je croy qu'il n'y a nul de vous qui n'ait leu les cent Nouvelles de Bocace, nouvellement traduictes d'ytalien en françois 1 ), que le Roy François, premier de son nom, Monseigneur le Daulphin, Madame la Daulphine, Madame Marguerite, font tant de cas que, si Bocace du lieu où il estoyt les eût peu oyr, il debvoit resusciter à la louange de telles personnes" (S. 246—47). Die Verfasserin bedient sich nun eines raffinierten Mittels, um auch den leisesten Verdacht theoretischer Erörterungen von ihrer Einleitung abzulenken. Sie läßt Parlamente behaupten, die genannten Persönlichkeiten des Hofes hätten nach Art der Rahmengesellschaft des Decameron ein neues Hundert Novellen erzählen, im Gegensatz zu Boccaccio aber „nulle Nouvelle qui ne soit véritable histoire" Den (Kap. IV 2, S. 168 Fn. 3 genannten Übersetzungen war inzwischen die durch Margarete angeregte, ihr gewidmete Übertragung von Antoine L e M a ç o n „très humble secrétaire de la Reine de Navarre" (1545) gefolgt, aus der sie sich seit 1540 hatte Proben vorlesen lassen. Vgl. H. H a u v e t t e , A. Le M. et sa trad, du „Decameron", in Bull. Ital. V i l l a , a. O. — Wie intensiv im Kreis um Margarete, auf ihre persönliche Anregung, aber auch noch nach ihrem Tode, italienische Literatur gepflegt und übersetzt wurde, zeige folgende Liste: 1545 — Antoine Le Maçon, Übersetzung des Decameron, 1546 — J. de la Haye, Commentaire de Mar siile Ficin sur le banquet de Platon, faict par „Symon Siluius" (Poitiers), 1549 — Poggio Bracciolini, Les Facéties, um 1550 — Parabosco, Übersetzung der Diporti, 1555 — Novellen aus Masuccios Novellino und Sabadino degli Arientis Porretane, in A.D.S.D., Comptes du Monde Adventureux, 1560—73 — Straparola, Facétieuses Nuits, trad, par Jean Louveau et Pierre de Larivey, 1559—82 — Bandello, Histoires Tragiques, Bearb. ν . Pierre Boaistuauu. François Belieferest, 1575 — Moris Novellen (Übersetzimg). 1588 — Giovanni Fiorentino, Il Pecorone (Übers.), 1606 — Folengo (Merlin Coccaio), Histoire Macaronique. Weiter erschienen : Dialogues de Speron Sperone, trad. p. Claude Gruget, Boccaccios Laberinto d'Amore in der Version von Boaistuau ( = Launay) und vieles andere.
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(S. 247) aufzeichnen wollen. An dem Unternehmen hätten teilnehmen sollen: „dix personnes qu'ils pensoient plus dignes de racompter quelque chose, sauf ceulx qui avoient estudié et estoient gens de lettres ; car Monseigneur le Daulphin ne voulloyt que leur art y f u t meslé, et aussi de paour que la beaulté de la rhétoricque feit tort en quelque partye à la vérité de l'histoire" (ebda.). Ereignisse politischer und familiärer Natur hätten aber die Ausführung des Planes vereitelt, so daß die jetzt auf Fertigstellung der Brücke wartende Gesellschaft ihn sehr wohl aufgreifen, durchführen und der königlichen Familie das von ihr entworfene Novellenbuch dedizieren könne. — Die Verantwortung für die beiden einschränkenden Bedingungen, daß es sich nur um die Erzählung verbürgter Begebenheiten handeln, und daß kein rhetorisch (d. h. literarästhetisch) Vorgebildeter am Werk teilhaben solle, fällt damit nicht auf die Verfasserin, sondern bleibt Hypothese oder Ideal des Hofes ; ganz zu schweigen davon, daß beide Forderungen die Theorie eher zu verneinen als ein novellistisches Dogma aufzustellen scheinen. Wiederum kann der unvoreingenommene Leser nicht wissen, daß gerade die Verbürgtheit der Begebenheiten, auf die Parlamente selbst größten Wert legt („dira chacun quelque histoire qu'il aura veue ou bien oy dire à quelque homme digne de foy" ; ebda.), wesentliche Vorbedingung für die pädagogischdidaktische Auswertung der Beispielerzählungen sein wird. Alles in diesem um 1547 geschriebenen Vorwort deutet auf echtes passetemps, auf Spiel, auf harmloses Geschichtenerzählen, ja auf ein ausgesprochen untheoretisches, ungekünsteltes, unwissenschaftliches Beginnen, auf eine durch Boccaccios Decameron angeregte, aber auf literarische Fiktion und literarische Ausformung ausdrücklich verzichtende, tendenzlose Kurzweil rein geselliger Art. Bewußt bleibt auch Parlamentes Vorstellung vom passetemps im Gegenständlichen, Vordergründigen. Auf einen versteckten, philosophischen Sinn des passetemps in der Einleitung des Heptamêron zu schließen, wie aus Des Periers' preambule auf einen Hintersinn von tromper le temps verwiesen werden konnte, wäre abwegig. Bemühungen um tiefere Deutung leistet der Fassadencharakter von Margaretes passetemps Widerstand. Wer die Einleitung ohne Kenntnis der Novellen liest, mag glauben, Margarete sei der erste beste Nachahmer von Boccaccios Rahmen in Frankreich. Nur die Kenntnis des ganzen Heptamêron zeigt, daß zwar das Rahmenschema nachgebildet, aber zu einem grundsätzlich anderen Zweck verwendet ist als im Decameron. Die Ausführung ist in allen Einzelheiten dem Geist des Vorbildes fremd. Weder hält Margaretes in mehrere Details zerfallende Beschreibung des Unwetters in den Pyrenäen den Vergleich mit Boccaccios Pestschilderung aus, noch treten die Mitglieder ihrer Rahmengesellschaft als fiktive, distanzschaffende, anonyme Wesen hinter den Erzählungen zurück, noch erzählen sie aus der Sicherheit gemeinsamer und gefestigter moralischer oder gesellschaftlicher Haltung heraus 1 ). Die Französin will ihre Erzähler als Angehörige der noch in unsicherem Werdeprozeß befindlichen zeitgenössischen Gesellschaft hervortreten lassen; sie porträtiert unter Decknamen sogar bestimmte historische Persönlichkeiten. Jede x
) Fr. Redenbacher a. a. O., bes. S. 33 und 43, kennzeichnet die grundlegenden Unterschiede zwischen beiden Rahmenerzählungen.
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dieser Gestalten kennzeichnet ihre Gesinnung und ihren Charakter durch die Geschichten, die sie zum Besten gibt, und durch die Urteile, die sie über die Erzählungen der anderen fällt. Der die Novellen verbindende, folgerichtig durch das ganze Werk durchgeführte Dialog soll nicht nur die persönlichen Beziehungen innerhalb dieser Menschengruppe aufdecken, sondern das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Anschauungen an der Schwelle der französischen Renaissance schildern und womöglich beeinflussen. Das Heptaméron soll in die kulturhistorische Entwicklung eingreifen, die Königin will Novellen schreiben, um ihre mit Mängeln behaftete Umgebung zu erziehen. Der novellenverknüpfende Dialog und einige, vor allem die von Parlamente und ihrem Gesinnungsgenossen Dagoucin vorgetragenen Erzählungen, sollen Margaretes neuplatonischen Ideen zum Sieg verhelfen, indem sie ihr theoretisches Wunschbild als bereits in gesellschaftlichen Begebenheiten verwirklichte Lebensart vortäuschen. So ist das Heptaméron der merkwürdige Fall einer zwar nicht predigthaft moralisierenden, für einen Glauben werbenden, aber doch dialektisch-moralistischen, eine Haltung propagierenden Exemplasammlung im boccaccesken Novellenrahmen. Das Phänomen der Antinomie von Novellenpraxis und -theorie präsentiert sich hier mit vertauschten Akzenten. Der didaktische Ton liegt auf den Binnenerzählungen und ihrer Dialog verklammerung, nicht auf dem Prolog wie bei anderen Novellisten. Dennoch ist Margaretes Rahmen ebenso sehr Maske wie die Prooemien ihrer Schriftstellerkollegen. Nur daß diese meist zum Schein theoretisierende Erzähler sind, während jene um eines Dogmas willen, also nur zum Schein, novellieren will. Ihre Einleitung und die novellistische Einkleidung ihrer Gesellschaftspädagogik sollen nur ein täuschendes Werbeplakat, eine dichterische Fassade des Neuplatonismus sein1). Dies ist Margaretes offenkundige Absicht. Was für ein Werk ist aber unter ihren Händen entstanden ? Was Parlamente im Kernstück der Einleitung als ein der Erfahrung, der Wirklichkeit, der Erinnerung entsprungenes, literarischer Geformtheit und Rhetorik fernstehendes Vorhaben ankündigt, erweist sich bei näherer Betrachtung als eine eminent literarische Leistung. Abgesehen von Inkonsequenzen in den Details, verstand die Autorin Erzählungen verschiedenen Charakters und gegensätzlicher Gesinnung so kunstvoll zu gruppieren, daß nicht nur die jeweiligen Sprecher sich durch ihre Berichte charakterisieren, sondern daß eine Erzählung immer die Antwort oder das Gegenstück zur vorangegangenen, einmal ihre Widerlegung, ein andermal ihre Bekräftigung ist. Diese Dialogtaktik ist nicht ganz neu in der Novellenliteratur; in fester Verklammerung mit der Rahmenerzählung ist sie bereits in den verschiedenen Versionen des Roman des sept Sages seit dem Mittelalter bekannt. Der Exemplacharakter der Novellen und 1
) Über Margaretes neuplatonische Ideen und ihre Quellen: Abel Lefranc a. a. O. Weitere Literatur: H. de la F e r r i è r e - P e r c y , M. d'Angoulême, soeur de François I, Son livre de dépense, étude sur les dernières années, Paris 1862; Felix F r a n k , Etude sur M. d'A., reine de N., Vorwort zu Marguerites de la Marguerite des Princesses, Paris 1873, Libr. des Biblioph.; Ders., Notice zu Les Comptes dv Monde Adventvrevx, Texte original avec Notice, Notes et Index, Paris 1878, S. I—CXXXII; A. de M o n t a i g l o n , Avertissement zur zit. Ausgabe, Paris 1880, sowie die in der gleichen Ausg. enthaltenen Appendices. 191
ihre Verwendung nach Art von Rede und Gegenrede rechtfertigen also die Feststellung von Margaretes bewußter Rückwendung zum Mittelalter 1 ). Es ist wahr, daß die Königin von Navarra aus theoretischen Impulsen erzählt, daß es ihr am Herzen liegt, die gesellschaftliche Moral von der Grundlage her — der Beziehung der Geschlechter zueinander — im Sinne Piatons (wie sie ihn auf Umwegen über die Florentiner und Castiglione kannte und verstand) zu erneuern, daß sie aus leidenschaftlicher Überzeugung für jenes im „Gastmahl" errichtete Ideal der beiden für einander bestimmten Hälften eintritt, die, falls sie sich finden, den vollkommenen Menschen formen, daß sie in der Überwindung fleischlicher Begierden und Leidenschaften die entscheidende Vorbedingung für die Erfüllung sublimen Menschentums proklamiert. Diese Ideen aus Tatsachenberichten zu beweisen, keine „Nouvelle qui ne soit véritable histoire" zu erzählen, wie Parlamente fordert, ist schlechterdings unmöglich. Das Heptaméron wäre auch nie unter die Novellenbücher der Weltliteratur eingereiht worden, wenn es nur wahre Begebenheiten und als Novellen zurechtgestutzte Erinnerungen enthielte. Tatsächlich war Margarete eben nicht nur eine platonisierende, Gesellschaftspädagogik betreibende Königin, sondern auch eine Schriftstellerin von hohen Talenten. Sie verstand, ihre Zeit und die Nachwelt nicht nur durch ihre Rahmenerzählung zu täuschen und ihnen einzureden, ein durch Exempla illustrierter moralistischer Dialog sei ein passetemps. Sie wußte die Wirkung ihrer Beispielgeschichten nicht nur durch kontrastreiche Gruppierung zu steigern, etwa dadurch, daß sie rohen, oft derben oder brutalen Gesinnungsäußerungen einiger Mitglieder ihrer Rahmengesellschaft die empfindsamen, feinsinnigen, psychologisch nicht immer konsequenten Musterhistorien Parlamentes und Dagoucins entgegenhielt. Sie wollte nicht nur ihre Zeitgenossen durch den Novellendialog beeinflussen, es gelang ihr auch, die zwischen Frömmigkeit und Frivolität, zwischen esprit gaulois und Sentimentalität, zwischen den Gesinnungen zweier Epochen und widerstreitenden heimischen und importierten Denkweisen hin und herschwankende, heterogene Gesellschaft so zu schildern, daß sie in den Gestalten der Rahmenerzählung und einiger Novellen fortlebt. Die schriftstellerischen Fähigkeiten der Königin waren so stark, daß gesagt werden konnte, das Heptaméron sei „gleichsam ein Vorläufer der großen Memoirenliteratur" 2 ), es mache also den Eindruck des wirklich Geschehenen und Erlebten, während wir doch wissen, daß es einem theoretischpädagogischen Impuls entsprungen ist und deshalb, mindestens zu einem Teil, mit fiktiven Verhältnissen Beweise gegen eine reale Welt führen muß. Die Autorin verstand, ihre tendenziösen Erzählungen so kunstvoll ins Gewand gesellschaftlicher Begebenheit zu kleiden, daß sie wie Erinnerungen, wie überaus private Memoiren wirken. In der Behauptung der Memoirenhaftigkeit liegt darum die höchste Anerkennung, die Margarete als gestaltender Erzählerin gezollt werden kann — ein Lob, das, allerdings nur für Teile des Heptaméron, auch als objektives Urteil gelten darf. Denn in Wirklichkeit waren der Dichterin die Begebenheiten x 2
) Redenbacher a. a. O. S. 44 und 71. ) Redenbaeher ebda. S. 45.
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nicht als solche wichtig, sondern nur als Vorwände für ihre moralistischen Demonstrationen. Mag eine Anzahl Geschichten auf wirkliche, private oder historische Ereignisse zurückweisen, deren Zeugen Margarete oder ihre angeblichen Gewährsleute gewesen sein mögen — als literarischer Ausdruck sind die Novellen, auf die es der Autorin ankommt, das gerade Gegenteil von Memoiren. Was in manchen Erzählungen Parlamentes und Dagoucins als geschehen behauptet wird, kann sich nur im idealen Nirgendwo theoretischen Denkens und Wünschens abgespielt haben. Mögen die Protagonisten Decknamen tragen, hinter denen sich Persönlichkeiten der Hofgesellschaft des 16. Jahrhunderts verbergen, mögen sie sogar mit ihren geschichtlichen Namen genannt sein und an genau beschriebenen, benannten, jedermann bekannten Schauplätzen ihre Schicksale erleben — so wie Margarete durch ihre Rahmenfiguren das Leben ihrer Mustergestalten darstellen, mit Idee durchdringen und sich auf das Piedestal sublimer Beseelung und Vergeistigung erheben läßt, so kann es in Wirklichkeit nicht gewesen sein, so hätte es auf dieser Welt keinen Ort gefunden. Es ist hier an eine Beobachtung zu erinnern, die, als Kritik am Heptaméron geäußert, dem wahren Wesen dieses Buches näherkommt als der problematische Verweis auf seine Memoirenhaftigkeit. Ferdinand Brunetière, der nicht im Verdacht steht, ein schlechtes Gedächtnis gehabt zu haben, gesteht, es habe ihm nie recht gelingen wollen, sich den Inhalt einer HeptaméronNovelle einzuprägen 1 ). Tatsächlich treten Begebenheiten und Figuren hinter den Ideen und Gesinnungen, die sie repräsentieren oder propagieren sollen, stark zurück; viele dieser Gestalten ragen in ein Nirgendwo hinaus und verlieren den Boden, auf dem wir uns zu erinnern vermögen, unter den Füßen. Sie sind seelenvolle Idealwesen oder gewaltsam verzeichnete Schreckbilder einer novellistischen Scheinwelt. Wir vergessen sie wie Träume, mögen sie uns noch so sehr bewegt oder gerührt haben. Memoirenhaftigkeit, sogar Memoirenstil läßt sich mit gutem Willen auch bei anderen Novellisten des 16. Jahrhunderts, ζ. B. bei B a n d e l l o nachweisen, der wie Margarete Wert darauf legte, seine Erzählungen als Berichte über Tagesbegebenheiten aufgefaßt zu wissen, und der in seinen Widmungsbriefen immer wieder den Anschein der Erinnerung oder des Augenzeugenberichts zu erwecken sucht. Bei dem Italiener wie bei der Französin ist aber diese Berufung auf die Verbürgtheit des Berichts novellistische Fiktion. Besonders Margarete durfte nicht zugeben, etwas erfunden zu haben, denn sie brauchte beweiskräftige Tatsachen, Beispielfälle, um ihre Thesen zu erhärten. Wer wie sie die Richtigkeit einer Ideologie beweisen will, muß die „véritable histoire" sprechen lassen, denn Phantasie hat keine Beweiskraft, Und wenn das Heptaméron noch drei Jahrhunderte nach der Niederschrift einen Kritiker trotz aller Kenntnis der darin vertretenen Thesen davon zu überzeugen vermag, daß es „gleichsam ein Vorläufer der großen Memoirenliteratur" ist, so beweist das die dichterische Kraft *) F. B r u n e t i è r e , Hist, de la Littér. Franç. Classique, I, Paris 4 1921, S. 170ff. — Wir können die Beobachtung aus eigenen Erfahrungen bestätigen; auch Teilnehmer an einer Seminarübung (Univ. Hamburg, S. S. 1948) klagten über die Schwierigkeit, Novelleninhalte des Heptaméron aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren oder zu vergleichen. 13
Novellentheorie
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der Fiktion. Welche schriftstellerische Potenz gehört dazu, erzieherische Absichten, obwohl sie erkannt sind, so stark gegen enthüllenden Zugriff zu sichern, den wahren Kern der Sache hinter dem doppelten Wall einer Kurzweil versprechenden Rahmenerzählung und einer noch nach Jahrhunderten wie Memoiren wirkenden Serie von Geschichten zu bergen, deren einige vielleicht Tatsachenberichte oder Bearbeitungen alter Novellenstoffe, deren andere aber utopisch sind 1 )! Wenn das Heptaméron ein Vorläufer der Memoirenliteratur sein sollte, so erwiese sich als eine der Quellen der „Erinnerung" die nur locker an Tatsachen sich anlehnende Erfindungskraft. Wir behaupten nicht, daß alle Novellen des Heptaméron idealisch seien. Erzählungen, die wenn auch zugespitzter, übertriebener Ausdruck oder Kritik tatsächlich herrschender gesellschaftlicher Zustände sind, verdienen nicht dieses Attribut. Solchermaßen outrierte Novellistik bildet einen wesentlichen Bestandteil des Buches. Zu ihr zählen alle jene Erzählungen, die von mißglückten oder gelungenen Versuchen listiger, betrügerischer und gewaltsamer Befriedigung männlicher Liebeswünsche berichten. Idealisch oder utopisch sind auch nicht Novellen, die von erfolgreicher Gegenwehr oder beispielhafter Tugend weiblicher Wesen erzählen. Dies alles braucht die Grenze der Realität nicht zu überschreiten. Wo aber die Dichterin aus der absichtlich übertriebenen Schlechtigkeit oder Zügellosigkeit einer ihren Trieben unterworfenen realen Welt heraus ideale menschliche Beziehungen entstehen läßt, wo sie in der Fiktion entsagender, aber in inniger Seelengemeinschaft verharrender Liebespaare neuplatonische Lehrsätze demonstriert, um durch Idealbilder zu erziehen, dort verläßt sie den Boden der glaubwürdigen Erinnerung. Gerade auf diesen Idealbildern ruhen aber die großen Akzente ihres Buches. Um der Idealbilder willen hat sie ja auch die verblüffend „naturalistisch" anmutenden Schilderungen menschlicher Brutalität entworfen, als deren Verfasser sich der Leser nur widerwillig die empfindsame Jüngerin Piatons vorstellen mag. Wenige Stichproben gewähren Einblick in diese idealisierende Novellistik. Daß eine starke Herzensneigung am übersteigerten Liebesideal eines Partners zerbricht, wie in der von Parlamente erzählten zehnten Novelle, ist ungewöhnlich oder unnatürlich. Florinde empfindet es als Verletzung ihrer sublimierten Vorstellung von der Liebe, daß Amadour sie nicht nur anbetet, sondern auch begehrt. Sie glaubt, das „böse Feuer" seiner sinnlichen Wünsche nur dadurch ersticken zu können, daß sie ihr schönes Gesicht, das so verwerfliche Liebe entzündet hat, verstümmelt. Nach dem Tod des unglücklichen Liebhabers geht Florinde ins Kloster, „prenant pour mary et amy celuy qui l'avoit délivrée d'une amour si véhémente que celle d'Amadour et de l'ennuy si grand que de la compaignie d'un tel mary" (S. 390). — Da von vorn herein damit gerechnet werden mußte, daß sich in der Rahmengesellschaft wie im Leserkreis Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit dieser Novelle erheben würden, ist sie gegen Zweifel besonders gesichert. Im Rahmendialog, zwischen der IX. und der X. Novelle, werden die er1
) Zur Stoff- und Motivgeschichte: Notes et Eclaircissements, in Ausg. a. a. Ο. IV, S. 191 bis 336, sowie A. L. S t i e f e l , Die Chastelaine de Vergy bei M. von N. und bei M. Bandelle, in ZFSL X X X V I (1910) S. 103—115. 194
warteten Einwände zwar nicht widerlegt, aber doch durch doppelte und dreifache Behauptung der Verbürgtheit des zu Erzählenden abgeschwächt. Den Skeptiker Saffredent fragt Parlamente: „ E t si je vous en nommois une bien aimante, bien requise, pressée et importunée, et toutesfois femme de bien, victorieuse de son cueur, de son corps, d'amour et de son amy, advoueriez vous que la chose véritable seroyt possible?" Und zu allen gewandt: „Lors, dit Parlamente, vous seriez tous de dure foy si vous ne croyez cest exemple" (S. 339). Schließlich folgt die ausführliche Beteuerung: „mon histoire est si belle et si véritable qu'il me tarde que vous la sachiez comme moy, et, combien que je ne l'aye veue, si m'a elle esté racomptée par ung de mes plus grands et entiers amys à la louange de l'homme du monde qu'il avoyt le plus aymé, et me conjura que, si jamais je venois à la racompter, je voulusse changer le nom des personnes ; par quoy tout cela est véritable, hors mis les noms, les lieux et le pays" (S. 340). Die Autorin weiß, daß die Geschichte von Florinde und Amadour unglaubwürdig ist und daß sie im Widerspruch zu der im Vorwort erhobenen Forderung steht, nur wahre Begebenheiten zu erzählen. Deshalb erhält die zehnte Novelle durch Parlamentes Vorrede eine nochmalige Maskierung, einen Sonderrahmen innerhalb des Zyklusrahmens. Für uns, die wir die Prologhypokrisie der Novellisten als historische Konstante kennen, ist die doppelte und dreifache Beteuerung der Exempelwahrheit untrügliches Symptom der Fiktion, der idealisierenden Erfindung, die des Widerspruches, des Protestes gewärtig sein muß. Das gelungenste Idealbild des Heptaméron ist die von Ennasuite erzählte X I X . Novelle. Sie bekräftigt und illustriert die im anschließenden Kolloquium der Rahmengesellschaft von Parlamente geäußerte neuplatonische These, daß kein Mensch, der nicht ein Geschöpf dieser Welt vollkommen geliebt hat, jemals werde Gott vollkommen heben können. Die theoretische Bemühung italienischer Neuplatoniker des ausgehenden Quattrocento um eine Synthese von christlicher Religiosität und antiker Philosophie wird in dieser Erzählung als verwirklichte menschliche Haltung, als sublimes Ziel nicht nur, sondern als tatsächlich erreichter Höhepunkt einer entsinnlichten Liebe ausgegeben. Die Protagonisten stehen als Hofleute im gesellschaftlichen Leben; die Gesellschaft, in Gestalt des Markgrafen und der Markgräfin von Mantua, verbietet ihnen die Eheschließung. Ein menschlich glaubwürdiger Ausweg aus dem Dilemma wäre nicht nur denkbar, sondern auch „novellistisch" im Sinne traditionell gesellschaftlicher Erzählkunst. Aber um eine glücklich bürgerliche Lösung ist es der Autorin nicht zu tun, und ein tragisches Ende stände im Widerspruch zu ihren Idealen, die gerade hier demonstriert werden sollen. So ist der Einspruch des Fürstenpaares gegen die Eheschließung weit mehr als ein über ein Liebespaar hereinbrechendes bürgerliches Mißgeschick. E r wird zum äußeren Anlaß einer Metamorphose, einer vollkommenen Umwertung, Verinnerlichung, Vergeistigung, ja Vergöttlichung ihrer Beziehung. Der gentilhomme wird Franziskanermönch und sendet aus dem Kloster an die Geliebte ein Lied, das sie nicht nur zur gleichen Weltentsagung auffordert, sondern sogar die Ehe — falls sie wider Erwarten doch noch erlaubt werden sollte —• als überwunden, nicht mehr erstrebenswert, als hinter einem höheren Ziel zurücktretende „Versuchung" verwirft. Auch Pauline (sie allein 13*
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wird mit dem Namen genannt) setzt ihren längst gefaßten Beschluß, Clarisse zu werden, in die Tat um. Durch das Klosterleben sind die Liebenden fortan körperlich geschieden, aber ihre Seelen sind unzertrennlich und viel inniger vereint, als es je in der Welt möglich gewesen wäre: durch die Liebe zu „Dem, der unsterblich und unsichtbar war". Das Realistisch-Erdnahe, das Erinnerlich-Wirkliche, das einer nach immanenten Gattungsgesetzen fahndenden Forschung als Kennzeichen der älteren und Renaissancenovellistik erscheinen mag, ist hier überwunden. Wie der Hof von Mantua mit seiner gesellschaftlichen Tyrannis nur Vorwand und Kulisse ist, nur äußerer Anlaß und Hintergrund, nicht aber Impuls der Metamorphose, so sind auch die Klöster „Sainct-François" und „Saincte-Claire" nur Schemorte ohne historische Realität und Ordnung. Weder entsprechen sie dem Bild der Zerrüttung, das die Novellistik vom 14. bis zum 16. Jahrhundert (einschließlich des Heptaméron) immer wieder in den Gestalten verkommener Mönche beschwor, noch der strengen Observanz katholischer Weltentsagung und Askese. Aus dem Kloster kann der Novize ein entsagendes Liebeslied, aber eben doch ein Liebeslied senden; in der Klosterkirche kann sich seine immer noch irdische Liebe kundtun, da der Vorüberschreitende die Geliebte plötzlich erkennend in schmerzlicher Erschütterung zusammenbricht; im Kloster darf er sogar den Besuch der Freundin empfangen und mit ihr aus wahrer „charité" den heiligen Kuß der „dilection" tauschen; schließlich wird das Kloster zum Ort der Läuterung und ewigen Zusammenfügung der einander bestimmten menschlichen „Hälften", ihrer — wenn auch entsinnlichten, gottbezogenen — Einheit. Hier bleibt nichts von der nouvelle als Tagesereignis oder Tatsachenbericht, keine Spur bleibt von jener Unterhaltsamkeit, die der gesellschaftliche Rahmen des Buches, der gesellschaftliche Hintergrund der Erzählung, die gesellschaftliche Tradition der angeblich durch das „Gesetz" der Pointe bestimmten „Gattung" verheißen. Hier führen alle Mittel der Gestaltung aus der Wirklichkeit, der Gesellschaft, dem „Formgesetz", in die Fiktion unrealisierbarer Vollkommenheit, in das Ideal einer Vergöttlichung der innigsten menschlichen Beziehung hinaus. Aus vorgeblichem Erlebnis und Ereignis wird ein ungreifbares Bild ins Nirgendwo projiziert, weil nur ein Bild als Grundlage für Parlamentes seherische Deutung der „vollkommenen Liebenden" dienen kann, jener vielzitierten, programmatischen, hymnischen Proklamation im Epilog zur XIX. Novelle, jener neuplatonischchristlichen Botschaft, die als Höhepunkt des Werkes gilt. Irgend ein gentilhomme und irgend eine Dame namens Pauline müssen die Rolle der „vollkommenen Liebenden" einmal gespielt haben, wie anders sollte man sonst als Dichterin ein frivoles Jahrhundert von der Wahrheit seiner Ideen überzeugen ? Wenn es verbürgt war, wenn ein Zeuge davon berichten konnte, dann mußte es wahr sein1). Einem derartigen Gebilde gegenüber, das im Heptaméron nicht nur den *) Die neuplatonisch-christliche Sublimierung der Liebe begegnet, stark an Heptaméron X I X erinnernd, in Charles N o d i e r s letzter Novelle Franciscus Columna (1832), die das Schicksal des vermutlichen Autors der H ypner otomachia Poliphili (1499) — Francesco Colonna — phantasievoll ausgestaltet. Man vgl. auch das Résumé in Gérard de N e r v a l , Voyage en Orient, X I V („Le Songe de Polyphile").
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Akzent der ideellen, sondern auch der künstlerischen Vollendung trägt, versagen die Novellendefinitionen, die alle Buntheit der Formen und den vielgestaltigen Ausdruckswillen verschiedener Jahrhunderte und Völker und Dichterpersönlichkeiten in ein einziges Rezept, in eine logisch-abstrakte Formel zwängen. Es versagen die Wendepunkt-, die Falken-, die Symbol- und die Situationstheorie, deren jede nur ein Schema andeutet, deren jede der Fülle des Ausdrückbaren und Ausgedrückten ein vereinfachendes Gesetz zugrundelegt. Nichts würde uns berechtigen, die X I X . Heptaméron-Novelle auf die gleiche Formel zu bringen wie eine Erzählung des Decameron oder wie eine der Cent Nouvelles nouvelles oder wie eine Novelle Bandellos. Auch das Märchenklima der Novelas ejemplares ist etwas anderes als der christlich-neuplatonische Liebestraum der Französin. Parlamentes neuplatonische Lehre gewinnt Anhänger in der Rahmengesellschaft. I m Epilog zur L X I X . Novelle macht beispielsweise Longarine sich die neue Auffassung des „parfaict amour" zu eigen: „ J e dis que la femme chaste, qui a le cueur remply de vray amour, est plus satisfaicte d'estre aymée parfaictement que de tous les plaisirs que le corps peult desirer" (III S. 266). U m das Unheil zu beweisen, das aus dem Fehlen geläuterter, wenn nicht vollkommener Liebesauffassungen entstehen muß, wird das Prinzip der Rahmengesellschaft, literarische Arbeiten aus dem Spiel zu lassen, nun offen durchbrochen. Es wird ausdrücklich auf die alte Vorlage der von Oisille zu erzählenden L X X . Geschichte 1 ) — des Stoffes der Chastelaine de Vergy — verwiesen 2 ). Das Schicksal, das diese Heptaméron-Novelle gehabt zu haben scheint, gibt Veranlassung, auf die seltsamen Wege zu weisen, die Margaretes Lehre — ohne Zutun der Autorin — einschlagen sollte, um auf die Weltliteratur Einfluß zu gewinnen. Untersuchungen eines deutschen Gelehrten 3 ) haben glaubhaft gemacht, daß die V. bzw. VI. Erzählung der Parte Quarta von Bandellos Novelle (Lungo, fortunato e segreto amore di dui amanti, che in grande gioia vissero congiunti insieme per nodo maritale. Scopertosi poi il caso loro, per la malignità de la duchessa di Borgogna, amendui miseramente se ne morirono), die 1573 erschien, der L X X . Novelle des Heptaméron ziemlich genau nachgebildet sei. Während der Italiener bei zwei anderen Anleihen (II 24 und I I 35) auf Novellen Margaretes als Vorlagen verwies, scheint er durch Rückdatierung des zu IV 5 gehörigen Widmungsschreibens an eine (schon verstorbene) Marchesa di Gonzaga die Herkunft dieser Erzählung verschleiern zu wollen. Ohne auf die Plagiathypothese, die den fiktiven Charakter der Widmungsbriefe zugrundelegt, näher einzugehen, dürfen wir annehmen, daß der Italiener in seine Version des Chastelaine de Vergy-Themas nichts von Margaretes platonisierender Tendenz übernommen hat. In seinem Widmungsschreiben heißt es zwar, die Adressatin habe beim Anhören der Geschichte heiße Zähren geweint, „biasimando chi de la morte loro fu cagione" (V S. 119), in der Novelle wird die Situation aus moralischen Gründen hie und da gedämpft (vielleicht mit Rücksicht auf die geistliche Würde des Erzählers) ; aber 1
) In der Editio princeps steht die Geschichte an erster Stelle, in allen Ausgaben seit 1559 ist sie die 70. Novelle. 2 ) Neudruck der afr. Fassung in R X X I (1892) S. 145ff., ed. R a y n a u d . ») A. L. Stiefel a. a. O. 197
abschreckendes Beispiel durch tendenziöse Schilderung eines „contentement bestial", das vollkommener Liebe widerspricht, ist Bandellos Novelle nicht. Nimmt man an, das Plagiat wäre nicht nur einleuchtende Hypothese, sondern durch unumstößliche Tatsachen bewiesenes literarhistorisches Faktum, so hätte Bandello durch Herauslösung der Chastelaine de Vergy-Version aus dem Heptamêron und durch Befreiung von allem moralistischen Beiwerk, in das sie dort gekleidet ist, immerhin aus einem pädagogischen Exempel in französischer Sprache eine tendenzlose italienische Novelle gemacht, ein objektives Bild böser menschlicher Leidenschaft und ihrer tragischen Folgen. Dem genau entgegengesetzten Verwandlungsprozeß wurden ungefähr zur gleichen Zeit zahlreiche Novellen Bandellos in Frankreich unterworfen. Zusammen mit sechs von Pierre Boaistuau ( L a u n a y ) übersetzten Erzählungen des Italieners erschienen in Paris von 1559 bis 1582 in sieben Bänden 66 Novellen Bandellos in der Bearbeitung von François B e l l e f o r e s t , unter dem Titel Histoires Tragiques. Die „Ubersetzungen" Belleforests waren durch weitschweifige psychologische, philosophische und moralisierende Interpolationen erweitert; jede einzelne Novelle erschien im Rahmen eines moralisierenden „Sommaire" und eines moralisierenden Exempelepilogs. Interpolationen, Sommaires, Epiloge und gelegentliche Gedichteinlagen waren Zutaten des Übersetzers. So lernte Frankreich den letzten großen amoralisch-tendenzlosen Repräsentanten der italienischen Renaissancenovellistik als Exempelmoralisten kennen. Und nicht Frankreich allein. Denn die Histoires Tragiques von Bandello-Launay-Belleforest eroberten auch Spanien-Portugal 1 ) und England. Belehrende, die epische Spannung zerstörende, mehr oder minder langweilige Randglossen, Zwischenbemerkungen und pädagogische Tiraden eines zweitrangigen Schriftstellers verhalfen so dem Werk eines großen urwüchsigen Erzählers zur Weltgeltung. Die Histoires Tragiques beeindruckten Lope de Vega so sehr, daß er sie als einziges Werk der vermeintlich italienischen Prosanovellistik in der Einleitung zu seinen eigenen Novellen erwähnte und über die Novelas ejemplares stellte: ,,ηο faltó gracia y estilo á Miguel Cervantes. Confieso que son libros de grande entretenimiento, y que podrían ser ejemplares, como algunas de las historias trágicas del Vandelo" 2 ). Das elisabethanische England lernte Bandello durch die Histoires Tragiques Belleforests in den Übersetzungen Geoffrey F e n t o n s und William P a i n t e r s kennen (1567), deren Ersterer wiederum die französische Paraphrasierung kommentierend, moralisierend und manieristisch erweiternd bearbeitete. Eindrucksvoll schildert eine erst kürzlich von der University of Missouri veröffentlichte Studie von Frank S. H o o k über The French Bandello3) den sonderx
) Vicente de M i l l i s G o d i n e z brachte 14 der Histoires Tragiques von Boaistuau-Belleforest 1589 in Salamanca heraus: Historias trágicos exemplares sacadas de las obras del Bandello Verones. Nuevamente traducidas de las que en lengua Francesa adornaron Pierres Bouistau, y Francisco de Belleforet. [Sic!] (Zit. nach M. Menéndez y Pelayo, Orig. II S. X X I I , der in Fn. u. a. ein Verzeichnis der enthaltenen Novellen gibt.) 2 ) Kap. III 3 der vorliegenden Arbeit. 8 ) The French Bandello [ . . . ] vgl. unser Kap. III 1, S. 103 Fn. 1. Zu spät wurde zugänglich : René P r u v o s t , M. Bandello and Elizabethan Fiction, Paris Libr. Anc. H. Champion 1937. Diese Untersuchimg ist in drei Hauptkapitel eingeteilt: I. Bandello in English: Mainly
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baren Weg und die Metamorphosen der Novellen des Italieners und den unverhältnismäßig hohen Einfluß, den ein Belleforest und ein Fenton durch die Entstellung dieser italienischen Kunstwerke auszuüben vermochten („Thus even Belleforest and Fenton become important in illuminating a period which produced Spencer, Shakespeare, Ben Jonson, and their fellows", ebda. S. 46). Dies alles brauchte uns im Rahmen dieses Kapitels nicht zu beschäftigen, gäbe es nicht Gelegenheit, die Ausstrahlung der Ideen Margarete von Navarras in die Weltliteratur wenigstens anzudeuten. Belleforest, der schon als Jüngling Margaretes Protektion genossen hatte (bei ihrem Tod war er 19 Jahre alt), veröffentlichte die Histoires Tragiques unter dem unmittelbaren Eindruck der Lektüre des Heptaméron. Einzelne Novellen der Königin waren schon vor der Drucklegung handschriftlich verbreitet worden; in solcher Form wurden sie beispielsweise Bandello bekannt. Im Jahre 1558 erschienen die Erstausgaben von Des Periers' Nouvelles Recreations et Joyeux Devis und von Margaretes Histoire des Amans Fortunez. 1559, im Jahre der zweiten Ausgabe der letzteren, begannen auch die Histoires Tragiques zu erscheinen. Der erste Band enthielt neben sechs Übersetzungen Boaistuaus die sechs ersten Bearbeitungen Belleforests. Vorlage für Belleforests moralistisch-philosophische und psychologisierende Interpolationen, Sommaires und Epiloge konnte natürlich nicht das Novellenbuch Des Periers' sein, das nichts dergleichen enthielt, sondern nur das der Königin von Navarra. Hier könnte eingewandt werden, daß Belleforest auch ältere Exemplasammlungen oder moralisierende Lehrbücher wie den Ménagier de Paris, das ,,Livre" des Chevalier de La Tour oder die Gesta Romanorum zum Vorbild genommen haben dürfte, um Bandello seinen erzieherischen Zwecken dienstbar zu machen. Diese Möglichkeit soll auch nicht generell von der Hand gewiesen werden. Wir können aber beweisen, daß die Gedanken, mit denen Belleforest Bandellos Novellen auszuschmücken suchte, nichts anderes als ein Aufguß von Ideen aus den R ahmen kolloquien des He-ptaméron sind. Daß er diese Gedanken aus der Gesprächsform in die althergebrachte Exemplaschablone von Sommaire und Epilog zurückführte, hat nichts zu bedeuten. Fest steht, daß Belleforest Bandello platonisiert, daß seine Inhaltsangaben und Schlußbetrachtungen neben allgemein und platt moralisierender Tendenz jenen spezifischen Neuplatonismus atmen, den Margarete in die Novellendichtung eingeführt hat. Es braucht bei Bandello-Belleforest1) nur von den „reveries des sots et insensez amans sur le sujet de l'amour" die Rede zu sein und ihnen ,,la contemplation des choses celestes" gegenübergestellt zu werden, wie im „Sommaire de la treziesme histoire" (S. 55), es braucht nur, wie im „Sommaire de la dixhuictiesme histoire" (S. 83), beklagt zu werden, „de quelle rage est conduite ceste folle et eventée jeunesse bridée, et regie d'amour, si elle n'est moderée par raison, et refroidie par saincts enseignemens du berceau jusques à la maturité de l'aage", um die unverkennbare Atmosphäre des Rahmendialogs des Heptaméron in Erinnerung zu rufen. Es bedarf nur einer Konfrontierung weiblicher Schwäche bibliographical ; II. The Spirit and Manner of the Translations and Adaptations ; III. Aftermath. The Influence of the Novels out of Bandello upon Elizabethan Fiction. l ) Zitate nach Hook a. a. O.
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mit weiblicher Tugend wie im Schlußabsatz der XIII. Novelle („Mais la faute d'une qui se laisse decevoir à sa presumption, ne faut point que obscurcisse la splendeur de tant de vertueuses, belles et honnestes: lesquels pourront par leur chasteté, libéralité et courtoisie, effacer la tache de la folie, avarice et cruauté de ceste cy, et de celles qui la ressemblent", S. 82), oder pädagogischer Ausblicke auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich wie im „Sommaire de la vingtiesme histoire" (S. 129) oder im Epilog zur XX. Novelle (,,Et quoy que la corruption de nostre naturel soit si grande que les folies nous plaisent beaucoup plus que le récit des choses serieuses, et pleines de raison et prudence : si ne pense-je point que nos Ames soyent tant perverties, et esloignées de la vérité, que quelquefois ne ayons soucy, et ne cerchions de parler plus gravement que ne font les paysans et plus modestement que les personnes, la vie desquels porte une marque d'infamie, et sont segnales de chacun pour le seul nom de leur vocation", S. 154 bis 155) ; es bedarf— sagten wir — nur dieser belehrenden Randglossen, damit der Leser sich der verallgemeinernden, das ganze weibliche Geschlecht mit Schmach oder Ehre überhäufenden Auswertung einzelner Exempla, der Standesvorurteile, der pädagogischen Abschweifungen, der pessimistischen Urteile über das menschliche Herz im Kolloquium der .ffepiameVon-Gesellschaft entsinne. Vollends aus der Ideenwelt von Parlamente und Dagoucin spricht aber der Epilog zur XVIII. Novelle, dessen eindeutig auf das Heptaméron weisende Stellen wir unterstreichen: „Que ce soit donc le miroir des loyaux amans, et chastes poursuivans, en detestation de l'impudicité de ceux qui donnent attainte par tout où l'on leur monstre bon visage: non sans le mespris aussi de ceux, qui sottement s'oublient en leur affection, avilissans la générosité de leurs courages, pour estre reputez des fols, leurs semblables, vrais champions d'amour. Car la perfection de bien aymer, ne consiste point en passions, douleurs, ennuys, martyres ou soucis: et moins encor parvient-il à son assouvissement, par souspirs, exclamations à la Castillane, par pleurs et pueriles lamentations : veu que la vertu doit estre la liaison de ceste amitié indissoluble, qui fait Vunion des deux moitiés de cest Hom-feminin Platonique: et fait rechercher l'accomplissement du tout en la vraye poursuite du chaste amour: [ . . . ] . E t certes, le devoir de son parfaict amy ouvra mieux [ . . . ] que toutes ses contenances [. ..]. Veu que l'amy, estant un second soymesme, ne peut qu'estre conduit par la sympathie naturelle des affections de celuy qu'il ayme, et pour participer en ses liesses et plaisirs, et pour se condouloir avec céluymesme son amy, là où fortune aura usé de quelque tour de sa mobilité et inconstance coustumiere" (S. 128). Ähnlich verhält es sich mit Sätzen des Epilogs zur XXI. Novelle, die — ebenfalls in epigonaler Verdünnung — einen Hauch von Margaretes neuplatonischer Verkündigung enthalten : ,,Νοη, non, l'Amour est le vray subject en un coeur gentil, de vertu, courtoisie, et modestes moeurs: chassant toute cruauté et vengeance, et nourissant la paix entre les hommes. Que si quelques uns violent et profanent les saínetes loix d'Amour, et pervertissent ce qui est de vertueux, ce n'est la faute d'un si sainct subject, ains de celuy qui le suit, sans en sçavoir ny cognoistre la perfection" (S. 184—85). In Belleforests Histoires Tragiques gingen also die Novellistik Bandellos und 200
die neuplatonisch-pädagogischen Theorien Margaretes einen Bund ein, der das katholische Spanien wie das puritanische England zu schöpferischen Leistungen anregte. Es ist der merkwürdigste Bund, den zwei so verschiedenartige Leistungen, zwei einander so fremde künstlerische Temperamente schließen konnten. Sollte Bandello tatsächlich die LXX. /Zeptameron-Erzählung ihres belehrenden Charakters entkleidet und ohne Quellenangabe unter seine Novelle eingereiht haben, so erhielt Margarete von Navarra (nach ihrem eigenen, zum Teil aber noch vor Bandellos Tod) durch ihren Übersetzer-Epigon Belieferest eine wirksame Revanche 1 ). Denn auf dem schimmernden Fahrzeug der Bandello-Novellen sandte dieser ihre neuplatonische Verkündigung in die Welt. Durch den ästhetisch ungerechtfertigten, ruinös anmutenden Eingriff eines Schriftstellers, der weder Novellist noch selbständig denkender Pädagoge oder Philosoph war, wurden die unvereinbar erscheinenden Äußerungen der französischen Fürstin und des italienischen Bischofs zu einem hybriden Gebilde zusammengepreßt. Der Augenblick der kulturhistorischen Entwicklung — jene Mischung von Läuterungsstreben und Erziehungsfreudigkeit — war der Aufnahme des margaretisch-neuplatonischen Bandello günstig. Was keiner der beiden Novellisten allein gesagt hatte, das schien die posthume Überblendung ihrer Werke überraschend auszudrücken. Die Histoires Tragiques erzielten nicht nur als Motiv- und Stoffquelle der Bühne, sondern auch als Anregung für die Erzähler Englands und Spaniens ungeahnte Wirkungen 2 ). Nicht das Wort eines Genies, nicht eine ungewöhnliche dichterische Leistung, sondern die unkünstlerische Zutat, die Bastardisierung verlieh hier den Impuls. Welches Experiment ließe sich anstellen, um die Feuerfestigkeit novellistischer Theorien bei Belieferest zu erproben? Was ergäbe sich, wenn die Kritik, ohne Kenntnis der Zusammenhänge, lediglich das Verhältnis der Sommaires und Epiloge zu den Novellengestalten der Histoires Tragiques untersuchen könnte, um die literarästhetischen Ideen des Autors zu eruieren ? Welche Hypothesen über die „innere Form" solcher Novellistik könnten aufgestellt werden ? Und wie könnte doch der vorsichtige Analytiker, durch Trennung der in die Rahmengebilde gepreßten Theorien und Lehrsätze vom erzählerischen Ausdruck, die Novellenbegebenheiten und dichterischen Kerne wieder herausschälen und die zwei Seelen sichtbar machen, die in den Histoires Tragiques wie in eine Retorte gebannt sind ! Die Verteidiger der Novellengesetze haben die „Zerstörung", „Zerdehnung" oder „Zertrümmerung" der „strengen Novellenform" im 16. Jahrhundert festgestellt. Daß es sich um tiefer gehende Verwirrung handelt als um die Akzentverschiebung aus dem Novellistisch-Epischen ins Außerkünstlerisch-Pädagogische, um mehr als den scheinbaren Untergang einer „Gattung" im Novellenbuch einer 1
) Bandello bewies übrigens große Bewunderung für Margarete von Navarra, wie die ausführliche Erwähnung im Widmungsbrief zu Nov. II 24, die Widmung der Nov. IV 19 (20) an Margarita Regina di Navarra sowie die dort erwähnte Dedikation der Ecuba-Übersetzung bekräftigen. *) Die Auswirkungen der Übersetzungen der Histoires Tragiques bedürfen lt. Hook a. a. O. S. 9, 38, 46 noch genauerer Untersuchung.
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Frau und um die Rückkehr einer einzelnen Persönlichkeit zu den belehrenden Gepflogenheiten des Mittelalters nach dem ,,l'art pour l'art''-Erzählrausch der italienischen Renaissance — das scheint wenig beachtet worden zu sein. Die tiefere „Verwirrung" repräsentiert Belieferest, der den richtigen Ton und die richtige Stimmung traf, als er alte Hochform und Formlosigkeit, Theorie und Gestalt, Ausdruck und Abstraktion mischte, Bandellos einprägsame Figuren in das Zwielicht von Margaretes Sensibilität und Tugendpredigt tauchte, grausame Renaissancewirklichkeit durch sublime Wunschwelt einer Idealistin fragwürdig werden ließ — ohne erzählerische Begabung, ohne Originalität des Denkens, nur durch den rohen Zugriff des Kompilators, der Instinkt für die Bedürfnisse seiner Zeit besitzt. Die Unbeholfenheit und gestaltlose Langeweile seiner Interpolationen, die calvinistische Gravität seiner ,,Moral" taten es den führenden Köpfen Spaniens und Englands an. Sieben bis vierzehn Auflagen erreichten die verschiedenen Bände seiner Bandelloversion in Frankreich zwischen 1564 und 16161). Die Franzosen des frühen 17. Jh. und die Cervantes, Lope de Vega, Shakespeare kannten die Histoires Tragiques, aus denen es ihnen wie Stimmengewirr verschiedener Länder, Zeiten, Temperamente und Meinungen so beunruhigend entgegendrang, daß ihre schöpferischen Kräfte sich zu ordnendem Zugriff aufgerufen fühlten. Alle Keime des Neuen lagen in der Unform der Histoires Tragiques, mit ihnen beginnt die Metamorphose, aus der die Novellistik des 17. Jh. hervorgehen wird. *
Kehren wir noch einmal zu Margarete von Navarra und zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Novellentheorie und Novellendichtung zurück. Wie bei den Spaniern, so offenbart sich auch hier die Einwirkung Baldesar Castigliones und die Überwindung seiner Doktrin durch die gestaltende Novellenkunst. Das Libro del Cortegiano, das zusammen mit den Übersetzungen von Dante, Boccaccio, Ficino zur Hand- und Reisebibliothek der Dichterin gehörte, war einer der Hauptkanäle, durch die das neuplatonische Denken des Quattro- und Cinquecento den Weg nach Frankreich fand. Über den Nachweisen dieser ideengeschichtlich wichtigen Vermittlerrolle ist die Einwirkung des Novellentheoretikers Castiglione von der Forschung fast übersehen worden. Auf einige Analogien in der Auffassung des höfischen Lebens, der Konversation und sogar in der Einrahmung beider Werke hat Abel L e f r a n c beiläufig verwiesen2). Der französische Forscher zeigt einen konkreten Zusammenhang zwischen dem Ende der (von uns analysierten) XIX. Novelle und fiktiven Äußerungen Bembos im IV. Buch des Cortegiano. Wir glauben aber, daß darüber hinaus deutliche Übereinstimmungen zwischen Cortegiano und Heptaméron im Theoretischen bestehen: Beide Werke erfüllen einen klaren gesellschaftspädagogischen Zweck ; sie sollen die ideale Dame und den vollkommenen Höfling erziehen helfen ; bei Margarete ist das Vorhaben durch das novellistische Rahmenschema nach Boccaccio 1 2
) Bibliograph. Übersicht bei Hook a. a. O. S. 48ff. ) Abel Lefranc a. a. O. S. 203, 237, 239 mit Fn., 240 mit Fn.
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stärker verschleiert. Die von Castiglione im Libro I I (vgl. uns. Kap. I I 7) empfohlene Übertrumpfungstaktik des Fazetienerzählens und Novellierens ist bei Margarete durch die moralisch-exemplarische (mittelalterliche) Färbung der Dialogtaktik meist gedämpft; sie bleibt aber als Charakteristikum ungezügelter Temperamente (wie Hircan) noch in castiglionischer Härte spürbar. Die ciceronianische Zwei-Gattungen-These Castigliones liegt der jjasse-iemps-Diskussion im Rahmenprolog zugrunde. Dort wird die Existenz zweier Arten der Kurzerzählung vorausgesetzt : der Novellen Boccaccios und der „Nouvelle qui [. . . ] soit véritable histoire" (S. 247), welch letztere nichts anderes ist als Castigliones „cosa che sia loro intervenuta, o veduta o udita l'abbiano" (zit. Ausg. S. 202); sagt doch Parlamente ausdrücklich: „dira chacun quelque histoire qu'il aura veue ou bien oy dire à quelque homme digne de foy' ' (ebda.). Ähnlich den Spaniern, die in der cuento-Theorie ihre angebliche Abneigung gegen den literarischen Erfindungsreichtum der Italiener und die rhetorische Ausschmückung ihrer Novellen bekunden, gibt Margarete vor, am Hof seien zehn Personen, „dignes de racompter quelque chose, sauf ceulx qui avoient estudié et estoient gens de lettres" (S. 247), zum Novellieren bestimmt worden; denn der Dauphin habe nicht gewollt, „que leur art y fut meslé, et aussi de paour que la beaulté de la rhétorique feit tort en quelque partye à la vérité de l'histoire" (ebda.). Dies spielt auf die von Castiglione unterschiedene „festiva narrazione" an, für die „non é bisogno arte alcuna, perché la natura medesima crea e forma gli omini atti a narrare piacevolmente" (a. a. O. S. 202). Während Castiglione die Gattungen nach der Quantität unterscheidet (er spricht vom „ragionar lungo e continuato" als Kennzeichen der einen Art, während „L'altra sorte di facezie è brevissima", ebda.), verschiebt die Französin, wie es auch die Spanier taten, unter Benutzung von Castigliones Formeln die Grenze in die Qualität; für sie steht die „vérité de l'histoire" auf dem Spiel, der durch „la beaulté de la rhétorique" Schaden erwachsen könnte. Man sieht, wieviel näher die Neuplatonikerin, ohne es zu wissen, der spanischen Exempel-Tradition steht als der italienischen „facetudo". Aber dies alles bleibt, wie wir wissen, Theorie, da Margaretes dichterische Potenz weder an den selbstgesetzten Grenzen der „véritable histoire" noch vor der gefährlichen „beaulté de la rhétorique" haltmacht. Wer anders als sie selbst war der erste Repräsentant jener Leute, die sie in ihrem Rahmenprolog vom fiktiven höfischen Novellierspiel ausschloß: „ceulx qui avoient estudié et estoient gens de lettres" ?
5. L a F o n t a i n e s i r o n i s c h e s S p i e l m i t d e r A n t i n o m i e In den lebhaften Erörterungen der modernen Gattungstheoretiker über die strenge Form und die Zertrümmerung der „Novelle" pflegt einer der repräsentativsten Dichter übergangen zu werden, obgleich er vierundsechzig Novellen von höchst origineller Art hinterlassen h a t : Jean de La Fontaine. Ob die conspiration du silence dem Umstand zuzuschreiben ist, daß die Novellen des Franzosen im Jahrhundert nach der angeblichen „Zertrümmerung" der im Gesellschaftsrahmen gebotenen Pointennovellistik geschrieben wurden, ob die ge203
bundene Sprache, die ja schon in den mittellateinischen Versnovellen, in den provenzalischen novas des 12. bis 14. Jahrhunderts und bei den italienischen Erzählern des Quattro- und Cinquecento begegnet, als novellistischer Ausdruck überraschte und befremdete, oder ob man sich an der Vorurteilslosigkeit stieß, mit der La Fontaine das Abenteuerlich-Erotische zu verherrlichen und „die ethische Vertiefung" zu vernachlässigen schien, dies alles kann nicht Gegenstand unserer Untersuchung sein. Das F a k t u m der Ignorierung La Fontaines 1 ) bestätigt aber, daß Definitionsversuche von einer einmaligen historischen „ F o r m " ausgehen, die sie als Konstante ausgeben, und daß sie beiseitelassen, was sich dieser Form nicht beugt; es beweist ferner, daß die Verkennung des fiktiven Charakters von Boccaccios Rahmenschema, das so lange und auf so verschiedene Art nachgeahmt wurde, diese Forschungsrichtung der Gelegenheit beraubte, den literarhistorisch entscheidenden Augenblick zu bemerken, in dem die Gesellschaftsbezogenheit der Novellen aufhörte, Fiktion zu sein, wo eine Elite wirklich Novellen zum Diskussionsobjekt machte und ihnen damit selbst zum „ R a h m e n " wurde. Das 17. Jahrhundert und besonders das Werk La Fontaines markieren diesen Augenblick der Wiedergeburt der Novellen nach der Metamorphose. Der Rahmen als literarische Schöpfung ist abgestreift, ästhetisch bewertbar bleibt nur noch die einzelne Novelle als dichterischer Ausdruck. Damit hat sich alles geändert: die Erzählhaltung des Autors, das Verhältnis der Leser zum Werk, die Distanz zwischen Erzähler und Publikum. Doch für die Ästhetik werden nach wie vor Novellen im Rahmen oder rahmenlose Novellen der Betrachtung ebenso würdige Einzelphänomene bleiben wie der fiktive Rahmen, individuelle Schöpfungen einzelner Dichterpersönlichkeiten, nicht Manifestationen eines unsichtbar waltenden „Gattungsgesetzes". La Fontaines Contes et Nouvelles2) bilden kein geschlossenes Ganzes. Sie sind nicht wie die Novellen des Decameron oder des Heptaméron durch Erzählung oder Kolloquium verklammert oder wie die Novelas ejemplares durch Antithetik zur Einheit verbunden. Auch die einzelnen Stücke sind weder wie Bandellos Novelle durch fiktive Widmungsbriefe eingerahmt noch wie Lope de Vegas Novellen einer einzelnen Person erzählt. Die Contes et Nouvelles entstanden in loser Folge zwischen 1663 und 1694. I m Gesamtwerk des Dichters sind sie in fünf nach Erscheinungsdaten geordneten Gruppen überliefert: Première Partie (11 Novellen) 1665, Deuxième Partie (16 Novellen) 1666—67, Troisième Partie (13 Novellen) 1671, Quatrième Partie ( — Nouveaux Contes, 16 Novellen) 1674, Cinquième Partie (8 Novellen) 1682—1696. Der Première und der Deuxième Partie ist jeweils eine Préface, der Préface zur Première Partie ist außerdem ein Avertissement des Autors vorangestellt, die für die Kenntnis von La Fontaines literarästhetischen Ideen, seines Eintretens für die Freiheit der Form, des Kreises, !) Hierzu R J b II S. 81 ff. ) L a F o n t a i n e - Z i t a t e nach der llbändigen Ausgabe der Oeuvres de J. de La F., Nouv. Édit. revue et augm. p. M. Henri R e g n i e r . Les Grands Écrivains de la France. Paris 1883ff.— Römische Ziffern bezeichnen die „Partie", arabische die jeweilige Novelle. Die Vokabeln conte und nouvelle gebrauchte der Dichter synonym, wie ein Blick auf Untertitel und Quellenangaben belehrt. 2
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dem die Novellen dargebracht werden, unentbehrlich sind. Mit dem Avertissement und den beiden Préfaces zu den Novellen beginnt die Reihe der theoretischen Äußerungen, aus denen La Fontaines Poetik abzulesen ist 1 ). Das Avertissement unterstreicht den experimentellen Charakter der im ersten Teil enthaltenen Contes et Nouvelles, bittet den Leser zu entscheiden, welche der beiden, gleichsam probeweise angewandten Formen (zeitgenössischer Stil in zur Prosa tendierenden „unregelmäßigen Versen", archaisierender Stil in regelmäßigen) vorzuziehen sei, kündigt weitere Versnovellen an und betont, unter Berufung auf Terenz als Vorbild, daß kein exklusives Unternehmen in engem Kreis, sondern etwas recht Volkstümliches angestrebt werde. Das kurze Avertissement wird, um im Verlauf unserer Interpretation bequem mit jedem Teilergebnis konfrontiert werden zu können, im vollen Wortlaut hier eingefügt: „Avertissement. Les nouvelles en vers dont ce livre fait part au public, et dont l'une est tirée de l'Arioste, l'autre de Boccace, quoique d'un style bien différent, sont toutes fois d'une même main. L'auteur a voulu éprouver lequel charactère est le plus propre pour rimer des contes. Il a cru que les vers irréguliers ayant un air qui tient beaucoup de la prose, cette manière pourroit sembler la plus naturelle, et par conséquent la meilleure. D'autre part aussi le vieux langage, pour les choses de cette nature, a des grâces que celui de notre siècle n'a pas. Les Cent Nouvelles nouvelles, les vieilles traductions de Boccace et des Amadis, Rabelais, nos anciens poètes, nous en fournissent des preuves infaillibles. L'auteur a donc tenté ces deux voies sans être encore certain laquelle est la bonne. C'est au lecteur de le déterminer là-dessus ; car il ne prétend pas en demeurer là, et il a déjà jeté les yeux sur d'autres nouvelles pour les rimer. Mais auparavant il faut qu'il soit assuré du succès de celles-ci, et du goût de la plupart des personnes qui les liront. En cela, comme en d'autres choses, Térence lui doit servir de modèle. Ce poète n'écrivoit pas pour se satisfaire seulement, ou pour satisfaire un petit nombre de gens choisis; il avoit pour but: Populo ut placèrent quas fecisset fabulas." (Bd. IV S. 3—6.) Auf eine Analyse der beiden Préfaces kann verzichtet werden, weil sie im wesentlichen nur den aus der Interpretation anderer Novellenprologe bereits verständlich gewordenen Kampf des schöpferischen Erzählers gegen den erdrückenden Anspruch der „klassischen Regeln" und der moralistischen Doktrin noch einmal darzustellen hätte. Es sei nur vermerkt, daß La Fontaine in beiden Préfaces bemüht ist, seine Contes et Nouvelles einerseits als Erzeugnisse einer leichten Muse, als „bagatelles" (S. 7), als „jeu" (S. 14), als „aventures" (S. 146), als „contes faits à plaisir" (S. 150), als „mensonge" (S. 150), aber auch als etwas völlig Neues („une carrière toute nouvelle", S. 148) darzustellen und dem Zwang der Regeln zu entziehen, und daß er Rücksicht auf die Leser, Erwartung einer Reaktion des Leserkreises, ja bereits vor Veröffentlichung der ersten Novellen aufgenommenen Kontakt mit interessierten Freunden, also die Präsenz von x
) Die Reihe! der literarästhetischen Äußerungen setzt sich folgendermaßen fort: Préface zu den Fabeln (1668); Verse 1—8, 35, 284—96, 332—57, 379—97, 422—24, 450—55, 515—28 der Komödie Clymène (1671); Lettre à Bacine (1686); Epître à Huet (1687); Lettre à Saint Évremond (1687).
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„Unterrednern" beim Erzählwerk, Gesellschafts- und Zeitbezogenheit des Dargebotenen, glaubhaft machen will durch Äußerungen wie: „quelques personnes m'ont conseillé de donner dès à présent ce qui me reste de ces bagatelles, afin de ne pas laisser refroidir la curiosité de les voir" (S. 7), ,,je n'ai ajouté de nouveaux contes que parce qu'il m'a semblé qu'on étoit en train d'y prendre plaisir" (S. 10), „J'abandonne le reste aux censeurs" (S. 15), „attacher le lecteur" (S. 146), „vous soulagez aussi le lecteur, à qui l'on ne sauroit manquer d'apprêter des plaisirs sans peine" (S. 151), „il faut laisser quelque chose à faire à l'habileté et à l'indulgence des lecteurs" (S. 152). Als besonderen Ehrentitel rechnet es sich der Dichter schließlich in der zweiten Préface an, nicht so sehr der alten Meister Größe als ihre ehrwürdige Nonchalance und Fahrlässigkeit zum Vorbild genommen zu haben: „quorum in hac re imitari neglegentiam exoptat potius quam istorum diligentiam" (S. 148). Die Vereinzelung der rahmenlosen Contes et Nouvelles zwingt den Interpreten, von der Novellen-Individualität ausgehend die in Avertissement und beiden Préfaces beteuerte Popularität des Ganzen zu prüfen. Um es gleich vorwegzunehmen : die von vielen Kritikern namhaft gemachten Züge, auf Grund deren sich das historische Urteil über La Fontaines Novellistik vorwiegend gebildet hat (die Liebe als angebliches Sujet sämtlicher Contes et Nouvelles; die vorgebliche Schlüpfrigkeit und Unmoral der Darstellung; Nachdichtung oder Paraphrasierung anstelle eigener Erfindung; Heiterkeit, raillerie, esprit gaulois), sind keine wissenschaftlichen Maßstäben standhaltenden, absolut sicheren Merkmale. Es gibt in der Sammlung Erzählungen, die nicht von Liebe handeln, es gibt aber auch Liebesnovellen ohne Schlüpfrigkeit, Nachdichtung und Paraphrasierung kennzeichnen nicht ausschließlich die Novellistik La Fontaines, sondern sie waren das Privileg aller Novellisten seit Boccaccios und seiner Vorläufer Zeiten, da alle Novellenstoffe von Werk zu Werk wanderten und kaum einmal ein bedeutendes Motiv neu erfunden zu werden brauchte; übrigens gibt es Novellen La Fontaines, die nicht nach Motiven Boccaccios, der Cent Nouvelles nouvelles, des Heptaméron oder anderer literarischer Vorlagen gearbeitet sind. Auch Lachreiz, Lustigkeit u. dergl. sind keine gemeinsamen Merkmale ; La Fontaines eigene diesbezügliche Beteuerungen weisen mehr auf ästhetische Freude als auf Gelächter. Eine Kennzeichnung auf Grund solcher Details ist also prinzipiell abzulehnen. Der gemeinsame Zug aller Contes et Nouvelles ist die gebundene Sprache, die dem Dichter Gelegenheit gab, seine Novellen im Avertissement in zwei Gruppen einzuteilen. Metrum, Reimschemata und Rhythmus tragen einen der Hauptakzente dieser Novellistik. Ein Blick auf das äußere Gesicht des Werkes genügt, um zu erkennen, daß der Schwerpunkt sich nicht nur aus dem StofiUchen, sondern auch aus dem rein Episch-Erzählenden verschoben haben muß, um der Novellistik solche Gestalt zu verleihen. Gebundene Sprache und vor allem Rhythmus drücken Irrationales aus. La Fontaines Einteilung der Verserzählungen in zwei Arten kann, bei seiner ausgedehnten Kenntnis der Novellengeschichte, kein Zufall sein. Die durch Castigliones höfische Fazetienlehre (Cortegiano, Libro II) wieder zur Wirkung gebrachte Zwei-Gattungen-These Ciceros, die bei den Spa206
niern in der Unterscheidung zwischen historia und cuento, bei Margarete von Navarra und wahrscheinlich auch bei Bandello in der Bevorzugung der „wahren Begebenheit" vor dem literarisch ausgeschmückten Phantasieerzeugnis wiederkehrt, wird hier in der experimentellen Kontrastierung zweier Versschemata verflüchtigt. Die castiglionische Behauptung der Erzählbegabung scheint in die These der „vers irréguliers" eingegangen zu sein, die vom Dichter als die prosaverwandte Novellenform und als ,,la plus naturelle, et par conséquant la meilleure" hingestellt werden. Dagegen dürfte die italienische Formel des Erzählens „con bona grazia" in der (auch an die spanische cuento-Theorie erinnernden) These vom „vieux langage" verziffert sein, denn dieses „a des grâces que celui de notre siècle n'a pas". Offensichtlich hat Castigliones Fazetienkatalog seine Spuren in Formulierungen wie „contes faits à plaisir", „jeu", „mensonge" hinterlassen. „Diversité" ist das zweite Merkmal der Sammlung. „Diversité, c'est ma devise" — heißt es in Contes et Nouvelles IV 11 Vers 4, und das ist kein leerer Prologtopos. Der Charakter der Contes et Nouvelles ist tatsächlich außerordentlich schwankend. Einmal nähern sie sich den Fabeln, ein andermal der Komödie; hier bieten sie sich in epigrammatischer Kürze, dort in epischer Breite; diese berührt die Sphäre der Elegie, jene den Bereich der Satire; das graziöse „Tableau" wechselt mit dem derben Schwank; der heitere erotische Halbtraum mit der ernüchternden, ja anklagenden Schilderung der Wirklichkeit. La Servante justifiée (II 6) gipfelt in einem komödienhaften Dialog zwischen La Voisine und La Femme. Die Komödie Clymène erschien dagegen ursprünglich in der Sammlung der Contes et Nouvelles en vers von 1671 im Anschluß an die Novelle le Petit Chien qui secoue de Vargent et des pierreries und war in einem kleinen Avertissement des Autors als ein, trotz der Komödienform, zu den „Contes" gehöriges Gebilde ausgewiesen: „II semblera d'abord au lecteur que la comédie que j'ajoute ici n'est pas en son lieu; mais, s'il la veut lire jusqu'à la fin, il y trouvera un récit, non tout à fait tel que ceux de mes Contes, et aussi qui ne s'en éloigne pas tout à fait. Il n'y a aucune distribution de scènes, la chose n'étant pas faite pour être représentée" 1 ). Wenn es einer Definition der La Fontaineschen Novellen bedürfte, so müßte sie im Hinweis auf die Unmöglichkeit ihrer formalen Abgrenzung und Bestimmung bestehen. Die Unabgegrenztheit ihrer Gestalt ist denn auch von Kritikern verschiedener Generationen und Nationalität erkannt worden. Trotzdem wird sich kein Einsichtiger weigern, die Contes et Nouvelles zur Novellistik und zum Schönsten der Novellistik in der Weltliteratur zu rechnen. Die formale Undefinierbarkeit, die Gattungslosigkeit dieser Novellen ist ein so auffallender, alle Gattungsthesen erschütternder Zug, daß hier die Zeugen ihres Reizes zu Worte kommen müssen. In dem Kapitel „L'Art de Conter" seines Buches über L'Art de La Fontaine dans ses Fables (Bibl. d'Hist. Littéraire et de Critique, Paris 1929) schreibt Ferdinand G o h i n über das Kunstprinzip der „diversité" in den Fabeln und Novellen: „La F. n'observe guère cette unité d'impression et de style qui depuis !) A. a. Ο. VII S. 145.
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l'antiquité est recommandée comme la principale règle de toute composition littéraire. Dans L a F . rien donc de systématique ni de strictement méthodique. Qu'importe ailleurs ici une définition ou une classification?" (S. 92—93). — Die weitgehendste Verwischung der Gattungen u n d großzügigste Entgrenzung konstatiert Karl V o s s l e r in La F. und sein Fabelwerk (Heidelberg 1919, S. 38): „Seine Meisterwerke sind humoristische, plauderhafte Erzählungen, teils mit witzigem, teils mit nachdenklichem und sentimentalem Einschlag; es sind seine Versnovellen (Contes), sein kleiner R o m a n Amor und Psyche und in höchster Vollendung seine Fabeln : lauter Kunstformen, die m a n im reinen Sinn des Wortes weder der Lyrik, noch dem Epos, noch dem Drama zurechnen darf, die aber doch mit Lyrik, Epos und Drama gewürzt sind." — Das faszinierende Ineinanderfließen von „comédie" und „ c o n t e " zeigt am Beispiel der Clymène Théodor d e B a n v i l l e im Petit Traité de Versification française (1872) auf: „Apollon s'ennuie sur le Parnasse, [ . . . ] et pour se distraire il veut entendre une histoire d'amour racontée en beaux vers; mais par le plus adorable et le plus excessif raffinement d'esprit, il veut que chacune des neuf Muses lui dise à son tour ce même conte. [ . . . ] Recommencer neuf fois le même récit ! Est-il possible d'imaginer un problème littéraire plus audacieux, plus effroyable à résoudre Ì E t quel a u t r e que L a F . eût osé le rêver ? [ . . . ] ce chef-d'oeuvre accompli avec un bonheur et une science dignes de l'entreprise, ce rare diamant aux facettes étincelantes, c'est Clymène, une comédie reléguée, inconnue, oubliée dans les oeuvres du fabuliste. [ . . . ] Au temps où L a F . créait ces enchantements [ . . . ] , les mots de fantaisie et de poète fantaisiste n'étaient pas inventés: Diversité, c'est ma devise, se bornait à dire le poète magicien" (S. 321—23). 1 ) Die Berührung der Sphären von Fabel u n d Conte unterstreicht 1829 S a i n t e B e u v e : „mais la fable, plus libre en son cours, tourne et dérive, t a n t ô t à l'élégie et à l'idylle, t a n t ô t à l'épître et au conte: c'est une anecdote, une conversation, une lecture, élevée à la poésie, un mélange d'aveux charmants, de douce philosophie et de plainte rêveuse" 2 ). Mit der Mischung der Gattungen verbindet sich eine Mischung des Tones und der Stimmungen, die den eigentlichen Zauber der diversité in L a Fontaines Novellen ausmacht. Da gibt es Kurzerzählungen, die den Charakter von Fabeln zur Schau tragen und mit frivoler Pointe moralisieren, wie I 9: Soeur Jeanne, a y a n t fait u n poupon, Jeûnoit, vivoit en sainte fille, Toujours étoit en oraison; E t toujours ses soeurs à la grille. Un jour donc l'abesse leur dit : ,Vivez comme soeur J e a n n e v i t ; Fuyez le monde et sa séquelle.' !) Ebda. S. 144—45 aus „Notice" des Hrsg. a ) Zit. nach S a i n t e - B e u v e , Extraits des Causeries du Lundi choisis et mis en ordre p. A. P i c h ó n , Paris »1894, S. 101.
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Toutes reprirent à l'instant : ,Nous serons aussi sages qu'elle Quand nous en aurons fait autant.' Da gibt es schwankhafte oder erotische oder boshafte Contes, die mit einer „Moral" beginnen oder endigen, die wie die Parodie einer Fabel- oder Exempelmoral wirkt. So heißt es am Schluß von II 1 : Qu'on dit bien vrai que se venger est doux ! Très sage fut d'en user de la sorte : Puisqu'il vouloit son honneur réparer, Il ne pouvoit mieux que par cette porte D'un tel affront, à mon sens, se tirer. (Verse 190—94) Sortir à moins, c'étoit pour lui merveilles : Je dis à moins ; car mieux vaut, tout prisé, Cornes gagner que perdre ses oreilles. (Verse 199—201) Nach Exempelart beginnt II 8 : Plus d'une fois je me suis étonné Que ce qui fait la paix du mariage En est le point le moins considéré Lorsque l'on met une fille en ménage. Les père et mère ont pour objet le bien ; Tout le surplus, il le comptent pour rien ; Jeunes tendrons à vieillards apparient. Et cependants je vois qu'ils se soucient D'avoir chevaux à leur char attelés De même taille, et mêmes chiens couplés ; Ainsi des boeufs, qui de force pareille Sont toujours pris: car ce seroit merveille Si sans cela la charrue alloit bien. Comment pourroit celle d'un mariage Ne mal aller, étant un attelage Qui bien souvent ne se rapporte en rien ? J'en vas conter un exemple notable. Nach dieser Einleitung könnte man eine Art novela ejemplar vom Typ El celoso extremeño erwarten. Aber es folgt die höchst lockere und leichtfertige Geschichte Le Calandrier des Vieillards („Nouvelle tirée de Boccace"). Eine ihrer Reize besteht eben in der Diskrepanz zwischen vorausgeschickter „Moral" und „Exempel", die in den Schlußversen (253—56) noch einmal unterstrichen wird: Belle leçon pour gens à cheveux gris ! Sinon qu'ils soient d'humeur accomodante : Car, en ce cas, Messieurs les favoris Font leur ouvrage, et la dame est contente. 14
Novellentheorie
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Fast könnte man hier von einem Rahmen sprechen, aber es ist nur die Parodie eines Beispielrahmens, und vor allem tritt dieser Rahmen nicht regelmäßig, nicht als konstantes Merkmal in Erscheinung. Als Parodie hat ein derartiger Rahmen auch nicht mehr die Funktion der Distanzierung oder Distanzverkürzung, sondern er ist eine literarische Anspielung, die das Vergnügen an der Novelle beim Kenner der älteren Novelüstik steigert, wie die archaisierende Sprache des Dichters den Genuß, seine Gestalten reden zu hören, für den Kenner des älteren Französisch erhöht. In dem Bewußtsein, daß diese Sprachbestandteile und diese novellistischen Zutaten eigentlich der Vergangenheit angehören, liegt für den Leser der Reiz, sie mit modernstem Ausdruck vermischt in seine unmittelbare Nähe projiziert zu sehen. Es entsteht mutatis mutandis eine Gefühlsmischung wie im Don Quijote, wo die Begegnung der längst versunkenen Ritterwelt mit der nüchternen Gegenwart beständigen Lachreiz erweckt. Exemplarahmen und Fabelmoral sind, wohlgemerkt, keine Konstanten der lafontaineschen Novelüstik, sondern nur einer der gelegentlichen Züge, die ihren Zauber erhöhen. Mag die Novelle I I 14 exempelartig schließen, mag I I 16 einen gravitätisch belehrenden Auftakt haben, eine Regel oder ein Gesetz läßt sich daraus nicht konstruieren, und zahlreiche andere Contes haben eine völlig abweichende Struktur. Wesentlich für alle ist aber die Mischung der Stimmungen und Töne. Nichts könnte erheiternder, komischer, faszinierender wirken als eine in „Moral" und „Belehrung" gekleidete Frivolität. Der erotische Scherz mit dem predigthaften Schluß, der mit erhobenem Zeigefinger eingeleitete Schwank, das mittelalterlich Altväterische als Ornament des Unzüchtig-Koketten — dies alles sind raffinierte Steigerungen einer aus Dialogen, Schilderungen, Aphorismen, Anzüglichkeiten und übermütig wechselndem Rhythmus gemischten Kunst, die sich mit einer als Sachlichkeit maskierten affektierten Bescheidenheit ihrer Abhängigkeit von den Quellen (Boccace, Cent Nouvelles nouvelles, Heptaméron, Athénée, Arioste usw.) rühmt. Aus den wenigen Proben, die als Nachweise einer charakteristischen Formenmischung für Dutzende anderer Grenzüberschreitungen, Überblendungen und Kontaminationen 1 ) stehen, tritt schon das dritte entscheidende Kennzeichen von La Fontaines Novellen zu Tage: die beständige Präsenz des Autors, sein Dazwischenreden, der Ichton der Erzählung. Man wird einwenden, daß eine ganze Anzahl seiner Novellen dieses Zuges entbehren, daß man in vielen vergeblich nach einem auf den Dichter bezüglichen Personal- oder Possessivpronomen der ersten Person Singularis suchen wird, daß einige sich sogar als völlig neutrale Aussage aus unbekanntem Munde darbieten. Der Einwand ist berechtigt, und es widerspräche lafontainescher diversité, wenn es sich anders verhielte. Aber auch ohne die äußeren Kennzeichen der Icherzählung ist jede dieser Novellen mehr als eine neutrale Aussage. Es dürfte schwer fallen, irgendeine von ihnen als so objektiv zu interpretieren, daß die Person des Erzählers überhaupt weggedacht werden könnte. Auguste B a i l l y hat in seinem 1937 in Paris erschienenen Essay La F., VHomme et son Oeuvre das Dazwischenreden des Dichters, ausgehend von Zur Kontamination bei La F. : Ferd. G o h i n , L'Art de La F. dans ses Fahles, Paria 1929 (Bibl. d'Hist. Litt, et de Crit.) S. 40ff.
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der Novelle I 1 (Joconde), als spezifisch lafontaineschen Zug interpretiert (S. 175) : „C'est Joconde à travers La F . . C'est Joconde, plus La F . . E t si j'y insiste au delà peut-être de ce qu'en lui-même exige ce conte, c'est que tout La F. s'y dévoile, et pour toujours. Quoi qu'il écrive désormais, il ajoutera, aux mouvements des êtres, les mouvements de son être." (S. 17S): „C'était la révélation d'une expression nouvelle, d'une poésie personelle qui, sans que l'on y prît garde, s'opposait à tout ce qu'on nommait alors les règles de l'art". Daraus könnte wiederum geschlossen werden, daß, wie in den Lais der Marie de France, die Person des Autors als Inkarnation der distanzschaffenden Erinnerung sichtbar gemacht sei, zumal das „Ich" La Fontaines sich häufig auf Boccaccio oder auf die histoire schlechthin beruft. Aber Marie läßt die Erinnerung als objektive, universale Wahrheit und Vermittlerin der Erkenntnis, einer Erkenntnis aus ewiger Wahrheit sprechen. La Fontaine hingegen „beurteilt" seine Vorlagen, „belehrt" an Hand seiner Quellen, ordnet sich seinen Gewährsleuten über, tritt unmittelbar und subjektiv als Zeitgenosse und Verbündeter des Lesers hervor. In Lope de Vegas Novellen war Ähnliches zu beobachten, aber dort blieb es durch die Rahmenelegie bedingte, fiktive Erzählhaltung. Berichtet Lope doch für eine einzelne Zuhörerin oder Leserin, deren Individualität und Reaktionen aus den Bemerkungen des Erzählers fühlbar und damit zu einem epischen Faktor werden. Lope spricht noch in das Buch hinein; der Leser ist der unbeteiligte Dritte, der von außen her die Zwiesprache zwischen Dichter und Dame belauscht. La Fontaine spricht aber aus dem Buch heraus. Näher als Lope de Vega steht unserem Dichter offenbar Des Periers. Auch Des Periers scheint aus dem Buch herauszusprechen. Wendet er sich nicht in seinem Eingangssonett und im preambule ausdrücklich an die Zeitgenossen, an das Frankreich, das vergeblich auf einen dauerhaften Frieden hofft % Hat nicht er schon die Haltung des vor einem gedachten, geschlossenen, fiktiven Hörerkreis novellierenden Erzählers abgelegt und die Distanz zwischen Dichter und Leser verkürzt ? Zweifellos ist Des Periers, was die Verwandlung der Novellen, was ihre Loslösung aus dem Rahmen anbelangt, ein Vorläufer La Fontaines. Er fingiert keine Rahmenhandlung, keine zum Zweck des Erzählens versammelte Gesellschaft mehr. Aber er klammert sein Vorhaben doch noch durch einen aus Boccaccios Stimmung und Haltung konzipierten Rahmen ein, setzt es ab vom traurigen Lauf der Welt, schafft Distanz zwischen der Wirklichkeit und der Stunde der „récréation", entledigt sich der Gravität des Philosophen und Platonikers, setzt die heitere Maske des die Zeit und sich selbst durch Gelächter betrügenden novellatore auf. Seine Vorbereitungen zum Novellenerzählen sind pantomimischer, schauspielerischer Natur, und wer ihm zuhören will, wird aus der geschichtlichen Wirklichkeit eine Weile beiseitetreten, sich in einen Hörerkreis einfügen müssen. So bleibt auch bei Des Periers das Novellieren notwendigerweise mit der Vorstellung einer Absonderung von Erzähler und Lesern verbunden, obgleich der Leserkreis nicht durch eine Fiktion begrenzt ist. Des Periers' Gesprächspartner ist nicht jedermann, sondern, wie er im Eingangssonett ausdrücklich sagt, nur derjenige der „hommes pensifz", der sich durch einen Willensakt vorübergehend aller Sorgen entledigt. Durch diese Forderung entsteht zwar nicht das Bild, wohl aber 14*
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die Vorstellung von einem begrenzten Teilnehmerkreis und einer verabredeten Haltung dieses Kreises sowohl wie des Erzählers. Stellt La Fontaine ähnliche Bedingungen ? Bedarf er einer Maske, um vor einer Gemeinde mit bestimmter Haltung, um vor Menschen, die eine Stunde des Vergessens suchen, zu novellieren ? Der Kunstgriff wiederholter Unterbrechung des Erzählvorgangs durch den Autor tritt besonders deutlich in umfangreicheren Novellen wie I 1 (Joconde) und II 14 (La Fiancée du Roi de Garbe) in Erscheinung. In Joconde — Nouvelle tirée de VArioste unterbricht der Dichter zum ersten Mal in den Versen 69—74 : L'histoire ne dit point ni de quelle manière Joconde put partir, ni ce qu'il répondit, Ni ce qu'il fit, ni ce qu'il dit ; Je m'en tais donc aussi, de crainte de pis faire. Disons que la douleur l'empêcha de parler : C'est un fort bon moyen de se tirer d'affaire. Der Zusammenhang scheint also dem Autor fragwürdig zu sein, er macht als Mann vom Fach eine ironische, in Selbstironie auslaufende Glosse, die das Unglaubwürdige unterstreicht. Den zweiten Zwischenruf hält er für erforderlich, um den Anschein einer misogynen Tendenz der Geschichte zu steigern, Verse 86—87 : Moi, qui sais ce que c'est que l'esprit d'une femme, Je m'en serois à bon droit défié. Im gleichen Sinne unterstreicht er die alle Erwartungen übertreffenden Zusammenhänge, Verse 171—77 : Qui fut bien étonné ? ce fut notre Romain. Je donnerois jusqu'à demain Pour deviner qui tenoit ce langage, Et quel étoit le personnage Qui gardoit tant son quant à moi. Ce bel Adon étoit le nain du roi, Et son amante étoit la reine. Novellistischer Topos ist die Regieanmerkung, Vers 198: „Retournons aux amants que nous avons laissez". Gelegentlich macht sich der Autor bemerkbar, auch wenn er nicht im Ichton unterbricht. Der aphoristische Charakter folgender Interpolation läßt die Stimme des allwissenden, aus weltmännischer Erfahrung sprechenden Dichters erkennen, der souverän über seinen Gestalten und ihren Erlebnissen thront, der dem Ideal Lope de Vegas ( < Castiglione) von den grandes cortesanos zu entsprechen scheint, die aus ihren desengaños nützliche Lebensklugheit in die Novellen einfließen lassen sollten (Verse 201—21): Il ne faut à la cour ni trop voir, ni trop dire ; Et peu se sont vantés du don qu'on leur a fait Pour une semblable nouvelle. 212
Mais quoi ! Joconde aimoit avecque trop de zèle Un prince libéral qui le favorisoit, Pour ne pas l'avertir du tort qu'on lui faisoit. Or, comme avec les rois il faut plus de mystère Qu'avecque d'autres gens sans doute il n'en faudroit, Et que de but en blanc leur parler d'une affaire Dont le discours leur doit déplaire, Ce seroit être maladroit, Pour adoucir la chose, il fallut que Joconde, Depuis l'origine du monde, Fît un dénombrement des rois et des Césars Qui, sujets comme nous à ces communs hasards, Malgré les soins dont leur grandeur se pique, Avoient vu leur femme tomber En telle ou semblable pratique, Et l'avoient vu sans succomber A la doleur, sans se mettre en colère, Et sans en faire pire chère. Eine andere Zwischenbemerkung scheint lediglich als Zusammenfassung vieler Détails und als Kürzung dienen zu sollen (Verse 274—301): Je ne viendrais jamais à bout De nombrer les faveurs que l'amour leur envoie : Nouveaux objets, nouvelle proie : Heureuses les beautés qui s'offrent à leurs yeux ! Et plus heureuse encore celle qui peut leur plaire ! Il n'est, en la plupart des lieux, Femme d'échevin, ni de maire, De podestat, de gouverneur, Qui ne tienne à fort grand honneur D'avoir en leur registre place. Les coeurs que l'on croyoit de glace Se fondent tous à leur abord. J'entends déjà maint esprit fort M'objecter que la vraisemblance N'est pas en ceci tout à fait. 'Car, dira-t-on, quelque parfait Que puisse être un galand dedans cette science, Encor faut-il du temps pour mettre un coeur à bien.' S'il en faut, je n'en sais rien; Ce n'est pas mon métier de cajoler personne. Je le rends comme on me le donne; Et l'Arioste ne ment pas. Si l'on vouloit à chaque pas Arrêter un conteur d'histoire, 213
Il n'auroit jamais fait : suffit qu'en pareil cas J e promets à ces gens quelque jour de les croirs. Quand nos aventuriers eurent goûté de tout (De tout un peu, c'est comme il faut l'entendre) : Bei näherer Betrachtung erweist sich die Interpolation aber als theoretische Improvisation des Dichters, der sich zurückzulehnen und mit imaginären Zensoren ein Fachgespräch zu führen scheint. Er nimmt, entgegen den herrschenden Regeln der doctrine classique, das Anrecht auf Unwahrscheinlichkeit für sich in Anspruch, pocht aber auf die Zuverlässigkeit seines Gewährsmannes Ariost. Mit spielerischer Leichtigkeit scheint sich die Gelegenheit zu diesem Intermezzo hier zu ergeben, wo die Erzählung gerade einen ihrer Höhepunkte erreicht hat. Ein (ariostischer) Kunstgriff, der in Lope de Vegas Prosa noch manieriert und häufig störend wirkt, hat hier die Eleganz der Meisterschaft erreicht. Die Theorie, mitten in die Erzählung geflochten, wird zum dichterischen Element und zur kurzweiligen Unterbrechung. Man hat den Eindruck: der Autor ist absoluter Alleinherrscher im Reich seiner Novellen, er ist nicht nur allwissend, was das Schicksal seiner Gestalten angeht, sondern er darf auch alles sagen. Wie er die intimsten Dinge beschreibt, ohne unelegant und grob zu werden, darf er auch die kühnste Zwischenbemerkung machen, plötzlich von etwas ganz anderem reden, ohne die Illusion einen Augenblick zu zerstören. Gern gibt er sich in der Rolle des mittelalterlich belehrenden, scholastisch auf Autoritäten sich berufenden Traktatschreibers, um die Pikanterie seines Berichtes noch zu steigern (Verse 370—81): Je lui pardonne, et c'est en vain Que de ce point on s'embarasse ; Car il n'est si sotte, après tout, Qui ne puisse venir à bout De tromper à ce jeu le plus sage du monde : Salomon, qui grand clerc étoit, Le reconnoît en quelque endroit, Dont il ne souvint pas au bon homme Joconde. Il se tint content pour le coup, Crut qu'Astolphe y perdoit beaucoup. Tout alla bien, et maître Pucelage Joua des mieux son personnage. Wie die Höhepunkte so wird auch das Ende der novellistischen Begebenheit durch eine Glosse des Autors markiert. Verse 481—88: Ce fut par là que nos aventuriers Mirent fin à leurs aventures, Se voyant chargés de lauriers Qui les rendront fameux chez les races futures ; Lauriers d'autant plus beaux qu'il ne leur en coûta 214
Qu'un peu d'adresse et quelques feintes larmes, Et que, loin des dangers et du bruit des alarmes, L'un et l'autre les remporta. Schließlich gibt die Stimme des Dichters einen durch seinen Märchenton doppelt sarkastischen Abschluß. Verse 513—26: Nos deux aventuriers, au logis retournés, Furent très bien reçus, pourtant un peu grondés, Mais seulement par bienséance. L'un et l'autre se vit de baisers régalés ; On se récompensa des pertes de l'absence. Il fut dansé, sauté, bailé, Et du nain nullement parlé, Ni du valet, comme je pense. Chaque époux, s'attachant auprès de sa moitié, Vécut en grand soulas, en paix, en amitié, Le plus heureux, le plus content du monde. La reine à son devoir ne manqua d'un seul point : Autant en fit la femme de Joconde : Autant en font d'autres qu'on ne sait point. Die Novelle La Fiancée du Roi de Garbe (II 14) hebt mit einer ernsten fachmännischen Überlegung über die Verpflichtung des Erzählers zur Wahrhaftigkeit, über die Verantwortlichkeit des Dichters vor der Nachwelt an, einer Betrachtung, die natürlich alles andere als ernst gemeint ist, da die Novelle aus Phantastereien und charmanter Aufschneiderei besteht. Verse 1—16: Il n'est rien qu'on ne conte en diverses façons : On abuse du vrai comme on fait de la feinte ; Je le souffre aux récits qui passent pour chansons ; Chacun y met du sien sans scrupule et sans crainte ; Mais aux événements de qui la vérité Importe à la postérité, Tels abus méritent censure. Le fait d'Alaciel est d'une autre nature. Je me suis écarté de mon original: On en pourra gloser; on pourra me mécroire; Tout cela n'est pas un grand mal ; Alaciel et sa mémoire Ne sauroient guère perdre à tout ce changement. J'ai suivi mon auteur en deux points seulement, Points qui font véritablement Le plus important de l'histoire : Besonders originell ist die Art, wie La Fontaine die Verwendung eines offenbar überflüssigen Requisits, einer Juwelenschatulle, die seinem Helden in allem Un215
glück wenig zu nützen scheint, rechtfertigen möchte. Alles spielt sich in einer Art phantastischer Märchenlandschaft im östlichen Mittelmeer ab; in die unwahrscheinlichen Erlebnisse hinein spricht der Autor seine ernüchternd großstädtische, aus der Zivilisation des Westens wie in eine orientalische Parabel einkopierte Rechtfertigung. Verse 179—191: ,Pourquoi, me dira-t-on, nous ramener toujours Cette cassette ? est-ce une circonstance Qui soit de si grande importance V Oui, selon mon avis; on va voir si j'ai tort. Je ne prends point ici l'essor, Ni n'affecte de railleries. Si j'avois mis nos gens à bord Sans argent et sans pierreries, Seroient-ils pas demeurés court ? On ne vit ni d'air ni d'amour. Les amants ont beau dire et faire, Il en faut revenir toujours au nécessaire. La cassette y pourvut avec maint diamant. Gern markiert der Erzähler, wie schon in I 1, 171—77, einen Höhepunkt des Geschehens durch eine Zäsur, durch persönliches Hervortreten und verschmitztes Erratenlassen, was wohl wann vor sich gehe, oder wo, oder wer daran beteiligt sei. So wird in II 14 von einer Grotte erzählt und von einem Unwetter, das ein junges Paar überrascht. Und natürlich (Verse 262—67) : Il fallut se mettre à l'abri : Je laisse à penser où. Le reste du mystère Au fond de l'antre est demeuré. Que l'on la blâme ou non, je sais plus d'une belle A qui ce fait est arrivé, Sans en avoir moitié d'autant d'excuses qu'elle. Immer verraten eingestreute Termini technici die Präsenz des dazwischenredenden Autors, wie in den Versen 651—54: Son offre fut reçue, et la belle lui fit Un long roman de son histoire, Supprimant, comme l'on peut croire, Les six galants. [ . . . ] oder wie in den Versen 687—91 : [ . . . ] Cependant le seigneur Marche toujours à côté d'elle, Tantôt lui conte une nouvelle, Et tantôt lui parle d'amour, Pour rendre le chemin plus court. 216
Sogar ein uralter Vorwand zur Beendigung von Erzählungen wird als Ornament in das raffinierte Gemisch von Formen und Tönen eingefügt. Verse 728—35 : D'exprimer ici la tendresse, Ou, pour mieux dire, les transports Que témoigna Zaïr en voyant la princesse, Il faudroit de nouveaux efforts, Et je n'en puis plus faire: il est bon que j'imite Phébus, qui, sur la fin du jour, Tombe d'ordinaire si court Qu'on diroit qu'il se précipite. Hier ist im Schlußtopos die im Mittelalter gern vorgeschützte Ermüdung mit der Anspielung auf Idyllen- und Eklogenschlüsse Theokrits und Virgils, die mit dem Sonnenuntergang enden, vermischt1). Krönung ist der mit scheinheiliger Predigermiene vorgetragene, weise Exempelschluß zu dieser amüsanten Frivolität. Verse 781—801: Ce conte nous apprend que beaucoup de maris Qui se ventent de voir fort clair en leurs affaires N'y viennent bien souvent qu'après les favoris, Et, tout savants qu'ils sont, ne s'y conoissent guères. Le plus sûr toutefois est de se bien garder, Craindre tout, ne rien hasarder. Filles, maintenez-vous ; l'affaire est d'importance : Rois de Garbe ne sont oiseaux communs en France; Vous voyez que l'hymen y suit l'accord de près, C'est là l'un des plus grands secrets Pour empêcher les aventures. Je tiens vos amitiés fort chastes et fort pures ; Mais Cupidon alors fait d'étranges leçons. Rompez-lui toutes ses mesures ; Pourvoyez à la chose aussi bien qu'aux soupçons. Ne m'allez point conter: ,C'est le droit des garçons.' Les garçons sans ce droit ont assez où se prendre. Si quelqu'une pourtant ne s'en pouvoit défendre, Le remède sera de rire en son malheur. Il est bon de garder sa fleur ; Mais, pour l'avoir perdue, il ne se faut pas pendre. Die Deutung dieser anspielungsreichen Belege könnte — obgleich sie keine konkrete Anrede enthalten — schon jetzt zur Erschließung eines Kreises führen, dem die Contes et Nouvelles in Wirklichkeit dargeboten sind. Da es an eindeutigen Adressen in anderen Teilen von La Fontaines Novellenwerk nicht fehlt, sei das Konkrete vorangestellt, um die Sicherheit einer zusammenfassenden, abschliei) Hierzu Curtius ELLM S. 97ff. (Schlußtopik). 217
ßenden Interpretation zu erhöhen. Die 1. Novelle des III. Teiles, Les oies de frère Filippe, Nouvelle tirée de Boccace, die der Herkunft und der Gesinnung nach weder Parodie noch Travestie, sondern echtes Exempel in Versen (natürlich ein unasketisches, kein Predigerexempel, die berühmte Rahmenparabel aus dem Decameron) ist, empfiehlt sich ausdrücklich dem „beau sexe" zur Lektüre. Der Vorspruch hebt an mit den Worten : Je dois trop au beau sexe, il me fait trop d'honneur De lire ces récits, si tant est qu'il les lise. (Vers 1—2) Dieser vierzig Verse umfassende Vorspruch zeigt den Dichter im Gespräch mit zwei Parteien, mit den Kritikern seiner Kunst auf der einen, mit den zwischen dem Zuspruch des Autors und der Abrede der Zensoren schwankenden Schönen auf der anderen Seite. Den Frauen empfiehlt er, Vers 14—15 : Chassez les soupirants, belles, souffrez mon livre : Je réponds de vous corps pour corps. In einem Atem wirft der Dichter erst den Damen, dann jenen ihm feindlichen Zensoren, ihrer Wesensart entsprechende Argumente zu. Vers 24—30: J'ai servi les beautés de toutes les façons : Qu'ai-je gagné ? Très peu de chose, Rien. Je m'aviserois sur le tard d'être cause Que la moindre de vous commît le moindre mal ! Contons, mais contons bien : c'est le point principal ; C'est tout; à cela près, censeurs, je vous conseille De dormir, comme moi, sur l'une et l'autre oreille. Denn Novellenkritik hat literarästhetische, nicht moralistische Kritik zu sein. Vers 31—35: Censurez, tant qu'il vous plaira, Méchants vers et phrases méchantes : Mais pour bons tours, laissez-les là, Ce sont choses indifférentes ; Je n'y vois rien de périlleux. Und nun die Pointe des Vorspruchs, die Bloßstellung der Kritik: nicht literarisches und ästhetisches Verständnis, sondern pädagogische Strenge und Eifersucht üben die Zensur, und was sie mit moralischem Eifer verdammen, entzieht sich ihrer Kompetenz. Denn nicht um verwerfliche Handlungen oder Tatsachenberichte handelt es sich, sondern um märchenhafte Erfindungen, um blauen Dunst, von dem auch das schöne Geschlecht gefahrlos träumen darf. Vers 36—40 : Les mères, les maris, me prendront aux cheveux Pour dix ou douze contes bleus ! Voyez un peu la belle affaire ! Ce que je n'ai pas fait, mon livre iroit le faire % Beau sexe, vous pouvez le lire en sûreté. 218
Dies ist nicht die einzige an das schöne Geschlecht gerichtete Adresse des Novellisten La Fontaine. Auch Vers 48 der Novelle III 3 (Les Rémois) ruft die Frauen an : Femmes, voilà souvent comme on vous traite. Vers 56—57 der gleichen Novelle fordert sie heraus : Le beau premier qui sera dans vos lacs, Plumez-le-moi, je vous le recommande. Novelle III 6 (La courtisane amoureuse), dieses seltsame, stellenweise nach Farcenart dialogisierte Wunschbild einer Griseldis-Demut auf dem Felde der Erotik, scheint ausdrücklich für die Frauen Frankreichs erzählt zu sein. Vers 198—99: Femmes de France, en feriez-vous autant ? Je crois que non; j'en suis sûr; [ . . . ] Mit klarer Wendimg und Anrede wird freilich der Kreis derer, die angeblich aus der Geschichte Nutzen ziehen werden, bedeutend eingeschränkt. Vers 277: Or, faites-en, nymphes, votre profit. Die „Moral" von V I (La Clochette) wird in dem Ausruf zusammengefaßt (Vers 68—69) : [ . . . ] O belles, évitez Le fonds des bois et leur vaste silence. Auf weibliche Leser spielt Novelle V 2 (Le fleuve Scamandre ) in Vers 16—17 an : Sotte ignorance en fait trébucher mille, Contre une seule à qui nuiroient mes vers. Mit den Zensoren, die in III 1 (Vers 1—40) die weibliche Leserwelt abspenstig zu machen trachteten, liegt der Dichter auch anderwärts im Streit, wie die Verse 96—109 der Novelle V 4 (Le remède) beweisen: Si tout ceci passoit pour des sornettes (Comme il se peut, je n'en voudrois jurer), On chercheroit de quoi me censurer. Les critiqueurs sont un peuple sévère ; Ils me diront : , Votre belle en sortit En fille sotte et n'ayant point d'esprit : Vous lui donnez un autre charactère ; Cela nous rends suspecte cette affaire : Nous avons lieu d'en douter ; auquel cas Votre prologue ici ne convient pas.' Je répondrai . . . Mais que sert de répondre ? C'est un procès qui n'auroit point de fin: Par cent raisons j'aurois beau les confondre; Cicerón même y perdroit son latin. 219
Angesichts der klaren Forderung nach größerer Freiheit der Form, die aus beiden Préfaces erschlossen werden kann, erübrigt es sich, die soeben zitierten und andere, die Kritik der Kritik berührende Verse ausführlicher zum Nachweis von La Fontaines Dogmenfeindlichkeit zu interpretieren. Hier interessiert das aus den Novellen heraus geführte Gespräch mit der Umwelt. Denn nicht nur mit Frauen und Zensoren beiderlei Geschlechts pflegt der Autor angeregte Unterhaltung, sondern auch mit der Männerwelt. Im Debut zu Novelle III 4 (La coupe enchantée), deren erste 78 Verse mit der Frage nach Cocuage in Vers 20 und mit den Refrains „Cocuage n'est point un mal" (Verse 45 und 53) und „Cocuage est un bien" (Verse 65 und 78) den Rhythmus einer Ballade markieren, heißt es (Vers 20—21): Pauvres gens ! dites-moi, qu'est-ce que Cocuage ? Quel tort vous fait-il, quel dommage ? An die Ehemänner ergeht die Einladung, Vers 26—31 : Vous croyez cependant que c'est un fort grand cas : Tachez donc d'en douter, et ne ressemblez pas A celui-là qui but dans la coupe enchantée. Profitez du malheur d'autrui. Si cette histoire peut soulager votre ennui, Je vous l'aurai bientôt contée. Und ihnen, den „armen Kerlen", gilt der Trost, Vers 43—45: Je tire donc ma conséquence, Et dis, malgré le peuple ignorant et brutal : Cocuage n'est point un mal.1) Um keinen Zweifel an ihrer Identität zu lassen, wird in die „Moral" der Erzählung am Schluß nochmals eine Anrede eingefügt. Vers 481—82: Époux, Renaud vous montre à vivre : Pour Damon, gardez de le suivre. Aus der unerschöpflichen Novellentradition greift der Dichter auch das bewährte Mittel der persönlichen Darbringung durch einen Prologbrief auf. Das vorletzte Stück seiner Sammlung, Novelle V 7 (Belphégor, Nouvelle tirée de Machiavel), das berühmte Motiv des auf Erden verheirateten und schließlich doch lieber zur Hölle zurückfahrenden Teufels, trägt die Widmung: „A Mademoiselle de Champmeslé". Die Verse 1—29 sind ein persönliches Widmungsschreiben an die Schauspielerin, über deren Beziehungen zu dem Dichter die „Notice Biographique" (Bd. I S. CXIV—XVI) unterrichtet. Das in diesem kleinen Prooemium wiederholt verwendete vous ist begreiflicherweise konkrete Anrede. Dagegen hat das vous im Epilog der gleichen Erzählung mit einer Anrede so gut wie nichts mehr zu tun, Vers 314—320: l
) Chanson-Refrains finden sich u. a. auch in Novelle IV 1.
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De tout ceci que prétends-je inférer ? Premièrement, je ne sais pire chose Que de changer son logis en prison. En second lieu, si par quelque raison Votre ascendant à l'hymen vous expose, N'épousez point d'Honesta, s'il se peut : N'a pas pourtant une Honesta qui veut. Kein Zweifel, daß in dieser ,,Moral" der Dichter nicht mehr zu der Schauspielerin spricht, sondern irgendwohin in den Raum hinaus, und ohne jemanden anzusehen. Gerade die Gegenüberstellung des persönlichen vous der Widmung mit dem unpersönlichen vous dieses Epilogs belehrt über den syntaktischstilistischen Ziercharakter des letzteren. Es ist keine Anrede. In einer deutschsprachigen Wiedergabe des Epilogs hätte das vous völlig zu verschwinden und sinngemäß einem „jemand" oder „einer" oder „man" Platz zu machen. Denn diese Novelle klingt aphoristisch belehrend aus. Wir stehen auch nicht an, diese Erkenntnis auf das häufig in den Contes et Nouvelles verwendete, unpersönliche vous auszudehnen und zu verallgemeinern, obgleich oder gerade weil dadurch der Eindruck des Kontakts des Autors mit der Umwelt gedämpft wird. Die Frage zum Beispiel, wer im Auftakt der Novelle V 1 mit vous angeredet wird — Verse 7—10: Puis fiez-vous à rimeur qui répond D'un seul moment. Dieu ne fit la sagesse Pour les cerveaux qui hantent les neuf Soeurs : Trop bien ont-ils quelque art qui vous peut plaire — diese Frage braucht nicht zu beunruhigen. Niemand wird dort angeredet; es handelt sich bei diesem vous um den selbstverständlichen syntaktischen Ersatz für unschöne und umständliche Konstruktionen mit on, also um einen Dienst, den im Französischen (und nicht nur dort) die zweite Person auf Schritt und Tritt zu versehen hat. Schon die Verse 18—20 der gleichen Novelle bringen ein weiteres Beispiel dieser Art: Voyons ceci. Vous saurez que naguère Dans la Touraine un jeune bachelier . . . . (Interprétez ce mot à votre guise : . . . Ob man dieses vous nun auf einen imaginären Hörerkreis oder auf den Leser bezieht, an seinem unpersönlichen Charakter und seiner verallgemeinernden Tendenz ändert sich nichts. Ist doch auch in unserem heutigen Sprachgebrauch die Aufforderung „man vergleiche, man beachte" und dergleichen nur der höfliehe Ersatz für das kürzere ,,vergleiche! beachte!" 1 ). Womit gleichwohl klargestellt ist, daß La Fontaine als Erzähler selbstverständlich mit einem Gegenüber rechnete. Hatten aber seine Vorgänger dieses Gegenüber durch ein System von Widx
) Vertauschung von vous und on begegnet u. a. in Novelle V 5, Vers 84 u. 98—99. 221
mungsbriefen oder durch eine fiktive Erzählergesellschaft eindeutig in das Buch hereingezogen, so ändert sich bei La Fontaine die Erzählhaltung. E r verzichtet auf fiktive Mittelspersonen, auf novellatori ; er spricht einmal zu einer Dame, die er persönlich anredet und namhaft macht, ein andermal zum schönen Geschlecht überhaupt, er spricht hier zu den Zensoren, dort zu den geängstigten Ehemännern. Aber man muß sehr behutsam vorgehen und wohl überlegen, ob er damit wirklich aus seinem Werk hinaus zur Welt spricht, oder ob seine archaisierende, überall ins Kostüm vergangener Epochen schlüpfende Kirnst nicht vielmehr durch die Anreden belies, époux und censeurs anspielungsweise einen Kreis und eine Bewegung um den Erzähler der Contes et Nouvelles herum nach alter Novellistenart fingiert. Wahr ist, daß aus einigen Novellen heraus unmittelbar der lecteur angesprochen wird, z. B. in Novelle IV 8 (Vers 75 : „Lecteur, que t u fusses femme"; Vers 228—29: ,,Α ce discours, ami lecteur, Vous ne croiriez jamais"; Vers 300: „Chose dont, à bon droit, le lecteur peut douter") und in Novelle V 5 (Vers 47: „II ne faut pas que le lecteur oublie"). Aber auch diese Anrede — lecteur — ist mit größter Vorsicht aufzunehmen, denn La Fontaine verwendet kein Mittel ohne den leicht spöttischen Hintersinn der Nachahmung, des Verweises auf die Novellenerzähler, die es schon vor ihm gebrauchten. I n der Tat gibt es einen unmittelbaren Vorläufer des Dichters, der zum lecteur zu sprechen pflegte und dessen Bild in den Contes et Nouvelles vielleicht durch dieses Zitat evoziert wird. Es ist S c a r r o n (1610—1660), der Bewunderer und eifrige Schüler der spanischen Novellisten, dessen bedeutende Rolle bei der Neuschöpfung der französischen Erzählkunst und als Vorbereiter La Fontaines nicht mit Schweigen übergangen werden darf. Einige seiner in den Roman Comique (1649—1657) eingeschobenen Novellen sind zwar nach hergebrachter Art den handelnden Personen in den Mund gelegte Selbstdarstellungen oder Berichte, über die in dem rahmenbildenden Komödiantenmilieu theoretische Betrachtungen angestellt werden 1 ); dem Vortrag dieser Erzählungen wohnt der Leser „innerhalb" des Romans bei. Nicht beiwohnen aber darf er der Erzählung der Histoire de VAmante invisible durch eine der Romanfiguren, Ragotin. Man erfährt, daß Ragotin erzählt, aber der Autor läßt ihn nicht im Beisein der Leser zu Wort kommen, sondern schaltet sich selbst ein: „Vous allez voir cette histoire dans le chapitre suivant, non telle que la conta Ragotin, mais comme je la pourrai conter d'après un des auditeurs qui me l'a apprise. Ce n'est donc pas Ragotin qui parle, c'est moi" (S. 26). So wird die Erzählung Ragotins doppelt vom Roman distanziert, einmal durch den auditeur, der sie aus dem Rahmen an den Autor weitergibt, und ein andermal durch den Autor, der ihr das Gewicht des selbständigen Kunstwerkes gibt. Sie ist also als Novelle gleichsam „entdeckt", individuiert und herauspräpariert, vom Romangeschehen und der Rahmengesellschaft abgelöst und „außerhalb" des !) Le Roman Comique par Scarron. Nouv. Édit. revue sur les meilleurs textes, Paris Garnier o. J. — Die vorzügliche kritische Avisgabe: Oeuvres complètes de Scarron, Le Romant Comique, Texte établi et présenté par Henri B é n a c (Les Textes Français, Collection des Universités de France publiée sous le patronage de l'Association Guillaume Budé) Paris 1951 (2 Bde. mit ausführlicher Introduction), lag bei Niederschrift dieses Kapitels noch nicht vor.
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Romans, wenngleich an einer Stelle, wo sie stünde, auch wenn Ragotin sie erzählen dürfte, dargeboten. Kaum hätte die Umkehrung der Erzählhaltung — vom Sprechen der Rahmenfigur ins Buch hinein zum Sprechen des Autors aus dem Buch heraus — ostentativer gestaltet werden können als bei dieser ersten größeren Interpolation. Innerhalb des Romans machte S carrón aus diesem Verfahren keine Regel, ja er kehrte bei den bereits genannten anderen Einschüben zur herkömmlichen Verklammerung zurück, um seine „Entdeckung" erst in den Nouvelles Tragicomiques (1655—57)1) voll auszuwerten. Im Vorwort der letzteren, einem Widmungsschreiben an den Marquis de Marcilly, wird andeutungsweise auf die Novellen des Roman Comique bezuggenommen, die sich in Ton und Färbung von der Gefühlsmischung der tragikomischen unterscheiden 2 ). Innerhalb der Nouvelles Tragicomiques hat S carrón die Wendung des Erzählers zum Publikum, die unmittelbare Fühlung zwischen Schreiber und Leser mehrfach unterstrichen. Sein Kontakt mit dem Leser scheint persönlicher Natur zu sein. So sucht der Autor eine seiner eigenen Äußerungen durch eine Parenthese zu entschuldigen: ,,(le Lecteur me pardonnera, s'il lui plaît, ce petit quolibet.)"; er wagt als Charakteristik eines Protagonisten ein eigenes Sonett mit folgender Vorbemerkung zu zitieren: „Enfin, on lui pouvoit appliquer un Sonnet burlesque de ma façon, dont la fin a presque passé en proverbe" (Bd. I I S. 70); er flicht eine persönliche Abwandlung des Topos der Unschicklichkeit und des vorgeschützten Alters in die Beschreibung einer Liebesszene: ,,Je laisse donc au Lecteur discret à se les imaginer; car pour faire parler ce Roi de Naples aussi tendrement qu'il fit et pour n'affaiblir pas le sens de ses paroles, il faudrait être aussi amoureux qu'il fut, et il ne m'appartient plus de l'être" (S. 111); er gibt, der dämpfenden Ausreden Lope de Vegas eingedenk, den Leser zu schonen vor: „ J e n'attendrirai point le Lecteur du triste adieu que lui dit Hypolite. J e la laisserai aller à Ancone [ . . . ] et ramenerai le pauvre Hypolite aux masures enfumées" (S. 141). Er bittet sogar — und darin ist er La Fontaines „Avertissement" genau um ein Jahrzehnt voraus — den Leserkreis um ermutigenden Zuspruch zu weiterer Erzählarbeit, womit er den von Cervantes und Lope gebrauchten Vorankündigungen geplanter, aber nicht vollendeter Novellistik eine neue Wendung gibt: „Dom Sanche et Hélene allèrent heureusement aux Indes, où il leur est arrivé des aventures qui ne peuvent tenir dans un si petit volume, et que je promets au Public, sous le titre de la Parfaite Courtisanne, ou de Lais moderne, si peu qu'il témoigne avoir envie de les apprendre" (Bd. I S. 164)3). Nouvelles Tragicomiques, Paris 1752 (2 vol.). ) A. a. O. Bd. I, Vorwort o. S. — Sollte sich die Stelle nicht auf die Novellen im Roman Comique beziehen, so müßte sie als energischer Gegenangriff gegen ein novellist. Gattungsprinzip von „facetudo" oder Witz (Pontanus und Castiglione) aufgefaßt werden. 3 ) Stoffliche Vorlage der Nouvelles Tragicomiques war nach L. P e t i t d e J u l l e v i l l e , Hist, de la Langue et de la Littér. franç., IV S. 495, die Sammlung Novelas amorosas y eatemplares (1634) von Maria de Z a y a s y S o t o m a y o r ; der gleichen Sammlung war auch die Novelle Le Juge de sa propre cause im Roman Comique entnommen, während die drei anderen Binnenerzählungen des Romans (Histoire de VAmante invisible·, A Trompeur, Trompeur et demy; Les deux frères Rivaux) aus Los alivios de Cassandra (1640) von Alonso C a s t i l l o 2
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Paul Scarron, der auch als Theoretiker der Erzählkunst einen führenden Platz im 17. Jh. verdient, schreibt allein den Spaniern die Beherrschung der Novellistik zu und leugnet die Existenz französischer Novellen; eine Auffassung, die sich daraus erklärt, daß das Frankreich des 17. Jh. ebenso geringschätzig auf die ältere französische Literatur herabsah wie die Italiener des 16. Jh. auf ihre volkssprachliche Literatur im Quattrocento. Aus dem Studium der spanischen Novellen entsteht bei Scarron eine ausgesprochene Romantheorie. In der Überleitung zu der in den Roman Comique eingeschobenen Novelle A Trom