Psychoanalyse und Literaturwissenschaft: Texte zur Geschichte ihrer Beziehungen [Reprint 2017 ed.] 9783111678603, 9783484190238


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German Pages 345 [348] Year 1973

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Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG: Über Schwierigkeiten im Umgang mit Psychoanalyse und Literatur
[Traum – Poesie–Neurose] [1909]
Dichtung und Psychoanalyse [1912]
Über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk1 [1922]
Dichtung und Psychoanalyse [1922]
[Die Leistung der neuen Psychologie in i h r e r Anwendung auf Diditerpersönlichkeit u n d Kunstschöpfung] [1926]
Psychoanalyse und Dichtung [1926]
Literaturwissenschaft und Psychoanalyse [1928]
[»Libidodichtung«] (1929)
Literaturwissenschaft und Psychoanalyse (1930)
Psychoanalyse und Literaturwissenschaft (1930)
Psychoanalyse und neuere Dichtung (1932)
Psychoanalyse und Dichtung (1933)
Quellennachweise
Weiterführende Bibliographie
Personenregister*
Sachregister
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Psychoanalyse und Literaturwissenschaft: Texte zur Geschichte ihrer Beziehungen [Reprint 2017 ed.]
 9783111678603, 9783484190238

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Deutsche Texte

Herausgegeben von GOTTHART WUNBERG

24

Psychoanalyse und Literaturwissenschaft Texte zur Geschichte ihrer Beziehungen

Herausgegeben, eingeleitet und mit einer weiterführenden Bibliographie versehen von BERND URBAN

Max Niemeyer Verlag Tübingen

ISBN 3-4S4-19023-X © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1973 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomedianischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany.

Inhaltsverzeichnis

Über Schwierigkeiten im Umgang mit Psychoanalyse und Literatur VII

EINLEITUNG:

WILHELM STEKEL

[Traum — Poesie - Neurose] (1909)

1

THEODOR R E I K

Dichtung und Psychoanalyse (1912)

11

CARL GUSTAV JUNG

Über die Beziehung der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk (1922)

18

EDITH AULHORN

Dichtung und Psychoanalyse (1922)

39

OTTO RANK

[Die Leistung der neuen Psychologie in ihrer Anwendung auf Dichterpersönlichkeit und Kunstschöpfung] (1926) . . . .

54

H A N N S SACHS

Psychoanalyse und Dichtung (1926)

94

EWALD VOLHARD

Literaturwissenschaft und Psychoanalyse (1928)

103

OSKAR WALZEL

[»Libidodichtung«] (1929)

125

A D O L F VON G R O L M A N N

Literaturwissenschaft und Psychoanalyse (1930)

137

WALTER MUSCHG

Psychoanalyse und Literaturwissenschaft (1930)

156

W A L T E R DF.HORN

Psychoanalyse und neuere Dichtung (1932)

177 V

H E R M A N N PONGS

Psychoanalyse und Dichtung ( 1 9 3 3 )

220

ANHANG Quellennadi weise

261

Weiterführende Bibliographie

262

Personen- und Sachregister

273

EINLEITUNG:

Über Schwierigkeiten im Umgang mit Psychoanalyse und Literatur I 1970 legte Alexander Mitscherlich Fünf Plädoyers in Sachen Psychoanalyse vor. 1 Innerhalb des Kapitels »Lagebericht. Psychoanalyse heute in Deutschland« heißt es: »Die Lage würde entschieden verkannt, wenn aus einigen neuerlich erschienenen lesenswerten und sogar bedeutenden philosophischen, philologischen, theologischen Untersuchungen 2 der psychoanalytischen Theorien oder spezifischer Einstellungen Freuds auf eine breitere Rezeption, vor allem auch der psychoanalytischen Methode als Behandlungstechnik geschlossen würde. [ . . . ] Es lohnt sich ein Experiment. Man notiere die fünfzig oder hundert nächsten Male, in denen einem der Name Freuds oder der Psychoanalyse begegnet und prüfe die Korrektheit oder das Mißverständnis der Aussage. Das Ergebnis wird staunenswert sein. Besonders deshalb, weil die Öffentlichkeit dieses trügerische Gefühl hat, was Psychoanalyse sei, wäre in unserem Lande bekannt und würde verstanden.« Allenthalben besinnt sich die Literaturwissenschaft heute stärker denn je — und nicht nur im Kanon ihrer »Methoden«, wir kommen noch darauf — auf die psychoanalytischen Erkenntnisse und das Werk ihres Begründers. Aber umso schneller ist man versucht, in dieser Wissenschaft — heute wie in jenem Zeitraum, in dem unsere Texte liegen — von Mißverständnissen im Umgang mit Freud zu sprechen und die Ursachen der Blickverstellung zu suchen, um Verzerrungen ins Lot zu bringen, die schon einsetzten, als die ersten Freud-Schüler sich mit literarischen Stoffen und Motiven beschäftig1

2

A l e x a n d e r Mitsiherlich: Versuch, die W e l t besser zu bestehen. Fünf Plädoyers in Sachen Psychoanalyse. F r a n k f u r t a. M . 1970. D a s Z i t a t S. 12 f. In den Anmerkungen dazu nennt Mitscherlich: Jürgen Habermas, 1968; A l f r e d Lorenzer, 1970 b; Walter Schönau, 1968; Joachim Scharfenberg, 1968. — Wenn auch k ü n f t i g bibliographische A n g a b e n in dieser A r t erscheinen, so finden sich die entsprechenden Titel im Literaturverzeichnis (vgl. S. 262 ff.).

VII

ten und die Literaturwissenschaft hinter den Adepten nicht mehr den Begründer sah und ihr eigenes Prinzip vergaß, den Text doch genau zu besehen. Stekel führte — wie er audi, unsere Textstelle weist es aus (vgl. S. ι ff.), die Gedanken Freuds aus Der Dichter und das Phantasieren8 entstellt — jenen verhängnisvollen Satz ein, daß jeder Dichter ein Neurotiker sei (vgl. S. 6), und Jung vermag seine Darstellung der Freudschen Positionen nicht vom unterschwelligen H a ß der Kontroverse freizuhalten und geht so weit, wider besseres Wissen Elemente der Freudschen Lehre falsch oder unter deutlichen Auslassungen darzustellen. So unterschlägt er in seinen Bemerkungen über die Rolle des Symbols bei Freud (vgl. S. 24) gerade jene »spektakuläre Stufe der Begriffsentwicklung«, 4 die in der Traumdeutung zum Durchbruch kam und zur »eigentlichen Symbolik« führte. 1914 hatte schon Abraham nachgewiesen, daß Jung in seinem Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie »den Lehren Freuds eine in tatsächlicher Hinsicht gänzlich unrichtige Darstellung zuteil werden läßt«. 5 K u r z zuvor hatte Ferenczi seine Kritik zu C. G. Jungs >Wandlungen und Symbole der Libido< vorgelegt. 6 Die Hinweise mögen warnen, die in Jungs Aufsatz Üher die Beziehung der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk (vgl. S. 18 ff.) dargestellten Punkte der Freudschen Lehre unbesehen anzunehmen. Etwas über zehn Jahre später richtete sich Jung — von 1933 bis 1940 führend in der gleichgeschalteten Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie tätig — gegen die »semitische Psychoanalyse«, worüber z . B . Thomas Mann informiert war. 7 Walter 3 4

S i g m u n d F r e u d , 1970 a, S. 169 f f . A l f r e d L o r e n z e r , 1970 a, S. 19.

5

K a r l A b r a h a m , 1 9 7 1 , S. 395.

β

I n : I n t e r n a t i o n a l e Zeitschrift f ü r (ärztliche) P s y c h o a n a l y s e . Jg. I, 1 9 1 3 , S. 3 9 1 f r .

' V g l . T h o m a s M a n n : B r i e f e 1 9 3 7 — 1 9 4 7 . F r a n k f u r t a . M . 1963. S. 4 1 3 und S. 506. — In einem B r i e f v o m 16. j . 1934 schreibt J u n g : » D i e b l o ß e Tatsache, d a ß ich v o n einer D i f f e r e n z zwischen jüdischer u n d christlicher P s y c h o l o g i e spreche, g e n ü g t schon, u m jeden das V o r u r t e i l v o r b r i n g e n z u lassen, ich sei ein A n t i s e m i t . « ( I n : J u n g : B r i e f e I. 1906 bis 1945. H r s g . v o n A n i e l a J a f f e . Ö l t e n und F r e i b u r g 1 9 7 2 . S. 210.) D i e in diesem Z e i t r a u m liegenden B r i e f e Jungs geben doch ein w e i t a u s d i f ferenzierteres B i l d seiner H a l t u n g gegenüber dem N a t i o n a l s o z i a l i s m u s als gemeinhin b e k a n n t ist.

VIII

Benjamins Vorsatz ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung; er schreibt in einem Brief vom 2 . 7 . 1 9 3 7 an G . Scholem: »Für diesmal will ich nur berichten, daß die sanremeser Wochen gänzlich dem Studium C G Jungs vorbehalten sind. Es ist mein Wunsch, mir methodisch gewisse Fundamente der Pariser Passagen durch eine Kontroverse gegen die Lehre von Jung, besonders die von den archaischen Bildern und vom kollektiven Unbewußten zu sichern. Das hätte neben seiner internen methodischen Bedeutung eine öffentlichere politische; vielleicht wirst Du gehört haben, daß Jung neuerdings mit einer eigens ihr reservierten Therapie der arischen Seele an die Seite gesprungen ist. Das Studium seiner Essaybände aus dem Anfang dieses Jahrzehnts — deren einzelne Stücke teilweise ins vorige zurückreichen — belehrt mich darüber, daß diese Hilfsdienste am National-Sozialismus von langer Hand vorbereitet waren.« 8 Politische Verwirrung, Kontroversen in der psychoanalytischen Lehre, unrichtige Darstellung und Polemik — im Hintergrund liegen noch andere Abfallsbewegungen, aber auch die Fortentwicklung der psychoanalytischen Theorie 9 — dies alles in einer fremden Disziplin: 'Walter Benjamin: Briefe II. Frankfurt a. M. 1966. S. 7 3 1 . — Vgl. audi Heinrich H . Balmer: Septem Sermones ad Mortuos. Sehertum und N a tionalsozialismus. In: Balmer: Die Archetypentheorie von C. G. Jung. Eine Kritik. Berlin und Heidelberg (Heidelberger Taschenbücher Bd. 106) 1972. S. 1 1 ff. 9 Vgl. hierzu folgende Übersichten über die historische Entfaltung und das theoretische Gebäude der Psychoanalyse und ihre Terminologie, die mitunter in meisterlichen Darstellungen vorliegen: Dieter Wyss: Die tiefenpsydiologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Entwicklung, Probleme, Krisen. Göttingen 1972. — Eckhard Wiesenhütter: Grundbegriffe der Tiefenpsychologie. Darmstadt 1969. — Max Nadimansohn: Hauptströmungen der Psychotherapie der Gegenwart. München 1965. — Robert Waelder: Die Grundlagen der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1971. (Fischer Taschenbuch Bd. 6099)· — Gustav Bally: Einführung in die Psychoanalyse Sigmund Freuds. Hamburg 1966. (rowohlts deutsche enzyklopädie Bd. 131/32). — Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 1970. — J . Laplanche — J . B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1972. Unersetzlich, das Freud-Werk zu erschließen, ist der Registerband der Imago-Ausgabe (Bd. X V I I I der Gesammelten Werke in achtzehn Bänden, jetzt bei S. Fischer, Frankfurt/M). — Vgl. auch Anm. 1 1 . IX

wie sollte da der Literaturwissenschaftler — damals wie heute — ein klares Bild gewinnen? Hinzu kommt: noch immer wird in zahlreichen Arbeiten der (interpretierenden) Literaturwissenschaft Jung gegen Freud ins Feld geführt und dabei oft Letzterer gegen sich selbst gestellt, weil man nicht beobachtet hat, w o und wie lange Jung die orthodoxe Freudsche Lehre verkündet, w o er und Freud sich in der Terminologie unterscheiden, die in ihren Inhalten aber übereinstimmt, oder zu welchem Zeitpunkt sich die Inhalte gegeneinander abzuheben begannen. 10 Grolmanns Bemühung (vgl. S. 1 3 7 ff.) ist ein abschreckendes Beispiel, wie offenbar Zeitungsinformation der Freud-Lektüre vorgezogen wird, und erinnert an jenen Assistenten — Freud berichtet davon —, der 1904 eine Widerlegung der psychoanalytischen Theorien vorlegte, die Traumdeutung aber nicht gelesen hatte. 1 1 A u d i 10

Vgl. dies ζ. B. innerhalb der Untersuchungen von Schulze und Dierks über das Verhältnis Thomas Manns zu Freud und zur Psychoanalyse: Joachim Schulze: Traumdeutung und Mythos. Ober den Einfluß der Psychoanalyse auf Thomas Manns Josephsroman. In: Poetica. Bd. 2, 1968, S. 5 1 7 f f . — Vgl. auch: Joachim Schulze: Joseph, Gregorius und der Mythos vom Sonnenhelden. Zum psychologischen Hintergrund eines Handlungsschemas bei Thomas Mann. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Bd. 15, 1 9 7 1 , S. 465 fr. — Manfred Dierks: Thomas Manns psychoanalytischer Priester. Die Rolle der Psychoanalyse im >ZauberbergSelbstdarstellungödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse« im Hessischen R u n d f u n k am 20. 6. 1 9 7 2 .

16

V g l . Sigmund Freud — A r n o l d Z w e i g : Briefwechsel. F r a n k f u r t a. M . 1968.

17

A l f r e d Döblin: Soll man die Psychoanalyse verbieten? In: Weser-Zeitung vom 28. 7. 1 9 2 5 . Jetzt in: T e x t und Kritik, 1 9 6 5 — 1 9 6 7 , S. 44 f. — Döblin formuliert hier, w a s jüngst A n n a Freud ebenso prägnant v o r trug: » W o die kurzen Psychotherapien auf symptomatische Erleichterung hinarbeiten (und damit den Wünschen des Patienten entgegenkommen), zielt die A n a l y s e auf tiefgehende Änderung in Charakter und Persönlichkeit ab.« ( A n n a Freud: Schwierigkeiten der Psychoanalyse in Vergangenheit und Gegenwart. F r a n k f u r t a. Μ . 1 9 7 2 . S. 18).

XIII

mal zu sein versprach. Ihr Sexualmotiv ist zu grob u. nicht interessant genug, um der produktiven Welt gerecht zu werden u. ihr ihre tragische Problematik zu deuten.« 18 Um das Jahr jener Döblin-Äußerung beginnt bereits die Auseinandersetzung zwischen Psychoanalyse und Marxismus. 10 Ebenfalls in jener Zeit schreibt aber C. J . Burckhardt an Hofmannsthal: »Dieser Freud wird im Lauf des Jahrhunderts unendlich viel mächtiger sein, als alles, was in unserer Kindheit uns scheinbar fest verwurzelt umgab. Er befaßt sich mit demjenigen, was die positivistische Welt, der er entstammt, eigentlich hätte leugnen müssen, — er befaßt sich mit einem etwas, das er Psyche nennt. Er systematisiert die uralte Kunst der Traumdeutung und alles führt er auf das Persönliche zurück. Die Ohrfeige irgend einer unbeliebten Tante, die der unschuldige Zweijährige erhält, unzüchtige Gebärden einer Amme schaffen komplizierte Abwehrsymptome, die vierzig Jahre später dann den spähenden Diagnostiker auf die ursprüngliche Berührung des einstigen Kindes zurückführt, vielleicht ist es dann möglich, die unschöne Narbe zu entfernen. Aber diese zu behandelnde Psyche? Solch eine halbsomatische, anfällige Sache, an der man überlegen herumdoktern kann. Alles wird im Sinn dieser Psyche nun >psychologischHermann Hesse über Pseudo-PsychoanalyseKünstler< geradezu einer der von Ihnen eingangs gebrandmarkten Philister und Banausen«. Die Zeilen beschließen das Urteil über das soeben gelesene Buch Der psychologische und biologische Untergrund expressionistischer Bilder,122 das Oskar Pfister übersandt hatte. Freud war von Anfang an in expressionistischen Köpfen »mitgedacht«, 123 Pfemferts Aktion bietet nicht nur Rubiners und Gross' Auseinandersetzung um die Psychoanalyse, 124 auch die psychoanalytischen Zeitschriften greifen das Thema auf. 1 2 5 1933 ruft Pongs — wie Muschg — zur Zusammenarbeit zwischen Literaturwissenschaft und Psychoanalyse auf. Aber neben die sachliche Verwirrung tritt die politische (vgl. S. I X f.). Dehorn spricht noch von der »primitiv materialistischen Psychophysik Freuds«, für deren Irrwege der Triebe nur der Dichter »ein Führer zu reicherem, tieferem und weiserem Lebensdienst« (vgl. S. 185 f.) werde, und Grolmann sieht mit »zunehmender Irrationalisierung« den Tag kommen, »an dem die ekstatische Erschütterung anders als anno i8ff. gemeinverbindlich wird. An diesem Tag, an dem die Sexualhemmung aufhört und damit auch keine Analyse mehr nötig ist, wird es sein, daß die Literaturwissenschaft wie eine treue Hüterin die Scheunen öffnet und die Menschheit sich rückerinnert« (vgl. S. 153). Zunächst jedoch bemerkt Pongs, die Probleme zwischen Literaturwissenschaft und Psychoanalyse würden kaum gelöst, wenn Frankfurt a. M. 1965. S. 1 5 3 if. — Vgl. auch Andre Breton: Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek 1968. S. 14 f. und Jack Spector, 1973, S. 1 5 7 ff. Ferner: Maurice Nadeau: Geschichte des Surrealismus. Reinbek 1965. (rowohlts deutsche enzyklopädie Bd. 2 4 0 / 4 1 ) S. 51 f., 125 ff., 200 f. und 225 f. 1 2 2 Bern 1920. Vgl. Anm. 49, S. 347 f. und Jack Spector, 1973, S. 36 f. 1 2 3 Vgl. etwa Paul Raabe (Hrsg.): Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen. Ölten und Freiburg 1965. S. 38. 124 v g l . p a u j R a a b e (Hrsg.): Ich schneide die Zeit aus. Expressionismus und Politik in Franz Pfemferts >Aktionseelenzerfasernde Uberschätzung des Trieblebens< und für »Idealismus«« berichtet.126 Freud fragt sich »angesichts der neuen Verfolgungen [ . . . ] , wie der Jude geworden ist und warum er sich diesen unsterblichen Haß zugezogen hat.« 127 1935 sieht Freud »eine Wolke von Unheil die Welt überziehen« und wie »die Zeiten zwischen Kommunismus und Faschismus in unserem armseligen Österreich« »spannungsvoll und lustlos« weiterlaufen. 128 Wenige Monate vor Freuds Tod berichtet Der Stürmer, daß das Dritte Reich »mit dem »psychoanalytischen« Saustall aufgeräumt« 129 habe. Der Freud-Biograph Jones wundert sich, »wie es möglich war, das in Deutschland so verbreitete Wissen von Freud und seinem Werk derart vollständig auszulöschen, daß es noch heute nach zwanzig Jahren auf niedrigerem Niveau steht als ζ. B. in Brasilien und Japan.« 1 3 0 Die Medizin demonstriert noch immer, daß die Geschichte der Psychoanalyse »bis heute die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung« 131 war, wenngleich sie fragt, »weshalb die Psychotherapie und die Tiefenpsychologie, obgleich sie bekannt genug sein dürften, bei uns so wenig Eingang in die ärztliche Praxis gefunden haben. Sie sind, mit Ausnahmen, überhaupt wenig in die Praxis integriert, selbst in den USA.« 1 3 2 Das alles blieb nicht ohne Einfluß auf die Literaturwissenschaft, die heute, grob gesehen, in bezug auf die Psychoanalyse von drei Seiten Anregungen erfährt: vom französischen Strukturalismus, von ΐ2β Vgl. Thomas M a n n : Politische Schriften und Reden II. F r a n k f u r t a . M . 1968. (Taschenbuchausgabe des essayistischen Werkes, Bd. 1 1 7 ) S. 270. 127

Vgl. Anm. 16, S. 102. ΐ2β v g l . Anm. 16, S. 112 und S. 115. 129 Der Stürmer. N r . 29. Juli 1939. 130 Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Bd. I I I . Bern und Stuttgart 1962. S. 222. 131 Vgl. Paul L ü t h : Kritische Medizin. Zur Theorie—Praxis—Problematik der Medizin und der Gesundheitssysteme. Reinbek 1972. (rowohlts deutsche enzyklopädie Bd. 368) S. 40. 132 Vgl. Anm. 131, S. 167. Vgl. audi den Überblick über den Einfluß Freuds im Laufe der Jahrzehnte und in verschiedenen Ländern, in: Jade Spector, 1973, S. 199 ff.

XXXIX

den Arbeiten und Plänen aus der deutschen psychoanalytischen Theorie und von der Sozialphilosophie und philosophischen Hermeneutik. Zu ersterem: »Claude Levi-Strauss als Leser Freuds« 133 und Jacques Lacan sind »besessen von der Linguistik. Der Mensch, das Subjekt — sie verschwinden. Der dem Analytiker sich sprechend anvertrauende Patient spricht nicht als Mensch und Einzelner: es spricht vielmehr aus ihm und in ihm, und dieses >Es< hat wiederum keinen persönlichen Charakter, sondern ist aufgebaut entsprechend den vorgegebenen sprachlichen Strukturen. Die >Verdrängung< ist nicht Verdrängung eines Wunsches, sondern einer strukturierten Rede. [ . . . ] Ansatzpunkt für die Lacan'sche These, das Unbewußte sei strukturiert wie die Sprache [ . . . ] , ist die Bedeutung, die Freud der menschlichen Rede und in ihr den ungewollten Fehlleistungen zugeschrieben hat. Der Sinn (signifie) solcher sprachlicher Entgleisung (signifiant) ist nicht auf der Ebene der bewußten Rede, sondern im Unbewußten zu suchen. Freud war davon überzeugt, daß es keine sinnlose Rede gibt und daß die Psychoanalyse sich darum bemüht, für den vordergründig sinnlosen Signifikanten das zugehörige Signifikat zu suchen, d. h. die unbewußte Bedeutung ins Bewußtsein zu holen.« 134 Die psychoanalytische Technik bemüht sich in mehreren Schritten, durch die in jedem Falle, »gleichgültig ob es sich um Agieren, um Fehlleistung, um Traumproduktion, um verbale Mitteilungen oder was immer handelt«, vorliegende »sekundäre Bearbeitung« 135 vorzudringen, denn ihr Hauptbemühen kleidet sich in die Frage: »Auf welche Sicherheiten stützt sich szenisches Verstehen bei dem Unternehmen, sich zum Originalvorfall voranzuarbeiten — quer durch alle Bedeutungsverfälschungen hindurch?« 136 Lorenzer spricht hier, analog dem »signifie« und »signifiant« Lacans, nun von »Originalvorfall« (oder »Situation«) und »Szene« (als entstellter »Situation«), die es zu verstehen gilt. Allerdings geht es dem Analytiker um das Auffinden des ursprünglichen Sinnes mittels der Lebensgeschichte des Patienten und darum, daß der Patient den gefundenen Sinn, die rekonstruierte Situation so begreift, daß er sich wieder mit 133 vgl. Herbert Nagel, 1970. 134 Vgl. Günther Sdiiwy, 1971, S. 72. 135 vgl. Alfred Lorenzer, 1970 a, S. 121. ΐ3β Alfred Lorenzer, 1970 b, S. 163. XL

ihr identifizieren kann. Während die »strukturale Analyse der Rekonstruktion der Krankengeschichte« mißtraut und sich bemüht, »die Rede des Kranken unabhängig von seiner Biographie als Zeichensystem aufzufassen, dessen nodi unbewußte Bedeutung durch die Analyse gefunden werden kann«, 137 stellt sich das Ergebnis der psychoanalytischen Arbeit so dar: »Aus der konflikthaften (und deshalb verdrängten) Beziehung, die als unbewußtes Klischee dynamisch wirksam war, ist so das bewußtseinsfähige Symbol geworden. Während das unbewußte Beziehungsklischee auf passenden Geschehensreiz hin sich inszenierte mit dem Zwang zu agieren und mitzuagieren, aber ohne die Möglichkeit, bewußt zu werden, ist die Situation in den begriffenen, in ihrem Beziehungssinn verstandenen Szenen als Symbol dem Ich faßbar und verfügbar geworden.« 138 Die Arbeit der psychoanalytischen Hermeneutik, mittels derer Verdrängtes dem Ich verfügbar gemacht wird, zeigt sich bei Lorenzer in folgenden Merkmalen: Der Analytiker nimmt Teil an der »Lebenspraxis« des Patienten, dessen »Wiederholungszwang« sich in der »Übertragung« artikuliert. Ihr wiederum antwortet der Analytiker mit der »Gegenübertragung«, in der »ein emotionales Engagement« liegt, »ein Sich-Einlassen des Analytikers auf den Patienten als Basis und Voraussetzung für den Prozeß des szenischen Verstehens«; schließlich gewinnt der Analytiker sein Wissen über das Wesen des Patienten audi dadurch, daß er wahrnimmt, was in ihm selbst, dem Analytiker, vorgeht, daß er seine Identifizierung ständig zurücknehmen muß, um das »identifikatorisch Wahrgenommene nun bewußt registrieren, verarbeiten, gegebenenfalls deuten zu können«. Dies bedeutet das Überleiten in jenen sekundärprozeßhaften Vorgang, dessen Ergebnis »die Verbalisierung der Situation« ist, was wiederum nichts anderes heißt als die »sprachliche Fassung des zum reifen Symbol entwickelten Beziehungsklischees.«139 Erst jüngst wurde die Leistung der Sprache in der Psychoanalyse — von Freuds Anfängen her — untersucht, 140 die, zusammen mit den Ergebnissen Lorenzers, Probleme für den interpretierenden Literaturwissenschaftler abgeben: wie kann z.B. der »literarische Text« — 137

Günther Sdiiwy, 1 9 7 1 , S. 73. Alfred Lorenzer, 1970 b, S. 189. 139 Alfred Lorenzer, 1970 b, S. 167 fr. no Vgl. Gemma Jappe, 1 9 7 1 . Vgl. audi Samuel Atkin, 1 9 7 2 ; Victor Rosen, 1972. 138

XLI

analog dem Traumfext und dessen Symbolik, durch alle »sekundäre Bearbeitung« hindurch — gedeutet werden? Welche Bezüge gibt es zwischen sekundärer Bearbeitung und künstlerischem Schaffen? Welchen Anteil hat die psychoanalytische Symbolik an der dichterischen? Oder — wie Paul Ricoeur fragt —: »Was heißt >deuten< in der Psychoanalyse, und wie verschränkt sich die Interpretation der menschlichen Zeichen mit der ökonomischen Erklärung, die behauptet, an die Wurzeln des Wunsches zu rühren?« 141 Ricceurs umfangreiches Werk bedenkt Themenkomplexe, die deshalb wenigstens genannt werden müssen, weil sie noch nicht in die grundsätzlichen Überlegungen zum Thema Psychologie in der Literaturwissenschaft1*2 eingegangen sind: Sprache, Symbol, Deutung; Konflikt der Interpretationen; Hermeneutik in der Traumdeutung; Traumarbeit und exegetische Arbeit; Analogie des Kunstwerks zum Traum; Hermeneutik als Annäherung an das Symbol. Die explizit »philosophische Natur« der Ricceur'schen Arbeit bezieht sich in erster Linie »auf Freud und nicht auf die Psychoanalyse; das bedeutet, daß zweierlei darin fehlt: die analytische Erfahrung selbst und die Berücksichtigung der nadifreudschen Schulen. Was den ersten Punkt betrifft, so mag es zweifellos ein Glücksspiel sein, über Freud zu schreiben, wenn man weder Analytiker noch Analysierter ist und sein Werk als ein Denkmal unserer Kultur behandelt, als einen Text, in welchem diese Kultur zum Ausdruck kommt und sich begreift [ . . . ] . Zum zweiten habe ich die nachfreudsche Literatur willentlich beiseite gelassen, weil sie einerseits aufgrund von analytischen Erfahrungen, die ich nicht besitze, den Freudianismus in manchen Teilen berichtigt hat, und weil sie andererseits neue theoretische Begriffe eingeführt hat, deren Erörterung mich von der strengen Auseinandersetzung mit dem Begründer der Psychoanalyse zu weit entfernt hätte; daher habe ich das Werk Freuds als ein in sich geschlossenes Werk behandelt und darauf verzichtet, all jene Begriffe zu diskutieren, die entweder von Andersdenkenden stammen, die zu Gegnern wurden — Adler und Jung —, von Schülern, die zu Andersdenkenden wurden — Erich Fromm, Karen Horney, Sullivan —, oder von Schülern, die zu Neuschöpfern wurden — Melanie Klein, Jacques Lacan.« 143 141 142 143

Paul Ricceur, 1969, S. 10. Vgl. Wolf gang Paulsen, 1 9 7 1 . Paul Ricceur, 1969, S. 9. XLII

Uns will dies wie eine vorbildliche Eingrenzung erscheinen, die unserem Versuch, Freud vor MißVerständnissen zu bewahren, mehr als gelegen kommt. Jürgen Habermas wendet hier die Thematik, wenn er weniger über Freud als über die Psychoanalyse nachdenkt, die er »als Modell einer Wissenschaft, die Selbstreflexion zur Methode erhebt«, 144 begreift und mit seiner Kritik auf das »szientistische Selbstmißverständnis der Metapsychologie«145 zielt. Gleichwohl verarbeitet er in seinem Eingriff in die »hermeneutische Diskussion«146 die theoretischen Ergebnisse Lorenzers, wenn er der Frage nachgeht, »ob eine kritische Wissenschaft wie die Psychoanalyse die Bindung der geschulten Interpretation an die natürliche Kompetenz umgangssprachlicher Kommunikation durch eine theoretisch begründete semantische Analyse unterlaufen und damit den Universalitätsanspruch der Hermeneutik abweisen kann«, 147 oder, deutlicher: »Das Selbstverständnis der Hermeneutik kann erst dann erschüttert werden, wenn sich zeigt, daß Muster systematisch verzerrter Kommunikation auch in der >normalenNormalvorbild< dieser Phänomene angesehen. Diese Phänomene selbst reichen von harmlosen Pseudokommunikationen und Fehlleistungen des Alltags bis zu den pathologischen Erscheinungen der Neurosen, der Geisteskrankhei144

Gemma J a p p e , 1 9 7 1 , S. X I I I . Jürgen Habermas, 1968, S. 300. " β v g l . E r w i n Leibfried, 1 9 7 0 , S . 61 ff. — Jürgen H a u f f zeigt, »wie H a bermas, der Gadamers Kritik an Diltheys Objektivismus und Positivismus teilt, dessen A n s a t z einerseits produktiv weiterentwickelt, aber andererseits die Grenzen markiert, die Gadamers Traditionsorientiertheit einer kritischen Reflexion setzt. In dieser Reflexion w i r d die Begrenztheit wirkungsgesdiiditlidien Bewußtseins erkannt und aufgehoben.« (In: Jürgen H a u f f — Albrecht Heller —Bernd H ü p p a u f — Lothar Köhn —Klaus P. Philippi: Methodendiskussion. Arbeitsbuch zur Literaturwissenschaft. B d . 2. F r a n k f u r t a. M . 1 9 7 2 . (Athenäum Fisdier Taschenbuch Bd. 2004) S. 26).

145

147

Jürgen Habermas, 1 9 7 1 , S. 1 3 2 . XLIII

ten und der psychosomatischen Störungen.« 148 Wenn man nun bedenkt, daß »die Tiefenhermeneutik, die die spezifische Unverständlichkeit systematisch verzerrter Kommunikation aufklärt« 149 und die mit der »sprachverstehenden Soziologie«150 in Zusammenhang kommt, bei Freud selbst beginnt, so ist der Rahmen gesetzt, in dem sich die skizzierte strukturalistische Fragestellung und das psychoanalytische Verstehen — »quer durch alle Bedeutungsverfälschungen hindurch« — befinden und woher der literarischen Interpretation Impulse erwachsen können. 151 Greifen wir hierzu ein letztes Mal Formulierungen Habermas' auf: »Psychoanalyse tritt zunächst nur als eine besondere Form der Interpretation auf; sie liefert theoretische Gesichtspunkte und technische Regeln für eine Deutung von symbolischen Zusammenhängen. Freud hat die Traumdeutung stets am hermeneutischen Vorbild der philologischen Arbeit orientiert. Er vergleicht sie gelegentlich mit der Übersetzung eines fremdsprachigen Autors. [ . . . ] Aber die Deutungsarbeit des Analytikers unterscheidet sich von der des Philologen nicht nur durch Ausgliederung eines besonderen Objektbereiches; sie verlangt eine spezifisch erweiterte Hermeneutik, die gegenüber der übrigen geisteswissenschaftlichen Interpretation eine neue Dimension berücksichtigt. [ . . . ] Die Tiefenhermeneutik, die Freud der philologischen Diltheys entgegensetzt, bezieht sich auf Texte, die Selbsttäuschungen des Autors anzeigen. Außer dem manifesten Gehalt (und den daran geknüpften indirekten, aber intendierten Mitteilungen) dokumentiert sich in solchen Texten der latente Gehalt eines dem Autor selbst unzugänglichen, entfremdeten, ihm gleichwohl zugehörigen Stückes seiner Orientierungen [ . . . ] . Freilich geben sich symbolische Äußerungen, die zu dieser Klasse von >Texten< gehören, durch 148

Jürgen Habermas, 1 9 7 1 , S. 134. Jürgen Habermas, 1971, S. 147. 150 v g i . Jürgen Habermas, 1970. Dort heißt es (S. 297): » F r e u d s Konzept des unbewußten Motivs erlaubt eine Erweiterung des subjektiv sinnverstehenden Ansatzes, ohne daß die Intentionalität des Verhaltens ignoriert und die Schicht symbolischer Gehalte als solche übersprungen werden müßte. Unbewußte Motive haben, wie die bewußten, die Form interpretierter Bedürfnisse; sie sind deshalb in symbolischen Zusammenhängen gegeben und können hermeneutisch verstanden werden.« 151 Dieser Problemstellung gelten Seminar-Bemühungen Norbert Altenhofers in Frankfurt a. M., denen ich viele Anregungen verdanke.

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XLIV

Eigenarten zu erkennen, die nur im breiteren Kontext des Zusammenspiels von sprachlichen Ausdrücken mit den übrigen Objektivationen hervortreten« 152 — und Habermas weist auf Freuds Worte: »Ich überschreite gewiß die gebräuchlichste Wortbedeutung, wenn ich das Interesse des Sprachforschers für die Psychoanalyse postuliere. Unter Sprache muß hier nicht bloß der Ausdruck von Gedanken in Worten, sondern auch die Gebärdensprache und jede andere Art von Ausdruck seelischer Tätigkeit, wie die Schrift, verstanden werden. Dann aber darf man geltend machen, daß die Deutungen der Psychoanalyse zunächst Übersetzungen aus einer uns fremden Ausdrucksweise in die unserem Denken vertraute sind.« 153 Das Postulat mahnt den Literaturwissenschaftler zur Arbeit. Ein Stück ihrer Tradition belegt dieser Textband.

IV Zur Textauswahl: Die vorgelegten Texte und Aufsätze sind nicht in jedem Falle rühmlich; Musdig beklagte schon die »stilistische Zuchtlosigkeit« (vgl. S. 16$) mancher psychoanalytischer Schriften; aber auch den Bemühungen der Literaturwissenschaftler haftet mitunter — so im Falle Dehorns — etwas Stekel Verwandtes an. In Ranks Inzestmotiv bemerkte der Kritiker Richard M. Meyer, wie Bedenken des Autors »durch die Lungenkraft des Sperr- und Fettdruckes« überschrieen würden, wie sich regender Zweifel niedergeschlagen würde mit den beliebten Wendungen »man erkennt unschwer«, »einwandfrei«, »natürlich wieder nur«. 154 Und Cremerius hat vor kurzem beim Nachdruck psychoanalytischer Biographien Klage erhoben gegen die oft »völlig unzureichende Zitierweise [ . . . ] , die mit Quellenangaben und Stellennachweisen mehr als großzügig umgeht.« 155 Der Herausgeber hat sich um folgende Vereinheitlichungen innerhalb der Texte bemüht: Sperrungen wurden durch Kursivierungen 152 153 154

155

Jürgen Habermas, 1968, S. 263 und S. 267 f. Vgl. Anm. 22, Bd. VIII, S. 403. Vgl. Richard M. Meyer: »Die Sexualisierung des Alls«. [Ober Otto Rank Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage], In: Deutsche Literaturzeitung. 34. Jg., 1934, Spalte 1992 ff. Johannes Cremerius, 1971, S. 2 j . XLV

ersetzt, Kursivierungen selbst beibehalten. Hervorhebungen, Auszeichnungen und andere Schrifttypen, besonders bei Fremdwörtern, erscheinen ebenfalls kursiv. Werktitel sind durch >.. .< gekennzeichnet, Auslassungen innerhalb der Texte durch [ . . . ] . Jegliche Einfügungen des Herausgebers innerhalb der Texte, der dazu gehörenden Anmerkungen und in der Bibliographie erscheinen in eckigen Klammern: [ . . . ] . Orthographie und Interpunktion wurden modernisiert, offensichtliche Druckfehler beseitigt. Die meisten Texte erscheinen ungekürzt und sind in sich geschlossen. Lediglich bei Stekel und Walzel handelt es sich um Auszüge aus Buchveröffentlichungen; bei Rank um die gesamte Einleitung der zweiten Auflage des Inzest-Motivs. Bei Volhard wurde die kleine Auswahlbibliographie am Schluß des Aufsatzes ausgelassen, aber die für unsere Fragestellung wichtigen Titel daraus in die Bibliographie (vgl. S. 262 ff.) aufgenommen. Mainz, im Herbst 1972.

XLVI

Bernd Urban

WILHELM STEKEL

[Traum — Poesie—Neurose] [1909]

Tolstoi kam eines Tages in seiner kleinen Volksschule auf den Gedanken, die dichterischen Fähigkeiten seiner Bauernkinder auf die Probe zu stellen. Er begann ihnen ein Märchen zu erzählen, ließ dasselbe, kaum begonnen, von den gespannt aufhorchenden Schülern fortsetzen. Der erste Versuch gelang so glänzend, daß er sich in den nächsten Tagen darauf beschränkte, als Zuhörer dem Spiele der Phantasie seiner jungen Schutzbefohlenen zu folgen. Er war ganz überrascht von der Kühnheit der Ausführung, der überwältigenden Phantasie, dem Schwünge der dichterischen Inspiration und der Schönheit der mit vereinten Kräften geschaffenen Werke. Er meinte, der berühmteste Dichter könnte nicht so wundersame Märchen ersinnen, wie es die einfachen, kleinen, unerfahrenen Dorfjungen spielend zusammengebracht. Aus diesem Erlebnis lernen wir eine neue Tatsache kennen, die uns schon längst hätte aufdämmern sollen: In jedem Kinde steckt ein Dichter. Es belebt die tote Welt mit seinen Phantasiegestalten. Ein Stück Holz wird ihm zur Puppe, die Puppe zu einem Kinde, das Kind zu einem Königssohn; der Stuhl wird zur Eisenbahn, der Torbogen wird ein Tunnel, der kleine Zinnsoldat auf dem Sessel sein Schaffner. Und nun reist der kleine Dichter mit unendlicher Schnelligkeit in die weite Welt hinaus. Er kostet in einer Stunde die Möglichkeiten von hundert Menschenleben. Das Kind lebt wie jeder andere Künstler in einer von ihm erschaffenen >zweiten< Welt. »Es wäre dann unrecht zu meinen« — führt Freud1 aus — »es nähme diese Welt nicht ernst, im Gegenteile, es nimmt sein Spiel sehr ernst, es verwendet sehr große Affektbeträge darauf. Der Gegensatz vom Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit.« Auch die Erwachsenen fliehen vor den grauen, sich ewig eintönig erneuernden Wogen der Wirklichkeit in das bunte abwechslungsreiche Feenreich der Phantasie. Denn der Dichter, der in jedem Menschen schlummert und sich im Kinde so reich offenbart, stirbt in uns niemals. Er mag in einem staubigen Winkel der Seele, von den 1

D e r Dichter und das Phantasieren. Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre. Z w e i t e Folge. Franz Deuticke. Wien und Leipzig 1909.

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Spinnfäden des Alltags überzogen, vor dem Lichte des Bewußtseins sicher, unerkannt schlummern. Heimlich im Traume der Nacht erwacht er zu neuem Leben, schmückt sich mit dem Purpurmantel des Herrschers und schreitet stolz durch das kühne, unendliche Reich der Träume. Jeder Träumer ist ein Dichter. Aber audi durch die berstenden Hüllen des Bewußtseins drängt sich der Dichter in das Bereich des lauten Tages. Er zaubert uns in Tagträumen alle jene Möglichkeiten vor Augen, die uns den Inbegriff des Glückes ausmachen. Freud hat recht, wenn er behauptet, »der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte«. Wo in aller Welt findet sich jedoch ein Glücklicher, der vom Leben nichts zu fordern hat? Man kennt das schöne Märchen vom Hemd des Glücklichen, das der König suchen ließ, um sichere Heilung zu finden. Lange suchten die Boten des Königs, bis sie einen Glücklichen fanden — und dieser Glückliche hatte kein Hemd. Das heißt, er lebt gar nicht, er ist nur ein Gedanke, eine Traumgestalt eines Dichters. Gleichgültig, ob der Dichter ein Einziger oder das Volk gewesen. Denn audi das Volk hört niemals auf zu dichten. Die Märchen und Mythen sind die Dichterträume des Volkes. Das Volk bleibt ewig ein Kind. »Der Mythus ist ein erhalten gebliebenes Stück aus dem infantilen Seelenleben des Volkes und der Traum der Mythus des Individuums« (Abraham)? Wir sehen also, daß die Dichtungen des Volkes seine Träume sind. Wie hängt das zusammen? Zwischen Traum und Dichtung gibt es eigentlich keine Unterschiede. Wer einmal gelernt hat, die symbolische Entstellungskunst des Traumes zu entlarven, der ist immer aufs Neue erstaunt über die hohen dichterischen Qualitäten, die dem Alltagsmenschen innewohnen. Der Traum des Alltagsmenschen entschleiert uns seine dichterischen Anlagen. Noch richtiger: er entfesselt sie. Das haben die Dichter schon lange gewußt, ehe es die moderne psychoanalytische Wissenschaft bewiesen hat. So notiert Hebbel in seinen Tagebüchern (3.VI.1897) »einen wunderschönen und doch grauenvollen« Traum seiner geliebten Christine und bemerkt dazu: »Mein Gedanke, daß Traum und Poesie identisch sind, bestätigt sidi nun mehr und mehr«. Ähnliche Aussprüche finden wir bei Schopenhauer und Jean Paul.3 2

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Traum und Mythus. Schriften zur angewandten Seelenkunde. Leipzig und Wien 1908. Franz Deuticke. Man denke auch an die schönen Verse des Hans Sachs in den »Meister-

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Hebbel und Schopenhauer haben mit intuitivem Verständnis eine fundamentale Tatsache entdeckt. Traum und Dichtung sind fast identische psychische Mechanismen. Der Traum holt sein Material aus den Tiefen des Unbewußten. Und was den wahren Dichter ausmacht, ist es nicht die Eigenschaft, daß ihm die Kräfte des Unbewußten zur Verfügung stehen? Goethe erzählt, er habe die meisten Gedichte des Nachts wie im Traume niedergeschrieben.4 Von andern Dichtern kennen wir ähnliche Vorgänge. Die Ekstase des Künstlers, der glühende Schaffensrausch, das Fieber der Produktion sind identische Zustände, in denen sich das Bewußtsein durch Autosuggestion in eine Art somnambulen Zustand, d. h. in einen Traum versetzt. Audi das Kind schöpft aus dem Unbewußten. Audi das Kind hat die Gabe, mit wachen Augen zu träumen. Hier sind wir bei unsern Betrachtungen auf den Punkt gestoßen, wo schon bei oberflächlicher Betrachtung Dichtung und Neurose zusammen treffen. Denn die Neurosen zeitigen ähnliche Zustände. Eine Hysterische kann aus der ihr unerträglichen Welt der Wirklichkeiten in das Reich des Unbewußten flüchten. Das nennen wir Ärzte dann einen hysterischen Anfall. Wir merken aus ihren leidenschaftlichen Bewegungen (attitudes passionnelles), aus ihrem lebhaften Mienenspiele, daß sie während des Anfalles in einer Welt der höchsten Affekte ihren geheimen Wünschen Folge leistet. Wir »Mein Freund, das grad' ist Dichters Werk, Daß er sein Träumen deut' und merk'. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn Wird ihm im Traume aufgetan: All' Dichtkunst und Poeterei Ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.« Moebius (>Goethe< — Leipzig. J. A . Barth. 1903) meint, man könne bei Goethe fast von »Zwangsdichten« sprechen. Er sprang des Nachts aus dem Bette, rannte an das Pult und schrieb, ohne nur den Bogen grade zu rücken, das Gedicht vom Anfang zu Ende in der Diagonale herunter. Die Feder konnte ihn durch das Schnarren und Spritzen aus seinem nachtwandlerischen Dichten wecken, deshalb griff er lieber zum Bleistift. Moebius weist ebenfalls auf die nahen Beziehungen zwischen diesem Zustande und der Hypnose hin. Es sei gar kein Zweifel, daß die dichterische Ekstase ein Pendant der somnambulen Erscheinungen darstelle. Reiches Material über dieses Thema findet sidi bei Behaghel >Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen^ Leipzig 1907. Der Aufsatz kam mir leider erst bei der Korrektur dieses Büchleins in die Hand.

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wissen heute auch — und das danken wir den großartigen Forschungen von Freud — daß es die Welt der Erotik ist, einer Erotik ohne die Hemmungen der Moral und Religion, ohne die Hindernisse der Ethik und der Sitte, in der die Hysterische während des Anfalles lebt. Lebt? Wir könnten ebenso gut sagen träumt \ Die Hysterische erdichtet sich Situationen, die ihr das Leben hartnäckig verweigert oder die sie vom Leben nicht annehmen will und darf. Gehen wir einen Schritt weiter, und wir kommen zur Erkenntnis, daß jeder Neurotiker die Gabe hat, in einer >zweiten< Welt zu leben. Er teilt seine Aufmerksamkeit zwischen Traum und Wirklichkeit. Auch wir Normalen haben unsere Tagträume, unsere Phantasien, die uns in eine zweite, schönere Welt, die Welt der Erfüllungen entführen. Wo liegen da die Unterschiede? Warum muß die Hysterische in den Anfall flüchten, während der Normale seine Phantasien vom Dämmerlicht eines nur schlaftrunkenen, aber nicht seiner Kritik beraubten Bewußtseins bescheinen läßt? Das hängt nur mit dem Umstand zusammen, daß bei dem Neurotiker — wir könnten auch den populären Ausdruck >Nervösen< gebrauchen — diese Phantasien dem wachen Bewußtsein unerträglich sind. J a — noch mehr, seine Begehrungsvorstellungen sind ihm gar nicht bewußt. Er weiß gar nicht, was er sich wünscht. Seine Wünsche stehen im Zeichen der Verdrängung. Jeder Neurotiker leidet, wie ich es in meinem Schriftchen >Die Ursachen der Nervosit ä t (Paul Knepler. Wien 1906) nachgewiesen habe, an einem p s y chischen Konflikte Die Wünsche des Unbewußten dissonieren mit den Wünschen des Bewußtseins. Das gilt nicht nur für die Hysterischen allein, das gilt für alle Neurotiker. Alle Menschen leiden wohl unter dem Zwange, unerträgliche Vorstellungen >verdrängen< zu müssen. Dies individuelle Maß der normalen Verdrängung macht eben jenes Stück Neurose des Normalmenschen aus, das in jedem von uns nachzuweisen ist. Nennen wir dieses Stück die latente Neurose. Allein die verdrängten Vorstellungen des Normalmenschen haben im Laufe der Jahre ihre Affektwerte vollkommen verloren. Sie treten am Tage wie blasse, blutleere Schemen auf oder toben sich in grotesken Sprüngen im Traume der Nacht aus. Beim Neurotiker hängen an den verdrängten Komplexen die Bleigewichte mächtiger Affekte. Er leidet unter unerklärlichen Stimmungen, deren tiefste Ursache gefühlsbetonte Gedankenreihen des Unbewußten sind. Er ist eine gespaltene Persönlichkeit, ein disassociέ, ein >Zerrissener< im Sinne 4

Nestroys. Bewußtes und Unbewußtes stehen miteinander in grimmiger Fehde. Die Verdrängung hat das Unbewußte zu mächtig werden lassen. Seit den ersten Kinderjahren wurden alle peinlichen Affekte ins Unbewußte versenkt, wurde alle verbotene Lust, wurden alle törichten, brennenden Wünsche in fest verriegelten Kammern aufgespeichert und von der Außenwelt abgesperrt. Plötzlich beginnen die unterirdischen Mächte zu grollen und sich zu rühren. Es pocht erst leise an den Wänden. Dann werden die innern Stimmen immer lauter, es dringt nach oben, es verlangt nach Licht, es dürstet nach Betätigung und bemüht sich, die Herrschaft der Seele zu erringen. Die >unbewußten Komplexe< dringen ins Bewußtsein vor. Doch das Bewußtsein stellt sich taub und blind. Es will die Rufe der vergrabenen Wünsche nicht verstehen. Aus diesem Kampfe zwischen unbewußten Regungen und bewußten Hemmungen entsteht in Folge eines Kompromisses zwischen halbem Versagen und halbem Nachgeben die manifeste Neurose. Auch beim Künstler handelt es sich, im Grunde genommen, um eine Spaltung der Persönlichkeit. Auch der Künstler steht unter der Herrschaft der Verdrängung. Audi bei ihm zeitigt die Dissonanz zwischen Bewußtem und Unbewußtem einen psychischen Konflikt. Worin unterscheidet er sich vom Neurotiker? Rank5 meint: »Die konstant fortgeführte Unterdrückung gewisser Triebe und die Bevorzugung anderer, deren gegenseitiges Verhältnis schließlich bei einer immer größeren Anzahl der Nachkommen zur zweiten Natur geworden war, nötigte die Individuen zu noch geringeren Aufwänden und drängte die Empfindung der höchsten Not in einzelne Menschen zusammen, in denen die beiden Naturen noch im Kampf miteinander lagen. Den Konflikt nun, der den Normalen nicht zum Bewußtsein kommen kann, weil er von ihnen allgemein und objektiv empfunden und die Erregung, die diese Empfindung auslöst, im Traum (unbewußt) abgeleitet wird, den erspüren diese Individuen, die Künstler, auf ihr >Ich< projiziert in seiner höchsten individuellen Potenz, wenn er schon überreif für den Traum, aber noch nicht pathogen geworden ist und suchen sich in Kunstwerken, die zunächst an die Form des Mythos anknüpfen, davon zu befreien. Der Künstler steht in psychologischer Beziehung zwischen dem Träumer und dem Neurotiker: der psychische Prozeß in ihnen ist dem Wesen nach gleich, er ist nur graduell verschieden, sowie innerhalb der 5

Der Künstler. Hugo Heller. Wien und Leipzig 1907.

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künstlerischen Begabungen selbst. Die höchsten Formen der künstlerischen Menschen — der Dramatiker, der Philosoph, und der >Religionsstifter< — stehen dem Psychoneurotiker, die niedrigsten Formen dem Träumer am nächsten.« Wir sind bisher von der Voraussetzung ausgegangen, daß der Dichter ein Normalmensch ist, der zum Neurotiker in einem gewissen Gegensatz steht. Wir haben gesehen, daß audi Rank auf diesem Standpunkt steht. Ich kann mich dieser Ansicht nicht vollkommen anschließen. Meine Forschungen haben mir den sichern Beweis erbracht, daß zwischen dem Neurotiker und dem Dichter gar kein Unterschied besteht. Nicht jeder Neurotiker ist ein Dichter. Aber jeder Dichter ist ein Neurotiker. Ich möchte nicht mißverstanden werden. Ich möchte nicht alle Diditer zu >kranken< Menschen stempeln. Ich möchte nicht in den Fehler der Lombroso und Nordau verfallen. Löwenfeld hat in einer anregenden Arbeit 6 den Nachweis geliefert, daß beim Genie von einer »Degenerationspsychose aus der Gruppe der Epilepsie« im Sinne Lombrosos nicht die Rede sein könne. Die Kraft des Genies wurzelt nach diesem Autor nicht im Kranken, sondern im Gesunden. Doch wer könnte es wagen, die Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit zu ziehen? Wo hört das Normale auf und beginnt das Pathologische? Ich habe schon anfangs betont, daß es eigentlich keine Normalmenschen gibt. Daß in jedem Menschen ein Stück latenter Neurose schlummert. Gerade dieses Stück Neurose ist es, das die Grundbedingungen alles Schaffens ausmacht.

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Wir sehen [ . . . ] , daß der Diditer zum eigenen Seelenarzte wird, indem er sich alle seine verdrängten Gedanken in plastischer Form vor Augen führt, sie gewissermaßen ausleben läßt. Es fällt uns die Warnung ein, die Grillparzer in seinem Tagebuch der Selbstbiographie verzeichnet. »Möge jeder, der etwas Tüchtiges werden will, die unangenehmen Gedanken fortdenken, bis sie im Verstände eine Lösung finden!« Daß dies möglich ist, hat er in >Der Traum, ein Lebern erwiesen. Er hat darin alle Konsequenzen des Vater- und Bruderhasses gezogen. Der Bruder ist erschlagen, der Vater vergiftet, die Mutter von ihm verraten. Doch was wäre sein Los ge6

Ü b e r die geniale Geistestätigkeit. M i t besonderer Berücksichtigung des Genies f ü r bildende Kunst. J . F . Bergmann. Wiesbaden 1 9 0 3 .

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wesen, wenn er all dies vollzogen hätte! Mit schrecklicher Unerbittlichkeit steigern sich die Verbrechen bis zum Momente, da Rustan vor Gülnarens Blicken sich in den Abgrund stürzt. Aber er darf aus diesem Traume jauchzend und jubelnd erwachen in dem beseligenden Gefühle, rein dazustehen und den Kampf mit den bösen Dämonen siegreich ausgefochten zu haben. Und wir verstehen den Ausspruch Hebbels: »Das böse Gewissen des Menschen bat die Tragödie erfunden.* Wir lernen aber aus diesem herrlichen Werke, wieviel wir der Neurose des Dichters zu verdanken haben. Hätte Grillparzer seine Werke schaffen können, wenn er ein fern von allen seelischen Konflikten dahinlebender, gesunder Mensch gewesen wäre? Nein und nimmermehr! Die >AhnfrauSapphoTraum, ein LebenWeh dem, der lügt< und alle anderen Werke, sie wären nicht geschrieben worden, hätten nicht die dräuenden Gewalten des Unbewußten nach Entladung verlangt, hätte ihn nicht die Neurose dazu gedrängt, die Erregungen durch >Sublimierung< abzureagieren. Was für dieses Dichterwerk gilt, daß ließe sich bald spielend leicht, bald jedoch nur nach mühseligen Studien an allen anderen Werken nachweisen. Wahrlich, Heine hat recht, wenn er die Dichtung der Perle vergleicht, deren Ursache eine Krankheit ist. Auch wir verdanken alle Schönheit, die die Künstler der Welt geschaffen haben, nur dem Umstände, daß sie krank gewesen, nicht krank im Sinne der Lombroso, daß ihnen nur die Wahl zwischen dem Irrenhause und der Walhalla geblieben, nicht entartet im Sinne der Nordau, daß sie die Sünden ihrer Väter büßend die verfeinerten Nerven und verfeinerten Ohren von krankhaften Schaffenstrieben besäßen. Nein, sie sind Menschen wie wir alle, nervöse Menschen, die an der Unwahrheit einer Zeit erkrankt sind, zwischen deren ethischen Forderungen und deren somatischen Grundlagen ein fast unüberbrückbarer Abgrund gähnt. Wenn diese Brücke einst geschlagen werden sollte, wenn die Wünsche nicht das Filter des Gewissens passieren müssen, ehe sie zur Erfüllung werden, dann wird der letzte Dichter gewesen sein. Ob diese Zeit je kommen wird? Ich glaube es nicht. Eher wird sich die Kluft noch dehnen, die den ethischen Kulturmenschen von dem wilden Urtier trennt. Daß wir beide in der Brust tragen müssen, den aufstrebenden Kulturmenschen und das ewig wühlende wilde Tier, daß wir den einen oder das andere opfern müssen, um unseren Seelenfrieden zu erlangen, 7

oder daß wir feige Kompromisse schließen müssen, schmähliche Waffenstillstände für kürzere oder längere Zeit, das macht die geheimste Ursache aller Neurosen aus. Und eben die Dichter sind es, die diesen Kampf zwischen einst und jetzt, die dieses Durcheinanderwogen von Himmel und Hölle am intensivsten empfinden, weil sie sowohl nach oben wie nach unten die Extreme der Menschheit darstellen. Urkräftig in ihren Trieben, mit überquellendem Sexualleben ausgestattet, mit einer Leidenschaftlichkeit des Begehrens, die über das Normale weit hinausgeht und mit einer Feinheit des Gewissens, mit einer Zartheit der Empfindungen, die das Höchste anstreben, sind sie Kämpfer und Dulder für die Menschheit und zahlen mit ihrem Unglück das Glück der anderen. Jeder Neurotiker ist ein Dichter und lebt in einer geträumten Welt. »Mein Leben ist ein Träumen,« sagt Grillparzer, »und zwar nicht nach jenem griechischen Spruche das eines Wachenden, sondern in der Tat eines, der schläft.«7 Wir modernen Seelenärzte haben die Aufgabe, die Traumgestalten der Kranken ihrer symbolischen Bedeutung zu entkleiden, sie aus dem wunderlichen Traume zu erwecken, ihr geheimes Triebleben aufzudecken und sie mit sicherer Hand in die Wirklichkeit des Lebens zurückzuführen. Wir müssen die Zusammenhänge zwischen Verdrängung und Krankheit klar machen, bis sie verwundert das Auge aufmachen und gleich dem Träumer Rustan die drei Schläge der Uhr wahrnehmen. Dabei 7

»Heute ist etwas Wunderliches geschehen: ich habe im Gehen geträumt. Ich war früh aufgestanden, hatte Wasser aus dem Sauerbrunnen getrunken, gebadet, darauf wieder einen Becher Wasser getrunken und ging im Garten spazieren. D a kam ich auf einmal in einen bisher unbetretenen Teil desselben. E r war so schön, die Baumpartien so reizend, daß ich midi nicht genug wundern konnte, ihn früher nie bemerkt zu haben. Nur waren leider keine Bänke da, indes alles midi einlud, midi niederzulassen. Meine Aufgabe war noch, einen Becher Wasser zu trinken, idi kehrte daher um, mit dem festen Vorsatze, den Platz gleich nach dem Trinken wieder aufzusuchen. Es geschah, ich hatte mir den Weg durch eine früher oft betretene kurze Allee von kleinen Bäumen gemerkt, die Gartenpartie war aber nidit mehr aufzufinden, denn — sie hatte nie existiert. Daß nun dieser Traum — denn für das muß ich es halten — im Gehen sidi ergab, ist das Wunderliche. Sonst ist mir eine A r t Träumen oder Entstehen von unwillkürlichen Bildern, besonders abends, vom Lesen ermüdet, nichts Seltenes; aber im Gehen und mit dieser die Wirklichkeit lügenden Stärke ist es mir noch nie vorgekommen.« 8

merken wir, daß eigentlich jeder Neurotiker ein Dichter ist, daß er aber nicht imstande ist, den Weg aus der Dichtung ins Leben zurückzufinden. Und Dichter gibt es darunter, die nie eine Zeile geschrieben und der Welt übergeben haben und doch die wunderbarsten Dinge erzählen könnten. Aber es fehlt ihnen offenbar die Gabe, all das, was sie bedrängt, in Worte zu fassen und sich wie ein Vulkan durch Eruption von einer glühenden Lavamasse zu befreien. Hier liegt das Rätsel des Dichters verborgen. Woher stammt jene dunkle Kraft, die dem einen die Zunge löst und ihm ermöglicht, aus seinem Schmerze Kunstwerke zu schaffen? Welche Mischung von Verdrängung und Selbsterkenntnis, von Erotik und Keuschheit, von Religion und Atheismus, von Gehorsam und Empörung muß vorhanden sein, daß aus dem leidenden ein schaffender Mensch wird? Noch ist uns die tiefste Erkenntnis über diesen Zusammenhang verschlossen. Uns dämmern bloß einige Wahrheiten Wir wissen, daß die Schöpferkraft der Phantasie die Grundlage alles Schaffens ist. Es ist dieselbe Phantasie, die den Kindern eigen ist und die der Neurotische besitzen muß, weil er ja auf dem infantilen Standpunkt stehen bleibt. Der Dichter ist und bleibt ewig ein Kind. Auch müssen besondere Bedingungen zusammentreffen, um die rastlos arbeitende Phantasie in Formen zu pressen. Die Neurose darf nicht jenen Grad erreichen, der die Arbeitsfreudigkeit des Individuums unterbindet. Die Kraft des Schaffenden darf sich nicht in den seelischen Innenkämpfen vollkommen aufreiben. Von den sogenannten >perversen< Trieben stammt jene wilde Kraft, mit der die größten Werke geschaffen werden. Diese kulturfeindlichen Triebe werden sublimiert und so in den Dienst der Kultur gestellt. Sie sind tatsächlich ein Teil jener Kraft, die das Böse will und das Gute schafft. Namentlich ein Trieb ist es, der mir als die unerläßliche, wichtigste Grundlage künstlerischer Produktion erscheint. Es ist dies der Exhibitionismus — die Freude an der Entblößung, jener urgewaltige, übermächtige Trieb, der sich stets mit der Freude an der Entblößung des andern, mit der Lust des Schauens paart. Was machen die Dichter anderes, als sich und andere entkleiden? Als sich und andere schauen? Dichtung ist psychischer Exhibitionismus. Wieder muß ich meinen vielzitierten Grillparzer als Zeugen aufrufen. Ein kleines Gediditchen, >Paganini< betitelt:

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»Du wärst ein Mörder nicht? Selbstmörder du! Was öffnest du des Busens stilles Haus Und stößt sie aus, die unverhüllte Seele Und wirfst sie hin, den Gaffern eine Lust? Stößt mit dem Dolch nach ihr und triffst; Und klagst und weinst, Und zählst mit Tränen ihre blut'gen Tropfen? Dann aber höhnst du sie und dich, Brichst spottend aus in gellendes Gelächter! Du wärst kein Mörder? Frevler du am Ich, Des eignen Leibs, der eignen Seele Mörder! Und auch der meine — doch ich weich dir aus!« Wir wissen es besser! Wir haben gesehen, daß auch der Dichter seine >unverhüllte Seele< auf den Markt führt, wo sie barfüßig, zitternd, meist erst verlacht und bis sie eine >tote Seele< geworden, bewundert wird. Grillparzer mag Paganini ausweichen wollen. Das Spiel in seiner Brust kann er doch nicht zum Schweigen bringen. »Und schaudernd seh' idi's, entsetzenbetört, — wie mein eigenes Selbst gen midi sich empört« — singt er an einer andern Stelle. Er mag den besten Willen haben, die Seele gefangen zu halten. Vorsatz und Wille werden zunichte, wenn die große schöpferische Stunde naht. Da fallen die Hüllen, und in keuscher, leuchtender Nacktheit entsteht das Kunstwerk. Sind wir dadurch in der Erkenntnis weiter gekommen? Wir haben nur eine kleine Einsicht gewonnen: daß die Krankheit eine wesentliche Grundlage alles Fortschrittes ist. Nicht nur die Dichter — nein auch alle andern Künstler, alle Propheten, Philosophen, Erfinder sind Neurotiker. Die Neurose ist die Quelle allen Fortschrittes. Die Neurose entsteht durch den Konflikt zwischen Natur und Kultur und schafft aus sich heraus selbstherrlich neue Kulturwerte und verbreitert die Kluft, die sich zwischen Natur und Kultur dehnt. Sie wird selbst zur Natur. Krankheit und Gesundheit sind keine Gegensätze. Sie bedingen einander organisch und fließen ineinander durch tausend Übergänge. Eine Welt ohne Hysterie wäre ein trauriges Jammertal. Krankheit und Gesundheit gehören zueinander, wie Lust und Schmerz, eine die andere bedingend und ergänzend — und die Neurose ist die Blüte am Baume der Entwicklung. Die Blüten für die faulen 10

Früchte verantwortlich zu machen, würde doch keinem vernünftigen Menschen einfallen. Die Natur zahlt überall den Fortschritt mit zahllosen Opfern. Damit ein schaffendes, zerstörendes, aufbauendes Genie entstehen kann, müssen tausend nutzlose Opfer, müssen zahllose Neurotiker, die mißlungenen Probestücke eines gelungenen Meisterstückes, in Brüche gehen. Warum das eine Meisterstück aus tausenden gelungen ist? Wer könnte diese Frage zu lösen sich erkühnen? Das ist die Tragödie des Forschers! Glaubt er ein Rätsel gelöst zu haben, ist er mit Harken und Schaufeln mühsam in einen finstern, unbekannten Schacht vorgedrungen, so türmen sich ihm zahllose neue zu einem undurchdringlichen Walle, so daß er es vorzieht, eine Weile das weitere Graben aufzugeben und das kleine Stück Erkenntnis festzuhalten, das ihm gleich einem rettenden Lichte aus dem dunklen unterirdischen Schachte entgegenleuchtet.

[...]

Theodor Reik

Dichtung u n d Psychoanalyse [1912]

Die Dichtung soll aus dem Mythos hervorgegangen sein. Es gibt viele Hypothesen über diese ältesten Phantasieprodukte. Die einleuchtendste schien die zu sein, welche behauptete, der Mythos sei eine Darstellung des Naturgeschehens. Es spiele darin ζ. B. der Kampf zwischen Frühling und Winter eine große Rolle. Ein österreichischer Forscher, Otto Rank, hat indessen schlagend bewiesen, daß die meisten Mythen einen anderen Ursprung haben und das Naturgeschehen für sie erst in zweiter Linie in Betracht kommt. Und dies ist psychologisch wohl einleuchtend. Denn der Mensch stellt alle äußeren Ereignisse in den Dienst seiner Triebkräfte. Derjenige Trieb, welcher am frühesten Beschränkungen, Hemmungen erfuhr, war der Sexualtrieb. Oder vielmehr die Sexualtriebe. Denn dieser eine spaltet sich in mehrere, verschieden nuancierte Partialtriebe, die wir jetzt perverse, abnormale nennen. Der Mythos stellt nun in den meisten Fällen die Sexualisierung des Alls dar und zeigt zugleich, wieweit die Verdrängung, die Unterdrückung unlustbetonter, von der Stammesmoral geächteter Tendenzen ins Unbe1χ

wußte vorgeschritten ist. Denn die ursprünglich sexuelle Natur der Sagen wird durch die Verschiebungen und Verdichtungen des Stoffes immer undeutlicher gemacht, je strenger die Zensur der Moral Handlungen dieser Art verfolgt. Doch kehren immer und bei allen Völkern dieselben Motive wieder, und es ist den Bemühungen von Ethnologen und psychoanalytischen Forschern gelungen, die psychosexuellen Grundlagen des Mythos unter den Überlagerungen und späteren Schichten unzweideutig aufzudecken. Die Verdrängung geht so weit, daß man sich des ursprünglichen Sinnes der Symbole nicht erinnern kann. Wer weiß heute, daß das Kreuz, welches einer Welt als Symbol asexueller Menschenliebe, ja sogar der Askese gilt, aus dem Phallussymbol gewisser Sekten des Altertums entstanden ist? Ein Beispiel klarster Art gibt die ödipussage: ödipus erhält das Orakel, er werde seinen Vater erschlagen und seine Mutter Jokaste heiraten. Er tut es unwissentlich und wird grausam bestraft. Was birgt sich hinter diesen Vorgängen? Wir wissen jetzt aus den Psychoanalysen der Neurotiker, aus Träumen und Fehlhandlungen Gesunder, daß das infantile Seelenleben bedeutende Konflikte aufweist. Die Psychoanalytiker erzählen von Titanenkämpfen der kindlichen Psyche. Es wird Zeit sein, mit der alten Vorstellung: »Dies Kind, kein Engel ist so rein« aufzuräumen. Jedes dieser kleinen Wesen kämpft schon in den ersten fünf Lebensjahren den schweren Kampf zwischen Libido und Moral. Denn unsere erste schnelle Liebe gilt der Mutter und unsere erste Eifersucht, unser erster H a ß dem Vater. Offiziell herrscht noch immer die Meinung, daß Sexualität erst nach der Maturitätsprüfung beginnt. Doch es hilft nicht, die Augen zu schließen: der Sexualtrieb fährt nicht plötzlich in die Menschen wie der Teufel in die Säue (Freud). Schon im zartesten Kindesalter regen sich, primitiv und unbewußt, Kräfte und Willensbestrebungen, die wir unbedingt als sexuelle (im weitesten Sinne des Wortes) bezeichnen müssen. Professor Freud hat nachgewiesen, in welchen Phänomenen sich diese infantile Sexualität äußert (Onanie der Säuglinge, Ludein, infantile Sexualtheorien etc.) und wie großen Einfluß sie bei der Entstehung der Neurose haben. Unter dem Drucke der Erziehung werden alle diese Regungen ins Unbewußte gedrängt, gleichsam verschüttet und kommen nur gelegentlich in der Form des Traumes, der Neurose, der Dichtung empor. Auch die Menschheit durfte in ihren primitiven Stadien allen Regungen nachgeben. Da bekam sie eine böse Gouvernante, 12

die Moral, und jetzt kommt sie von ihren infantilen Reminiszenzen nicht mehr los. Im ödipusmythos lebt also einer dieser allgemeinmenschlichen Kinderwünsche wieder auf: der sexuelle Verkehr mit der Mutter und der erste H a ß gegen den Vater. Die im Unbewußten drängenden Wünsche werden hier plastisch als erfüllt dargestellt und durch die Götter (die Vertreter der Moral) hart gestraft. Der Mythos ist eine Kindheitsphantasie der Menschheit. Jokaste sagt im Drama des Sophokles, jeder Mensch hätte im Traume schon bei der Mutter geschlafen. Dadurch werden wir auf das Thema des Traumes geführt. Man hielt früher den Traum für ein Blindekuhspiel der Vernunft. Wir verdanken den genialen tiefbohrenden Forschungen Freuds (der wie der direkte Fortsetzer der Psychologie Nietzsches erscheint) die Einsicht, daß der Traum unter der Binde hervorschaut und planvoll seine Auswahl trifft. Im Traume kommt alles Triebhafte und Verdrängte herauf und bricht in seltsamen, scheinbar wirren Bildungen durch. Dieselben psychischen Mechanismen wie im Mythos sind hier zu beobachten. Ein vom Wachbewußtsein geächteter Trieb kann sich nur durchsetzen, wenn er verhüllt, verarbeitet, unkenntlich gemacht wird. Das Unbewußte benützt denselben Trick, den Schriftsteller anwenden, wenn sie etwas zum Ausdruck bringen wollen, das der ach so strengen Zensur sittlich oder politisch gefährlich scheint. Es deutet an, es verschiebt, es komprimiert, es spricht in Bildern. So entsteht die Traumarbeit, welche das Bewußtsein an diesem unbewußten Material vornimmt. Alte, vergessene Kinderwünsche erwachen, häßliche, egoistische, rachsüchtige, antisoziale Regungen überraschen uns. Jeder Traum zeigt wie der Mythos eine Wunscherfüllung und fast jeder Traum — die Träume ganz kleiner Kinder ausgenommen — weist jene Verarbeitung durch das Bewußtsein auf, welches die verdrängten Komplexe in die zum Durchbruch geeignete Form bringt. Es bedarf einer in langen Jahren errungenen eigenen Technik, der psychoanalytischen, um die Symbolik des Traumes verstehen zu lernen. Sie muß auf dem Glauben der strengsten Determinierung des Psychischen beruhen. Vielleicht gibt es überall in der Sinnenwelt Freiheit, aber in der Gefühls- und Gedankenwelt herrscht Tyrannei. Seit jeher haben die Dichter geahnt, daß im Traume ein Sinn verborgen liege — sie haben vor dem Psychologen das Problem erkannt. »Alle verschiedenen Arten und Grade der Träume erforscht 13

zu haben, würde bedeuten, in einem weit tieferen Sinn als irgendeinem heutigen Kenner der menschlichen Seele zu sein« (G. Hauptmann). Es wäre vielleicht interessant, wie sich die Dichter unserer Zeit zur Psychoanalyse stellen, doch geht dieses Thema über meinen engen Rahmen hinaus. Die Dichter haben auch den Zusammenhang von Traum und Dichtung entdeckt. Hebbel weist ζ. B. in seinen Tagebüchern bei der Aufzeichnung eines Traumes Christinens darauf hin, und Wagner läßt seinen Hans Sachs sagen: »All Dichtung und Poeterey ist nichts als Wahrtraumdeuterei.« Wir haben die Möglichkeit, diesen Ubergang aufzuzeigen durch den Tagtraum. Jeder junge Mensch träumt auch bei Tage, phantasiert die Erfüllung seiner heißesten Wünsche: Ruhm und Liebe wird ihm zuteil. Eines der größten Werke der Weltliteratur beruht auf denselben psychischen Voraussetzungen wie der Ödipuskonflikt: der >Hamlet< William Shakespeares. Denn der Dänenprinz ist nicht überhaupt unfähig zu handeln; nur bei der jetzigen Aufgabe versagt er. Die Gründe seines Schwankens liegen tiefer als Literarhistoriker zu sehen vermögen. Er kann sich an dem Manne, der durch die Heirat mit seiner Mutter das erfüllt hat, was Hamlet selbst in seiner Kinderzeit gewünscht, nicht rächen. Daher auch seine Selbstvorwürfe. Es wäre töricht annehmen zu wollen, daß Shakespeare sich dieser Tendenzen bewußt war, aber sie schlummerten in ihm. Sein Werk ist kurz nach dem Tode seines Vaters erschienen, der die alten Kindheitswünsche wiedererweckte. Der Dichter achtet auf alle Möglichkeiten, die am Grunde seiner Seele ruhen; er bringt diese Möglichkeiten in Gestalten. Hebbel schreibt, er betrachte diese »Symbolisierung seines Innern« als seine Aufgabe. Dabei kommen immer wieder Komplexe zum Durchbruch, die der Dichter kaum ahnt. Die aufgespeicherten Affekte werden wenigstens teilweise abreagiert. Darin besteht der therapeutische Wert des Schaffens. Wie könnte einer alle diese Krankheiten der Phantasie, Neid, Haß, Eifersucht und Begierde, aushalten, wenn es nicht das Sanatorium der Kunst gäbe? Wahn und Neurose stellen also mißlungene Fluchtversuche aus unverträglichen Vorstellungen und daraus entspringenden Affekten dar; Traum und Dichtung gelungene Abzugsquellen. Nicht ohne Grund haben alle Dichter immer wieder betont, daß ihre Werke Bruchstücke einer großen Konfession seien. Es ist ihnen gegeben, aus ihren Konflikten, statt in die manifeste Neurose, in die Η

Kunst zu flüchten. Wir verstehen nun tiefer das Wort Ibsens: Dichten heiße einen Gerichtstag halten über sein eigenes Ich. Denn es ist eine Beichte und gewährt das Erlösungsgefühl, das diese dem Gläubigen einer Kirche und die Psychoanalyse dem Neurotiker gibt. Vor jedem großen Werke taudien zwei Gedanken auf: an das tiefe Leid, das vor dem Schaffen liegt, und an das hohe Glück, das in der Konzeption und im ersten Entwurf gelegen sein muß. Denn wo der Mensch in seiner Qual verstummt, gibt dem Dichter Gott Äskulap, zu sagen, was er leide. Es liegt mir ferne, in der Art Lombrosos oder Nordaus eine Verbindung zwischen Geisteskrankheit und Genie herstellen zu wollen. Wohl aber besteht eine solche Beziehung zwischen Dichtung und den Psychoneurosen. Auch die Perle ist eine Krankheit der Muschel. »Krankheit ist wohl der tiefste Grund des ganzen Schöpferdrangs gewesen; erschaffend wurde er gesund, erschaffend konnte er genesen.« Die Dichter kämpfen mit denselben Komplexen, an denen die Neurotiker erkranken und mit denen auch wir Normalmenschen zu kämpfen haben. Die moderne Kultur, welche etwa streng Mädchen aus gutem Hause und Mädchen aus einem Freudenhause unterscheidet, verurteilt uns, einen beträchtlichen Teil unserer natürlichen Triebe zu unterdrücken. Es ist ζ. B. nicht möglich, allen Groll und H a ß durch Taten abzureagieren; nicht möglich, eine Beleidigung durch sofortiges Niederstrecken des Gegners zu rächen. Die Gesellschaft verdammt jeden Anschein von Untreue bei den Frauen. Sittlich sein heißt oft soviel wie keine Phantasie haben. Es wird erzählt, daß ein emporgekommener, skrupelloser Geschäftsmann einen bekannten Kunstkritiker zu seiner Gemäldegalerie geführt habe, um ihm zwei Bilder zu zeigen, welche den dunkeln Ehrenmann selbst und seinen Kompagnon darstellten. Der Kritiker wies auf den leeren Raum zwischen den beiden Bildern hin und fragte: »Und wo ist der Heiland?« Der Aggressionstrieb hat hier in die ästhetische Form des Witzes verwandelt werden müssen. Es ließe sich denken, daß einer, der viele Regungen grausamer und rachsüchtiger Art in sich zu bekämpfen hätte, ein genialer Satiriker würde, die uns noch immer psychologisch unerklärbare Begabung vorausgesetzt. Denn keiner, der eine Satire schreibt, ist glücklich — es sei denn während des Schreibens. Das Wesen der dichterischen Arbeit steht dem des hysterischen Identifikationsprozesses nahe. Die Hysterika versetzt sich in ihren 15

Phantasien in das Leben anderer Personen und lebt ihre Schicksale schmerzvoll und selig mit. Wir wissen, daß es ähnlich mit der dichterischen Tätigkeit geht. Flaubert schreibt, er habe bei der Vergiftungsszene der armen Emma Bovary den Arsenikgeschmack auf der Zunge gespürt und mehrere Male erbrochen. »Sie ist tot!« rief Kleist unter Tränen, als er das Ende der Penthesileia geschildert hatte. So glaubt sich Ε. T. A. Hoffmann von den Gestalten seiner Phantasie verfolgt. Alle jene Symptome, welche Lombroso, Möbius, Rahmer und andere Psychiater zu der Diagnose des Wahnsinnes führen, scheinen uns für die Neurose zu sprechen. Alle Dichter — es ist überflüssig, hier Beispiele anzuführen — zeigen ein frühes Sexualleben. Ihre starke Phantasie regt sich zeitlich und kommt mit den Schranken der Umwelt in Konflikt. Und so ziehen sie sich in ihr Inneres zurück, versetzen sich in selbstgeschaffene Welten wie die Neurotiker. Was das Leben ihnen versagt, gewährt ihnen der Tagtraum. Es ist kein Zufall, daß man dem Dichter immer den Mann der Tat gegenüberstellt. Wir kommen hier auf ein psychosexuelles Grundgesetz der Psychoanalyse, welches die Vorbildlichkeit der Sexualität für das Schicksal des Einzelnen aufklärt: Wie einer in seiner vita sexualis ist, so ist er auch im übrigen Leben. Der Dichter hat auch gewisse Ähnlichkeiten mit dem Kinde, und Schiller hat diesen Zusammenhang geahnt, wenn er die Poesie aus dem Spieltriebe entstehen ließ. Das Kind, welches ein Stück Holz nimmt und sich mit ihm unterhält, es kost wie eine Puppe, zeigt, wie stark die Fähigkeit der Poetisation in ihm ist. Als Tolstoi einmal in seiner kleinen Volksschule die Kinder Märchen erdichten ließ, war er überrascht von der großartigen Phantasie und der dichterischen Fähigkeit der kleinen Dorfjungen. Das Spiel ist dem Kinde durchaus ernst, so ernst, wie dem Dichter sein Werk. Und wenn Balzac auf eine rohe Mauer hinweisend rief: »Dies ist Marmor!«, so sehen wir den Zusammenhang deutlich. In jedem Dichter steckt ein Kind, in jedem Kind ein Dichter. Der Wiener Nervenarzt Dr. Wilhelm Stekel hat eine Umfrage an unsere bedeutendsten Dichter über ihre Träume ergehen lassen (sein Buch >Die Träume der Dichter< wird bald bei Bergmann erscheinen). Es fällt auf, daß diese Träume meistens sehr prosaischer Natur sind, während die der Neurotiker sonst außerordentlich poetisch sind. So träumt etwa Rosegger sich in seine Lehrlingszeit zurück und lebt wieder in allen Ängsten vor dem gestrengen Meister. Psychologisch ist diese Nüchternheit wohl erklärlich: der Dich16

ter hat eben in seinem Werke andere Abzugsquellen seiner unbewußten Wünsche. Es wäre noch viel über die Wirkung der Kunst zu sagen. Der Zuschauer oder Leser versetzt sich gleich dem Dichter in die Lage der Personen eines Werkes, was ihm durch die Allgemeinheit der dargestellten oder geahnten Regungen möglich wird (Einfühlung). Er sieht etwa mit den Personen der >Gespenster< die Folgen des Sexualtriebes, im >Wallenstein< die des Ehrgeizes (unbewußt wirkt die infantile Opposition gegen den Vater-Kaiser mit) und reagiert die Affekte durch Beifall, Rührung usw. ab. Diese Abfuhr unbewußter Regungen ist es, welche die tiefe Wirkung der Tragödie erst ermöglicht. Die berühmte Definition des Aristoteles, die Tragödie sei die Nachahmung einer Handlung περαίνουσα δι' έλέου και φόβου την των τοιούτων παθημάτων κάθαρσιν erhält so den tiefsten Sinn. Schon der Stagirite hat diesen Zusammenhang wenigstens geahnt, als er den Ausdruck Katharsis der Medizin entlehnte. Breuer und Freud nannten jene Methode, welche durch Aussprechen die Abfuhr unlustbetonter Komplexe ermöglicht, die kathartische (»Studien über HysterieStreit der Fakult ä t e n noch nicht ausgebrochen ist, sondern künstlerische, wissenschaftliche und religiöse Möglichkeiten noch ruhig nebeneinander schlummern, oder die andere Tatsache, daß beim Primitiven die Ansätze zur Kunst, zur Wissenschaft und Religion noch ungetrennt im Chaos der magischen Mentalität beisammenliegen, oder endlich jene dritte Tatsache, daß beim Tiere vom >Geiste< überhaupt noch nichts zu merken ist, sondern bloß vom >Naturinstinkt< — alle diese Tatsachen beweisen nichts für eine prinzipielle Einheit des Wesens von Kunst und Wissenschaft, die allein eine gegenseitige Subsumption, beziehungsweise eine Reduktion des einen auf das andere berechtigen würde. Denn, wenn wir im geistigen Entwicklungszustand so weit zurückgehen, bis die prinzipiellen Unterschiede der einzelnen Geistesgebiete überhaupt unsichtbar geworden sind, so sind wir damit nicht zur Erkenntnis eines tieferen Prinzips ihrer Einheit gelangt, sondern bloß zu einem entwicklungsgeschichtlich früheren Zustand der Undifferenziertheit, in welchem weder das eine noch das andere existierte. Dieser elementare Zustand ist aber kein Prinzip, aus dem wir einen Schluß auf das Wesen späterer und höher entwickelter Zustände ableiten könnten, auch wenn diese direkt, wie dies ja stets der Fall ist, daraus hervorgehen. Eine wissenschaftliche Einstellung wird natürlich stets die Neigung haben, zugunsten einer kausalen Ableitung das Wesen einer Differenzierung zu übersehen, und danach trachten, diese einem zwar allgemeinen, aber auch elementareren Begriffe unterzuordnen. Diese Überlegungen scheinen mir heute gerade sehr am Platze zu sein, denn wir haben es in neuerer Zeit vielfach erlebt, daß besonders dichterische Kunstwerke in einer Art gedeutet worden sind, welche eben gerade dieser Zurückführung auf elementarere Zustände entspricht. Man kann wohl die Bedingungen des künstlerischen Schaffens, den Stoff und dessen individuelle Behandlung zum Beispiel auf das persönliche Verhältnis des Dichters zu seinen Eltern zurückführen, wobei aber für das Verständnis seiner Kunst nichts gewonnen ist. Man kann nämlich dieselbe Zurückführung in allen möglichen anderen Fällen, und nicht zuletzt auch bei krankhaften Störungen machen. Auch Neurosen und Psychosen sind auf das Verhältnis des Kindes zu den Eltern zu reduzieren, so gut wie gute und schlechte Gewohnheiten, Überzeugungen, Eigenarten, Leidenschaften, besondere Interessen usw. Man kann aber nicht wohl anneh20

men, daß alle diese sehr verschiedenartigen Dinge sozusagen eine und dieselbe Erklärung hätten, sonst käme man ja zum Schlüsse, daß sie auch eine und dieselbe Sache wären. Wenn also ein Kunstwerk genau so erklärt wird wie eine Neurose, so ist entweder das Kunstwerk eine Neurose oder die Neurose ein Kunstwerk. Als ein paradoxes Wortspiel könnte man eine solche fa9on de parier gelten lassen, aber der gesunde Menschenverstand sträubt sich dagegen, Kunstwerk und Neurose auf einer Linie zu sehen. Eine Neurose wird höchstens ein analysierender Arzt durch die Brille eines professionellen Vorurteils als Kunstwerk ansehen können, aber dem denkenden Laien wird es nie einfallen, ein krankhaftes Phänomen mit Kunst zu verwechseln, wennschon auch er die Tatsache nicht leugnen kann, daß das Zustandekommen eines Kunstwerkes unter ähnlichen psychischen Vorbedingungen steht wie eine Neurose. Dem ist aber natürlicherweise so, weil gewisse psychische Vorbedingungen überall vorhanden sind, und zwar sind es — wegen der relativen Gleichheit der menschlichen Lebensbedingungen — immer wieder dieselben, handle es sich nun um einen nervösen Gelehrten, um einen Dichter oder um einen Normalmenschen. Alle haben wohl Eltern gehabt, alle haben einen sogenannten Vater- und Mutterkomplex, alle haben Sexualität und damit gewisse typische, allgemein menschliche Schwierigkeiten. D a ß dieser Dichter mehr von seinem Verhältnis zum Vater, jener aber mehr von seiner Mutterbindung beeinflußt ist, ein dritter endlich in seinen Werken unverkennbare Spuren von Sexualverdrängung aufweist, all das läßt sich audi von allen Neurotikern und überdies von allen normalen Menschen sagen. U n d darum ist f ü r die Beurteilung des Kunstwerkes damit nichts Spezifisches gewonnen. Bestenfalls wird dadurch die Kenntnis der historischen Vorbedingungen erweitert und vertieft. Tatsächlich hat die von Freud inaugurierte Richtung der medizinischen Psychologie f ü r den Literarhistoriker manche neue Anregung gegeben, gewisse Eigenarten des individuellen Kunstwerkes in Zusammenhang mit persönlichen, intimen Erlebnissen des Dichters zu bringen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die wissenschaftliche Behandlung des dichterischen Kunstwerkes nicht schon längst gewisse Fäden aufgedeckt hätte, welche das persönliche, intime Erleben des Dichters seinem Werke — absichtlich oder unabsichtlich — eingewoben hat. Die Arbeiten von Freud ermöglichen aber eine unter Umständen tiefergreifende und mehr erschöpfende Aufzeigung der Einflüsse der bis in die früheste Kindheit zurückreichenden 21

Erlebnisse auf das künstlerische Schaffen. Mit Maß und Geschmack angewendet, ergibt sich ein oft reizvolles Gesamtbild von der Art, wie die künstlerische Schöpfung in das persönliche Leben des Künstlers einerseits verwoben ist, anderseits wieder aus dieser Verflechtung hervortritt. Insoweit unterscheidet sich die sogenannte Psychoanalyse des Kunstwerkes im Prinzip keineswegs von einer weitgehenden und geschickt nuancierten literarisch-psychologischen Analyse. Der Unterschied ist höchstens ein gradueller, aber gelegentlich überraschend durch indiskrete Schlüsse und Nachweise, die einem etwas delikateren Zufassen schon aus Taktgefühl leicht entgehen. Dieser Mangel an Scheu vor dem Menschlich-Allzumenschlichen ist eben die professionelle Eigentümlichkeit einer medizinischen Psychologie, die, wie schon Mephistopheles richtig erkannt hat, gerne »zum Willkomm« »nach allen Siebensachen tappt«, »um die ein andrer viele Jahre streicht« — aber leider nicht immer zu ihrem eigenen Vorteil. Die Möglichkeit kühner Schlüsse verführt leicht zu Gewaltstreichen. Ein klein bißchen chronique scandaleuse ist oft das Salz einer Biographie, aber ein bißchen mehr ist unreinliche Schnüffelei, eine Katastrophe des guten Geschmackes unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Unversehens wendet sich dabei das Interesse vom Kunstwerk ab und verliert sich im labyrinthisch verschlungenen Gewirre psychischer Vorbedingungen, und der Dichter wird zum klinischen Fall, eventuell zum soundsovielten Beispiel der psychopathia sexualis. Damit hat aber auch die Psychoanalyse des Kunstwerkes sich aus ihrem Objekt heraus entfernt und die Diskussion auf ein Gebiet verlegt, das ganz allgemein menschlich und für den Künstler nicht im geringsten spezifisch und namentlich für seine Kunst sehr unwesentlich ist. Diese Art Analyse führt vor das Kunstwerk, in die Sphäre allgemein menschlicher Psychologie, aus der neben dem Kunstwerk auch noch alles andere entstehen kann. Eine hieraus auf das Kunstwerk bezogene Erklärung ist demgemäß eine Flachheit, wie etwa der Satz: »Jeder Künstler ist ein Narziß«. Jeder, der seine eigene Linie soviel wie möglich durchführt, ist ein >NarzißMuß< steht, das sofort seine Forderung gebieterisch kundtäte, wenn ein willkürlicher Verzicht auf die schöpferische Tätigkeit stattfände, oder wo unmittelbar schwere psychische Komplikationen eintreten, wenn eine unwillkürliche Unterbrechung der Produktion sich ereignete. Die praktische Analyse von Künstlern zeigt immer wieder aufs neue, wie stark der aus dem Unbewußten quellende Trieb künstlerischen Schaffens ist, und ebenso, wie launisch und eigenmächtig er ist. Wie viele Biographien großer Künstler haben es nicht schon längst bewiesen, daß ihr Schöpferdrang so groß war, daß er sogar alles Menschliche an sich riß und in den Dienst des Werkes stellte, selbst auf Kosten der Gesundheit und des gewöhnlichen Menschenglückes! Das ungeborene Werk in der Seele des Künstlers ist eine Naturkraft, die entweder mit tyrannischer Gewalt oder mit jener subtilen List des Naturzweckes sich durchsetzt, unbekümmert um das persönliche Wohl und Wehe des Menschen, welcher der Träger des 29

Schöpferischen ist. Das Schöpferische lebt und wächst im Menschen wie ein Baum im Boden, dem er seine Nahrung abzwingt. Wir tun daher gut daran, den schöpferischen Gestaltungsprozeß wie ein lebendiges Wesen anzusehen, das der Seele des Menschen eingepflanzt ist. Die analytische Psychologie nennt dies einen autonomen Komplex, der als abgetrennte Teilseele ein selbständiges, der Hierarchie des Bewußtseins entzogenes psychisches Leben führt und entsprechend seinem energetischen Wert, seiner Kraft, entweder nur als Störung der willkürlich gerichteten Bewußtseinsprozesse erscheint oder als übergeordnete Instanz das Ich sogar in seinen Dienst nehmen kann. Dementsprechend wäre jener Dichter, der mit dem schöpferischen Prozeß sich identifiziert, einer, der von vornherein ja sagt, wenn ein unbewußtes >Muß< droht. Jener andere aber, dem das Schöpferische als eine beinah fremde Gewalt gegenübertritt, ist einer, der aus irgendwelchen Gründen nicht ja sagen kann und deshalb vom >Muß< überrascht wird. Man sollte erwarten, daß die Verschiedenartigkeit seiner Entstehung einem Werke audi anzufühlen sei. Im einen Falle handelt es sich ja um eine absichtliche, vom Bewußtsein begleitete und gerichtete Produktion, welche mit Überlegung zu beabsichtigter Form und Wirkung aufgebaut wird. Im anderen Fall handelt es sich aber um ein aus unbewußter Natur entspringendes Geschehen, das sich ohne das Dazutun des menschlichen Bewußtseins, sogar gelegentlich gegen dasselbe, durchsetzt und sich seine Form und Wirkung eigenwillig erzwingt. Man müßte also in jenem Falle erwarten, daß das Werk nirgends die Grenzen des bewußten Verständnisses überschreite, daß es sich gewissermaßen innerhalb des Rahmens der Absicht erschöpfe und in keinerlei Weise mehr sage, als was vom Autor hineingelegt wurde. In diesem Falle müßte man sich auf etwas Überpersönliches gefaßt machen, das die Reichweite bewußten Verständnisses um ebenso viel überschreitet, als das Bewußtsein des Autors von der Entwicklung seines Werkes entfernt ist. Man dürfte Fremdartigkeit von Bild und Form erwarten, Gedanken, die nur ahnungsweise zu erfassen wären, eine bedeutungsschwangere Sprache, deren Ausdrücke den Wert echter Symbole hätten, weil sie bestmöglich noch Unbekanntes ausdrücken und Brücken sind, zu einem unsichtbaren Ufer hinübergeschlagen. Diese Kriterien sind im ganzen und großen audi zutreffend. Wo es sich immer um ein anerkannt beabsichtigtes Werk über einen bewußt gewählten Stoff handelt, dürften die zuerst genannten Eigen3°

schaften stimmen, ebenso in letzterem Falle. Das uns bereits geläufige Beispiel von Schillers Dramen einerseits und Faust, z. Teil, andererseits, oder nodi besser Zarathustra, dürfte das Gesagte illustrieren. Ich möchte mich aber nicht ohne weiteres anheischig machen, das Werk eines unbekannten Dichters unmittelbar dieser oder jener Klasse zuzuteilen, ohne vorher einigermaßen gründlich das persönliche Verhältnis des Dichters zu seinem Werke untersucht zu haben. Es genügt sogar nicht einmal, zu wissen, ob ein Dichter zum introvertierten oder extravertierten Typus gehört, denn beide Typen haben die Möglichkeit, das eine Mal in extravertierter und das andere Mal in introvertierter Einstellung zu produzieren. Bei Schiller sehen wir dies besonders im Unterschied zwischen seiner poetischen und seiner philosophischen Produktion, bei Goethe im Unterschied zwischen seinen formvollendeten Dichtungen und seinem Kampf um die Gestaltung der Inhalte des zweiten Teiles, bei Nietzsche im Unterschied zwischen seinen Aphorismen und dem zusammenhängenden Strom des Zarathustra. Der selbe Dichter kann zu verschiedenen seiner Werke verschiedene Einstellungen haben, und es müßte vom jeweiligen Verhältnis abhängig gemacht werden, welche Art von Maßstab anzulegen wäre. Diese Frage ist, wie man sieht, unendlich kompliziert. Aber die Komplikation erhöht sich noch, wenn wir das vorher besprochene Räsonnement über den Fall des mit dem Schöpferischen identischen Dichters mit in den Kreis unserer Betrachtungen ziehen. Sollte es so sein, daß auch die bewußte und absichtsvolle Produktionsweise in ihrer scheinbaren Absichtlichkeit und Bewußtheit bloß eine subjektive Illusion des Dichters wäre, so hätte auch sein Werk jene symbolischen, ins Unbestimmte reichenden und das zeitgenössische Bewußtsein übersteigenden Eigenschaften. Sie wären nur versteckter, weil audi der Leser nicht über die durch den Zeitgeist festgelegten Grenzen des Bewußtseins des Autors hinausreichte. Denn audi er bewegt sich innerhalb der Grenzen des zeitgenössischen Bewußtseins und hätte keinerlei Möglichkeit, sich eines archimedischen Punktes außerhalb seiner Welt zu bemächtigen, mittels dessen er imstande wäre, sein zeitgenössisches Bewußtsein aus den Angeln zu heben, mit anderen Worten: in einem Werke dieser Art das Symbol zu erkennen. Symbol aber würde heißen: Möglichkeit und Andeutung eines noch weiteren, höheren Sinnes jenseits unseres derzeitigen Fassungsvermögens. Diese Frage ist, wie gesagt, delikat. Ich werfe sie eigentlich bloß 31

auf, um durch meine Typisierung die Bedeutungsmöglichkeit des Kunstwerkes nicht einzuschnüren, auch wenn es anscheinend nichts anderes sein oder sagen will, als was es offenkundig ist und sagt. Wir haben aber öfters erlebt, daß man einen Dichter plötzlich wieder entdeckt. Dies geschieht dann, wenn unsere Bewußtseinsentwicklung eine höhere Stufe erklommen hat, von der aus betrachtet der alte Dichter uns etwas Neues sagt. Es lag zuvor schon in seinem Werk, war aber ein verstecktes Symbol, welches zu lesen uns nur durch eine Erneuerung des Zeitgeistes verstattet ist. Es bedurfte anderer, neuer Augen, denn die alten konnten darin nur sehen, was sie zu sehen gewohnt waren. Dergleichen Erfahrungen müssen uns wohl vorsichtig stimmen, denn sie geben meiner vorhin entwickelten Ansicht recht. Das zugegebenermaßen symbolische Werk bedarf dieser Subtilität nicht, es ruft uns schon durch seine ahnungsreiche Sprache zu: Ich bin im Begriffe, mehr zu sagen, als was ich tatsächlich sage; ich >meine< über mich hinaus. Hier können wir die Hand auf das Symbol legen, auch wenn uns eine befriedigende Enträtselung nicht gelingt. Das Symbol bleibt ein ständiger Vorwurf unseres Nachdenkens und Nachfühlens. Daher rührt auch wohl die Tatsache, daß das symbolische Werk mehr anregt, sozusagen weiter bohrt in uns und uns deshalb selten zu einem ganz reinen ästhetischen Genuß gelangen läßt, während das manifest nicht symbolische Werk viel reiner zum ästhetischen Empfinden spricht, weil es uns den harmonischen Anblick der Vollendung gestattet. Was aber hat nun, so wird man fragen, die analytische Psychologie zum Kernproblem des künstlerischen Schaffens, zum Geheimnis des Schöpferischen beizubringen? Alles, wovon wir bisher sprachen, ist doch wohl nichts als psychische Phänomenologie. Da »ins Inn're der Natur kein erschaffner Geist« eindringt, so werden wir auch von unserer Psychologie nicht das Unmögliche erwarten, nämlich eine gültige Erklärung des großen Lebensgeheimnisses, das wir im Schöpferischen unmittelbar fühlen. Wie jede Wissenschaft, so hat auch die Psychologie nur einen bescheidenen Beitrag zur besseren und tieferen Kenntnis der Lebensphänomene bereit, aber sie ist ebenso weit vom absoluten Wissen entfernt wie ihre Schwestern. Wir sprachen soviel von Sinn und Bedeutung des Kunstwerkes, daß man den prinzipiellen Zweifel, ob die Kunst wirklich >bedeutebedeutet< die Kunst gar nicht, hat gar keinen >SinnbedeutetBedeutung< notwendigerweise mehr als bloße Deutung, >hineingeheimnißt< durch das Bedürfnis eines sinnhungrigen Intellektes? Kunst — könnte man sagen — ist Schönheit, und darin erfüllt und genügt sie sich selbst. Sie braucht keinen Sinn. Die Frage nach dem Sinn hat mit der Kunst nichts zu schaffen. Wenn ich mich innerhalb der Kunst stelle, so muß ich mich wohl der Wahrheit dieses Satzes unterwerfen. Wenn wir aber von dem Verhältnis der Psychologie zum Kunstwerk sprechen, so stehen wir schon außerhalb der Kunst, und dann können wir nicht anders, wir müssen spekulieren, wir müssen deuten, damit die Dinge Bedeutung bekommen, sonst können wir ja doch gar nicht darüber denken. Wir müssen das in sich selbst sich erfüllende Leben und Geschehen in Bilder, in Sinne, in Begriffe auflösen, wissentlich dabei vom lebendigen Geheimnis uns entfernend. Solange wir im Schöpferischen selbst befangen sind, sehen und erkennen wir nicht, wir dürfen sogar nicht einmal erkennen, denn nichts ist dem unmittelbaren Erleben schädlicher und gefährlicher als die Erkenntnis. Zum Erkennen aber müssen wir uns außerhalb des schöpferischen Prozesses begeben und ihn von außen ansehen, und dann erst wird er zum Bilde, welches Bedeutungen ausspricht. Dann dürfen wir nicht nur, sondern müssen sogar von Sinn sprechen. Und damit wird das, was reines Phänomen zuvor war, zu etwas, das im Zusammenhang mit anderen Phänomenen etwas bedeutet, etwas, das eine bestimmte Rolle spielt, gewissen Zwecken dient, sinnvolle Wirkungen ausübt. Und wenn wir das alles sehen können, so haben wir das Gefühl, etwas erkannt und erklärt zu haben. Damit ist das Bedürfnis der Wissenschaft wahrgenommen. Als wir im Vorangegangenen vom Kunstwerk sprachen als von einem Baum, der aus der nährenden Erde wächst, so hätten wir wohl ebensogut den geläufigeren Vergleich mit dem Kind im Mutterleibe verwenden können. Da aber alle Vergleiche hinken, so wollen wir uns statt Metaphern lieber der präziseren, wissenschaftlichen Terminologie bedienen. Ich erinnere daran, daß ich das in statu nascendi befindliche Werk als einen autonomen Komplex bezeichnet habe. Mit diesem Begriff bezeichnet man schlechthin alle psychischen Bildungen, die zunächst ganz unbewußt sich entwickeln und erst von dem Moment an, wo sie den Schwellenwert des Bewußtseins erreichen, auch ins Bewußtsein durchbrechen. Die Assoziation, die sie dann mit dem Bewußtsein eingehen, hat nicht die Bedeutung einer Assimilation, sondern einer Perzeption, womit ausgedrückt 33

ist, daß der autonome Komplex zwar wahrgenommen wird, aber nicht der bewußten Kontrolle, weder der Hemmung noch der willkürlichen Reproduktion, unterworfen werden kann. Darin eben erweist sich der Komplex als autonom, daß er dann und in solcher Art auftritt oder verschwindet, wie es seiner ihm innewohnenden Tendenz entspricht; er ist unabhängig von der Willkür des Bewußtseins. Diese Eigentümlichkeit hat auch der schöpferische Komplex mit allen andern autonomen Komplexen gemeinsam. U n d eben hier kommt nun audi die Möglichkeit einer Analogie mit krankhaften seelischen Vorgängen herein, denn gerade diese letzteren sind durch das Auftreten autonomer Komplexe gekennzeichnet, darunter am allermeisten die Geistesstörungen. Die göttliche Raserei des Künstlers hat eine gefährlich reale Beziehung zum Krankhaften, ohne mit diesem identisch zu sein. Die Analogie besteht im Vorhandensein eines autonomen Komplexes. Die Tatsache eines solchen Vorhandenseins beweist aber an und f ü r sich nocli nichts Krankhaftes, denn auch normale Menschen sind zeitweise oder dauernd unter der Herrschaft autonomer Komplexe. Diese Tatsache gehört einfach zu den normalen Eigentümlichkeiten der Psyche, und es gehört schon ein höheres M a ß an Unbewußtheit dazu, wenn einer sich der Existenz eines autonomen Komplexes nicht bewußt sein sollte. So hat zum Beispiel jede einigermaßen differenzierte typische Einstellung die Tendenz, zu einem autonomen Komplex zu werden, und in den meisten Fällen wird sie es audi. Auch jeder Trieb hat mehr oder weniger die Eigenschaft des autonomen Komplexes. Der autonome Komplex ist daher an und f ü r sich nichts Krankhaftes, nur sein gehäuftes und störendes Auftreten beweist Leiden und Krankheit. Wie entsteht nun ein autonomer Komplex? Aus irgendwelchem Anlaß — dessen nähere Untersuchung uns hier viel zu weit führen würde — wird eine bisher unbewußte Region der Psydie in Tätigkeit versetzt; durch die Belebung entwickelt sie sich und vergrößert sich durch Einbeziehung verwandter Assoziationen. Die Energie, die hierfür gebraucht wird, wird natürlich dem Bewußtsein entzogen, wenn letzeres es nicht vorzieht, sich selber mit dem Komplex zu identifizieren. Ist dies nicht der Fall, so entsteht das, was Janet als »abaissement du niveau mental« bezeichnet hat. Die Intensität bev/ußter Interessen u n d Tätigkeiten schwindet allmählich, wodurch entweder eine apathische Inaktivität — ein bei Künstlern so häufiger Zustand — oder eine regressive Entwicklung der bewußten Funktionen entsteht, das heißt ein Heruntersteigen derselben auf 34

ihre infantilen und archaischen Vorstufen, also etwas wie eine Degeneration. Die »parties inferieures des fonctions« drängen sich v o r : das Triebhafte gegenüber dem Ethischen, das Naiv-Infantile gegenüber dem Überlegten, Erwachsenen, die Unangepaßtheit gegenüber der Anpassung. Auch das kennen wir aus dem Leben vieler Künstler. Aus dieser der bewußten Persönlichkeitsführung entzogenen Energie wächst der autonome Komplex. Woraus aber besteht der autonome schöpferische Komplex? Das kann man zunächst überhaupt nicht wissen, solange das vollendete Werk uns nicht einen Einblick in seine Grundlagen eröffnet. Das Werk gibt uns ein ausgearbeitetes Bild im weitesten Sinne. Dieses Bild ist der Analyse zugänglich, insofern wir es als Symbol erkennen können. Insofern wir aber keinen Symbolwert darin zu entdecken vermögen, haben wir damit festgestellt, daß es, f ü r uns wenigstens, nicht mehr meint als es offenkundigerweise sagt, oder mit andern Worten: daß es f ü r uns nicht mehr ist als das, was es scheint. Ich sage >scheint< — denn möglicherweise erlaubt unsere Befangenheit keine weiteren Ahnungen. Jedenfalls aber finden wir in diesem letzteren Fall keinen Anlaß und keinen Angriffspunkt f ü r eine Analyse. Im ersteren Falle aber werden wir, wie eines Grundsatzes, eines Wortes von Gerhart Hauptmann uns erinnern: »Dichten heißt, hinter Worten das U r w o r t erklingen lassen«. In psychologische Sprache übersetzt, würde unsere erste Frage lauten: Auf welches urtümliche Bild des kollektiven Unbewußten kann das im Kunstwerk entwickelte Bild zurückgeführt werden? Diese Frage bedarf der Erklärung in mehrfacher Hinsicht. Ich habe hier, wie schon gesagt, den Fall eines symbolischen Kunstwerkes angenommen und überdies eines, dessen Quelle nicht im persönlichen Unbewußten des Autors zu suchen ist, sondern in jener Sphäre unbewußter Mythologie, deren urtümliche Bilder Gemeingut der Menschheit sind. Ich habe deshalb diese Sphäre als das kollektive Unbewußte bezeichnet und damit unterschieden von einem persönlichen Unbewußten, als welches ich die Totalität jener psychischen Vorgänge und Inhalte bezeichne, die an sich bewußtseinsfähig wären, des öfteren es auch schon waren, aber infolge ihrer Inkompatibilität der Verdrängung unterliegen und somit künstlich unter der Schwelle des Bewußtseins gehalten werden. Auch aus dieser Sphäre fließen der Kunst Quellen zu, aber trübe, welche, wenn überwiegend, das Kunstwerk nicht zu einem symbolischen, sondern zu einem symptomatischen machen. Diese Art von Kunst dürfen 35

wir wahrscheinlich ohne Schaden und ohne Reue der Freudschen Purgiermethode überlassen. Im Gegensatz zum persönlichen Unbewußten, das gewissermaßen eine relativ oberflächliche Schicht gleich unter der Schwelle des Bewußtseins ist, hat das kollektive Unbewußte unter normalen Bedingungen keine Bewußtseinsfähigkeit, kann darum auch mit keiner analytischen Technik zur Wiedererinnerung gebracht werden, denn es ist nicht verdrängt und nicht vergessen. An und für sich existiert das kollektive Unbewußte auch gar nicht, indem es nämlich nichts ist als eine Möglichkeit, jene Möglichkeit nämlich, die uns seit Urzeiten in der bestimmten Form der mnemischen Bilder oder, anatomisch ausgedrückt, in der Gehirnstruktur vererbt ist. Es gibt keine angeborenen Vorstellungen, wohl aber angeborene Möglichkeiten von Vorstellungen, welche audi der kühnsten Phantasie bestimmte Grenzen setzen, sozusagen Kategorien der Phantasietätigkeit, gewissermaßen Ideen a priori, deren Existenz ohne die Erfahrung aber nicht ausgemacht werden kann. Sie erscheinen nur im gestalteten Stoffe als regulative Prinzipien seiner Gestaltung, das heißt nur durch Rückschluß aus dem vollendeten Kunstwerk vermögen wir die primitive Vorlage des urtümlichen Bildes zu rekonstruieren. Das urtümliche Bild oder der Archetypus ist eine Figur, sei sie Dämon, Mensch oder Vorgang, die sich im Laufe der Geschichte da wiederholt, wo sich schöpferische Phantasie frei betätigt. Es ist daher in erster Linie mythologische Figur. Untersuchen wir diese Bilder des näheren, so entdecken wir, daß sie gewissermaßen die formulierte Resultante unzähliger typischer Erfahrungen der Ahnenreihe sind. Sie sind gewissermaßen die psychischen Residuen unzähliger Erlebnisse desselben Typus. Sie schildern Millionen individueller Erfahrungen im Durchschnitt und geben dergestalt ein Bild des psychischen Lebens, zerteilt und projiziert in die vielfachen Gestalten des mythologischen Pandämoniums. Aber auch die mythologischen Gestalten sind für sich selbst schon Elaborate schöpferischer Phantasie, und sie harren noch ihrer Übersetzung in eine begriffliche Sprache, wovon erst mühsame Anfänge existieren. Die zum größten Teil noch zu schaffenden Begriffe könnten uns eine abstrakte, wissenschaftliche Erkenntnis der unbewußten Prozesse vermitteln, welche die Wurzeln der urtümlichen Bilder sind. In jedem dieser Bilder ist ein Stück menschlicher Psychologie und menschlichen Schicksals eingeschlossen, ein Stück Leid und Lust, das in der Ahnenreihe sich ungezählte Male ereignet hat und durchschnittlich auch immer 36

denselben Ablauf nahm. Es ist wie ein der Seele tief eingegrabenes Strömungsbett, wo das Leben, das vorher unsicher tastend sich über weite, aber seichte Oberflächen verbreitete, plötzlich mächtig in Fluß gerät, wenn es jene besondere Verkettung von Umständen erreicht, die seit jeher zum Zustandekommen des Urbildes beigetragen haben. Der Moment, wo die mythologische Situation eintritt, ist immer gekennzeichnet durch eine besondere emotionale Intensität; es ist, wie wenn Saiten in uns berührt würden, die sonst nie klangen, oder Gewalten entfesselt würden, von deren Dasein wir nichts ahnten. Der Anpassungskampf ist eine mühsame Sache, da wir uns beständig mit individuellen, das heißt atypischen Bedingungen auseinanderzusetzen haben. Es ist aber kein Wunder, daß wir dann, wenn wir eine typische Situation erreichen, plötzlich entweder eine ganz besondere Befreiung verspüren, uns wie getragen fühlen, oder daß es uns ergreift wie eine übermächtige Gewalt. Wir sind in solchen Momenten nicht mehr Einzelwesen, sondern Gattung, die Stimme der ganzen Menschheit erhebt sich in uns. Daher ist auch der Vereinzelte wenig imstande, seine Kräfte in vollem Maße zu nützen, es sei denn, daß eine dieser Kollektivvorstellungen, die man Ideale nennt, ihm zu Hilfe kommt und alle jene Instinktkräfte in ihm entfesselt, deren Zugang der gewöhnliche bewußte Wille allein niemals finden kann. Die wirksamsten der Ideale sind immer mehr oder weniger durchsichtige Varianten eines Archetypus, was man leicht daran erkennen kann, daß solche Ideale gerne allegorisiert werden, zum Beispiel das Vaterland als Mutter, wobei der Allegorie allerdings nicht die geringste Motivkraft zukommt, welche nämlich dem Symbolwerte der Vaterlandsidee entstammt. Der Archetypus nämlich ist die sogenannte participation mystique des Primitiven mit dem Boden, den er bewohnt und der nur seine Ahnengeister enthält. Fremde ist Elend. Jede Beziehung auf den Archetypus, sei sie erlebt oder bloß gesagt, ist >rührendDie Ursache< (Leipzig 1915). Der Klarheit halber erinnere ich kurz daran, wie der gleiche Vorwurf von impressionistischer Kunst gestaltet wurde. Der Unterschied der Fragestellung tritt dann deutlicher zutage. Die Leiden des Knaben, der von seinem Lehrer gequält wird, sind ja in den vergangenen Jahrzehnten oft genug Gegenstand dichterischer Behandlung gewesen. In impressionistischer Darstellung, wie sie auf älterer Psychologie fußte, nahm sich das meist so aus wie in Hermann Η esses >Unterm Rad< oder in Emil Strauß' >Freund Heine Zug um Zug verfolgt der Dichter den seelischen Leidensweg des Heranwachsenden, der zuletzt, völlig zerrieben und wehrlos, nur noch den Ausweg in den Selbstmord findet. Im Gegensatz dazu setzt Frank ein beim Erwachsenen. In raschem Aufstieg geht es empor zu dem Mord, den der dreißigjährige Dichter Anton Seiler an seinem früheren Schullehrer begeht. Sobald es sich nun darum handelt, die Ursache des Mordes aufzudecken, greift die psychoanalytische Methode ein. Denn Voraussetzung des Ganzen ist ein Kindheitserlebnis — bei einem Schulausflug hat der Lehrer dem Knaben ein Glas Milch verweigert —, das jählings durch einen Traum aus dem Unterbewußtsein ins Bewußtsein des Dichters Seiler gefördert wird. Ein Erlebnis, das, wie er nun erkennt, sein ganzes Dasein vergiftet hat. Ein Erlebnis, das zugleich symbolisch dasteht für die Kette von Demütigungen und Beschimpfungen, aus denen sich sein Leben zusammen40

gesetzt hat und die ihn zu dem seelischen Krüppel gemacht haben, der er ist. Frank arbeitet hier mit den Grundbegriffen Sigmund Freuds, verwertet aber nicht die Sexualtheorie, sondern trifft weit mehr überein mit der Lehre Alfred Adlers, der in dem Ichtrieb den menschlichen Grundtrieb sieht und dementsprechend die schwerste seelische Verletzung ansetzt in dem Minderwertigkeitsbewußtsein, das dem Kinde beigebracht wird. Inwiefern kommt nun diese Erlebnistheorie den Wünschen neuster Dichtung entgegen? Ältere Psychologie hätte, wie in den obengenannten Beispielen, den Grund in der seelischen Veranlagung, in krankhafter Uberempfindlichkeit gesucht. Damit begnügt sich weder neuere Seelenkunde noch neuere Dichtung, jetzt heißt es hier wie dort: wo liegt die Ursache solcher Überempfindlichkeit? Franks Erzählung ist in ihrem Titel symbolisch f ü r die neue Fragestellung. Immer noch interessiert die Begründung, aber es wird tiefer nachgegraben. Ist nun aber damit mehr erreicht als eine bloße Verschiebung der Voraussetzungen: von der Veranlagung, der Vererbung, in das einzelne Erlebnis? (Es muß nicht immer ein Kindheitserlebnis sein.) Ich denke doch. Denn indem die psychoanalytische Methode ein solches einzelnes Moment heraushebt, gibt sie ja zugleich die Möglichkeit, sich davon zu befreien, und das ist das Neue. In der Möglichkeit einer Befreiung liegt der Gegensatz zu der Bedingtheit früherer Auffassung, die das Individuum den gegebenen Voraussetzungen hilflos aufopferte und gerade dem Erkennenden die Bewegungsfreiheit lahmte. Dagegen ist in neuer Seelenlehre mit dem Erkennen auch das Überwinden gegeben. Denn die Psychoanalyse, ganz besonders soweit sie über Freud hinausgeht, ist eben nicht nur analytisch, sondern auch synthetisch. In ihrem Bestreben, die Ursache eines seelischen Verhaltens aufzudecken, zu objektivieren, sie dem Menschen gleichsam gegenüberzustellen, damit er sie bekämpfe, eröffnet sie unbestreitbar wieder eine größere Möglichkeit der Selbstbestimmung. U n d in der Ablehnung eines bloß hinnehmenden Verhaltens, im Hinausgehen über den bloßen Kausalnexus sehe ich allerdings einen Berührungspunkt zwischen Psychoanalyse und expressionistischer Dichtung. Ich möchte nicht mißverstanden werden. Ihrer Theorie nach wurzelt die Psychoanalyse selbstverständlich mindestens so fest in N a turbedingtheit wie die empirische Psychologie. Wer sich das in dichterischer Form nahebringen will, der lese etwa die >Traumdeutung< 41

im ersten Band von Albrecbt Schaeffers Roman >HelianthUrsacheNotwehr< (>Die EntfaltungUrsacheUrsache< unleugbar ein seelisch schwer Belasteter ist, kann doch keinen Augenblick hinwegtäuschen über die Tatsache, daß hier nicht ein Sonderfall, sondern ein Repräsentant vieler, daß etwas Allgemeinmenschliches vorgeführt werden soll. Die explosiven Ausbrüche lassen sich in der >Ursache< wieder in einer Art dreifacher Steigerung beobachten. In abgerissenen, aufgeregt hervorgestoßenen Lauten erfolgt das Bewußtsein des Traumes und damit der >UrsacheDer tödliche Mai< (>Das rasende LebenDer jüngste TagBäume< die Ursache seiner seelischen Krankheit, der ausgestandenen Todesfurcht, auf. Einst, mitten im Krieg, waren die Bäume ihm, in einem traumartigen Augenblick, zum Symbol des Lebens geworden, des Lebens, auf das er glaubte verzichten zu müssen. Nun, wo er dem Leben zurückgegeben ist, löst das Wort >Bäume< mit der Erinnerung an den damaligen Moment noch einmal eine Krise aus; blitzartig erhellt es ihm den Zusammenhang zwischen Krankheit und Heilung. Ein gewaltsamer Ausbruch der Lebensfreude schüttelt ihn, und ekstatisch stürzt er sich in das »rasende LebenSeelenzerstörerUrsache< schon ebenso dringlich wie in Franks späterm Buch »Der Mensch ist gutUrsache< noch nicht getan. Denn der Mord ist hier nicht in diesem Sinn zu fassen. Verwirft und bereut ihn doch der Täter selbst. Grade wenn er den Mord ausführt, handelt er, wie ich oben anmerkte, unter einem Zwang, ist das Unbewußte wieder Herr über ihn; Verantwortung für die Tat ist ihm nicht zuzuschieben. Da Frank den Mord nicht als bewußte, gerechte und rächende Handlung hinstellt, dringt er wohl vor zu sittlicher Anklage, nicht aber zu sittlicher Rechtfertigung der Tat. Ein verwandter Fall, in dem aber ein entschiedeneres, bewußtes sittliches Eintreten der Heldin für ihre Tat zu fühlen ist, liegt vor in Hermann Kessers »Verbrechen der Elise Geitler< (>NovellenUrsache< Franks — eine bewußte Beziehung Kessers zur Psychoanalyse braucht gar nicht behauptet zu werden — so kennzeichnen doch gerade die wenigen Züge, die vorhanden sind, den Unterschied zwischen früherer und heutiger Psychologie in der Dichtung. Elise Geitier, die alte Dienerin, schickt den Verführer ihrer jungen Herrin in den Tod. Gewiß vor allem, um ihren Liebling vor 46

einem zerstörten Leben zu bewahren. Bestimmt aber wird die Alte zu so ungeheuerlicher Tat durch das Erlebnis aus ihrer Vergangenheit, das, wenn sie es auch nie verwunden hatte, jetzt doch in erneuter Wucht vor ihr erstanden ist. Denn wenn die Alte zuerst die Gefahr für das junge Mädchen erkennt, erstarrt sie und bleibt »wie an den H ä n d e n in der Erde festgehalten, regungslos vornübergebeugt und ohne ein Zeichen von Leben, wie es nur bei Menschen geschehen kann, die unter dem Zwang einer Schicksalserinnerung f ü r jedwede Bewegung und Arbeit erlahmen und mit toten Gliedern nach innen schauen«. Etwas später kommt es — die ganze Novelle ist streng analytisch gearbeitet — zur Aussprache, zur Erzählung jenes weit zurückliegenden Erlebnisses und zum Ausbruch von Elises noch immer lebendigem H a ß gegen den, der sie einst verlassen hatte. U n d ähnlich wie in Franks >Ursache< die Peinigung des Schulknaben den letzten Anstoß zur Tat gibt, so bewirkt dann auch hier das neue Unglück, die Verführung ihrer Herrin, zusammen mit der Erinnerung an das alte in Elise Geitier den Entschluß, »einmal Vergeltung zu üben«. Ausdrücklich heißt es: »Da kam es ihr plötzlich, daß sie noch etwas vollbringen müsse, etwas Gewaltsames und Schreckliches, um ein einziges Mal im Leben Vergeltung zu üben und dem Schicksal entgegenzuschlagen«. U n d sie betet, daß der kommen möge, dem sie den Tod zugedacht hat. Flaubert gibt in seiner Erzählung >Ein schlichtes Herz< Zug um Zug den Lebensgang einer alten Dienerin. Audi sie hat einst dasselbe erlitten wie Elise Geitier. N i e aber wird sie auf den Gedanken kommen, »dem Schicksal entgegenzuschlagen«, um nur den einen Punkt herauszuheben, an dem sich die neue seelische H a l t u n g bei Kesser ankündigt. Die Auslösung, das Bedürfnis, das angesammelte Elend einmal aus sich herauszuschreien, es wird bei Elise Geitier in eine Tat umgesetzt. Durch diese T a t wird eine Gestalt, die der Dichter sichtlich verwirft, vernichtet, ein wertvolles Leben aber wird gerettet. Das gibt dem Ganzen eine sittliche Wendung, ob auch der Diditer sich eines ausdrücklidien Bekenntnisses enthält. Der Vergeltungsgedanke, wie er hier ausgesprochen wird und wie er in expressionistischer Dichtung allenthalben durchbricht, ζ. B. in Kessers Erzählung >Die Peitsche^ ist also auch mit psychoanalytischen Voraussetzungen vereinbar. Das seelische Bedürfnis nach Ausgleich, ins Sittliche übersetzt und zur Tat gesteigert, wird leicht die Form eines Vergeltungsaktes annehmen. Beispiele, besonders aus 47

dem Gebiet des Dramas (u. a. der auf den ersten Blick nicht leicht verständliche symbolische Totschlag in Kornfelds >VerführungMichael KramerAdam Urbas< in Jakob Wassermanns >Wendekreis< (Berlin 1921) ist gesehen vom Standpunkt des Vaters. Relativistisch wird auch das Verhalten des Vaters begreiflich gemacht; als Bösewicht erscheint er nur dem Sohn, nicht dem Dichter, nicht uns, den Lesern. Adam Urbas muß erfahren, daß er den Selbstmord seines Sohnes verschuldet hat. Er bleibt nicht stehen bei bloßer Erkenntnis, er gibt sich vor Gericht als Mörder seines Sohnes aus; und wenn die Wahrheit entdeckt wird, tötet er sich selbst. Nicht also wird von außen Vergeltung geübt, sondern eine Tat freiwilliger Sühne ist das Endergebnis. Das geht hinaus über bloße Anklage. Das führt auch empor über eine Sittlichkeit, die den Bösewicht benötigt. Aber mir ist die Erzählung hier noch aus andern Gründen wich48

tig, denn an zwei Momenten ist die Beziehung zur Psychoanalyse unverkennbar. In dem Sohn, der sich zeitlebens vom Vater verfolgt fühlt, waltet ein ungeheures Bedürfnis, »ihm einmal alles ins Gesicht zu sagen«; dann würde ihm wohl, meint er. Und zuletzt kommt es zu dieser Entladung: »Warum soll ich denn aufstehen, da Ihr mich niedergeworfen h a b t ? . . . I h r ! . . . I h r ! . . . Ο Ihr, Ihr seid mir auf der Brust gehockt, mein Lebenlang . . . Ihr habt gut vor mir stehen und blitzen mit Euren A u g e n . . . soll denn das nicht endlich aufhören, daß Ihr mich anschaut mit Euren Augen? So ists immer mit Euch gewesen; anschaun, anschaun und kein Wort. Hinterm Tische sitzen und alles von einem wissen, und kein Wort. Weit habt Ihr mich gebracht mit Eurem Ansdhaun und Anschaun. Warum habt Ihr mich nicht genommen und zu mir geredet? Niemals ein einziges Wort geredet? Da muß einen ja die Verzweiflung packen . . . « Dem lebensmüden Sohn bedeutet diese erste und letzte Abrechnung die ersehnte Befreiung; im Vater aber bewirkt der Ausbruch Erkenntnis seiner Schuld und den Entschluß, die Schuld mit dem Leben zu bezahlen. Nun aber der entscheidende Griff: all diese Seelenvorgänge werden zutage gefördert durch den Richter, der Adam Urbas zu vernehmen hat. Durchaus analytische Technik also; und mehr als das: psychoanalytische Technik. Wie der Richter auf mühevollen Umwegen den Schweigsamen zum Reden bringt, sich das Vertrauen des verschlossenen Charakters erringt, wie er durch geschickte Kombinationen und noch mehr durch geniale Intuition errät, was Adam Urbas um keinen Preis gestehen will; wie der Richter endlich auch das Letzte vor ihn hinhält, so daß Urbas, geblendet, die Wahrheit bekennen muß; wie in diesem Augenblick des Entsetzens dem Bauern doch zugleich auch eine schwere Last von der Seele fällt und er tiefbefreit aufatmet — all das ist höchste künstlerische Einkleidung dessen, was audi die Psychoanalyse will. Wassermann war diesen Weg schon vordem gegangen. Es ist vordem der Weg Christian Wahnschaffes, der »das Leid aus den Menschen herausnehmen möchte wie die Eingeweide aus einem Huhn«. Mit diesen paar Worten ist ja eigentlich alles gesagt. Wahnschaffe weiß, daß schlechthin die Entblößung, die seelische Preisgabe eines verborgenen Leids etwas Befreiendes, Erlösendes hat, daß sie das Leid gleichsam auslöschen kann. Und so treibt er seine Menschen an zur Aussprache, bis sie auch das Geheimste aus sich herausgestellt haben. Der Dirne Karen Engeschall gegenüber betätigt er diese 49

Haltung allem verzweifelten Widerstand zum Trotz. Muß doch auch er erfahren, daß der Mensch das Letzte, sei es das Grauenvollste oder das Schmerzlichste sich nicht entreißen lassen will. Das offenbarende Wort, das sein Seelenleid enträtseln würde, diese >Ursache< hütet er wie ein Heiligtum; vielleicht aus Scham, vielleicht auch, weil das Bewußtsein erlittenen Unrechts die feindliche Haltung gegen das Leben rechtfertigen soll. Bei Karen trifft beides zu, und wenn Wahnschaffe endlich doch das Letzte aus ihr herausgeholt hat, bricht audi ihre Verbitterung, ihr Groll und ihr Mißtrauen zusammen, wird ihre Seele weich und friedevoll. In seiner sittlichen Wirkung wird dies Vorgehen natürlich noch deutlicher, wenn nicht erlittenes Unrecht, sondern eine Schuld offenbart werden soll: ich meine den Mörder, den Wahnschaffe ganz allmählich zum Geständnis bringt und durch das Geständnis entsühnt. Der sittliche Schwerpunkt liegt in der Selbstüberwindung, die erkämpft: werden muß, damit es zum Geständnis kommt. Wenn ich bei W'assermann Verwandtschaft mit manchem Griff neuster Seelenforschung zu spüren meine, so erinnere ich doch daran, daß schon Dostojewski die Verknüpfung von Seelischem und Sittlichem in ähnlicher Weise vollzieht. Der ganze Roman >Raskolnikow< ist ja ein einziges — analytisches — Herausholen eines Geständnisses. Wie im >Wahnschaffe< wird der Mörder nicht schlechthin überführt, trotzdem in beiden Fällen der Gegenspieler längst seiner Sache gewiß ist; audi bei Dostojewski wird der Mörder zu freiwilligem Geständnis gebracht, und damit zu sittlicher Selbstüberwindung und Reinigung. Wenn heutige Dichter immer wieder starke Übereinstimmung mit Dostojewski und hohe Bewunderung für ihn bekunden, obgleich doch anderseits gerade er die Kunst des Psychologisierens auf die äußerste Spitze getrieben hat, so dürften die Gründe wohl in dieser Richtung liegen. (Weist mithin Dostojezvski verwandte Technik und verwandte sittliche Wendung auf, so sei immerhin betont, daß seine Fragestellung eine ganz andre ist als in psychoanalytischer Dichtung: der Nachdruck liegt bei Dostojewski nicht auf der Erforschung einer seelischen Ursache, sondern auf verfeinertster Schilderung der wechselnden Seelenzustände des Mörders.) Das Motiv der Beichte, die zu seelischer Erlösung führt, steht auch im Mittelpunkt eines Buches, das bei seinem Erscheinen als ein neuartiger Versuch empfunden wurde; ich meine Arnold Zweigs >Novellen um Claudia< (Leipzig. Kurt Wolff). Hier ist das Moment 5°

der Beichte unmittelbar zur Voraussetzung gemacht einer Ehe, die höchste seelische und sittliche Ansprüche erfüllen will. In dem Augenblick, wo der Mann, getrieben »vom Wunsch des Befreitseins«, den er fünfzehn Jahre mit sich herumgetragen, die schwerste und peinigendste Jugenderinnerung beichtet, und wo die Frau nach anfänglichem Zurückschrecken sich überwindet, zu verstehen, zu verzeihen und damit ihren Mann loszusprechen, — in diesem Augenblick letzten und tiefsten Vertrauens und Einanderhelfenwollens vollzieht sich die sittliche Vollendung dieser Ehe. Bei Zweig übernimmt die Gattin das Amt des Erlösers, wie es Wahnschaffe übt, wie es in andern Dichtungen dem Richter oder dem Arzt zugeteilt wird. Ich aber möchte zum Schlüsse hinweisen auf einen Roman, der über alle diese Versuche hinausgeht, indem er es unternimmt, einen Menschen aus eigenem, durch eigene sittliche Kraft zur Erlösung gelangen zu lassen. In Alfred Fankhausers Roman >Der Gotteskranke< (München 1 9 2 1 ) rechnet ein Dichter in fast erschreckender Weise mit psychoanalytischen Voraussetzungen und führt doch über sie hinaus. Im Mittelpunkt des Buches steht ein Mensch, der im Kampf mit dem Unbewußten immer wieder zu erliegen droht, schließlich aber durch sein sittliches Wollen die Naturbedingtheit überwindet, die hier geradezu das Böse verkörpert. Eingekleidet ist das in die Symbolsprache des Traums, in die Sprache der Psychoanalyse. J a man darf sagen, daß, wer diese Sprache nicht kennt, kaum zu vollem Verständnis der Erzählung vordringen wird. Durchaus herrscht auch hier analytische Technik. Erst in einem der letzten Kapitel, das bezeichnenderweise überschrieben ist: »Ursachen«, werden die Voraussetzungen des Ganzen bloßgelegt. Großenteils in Gestalt von Träumen, die unmittelbar mit Freudsdier Traumdeutung arbeiten, gibt der Dichter die wichtigsten Aufschlüsse. Als >gotteskrank< enthüllt sich, wer daran leidet, daß die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. An einem Einzelschicksal wird das vorgeführt. Funkhäuser ist Schweizer, und Gedanken des Züricher Psychoanalytikers C. G. Jung glaube idi anzutreffen, wenn Funkhäuser die seelische Krankheit seines Helden faßt als einen Konflikt zwischen zwei entgegengesetzten Tendenzen. Aber auch in der Art, wie der Konflikt überwunden wird, meine ich Ansichten Jungs zu begegnen, der mehr als andere die aufbauende, die synthetische S1

Aufgabe der Psychoanalyse betont hat und Wege zur Selbstbefreiung des einzelnen weisen möchte. Der Zwiespalt, der das ganze Leben des Doktor Freudiger, des >Gotteskranken< durchzieht, enthüllt sich als: Furdit vor dem Vater, und Liebe zu Giulio. Giulio ist eine Gestalt aus Freudigers Knabenzeit, in der sich für ihn alles Streben nach dem Guten, alle idealistische Sehnsucht verkörpert. So kann er sagen, daß Giulio eine gute Gewalt über ihn hat, daß er Giulio folgen muß, wenn er auf dem rechten Wege bleiben will. In allen schweren Augenblicken weiß er, wie Giulio gehandelt hätte; nicht immer freilich ist er imstande, sein eignes Tun danach zu richten. Wo er es nicht vermag, da ist die andere Tendenz stärker in ihm: Furdit und Haß. Auch sie gehen auf Kindheitseindrücke zurück. Unvergeßlich ist die Nacht, wo der Vater die Mutter geschlagen hat; Furdit verfolgt seitdem den Knaben. Sie wird nur zeitweise durch Frömmigkeit verdrängt, aber nicht geheilt; sie bricht als Lebensangst später umso stärker aus: als Angst vor dem Leben, und als Angst um das eigene Leben. Diese Furcht zu überwinden, ist die eine Aufgabe, vor die Freudiger gestellt wird. Audi der H a ß geht auf stärkstes Kindheitserlebnis zurück. Einst ist Giulio, »der große Grenzdurchbrecher«, in Ketten aus dem Dorfe geführt worden; in jenem entsetzlichen Augenblick, wo der Knabe weinte, hat der Vater gelacht. Damals nahm für Freudiger die Krankheit, daß die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte, ihren Anfang. Die Rolle des Vaters übernimmt, besonders in spätem Jahren, der Halbbruder, der rote Schwarz, der Freudiger haßt. Er zerstört die Ehe Freudigers durdi eine Roheit, die Freudigers Frau in Geisteskrankheit stürzt. Auch er lacht, wenn Freudiger weint. Der rote Schwarz stellt dem Bruder sogar nadi dem Leben. Das hatte er schon als Kind getan. Damals fing Giulio einen Messerstich des roten Schwarz, für Freudiger bestimmt, auf; Giulio aber stach nicht zurück. Wieder ein unvergeßlicher Eindruck für Freudiger. Nodi jetzt, wo H a ß und Menschenliebe in ihm kämpfen, entsinnt er sich jenes Augenblicks und weiß: will er Giulio folgen, so muß er den Bruder mit Güte zwingen. Tatsächlich entwaffnet er dann den roten Schwarz gerade durch seine stille Todesergebenheit. In solchen Momenten hat Freudiger die Furcht überwunden. Dann aber gewinnt die andere Tendenz, der Haß, doch wieder die Oberhand. Der Bruder ist sein Untergebener, Freudiger kann sich durch gehässige Behandlung an ihm rächen, er »foltert« ihn. 52

Dann erfaßt ihn Reue, darauf neue Angst vor dem Rachegelüst des Bruders. So quält er sich hin und her. Noch eine Prüfung ist ihm besdiieden. In dem Mönch Girolamo glaubt er seinen Giulio vor sich zu haben, und so wird Girolamo, der verkappte Grenzdurchbrecher und Anarchist, eine Zeitlang sein Führer. Girolamo hilft Freudiger zur Flucht aus dem Lande, die für ihn vor allem eine Flucht vor dem Bruder ist. Doch das enthüllt sich als ein Irrweg, als ein letzter Rückfall in die alte Feigheit. (Ähnlich erkennt zu Beginn von Franks >Ursache< Anton Seiler, daß es mit einem bloßen Ausweichen vor dem Lehrer nun nicht mehr getan ist.) Im >Gotteskranken< führt diese bitterste Enttäuschung, die Erkenntnis, daß Girolamo in Wirklichkeit nur ein »obskurer Pater« war, zu einer letzten Krise. Im Traum wird dieser Schlag symbolisch ausgedrückt durch die »große Ohrfeige« des Vaters, vor der sich Freudiger zeitlebens gefürchtet, auf die er lebenslang gewartet hatte. Sie fällt endlich im Traum; damit aber fällt die Furcht von Freudiger ab, »der Vater ist überwunden«, wie es nun geradezu heißt. Freudiger hat in sich selbst den >GiulioGotteskranken< nodi einmal vereint: die Frage nadi den >UrsachenAdam Urbas< einen neuen Schritt auf der Bahn, die — im Rahmen unsrer Beispiele — Fankhauser abschließt, wenn er seinen Helden zu sittlicher Selbstbestimmung, zu Selbsterlösung gelangen und ihn zu einem Erlöser für andre werden läßt. 53

O t t o Rank

[ D i e L e i s t u n g d e r neuen

Psychologie

in ihrer A n w e n d u n g

auf Diditerpersönlichkeit u n d K u n s t s c h ö p f u n g ] [1926]

»Das Bewußtlose mit dem Besonnenen vereinigt, macht den poetischen Künstler aus.« Schiller In diesem Buche soll an einem eng umgrenzten Material der Versuch gemacht werden, auf völlig neuer G r u n d l a g e u n d von ungewohnten Gesichtspunkten aus, Einblicke in die Vorgänge des dichterischen Schaffens zu gewinnen. Wie schon das Titelblatt anzeigt, h a n d e l t es sich nicht u m eine literarhistorische Untersuchung, sondern vorwiegend u m psychologische Probleme, deren volles Verständnis beim Dichter allerdings nur a n der H a n d literarischer u n d biographischer Nachweise möglich ist. Anderseits ist zu erwarten, d a ß die psychologische Durchleuchtung einzelner Dichterpersönlichkeiten u n d ihrer Schöpfungen ihr Licht auf den literargeschichtlichen Entwicklungsgang zurückstrahlen werde, der ja n u r in der Aufeinanderfolge der persönlichen Entwicklung einzelner überragender Dichterindividualitäten besteht. Es sollen nun, zunächst innerhalb der Sphäre eines einzigen weitverzweigten Motivs, vornehmlich die Werke der d r a matischen Dichtkunst, unbeschadet ihrer sonstigen Bedingungen, v o m psychologischen S t a n d p u n k t betrachtet w e r d e n : also gleichsam von innen heraus, als rein persönliche, individuell bedingte Leistungen eines eigenartigen Seelenlebens. D a s heißt aber nicht so sehr die Werke der K u n s t als den Künstler, der sie hervorbringt, ins Auge fassen; das heißt aber weiterhin nicht Literatur- u n d Kunstgeschichte, sondern Psychologie des Künstlers treiben. Diese Verlegung des Standpunktes v o n außen nach innen bedeutet natürlich, da sie ja nur mit H i l f e des bisher ermittelten Tatsachenmaterials u n d seiner wissenschaftlichen Verarbeitung möglich geworden ist, keine Ablehnung oder H e r a b s e t z u n g anderer Forsdiungsmethoden, sondern soll n u r in extremer Weise die Besondereit unserer Arbeitsweise k e n n zeichnen. Diese besondere A r t der Kunstbetrachtung mit allen ihren K o n sequenzen ist erst durch die Errungenschaften einer Psychologie ermöglicht w o r d e n , die mit der hergebrachten außer dem N a m e n nichts weiter gemein h a t . Diese von Freud begründete u n d unter 54

Teilnahme zahlreicher Schüler und Fortsetzer weiter ausgebaute Seelenkunde bildet die Grundlage der folgenden Untersuchungen, zu deren Verständnis der Verfasser bemüht war, die Kenntnis dieser psychologischen Vorarbeiten zwar zur Not entbehrlich, keineswegs aber überflüssig zu machen. Bringt nun schon die vorwiegend innerliche, rein individualpsychologische Betrachtungsweise eines so eminent sozialen Produktes, wie es die Kunst ist, zum großen Teil befremdende Auffassungen und Ergebnisse mit sich, so erscheint die Einstellung auf die an sich neu- und eigenartigen Gesichtspunkte der Freudschen Psychologie kaum geeignet, diesen Eindruck abzuschwächen. Denn die in dunkle Tiefen des unbewußten Geschehens dringende Seelenforschung Freuds führt, bis ins Triebleben hinab, zu den letzten Wurzeln menschlichen Tuns und Denkens, deren Aufdekkung keineswegs dazu beiträgt, die allgemein verbreitete Ansicht von der Erhabenheit der menschlichen Natur und der Göttlichkeit des Künstlers zu bestätigen. Das treffende Dichterwort, daß Hunger und Liebe, im weitesten Sinne genommen, die Welt treiben, 1 scheint nicht zum wenigsten für die Dichter selbst zu gelten; und wenn wir erotische und egoistische Triebkräfte an der Schöpfung des Kunstwerkes nicht bloß nebenbei beteiligt, sondern geradezu bestimmend, ja ausschlaggebend für ihre Entstehung und Gestaltung finden, so ist vielleicht diese Erkenntnis in einem weit höheren Sinne geeignet, unsere Ehrfurcht vor der Macht der Natur zu steigern, da sie es zustande bringt, aus solchen primitiven und triebhaften Wurzeln die sublime und der gesamten Menschheit so wertvolle Blüte der Poesie emporsprießen zu lassen.2 1

Schiller:

2

In ähnlichem Sinne schreibt Hebbel an S. Engländer (ι. V. 1863): »Sie wollen an den Dichter glauben, wie an die Gottheit, warum so hoch hinauf, in die Nebelregion hinein, wo alles aufhört, sogar die Analogie? Sollten Sie nicht weiter gelangen, wenn Sie zum Tier hinuntersteigen und dem künstlerischen Vermögen die Mittelstufe zwischen dem Instinkt des Tieres und dem Bewußtsein des Menschen anweisen . . . Sie werden aber auch überhaupt finden, um tiefer auszugreifen, daß die Lebensprozesse nichts mit dem Bewußtsein zu tun haben, und die künstlerische Zeugung ist der höchste von allen . . . (und) wenn man sich auch so wenig aufs Dichten wie aufs Träumen vorbereiten kann,

Einstweilen, bis den Bau der Welt Philosophie zusammenhält, Erhält sich das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe.

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Auf welchem Wege und durch was für Mittel dies zustande kommt, bemühen sich die folgenden Untersuchungen darzulegen. Freilich darf man von der ersten Inangriffnahme eines so komplizierten und weit verästelten Themas keine glatte Auflösung aller sich darbietenden Probleme erwarten. Man wird sich vielmehr der Fülle und Mannigfaltigkeit des Tatsachenmaterials gegenüber mit wenigen groben Schematisierungen und dürftigen Lösungsversuchen einiger auffälliger Rätsel begnügen müssen. Die einzelnen Kapitel stellen daher auch nur mehr oder minder selbständige Ausschnitte aus dem ungeheuern Thema dar, welche gleichsam andeutungsweise verschiedene Methoden illustrieren sollen, die man sämtlich bei jeder eingehenden monographischen Spezialuntersuchung anwenden müßte, um der Vielseitigkeit und dem Beziehungsreichtum aller in Betracht kommenden Momente gerecht werden zu können. Solchen Einzeluntersuchungen muß es auch vorbehalten bleiben, das Detail der Verknüpfung zwischen den aufzudeckenden letzten Elementartrieben des künstlerischen Schaffens und dem sonstigen offensichtlichen seelischen Verhalten der betreffenden Künstler in jedem Falle aufzuzeigen. In der vorliegenden Arbeit, wo es sich zunächst um prinzipielle Feststellungen, um das Herausheben des Typischen handelt, kann das nur an vereinzelten Beispielen versucht werden. Aus diesem unvermeidlichen Mangel wird sich ein gutes Stück des Befremdlichen erklären, das den Ergebnissen unserer Untersuchungen anhaftet, und man wird darum gut tun, mit ihrer voreiligen Ablehnung zurückzuhalten in der Erwägung, daß es von diesen fremd anmutenden unbewußten Wurzeln verständliche Übergänge zum bewußten Denken gibt, die nur im Rahmen dieser Arbeit nicht immer verfolgt werden können. Denn auch auf dem Gebiete der psychologischen Betrachtungsso werden die Träume doch immer die Tages- und Jahreseindrücke, und die Poesien nicht minder die Sympathien und Antipathien des Schöpfers abspiegeln.« Siehe Cohen (>Die dichterische Phantasie und der Medianismus des BewußtseinsPoetik< gewisse technische Regeln des dichterischen Schaffens aufstellte. Da Aristoteles das Wesen aller Kunsttätigkeit in einem dem Menschen angeborenen Nachahmungstrieb sieht, muß ihm das Schöpferische in der Kunst, als das eigentlich Problematische, fremd bleiben und er kann zur psychologischen Fragestellung nach dem Wesen der dichterischen Triebkraft gar nicht kommen. Was Aristoteles demnach in seiner Poetik beabsichtigte, war eine Formenlehre und eine darauf gegründete Technik der poetischen Produktion, die er aus den zu seiner Zeit beliebten Dichtungen und aus deren Eindruck abstrahierte. In welch überlegener Weise ihm die Lösung dieser Aufgabe gelungen ist, zeigt der nachhaltige und bestimmende Einfluß, den diese älteste Poetik, zum Teil allerdings in mißverständlicher Auffassung, auf die gesamte spätere Literatur, Ästhetik und Kunstkritik bis in die neueste Zeit ausgeübt hat. 3 Was diese außerordentliche Wertschätzung der innerlich längst überwundenen formalen Poetik des Aristoteles rechtfertigen könnte, ist die Tatsache, daß sich darin schon gewisse fundamentale Einsichten in das Wesen der Dichtkunst finden, die nicht nur von historischem Interesse sind, sondern erst im Lichte unserer heutigen Erkenntnis ihre volle Geltung und Würdigung erlangen. So sind wir mehr als je von dem tiefen psychologischen Wahrheitsgehalt der Aristotelischen Lehre von der Katharsis überzeugt, d. i. der durch Furcht (Erschütterung) und Mitleid (Rührung) bewirkten Erregung und mit Lust verbundenen Befreiung von solchen Affekten in den Zuhörern einer tragischen Handlung, wobei es offen bleiben mag, ob es sich um eine Reinigung von Leidenschaften oder um eine Reinigung der Leidenschaften handelt. 4 Wie dieser Begriff der Kathar3

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Über die Art und Macht dieses Einflusses sowie die ihn widerspiegelnde Literatur sehe man die Einleitung zur deutschen Ausgabe der >Poetik< in Reclams Universalbibliothek nach. Stöhr: »Die Leidenschaften werden auf würdige Objekte geführt«. 57

sis nach Jakob Bernays ursprünglich der Medizin entnommen wurde, in welcher er die Austreibung eines Krankheitsstoffes aus dem Körper bedeutet, so hat er auch durch eine medizinische Errungenschaft unserer Zeit erst seine volle psychologische Bedeutung erhalten. In den Breuer-Freudsdien. >Studien über Hysterie< (1895) wird die das Affektleben von hemmenden Verdrängungen befreiende Psychotherapie als »kathartische« bezeichnet und Alfred Frhr. v. Berger hat in einer beachtenswerten Abhandlung 5 die kathartische Behandlung der Hysterie zur Erklärung der kathartischen Wirkung der Tragödie mit Erfolg herangezogen. Indem wir dieses hochbedeutsame und an Ausblicken der verschiedensten Art reiche Thema der Kimstwirkung hier beiseite schieben müssen, wenden wir uns wieder dem künstlerischen Schaffen selbst zu, in dem, nach einem schönen Worte Kants, das Wesen des ästhetischen Eindrucks sich in gesteigertem Maße kundgibt. Nur schüchtern und wie es scheint ganz absichtslos überträgt Aristoteles dieses kathartische Gesetz auch auf den Dichter, wenn er (Kap. 17) sagt, die in Affekt befindlichen Personen erschienen am überzeugendsten, wenn sie aus derselben Naturbeschaffenheit des Dichters hervorgegangen seien. Darum gehört die Dichtkunst, wie er hinzufügt, den hervorragend begabten oder den in einem gesteigerten Geistesleben befindlichen Menschen. Denn die ersten wissen leicht nachzuahmen, die anderen sind der Ekstase fähig. In dieser Bemerkung finden wir den schon in der homerischen Poesie angedeuteten doppelten Ursprung der Dichtung, in der Begeisterung und der verstandesmäßigen Nachahmung psychologisch gefaßt,® eine Unterscheidung, die zum Grund5

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> Wahrheit und Irrtum in der Katharsis-Theorie des AristotelesAristoteles' PoetikDialog vom Tragischen« (Fischer, Berlin 1904) in geistreicher Weise zum Verständnis der tragischen Wirkung herangezogen. Der erste, der die Aristotelische Katharsis rein psychologisch gefaßt hat, scheint John Keble gewesen zu sein, der in einem seiner Essays (1877) sagt: »Poetry is the indirect expression in words, most appropriately in metrical words, of some overpowering emotion, ruling taste, or feeling, the direct indulgence whereof is somehow repressed« (an anderer Stelle: »repressed desire or regret«). (Zit. nach F. C. Prescott: >Poetry and DreamsPoetik< (1. c., S. 7). — Demgegenüber meint J8

pfeiler aller späteren Untersuchungen des künstlerischen Schaffens geworden ist und noch in Nietzsches »apollinischem« und »dionysischem« Element der Kunstschöpfung nachklingt. Wenn Aristoteles in der Psychologie des künstlerischen Schöpfungsprozesses über diese Ansätze nicht hinausgekommen ist, so darf ihm daraus um so weniger ein Vorwurf gemacht werden, als wir bis in die Gegenwart greifen müssen, um den ersten bewußten Versuch einer Psychologie des dichterischen Schaffens aufzufinden, den Wilhelm Dilthey in seiner Arbeit über >Die Einbildungskraft des DichtersApologie< (7), daß die Dichter »nicht aus Weisheit dichten, sondern aus einer gewissen Naturgabe oder Begeisterung«. >Bausteine für eine PoetikDiditerische Einbildungskraft und Wahnsinn«, Leipzig 1886) schon die Alten beobachtet, wie unter anderem der berühmt gewordene Satz des Aristoteles beweist: »nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae fuit« (1. c., S. 7). Die Verwandtschaft der genialen Fähigkeiten mit dem Wahnsinn ist neuerdings von Lombroso hervorgekehrt worden.

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Einen bedeutungsvollen Schritt weiter, hauptsächlich auf Diltheys Vorarbeiten fußend, madit Otto Behaghel, der rühmlich bekannte Germanist, in seiner Rektoratsrede >Bewußtes und Unbewußtes im dichterischen Schaffen< (Leipzig 1907). An der Hand zahlreicher Selbstzeugnisse von Dichtern kommt er zu folgenden wichtigen Sätzen: »Die Verfassung der Seele, aus der sich die Dichtung hervordrängt, die Verfassung, in der des Dichters Schaffen sich vollzieht, ist ein Zustand der E r r e g u n g . . . Und es ist gewiß kein Zufall, daß das Tun des Dichters... so gern geneigt ist, mit erotischen Bildern zu spielen« (S. 5). — »Die Macht der Phantasie ist der Urgrund alles künstlerischen Schaffens« (S. 8). — »Die Wurzeln des dichterischen Schaffens ruhn in den rätselvollen Tiefen des Unbewußten« (S. 4). — »Das ist ja das Wesen des dichterischen Werdens: traumhaft, dunklem Antrieb gehorsam, so steigen die Gebilde auf« (S. 21). — »So ist dieser Zustand dem Traume nah verwandt« (S. 16) und zeigt anderseits »nahezu den Charakter der Halluzination« (S. 43, Anm. 94). — Den Dichter unterscheidet aber der Anteil des Denkens, der bewußten Arbeit (S. 17), die »beim Dichter dem unbewußten Werden in dreifacher Rolle gegenübertritt: ergänzend und helfend, wählend und ordnend, mäßigend und beruhigend« (S. 24). Ähnlich heißt es bei L. Klages in seiner Abhandlung >Aus einer Seelenlehre des Künstlersc »Ein Ton, ein Strahl in sein Bewußtsein fallend genügen, um unter der Schwelle ein vieldeutiges Spiel dunkler Gefühlsverknüpfungen in ihm auszulösen, in welchem er taub und blind wird für die kunsttötenden Beimischungen der umgebenden Wirklichkeit. Diese bereits im Augenblick der Empfängnis vollzogene unbewußte Auswahl ist das wesentliche. Im einzelnen wird sie hernach beim eigentlichen Schaffen durch die sondernde Tätigkeit des Verstandes vervollständigt«. 9 In neuester Zeit hat dieses Thema in der Studie von Emil Utitz >Das Problem einer allgemeinen Kunstwissenschaft (Zschr. f. Ästh., X V I , 1922) eine eingehende Würdigung erfahren: »Daß der Künstler vernunftgemäß verfährt, bedeutet nämlich nicht etwa, die Überlegung allein bringe künstlerische Werke hervor. Sondern die Überlegung schließt die Eingebung keineswegs aus.« Die künstlerische Einbildungskraft, sagt Ribot, enthält den unbewußten Fak8

Blätter f. d. Kunst, Auslese-Band 1892 bis 1898; H . 5, Flg. 2, Berlin 18 99.

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tor, am Kunstschaffen nehmen das Bewußte und das Unbewußte gleicherweise teil, lehrt Volkelt. Die Zusammenarbeit von Bewußtem und Unbewußtem beobachtete man sowohl bei den vorbereitenden Schritten des Schaffens als auch im ganzen Gestaltungsprozeß, wenngleich gewiß einige Etappen unmittelbarer als andere Erzeugnisse der vorwiegenden Überlegung seien. Volkelt belegt auch die Zergliederung der Teilnahme des Gefühlslebens am geistigen Schaffen mit zahlreichen Beispielen und Utitz bemerkt, es ergebe sich immer, daß das, was Frucht der Überlegung zu sein scheint, es dennoch nicht ist, sondern als eine solche der Erfahrung angesehen werden muß. In diesen mit wenigen Strichen skizzierten Entwicklungsgang der auf wissenschaftlichem Wege versuchten Einsicht in den dichterischen Schöpfungsprozeß, reiht sich unser scheinbar isoliert dastehender Versuch insofern ein, als er es zum erstenmal unternimmt, auf Grund unserer vertieften Kenntnis des unbewußten Seelenlebens sowohl den ursprünglichen Inhalt der dichterischen Phantasien, oder wenigstens einer Gruppe derselben, als auch den Mechanismus ihrer Entstehung und künstlerischen Weiterverarbeitung, sowie den Grund ihrer besonders intensiven Gefühlsbetonung, welche aus ihrer Herkunft verständlich wird, aufzuzeigen. Wenn dabei die unbewußten Quellen dieser Phantasiebildungen, sowie anderseits ihre erotische Gefühlsbetonung in den Vordergrund tritt, so entspringt das weniger einer tendenziösen Überschätzung dieser bisnun fast gar nicht gewürdigten Momente als der Natur der Dinge selbst. Der bewußte und asexuelle Anteil des Seelenlebens an der Entstehung der künstlerischen Produktionen ist uns durch eine Unmenge detaillierter biographischer, literarhistorischer und ästhetischer Untersuchungen genauer bekannt und intimer vertraut geworden, als er es seiner wirklichen Bedeutung nach verdiente. Die Berechtigung, endlich einmal auch dem unbewußt-erotischen Anteil seine volle Würdigung zuteil werden zu lassen, entspringt jedoch nicht bloß dem begreiflichen Bedürfnis nach einer Ergänzung oder einem notwendigen Gegengewicht, sondern der Erkenntnis, daß dieser bisher vernachlässigte Anteil der wesentliche ist und sich zu einem vertieften Verständnis sowie zur psychologischen Fundierung unentbehrlich erweist. Der Gedanke, daß das Bewußtlose mit dem Besonnenen vereinigt erst den poetischen Künstler ausmache, ist in verschiedener Form und Einkleidung von fast allen produktiven Dichtern selbst ausge62

sprachen worden. 10 Und obwohl die überragende Mehrzahl derselben den geheimnisvollen Anteil des Unbewußten als das Entscheidende und Bedeutsamere einschätzt, betonen sie doch zugleich dessen Spontaneität und Unfaßbarkeit. Allen voran wieder Schiller an Körner, als dieser sidi über Störungen in seiner Produktivität beklagt: »Der Grund deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwange, den dein Verstand deiner Imagination auferlegt. Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachteilig zu sein, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Toren schon, zu scharf mustert. Eine Idee kann, isoliert betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig, vielleicht kann sie in einer gewissen Verbindung mit anderen, die vielleicht ebenso abgeschmackt scheinen, ein sehr zweckmäßiges Glied abgeben: alles das kann der Verstand nicht beurteilen, wenn er sie nicht so lange festhält, bis er sie in Verbindung mit diesen anderen angeschaut hat. Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, deucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Toren zurückgezogen, die Ideen stürzen pele-mele herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen. — Ihr Herren Kritiker, und wie Ihr Euch sonst nennt, schämt oder fürchtet Euch vor dem augenblicklichen, vorübergehenden Wahnwitze, der sich bei allen eigenen Schöpfern findet und dessen längere oder kürzere Dauer den denkenden Künstler von dem Träumer unterscheidet. Daher Eure Klagen über Unfruchtbarkeit, weil Ihr zu früh verwerft und zu strenge sondert.« (Brief vom i. Dezember 1788.) Ferner Goethe (zu Eckermann): »Jede Produktivität höchster Art, jedes bedeutende Aperju, jede Erfindung, jeder große Gedanke, der Früchte bringt und Folgen hat, steht in niemandes Gewalt und ist über aller irdischen Macht erhaben. Dergleichen . . . ist dem Dämonischen verwandt, das übermächtig mit ihm tut, wie es beliebt, und dem er sich bewußtlos hingibt, während er glaubt, er handle aus eigenem Antriebe.« Und weiterhin: »Sodann aber gibt es eine Produktivität anderer Art, die schon eher irdischen Einflüssen unterworfen ist und die der Mensch schon mehr in seiner Gewalt hat, obgleich er audi hier immer noch sich vor etwas Göttlichem zu beugen Ursache findet. In diese Region zähle ich alles zur Ausführung 10

Zahlreiche Beispiele bei Behaghel; vgl. auch Otto Hinrichsen: >Zur Psychologie und Psychopathologie des DichtersShelleyDas Zwangsmäßige in Goethes Schaffen«. Jena 1 9 1 5 . Ähnlich ist bekanntlich auch der >Clavigo< in sehr kurzer Zeit entstanden. Es ist für die dichterische Produktivität im allgemeinen charakteristisch, daß Goethe, wo er nicht ähnlich impulsiv und triebhaft zu schaffen vermochte, überaus langsam und schwer arbeitete, wie er denn auch mit seinen beiden größten Werken, dem >Faust< und dem »Wilhelm Meister< von der Jünglingszeit bis ins hohe Alter beschäftigt war. 64

Stellung beglückwünschen wollte. Die erste Zeile klang wie ein Vers. E r schrieb die zweite: die reimte auf die erste. In einem Zug schrieb er nun einen vier Seiten langen Brief in gereimten Versen herunter. Ähnlich berichtet Fontane von dem Entstehen eines seiner Gedichte: »Buchstäblich stante pede. Beim Ankleiden überkam es mich plötzlich, und ein Stiefel am Bein, den andern in der linken Hand, sprang ich auf und schrieb das Gedicht in einem Zuge nieder.« ( T h . Fontane: >Von Zwanzig bis DreißigAhnfrau< fertig.« . . . »Ich setze mich hin und schreibe weiter und weiter, die Gedanken und Verse kommen von selbst.« Auch von Richard Wagner wissen wir, daß der Plan zum >Lohengrin< ihn eines Morgens im Bade sozusagen >überfielDichterweihe< verwiesen, und in der daran anknüpfenden >Zueignung< von Goethe hat man einen letzten Ausläufer dieses Themas erkannt. Eine Anspielung darauf ist es, wenn Richard Wagner seinem Hans Sachs die bekannten Verse in den Mund legt: »Mein Freund, das grad' ist Dichters Werk, daß er sein Träumen deut' und merk'. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn wird ihm im Traume aufgetan: All' Dichtkunst und Poeterei ist nichts als Wahrtraumdeuterei.« (>MeistersingerTraum und Poesieters Seele vor, was er selbst nicht weiß.« Derartige Beobaditungen und Bekenntnisse sind bei den Dichtern nicht vereinzelt. Wir wissen unter anderem von Goethe, daß er viele seiner Gedichte »instinktmäßig und traumartig niederzuschreiben sich getrieben fühlte«, und Paul Heyse sagt in seinen Jugenderinnerungen (S. 346), persönliche Erfahrungen verallgemeinernd: »Nun vollzieht sich freilich der letzte Teil aller künstlerischen Erfindungen in einer geheimnisvollen unbewußten Erregung, die mit dem eigentlichen Traumzustand nahe verwandt ist. Meistenteils tragen die nachtwandlerischen Eingebungen der Phantasie audi darin den Charakter der Traumwelt, daß sie eines klaren Zusammenhanges 13

>Über die Träume in der altnordischen SagenliteraturZum Werden des RomandichtersZum Tagträumen der Dichter«, ebenda I X , 1923). — Siehe dazu jetzt auch Jakob Wassermanns Essay: >Die Kunst der Erzählung«.

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es doch gefehlt, unsere unerwarteten und darum befremdlichen Ergebnisse dem Material zuzuschreiben, das den folgenden Untersuchungen zugrunde liegt. Solange nicht ähnliche Bearbeitungen anderer Materialgruppen vorliegen, muß man es als Versicherung hinnehmen, daß die Gültigkeit unserer Ergebnisse nicht auf den vorliegenden Stoff beschränkt ist. Seine Auswahl und enge Umgrenzung war hauptsächlich durch den Umstand gegeben, daß uns das Inzestthema von anderen Seiten des psychologischen Studiums in seiner Bedeutung und seinem Wesen nach bereits so weit verständlich und vertraut geworden ist, daß wir mit einem hohen Grad von Sicherheit nicht nur darauf fußend tief in das Gefüge des künstlerischen Seelenlebens einzudringen, sondern auch rückwirkend die bereits gewonnene Erkenntnis zu festigen und so vereinheitlichen zu können hoffen dürfen. Es stützt sich diese Erwartung darauf, daß die psychoanalytischen Forschungen Freuds und seiner Schule gezeigt haben, wie die Inzestphantasie nicht nur in den Wahnideen der Geisteskranken ins Bewußtsein durchdringt, 28 sondern audi im unbewußten Seelenleben des Normalen dominiert und seine soziale und erotische Einstellung im Leben entscheidend bestimmt. Unsere Untersuchung wird uns zu der Erkenntnis führen, daß die Inzestphantasie im Seelenleben des Dichters von überragender Bedeutung ist. Es hat darum seine tiefe Berechtigung, daß wir gerade an diesem Thema die »Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens« entwickeln dürfen und gerade daran paradigmatisch den Prozeß der poetischen Produktion in seiner charakteristischen Ähnlichkeit und Unterscheidung von der normalen Traumarbeit und der neurotischen Gemütsstörung aufzuzeigen bemüht sind. So eindringlich und vielfach aber unsere Untersuchung die Wege nach dem Traumland, den Phantasiebildungen und dem erotischen Erleben als Vorbild und Quellen des dichterischen Schaffens auch gewiesen wurden, so sind doch die Pfade, die wir einschlagen, inso26

Vgl. u. a. Maeder: Psychologische Untersuchungen an Dementia-praecox-KrankenÜber den psychologischen Inhalt eines Falles von Sdiizophrenie< (Jahrb. III) und die Mitteilungen von Dr. Itten und Dr. Nelken im Zentralbl. f. Psa. I, S. 610. Nelken, Jahrbuch I V , S. 560 f. Zur psychologischen Auffassung vgl. man die grundlegenden Arbeiten von Jung: >Über die Psychologie der Dementia praecox< (Halle 1907) und E. Bleuler: >Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien< (Deuticke, 1 9 1 1 ) .

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fern noch unbeschritten, als trotz so manchen wertvollen Fingerzeiges alter und neuer Dichter und Denker die Mittel dazu bisher gemangelt hatten. Zwar wurde der Einfluß der Sexualität auf die Phantasietätigkeit, den audi Bebaghel streift, nach Löivenfeld21 von einer Reihe bedeutender Forscher hervorgehoben.28 Schon die Romantiker hatten diesen Zusammenhang klar erkannt und ausgesprochen (Hofmannswaldau ζ. B. sieht in der Liebe die Wurzel der Poesie). So hatte Wilhelm von Humboldt schon 1795 in Schillers >Horen< das geistige Schaffen als feinere Blüte der physischen Zeugung aufgefaßt, wozu man Nietzsches Ausspruch vergleiche: »Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der Kunstkonzeption und die man im geschlechtlichen Actus ausgibt.«29 Doch hat erst die psychoanalytische Forschung mit ihrer vollen Würdigung aller — insbesondere der unbewußten — Quellen, Äußerungen und Folgen der in ihrem biologischen Umfange betrachteten Sexualtriebe ein tieferes Verständnis dieser Beziehung angebahnt. So kennen wir bereits heute einen äußerst intimen und bedeutungsvollen Zusammenhang zwischen den am Aufbau der dichterischen Phantasieprodukte zunächst beteiligten Tagträumen und denjenigen Gestaltungen der Einbildungskraft, die in einer früheren Lebensperiode dem sexuell und intellektuell frühreifen Individuum zunächst zur autoerotischen Befriedigung, dann zur Einbeziehung geliebter Personen der Umgebung in dieselbe und schließlich zum Übergang ins normale Liebesleben verhelfen. Mit Überwindung der Autoerotik und Erreichung der heterosexuellen Einstellung werden diese Phantasien ins Unbewußte verdrängt, von wo aus sie unter geeigneten Bedingungen ihre Wirkung als Traumerreger, als Symptombildner sowie als schöpferisches Element des künstlerischen Gestaltens entfalten. Wir müssen es im Sinne unseres Themas als 27

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>Über die sexuelle Konstitution*, Kapitel: >Die Libido als geistige Triebkraft. Wiesbaden 1 9 1 1 , S. 186 ff. — Siehe audi Hinrichsen: >Sexualität und Dichtung*. Wiesbaden 1 9 1 2 . Man vergleiche auch in ]. ]. Davids feinem Essay: >Vom Schaffen* (Jena 1906) die Bemerkung: »Uber den ursprünglichen Zusammenhang der produktiven Kraft mit dem Sexualleben wird man wohl nicht mehr streiten können.« Gustav Naumann: >Gesdilecht und KunstDemetrius< hineinspielt. Fast alle Dichterbiographien, noch mehr die Selbstbiographien erwähnen diese vorzeitige Kinderliebe. Theodor Fontane beginnt die autobiographische Skizze über sein Erstlingswerk mit den Worten: »Es ist schwer, die erste Liebe festzustellen; hat man sie, oder glaubt man sie zu haben, so findet sich in der Regel, daß es noch eine allererste gab. Ein verstorbener Freund von mir war denn auch wirklich bei dieser retrospektiven Untersuchung bis an sein viertes Lebensjahr zurückgeraten« (>Die Gesch. d. Erstlingswerkesverkappten< und >heuchlerischenDer Mythus von der Geburt des Helden< (1909), 2. erw. Aufl., 1922; ders.: >Die Lohengrinsage< ( 1 9 1 1 ) (beide im Verlag F. Deuticke, Schriften zur angewandten Seelenkunde, hg. v. Prof. S. Freud). 81

förmigkeit ihrer Produktionen ergibt. 3 2 Man hat dem Vorhandensein solcher nicht auf literarische Einflüsse reduzierbarer, regelmäßig wiederkehrender Motive durch Einführung des unbestimmten Begriffes dichterisches Gemeingut< Genüge zu leisten geglaubt, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, die gemeinsame Quelle dieser verwandten dichterischen Leistungen im Seelenleben der Künstler selbst zu erschließen. Als ein solcher Versuch ist die vorliegende Arbeit anzusehen, die sich zu zeigen bemüht, daß gewisse typische dichterische Produktionen aus gemeinsamen, bei allen Dichtern in besonders intensiver Betonung hervortretenden seelischen Komplexen entspringen, die, wie schon die mächtigen Wirkungen der Dichtkunst zeigen, audi den Unproduktiven andeutungsweise zu eigen sind, da sie der prinzipiell gleichen Entwicklung aller Menschen entstammen. So führt unsere Untersuchung von der Vertiefung in das Wesen der Dichtkunst und ihrer Wirkung zur Erforschung der Psyche des Künstlers und von da zu einer erweiterten Einsicht in das menschliche Seelenleben überhaupt und in seine Entwicklungsgesetze. Aber man könnte die Berechtigung bestreiten, vom StofF der Dichtung auf das Seelenleben des Dichters zurückzuschließen und die Anschauung ins Treffen zu führen, gewisse Motive und Themata seien als wirksame dramatische Requisite, als theatralisch erprobte Stoffe, von den Dramatikern aller Zeiten mit Vorliebe aufgegriffen und bearbeitet worden, ohne zu bedenken, daß mit dem Hinweis auf diese allgemein gültige und durchgreifende Wirksamkeit das Problem nur von der Individual- in die Massenpsychologie verscho32

Erst jüngst hat Müller-Freienfels in einem Aufsatz >Zur Theorie des literarischen Einflusses< (Literarisches Echo. I J . IX. 1919) unsere psychologische Auffassung akzeptiert: »Besonders die moderne Psychoanalyse hat ja in interessanter Weise dargelegt, wie gewisse Motive immer wieder mit einer zähen Notwendigkeit aus seelischen Konstellationen auftaudien. Das Interessante dabei ist gerade, daß keine Beeinflussung stattgefunden hat, sondern daß unabhängig voneinander die Individuen in gleicher Situation auf ähnliche Motive verfallen. Als Beispiele solcher oft wiederkehrender Ausdrucksmotive psychologischer Zustände nenne ich das sogenannte ödipusmotiv.«• Es ergeben sich ihm aus dieser Feststellung neue Ausblicke auf die Frage des literarischen Einflusses: »Wir dürfen hoffen, hinter der äußeren Beeinflussung eine tiefere Modifikation aufzudecken, die vielleicht eine gewisse Notwendigkeit des Einflusses erschlösse.«

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ben und damit nodi ein wenig unzugänglicher geworden ist. Die folgenden Ausführungen werden bemüht sein, die Fruchtbarkeit unseres Gesichtspunktes f ü r ein vertieftes Verständnis der dichterischen Schöpfung an konkreten Beispielen darzulegen und seine Berechtigung in jedem einzelnen Falle nachzuweisen, soweit nicht die allgemeinen psychologischen Voraussetzungen unserer Arbeit, deren Annahme die unerläßliche Vorbedingung zu ihrer richtigen Würdigung ist, solche Nachweise entbehrlich erscheinen lassen. So wird auch die Frage, ob es zulässig sei, aus dem Inhalt der Dichtung das Vorhandensein gewisser im Seelenleben des Dichters wirksamer Gefühlsregungen und Phantasiebilder zu erschließen, auf dem Boden der analytischen Determinationspsychologie gar nicht gestellt werden können. Die Ergebnisse der Traum- und Neurosenforschung berechtigen, ja nötigen uns dazu, jede >Zufälligkeit< und Ä u ß e r lichkeit im Seelenleben — so gut wie sonst in der N a t u r — auszuschließen und jedes seelische Geschehen als gesetzmäßige, streng in biologischen Vorgängen begründete Folge der gesamten psychischen Konstitution anzusehen. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich mit Notwendigkeit die Auffassung der dichterischen Produktionen als symptomatischer Ausdrücke entsprechender seelischer Regungen und der Schluß von jenen auf diese als unausweichliche Forderung des psychologischen Verständnisses dieser künstlerischen Leistungen. Der naive Einwand, daß der Dichter eben nur solche Stoffe brauchen könne und darum wählen müsse, die ihm Gelegenheit zu Gefühlskämpfen und tragischen Verwicklungen bieten, fällt in sich selbst zusammen durch die psychologisch gerechtfertigte und gebotene Gegenfrage, wozu er denn tragische Wirkungen, denen doch der Mensch womöglich zu entgehen sucht, mit dem ihm eigenen unwiderstehlichen Drang überhaupt aufzusuchen und darzustellen brauchte, wenn nicht die eigene tragische Verwicklung und Schuld in seinem Seelenleben nach Lösung und Befreiung ringen würde. 3 3 D a ß 33

Die analytische Forschung hat seither, in voller Obereinstimmung mit den in diesem Buche dargelegten Gesichtspunkten, die tragische Schuld aus der universalen Bedeutung des Ödipuskomplexes verständlich gemacht, besonders Freud in >Totem und Tabue >Die infantile Wiederkehr des Totemismus< ( 1 9 1 3 ) : »Warum muß aber der Held der Tragödie leiden und was bedeutet seine tragische Schuld? . . . Er muß leiden, weil er der Urvater, der Held jener großen urzeitlichen Tragödie ist, die hier eine tendenziöse Wiederholung findet, und die tragische Schuld ist jene, die er auf sich nehmen muß, um den Chor von seiner Schuld

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der Dichter im Grunde nur sich selbst zur inneren Befreiung und Lust schaffe, ist von vielen der größten Künstler offen ausgesprochen worden. So schreibt Schiller an Goethe (17. August 1797), daß »es einmal ein festgesetzter Punkt ist, daß man nur für sich selber philosophiert und dichtet«. Und Goethe erwidert (3. März 1799) mit ähnlichen Worten: »Man befriedigt bei dichterischen Arbeiten sich selbst am meisten und hat noch dadurch den besten Zusammenhang mit anderen.« Wie nahe diese >kathartische< Produktion neurotischen Zuständen steht, haben die Dichter selbst besser gewußt als manche Literaturhistoriker, die immer darauf hinzielen, die Dichter reinzuwaschen, solange sie an dem gottbegnadeten Genius festhalten, den eine tiefe Kluft vom Normalen und Pathologischen scheidet. Anderseits werden wir uns auch hier wieder durch die fast ans Pathologische streifende Schilderung psychischer Leiden nicht zu der verwirrenden Behauptung Stekelssi verleiten lassen, daß der Dichter regelmäßig ein Neurotiker sei, sondern zumindest das einzig Sichere, was wir von dieser Beziehung aussagen können, festzuhalten suchen: daß nämlich den Künstler seine für ihn befreiende und zugleich sozial hochwertige Leistung von der Leistungsunfähigkeit des Neurotikers immer so scharf scheiden wird, daß auch die innigste Verwandtschaft in den Vorbedingungen diese deutlich sichtbare Grenze nicht zu verwischen vermag. So wenig man das Kunstwerk schlechtweg mit dem Traum identifizieren darf, so wenig hat man ein Recht, es ausschließlich als neurotisches Symptom oder seinen Urheber, so-

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zu entlasten.« — Anknüpfend daran Th. Reik (>Die Pubertätsriten der WildenDer Ursprung der Tragödie. Ein psa. Beitrag zur Geschichte des griechischen Theaters< (1925, S. 170): »Daß der Held sich in seinem sittlichen Kampfe nicht von den unbewußten Wirkungen des Ödipuskomplexes befreien kann, macht seine tragische Schuld aus.« >Dichtung und Neurose< (1. c.). 84

lange er leistungsfähig bleibt, als krankhaften Neurotiker zu werten. Ein tieferes Verständnis der seelischen Verwandtschaft des Dichters mit dem Neurotiker wird uns vielmehr gerade zu der Einsicht führen müssen, daß der Dichter allerdings hart an der Grenze der Neurose steht — die er stellenweise auch überschreitet —, daß er sie aber im allgemeinen eben durch seine künstlerische Produktion noch zu überwinden imstande ist. A n dieser vor fast zwanzig Jahren ausgesprochenen Auffassung 3 5 kann ich heute mehr als je festhalten und eine Reihe von Zeugnissen bedeutender Dichter selbst dafür sprechen lassen. Byron sagt in einem Brief an Miß Milbanke (10. Oktober 1 8 1 3 ) : »Ich rangiere die Dichtkunst oder die Dichter keineswegs hoch ein auf der Stufenleiter des Intellekts. Dies mag wie Affektation aussehen, ist jedoch meine wirkliche Ansicht. Es ist die Lava der Phantasie, deren Ausbruch das Erdbeben verbätet. Man sagt, Dichter werden nie oder selten verrückt. Cowper und Collins sind Beweise des Gegenteils (aber Cowper war kein Dichter). 38 Es muß allerdings hinzugefügt werden, daß Dichter selten verrückt werden, doch gewöhnlich dem so nahe kommen, daß ich den Reim insofern nützlich finde, als er Geistesstörung verhütet (>BriefeLetters and Journals« (II, 3 5 1 ) : »To withdraw myself from myself (oh that cursed selfishness!) has ever been my sole, my entire, my sincere motive in scribbling at all; and publishing is also the continuance of the same object, by the action it affords to the mind, which else recoils upon itself«. Und über >Giaur< und die >Braut von Abydos< schreibt er: »It was written in four nights to distract my dreams from X . Were it not thus, it had never been composed; and had I not done something at that time I must have gone mad, by eating my own heart.« — »All convulsions end with me in rhyme« (alle Anfälle enden bei mir in Versen), hatte er an Thomas Moore geschrieben, als er ihm die Vollendung der >Braut von Abydos< anzeigte. sea 35

Vgl. >Der Künstler. Ansätze zu einer Sexualpsychologie«. 1907. Wenn bei uns immer Kleist, Hölderlin, Grabbe, Lenau, Lenz usw. als Beispiele zitiert werden, so beweist das eben nur, daß bei diesen die künstlerische Produktion nicht befreiend genug im Sinne einer Verhütung der Neurose zu wirken vermochte, spricht aber nicht gegen die Gesundgebliebenen. 36a Vgl. L. Klages (>Aus einer Seelenlehre des Künstlers« usw.): » . . . denn der letzte Antrieb des künstlerischen Schaffens ist ein rein persönlicher . . . Lust oder Unlust besitzen oder meiden wollen: im Künstler ist diese Stimmung außerordentlich heftig und doch zugleich von jeder Beziehung zu eigentlichen Nützlichkeitsrücksichten völlig losgetrennt.« 36

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Fast mit denselben Worten wie Byron schildert Hebbel im Tagebuch (III, 254) die befreiende Kraft des Schaffens gelegentlich eines Aufsatzes, der ihm prognostiziert, daß er einst wahnsinnig werden müsse. »Übrigens ist ein solches Urteil nicht ohne allen Grund, indem es doch auf einiger Einsicht in die schöpferischen Prozesse des dichterischen Geistes beruht und es nur darin versieht, daß es die befreiende Kraft des Darstellungsvermögens nicht in Anschlag bringt.« — Und an anderer Stelle die ergänzende Fortsetzung dieses Gedankens: » . . . e i n e unterdrückte oder unmögliche geistige Entbindung kann ebensogut wie eine leibliche die Vernichtung, sei es nun durch den Tod oder durch den Wahnsinn, nach sich ziehen. Man denke an Goethes Jugendgenossen Lenz, an Hölderlin, an Grabbe« (Vorw. z. >Maria MagdaleneDichtung und Wahrheit«: »Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte oder sonst beschäftigte in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen,40 um 37

Thomas Mann spricht direkt von der »Erledigung der Leidenschaften durch ihre (dichterische) Analyse« (zitiert nach Ilse Reicke: >Das Dichten in psychologischer BetrachtungStudien< II, 243). 39 Daß Goethe auch dem künstlerischen Genießen ähnliche Wirkung zuschrieb, hat er öfter angedeutet, am schönsten wohl in der Novelle >Der Mann von fünfzig Jahren« ausgesprochen in den Worten: »Hier nun konnte die edle Dichtkunst abermals ihre heilenden Kräfte erweisen. Innig verschmolzen mit Musik, heilt sie alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösenden Schmerzen verflüchtigt.« 40 In einer seiner Bekenntnisschöpfungen (>Der Jüngling«) sagt Dostojewski: »Als ich meine Aufzeichnungen beendet und die letzte Zeile niedergeschrieben hatte, fühlte ich plötzlich, daß ich mich selbst, eben durch das nochmalige Durchleben des Erlebnisses, in dem ich mir alles 86

sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hiezu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extrem ins andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen, dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist.« Nach der impulsiven, nachtwandlerischen Konzeption von »Werthers Leiden< empfindet es der Dichter, daß ihn diese Katharsis vom Selbstmord errettete. In einem Brief an Zelter heißt es über den Selbstmord: »Daß alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchbraust haben, daran läßt Werther wohl niemand zweifeln. Ich weiß recht gut, was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen, so wie ich mich aus manchem späteren Schiffbruch auch mühsam rettete und erholte.« Bezeichnend genug weist hier Goethe auf die Ursachen hin: »Jener Ekel vor dem Leben hat seine physischen und sittlichen Ursachen: Jene wollen wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu erforschen überlassen.« Welcher speziellen Art diese Ursachen waren, lehrt unzweideutig eine andere Stelle seiner Selbstbiographie: »Allein es war zu spät! ich hatte Ännchen wirklich verloren, und die Tollheit, mit der ich meinen Fehler an mir selbst rächte, indem ich auf mancherlei unsinnige Weise in meine physische Natur stürmte, um der sittlichen etwas zuleide zu tun, hat sehr viel zu den körperlichen Übeln beigetragen, unter denen ich einige der besten Jahre meines Lebens verlor; ja ich wäre vielleicht an diesem Verluste völlig zu Grunde gegangen, hätte sich nicht hier das poetische Talent mit seinen Heilkräften besonders hilfreich erwiesen.« Mit tiefer psychologischer Einsicht haben darum auch die Dichter ihr Leben und Schaffen niemals als vollwertig empfunden, sondern nur als notgedrungenen äußersten Ausweg zur Erhaltung des seelischen Gleichgewichtes. So schreibt Schiller an Henriette von Wolzogen (30. Mai 1783): »Wie klein ist doch die höchste Größe eines Dichters gegen den Gedanken glücklich zu leben.« Bei Byron heißt es im Tagebuch (24. November 1 8 1 3 ) : »Ich habe die feste Überzeugung, der große Lärm, den man der Schriftstellerei und den Schreibern macht, ist nichts als ein Zeichen der Verweichlichung, Entartung, Schwächlichkeit. Wer wird wohl schreiben, sobald er nur etwas Besseres zu tun hat? Handlung, Handlung, Handlung! sagte Demosthenes. — Handlungen rufe auch ich, aber nicht Schriflstellerei, vor allem nicht Reimerei! Man sehe sich doch einmal das erbärmliche eintönige Leben der ganzen Sippe an.« Platen schreibt beim Tode Jean Pauls ins Tagebuch (17. X . 1825): »Wenn die Dichtkunst nicht wie ein Zwang auf dem Menschen läge, wer wollte sich ihr unterziehen.« Besonders ergreifend ins Gedächtnis zurückrief und mir vergegenwärtigte und dann noch niederschrieb, daß ich mich eben dadurch zu einem anderen Menschen erzogen habe.«

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bringt Richard Wagner diese Empfindung der Kunst als [eines] kraftlosen Lebenssurrogats zum Ausdrude. Zu Anfang des Jahres 1852 schreibt er aus Zürich an seinen Freund Ublig: »Lieber Freund! Mir kommen jetzt oft eigene Gedanken über >die Kunst< an, und meist kann ich midi nicht erwehren zu finden, daß, hätten wir das Leben, wir keine Kunst nötig hätten. Die Kunst fängt genau da an, wo das Leben aufhört, wo nichts mehr gegenwärtig ist, da rufen wir in der Kunst ich wünschte. Ich begreife gar nicht, wie ein wahrhaft glücklicher Mensch auf den Gedanken kommen soll, Kunst zu machen: nur im Leben kann man, — ist unsere Kunst sonst nicht nur ein Geständnis unserer Impotenz? — Gewiß! wenigstens unsere Kunst ist dies, und alle die Kunst, die wir aus unserer gegenwärtigen Unbefriedigung im Leben heraus uns vorzustellen vermögen! Sie ist all nur möglichst deutlich ausgedrückter Wunsch/« Ähnliche Ansichten spricht er wiederholt aus; so schreibt er am 2. Mai i860 aus Paris an Mathilde: »Ja immer im Widerstreit sein, nie zur vollsten Ruhe seines Innern zu gelangen, immer gehetzt, gelockt und abgestoßen zu sein, das ist eigentlich der ewig brodelnde Lebensprozeß, aus dem des Künstlers Begeisterung wie eine Blume der Verzweiflung hervorbricht.« Aber nicht bloß in derartigen direkten Äußerungen, sondern weit häufiger in zum Teil unbewußten, zum Teil absichtlich verhüllten und verallgemeinerten Geständnissen haben große Dichter diesen Konflikt zwischen Kunst und Leben, der mit dem Verzicht auf das >Leben< endet, charakteristischerweise immer als Wahl zwischen Weib und Kunst dargestellt und damit den Sinn dieses >Lebens< unzweideutig verraten. 41 Ibsens letztes Wort, sein dramatischer Epilog >Wenn wir Toten erwachen«, stellt nichts dar als die schmerzliche Erkenntnis des Künstlers, daß er sein Leben vergeudet habe, indem er, statt zu leben, phantasierte. Professor Rubek (ernst): Dieser ganze Künstlerberuf und die ganze künstlerische Tätigkeit — und alles, was damit zusammenhängt — fing mir an, so von Grund aus leer und hohl und nichtig vorzukommen. Frau Maja: Was wolltest du denn statt dessen? Rubek: Leben, Maja. Rubek (wiederholt wie im Traum): Sommernacht auf Bergeshöhen. Mit dir. Mit dir. (Seine Augen begegnen den ihrigen). Ach Irene, — das hätte das Leben sein können. Und das haben wir verscherzt alle beide. Irene: Was unwiederbringlich verloren ist, sehen wir erst, wenn (bricht kurz ab). 41

Audi Gerhart Hauptmann hat in einem stark autobiographisch gefärbten Drama »Gabriel Schillings Fluchthöheren Eingebung< oder der geheimnisvollen Einwirkung eines rätselhaften >Genius< scheint uns, trotz der zweifellos richtig empfundenen Tatsache, keine befriedigende Erklärung für das Wesen der künstlerischen Schöpferkraft zu bieten. Es lassen sich natürlich auch im Rahmen unserer Auffassung nicht in jedem einzelnen Falle die persönlichen Beziehungen des Dichters zu den Produkten seiner Phantasie mit mathematischer Gewißheit feststellen. Aber innerhalb der Tragweite psychologischer Beweisführung lassen sich diese Beziehungen begreiflich und annehmbar machen. Ein zweiter, scheinbar berechtigterer Einwand könnte sich erheben gegen unsere Auffassung von den tiefsten Quellen des dichterischen Schaffensdranges, der sich aufdrängt, wenn man den psychologisch gerechtfertigten Rückschluß von der Dichtung auf das Seelenleben ihres Schöpfers zuläßt: es sei nicht schwer, die letzten Wurzeln der künstlerischen Schöpferkraft im Erotischen, ja die Bedingung für die Entfaltung dichterischer Fähigkeiten in ganz bestimmten Überschreitungen der psychosexuellen Entwicklung zu finden, wenn man ausschließlich Werke in Betracht ziehe, die ein so durchaus sexualpathologisches Thema wie die erotische Neigung von Blutsverwandten zueinander behandeln. Da muß nun hervorgehoben werden, daß unsere Untersuchung gerade die dichterische Äußerung der Inzestgefühle völlig ihres pathologischen Charakters zu entkleiden und als Versinnlichung allgemein menschlicher, sonst unbewußter Seelenregungen verständlich zu machen sucht.42 Im Ansdiluß daran ist wohl der Hinweis gestattet, daß man in der gesamten Weltliteratur vergebens nach einem echten Dichter suchen würde, in dessen 42

Wir schalten darum audi den vorher so beliebten pathographischen Standpunkt hier aus. Vgl. hiezu den namentlich auch über die einschlägige Literatur ausgezeichnet informierenden Vortrag von Kurt Schneider: >Der Dichter und der Psychopathologe< (Köln 1922). 89

Werken das Thema der leidenschaftlichen Liebe und ihrer Kehrseiten mit allen ihren Beziehungen und Varianten nicht dominierte. Und so war es gerade die Häufigkeit, mit der Inzestverhältnisse zum Gegenstand dramatischer Dichtungen gewählt wurden, was die Auffassung von den erotischen Triebkräften des künstlerischen Schaffensdranges mit begründete. Späteren Untersuchungen muß es vorbehalten bleiben, durch Analyse anderer, ebenfalls typischer Motive der dramatischen Literatur dieser Auffassung eine breitere Grundlage zu geben. Der ernsteste Vorwurf endlich, der sich gegen unsere Darstellung erheben mag, betrifft den >Mißbrauch< der Dichter und ihrer Schöpfungen zu derartigen Untersuchungen. Man könnte fragen, wozu auch noch das Seelenleben der Dichter bis in seine geheimsten Winkel durchleuchtet werden soll, nachdem schon die biographische Forschungsarbeit den äußeren Lebensgang dieser wehrlosen Objekte bis in die intimsten Details durchwühlt hat? Aber selbst wenn man den eventuellen theoretischen Wert solcher Seelenanalysen zugeben wollte, wird man doch geltend machen, daß durch eine solche Aufdeckung der letzten Wurzeln poetischer Produktion der ästhetische Genuß der Werke beeinträchtigt, ja geradezu die künstlerische Produktion selbst ausgeschlossen werde. Dem ersten Vorwurf gegenüber ist es wohl gestattet, auf die vertiefte Einsicht in das Wesen des Kunstwerkes und der künstlerischen Produktion hinzuweisen, welche sich bei einer derartigen Betrachtungsweise erschließt und welche allein schon geeignet erscheint, diese wissenschaftlich vollauf zu rechtfertigen. Aber in diesen Aufschlüssen über bisher ganz rätselhafte Vorgänge des dichterischen Schaffens liegt noch nicht der ganze Ertrag unserer Bemühungen. In letzter Linie dienen sie vielmehr der Ergründung des allgemein menschlichen Seelenlebens, die eben nur an abnormem seelischen Material, an minderwertigem so gut wie an höherwertigem möglich ist, da uns beim Normalen sowohl der Zugang, besonders aber jede Veranlassung fehlt, um in die Tiefen seelischen Geschehens einzudringen. Veranlassung bietet uns der seelisch erkrankte Psychoneurotiker, der infolge seines sozusagen unentwickelten Seelenlebens an den kulturellen Anforderungen scheitert, und einen Zugang gewährt uns der Künstler, dem ein Gott zu sagen gab, was er leidet, in seinen Schöpfungen. Aus der Kenntnis dieser beiden in gewissem Sinne extremen seelischen Äußerungen und der entsprechend eingestellten Beobachtung auf normales psychisches Geschehen kön90

nen wir uns ein Bild der normalen seelischen Entwicklung und des Durchschnittsseelenlebens konstruieren. Bei diesem Unternehmen überraschen uns vor allem auffallende Übereinstimmungen in den seelischen Vorgängen und Äußerungen des Psychoneurotikers und des Dichters, die darauf hinweisen, daß es nur geringe graduelle Unterschiede sind, welche die Gestaltung des Seelenlebens in diesem oder jenem Sinne bestimmen. Im weiteren Bemühen, die Grade dieser Abweichung festzustellen, kommen wir zu dem unerwarteten Ergebnis, daß audi das normal genannte Seelenleben alle Ansätze zu pathologischer und überwertiger Gestaltung aufweist und daß es nur bestimmte dynamische (quantitative) Verhältnisse sein können, welche über den Charakter der Psyche entscheiden. So gehen wir auf scheinbaren Ab- und Umwegen eigentlich den einzig möglichen Weg, der zum Verständnis des normalen Seelenlebens und damit erst zur richtigen Einschätzung der davon abweichenden seelischen Vorgänge und Äußerungen führt. Erscheint so unser Unternehmen durch seine Ergebnisse in mehr als einer Hinsicht gerechtfertigt, so läßt sich audi zeigen, daß man ihm mit Unrecht gewisse Folgen zuschreiben wollte, f ü r die es nicht verantwortlich zu machen ist. Die Einwendung, daß durch solche Elementaranalysen, wie wir sie am Seelenleben und an den Werken der Dichter vornehmen, alle feineren Unterschiede der Struktur, vor allem aber der ästhetische Genuß an der Dichtung verlorengehe, ist vielleicht bis zu einem gewissen Grade berechtigt, aber in einem ganz anderen und viel tieferen Sinn als sie gemeint sein mag. 43 43

Zur Ergänzung der folgenden Ausführungen vgl. man meine bereits zitierte Schrift >Der Künstler« (1907). Als Stütze der dort vorgetragenen und hier kurz resümierten Auffassung darf wohl die intuitiv geschaute Erkenntnis eines der bedeutendsten Künstler unserer Zeit herangezogen werden. Richard Wagner schreibt in seinem Artikel >Zukunftsmusikc »Dürfen wir die ganze Natur im großen Überblick als einen Entwicklungsgang vom Vnbewußtsein zum Bewußtsein bezeichnen, und stellt sich namentlich im menschlichen Individuum dieser Prozeß am häufigsten dar, so ist die Beobachtung desselben im Leben des Künstlers gewiß schon deshalb eine der interessantesten, weil eben in ihm und seinen Schöpfungen die Welt selbst sich darstellt und zum Bewußtsein kommt. Audi im Künstler ist aber der darstellende Trieb seiner Natur nach durchaus unbewußt, instinktiv, und selbst da, wo er der Besonnenheit bedarf, um das Gebilde seiner Intuition mit Hilfe der ihm vertrauten Technik zum objektiven Kunstwerk zu gestalten, wird für die entscheidende Wahl seiner Ausdrucksmittel ihm nidit 91

Unsere ganze seelische und damit auch kulturelle Entwicklung beruht unverkennbar auf einer fortschreitenden Erweiterung des Bewußtseins, die gleichbedeutend ist mit einer stetig wachsenden Herrschaft über das unbewußte Trieb- und Affektleben. Dieser Prozeß wird bedingt durch die biologisch festgelegte und infolge kultureller Anforderungen gesteigerte Verdrängung kulturell unverwertbarer Triebe, die sehr bald zur allgemeinen Neurose führen müßte, wenn ihr nicht die parallel damit fortschreitende Veredlung des Trieblebens und Erweiterung des Bewußtseins das Gleichgewicht hielte. Die entscheidende Wirkung dieser fortschreitenden >Sexualverdrängung< auf die Entwicklungsformen des künstlerischen Schaffens wird sich bei unserer Betrachtungsweise der Dichtungen aufs deutlichste offenbaren. Es wird sich, gleichsam als Röntgenbild des vielgestaltigen, literargeschichtlich ermittelten Entwicklungsganges, ein analoger innerlich bedingter Entwicklungsgang ergeben, der aus dem Prinzip der Triebverdrängung verständlich, ein allmähliches Hinneigen zu neurotischer Gestaltung des Phantasielebens und auf der anderen Seite, als Ausgleichung, zu erhöhten Leistungen der bewußten Geistestätigkeit verrät. Erweist sich so die künstlerische Betätigung, wie sie ja einer kulturellen Veredlung solcher der Verdrängung verfallenen Triebe entspringt, nur als ein vergängliches Symptom im allgemein seelischen Entwicklungsgang, dessen Fortschreiten sie sich durch den Wechsel ihrer Ausdrucksformen anzupassen sucht, so gibt es doch in dieser Entwicklungsreihe einen Punkt, an dem die Wandlungsfähigkeit der künstlerischen Ausdrucksformen ihre Grenze findet. Nicht etwa in der quantitativen Erschöpfung aller Möglichkeiten, die sich ja in jedem Stadium frisch erschlössen, sondern in einer qualitativen Unzulänglichkeit. Die Fähigkeit künstlerischen Gestaltens und Genießens ist nämlich, wie fast einstimmig alle Dichter selbst bekennen, an einen überwiegenden Anteil unbewußter Seelentätigkeit und an ein ganz bestimmtes Ausmaß der Mitarbeit des bewußten Denkens gebunden, das nicht ohne Gefahr für die künstlerische Wirkung überschritten werden kann. Die behandelten Probleme müssen, um dichterischer Wirkungen, wie sie die echte Kunst hervorzubringen bestimmt ist, fähig zu sein, in verhüllter Weise zum Ausdruck kommen, wie es ja eigentlich die Reflexion, sondern immer mehr ein instinktiver Trieb, der eben den Charakter seiner besonderen Begabung ausmacht, bestimmen« (>Gesammelte Schriften und Diditungen Zukunftsmusik TagebücherProgrammusik< mit ihrem Streben nach Ausfüllung der unbewußt wirkenden musikalischen Ausdrucksformen durch einen bewußt zu erfassenden Inhalt scheint ein Symptom dieses Prozesses zu sein. 93

schließlich untergehen in einem Fanatismus des Erkennens und dieser selbst noch in teilnahmsloser Allwissenheit?« (>Vom Schaffendens 1· c., Folge 4, Η . ι und 2.) Wen diese Prophezeiung eines so nüchternen Zukunftslebens düster stimmt, der bedenke, daß es sich ja nicht um eine plötzliche Ausschaltung alles künstlerischen Lebens aus dem Kreise unserer heutigen Kultur handelt, sondern um einen sich allmählich vollziehenden Ersatz gewisser künstlerischer Bestrebungen und Interessen durch andere, die Träger einer künftigen Kultur in gleicher Weise erhebende und befriedigende intellektuelle und affektive Betätigung. Wer aber audi solche kulturhistorische Erwägungen nicht tröstlich empfindet, der lasse diesen Hinweis auf ein mögliches Ziel des künstlerischen Entwicklungsganges wenigstens als Rechtfertigung wider den Vorwurf gelten, daß unsere Art der Kunstbetrachtung den ästhetischen Genuß beeinträchtige. Hat man einmal den Fortschritt des Bewußtseins als seelisches Entwicklungsprinzip erkannt und das unter seinem Einfluß sich von selbst vollziehende allmähliche Verwandeln und Verlöschen gewisser unbewußten Fähigkeiten und Wirkungen, so wird man das bescheidene Unternehmen eines einzelnen oder selbst den gewichtigeren Einfluß einer ganzen Schule nicht für derartige fundamentale Umwälzungen im Seelenleben der Menschheit verantwortlich machen können. Und ist auch der Verfall unserer altüberlieferten Kunstformen unter dem Fortschritt des Bewußtseins unvermeidlich, so tröstet uns die Einsicht, daß unsere unzulänglichen Bemühungen, diese beiden Prozesse in ihren Beziehungen zueinander zu verfolgen, weit entfernt den Konflikt auszulösen, selbst schon eine Folgeerscheinung desselben sind.

H A N N S SACHS

Psychoanalyse und Dichtung [1926] Man hört nicht selten die Ansicht, daß die Kunst der Schmuds des menschlichen Daseins sei, also bloß Überfluß und Luxus, der dort, wo das Notwendige vorhanden und gesichert ist, zur Verschönerung und Bereicherung des Lebens hinzutritt. Diese Meinung enthält eine irrtümliche Unterschätzung der Bedeutung der Kunst, die in Wirklichkeit von den allerersten Anfängen der menschlichen Kultur an 94

zu den notwendigen Bedürfnissen des Menschengeschlechtes gehört hat. Vor mehr als zwanzigtausend Jahren haben Höhlenbewohner, die nur zugehauene (nicht geschliffene) Steinwerkzeuge besaßen, Abbildungen von Tieren angefertigt, deren Kunstwert von keinem modernen Künstler erreicht, geschweige denn übertroffen wird. Von der Dichtkunst jener Urzeit ist uns keine Kunde geblieben, denn das Wort verweht, wenn es nicht durch die Schrift festgehalten wird. Wir wissen aber, daß Lieder und Sagen auch bei den Völkern, die auf niedrigen Stufen der kulturellen Entwicklung stehen geblieben sind, wie ζ. B. bei den Eskimos und den Austral-Negern, nicht fehlen. Der Trieb zum künstlerischen Schaffen wurzelt demnach tief im Menschen und dient der Befriedigung von Trieben, die allen, den einfachsten wie den am meisten verfeinerten Naturen gemeinsam sind. Nur so erklärt es sich, daß die Kunst nie veraltet und über die Grenzen der Rassen und der Zeitalter hinweg die Menschen verbindet. Wir wollen unser Thema einschränken und uns nur mit der Dichtkunst befassen, die unserer Forschung am leichtesten zugänglich ist und uns dabei der Erwartung hingeben, daß die grundlegenden Tatsachen, die bei einer Kunst zutreffen, auch bei den andern vorhanden sein dürften. Wir gehen von einer Art Vorstufe der Dichtkunst aus, die für unser Verständnis den Vorzug hat, daß sie nicht nur von Künstlern, also von seltenen Ausnahmemenschen, hervorgebracht wird, sondern eine allgemein menschliche Erscheinung ist, an der jeder einzelne, wenn auch in sehr verschiedenem Ausmaß, teilnimmt. Wir meinen damit den sogenannten Tagtraum. Das sind die Phantasien, die unsere einsamen Stunden beleben, uns über die rauhe Wirklichkeit hinwegtäuschen und abends dem Schlaf in die Arme führen. Es gibt Menschen, für die ein solches Phantasieleben einen großen Teil ihres Daseins ausmacht, bei andern spielt es nur eine ganz bescheidene Rolle; aber das gilt ganz allgemein, daß das Phantasieleben in der Kindheit sehr viel stärker ist. Das spielende Kind kann mit ganz geringen Hilfsmitteln eine Phantasiewelt um sich aufbauen, in der es nach freiem Belieben schaltet und waltet. In der späteren Kindheit tritt diese Fähigkeit etwas zurück, um dann zur Zeit der Pubertät (Entwicklungsreife) vorübergehend einen neuen Aufschwung zu erfahren. Die Tagträume der Pubertät unterscheiden sich sehr erheblich von denen der Kindheit; sie werden nicht in Spiel 95

umgesetzt, sondern bleiben Phantasie. Die einfache Form, in der sie mit der Wirklichkeit in Berührung kommen, ist die, daß sie leicht in onanistische Betätigung auslaufen; denn das Bezeichnende für jenes Alter ist, daß durch den Vorgang der Geschlechtsreife außerordentlich starke, der Kindheit unbekannt gebliebene Mengen von sexueller Erregung dem Organismus und dem Seelenleben zufließen, die auf irgendeine Weise bewältigt oder abgeführt werden müssen. Diese starken Erregungen machen sich in Phantasien Luft, die verhüllt oder offen ihre Abstammung aus der geschlechtlichen Erregung zeigen. Es ist begreiflich, daß in diesem Entwicklungsabschnitt die Tagträume als strenges Geheimnis gehütet werden, die der Heranwachsende kaum seinem besten Freunde, gewiß nicht den Eltern oder Erziehern mitteilt. Dieses Kennzeichen verbleibt den Tagträumen audi in einer späteren Epoche. Sie werden fast immer geheim gehalten, vor andern schamhaft verborgen, auch wenn sie den erotischen Charakter verloren haben, wie wenn sie ein Schuldgefühl, das ihrem Ursprung in der Pubertätszeit anhaftet, niemals abstreifen könnten. Wie sehen solche Tagträume aus? Es ist schwer, darüber etwas allgemein Gültiges zu sagen, da hier große Verschiedenheiten bestehen, je nach der persönlichen Veranlagung. Bei manchen handelt es sich nur um flüchtige Phantasien, die kaum mehr sind, als die Ausmalung irgendeines erwünschten Ereignisses, bei andern aber kommen ausführliche Geschichten, ja ganze Romane zustande, die sich nur sehr wenig von einem wirklichen Kunstwerk unterscheiden. Gemeinsam aber ist diesen allen, daß sie durchaus egozentrisdi sind, das heißt, daß die Person des Phantasierenden stets im Mittelpunkt steht, alle andern nur Nebenpersonen sind, während sich die Handlung ausschließlich um ihn dreht. Ferner kann man als allgemeine Regel hinstellen, daß der Tagtraum regelmäßig der Wunscherfüllung des Phantasierenden dient, und zwar gerade derjenigen Wünsche, die die Wirklichkeit unbefriedigt gelassen hat. Das galt schon von den plötzlich hervorbrechenden und zunächst unbefriedigt bleibenden erotischen Wünschen der Pubertät. Ebenso kann jeder leicht an sich selbst feststellen, daß seine Tagträume unter dem Druck einer bestimmten Entbehrung ganz unwillkürlich ihren Inhalt verändern: so wird der Hungrige in seinen Tagtraum eine reiche Mahlzeit einflechten, der Durstige einen kühlen Trunk usw. Dies gilt aber nicht nur von den unmittelbaren körperlichen Bedürfnissen, sondern audi, wenn auch in weniger einfacher Weise, von 96

dem, was wir seelisch entbehren und uns in der Wirklichkeit nicht verschaffen können. So berichtet ζ. B. Freud einen typischen Tagtraum eines seiner Patienten: Dieser fühlte sich von einer Dame, in die er verliebt war, zurückgesetzt und schuf in dieser Zeit folgende Phantasie: Die Dame werde ihn abweisen und einen andern Mann von einflußreicher Stellung heiraten, er werde in dasselbe Amt wie sein glücklicher Rivale eintreten, und ihn durch seine Tüchtigkeit und Arbeitskraft überflügeln und sein Vorgesetzter werden. In dieser Eigenschaft würde er eines Tages schwere Verfehlungen seines ehemaligen Nebenbuhlers nachweisen, deren Aufdeckung diesen um seine Stellung bringen müßte. Die ehemals Geliebte komme nun zu ihm und bitte ihn auf den Knien, ihren Mann zu schonen, er erkläre sich dazu bereit, tue auch wirklich alles, um die Sache beizulegen und trete dann von seinem hohen Posten zurück. — In dieser Phantasie spielen die verletzte Eitelkeit und die Rachsucht eine wesentliche Rolle, aber sie treten nicht mehr unmittelbar hervor, sondern haben sich ihre Befriedigung unter der Verkleidung eines edelmütigen Verzichtes verschafft. Wir werden damit auf einen wichtigen Zug der Tagträume aufmerksam. Sie sind nicht alle leicht und einfach zu verstehen, bei manchen, bei denen es sich um die Befriedigung von Wünschen handelt, die der Phantasierende sich nicht offen eingestehen kann, muß die Befriedigung eine verhüllte sein, zu deren Verständnis es einer Deutung bedarf. Nach dem bisher gesagten müßte man meinen, daß alle Tagträume nur Angenehmes enthalten — dies trifft zwar für die große Mehrzahl zu, aber durchaus nicht für alle. Wir müssen uns fragen, wie dies möglich ist, wenn der Tagtraum wirklich den bequemsten Weg zu einer Wunscherfüllung bedeutet. Hier dürfen wir nicht aus dem Auge lassen, daß es auch Triebbefriedigungen gibt, die nur auf dem Umwege über den Schmerz erreicht werden können. Solcher Lustgewinn durch den Schmerz heißt auf dem Gebiete des Geschlechtslebens >MasochismusunbewußtHeld< im Mittelpunkt. Der >Held< eines Dichtkunstwerkes ist keineswegs mit dem Dichter ohne weiteres gleichzusetzen, wenngleich die Herkunft aus dem Tagtraum sich oft dadurch verrät, daß der Held einer Dichtung den einen oder den andern Zug aufweist, der an den Dichter selbst und auch an sein bewußtes Seelenleben erinnert. Immerhin muß das persönlich Beschränkte so weit getilgt werden, daß Handlung und Gestalten imstande sind, ein allgemein menschliches Interesse auch bei denjenigen zu erwecken, denen die Person des Dichters als solche vollkommen gleichgültig ist. So hat ζ. B. Goethe sowohl in seinem >Faust< als auch in seinem >Tasso< Stücke seiner eigenen Persönlichkeit und eines eigenen Erlebnisses geschildert, aber in einer Weise, die daran das allgemein Gültige, menschlich Wahre, hervorhob. Die schwerste Frage bleibt noch zu beantworten. Wir haben uns bisher nur mit dem Stoff des Kunstwerkes befaßt, während doch gerade die Form, wie wir gesehen haben, die eigentliche Unterscheidung zwischen dem Kunstwerk und dem Tagtraum darstellt. Das Kunstwerk muß schön sein, das heißt, es m u ß das, was es darzustellen hat, in eine Form gießen, die den Hörer oder Leser besticht. ΙΟΙ

Diese Form darf nicht willkürlich gewählt sein, sie kann nicht einfach dadurch erzielt werden, daß irgendeine schöne, gefällige Gestaltung ohne Rücksicht auf den Inhalt nachgeahmt wird. Auf diese Weise werden immer nur Schüler und Dilettanten zu Werke gehen; das Zeichen des Meisters ist es, daß er jedesmal für den neuen Inhalt auch eine neue, durchaus eigentümliche Form findet. Das Wohlgefühl, das die Schönheit des Werkes hervorruft, kann in äußeren und inneren Vorzügen bestehen, in Reizen, die nur dem Ohr schmeicheln, wie der abwechslungsreiche Rhythmus und der wohlklingende Reim, oder die sich unmittelbar an den Geist wenden, ζ. B. durch die zweckmäßige Verwendung der Steigerung und Spannung, die den Hörer, langsam anwachsend, bis auf den Höhepunkt bringt. Alle diese Dinge sind dem Tagtraum vollkommen unbekannt, und der Dichter muß die Fähigkeit zur Schaffung und Verwendung soldier Formen besitzen, um sich vom Tagträumer zu unterscheiden. Solche Fähigkeiten sind gewiß zum großen Teil eine Frage der angeborenen Begabung, über deren Zustandekommen wir nur das geringe Wissen besitzen, das uns der heutige Stand der Vererbungslehre übermittelt. Neben die an dieser Stelle nicht weiter zu erörternde Frage der erblichen Begabung stellt sich aber eine zweite, die ein Anrecht auf unser Interesse hat. Was treibt den Dichter dazu, sich der unendlichen Mühe zu unterziehen, um einen Stoff in das Gewand künstlerischer Schönheit zu hüllen und dadurch ein Kunstwerk erstehen zu lassen? Diese Frage wäre leicht zu beantworten, wenn die Dichtkunst ein Gewerbe wäre wie jedes andere, bei dem man ohne weiteres versteht, daß Arbeit aufgewendet wird, um den Lohn des Werkes zu genießen. Ein solcher Lohn besteht ja auch beim Dichter, sei es in Gestalt von Einkünften, die er aus seinem Werke zieht, sei es in Gestalt von Lob, Beifall und Ruhm, die ihm gespendet werden. Wir wissen aber, daß die großen Dichter, ja, die Künstler überhaupt, ihr Werk nicht um des klingenden Lohnes halber geschaffen haben, auch nicht einmal um Anerkennung und Ruhm zu finden, denn gerade die größten unter ihnen haben ihr Leben an ihr Werk gesetzt, auch wenn sie den Beifall der Zeitgenossen auf andere Weise viel leichter und sicherer hätten ernten können. Wir müssen also bei dem Dichter einen Drang voraussetzen, seinem Werke Schönheit zu verleihen, der aus ihm selbst stammt und für den die Rücksicht auf Beifall und äußeren Erfolg nur in zweiter Linie Bedeutung hat. Um diesen Drang zu verstehen, müssen wir uns erinnern, daß das Werk für den Dichter ein Teil seines 102

Ich, ja vielleicht der wichtigste und kostbarste Teil ist. Dieses Verhältnis ist ja oft mit dem zwischen Mutter und Kind verglichen worden, so wie man den Schaffensakt des Dichters mit Zeugung und Geburt vergleicht. In jedem Menschen ist der Trieb zur Schönheit vorhanden. Er bedeutet letzten Endes nichts anderes als den Wunsch, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Dieser Wunsch, den die Psychoanalyse mit dem Namen >narzißtisch< belegt, gehört schon der frühesten seelischen Entwicklungsstufe an, und auf dieser steht er sogar in der allerersten Reihe. Im Laufe der späteren Entwicklung muß er dann seine Herrschaft mit andern teilen und im Bewußtsein des Menschen zurücktreten. Im Unbewußten behält er seine alte Rolle, und für den Dichter, der, wie wir gesehen haben, mit dem Unbewußten in einem innigeren Verhältnis steht als der Durchschnittsmensch, hat auch der Narzißmus eine über das Normale hinausgehende Bedeutung. Er kann sich allerdings nicht mehr unmittelbar äußern im Selbstwohlgefallen des Kindes, aber er kann sich ein Gebiet erobern, wenn er sich eine Verschiebung gefallen läßt und, statt die Person des Künstlers, sein Werk, das ja ein Teil dieser Person ist, zum Objekt nimmt. Auf diese Weise läßt sich der Trieb des Dichters erklären, alles das, was ihm die Wirklichkeit an eigenen Wünschen versagt hat, an seinem Werke erfüllt zu sehen. Wenn der Dichter seine Wünsche gestaltet, so verwendet er seine narzißtische Liebe an diese Gestaltungen; er dient aber damit der Erfüllung allgemeiner Sehnsucht und hochbedeutsamen kulturellen Zielen. Er selbst ist bereit, im Dunkel zu stehen, wenn nur sein Werk wegen seiner Schönheit geliebt, anerkannt und bewundert wird.

EWALD VOLHARD

Literaturwissenschaft und Psychoanalyse [1928] Der Gegenstand der Literaturwissenschaft scheint sich in dem Begriff selbst bereits hinreichend darzustellen, so daß, da über den Begriff >Literatur< eine verbindliche Vorstellung unter Wissenschaftlern wie Laien geläufig sei, eine nähere Wesensbestimmung und Abgrenzung überflüssig wäre. Versuchen wir gleichwohl, einiges über diesen Gegenstand und seine Betrachtungsmöglichkeiten in aller Kürze vorauszustellen. 103

Wenn man unter Literatur — wie üblich — zunächst alles Geschriebene, d. h. im Stoff der Sprache Fixierte versteht, so ist ziemlich belanglos, ob man Rechnungen oder geschäftliche Mitteilungen — sie seien etwa von Goethe — noch mit zur Literatur rechnet oder nicht. Und doch wird gemeinhin ein gewisser, freilich schwer bestimmbarer Grad mehr oder minder bewußter und absichtlicher Formung als Ausweis allem abverlangt, was im eigentlichen Sinne als >Literatur< gelten will. Jede Fixierung aber, so wäre dagegen einzuwenden, ist eine mehr oder weniger bewußte Formung, d. h. eine Durchdringung irgendeines Stoffes, hier der Sprache, mit der sei es auch noch so verdünnten Individualität, mit der einmaligen Eigenheit, der Seele des Schreibenden. Den Grad der Formung also wird man nur schwer als entscheidend über die Zugehörigkeit zur Literatur ansetzen dürfen, wenn auch in ihm ein wesentliches Kriterium für die Rangordnung innerhalb der Literatur sich bietet. Sofern nun der Mensch sich das Weltganze in der Sprache noch einmal gibt und schafft, erscheint das, was gern als Inhalt zum eigentlichen Forschungsobjekt der Literaturwissenschaft gemacht wird, lediglich als geformter Stoff, während als der wirkliche Inhalt nur die Individualität, die Seele des Schaffenden zu gelten hat. »Niemand schreibt, der nicht seine Selbstbiographie schriebe, und dann am besten, wenn er am wenigsten davon weiß« (Hebbel). Je bedeutender nun, je welthaltiger diese Seele ist, um so lebhafter wird sie sich dem ergriffenen Stoff, der Wort-Welt mitteilen, um so breiter werden die dem Chaos durch die Gestaltung entrissenen Weltsektoren sein, zu um so dichterer Formung wird die Fülle des Stoffes und die Intensität des Durchdringens den Schaffenden nötigen. Betrachten wir also als den Gegenstand der Literaturwissenschaft eine im Stoff der Wort-Welt sich ausformende und gestaltende Individualität, so wird sich diese Wissenschaft von drei Seiten aus ihres Gegenstandes bemächtigen: 1. indem sie den Stoff untersucht und sich fragt, worin denn die Individualität sich forme; 2. indem sie die Formung ihrer Betrachtung unterwirft und festzustellen sucht, wie sich die Individualität in ihrem Stoff ausdrücke; 3. indem sie dem Gehalt des Geformten nachgeht durch die Frage, was eigentlich diese Seele sei, die sich hier darstelle. Diesen drei Möglichkeiten, die dem Wesen des Gegenstandes ent104

nommen sind, gesellen sich nun drei weitere [zu], die der Literaturwissenschaft als historisch orientierter Wissenschaft eignen und die der zeitlichen Gebundenheit des Gegenstandes entspringen. Hiernach kann der Betrachter seinen Gegenstand (oder einen Teil seines Gegenstandes) 1 . aus dessen Zeit selbst heraus sehen, erklären und deuten, indem er etwa fragt, wie stellt sich dar, wie galt ein Wort, eine Sprache, eine Meinung, ein Vers, ein Werk, ein Dichter zu seiner Zeit? 2. in einem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang sehen und etwa fragen: wie wirkt er und was hat auf ihn gewirkt, oder welche Vergleichsmöglichkeiten bieten sich zu anderen Zeiten? 3. in seiner heutigen Geltung und Bedeutung erfassen und f r a gen, was Bleibendes an ihm sei. Dieses Koordinatensystem von Möglichkeiten läßt nun beliebige Mischungen zu und ist durch die verschiedensten Methoden, Tediniken, Gesinnungen, Weltanschauungen zu füllen. Von den einzelnen Teilmöglichkeiten, etwa der reinen Philologie, der annalistischen Biographie, der vergleichenden Stoffsammlung, der beschreibenden Inhaltsangabe, der Feuilletondeutung, um nur einige Beispiele zu nennen, muß hier natürlich geschwiegen werden. Wenn wir ferner absehen von der zeitlichen Gebundenheit des literaturwissenschaftlichen Gegenstandes und ihren Folgen, wenn w i r die Literaturwissenschaft mehr von ihrer psychologisch-anthropologischen als von der historischen Seite nehmen, so dürfen wir wohl als ihre wichtigste, ja vielleicht ihre eigentliche Idee bezeichnen die Darstellung, Erklärung, Deutung einer im Stoff der Wort-Welt sich ausformenden und gestaltenden Individualität. Es soll damit noch keineswegs gesagt sein, daß die Literaturwissenschaft nur eine Unterabteilung der Psychologie sei, wohl aber, daß auch sie immer wieder um das Problem >Mensch< kreise und in ihrer höchsten Form dieses letzte Problem nie aus den Augen verlieren dürfe. In unserem Zusammenhang jedenfalls werden wir von Literaturwissenschaft nur insoweit reden, als sie es mit diesem — letzten — Problem zu tun hat, und werden ohne Rücksicht auf Einzelfragen lediglich ganz allgemein und prinzipiell untersuchen, wieweit die grundsätzlichen Bedingungen der Literaturwissenschaft in dieser Hinsicht Beziehungen zur Psa. gestatten. Daß die Wissenschaft dem Bedürfnis nach einer f ü r die jeweils IOJ

gepflegte oder geforderte Lebenshaltung sinnvollen Deutung der Welt, der Natur, der Geschichte, des Menschen ihr Dasein verdankt, bedarf für die Literaturwissenschaft heute kaum noch einer Betonung, nachdem die Erkenntnismißwüchse einer Generation, die im Erkennen um seiner selbst willen den wichtigsten Lebensgehalt fand, im allgemeinen überwunden sind. Da heute wieder eine menschliche Ganzheit teils gelebt, teils gefordert wird, so kann audi die Geschichtsdeutung sich nicht mehr auf reine Stoffsammlung und -sichtung beschränken, sondern ist genötigt, sich auch rückschauend wieder der menschlichen Ganzheit bewußt zu werden und anzunehmen. So trennt die Literaturwissenschaft heute nicht mehr das Kunstwerk als ein gesondert zu behandelndes lebloses Produkt eines mehr oder minder beliebigen Artifekten von seinem Ursprung ab, sondern sieht in ihm eine Erscheinungsform der einmaligen Individualität des Schaffenden, der sich selbst dort am dichtesten darstellt, wo er sich in seiner höchsten Intensität als essentielle Ganzheit dem Stoffe einprägt, in der Dichtung. Die Einheit von Dichter und Werk zu verdeutlichen wird sich also heute jede Literaturwissenschaft angelegen sein lassen. Damit wäre freilich nichts Neues erreicht, wenn nicht die Einheit in einer tieferen Schicht aufgesucht werden müßte, als es die beliebten Stoffsammlungen unter dem Titel: XYs Leben und Werke vermochten, die sich auf die meist primitive Aufzeigung sinnfälliger Übereinstimmungen zwischen Biographie und Dichtung beschränkten, und selten mehr boten, als die gutmütige Schilderung eines freundlichen Bürgers, der sich auf Grund eines meist zugebilligten Talentes dem Beruf des Dichters hingab. Dichtung als ausgeschmückte Beschreibung bürgerlicher Lebensereignisse ist eine Sage des neunzehnten Jahrhunderts. Die Einwirkungen, die der Literaturwissenschaft eine tiefere Erfassung der Einheit von Dichter und Werk möglich gemacht haben, sind verschiedenen Ursprungs. Vor allem ist hier Nietzsche zu nennen, dessen Vertiefung des Menschbildes auch der Literaturwissenschaft — teils direkt, teils auf Umwegen, wie über die neuere Psychologie — zugute kam. Ihm entstammt auf der einen Seite die Möglichkeit, das Schicksal eines Menschen, sein Tun und Leiden, Leben und Wirken, Denken und Handeln, als sinnbildliche >Darlebung< seiner einmaligen und besonderen Einheit von Blut und Geist aus der Idee dieser Einheit heraus zu deuten und in dem jeweiligen geschichtlichen Raum im Wechselspiel von Geben und Nehmen aufio 6

zuzeigen. Auf der anderen Seite geht auf ihn ebensowohl das Bestreben zurück, in die triebhaften Untergründe und Abgründe des Unbewußten vorzudringen und von hier aus — gewissermaßen von unten her — auf die eigentlichen, aller beschönigenden Schleier beraubten Beweggründe und Antriebe des menschlichen Lebens und Schaffens neue Lichter fallen zu lassen. Von dieser wahren Triebpsychologie aus stellt sich die Einheit von Dichter und Werk je nach den besonderen weltanschaulichen Voraussetzungen wieder sehr verschieden dar. Mag man nun etwa den Willen zur Macht als Antrieb zu der Stoffdurchdringung und -bewältigung des Schaffenden in den Vordergrund stellen, mag man den Dichter durch Enthüllung seiner triebhaften Menschlichkeiten zu enträtseln glauben, oder auf der anderen Seite gerade die Durchdringung auch seiner höchsten Geistigkeit mit den erdgebundenen Kräften seines Blutes bewundern und hierin das Kriterium für seine Echtheit sehen; mag man in der Dichtung Selbsterlösungsversuche von unbewußten oder bewußten Seelenleiden finden, oder sie als euphemistische Idealisierungen bloßer Sinnlichkeiten aufdecken; — in die Schicht, in der sich Leben und Werk als verschiedene Emanationen der gleichen triebhaft-geistigen Einheit darstellen, wird man heute stets hinabsteigen müssen, wenn man sich dem Rätsel dichterischen Schaffens durch eine sinnvolle Deutung zu nähern bestrebt ist. Die Frage, von welchem Menschbilde aus und zur Förderung welchen Lebens dieser Vorstoß in die Untergründe des Unbewußten, Triebhaften, Erdgebundenen, Vorgestaltigen eigentlich vorgenommen werde, ist in unserer Zeit, in der jeder aus mehr oder minder privaten metaphysischen Gesinnungen lebt, unlösbar. Weder die Tiefe, noch die Sinnfälligkeit einer Deutung können heute über echt oder unecht entscheiden, geschweige denn über recht oder unrecht, und nur die Hoffnung, gestützt auf die verwandte Gesinnung der edelsten Ahnen, einem gemeinverbindlichen Menschbilde zuzuwirken, enthebt den Forscher dem Bewußtsein privater Eigenbrötelei. Eben darum aber wird er bestrebt sein, sein Menschbild mit allen Mitteln und durch alle die Techniken der Weltbetrachtung, die sich ihm heute bieten, zu vertiefen und zu erweitern, oder es anderen gegenüber nach gründlicher Prüfung abzugrenzen. Als eine dieser Techniken der sinnvollen Deutung des menschlichen Wesens stellt sich uns heute die Psa. dar, die den Anspruch erhebt, von wenigen, empirisch gefundenen Grundtatsachen aus das ganze scheinbar unenträtselbare Chaos menschlicher Daseinsmög107

lichkeiten aufzuklären. Dieses völlig in sich geschlossene System der Weltbetrachtung, das in sich unwiderlegbar und nur von einem anderen Menschbilde, von anderen metaphysischen Voraussetzungen aus abzulehnen ist, ist nun einerseits bereits die Grundlage zahlreicher moderner Literaturgebilde, mit denen sich der Literaturwissenschaftler nur bei gründlicher Kenntnis der Psa. auseinandersetzen kann, zweitens aber hat sich dieses System auch seinerseits bereits mit dem Gegenstand der Literaturwissenschaft selbst ins Benehmen gesetzt, teils um Kronzeugen eigener Anschauungen in der historischen Literatur aufzuweisen, teils um die Methode der Menschbetrachtung audi an geschichtlichen Objekten zu erproben. D a ß also Kenntnis der Psa. dem Literaturwissenschaftler, soweit er die moderne Literatur seinem Blickfeld einbezieht, unerläßlich ist, daß ferner eine auf der Psa. aufgebaute Literaturwissenschaft möglich ist, unterliegt keinem Zweifel mehr. Halten wir als den Unterton unserer Untersuchung die Frage offen, wieweit die Psa. uns wirklich sinnfällig zu madien weiß, daß sie ihrem Anspruch gemäß die Ganzheit der vielfältigen menschlichen Erscheinungsformen einheitlich zu erklären versteht, so ergeben sich für die heutige Literaturwissenschaft etwa folgende Grundprobleme: 1. Ermöglicht das psa. Menschbild dem literaturwissenschaftlichen Forscher, — wenn er weder durch seinen (modernen) Gegenstand zu einer Auseinandersetzung mit der Psa. genötigt, noch zu einer bedingungslosen Annahme der Lehre gewillt ist, — eine Vertiefung und Erweiterung seines Menschbildes? 2. Ist es für den Literaturwissenschaftler möglich, statthaft oder nützlich, von der psa. Methode der Lebensdeutung dem Gegenstand seiner Forschung gegenüber Gebrauch zu machen? 3. Lassen sich besondere Voraussetzungen oder Bedingungen feststellen, unter denen die Anwendung psa. Methoden zu neuen fruchtbaren Erkenntnissen und Erklärungsmöglichkeiten führen kann? D a ß darüber hinaus sich eine Fülle von Einzelbeziehungen aufzeigen ließe, die selbst auf dem dreifachen Raum, als dem hier gebotenen nicht erschöpft werden könnte, ist selbstverständlich. Im Zusammenhang dieses Bandes erscheint es jedoch als wichtiger, erst einmal die Möglichkeit solcher Beziehungen prinzipiell zu klären und gleichzeitig ihre Grenzen wenigstens andeutungsweise aufzuzeigen. 108

Versuchen wir also zu diesen Fragen in der erforderlichen Kürze Stellung zu nehmen, so werden wir uns zunächst über den Gegenstand der psa. Forschung und über das ihr zugrunde liegende Menschbild zu verständigen haben. Daß die Psa. sich aus der Medizin entwickelt und sich von vornherein als psychotherapeutisches Verfahren gegeben und auch fernerhin ausgestaltet hat, legt die Vermutung nahe, es handle sich hier um eine ganz andere Art von Mensch, als bei der literaturwissenschaftlichen Forschung, nämlich — kurz gesagt — um den kranken, den anormalen, den psychisch defekten Menschen, als welchen einen seiner Dichter zu sehen nicht nur der gesunde Bürger berechtigte Scheu trägt. Gibt es doch auch heute noch viele Laien und selbst Forscher, die sich durch die Tatsache, daß bei einigen Dichtern eine unverkennbare Geistesgestörtheit zum Ausbruch kam, keineswegs zu einer Revision ihrer Einsichten bestimmen lassen, sondern sie als einen Einwand gegen die künstlerische Geltung der also gestörten glauben ansetzen zu dürfen, obgleich Nietzsche, gestützt auf eine lange Ahnenreihe, sich ernstlich, und zwar in seiner gesundesten Zeit, gegen solche billigen Einwände von Seiten des Bildungsphilisters verwahrt und obgleich Dilthey bereits vor 40 Jahren sorgfältige Untersuchungen über den Zusammenhang von dichterischer Einbildungskraft und Wahnsinn angestellt hat, nicht zu gedenken der vielen Versuche von anderen Seiten. Aber sehen wir ab von den wenigen wirklich Geisteskranken unter den Dichtern, von den wenigen, die in früheren — und nicht den >ungesundesten< — Zeiten als vom >heiligen Wahnsinn< Besessene mit frommer Sdheu verehrt worden wären, als Wesen, die den Schleier des Intellekts zerrissen hatten, und mit dem Weltganzen in unmittelbarere Fühlung getreten waren, so müssen wir doch allzuhäuiig audi unter den nicht als >geisteskrank< zu bezeichnenden geschichtlichen Erscheinungen psychische Strukturen erkennen, die in beträchtlicher Weise von den gemeinhin als Norm geltenden Verhältnissen gewöhnlicher Durchschnittsmenschen abweichen und deren Krankheitsbild uns von ärztlicher und psa. Seite unter dem Namen Neurose, Seelenkrankheit, d. h. gestörte Affektibilität, vorgestellt und das von der Psychose, der eigentlichen Geisteskrankheit, d. h. etwa Erkrankung der Affektibilität und des Intellekts, von den meisten Forschern durchaus abgerückt wird. So wäre etwa eine ganze Reihe schöpferischer Persönlichkeiten zu zeigen, die mit einer ganz ähnlich auch bei psychisch Defekten, bei 109

Psychopathen oder Neurotikern zu findenden seelischen Reizbarkeit behaftet waren, die sie vielleicht gerade zu ihren Werken, keineswegs aber dazu befähigte, sich in den Erfordernissen des >realennormalen< Lebens in der vom Durchschnitt angestrebten Weise zurechtzufinden. Ja, die Hartnäckigkeit, mit der sich die Dichter immer wieder in einen überschwenglichen Zustand gedrängt fühlen, in dem sich ihnen Bilder entfalten und verknüpfen, »unabhängig von den Bedingungen, die sonst Vorstellungen regulieren und in klaren richtigen Verhältnissen zur Wirklichkeit erhalten« (Dilthey), dieses hartnäckige Eintauchen der Dichter in eine dem normalen Menschen unzugängliche Wirklichkeit vor oder über dem intellektuellen Bereich findet sich ganz ähnlich auch bei Irren, wie bei Träumenden. Auf die psychische Anomalie, die dieser Fähigkeit des Dichters zugrunde liegen könnte, mag sich wohl die oft wiederholte Bemerkung von dem »heiligen Wahnsinn< der Dichter stützen. Von Demokrit ab, der schon erklärte, einen großen Dichter nicht ohne einen gewissen göttlichen Wahnsinn denken zu können, hat Dilthey in dem genannten Vortrag eine Reihe ähnlicher Urteile bis auf seine Zeit in übersichtlicher Kürze zusammengetragen. Daß also die Literaturwissenschaft sich nur mit »gesunden, normalem Menschen zu befassen habe, wird immerhin fraglich, ja fast könnte es scheinen, als habe sie es im Gegenteil nur mit >krankenKatharsis< bezeichnet wurde. Die eigentliche Entwicklung der Psa. begann jedoch erst, als man die Katharsis durch Affektentladung fallen ließ und nun in der Aufdeckung, d. h. Bewußtmachung der Verdrängungen und deren Ablösung durch Urteilsbildungen Ziel und Aufgabe sah. Als Mittel hierzu fand man die freie Assoziation, in der sich zwanglos zu ergehen der Patient aufgefordert wird, wobei zwar das Verdrängte nicht selbst zutage gefördert werden braucht, wohl aber sich in Anspielungen der Deutungskunst des Arztes darbietet. Wenn auch nicht ohne Widerstand, kommen hier die tieferen unbewußten Schichten des Seelenlebens zu Wort, und zwar — so wird uns von Psa.-tikern versichert — in häufig geradezu dichterischer Form (eine Bemerkung, die dem Literaturwissenschaftler als neue psychologische Bestätigung von Hamanns Deutung der Poesie als der Muttersprache des Menschengeschlechts willkommen sein mag). Zeigen sidi schon von hier aus manche Zugänge zur Literaturwissenschaft, so mehr noch von einer Erfahrung Freuds aus, die aus der Psa. statt einer bloßen Hilfswissenschaft der Psychopathologie den »Ansatz einer neuen, gründlicheren Seelenkunde macht, die auch für das Verständnis des Normalen unentbehrlich wurde« (Freud). Zu der beim Kranken herbeigeführten >freien Assoziation< fand sich nämlich eine Parallele audi beim gesunden Menschen, der Traum, der sich in gleicher Weise wie jene deuten ließ. Auf die nahe Beziehung zwischen Traum und Dichtung aber haben die Dichter selbst oft genug hingewiesen und Freuds Auffassung der Traumarbeit läßt einige Verbindungspunkte deutlich anklingen: Sie besteht »in einer eigenartigen Behandlung des vorbewußten Gedankenmaterials, bei welcher dessen Bestandteile verdichtet, seine psychischen Akzente verschoben, das Ganze in visuelle Bilder umgesetzt, dramatisiert, und durch eine mißverständliche sekundäre Bearbeitung ergänzt wird« (Freud). Von hier aus scheinen sich nun allerdings einige nicht unwichtige Zugänge zur Literaturwissenschaft zu öffnen. Halten wir daran fest, daß nach Freuds Erfahrungen die freie Assoziation sowohl wie die Traumarbeit keineswegs, wie etwa bei schwer Geisteskranken, völlig »unabhängig von den Bedingungen, die sonst Vorstellungen regulieren«, wie noch Dilthey meinte, sondern nur bei einem mehr oder weniger beträchtlich verminderten Widerstand einer »zensurierenden Macht im Ich« verlaufen, so könnten wir wohl in III

der Dichtung verwandte >freie Assoziationen sehen, ergänzt und geformt durch verschieden lebhafte sekundäre Bearbeitung. Fügen wir noch hinzu, daß für den Dichter diese mehr oder minder freie Assoziation gleichzeitig die Bedeutung einer Affektentladung, eines Abreagierens seelischer Spannungen vertreten kann, was ja oft bemerkt wurde, so findet sich nun der Literaturwissenschaftler seinem Gegenstand gegenüber in einer Lage, die der des Psa.-tikers nicht mehr so fern steht, wie es zunächst scheinen mochte. Gegeben ist ihm eine Art freier Assoziationen, die er für tiefere seelische Spannungen symbolisch zu nehmen, und an die er mit seiner Deutungskunst heranzutreten hat, nicht zwar zum Zwecke der Heilung, wohl aber zum Zwecke des tieferen Verständnisses, das ja auch für den Psa.tiker eine zentrale Bedingung der Heilung darstellt. Soweit nun wird der literaturwissenschaftliche Forsdier, der den seelischen Untergründen eines Dichters nachschürft, wesentlidie Einwände nicht zu machen brauchen. Mag er nun die Hypothese der freien Assoziation für das dichterische Schaffen annehmen oder rektifizieren, — daß in der Dichtung seelische Vorgänge in symbolischer Gestalt sich ausdrücken, und zwar gleichgültig, ob der Symbolcharakter der Bilder oder auch die seelischen Vorgänge selbst dem Dichter zum Bewußtsein drangen oder im Unbewußten verliefen, daß ferner diese Sinnbilder seelischen Geschehens sich der Deutungskunst des Forschers darbieten und ein tieferes Verständnis fordern, das sind Erkenntnisse, die sich seit Nietzsche auch in der Literaturwissenschaft immer mehr Bahn brechen. Auch die Auffassung, als handle es sich bei dieser dichterischen Umsetzung seelischer Vorgänge ganz wesentlich um einen Ausweg, den sich vor oder nach ihrem Eintritt ins Bewußtsein infolge äußerer oder innerer Hemmungen verdrängte Affekte zum Zwecke des Abreagierens oder einer Entäußerung mittels etwas wie freier Assoziation zu schaffen wüßten, auch diese Auffassung ist dem literaturwissenschaftlichen Forsdier zugänglich. Er kann sich sehr wohl vorstellen, daß die ihm vorliegenden Gebilde und Ergüsse — man gedenke etwa der Lyrik — nur einer der normalen unmittelbaren Verausgabung fremden Aufstauung affektiver seelischer Kräfte ihre Dichte und Fülle verdanken, zumal ihn die Erfahrung belehrt, daß gerade die größten Dichter sich hinsichtlich der Kleinmünze täglicher Seelenverausgabungen besonderer Ökonomie befleißigt haben. Er würde dann im Dichter etwa einen Charakter sehen, der, infolge 112

einer ungewöhnlichen psychischen Reizbarkeit (Sensibilität) an der freien Auswirkung seiner affektiven Seelenkräfte verhindert, diesen Seelenkräften in verdichteten Gebilden einen Ausweg zu schaffen genötigt oder befähigt ist. Die Terminologie der Psa. dürfte der Forscher dabei ruhig ihrer Entstehung und Entstehungszeit zugute halten, ohne sich veranlaßt zu sehen, Dichtung etwa als Autoanalyse zu bezeichnen, oder sich gar zu schmeicheln, in der Neurose endlich die Göttin gefunden zu haben, die den Dichtern die Gabe gibt, zu sagen, was sie leiden (Stekel). Wichtiger wird ihm sein, festzustellen, wie und warum der Dichter sich von dem Neurotiker und Hysteriker unterscheidet, wie und warum er in der Lage ist, »wie ein Vulkan die zurückgedrängten Feuerfluten nach außen zu werfen« (Stekel), während jene an ihren Seelenkämpfen ersticken. Begnügen wir uns aber zunächst mit der Feststellung, daß ein solcher Unterschied besteht, daß der Dichter aus überstarken psychischen Spannungen und Erregungen, wie sie ähnlich vielleicht der Neurose zugrunde liegen, sich einen Ausweg zu schaffen weiß durch einen Prozeß, den die Psa. — wie bereits Schopenhauer und Nietzsche — als Sublimierung bezeichnet. Man stellt sich dabei vor, daß den an sich anders orientierten Triebkräften durch eine gewisse Umbildung oder Umbiegung — nun sozusagen im Einverständnis mit dem >zensurierenden Idi< — »Abfluß und Verwendung auf andere Gebiete eröffnet wird, so daß eine nidit unerhebliche Steigerung der psychischen Leistungsfähigkeit aus der an sich gefährlichen Veranlagung resultiert« (Rank). Ausgerüstet mit einer zureichenden Deutungskunst wird sich auf Grund solcher Voraussetzungen der literaturwissensdiaftliche Forscher, bemüht, dem Rätsel dichterischen Schaffens durch eine Analyse der Dichtwerke näher zu kommen, wohl befähigt finden, von den dichterischen Gebilden bis zu einem gewissen Grade auf die Triebkräfte zurückzuschließen, als deren symbolischen Ausdruck er sie aufzufassen sich gehalten sieht. Hierzu benötigt er allerdings einer genaueren Vorstellung von Artung und Entstehen, Aufbau und Werden der Triebe, einer Trieblehre einerseits und andererseits einer Deutungskunst, die er als zureichend anerkennen könnte. Beides bietet ihm die Psa. an. Die psa. Trieblehre verblüfft den Forscher zunächst durch eine Einfachheit, die er sich bisher seelischen Vorgängen gegenüber anzunehmen nicht für berechtigt hielt. Zudem aber findet sich diese Ein" 3

fachheit in einer Lebenssphäre, die nur mit der äußersten Vorsicht anzurühren oder gar aufzudecken ihm die moralische Gesinnung seiner Zeit nahelegte. Trotz zahlreicher Wandlungen aber hält die Psa. auch heute noch an ihrer Grunderkenntnis fest, daß nämlich in der Energie der Sexualtriebe, der Libido, die eigentliche Quelle des menschlichen Seelenlebens zu finden sei. Man weiß, daß es gerade diese Auffassung war, die — auch dem Literaturwissenschaftler — eine verständige Auseinandersetzung mit der Psa. immer wieder erschwert hat. Betrachten wir aber einmal diese Theorie gewissermaßen von einem erhöhten Standpunkt aus als Entwicklungssymptom, so haben wir sie aus einer Zeit zu verstehen, die wie keine andere in orgiastischem Geistkultus die natürliche Leibgebundenheit des menschlichen Lebens als beschämende Entwürdigung am liebsten in Vergessenheit gebracht hätte. Gegenüber solchen Tendenzen nun — Leib, Seele und Geist in sauberer Sonderung zu behandeln — entstand, gestützt auf die Worte der Dichter, angeregt durch die Mahn- und Weckrufe Nietzsches, die Erkenntnis, daß nur aus den bluthaften Kräften, nur aus den erdgebundenen Trieben das Leben sich deuten lasse, daß selbst die höchste Geistigkeit des Menschen in seinen elementaren Schichten verwurzelt sei und aus diesen Tiefen sich nähre. In die Entwicklung dieser heute nicht mehr fragwürdigen Erkenntnis reiht sich nun auch die Psa. ein, indem sie zunächst die Bedeutung der lange ängstlich umgangenen Sexualtriebe für den Aufbau des menschlichen Lebens, für das Werden seiner psychischen Struktur ins rechte Licht setzte, dann aber in stetem Fortschreiten den Begriff der Libido so stark erweiterte, daß er in dem alten Lustprinzip nicht mehr Platz fand und in ein System von triebhaften Tendenzen aufgelöst werden mußte, wobei in bewußter Annäherung an die Antike statt vom Sexus jetzt mehr vom Eros, ja einfach von Lebenstrieben die Rede ist. Diese spätere Entwicklung der Lehre kommt zwar den Bedürfnissen des literaturwissenschaftlichen Forschers beträchtlich entgegen, ist aber für die Psa. so wenig charakteristisch — zumal sie auch im eigenen Lager keineswegs völlig gebilligt, ja von Freud selbst mit einiger Zurückhaltung vorgetragen wird —, daß wir sie hier beiseite lassen und uns darauf beschränken müssen, die Richtpunkte aufzuzeigen, die der Aufbau der psa. Trieblehre dem Literaturwissenschaftler zu geben vermag. Daß die Libido sich aus Partialtriebeη erst allmählich konsolidiert und zentriert, so daß also Restbestände nicht mitaufgenomme114

ner Partialtriebe übrig bleiben können, kann gelegentlich für die biographische Betrachtung von Belang sein, interessiert uns hier aber wenig. Wichtiger sind die weiteren Organisationsformen der Libido, von denen der normale Mensch eine ganze Reihe zu durchlaufen hat, bevor er zu der Genitalorganisation des Vollreifen Erwachsenen gelangt. W o sich diese Entwicklung nicht glatt vollzieht, entstehen abnorme Fixierungen der Libido auf früheren Entwicklungsstufen, Fehlbildungen, die zu Neurosen, Perversionen, Abnormitäten führen. A u f einer solchen als Narzißmus bezeichneten früheren Entwicklungsstufe hat sich nun nach psa. Lehre die Libido des Träumers, des Dichters und des Neurotikers fixiert. Bei ihnen glaubte man wie beim Kind nur ein Minimum von Objektbesetzungen der Libido erkennen und daraus etwa die Geschlossenheit und gewisse >Wirklichkeitsferne< des dichterischen Weltbildes erklären zu können. Der Dichter, so wäre etwa zu sagen, lebt nicht in der Welt der Objekte, sondern, wie das Kind, in seiner Welt, in der Welt seiner Ideen, Wünsche und Träume. Vorausgesetzt wird dabei eine objektive Wirklichkeit, als welche sich das Alltagsleben in der Sphäre der bürgerlichen Nützlichkeit hinlänglich darzustellen schien. Allmählich jedoch folgte auch die Psa. der Zeitentwicklung, indem sie die sogenannte Wirklichkeit relativer nahm und sich nun jedes Ich vorstellt als ein »Reservoir von — narzißtisch genannter — Libido, aus welchem die Libidobesetzungen der Objekte erfließen und in welches diese wieder einbezogen werden können« (Freud). Danach freilich wäre es nicht so leicht, wie man zunächst glaubte, zu unterscheiden, welcher Wirklichkeitsauffassung die größere Realität und Objektivität zukäme, wenn man nicht etwa die Tatsache, daß bei den meisten Menschen eine allmähliche Loslösung von der >narzißtischen< Stufe zu bemerken ist, für die Richtigkeit dieses Ablaufs in Anspruch nehmen will, wodurch denn allerdings nichts bewiesen würde als das, wovon man ausging. Der Dichter also hat mehr als gewöhnliche Menschen die Fähigkeit, seine affektiven Seelenkräfte unabhängig von den gemeingültigen Spielregeln der bürgerlichen Majorität in der Welt der Objekte zu spiegeln, weil die >narzißtische< Organisationsstufe seiner Libido — nicht unterdrückt durch die Erfordernisse des Tages — zu freier Entfaltung gelangen kann. Er teilt diese Fähigkeit mit den Kindern, die wie er allein aus dem eigenen Ich heraus eine Un-Mittelbarkeit des Welt-Erlebens = Ich-Erlebens besitzen und betätigen. Aber er "5

besitzt diese Gabe nicht, so würden wir glauben, weil sein Liebesdrang auf einer früheren Stufe fixiert wäre, vielmehr, weil ihm die Stufen seiner Entwicklung nicht wie anderen verloren, sondern noch stets zugänglich sind: E r kann über die Organisationsformen seines Wesens in höherem Maße frei verfügen, als der gewöhnliche Mensch, der in der letzten Form erstarrt. Daß also der Dichter mit der höchsten Weisheit des Alters ewige Jugend verbindet, kann sich uns nun auch von seiner Triebseite aus erklären. Wo sonst die Triebschicht sich auf einer bestimmten Stufe bleibend festigen mag, ist er genötigt, aus den elementaren Grundlagen seines Wesens und seiner Entwicklung heraus sie immer neu zu formen und zu organisieren und alle Stadien des Durchganges können ihm noch geläufig und unbewußt gegenwärtig wirksam sein. »Solche Männer und ihresgleichen sind geniale Naturen, mit denen es eine eigene Bewandtnis hat; sie erleben eine wiederholte Pubertät, während andere Leute nur einmal jung sind« (Goethe zu Eckermann). Nur wer wie der Dichter das Ganze der menschlichen Möglichkeiten immer neu umfassen und erleben kann, vermag das Ganze zu sagen, und nicht zufällig sind die seinem Wort am nächsten, die noch die Möglichkeiten ihres Lebens, die verschiedenen Organisationsformen ihrer Triebkräfte nicht infolge einer Fixierung des Endausgangs >vergessen< haben. Wollte man freilich solche Möglichkeiten des Dichters als Fehlbildungen durch Fixierung der Libido auf frühen Entwicklungsstufen bezeichnen, so dürfte der Literaturwissenschaftler einer solchen Verdünnung seiner Vorstellung vom Menschen wenig Geschmack abgewinnen können. (Die >Schenkenlieder< ζ. B. dicht neben den >Suleikaliedern< des >Diwans< auf Grund solcher Fehlbildungen — Fixierung der Libido auf der ambivalenten Kindheitsstufe etwa — erklären zu wollen, ist nur von dem Menschbilde um 1890 aus nicht absurd.) Stellen wir aber die Frage nach dem psa. Menschbild und seiner Bedeutung für die Literaturwissenschaft noch einmal zurück, um den Aufbau der Libido weiter zu verfolgen. Nach der frühesten, narzißtischen Stufe, die kurz bezeichnet wurde, folgt in der Entwicklung der Libido die Epoche, in der die Welt der äußeren Objekte sich der Libido zu öffnen beginnt. Naturgemäß spielen hierbei die Personen der nächsten Umgebung die wichtigste Rolle, die Mutter zunächst, dann der Vater, der anfangs so etwas wie den lieben Gott in alttestamentarischem Gewand repräsentieren soll, wobei sich das Ichideal und Gewissen vorbereitet. Im weiteren 116

Verlauf folgt dieser Idealisierung die Identifizierung mit dem Vater, folgt der Angst, Ehrfurcht oder Bewunderung vor dem Vater das Bestreben, ihm gleich zu sein, besonders gegenüber der Mutter. So bereitet sich die sogenannte Ödipussituation vor, die weitaus die größte Bedeutung für die spätere Libidoentwicklung des Menschen hat. »Der normale Ausgang der ödipussituation«, d. h. der Liebe zur Mutter und Identifizierung mit dem Vater, der als Rivale empfunden wird, »ist (für den Knaben) eine Verstärkung der ursprünglichen Vateridentifizierung; dadurch muß die >Männlichkeit im Charakter des Knaben eine Festigung erfahren< (Freud)« (Hartmann). Infolge der ambivalenten Einstellung auf früheren Entwicklungsstufen findet aber gleichzeitig eine freilich schwächere Identifizierung mit der Mutter statt, und aus der Verbindung der beiden Identifizierungen baut sich nach Überwindung der ödipussituation, die frühere Entwicklung fortsetzend, das Ichideal oder Oberich, das Gewissen oder die Zensur auf. Lassen wir die Frage beiseite, wie weit wirklich ödipus für die gemeinte Situation in Anspruch genommen werden darf, so leuchtet doch ohne weiteres ein, daß hier ein Problemkreis getroffen ist, der mehr Beachtung als bisher — auch von Seiten der Literaturwissenschaft — verdient. Halten wir uns audi hierbei weniger an die enge Theorie und Terminologie, mehr an den eigentlichen Sinn, so handelt es sich einerseits um die ersten Objekte des Liebesdranges und andererseits um die erste Abgrenzung des jungen Menschen gegenüber der vorausgehenden Generation. Diese beiden Prozesse fallen insofern zusammen, als sie sich beide auf die Eltern richten, und beginnen bereits in frühester Jugend, um im Pubertätsalter zum Austrag zu kommen. In welcher Weise sie sich vollziehen, kann natürlich höchst bedeutsam für die ganze weitere Entwicklung des Menschen sein. Wir können uns vorstellen, daß im Kind vor dem Erwachen des Ichbewußtseins ein Gefühl des Einsseins mit dem mütterlichen Schoß, dem schaffenden und nährenden Grund noch lebhaft ist, daß die Einheit und Ganzheit der inneren Welt noch nicht gebrochen ist durch eine Bewußtseinsprojektion nach außen, daß also das Kind gewissermaßen noch ruht im Schoß der Welt, mit der es sich eins fühlt im unbewußten Erleben. Allmählich erst löst sich die Nabelschnur auch seines inneren Wesens von der Mutter los, und mit dem Werden des Ichbewußtseins findet es sich erstmals in der eigentümlichen Spannung, die den Menschen von der übrigen organischen Welt 117

unterscheidet: als Naturwesen strebt es zurück zu der verlassenen Welteinheit und als ichbewußtes Wesen drängt es vorwärts zu einer neuen Durchdringung, zur Bewußtseinsaneignung der immer mehr als Außen empfundenen Welt. So verlangt das Kind nach der Mutter zurück, mit der es sich eins fühlt als Natur, und wirft doch als Ich den Blick vorwärts auf den Vater, dem es gleich zu werden sucht als Bewußtsein, den es vielleicht haßt als seiner bisherigen Welt Fremdes und Neues und an dem es doch die Unausweichlichkeit des eigenen Wachstums verehrend oder liebend erstmals spürt. Je mehr sich aber das Ichbewußtsein festigt, um so entfernter rücken die beiden Sinnbilder der eigenen Seelenspannung; das junge Ich empfindet sich als neuen Anfang, als ein Weiter, dem die Geschlossenheit des Vaters, seine Endschaft im Wege steht; es muß sich trennen von dem Vergangenen, um selbst in sein Werden hineinzugehen. Gewiß mag hier das väterliche Wesen bedeutsam das Ziel mitbestimmen, das die junge Seele aus sich herauswirft, aber gerade das Eigene gegen den Vater abzugrenzen, in sich selbst den Vater zu überwinden — zu unterjochen oder zu töten —, der sich dem Streben nach dem mütterlichen Schoß der Welt und einer neuen Welt vielleicht in den Weg legt, ist wohl die härteste Not, die erst dem Werdenden die Tore ins Leben öffnet. Dieser innere Kampf und sein Ausgang spiegeln sich immer wieder im späteren Leben des Menschen: »Niemand glaube, die ersten Eindrücke der Jugend verwinden zu können« (Goethe). Wie sich der junge Mensch hier löst, zeigt uns die Kraft und Fülle seines Wesens, was er seinem Eigenen anglich, zeigt uns, wie er sich in die Kette der Geschlechter einreiht, kurz, wie aus dem ersten Zusammenstoß seiner eigenen Substanz mit der Außenwelt sich das aufbaut, was man als >Ichideal< mag gelten lassen, wird uns vom Wesen und Wert einer menschlichen Individualität manches sagen können. Dagegen müßten wir den Versuch, dieses Überich lediglich aus Identifizierungen erklären zu wollen, ablehnen, da er an der uns wichtigeren Frage vorbeiführt, was eigentlich sich identifiziere; wir werden in der sogenannten ödipussituation zwar ein wesentliches Erklärungswziie/, nicht aber die Erklärung des Ichideals finden, das Jean Paul, auf den sich die Psa. glaubt berufen zu dürfen, in der >Levana< beschreibt: »Jeder von uns hat seinen idealen Preismenschen in sich, den er heimlich von Jugend auf frei oder ruhig zu machen strebt. Am hellsten schauet jeder diesen heiligen Seelengeist an in der Blütezeit aller Kräfte, im Jünglingsalter.« Zur Erklärung 118

des bürgerlichen Gewissens und des im Sinne der allgemeinen M o r a l zensurierenden Ich mag wohl die Theorie der Identifizierung ausreichen, der »ideale Preismensch« aber, den jeder einmal über sich hinauswirft u n d den vielleicht n u r die Dichter über das Jünglingsalter lebendig zu erhalten wissen, ist ein sehr viel positiverer D ä mon u n d n ä h r t sich aus viel tieferen und eigeneren Quellen. Uber sein Werden w i r d sich wohl k a u m mehr ausmachen lassen, als d a ß er zuerst in der Abgrenzung des Ich gegen das Außen sich darstelle, sich festige u n d forme. Sein Entstehungsgrund liegt in dem K e r n der menschlichen Seele, den die Psa. uns nicht aufgehellt hat. D e r literaturwissenschaftliche Forscher w i r d also die brieflichen, biographischen, literarischen Äußerungen eines Dichters, zu schweigen von den zahlreichen Darstellungen des ö d i p u s m o t i v s , einmal zur Deutung seines Verhaltens zur U m w e l t in Leben u n d Werk, u n d andererseits zur Deutung des Ichideals, wie es in der Dichtung seinen Niederschlag gefunden hat, mit Vorteil heranziehen können, falls er sich der Grenzen seiner Bemühungen b e w u ß t bleibt und nicht das G a n z e zu erklären glaubt, w o sich ihm nur ein Teilausschnitt öffnet. Leider haben die von psa. Seiten angestellten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, in der Meinung nun endlich den Schlüssel zur E r k l ä r u n g des Seelenlebens gefunden zu haben, gerade hiergegen so häufig gesündigt, d a ß eine gewisse Zurückhaltung von Seiten der Literaturwissenschaft nur allzu verständlich ist; gleichwohl w i r d man hier einige als Vorarbeiten beträchtliche U n tersuchungen solcher Teilprobleme finden, wenn man sich über die meist sehr enge Deutungskunst der Psa. hinwegzusetzen weiß, von der noch k u r z zu sprechen ist. H a l t e n w i r zunächst unser Mißtrauen gegen den W e r t angeblich reiner E r f a h r u n g zurück, so ist uns wichtig zu hören, d a ß die Psa. sich lediglich auf Erfahrungstatsachen a u f z u b a u e n vorgibt und den Anspruch erhebt, schlechthin als die empirische Wissenschaft von der Seele zu gelten. Eine Deutungskunst aber — u n d mag sie noch so sehr in Zusammenhang mit der E r f a h r u n g bleiben — geht über derartige Ansprüche weit hinaus; schon die Wortzusammensetzung zeigt selbst dem Laien, d a ß es hier um ganz andere als die vorgegebenen Dinge geht. D e r Glaube an die rationale E r f a ß b a r k e i t des Lebensganzen — selbst schon metaphysisch bedingt — hebt sich in diesem Begriff ausdrücklich selbst auf, u n d die irrationalen Elemente, mit deren H i l f e eine sinnvolle Erfassung des Lebens sich freilich allein aufbauen k a n n , kommen in ihm zur Geltung. N u n 119

wäre dagegen nichts einzuwenden — vorausgesetzt, man bliebe sich des Tatbestandes voll und ganz bewußt —, wenn man nicht versuchte, auf Grund einer Erfahrung — der Reduzierbarkeit mancher seelischer Vorgänge auf Sexualtriebe — nun alle seelischen Vorgänge dieser einen Erfahrung anzupassen. In nichts anderem aber besteht die Deutungskunst der Psa., als daß sie die Mittel zu diesem Prozeß zu schaffen sucht, wodurch denn ihre Bemühungen einen gewissen k r a m p f h a f t e n und erzwungenen Charakter aufweisen, durch den sich ernsthafte Forscher und selbst gutwillige Beurteiler nicht selten an das ergötzliche Bestreben des Examenskandidaten erinnert fühlen, der möglichst rasch von dem unbekannten Elefanten auf die bekannte Mücke zu kommen sucht. Ist aber der letztere bei einem solchen Verblüffungsmanöver immerhin berechtigt, sich eine biogenetische Betrachtungsweise zunutze zu machen, so wird sich der Psychologe seelischen Vorgängen gegenüber eines solchen unrektifizierbaren Vorgehens schwerlich ohne weiteres bedienen dürfen. Denn ob sich die Entwicklung des Seelenlebens gesetzmäßig aus einer Urzelle heraus, wenn man so sagen darf, vollziehe, oder aber ob sich über diese Urzelle irgend Bestimmendes sagen lasse über den allgemeinen Begriff des Lebens hinaus, bleibt durchaus offen, und nichts rechtfertigt, zum mindesten in den letzten Fragen, die einfache Übertragung rein mechanisch-naturwissenschaftlicher Vorstellungen auf das Seelenleben, das allem Anschein nach wenigstens mit bestimmt wird durch ganz andere Gesetze als das etwa der Kausalität und das offenbar in eine Sphäre hineinreicht, auf die sich die in der neueren Physik selbst f ü r die anorganische Welt als unzulänglich erkannten Naturgesetze nicht anwenden lassen. So wenig man einen Kreis als die Folge des Mittelpunktes ansehen wird, so wenig wird man alle seelischen Vorgänge als Wirkungen einer Ursache ansehen dürfen, statt sich etwa damit zu begnügen, sie als Symptome einer Seinsart zu erkennen. Hier rächt sich der psa. Ausgangspunkt, der kranke Mensch, und die psa. Absicht, die Heilung. Denn f ü r die Therapie genügt es, auf den Punkt gestoßen zu sein, von dem aus sich eine Heilung ergeben kann. D a ß aber nun die Heilung beweisen sollte, man sei auf das Zentrum des Seelenlebens gestoßen, und daß nun alle Tatsachen mittels einer hierauf abgestimmten Deutungskunst unter diesen Zentralaspekt gezwängt werden müssen, läßt sich nur aus irrationalen Motiven erklären. Wer aber gar, wie es gelegentlich geschieht, die Heilung als Maßstab f ü r die Richtigkeit der Theorie ansetzen 120

möchte, dem stünde die vielfach bestätigte ärztliche Erfahrung entgegen, daß oft mit einer falschen Theorie bessere Resultate erzielt werden als mit einer richtigen. Auch der Literaturwissenschaftler kann sich natürlich auf diesen — ärztlichen — Standpunkt stellen, ja muß vielleicht weniger nach der Richtigkeit einer Theorie, als nach ihrer Brauchbarkeit und der Güte der mit ihr erzielten Resultate fragen. An unserer Stelle jedenfalls haben wir uns der Psa. gegenüber auf diese Frage zu beschränken und hätten nunmehr zu untersuchen, wie sich uns nach den bisherigen Feststellungen das Menschbild der Psa. denn eigentlich darstelle und wie weit uns von dieser Seite Hilfsmittel zur Analyse und Deutung einer künstlerischen Erscheinung geboten werden. Zunächst wird der literaturwissenschaftliche Forscher sich auf den Glauben an die rationale Erklärbarkeit des menschlichen Seelenlebens nur ungern festlegen, wird vielmehr in dem analytischen Forschungsverfahren nur eine Seite seiner Tätigkeit sehen. Gewohnt, sich stets einem anscheinend unauflösbaren Rätsel von Besonderheit, Originalität, Begabung, einmaliger Eigenheit gegenüber zu finden, wird er seine Deutungskunst vor allem auf diesen Zentralpunkt einzurichten haben und mindestens auch von hier aus zum Verständnis einer menschlichen Erscheinung vorzudringen suchen. Über den Kern des Menschen aber, über das, was wir als gegeben, als Begabung hinnehmen müssen, weiß uns die Psa. Deutungsmittel nicht an die H a n d zu geben, ja wird das von ihrer Position aus audi nicht können, und nur >AbtrünnigeEigentliche< im Menschen als ein Einmaliges zu sehen, das die Möglichkeiten seiner besonderen Entwicklung bereits keimhaft in sich trägt und im Wechselspiel mit der Außenwelt nur ausbreitet, erprobt und formt. Damit erst würden wir uns in eine Schicht des Seelenlebens begeben, die zwar dem nivellierenden Zugriff der Gleichheitsgläubigen entzogen ist, die aber allein zu einer Deutung der menschlichen Verschiedenheit zureichend wäre. Denn gerade den Literaturwissenschaftler wird die Schicht des Seelenlebens, in der sich die Menschen mehr oder minder gleich sind — er zweifelt nicht an ihrer Existenz — stets weniger zu beschäftigen haben, als die, in der jeder vom andern sich unterscheidet. Die Libidoentwicklung aber zeigt ihm nur die Variationsmöglichkeiten des Allgemeinen, nicht aber die einmaligen Gegebenheiten des Besonderen, woran im Prinzip audi dann nichts geändert wird, wenn man den Begriff der ursprünglichen Partialtriebe so weit faßt und so individuelle Mischungsmöglichkeiten zuläßt, daß der Begriff der Libido durch eine neue Trieblehre unterbaut wird, wohin die Entwicklung der Psa. in den letzten Jahren zu tendieren scheint. Es wird dadurch ebensowenig geändert, wie durch metaphysische Spekulationen auf eine Polarität von Lebens- und Todestrieben oder durch die Theorie vom Ich, vom Es und vom Uberich, denn die Vorstellung vom Menschen als einer rational erfaßbaren Entwicklung aus menschlichen Gemeinsamkeiten bleibt auch dann bestehen, wenn die Inhalte dieses Menschbildes den Erfordernissen der Zeit oder den Bedürfnissen historischer Wissenschaften angeglichen werden. Denn dieses Menschbild bleibt stets gestützt auf die Ideen der Aufklärung, auf ihren Rationalismus, ihren Fortschrittsglauben und ihren Normbegriff. Der Normbegriff der Psa. gründet sich auf die Vorstellung einer allgemein menschlichen objektiven >Natur< und einer >natürlichen EntwicklungNatürlichkeitNaturNatürlichkeit< ein Stück Tyrannei gegen die >NaturVernunftNatur< abgestimmten Philosopheme immer wieder —« das ist noch kein Einwand gegen sie, man müßte denn selbst schon wieder von irgendeiner Moral aus dekretieren, daß alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt (noch deutlicher: >unnatürlichnatürlich< ausgibt und zur Norm erhebt, so bedeutet das — aus der Sphäre des sogenannten objektiven Empirismus in die ihm zugrunde liegende und folgende Wertsphäre übersetzt — nichts anderes als eben diese Auflehnung gegen jede Tyrannei und Moral, nicht zwar, wie man der Psa. böswillig unterstellt hat, in den praktisch-ethischen Forderungen (freies Ausleben oder dergl.), wohl aber in ihrer weltanschaulichen Gesinnung, nach der der eigentliche Mensch eben der >natürlicheNatur< und natürlicher Entwicklungnatürliche< Entwicklung zu dichterischen und künstlerischen Gebilden nicht führen kann, daß vielmehr deren Entstehung irgendeinen Bruch oder Knick, irgendeine >FehlbildungVerdrängung< oder dergleichen zur Voraussetzung hat, daß also der Dichter, auch wenn man ihn positiv bewertet, wie es die Psa. tut, eine — schöne — Entartung der Gattung darstellt. Ferner aber, so belehrt uns Nietzsche, weiß jeder Künstler, »wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein natürlicher Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der Inspiration, — und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht«. Sollte also der Literaturwissenschaftler auf den Dichter einen Normbegriff anwenden können, der offenbar gerade an dem Wesentlichsten von dessen Natur vorbeigreift? Sollte er nicht vielmehr den Wesenskern, die Natur des Dichters jenseits von seiner Triebentwicklung aufsuchen und diese aus jener erklären müssen? Er würde dann allerdings das als Reaktion gegen das bürgerliche Geistheldentum des seelischen Mittelstandes erwachsene und selbst noch wesentlich darin verhaftete Menschbild der Psa. durch eine tiefere Auffassung zu ersetzen haben und hätte als Wertmaßstab des Menschen und als Kriterium seiner Natur nicht die Reibungslosigkeit seiner Entwicklung oder den Mangel an Gegensätzen, sondern etwa die Kraft, diese Gegensätze zu bewältigen, anzusetzen. Denn »allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, daß gerade dies >Natur< und >natürlich< sei — und nicht jenes laisser aller!« (Nietzsche.) Die Revision unserer Einsichten, die durch die Annahme eines solchen Naturbegriffs notwendig würde, kann hier natürlich nicht ausgedeutet werden. Daß aber damit ein Normbegriff jenseits von gesund und krank gewonnen würde, der dem Literaturwissenschaftler eine gemäßere Handhabe zur Beurteilung seines Gegenstandes bieten dürfte, leuchtet ohne weiteres ein. Denn gegenüber der zeitgemäßen Verflachung des Menschbildes und der immer weiter um sich greifenden Amerikanisierung der Seelen kann gerade der Literaturwissenschaftler immer wieder auf die schöpferischen Persönlichkeiten als die eigentlichen Repräsentanten der Gattung Mensch hinwei124

sen und in der gestaltenden Bewältigung der tiefsten Spannungen zwischen Ich und Welt, Trieb und Bewußtsein das Kriterium des natürlichen, gesunden und normalen Menschen finden, womit er sich denn an die Vorstellung vom Menschen anschlösse, die ihm die Dichter selbst an die H a n d geben. [••·]

OSKAR WALZEL

[ »Libidodichtung« ] [1929] Ist es nicht bezeichnend, daß eine der neuern Lehren, die am rückhaltlosesten das künstlerische Schaffen zur notwendigen Auswirkung ungeahnter seelischer Erkrankungszustände machte, sich jetzt weiterzubilden beginnt in einer minder materialistischen Richtung? Die Psychoanalyse, in ihrer ersten Gestalt vielleicht die enttäuschendste Enthüllung der wirklichen Voraussetzungen künstlerischer Phantasiearbeit, strebt fort zu neuen Erkenntnissen, sie will neue Energien der Seele finden, die im schöpferischen Grund der Seele wirksam sind. Sie beugt sich nicht mehr so demütig vor der Materie wie die ältere Psychoanalyse. Die Psychoanalyse geht zurück auf die Entdeckung der Wiener Ärzte Josef Breuer und Sigmund Freud, daß vergessene und verdrängte, also unbewußt gewordene seelische Vorgänge zu Psychoneurosen führen können. Heilung wurde versucht, indem man die verdrängten Erlebnisse wieder ins Bewußtsein rief. Breuer bediente sich dabei der Hypnose. Freud entwickelte eine andere und eigenartige Technik und Theorie. Triebäußerungen des Menschen, vor allem die geschlechtlichen, werden durch Erziehung und Bildung im Kinde, aber auch noch später unterdrückt. Besonders hemmen sittliche und religiöse Forderungen das ursprüngliche Triebleben, möchten sogar verhindern, daß es ins Bewußtsein trete. Die verdrängten Strebungen suchen Auswege und finden sie im Traum, in Symbolhandlungen und unter Umständen in Psychoneurosen. Die Psychoanalyse sucht die Verdrängung rückgängig zu machen, um deren schädliche Wirkungen I 2

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zu beheben, sei's durch Anerkennung des verdrängten Stoffes, sei's durch dessen zweckmäßige Bearbeitung. Freuds Lehre wurde angewandt auf alle Gebiete des Seelenlebens, die ins Unbewußte hinabreichen. Märchen und Mythologie suchte man zu verstehen aus unbewußten seelischen Vorgängen. Audi Dichtung. Freud fand zahlreiche unbedingte Anhänger, aber auch zahlreiche Gegner. Am stärksten umstritten ist seine Sexualtheorie. Geschlechtstrieb ist ihm eine Zusammensetzung von Teiltrieben. Die mannigfach sich äußernde >Sexuallibido< durchläuft vom Kindesalter ab verschiedene Entwicklungsstufen, bevor sie ihren Gegenstand wählt. Hauptursache der Psychoneurosen ist für Freud jede Hemmung der Entwicklung der Libido, besonders aber jede »Fixierung< an einzelne frühere geschlechtliche Entwicklungsstufen. Wichtigste Hemmung der Seele ist ihm ein psychisches System, das er den Inzest- oder Ödipuskomplex nannte. Es ist die geschlechtliche H a f tung am ersten Liebesgegenstand, den Eltern und Geschwistern. Zu den Gebieten, in denen sich die gehemmten und verdrängten geschlechtlichen Strebungen ausleben, zählt für die Psychoanalyse neben dem Traum und der Psychoneurose auch die Kunst. Es lag nahe, daß auf dem Boden der Dichtung der Ödipuskomplex untersucht wurde. Freuds Schüler Otto Rank veröffentlichte ein Werk >Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage< (Wien 1912). R. M. Meyer lehnte Ranks Versuch ab (Deutsche Literaturzeitung 1 9 1 3 , Sp. 1989 ff.). Er brachte eine lange Reihe von Belegen für Ranks Gewohnheit, den Tatsachen Gewalt anzutun, um sie nach seiner Ansicht deuten zu können. Die Begriffe >Verdrängung< und >VerdichtungFlaubert und seine Versuchung des heiligen Antonius< (Minden, Westf. 1912). Alfred Kerr schrieb die Vorrede. Reiks Sondergebiet ist die psychoanalytische Prüfung erotisch stark und eigentümlich betonter Dichter. Wie Flaubert wurden von ihm Richard Beer-Hofmann und Arthur Schnitzler gedeutet. Von vornherein ist es etwas ganz anderes, mühselig in Dichtungen und Sagen von geringer Erotik nach Spuren gehemmter Libido zu suchen, etwas ganz anderes, Dichter vorzunehmen, die mit Willen auf Darstellung des Geschlechtslebens und seiner versteckteren

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Züge ausgehen, dann aber ausdrücklich die Welt in erotischem Licht zu erblicken gewohnt sind. Einer der Lieblingsgriffe von Freuds Schule ist, den Menschen zuzumuten, daß sie in alle möglichen Dinge die Formen der Geschlechtsteile hineinsehen. Das wird derart übertrieben, daß der Unvoreingenommene nur lächeln kann. Nicht einmal die kriegerischen Werkzeuge spielender Knaben bleiben vor soldier Deutung bewahrt. Allein wirklich gibt es Dichter, die mit vollem Bewußtsein die Welt in der Form erotischer Gegenstände und Vorgänge sehen. Zufälligerweise ist mir bekannt, daß Beer-Hofmann bei der Gestaltung seiner Novelle >Das Kind< (Berlin 1893) besondern Wert auf folgende Stelle legte (S. 81): »Wie weich, wie weiblich die Formen dieser Landschaft waren; nichts Hartes, Eckiges, Schroffes! Gegen die träge sich dehnenden rundlichen Konturen drängten sich nur langhingelagerte Fabriksgebäude; dazwischen die prall gespannte Kuppel irgendeines Reservoirs, dessen Rohziegelbau einen fleischfarbenen Fleck zwischen weißen Mauern bildete, und dort hart am Saum des Waldes, dessen niedere Büsche ihn wie ein dunkles krauses Vlies umgaben, steif emporgereckt gegen Himmel, ein riesiger Rauchfang.« Noch eine Steigerung solcher erotischen Schau bedeutet in Heinrich Eduard Jacobs Roman >Der Zwanzigjährige< (München 1918, S. 309 f.) der empörte Aufschrei eines Eifersüchtigen gegen die »phallischen Architekturen« der Welt, gegen Schilfkolben, Bäume, Anschlagsäulen, gewalzte Wasserrohre, Signale. »Des Menschen Werke sind nur geschaffen, um euch unter den Gürtel zu treffen. Dem wissenden Manne ist jede Öse, jeder Tunnel eine nackte Ermahnung, der wissenden Frau vom Mast eines Schiffes bis zum Strohhalm im Eisgetränk alles ein zielloser Sporn der Wollust.« Jüngst kennzeichnete Josef Pontens Erzählung >Die erste Rheinreise, auch Erziehung zum Manne< (in dem Buche >Der Knabe VielnamTod Georgs< (Berlin 1900, S. 35 ff.). So weit wagte sich Schnitzler nicht vor. Desto enger ist Schnitzlers bewußte Beziehung zu Freud und zur 128

Psychoanalyse. Schnitzler ging zur Zeit, als er noch die Wissenschaft des Arztes trieb, die Wege Breuers und wollte funktionelle Aphonie heilen durch Hypnose und Suggestion. N ä h e r und näher kam er dann als Dichter heran an Freuds Auffassung seelischer Störungen. Freud selbst billigte dem >Paracelsus< von Schnitzler tiefe Einsicht in den seelischen Mechanismus der Krankheitsmotive zu. Theodor Reik führt in seinem Buch >Arthur Schnitzler als Psycholog< (Minden, Westf. o. J . 1 9 1 3 , S. 281 ff.) noch andere unmittelbare Beziehungen Schnitzlers zur Lehre Freuds an. E r weist besonders hin auf ein Thema, das unterirdisch alle Werke Schnitzlers durchklinge und sich innigst berühre mit den Grundsätzen der Psychoanalyse: die Vorbildlichkeit des psychosexuellen Lebens f ü r das ganze übrige Verhältnis des Individuums zum eigenen Schicksal und zur Umwelt. Sicherlich zählt Schnitzler mit Beer-Hofmann zu einer Gruppe erotisch betonter Menschen, der auch Freud und die Seinen angehören. Abzulehnen ist nur die Behauptung, daß alle übrigen Menschen mehr oder minder ebenso erotisch die Welt erleben. Und noch entschiedener abzulehnen ist der Anspruch, daß alle Dichtung als E r gebnis erotischer Veranlagung und der Hemmung dieser Anlage gefaßt werde. Auch die Motiv- und Wortforschung Sperbers und Spitzers [ . . . ] , die mit der Psychoanalyse Freuds und seiner Fortsetzer sich vielfach berührt, trifft auf ihre dankbarsten Gegenstände, w o sie die Sprache ausdrücklich erotischer Dichter nutzt. Sexualisiert wird die A n schauungswelt allerdings auch auf frühen Stufen der Menschheitsentwicklung. Wenn alter südostdeutscher Sprachgebrauch Haken und Öse als »Manderl« und »Weiberl« bezeichnet, so gehört das zusammen mit der viel weiter verbreiteten Tatsache, daß unser tägliches Brot in der Form der Geschlechtsteile gebacken wird oder mindestens in einer Gestalt, die den geschlechtlich betonten Körperteilen eignet. Uraltes und Jüngstes treffen da überein, aber aus ganz verschiedenen seelischen Voraussetzungen. N a i v e Gestaltung dort aus alter saftvoller Zeit, hier die Übersteigerungen einer späten Verfallszeit. Und zwischen beiden liegt die Welt einer Kunst, die von solcher Sexualisierung sich nach K r ä f t e n freimacht, weder naiv dem Geschlechtstrieb die Führung überläßt, noch ihn durch künstliche Mittel reizt. Nicht gerade bescheiden äußert sich Reik über die Bedeutung seiner Methode und über den Wert, der ihr im Gegensatz zu üblicher Betrachtung der Dichtung zukomme (S. 302 f.). Gern sei ihm 129

zugestanden, daß Erforschung der Stoffgesdiichte oder der literarischen Tradition nur Vorstufen seien. Bedenklicher schon klingt es, wenn er verlangt, daß eher die Grundgefühle als die Grundgedanken gesucht werden sollen, aus denen Werke entstehen. Im Widerspruch zu der »vornehmen Handlangerarbeit«, die nur Richtungen und Bewegungen unterscheide, Beeinflussungen hervorhebe, Merkmale herausfinde, will er selbst die Frage beantworten: Warum griff dieser Dichter zu diesem Stoff? Oder besser: Warum wurde er von diesem Stoff ergriffen? Als Ursache aber erscheint ihm lediglich [eine] zwangsneurotische Einstellung des Dichters. Die Erkenntnis der künstlerischen Phantasie mag gefördert werden durch solche Entdeckungen. Dem Kunstwerk selbst kann es nur schaden, es kann nur um die rechte Erfassung gebracht werden, wenn seine Voraussetzungen in einer derart bedrückenden Abhängigkeit des Geistes gesucht werden. Richtig wies Josef Körner (Literarisches Echo 19, 802 ff.) nach, daß nicht einmal an dem Dichter Schnitzler, der für Reiks Methode ein besonders glücklicher Gegenstand ist, die psychoanalytische Betrachtung ohne Zwang von Reik durchgeführt wird. Und so viel Brauchbares Reik sagt über die Gestalten Schnitzlers und über deren erotisches Leben, das von Schnitzler gewiß vielfach mit Freuds Augen gesehen wird, auch an dieser Stelle hatte Körner Entstellungen des Wesens und der Absicht von Dichtungen Schnitzlers anzumerken. Wieweit Körner selbst einen Zusammenhang zwischen Schnitzler und Freud beobachtet, läßt sich aus den scharfen und feinen Umgrenzungen seines Buches >Arthur Schnitzlers Gestalten und Probleme« (Zürich, Leipzig, Wien 1921, bes. S. 15 f.) erkennen. Unzweideutiger als in der Arbeit über Schnitzler gab Reik in dem älteren Buch über Flaubert zu, wie stark das Kunstwerk leidet, wenn in die geschlechtlichen Tiefen hinabgestiegen wird, aus denen es nach Freuds und Reiks Uberzeugung erwächst. Flauberts >Tentation de Saint-Antoine< ist sicherlich ein noch weit dankbarerer Stoff für die Untersuchung geschlechtlicher Betontheit als die Werke von Schnitzler oder Beer-Hofmann. Mit der unaufhaltsamen Gründlichkeit, die ihn Jahre auf Jahre wenden ließ an die Erzielung möglichster Echtheit der Farben, sei's in einem Romane aus der Provinz Frankreichs, sei's in einer Dichtung aus dem alten Karthago, löste Flaubert die Aufgabe, Gesichte eines heiligen Einsiedlers treffend wiederzugeben, dessen Geschlechtsleben durch Askese überreizt ist. Für die erotische Veranlagung eines 130

Dichters spräche diese S t o f f w a h l wohl auch dann, wenn nicht der ausgeprägteste Vorläufer des Naturalismus und gewissenhafteste Erforscher der Umwelt seiner Gestalten und ihrer Erlebnismöglichkeiten in Frage stünde. Ferner verrät schon ein rascher Blick in Flauberts Briefe und Tagebücher, daß er mit der Offenheit und Derbheit deutscher Sturm- und Dranggenies über Geschlechtliches zu reden liebte. Daß er ohne Scheu audi Schwächen zugab, die von andern ängstlich verhüllt werden. Gerade weil ihm selbst sein heiliger Antonius wichtiger w a r als alle seine andern Schöpfungen, läßt sich von vornherein mit Sicherheit behaupten, daß er hier Vorgänge darstellt, die er an sich selbst beobachtet hatte. Eine Persönlichkeit von Flauberts künstlerischer Prägung arbeitet nicht bloß aus freier Schöpfung der Phantasie, sie fußt auf Beobachtung und Selbstbeobachtung. Daher bedarf es eigentlich gar nicht der Psychoanalyse, um die Voraussetzungen des >Saint-Antoine< festzustellen. Freilich wird der Psychoanalytiker auf diesem dankbaren Boden sich gern bewegen. Leider aber läßt sich Reik auch hier weitertreiben zu den ebenso zwecklosen wie vergewaltigenden Unterstellungen, ohne die augenscheinlich die Psychoanalyse nicht auskommen kann. Als Anhänger Freuds sucht Reik nach den entscheidenden Erlebnissen der Kindheit Flauberts, die f ü r seine ganze spätere Phantasietätigkeit die Voraussetzungen schufen. Flauberts innige seelische Beziehungen zu seiner Mutter sind bekannt. Reik meint, ihre Wurzel aufzudecken, wenn er (S. 95) feststellt: das erste Objekt der kindlichen Liebe w a r die Mutter, das erste Objekt seines Hasses der Vater. Ausdrücklich bezieht er sich dabei auf Ranks Buch über das Inzestmotiv. D a die Libido des Kindes auf die Mutter gerichtet war, folgten alle späteren Neigungen des Mannes dieser Spur. Sein Liebestypus, behauptet Reik, w a r die verheiratete Frau, die Kinder hatte. Bedingung war, daß sie einem andern gehörte. (Als ob das bei Künstlern etwas Ungewöhnliches wäre!) Zeit seines Lebens hatte er eine, wenn auch meist platonische Liebe zur Prostitution. Mit Freud deutet R e i k : das Kind, das zuerst das Geheimnis des elterlichen Verkehrs entdeckt, sieht in der Mutter eine A r t Dirne. Die erste Eifersucht des Knaben w a r auf den Vater gerichtet. E r möchte die Liebe der Mutter allein besitzen. Reik bringt damit in Zusammenhang die Sucht Flauberts, alle Autoritäten herabzusetzen. Sie meldet sich schon im Pubertätsalter an. Dann aber wird Flaubert der stärkste Philistrophobe der französischen Literatur,

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die an diesem Typus keinen Mangel leidet. Gegen den Vater richten sich auch frühe sadistische Tendenzen. In Flauberts Novelle >Quidquid volueris< liebt der Held die Verlobte seines Freundes mit verzehrender Leidenschaft. Er vergewaltigt sie, und sie stirbt unter seinen rohen Griffen. Reik deutet: der Verlobte ist der Vater, Adele vertritt die Mutter, die dem Nebenbuhler weggenommen wird, der Lustmörder ist Flaubert selbst. Sind solche phantastische Deutungen, so seltsame Verknüpfungen nötig angesichts eines Dichters, der seine Bewunderung für den Marquis de Sade nie verhehlte? Reik führt die Belege an (S. 1 1 6 ff.). Er erblickt audi in der >Legende de Saint-Julien l'Hospitalier< einen Erweis von Flauberts Sadismus. Er versteigt sich (S. 120 f.) zu der Bemerkung: »Wenn wir auch annehmen, daß das Material bereits vorhanden war, so muß der Grund, warum Flaubert just diesen Stoff gewählt hat, tief in ihm gelegen haben. Er muß einem (verdrängten) Komplex entsprochen haben. Es ist der alte ödipusstoff. Wir sehen wieder dieselben Gefühle: Eifersucht auf den Vater, Libido der Mutter gegenüber.« Wirklich tötet Julian ahnungslos seinen Vater wie ödipus und erfüllt ebenso wie ödipus eine Voraussagung. Aber er tötet zugleich seine Mutter, und das wird von Reik auffallenderweise verschwiegen. Es stünde seiner Auffassung wohl zu stark im Wege. Noch gewaltsamer faßt Reik die Beziehungen Flauberts zu Luise Colet auf (besonders S. 1360.). Er sieht in dem Dichter, der neben dieser Liebe sein Dichtergeschäft und seine Liebe zur Mutter unbeeinträchtigt wahren will, nur ein Opfer früher Geschlechtsüberreizung, das der geliebten Frau keine ungebrochene Kraft mehr zu bieten hatte, und dann natürlich den Träger psychopathischer Belastung, die auf die Libido zur Mutter zurückgeht. Wenn irgendwo, so gerät Reik hier in das bedenkliche Fahrwasser der Psychiater, die für seelische Vorgänge von großer Feinheit und für Erlebnisse, wie sie sich für Menschen von ungewöhnlich zartem Gefühl und von gesteigerter Geistigkeit ergeben, nur gröbste, jeder genaueren Abschattung unfähige Erklärung zur Hand haben. Man möchte audi sonst von Reiks Buch, besonders aber angesichts der Schilderung von Flauberts Liebe zu Luise Colet immer wieder ausrufen: Wie grob, ja wie roh werden da zarte seelische Geheimnisse hingenommen! Wie wird alles geistige Ringen einer geistig hochstehenden Persönlichkeit zum Ergebnis krankhafter körperlicher Zustände gemacht! Und wiederum wie gewaltsam wird umgesprungen mit den Tatr

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Sachen! Flauberts Briefe bezeugen, daß er kein Verächter eines zufälligen Liebesglücks w a r . Reik stempelt ihn zum »Sexualabstinenten«. Ich verzichte darauf, die Sätze hier wiederzugeben, in denen (S. 1 7 6 f.) die »psychosexuelle Konstitution« Flauberts und ihre Entwicklung zusammengefaßt werden. Wer sie nachliest, mag erkennen, bis wohin sich hier der Versuch versteigt, die Energie des künstlerischen Schaffens aus der Geschlechtlichkeit und aus deren Neigung zur Widernatur abzuleiten. Der heilige Antonius Flauberts wird in Reiks H a n d völlig zum Ergebnis der geschlechtlichen Störungen des Dichters. Wie sehr auch Reik die bloße Beschäftigung mit literarischen Vorgängen und Richtungen und mit philologischer Textkritik verachtet, er fühlt zuletzt doch, daß sein Forschen nach den Menschlichkeiten einer großen Persönlichkeit deren Andenken beeinträchtigen könne. E r versichert daher (S. 185), daß er selbst Flaubert noch mehr verehre, seitdem er wisse, daß dieser Abseitige sein Lebensglück einem höheren Streben geopfert habe. »Ich bewundere seine Leistungen noch mehr, seit ich ihre Entstehungsgeschichte und ihre Motive kenne. Duftet die Rose weniger, weil sie einem Düngerhaufen entsprossen ist?« Sicherlich entwertet es den Diamanten nicht, wenn wir wissen, daß er nur kristallisierte schwarze Kohle ist. Allein, wird der Wert des Diamanten fühlbarer durch solche Weisheit? Heines wehmütiges Wort von den Dichtern, die wie die Leuchtkäfer bei Tageslicht nur als arme, mißfarbige Würmchen erscheinen, trifft mit überwältigender K r a f t zu, wenn dichterische Kunstwerke betrachtet werden von dem Standpunkt der Psychoanalyse. Flaubert selbst hätte solche Betrachtungsweise schroff abgelehnt. Gegen das Ausgraben schon der lebensgeschichtlichen Züge des Dichters wehrte er sich. A n Ernest Feydeau schrieb er einmal in solchem Zusammenhang: » J e pense, au contraire, que l'ecrivain ne doit laisser de lui que ses oeuvres. Sa vie importe peu. Arriere la guenille« (Correspondance 3, 179). Hierher gehört auch Flauberts oft wiederholter Wunsch, daß das Kunstwerk unpersönlich sein solle. »C'est un de mes principes: qu'il ne faut pas s'ecrire. L'artiste doit etre dans son oeuvre comme Dieu dans la Creation, invisible et tout-puissant, qu'on le sente partout mais qu'on ne le voie pas« (ebenda, S. 80). Ein andermal drückt er das gleiche aus: »II faut, par un effort d'esprit, se transporter dans les personnages et non les attirer a soi« (ebenda, S. 3 3 1 ) . Wie er das meinte, wie es ihn beglückte, nicht mehr er selbst zu sein, wenn er dichtete, verrät schon

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ein älteres Schreiben aus der Zeit der Arbeit an >Madame Bovary< (ebenda, 2, 359). Der Psychoanalytiker erblickt in solchen Bekenntnissen und Wünschen wohl nur Selbsttäuschung. Er möchte ja zeigen, daß die Kräfte, in denen er die Voraussetzungen des Kunstwerkes sucht, dem Dichter nicht zum Bewußtsein kommen. Das heißt: das Unbewußte des dichterischen Schaffens gewinnt durch die Psychoanalyse eine ganz neue Beleuchtung. Früher nahm man es gern wie einen Ruhmestitel in Anspruch, daß künstlerische Werke aus dem Unbewußten stammen. Der Künstler, dem sein Werk nicht bloß Ergebnis bewußter Arbeit ist, galt für echter. Er selbst empfand sich so. Nietzsche noch wagte das stolze Wort, daß seit Jahrtausenden keiner so überwältigende Erfahrungen von Inspiration erlebt habe wie er. »Hat jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten?« fragt er (Werke 1 MütternEin Bruderzwist in Habsburgundund< aber heißt das Wörtlein, das oft entscheidend ist. Die Literaturwissenschaft hat theoretisch und praktisch die Möglichkeit und die Aufgabe, sich mit einem beliebig erweiterbaren Kreis geistiger Werte Ehemaliger zu befassen. Sie stellt eine rückschauende und rückbezügliche Tätigkeit eines Einzelnen, Lebenden dar und sie wird ausgeübt auch zwischen gleichartig Tätigen in Bericht, Mitteilung und wechselseitiger Kritik. — Literaturwissenschaft und Psychoanalyse? und? Es gibt Tristan und Isolde, es gibt Max und Moritz, es gibt Hero und Leander, Dostojewski und Tolstoi, Christus und Judas, Verlaine und Rimbaud, immer und! Es gibt auch Schiller und Goethe, Stifter und Hebbel, Brahms und Bruckner (Gegensatz die Undlosen: Leonardo, Hölderlin, Tacitus, Bach). Die Psychoanalyse und die Literaturwissenschaft haben Eines schlechthin gemeinsam: daß sie beide das und brauchen, daß sie ohne und sinnlos werden. Deshalb ein Wort vom Und, bevor wir darangehen, das Wesen Psychoanalyse zu beschauen und es mit dem der Literaturwissenschaft in Bezug zu setzen. Das Und zeigt auch Fehlverbindungen an, sphinxartig lächelnd und schweigsam. Oft häuft und bewertet es, manchmal erläutert es, oft schafft es eine wechselseitige erhellende Ergänzung. Wann es aber lügt, das lehrt erst die spätere böse Erfahrung. Das Wörtlein: Und ist der mißbrauchtesten eines, es ist die große, allgemeine und weltgültige Eselsbrücke, manchem »Wissenschaftler« dabei und zudem noch die goldene Brücke, die er sich baut oder bauen läßt: Man setzt inkommensurable Größen nebeneinander und sagt, daß sie nun ein Eheleben miteinander haben sollen, man läßt aus Schiller und Goethe eine Klassizistik entstehen, wiewohl der Kalkül nicht aufgehen kann, usw.: und ist die Klippe, an der schon mancher scheiterte, wie Tasso und Antonio es ewig demonstrieren, so wie Achill und Patroklos.

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c) Das Wesen der

Psychoanalyse.

Das Wesen der Psychoanalyse ist grundlegend dadurch bestimmt, daß eine Beziehung zwischen mindestens zwei lebenden Menschen in Frage kommt. Die Psychoanalyse wendet sich von vornherein an einen Lebendigen. Sie erstrebt einen akuten und spürbaren Erfolg an einem Lebenden, dazu einen Klärungs-, einen Heilerfolg womöglich. Das tut sie mit Mitteln, die, von einigen zentralen Ideen ausgehend, eine Technik erstreben (und voraussetzen), die bei einem anderen Menschen, ja schließlich auf einen größeren Patientenkreis wirksam gemacht werden soll. Wie jede Technik, sucht auch sie die Einzelfälle einem Gesetz unter- und einzuordnen, wobei sie die Schwierigkeit überwinden muß, daß das klinische Objekt alles andere denn ein Kunstwerk oder etwas Abgeschlossenes ist, sondern ein Mensch voll Spannungen, Verwirrungen und Trübungen, wie sie der Kranke und der H a l b k r a n k e kennt. Auch wenn man es nicht will: bei der Psychoanalyse wird der Analysierende stets der Geste des Arztes nicht fern sein, aber ihn bestimmt in großem Maße die Verstellungskunst und das Raffinement des Patienten, der sich eine Lust daraus machen kann, die Erstellung der Analyse kompliziert zu machen oder zu ironisieren. So offensichtlich die Wechselwirkung ist, so versteckt liegen deren innere Anlässe beim Analysierenden und seinem Patienten. Es ist da bis zu einem gewissen Grade das strikte Gegenteil zur Literaturwissenschaft. Die Analyse erstrebt durch Wechselwirkung zweier Lebender die klärende Auflösung von heimlichen Dingen, von abgewürgten Wünschen, von Süchten und Sehnsüchten, deren Betätigung in der bürgerlichen Gesellschaft keinen rechten Raum hat oder vor denen sich der Patient im allerletzten fürchtet. Dinge vorwiegend sexueller Art sollen nicht mehr verwickelt sein, man erstrebt Klarheit von Verdröseltem: kurzum, dem Ganzen liegt mehrseitige Aktion zugrunde, und wenn auch die Erlangung der Technik an eine wissenschaftliche schulende Vorarbeit und an ein heuristisches System gebunden ist: die Hauptsache ist dann hernach die Routine und die Geschicklichkeit des Ausübenden, der sich, um englisch zu reden: handsome, in einer Art von Duell gegen einen Nichtgegner, dem er helfen soll, derart wehren muß, daß der Partner die Waffen zu diesem Duell im Verlauf des Vorganges selbst erst liefert. Das wird fast regelmäßig übersehen, obgleich es eine Binsenwahrheit ist, und an diesem Problem hängt die Gesamtheit aller Probleme, die mittels des: und an die Psycho143

analyse herangetragen werden. Um so mehr, als Arzt und Patient in der paradox scheinenden Lage sind, daß sie beide das Interesse haben, an sich nicht Aussprechbares doch immerhin insoweit aussprechbar zu machen, daß man sich zur Analyse gegenseitig versteht, ohne daß es zu beschämenden oder gefährlichen, bürgerlichkriminell gefährlichen Bekenntnissen komme. Es soll auch eigentlich nichts zerstört werden, wenn alle diese gewollt latenten Dinge durch einen Analysierungsakt hervorkommen, als da sind Träume, Verschobenes, Verkümmertes, Verdrängtes, Verdrücktes, Zertrümmertes, Umgeschichtetes... der Arzt als Analysierender (denn vom Salondilettanten sei hier genau so geschwiegen wie vom Literaten zweiter Kategorie) muß Praktiken haben, er wird die Theorie schließlich vernachlässigen, der Tag und die Masse erdrücken die Wissenschaft, und das Ende der Psychoanalyse kann (nicht muß) sein eine Technik genau so wie die des Chloroformierens eine ist oder die der Gehirn- oder Herzmuskeloperationen. Wenn er es auch nicht will, das Wesen der Psychoanalyse drängt den Ausübenden in die reine Empirie, der Analysierende kann niemals absehen, wohin ihn und den Patienten die halbvollendete Analyse führt und somit bekommt das Ganze möglicher-, aber nicht notwendigerweise etwas von Bekenntnis, Beichte und autobiographischer Selbstschau, der ein stark literarischer Charakter sicher ist. (Frühe Beispiele: Seuses Berichte über sich selbst, die >Bekenntnisse einer schönen Seele< in Goethes >Wilhelm Meisten, woselbst das gesamte Sexualleben einer Tiefleidenden, mit allen Sexualinstinkten und allen unerfüllten Trieben samt mancherlei Perversität schonungslos exhibiert wird unter dem Schein der Darstellung des religiösen Wegs einer Menschenseele hin zu Gott. Nicht zu verwechseln mit Rousseaus zweck bewußten Entblößungen. Eine Weiterführung von vielem der Bekenntnisse einer schönen Seele< zeigt sich in Rilkes: >Die Aufzeichnungen des Malte Laurids BriggeHölderlin, eine PathographieWerther< in allen den verschiedenen Zeiten.) Und dabei darf man nicht vergessen, daß es meist sexualia sind, die in Frage kommen (denn die Psychoanalyse beschäftigt sich faktisch überwiegend damit, auch wenn sie theoretisch nicht will). Der Fall ist theoretisch klärbar, praktisch jedoch grenzt er ans Unmögliche, weil sich die Voraussetzungen nur zitternd berühren, audi nur für kürzeste Zeit, und weil es eine unvollziehbare Vorstellung ist, daß bei diesen Voraussetzungen der Takt gewahrt bleibe, wenn die Exaktheit der Forschung nicht beeinträchtigt werden soll. Die Literaturwissenschaft ist in ihrem Wesen eine öffentliche Angelegenheit, aber die Psychoanalyse ist normalerweise sehr privat, sehr diskret: und damit ergibt sich der logische Widersinn, an eine wesentliche wechselseitige Förderung zu denken, es sei denn, daß es möglich wäre, eine wissenschaftliche Geheimliteratur zu schreiben, in der die Dinge ungescheut beim Namen genannt werden könnten, wobei allerdings die Menschlichkeit vieler sog. nationaler Geistesheroen sichtbar würde und damit ein Ende des heroisierenden Kultus, den man mit ihnen treibt. Es ist eine Angelegenheit, die wohl überlegt sein will. Es ist möglich, mittels der Psychoanalyse in manchem klarer zu sehen und Wesentliches am Kunstwerk vertieft zu deuten. Aber es geht gewaltig auf Kosten des Nimbus, die Dinge können nur klar oder sonst gar nicht ausgesprochen werden, und es ist eine Frage der Weltanschauung, ob es unter allen Umständen wünschenswert, opportun und verantwortbar ist, Leute zu entkleiden und althergebrachte literarische und biographische Vorurteile und Lügen zu entlarven. Wie es auch Hebbel, ein schätzbarer Gegenstand psychoanalytischer Forschung, mit richtiger Ahnung in dem analysierungsfähigsten seiner Werke, in: >Gyges und sein Ring«, ganz am Ende ausgesprochen hat: nur rühre nimmer an den Schlaf der Welt! und damit erhebt sich die andere Frage, ob die psychoanalytische Durchdringung mit ihrer »neuen Sachlichkeit« nicht zum >nefas< der Antike wird, so wie Horaz es einst ernst sagte: tu ne quaesieris, scire nefas, quem tibi finem di dederint! also eine Angelegenheit, die von einem Menschen mit Weltanschauung nur nach den gründlichsten Meditationen, und dann nie allgemein verbindlich gelöst werden kann. 147

b) Chancen einer

Wechselwirkung.

Nehmen wir aber trotzdem versuchsweise einmal an, die Frage sei lösbar zu beantworten und es sei alsdann demgemäß zu handeln, was ergibt sich dann? Welche Chancen werden sichtbar? Sicherlich ist es möglich, mittels der sich entwickelnden psychoanalytischen Möglichkeiten die Genesis des Kunstwerkes beim Dichter in Verbindung mit dessen vita sexualis zu klären. Je nachdem der Dichter sich selbst zeigt oder versteckt, wird der Vorgang zur Kontrolle oder zur Neufindung. Voraussetzung dazu aber sind nicht nur Kriterien, sondern vor allem auch Material. Die bisherige Psychologie hat sich in den letzten Jahren eindringlich an die Erhellung des schöpferischen Vorganges gemacht und ihre Veröffentlichungen darüber sind zahlreich, unterstützt von dem vielen, was seit dem Ende des 17. Jahrhunderts die Schriftsteller und Künstler gern von sich mitteilen. Natürlich bieten die Dokumente des aufklärerisch-autobiographischen Ticks eben nicht das, was die Psychoanalyse braucht. Sie wird sich also in der Stoffwahl des Dichters von neuem stärker umsehen müssen, um hier die Symbolik des geheimen Sexuallebens zu finden und mit ihr Kriterium und Material zugleich: ein schier unmöglicher Vorgang, der aber immerhin denkbar ist. Denn die Unbefangenheit früherer Zeit ist dagegen wehrlos, wenn man mit der Armatur der Vergleichsmöglichkeiten kommt, und es ist denkbar, daß all die vielen Untersuchungen zur Stoffgeschichte, welche die Schererschule einst gefertigt hat, nun für den Psychoanalytiker eine sehr brauchbare und bequeme Vorarbeit sind. Denn es ist kein nennenswertes Kunststück, aus dem Wandel der Stoffe und ihrer verschiedenen Übernahme auch implicite die Symbolbedeutung des Stoffes für die Einzelpersönlichkeit zu bewerten. Damit steht in engem Zusammenhang ein Zweites, wo die Psychoanalyse wirksam werden kann. Nicht nur die Genesis des Werkes kann von ihr erreicht werden, sondern auch die Struktur des Werkes und die allgemein-geistesgeschichtliche Gestalt wird sich dann der psychoanalytischen Forschung nicht völlig entziehen, wenn sie irgendwo und irgendwie abgebogen und seltsam ist. Denn da wird sich die Frage nach dem Warum um so eher erheben, weil die Brechung des Eindrucks sich schier visuell ergibt, und dies wird nur der Fall sein in Angelegenheiten, wo die Psyche des Künstlers sich wandelt, sich irgendwie verschiebt. Als Beispiele für diese Dinge mögen etwa genannt sein: Das Problem von Schillers Haß gegen Bürger, wo sich hinter einer 148

ästhetisch-kritischen Maske allerlei Moralisches verbirgt, zu dem Schiller gereizt wurde durch Bürgers Sexual- und Eheleben, das dem Schillers gar nicht so unähnlich wäre, wenn eben nicht Schiller es versucht hätte, zwischen zwei Schwestern zu stehen, was Bürger nicht so gegeben w a r . Eigen ist auch das hochkomplizierte Problem Lenz. Lenz w a r Goethes Intimus, wie so mancher andere es eine Zeitlang auch war. Dann kam plötzlich f ü r beide der Weimarer H o f , es kamen neue Beziehungen zu Männern und Frauen, wobei ungeklärt ist, was Lenz eigentlich sündigte, daß man ihn so behandelte, wie es geschah. Lenz' Schriften sind eine psychoanalytische Fundgrube wie fast keine sonst. Es gibt eigentlich keine Angelegenheit der Psychoanalyse, die bei Lenz in seiner vita und in seinen Werken nicht eine erschütternde Verwirklichung gefunden hätte. Die größte Angelegenheit aber ist der »Fall« Hölderlins, die größte und die unerhörteste (vgl. Deutsche Vierteljahrsschrift f ü r Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Band I V , S. $64—594). Von Herder sei geschwiegen, sein Fall ist noch viel komplizierter. Beispiele f ü r die Umbiegungen in der Struktur seien ebenfalls angedeutet. D a ist die vielumstrittene Parricidaszene am Schluß von >Wilhelm T e i l e sie biegt das eigentliche Werk durchaus ab, es erhält einen Strukturwandel, der sich ästhetisch natürlich leicht erklären läßt (was schon oft geschah), bei dem aber ein Rest blieb, der bisher nicht aufging. Auch Goethes >Tasso< biegt am Ende ab und um, nicht ganz unähnlich dem vorigen: es ist möglich, versuchsweise psychoanalytische Kategorien zur Anwendung zu bringen, die der Sache eine Wendung geben, die nicht schwer zu erraten ist, die sich aber an dieser Stelle im Druck nicht gut wiedergeben läßt. Dabei wird sich ein weiteres zeigen. Die von N o h l aufgestellte weltanschauliche Typenlehre kommt zu neuen Ehren: denn der Typus, dem die Beethoven, Michelangelo, Schiller, Hebbel usw. angehören, ist derjenige, der sich den Anfängen der psychoanalytischen Betrachtung am wenigsten widersetzt: es sieht so aus, als ob die vita sexualis dieses Typus einen inneren Zusammenhang hätte mit dem, was die Anwendung der Psychoanalyse einfach macht. Damit aber werden die psychoanalytischen Möglichkeiten bereits erschöpft sein. Es sieht so aus, als ob über einen gewissen Punkt weg keine Möglichkeiten sich mehr zeigen. Oben ist bereits mit aller Deutlichkeit gezeigt worden, w o die Grenzen liegen dürfen. Es versteht sich von selbst, daß Menschen mit einer so labilen Sexualität wie Heine, wie Strindberg, wie Wedekind leichte Fälle sind. Man hat sie bereits

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untersucht, wie man audi schon Wilde nähertrat. Aber das ist keine Literaturwissenschaft, sondern ein literarischer Annex zur Psychoanalyse. Hier gilt es sehr klar zu scheiden: wechselseitige Erhellung (wie Walzel es glücklich geprägt hat) darf nicht zur Verwässerung führen. Als Typ, wie weit eine (abzulehnende) Verwässerung der Begriffe (wohlverstanden, nicht der Inhalte) gehen kann, sei die Studie von A. Sperber: >Über die seelischen Ursachen des Alterns, der Jugendlichkeit und der Schönheit< genannt (Imago, Band X I , 1925). Solche Abhandlungen, an deren Wert für die Psychoanalyse nicht gezweifelt werden soll, haben mit Literaturwissenschaft um so weniger zu tun, je mehr sie »literarisch« Literarisches heranziehen, Entlegenstes mit Mondänem verbinden und eine große Verwirrung anstellen. Es wird die Aufgabe der Herausgeber von Zeitschriften und Sammelreihen sein, energisch und rücksichtslos das zur Veröffentlichung angebotene Aufsatzmaterial zu prüfen und lieber Arbeiten als unzuständig abzuweisen, anstatt Halbgarem Raum zu gönnen. In dieser Hinsicht muß sich die Psychoanalyse vom Literarhistoriker sagen lassen, daß sie jetzt gar zu liberal gewesen ist, sehr zum Schaden ihrer Sache, die eine weise und auswählende Vorsicht gebraucht hätte. Das gilt auch von der Terminologie: wenn sich jedermann seine eigene Terminologie ersinnt und lauter Neutöner sich entfalten, dann ist es undenkbar, solche Gebilde exakt zu werten, und damit entfällt immer mehr die versuchsweise hier einmal unterstellte Eventualchance eines zeitenweisen Zusammengehens von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse. Denn diese Dinge tragen große Gefahrenquoten in sich: die jüngste Literatur, die sich die expressionistische zu benennen liebte, hat, wie zu erwarten war, abgewirtschaftet. Sie hatte nicht einmal die kurze Herrlichkeit des Sturmes und Dranges, sondern sie zerfiel von Anbeginn an durch die immanente Ironie, den Ausdruck ihrer Lebensuntüchtigkeit. Sie wird nun von anderen Gebilden abgelöst, was nicht gleichbedeutend ist mit ihrem Verschwinden. Im Gegenteil: da sie zum großen Teil aus dem Lager der Psychoanalyse selbst stammt, so bietet sie nun jeweils so etwas wie die Probe aufs Exempel. An ihr wird sich mancher üben können, bevor er in die eigentlichen und schwierigen Bezirke der Literaturwissenschaft vordringt: denn dort ist es nicht mit ein paar neugebildeten Fremdwörtern und einigen halbmystischen Komplexahnungen getan, sondern dort handelt es sich um die wertvollsten geistigen Güter des deutschen Geistes, die für jeden Dilettantismus wirklich zu gut sind und die hoffentlich nicht auch noch IJO

gegen einen gewissen Abdrang geschützt werden müssen. Es ist rundweg abzulehnen, daß Leute, die ein paar psychoanalytische Aufsätze gelesen haben, sich alsdann ihre Literaturkenntnisse demgemäß adäquat machen und das Ganze als »Forschung« drucken lassen. Es geht auch nicht an, daß Gelehrte von Namen es sich bei solchen Belangen leicht machen. Die Literaturwissenschaft ist nicht ein öffentlicher Garten, selbst wenn die Denkmäler allenthalben billig zu haben sind. Und noch weniger darf die Literaturwissenschaft gleichmütig zusehen, wie durch Dritte ihre Belange getrübt und verwirrt werden. Hier bekommt das Wörtlein und einen sehr hellen und kriegerischen Klang, der nicht überhört werden soll: denn die Literaturwissenschaft ist kein Feuilleton (was kein Werturteil sein soll), woselbst solche Dinge hingehören, und noch weniger ist sie der Ort, wo Anfänger ihre Qualen ausschreiben. Schlimm genug, daß die Objekte der Literaturwissenschaft oft genug reichlich unreif sind und den aufgewendeten Apparat keineswegs verdienen. c) Vom Verstehen des Dichters und vom Verstehen der Psychologie dieses Dichters. In diesem Zusammenhang wird es vielleicht gut sein, daran zu erinnern, daß es völlig verschiedene Dinge sind, einen Dichter zu verstehen und seine Psychologie zu verstehen. Trotzdem zeigt die tägliche Erfahrung, daß die Gefahr groß ist, hier zu vermengen. Als Beispiel sei die Arbeit eines Anonymus Dr. B. im Literaturblatt der Frankfurter Zeitung vom 10. April 1927 (Nr. 15) genannt, die als »psychoanalytische Studie« >Balzacs Liebesleben< erörtert; grundsätzlich in der Art vorgehen, hieße alle Grundlagen fraglich machen. Zugegeben sei aber, daß die gegenwärtige Lage der Forschung und des Problems vorerst kaum andere Möglichkeiten und Auswege offen läßt. Und hierin sieht der vorliegende Versuch seine Existenzberechtigung, indem dem Verfasser sehr wohl bewußt ist, daß das Bessermachen nicht so einfach ist. Vielleicht ist folgender Leitsatz geeignet, verbindliche Kraft zu erhalten: die Forschung darf dem Künstler nicht mit Dingen kommen, die für sein Werk mitbestimmend, aber nicht entscheidend waren. Um das erweiternd zu erläutern: inwieweit können die sexualia generell bewertet werden? Und wenn dies schon möglich ist, inwieweit kann dann aus stilkritischen Elementen Sicheres zu einer Analyse ex post geholt werden? Es stehen sich eine konsequent verallgemeinernde Forschung und Aller-

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privatestes gegenüber. Vermengt man dieses absichtlich, so ist das eine Taktlosigkeit oder eine Niedertracht. Vermengt man es fahrlässig, so ist es Pfuscherei, aber gewiß keine Wissenschaft. Sichtbar wird also hiermit das Dilemma, nicht nur der objektiven Gegebenheiten, sondern audi der subjektiven Stellungnahme. Und daraus wird sich denn wohl als Ergebnis heute und einstweilen vertreten lassen, daß die Psychoanalyse ein wissenschaftliches Erkenntnismittel sein kann, aber nicht das wissenschaftliche Erkenntnismittel ist. Unter all diesen Vorbehalten läßt es sich vertreten, daß man im besonderen auch die sexualia der Dichter und Künstler ex post und annäherungsweise untersucht, öffentlich erörtert, wobei das eine immer noch das Verständige ist: ehedem von den Zeitgenossen begangenes Unrecht zu benennen, wenn es schon nicht mehr »wieder gutgemacht werden« kann. Denn die Mißhandlung, der sich besonders in Deutschland der unabhängige Geist ganz zwangsläufig aussetzte und immer wieder aussetzt, — die Mißhandlung mit Fälschung, Vertuschung und Lüge ist groß genug, daß sie nicht wie ein ewiges Übel von einer Wissenschaftsgeneration in die nächste autoritätsgläubig und stumpfen Sinnes mitübernommen werde, und wenn die Psychoanalyse imstande ist, hier einen Krebsschaden der deutschen Geisteswissenschaften und vor allem der Literaturwissenschaft auszurotten: va bene, der Dank der Gesühnten wird nicht ausbleiben. d) Moden und

Übergangserscheinungen.

Ein Weiteres kommt hinzu: durch den Vorgang Simmeis und der Soziologie kommt man allmählich allenthalben dazu, die Kollektivdummheiten ganzer Generationen zu sehen und zu benennen, also all die Moden, Vorurteile und Kollektivsuggestionen, die zusammen je und je die öffentliche Meinung bildeten: die Literaturgeschichte und ihr übergeordnet die Literaturwissenschaft: beide basieren zum größten Teil nicht auf eigener Anschauung und eigenem Urteil, sondern sie erfreuen sich einer beispiellos verheerenden fable convenue. Der sog. Geschmack ändert sich ungern und langsam. Die Heroenfreudigkeit der Deutschen gehört in dieses Kapitel (Goethe, »unser Luther«, der »edle Schiller«, u. a. m.). Wenn es einer etwa möglichen Zusammenarbeit von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse gelänge, unter Wahrung der oben gezeigten Grenzen, die bleierne Last der übererbten und schiefen Vorurteile zu brechen, dann 152

wäre der Vorteil für das deutsche Geistesleben wesendich: denn dieses ist allzu stark gegängelt, war es immer und wird es bleiben, wenn nicht ein Faktor eintritt, der die Leute packt, weil er sie selbst angeht, indem er sich mit dem Sexualleben befaßt. Freilich muß einschränkend nicht unerwähnt bleiben, daß der große Haufen hier Mißverständnisse pflegen wird. Denn er wird sich einbilden, daß des Künstlers Sexualität, wie er sie zu sehen glaubt, seiner eigenen Trübe wesensgleich sei, und er wird das Stigma des Außerordentlichen mit dem ihm, dem Pfahlbürger, mit Recht Verbotenen gern verwechseln. Dann allerdings würde sich solcher Bürger einer noch viel größeren Illusion als der Autoritätsfreudigkeit hingeben, nämlich der, daß es sich hier um gleiche Dinge handle, wenn auch die Vokabel dieselbe sein kann, und er würde sich mit der ganzen Subalternität seiner Art an Dinge herandrängen, darin er sich ausnimmt, wie der bourgeois gentilhomme in der großen Welt. Die Verantwortung aber, welche diese Perspektive den Beteiligten aufgibt, ist groß, größer als manche frühere. Natürlich dürfen die Dinge nicht überschätzt werden. Die allgemeine Abwendung der Masse vom Geistigen weg zum Sport und Kino hin schafft einen entlastenden Ausgleich. Den meisten Menschen ist die Literaturwissenschaft höchst gleichgültig, was nicht hindert, daß eines Tages die übliche rückläufige Bewegung kommen wird. Wenn die Wissenschaften der Literatur und der Psychoanalyse produktiv zusammengehen (insoweit dies möglich ist), dann werden sie seinerzeit gewappnet sein und die einst kommenden Forderungen befriedigen können, wenn der letzte Sportplatz verlassen wird und die Kinos endgültig schließen. Es ist dies das Gebiet der Lyrik im besonderen, das hier gemeint ist: die Ekstase des Rausches hat nicht Raum in der Tragödie oder im Roman. Aber die Lyrik ist ihre Domäne. Mit zunehmender Irrationalisierung (wie sie jede Rationalisierung zwangsläufig zeitigt) wird der Tag kommen, an dem die ekstatische Erschütterung anders als anno 18 ff. gemeinverbindlich wird. An diesem Tag, an dem die Sexualhemmung aufhört und damit auch keine Analyse mehr nötig ist, wird es sein, daß die Literaturwissenschaft wie eine treue Hüterin die Scheunen öffnet und die Menschheit sich rückerinnert, gelöst und entbunden wird. Die destruktive Tendenz, die zur Zeit das meiste Geschehen bestimmt, wird dann an Gewicht verlieren, und es kann sein, daß die elementarsten Begriffe der Psychoanalyse, vor allem die libido, plötzlich nicht mehr gegenständlich werden. Es ist Aufgabe jeder Wissenschaft, vorzusorgen. J

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Auch ihr muß etwas Prometheisches eigen sein. Und wenn beim I i . allg. ärztl. Kongreß für Psychotherapie in Nauheim, Ende April 1927, der Referent Goldstein neben dem Sexualtrieb einen Todestrieb annimmt, so ist damit für die Literaturwissenschaft ein Wink gegeben, da sie ein Werk wie Ungers: >Herder, Novalis und Kleist< (Studien über die Entwicklung des Todesproblems..., Frankfurt, 1922) bereits ihr eigen nennt, welches einen verbindenden Anfang darstellt. Auch hier kann dieser Versuch nicht weiter ausholen, wenn er nicht seinen Rahmen sprengen soll. Da nun schon einmal Kleist genannt ist, so wird es gut sein, ihn in die Nachbarschaft der Psydioanalyse zu bringen, nicht wegen der ungeklärten Würzburger Reise, sondern wegen deren Folgen. Kleist und Hebbel scheinen für diese Studienlage sehr typische Erscheinungen zu sein, mehr wie, der Intensität nach, Platen, dessen Tagebücher so wenig Federlesens mit sich selber machen. Aus diesem allen wird wohl deutlich, daß es zunächst sehr eindringlicher Studien zur Methodenfrage bedarf. Denn die Psychoanalyse ist so gelagert, daß zwei lebende Subjekte in ihrer Individualität sich zu einem klärenden Endzweck entgegenkommen und sich (literarisch gefärbt) zu verständigen suchen. Dabei wird die Haltung des Patienten sehr oft von Dichtwerken oder von einzelnen dichterischen Dingen bestimmt sein. In langsamem Sprechen werden Komplexe erörtert und die libido geklärt, d. h. sie erhält wieder die nötige Distanz, die allein ihr die Möglichkeit zum Atemholen schafft. Die Psychoanalyse wird bei der Erhellung der Genesis des Werkes eines Künstlers schwerlich mehr sein können und wollen, als eine Beihilfe, die geleistet wird in der Voraussetzung, daß eine Teilanalyse ex post kein Widersinn ist. Der Dichter aber, und auf ihn und seine Menschlichkeit kommt es schließlich doch allein an, der Dichter, der Künstler ist nimmer da und kennt seine Stätte nicht mehr. Er kommt vielleicht nur unvollständig in das Wissen der Nachgeborenen, aber es kann sein, daß selbst das dem inneren Lebenszweck der Natur genügt: diese vergeudet nie, auch nicht im Kunstwerk. Der vorliegende Versuch geht davon aus, daß die analytische Betrachtung des Dichters und des Kunstwerkes in kritischen und vergleichenden Bezug gesetzt werden muß mit der Situation zwischen Arzt und Patient. Die Gleichheiten und vor allem die Verschiedenheiten sind oben deutlich dargelegt worden. Darüber hinaus verstehe man aber diese Situation nicht einseitig: es wäre ein grelles Mißdeuten, wenn der Dichter grundsätzlich der patientähnlichen

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Lage dargebracht würde. Vielleicht ist das eine der schönsten Aufgaben des Arztes, im Patienten das irgendwie gestörte und verletzte Gleichgewicht wieder herzustellen, also über den klinischen Fall menschlich beträchtlich hinauszugehen. Der Arbeiter in den Belangen der Literaturwissenschaft möge hier besonders aufmerken und darüber nachdenken, ob sein Vorgehen stets von genügender Menschlichkeit getragen ist und ob er den Dichtern und den Kunstwerken gegenüber stets die reine Menschlichkeit bewahrte. Es wird sich bald zeigen, daß dies nicht immer der Fall ist: wehrlos liegen die Dinge vor ihm, er kann sie zur Agitation benutzen, er kann unterschlagen und irreführen, seinen besonderen Zwecken gemäß. Im vorigen ist manche scharfe Bemerkung zur Moral gefallen. L i teratur« hat das Stigma, daß sie leicht von der Ethik abrückt und in irgendwelches Moralisieren hineinkommt: die Überfülle der erscheinenden literarischen Gebilde beunruhigt, sie will und soll irgendwie gebändigt und zu Rande gebracht werden. Man mißdeute es also nicht, wenn dieser Versuch audi diese Frage gestreift hat: wenn wo, dann ist in der möglichen und teilweisen Wechselbeziehung von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse das Tragische im Wesen der >Literatur< zu sehen, daß sie wächst und produziert, ohne daß es überblickbar ist, genau so, wie Tausende von herrlichen Wolken einsam und von niemand gesehen über verlassenen Weltgegenden stehen — und vergehen, ungekannt, zwecklos, ungeliebt. Die Wenigen, die sich daraus die Literaturwissenschaft schließlich als Objekt denken kann, die wenigen aus der Gesamtmasse, verdienen alle Einsicht und Besonnenheit derer, die mit ihnen umgehen. Es sind die Leidträger, die erkannten und die noch nicht als Leidträger »Erfahrenen«. Der unsäglichen Melancholie dieser Bezüge sei gedacht, wenn wir diesen Versuch mit den gleichen Worten schließen, mit denen er begonnen wurde: Siehst du? So lohnt die Welt für unsere Sorge. Sie saugt uns aus und findet uns dann welk, indes sie prangt mit unsern besten Kräften . . .

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W A L T E R MUSCHG

Psychoanalyse und Literaturwissenschaft [1930] Die Literaturwissenschaft unserer Zeit nimmt wenig Notiz von der Tatsache, daß seit etwa zwanzig Jahren in ununterbrochener Folge Abhandlungen und umfangreiche Werke über Gegenstände ihres Forschungsgebiets von medizinischer Seite veröffentlicht werden. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der von Sigmund Freud geschaffenen Psychoanalyse hat sich das Faktum herausgebildet, daß eine Partei von schriftstellernden Ärzten hartnäckig einen Anspruch auf den Stoff der Literaturwissenschaft behauptet, dessen Natur und Berechtigung heute bereits an einer großen Zahl von Publikationen nachgeprüft werden können. Es ist hier nicht die Gelegenheit, auf die Hauptsätze der psychoanalytischen Lehre selber einzutreten. Wir begnügen uns mit dem Versuch, die Stellung dieser Lehre zum Forschungsbereich des Literarhistorikers zu umschreiben und aus dem Nebeneinander der zwei Standpunkte, wenn dies möglich ist, einige Folgerungen abzuleiten. Die literarischen und kunstwissenschaftlichen Interessen der Psychoanalyse gehen unmittelbar auf ihren Begründer zurück. Unter den frühen Arbeiten Freuds befindet sich die Untersuchung >Der Wahn und die Träume in W. Jensens GradivaDen Witz und seine Beziehung zum Unbewußten< hat Freud den Boden der ästhetisch-systematischen Abhandlung betreten. Seine >Traumdeutung< sodann ist reich an literarhistorischen Materialien und hat ihren Höhepunkt in einer Auslegung des Sophokleischen >ödipus< und des >HamletDas Unheimliche< wird die Gestalt Ε. Τ. A. Hoffmanns, in dem Aufsatz >Eine Kindheitserinnerung aus Dichtung und Wahrheit< die berühmte Episode des geschirrschmeißenden kleinen Goethe in höchst folgenreiche neue Beleuchtung gestellt. 156

Die bekanntesten Schüler Freuds zeigen ein ähnliches Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit der poetischen Literatur. Alfred Adler nennt in seiner >Praxis und Theorie der Individual-Psychologie< an dichterischen Kunstwerken, die ihm zu seinen Erkenntnissen Führer gewesen seien, als Gipfel die Märchen, die Bibel, Shakespeare und Goethe. Die Schöpfungen der Dichter, heißt es da geradezu, und das Ausmaß, in dem sie von der neuen Arbeitsmethode begriffen würden, seien der Maßstab dafür, ob sich die Adlersche Individualpsychologie auf dem richtigen Wege befinde, und die Betrachtung Dostojewskis bildet ein wichtiges Kapitel dieses Lehrbuches. Der genialische Stekel, von Freud später als verwildert und verwahrlost abgelehnt, hat 1 9 1 2 >Die Träume der Dichten zusammengestellt und dabei Gottfried Keller und Hebbel als unerreichte Träumer gepriesen. Das Ergebnis dieser übrigens oberflächlich zusammengeschusterten »vergleichenden Untersuchung der unbewußten Triebkräfte bei Dichtern, Neurotikern und Verbrechern« ist im Titel einer zweiten Schrift aus der gleichen Feder zusammengefaßt — er lautet: >Dichtung und NeurosePsychosexueller InfantilismusPrometheus und Epimetheus Wandlungen und Symbole der Libido< sind durchsetzt mit >FaustImagoDas Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen SchaffensGrünen Heinrich< bezeugt auch für Gottfried Keller ein frühzeitiges Interesse von dieser Seite, das seither noch oft zu konstatieren war. Tolstoi und Dostojewski, Kleist, Hebbel, Gotthelf, Otto Ludwig, C. F. Meyer, Ri158

chard Wagner, Flaubert und Anatole France, Strindberg und Ibsen, Hamsun, Verhaeren, aber auch Milton und Grimmelshausen, H a r t mann von Aue und Walther von der Vogelweide haben in ausführlichen >Pathographien< oder in mehr beiläufigen Anmerkungen und Notizen solche psychoanalytische Behandlung erfahren. Diese meist medizinisch gebildeten Autoren haben sich zur Rechtfertigung ihrer Übergriffe von allem A n f a n g an, gleichsam an der zünftigen Literaturwissenschaft vorbei, auf die Dichter selber berufen. Seit dem Moment, w o die Traumforschung ein Hauptinteresse der Psychoanalyse beanspruchte, waren sie in der Lage, Sympathieerklärungen aus Dichtermund zu sammeln, wie sie schlagender nicht denkbar sind. Hieher gehört das von Stekel zitierte Wort Jean Pauls: »Besonders könnte ich mich wundern, warum man den Traum nicht gebraucht, um daran den unwillkürlichen Vorstellungsprozeß der Kinder, der Tiere, der Wahnsinnigen zu studieren, sogar der Dichter, der Tonkünstler und der Weiber.« Aus Jean Paul, aus Lichtenberg, aus den Hebbelschen Tagebüdiern wurde eine reiche Ernte an ähnlichen Bestätigungen und Ahnungen eingebracht, die in ihrer Gesamtheit nichts anderes als ein Vorspiel zur begrifflich formulierten Traumanalyse ergeben. Das Traumbuch, das etwa der junge Keller von 1846 bis 1848 geführt hat, wurde zu einer Fundgrube der neuen Interpreten, vor allem aber zu einer weiteren Stütze f ü r die Behauptung, die Freud gegen seine Fachgenossen verteidigte: daß der Traum ein ernsthaftes Interesse verdiene, weil er einen lebendigen Sinn enthalte. Diese Auffassung w a r es audi gewesen, die Freud zu Jensens Novelle >Gradiva< hingezogen hatte. Wie das Altertum, wie das naive V o l k und wie der Schöpfer der Psychoanalyse traute jener Dichter, im Gegensatz zur gesamten modernen Wissenschaft, dem Traum eine Bedeutung zu, und Freud zögerte nicht, sich mit dem Poeten solidarisch zu erklären, indem er zugleich feststellte, daß »die poetische Behandlung eines psychiatrischen Themas ohne Einbuße an Schönheit korrekt ausfallen« dürfe. Die auffallend reichen Beziehungen zur Poesie, die in jenen Anfängen aus dem Impuls des Begründers geschaffen wurden, sind der Psychoanalyse bis heute geblieben, w o ihre Zeitschriften neue Romane unter analytischen Gesichtspunkten rezensieren und fortwährend die mannigfachsten Streifzüge durch den Bezirk der Dichtung wie der andern Künste unternehmen. Diesen ersten Konstatierungen ist aber noch eine weitere hinzuzufügen. Es ist längst bekannt, daß die Psychoanalyse auf die

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entstehende zeitgenössische Dichtung, und nicht nur auf die deutsche, einen direkten Einfluß übt. Der Kenner des deutschen Expressionismus weiß, daß diese literarische Epoche ohne Freud nicht denkbar ist. Von den zwei Erzählern, die im deutschen Sprachgebiet am bedeutendsten aus ihr hervorgewachsen sind, ist der 1924 verstorbene Tscheche Franz K a f k a durch eine wunderbare dichterische Verwendung des Traumlebens ausgezeichnet, wie sie ohne die Psychoanalyse wohl kaum möglich gewesen wäre, und der zweite, Alfred Döblin, selber ein Nervenarzt, mit ehrfurchtsvollen Worten für Freud eingetreten. Thomas Mann und Hermann Hesse haben ihre Bewunderung für die Psychoanalyse und die Abhängigkeit der eigenen Hervorbringungen von ihr öffentlich eingestanden. Albrecht Schaeffer, vor dessen verschwenderischer Begabung sich Freud verneigt hat, zeigt in seinem Hauptwerk, dem >HelianthDer Dichter und das Phantasieren< sucht Freud für seine Zwecke ausdrücklich »nicht gerade jene Dichter aus, die von der Kritik am höchsten geschätzt werden, sondern die anspruchsloseren Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten, die dafür die zahlreichsten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden«. Es ist ihm eben darum zu tun, die kollektiven Erscheinungen in der Produktion und Aufnahme der Dichtungen zu erfassen, und einer seiner Schüler hat folgerichtig Dichtungen Jugendlicher herausgegeben, wiederum nicht um das ästhetisch-metaphysische, sondern um das psychologische Geheimnis der Poesie aufzuspüren. Die Ausnahme, auch die geniale, wird da überall relativiert oder doch den Maßstäben für das Gewöhnliche angenähert. Denn das Unbewußte, in dem der Dichter für die Augen des Psychoanalytikers lebt, ist kollektiv. Je tiefer er in die Mysterien dieses dunklen seelischen Bereichs zurüditaucht, desto weiter entfernt er sich von sich selbst, von jenen Elementen seiner Existenz jedenfalls, aus denen sich der Begriff einer bewußt handelnden Individualität gewinnen ließe. Da die Psychoanalyse keine willkürlichen seelischen Regungen kennt, sieht sie auch in der Kunst nirgends die Möglichkeit einer zufälligen, lediglich individuell bedingten StofTwahl und Motivgestaltung. Im dichterischen Prozeß beherrschen die >Mechanismen< der unbewußten psychischen Tätigkeit das scheinbar freie Spiel der Phantasie. Je mächtiger diese waltet, desto deutlicher stellt sie die zwanghafte Arbeit des Unbewußten dar, und der geniale Schöpfer zeigt die offenkundigsten Bezüge zu den andern Äußerungsweisen, 162

die von diesem Unbewußten genauer bekannt sind: zum Neurotiker, zum Geisteskranken, zum Mythus und zum Traum. Es ist kein Wunder, d a ß dieselben psychoanalytischen Schriftsteller, die sich mit der Deutung dichterischer Werke befassen, auch mit den Problemen der Mythenforschung beschäftigt sind. Hier, in der Entstehung und Weiterbildung des Mythus, fehlt ja die bestimmende Dichtergestalt vollends, hier ist alles anonym und kollektiv. Die Psychologie der unbewußten Prozesse wird wie f ü r das Verständnis der Dichtung, so auch f ü r die Auffassung des Mythus von entscheidender Bedeutung. Die typischen Traumgebilde, so der Nacktheits-, der ödipustraum, lassen Schlüsse auf das Alter, auf die innere Struktur der Volksphantasien zu, denn sie liegen ursprünglich ihren Motiven gleichfalls zugrunde. Auf diese Weise vermischt sich Traumdeutung mit Mythologie, Mythendeutung mit Deutung der Poesie. Auch diese Interpretationen der Drachengestalt oder der >Feindlichen Brüden beispielsweise können dem Literarhistoriker nicht gleichgültig sein, da sie schon stofflich die Themen der älteren Dichtung berühren. Das ist nun allerdings nicht erst seit den psychoanalytischen Deutungsversuchen die Lage der Dinge. N e u ist an ihnen aber die Verschmelzung der drei Gebiete zu einem einzigen Forschungsbereich, durch welche besonders die Fragen der Mythenforschung unmittelbar an die Literaturwissenschaft herangetragen werden. Alle drei liefern sich da gegenseitige Hilfe in der Erklärung der menschlichen Phantasietätigkeit und ihrer verschiedenartigen Erzeugnisse. Diese Kombinationen sind ja auch schuld daran, daß sich die Freudsche Psychologie der Dichtung weit herausfordernder an die Literaturwissenschaft herzudrängt, als es bei den andern Formen der Psychologie jemals der Fall war, obschon auch jene sich ausgiebig mit ästhetischen Problemen der Dichtung beschäftigten. Das Resultat lautet: es gibt bestimmte unbewußte Triebkräfte, welche die Tätigkeit der Phantasie hervorrufen, und bestimmte psychische Mechanismen, die an ihrem Entstehen beteiligt sind, sie spielt sich überdies in bestimmten symbolisierenden Ausdrucksformen ab, die sich ergründen lassen und die ergründet worden sind. Auf diesem Weg ist etwa Rank im Gegensatz zu den bestehenden gelehrten Ansichten dazu gelangt, den Ausgang des >Hildebrandsliedes< dahin zu rekonstruieren, d a ß der Sohn den Vater erschlagen haben müsse, weil die vorliegende Konstellation des Ödipuskonflikts, verbunden mit dem Vergleich ihrer verwandten Versionen in der Weltliteratur, diesen Schluß als fast selbstverständlich erscheinen lasse. 163

Es gehört aber in das Bild dieser Unternehmungen, daß an dieser Stelle eine ihrer Schattenseiten aufgedeckt wird. Als solche haben wir einen bisweilen ans Zynische streifenden Rationalismus und Schematismus hervorzuheben, mit dem der einmal konstruierte Begriffsapparat von den Freudschülern kritik- und wahllos den größten wie den kleinsten Erscheinungen der Literaturgeschichte aufgezwängt wird. Die psychoanalytische Literaturbetrachtung ist längere Zeit am sichtbarsten durch J. Sadger repräsentiert worden, einen gänzlich subalternen Vielschreiber, dessen Abhandlungen über Kleist, Hebbel, C. F. Meyer als üble Machwerke bezeichnet werden müssen. Zur Ehre der Bewegung ist zu sagen, daß solche Schriften nie den wahren Stand ihres literaturwissenschaftlichen Interesses verraten haben. Aber es bleiben auch ohnedies an den Publikationen der psychoanalytischen Schule noch genug Besonderheiten haften, die die Zurückhaltung der akademischen Literarhistoriker teilweise erklären können. Die Nichtachtung des künstlerischen Ranges ergibt sich bei ihnen nämlich nicht nur aus der N a t u r der aus der Psychoanalyse bezogenen Grundbegriffe, sondern auch aus der Auswahl der Werke und Autoren, die als Kronzeugen der Dichtung angezogen werden. Gleich jene Arbeit Freuds über Jensens >Gradiva< behandelt mit rückhaltloser Hingabe eine Novelle aus dem Kreis des Münchner Epigonentums, deren Qualitäten mit den N a m e n Geibel und Heyse eher zu hoch angegeben werden. Die Unsicherheit des Urteils, die hier aus gewissen Gründen noch auf Verständnis zählen darf, steigert sich bei einem Stekel zur offenbaren Geschmacklosigkeit. Seine Arbeit über die Träume der Dichter besteht im Hauptteil aus den Ergebnissen einer Rundfrage bei lebenden Autoren, deren erdrückende Mehrzahl dem Kenner der Literatur keine Aufmerksamkeit aufzunötigen vermögen, weil sie kaum ein dürftiges Durchschnittsniveau erreichen. Audi die meisten andern Psychoanalytiker wenden dort, wo sie den Boden der modernen Dichtung betreten, ihre Aufmerksamkeit Dichtwerken zu, die kaum eine Erörterung über ihren Kunstwert vertragen. Schließlich räumen ja auch Jungs Psychologische Typen< in anspruchsvollstem Zusammenhang der Analyse von Spittelers >Prometheus und Epimetheus< einen Raum und eine Bedeutung ein, die ähnliche Einwände hervorrufen, und das gleiche Buch enthält eine Auslegung von Gedichten Hölderlins, die über dem Inhalt allzusehr die Scheu vor der genialen Formgebung zu vergessen scheint. Es kommt hinzu, daß sich, abgesehen von Freud selbst, die psychoanalytische Literatur fast durchwegs in 164

jenem mit Recht verrufenen Medizinerdeutsch gefällt, das gerade gegenüber gewissen künstlerischen Tendenzen der modernen literaturwissenschaftlichen Forschung aufs heftigste absticht. Die inneren Gegensätze könnten auch formal nicht krasser ausgeprägt sein. Geschichtlich betrachtet bestehen sie allerdings zu Recht. Denn die ersten großen Werke Freuds sind in einer Epoche entstanden, deren öde Kunstideologie und Naturentfremdung Reaktionen hervorrufen mußten. Die eine von ihnen ist die psychoanalytische Negierung des vergötzten klassizistischen Künstlertyps und seine Ersetzung durch das Schauspiel einer unentrinnbaren Gebundenheit auch des höher gearteten Menschen an die Kräfte der Materie, an die Gewalt des Blutes und des naturwissenschaftlich bestimmten Fatums. Eine andere dieser Rüdewirkungen, entgegengesetzt gerichtet, sind wir heute in der Erscheinung Stefan Georges zu sehen gewohnt, der das Ideal des großen Dichters aus dem öffentlich-nationalen Bildungsbetrieb in eine feierliche Einsamkeit entrückte, um es für größere Zeiten aufzubewahren. Aus seinem Geist ist seither eine Literatur- und Geschichtsbetrachtung hervorgegangen, die wohl als das eigentlich extreme Widerspiel der psychoanalytischen Persönlichkeitszerstörung angesprochen werden muß: ein Kult des überzeitlich großen Einzelnen, der noch in seiner entlegensten Äußerung als Symbol verherrlicht wird. Beide Arten der Betrachtung sind übrigens ursprünglich außerhalb der sogenannten offiziellen Literaturund Geschichtswissenschaft erwachsen und spielen heute im Bereich dieser Disziplinen die Rolle der auffälligsten Unruhestifter. Von dem erhöhten Standort, der damit angedeutet ist, erscheinen nun allerdings auch manche Befremdlichkeiten dieser psychoanalytischen Schriften, ja selbst ihre stilistische Zuchtlosigkeit, in etwas verändertem Licht. Ihrem wenig gepflegten Gehaben, das lediglich von den immanenten Konflikten des Kunstwerks und nichts von ihrer Überwindung in der Form wissen will, entspricht eine tiefere Absicht, eine Hybris, ein rücksichtsloser Übermut, zu dem sich die Träger einer programmatisch zugespitzten Kampfthese jederzeit gern bekannt haben. Er stellt insofern auch nicht etwas Niedagewesenes vor, denn audi die Literaturwissenschaft ist immer wieder der Schauplatz solcher barbarischer Einbrüche von Eroberern gewesen. Wir brauchen nicht auf die Tage der romantischen oder jungdeutschen Theoreme zurückzugreifen, es genügt, daß wir uns an die Einführung der positivistischen Gedanken in die deutsche Literaturgeschichtsschreibung erinnern, um ein historisches Beispiel 165

solcher stürmischen und auch die Übertreibung suchenden Vergewaltigung vor Augen zu haben. Sie beweist zunächst nichts anderes als einen Überschuß lebendiger Initiative, der dem Gegenpart den Willen zur sachlichen Auseinandersetzung nicht unterbinden sollte, um so weniger, als Freud, der Urheber all dieser Umtriebe, die folgenden Sätze über sie niedergelegt hat: »Es ist hier übrigens alles im ersten Beginn, wenig ausgearbeitet, meist nur Ansätze und mitunter audi nichts anderes als Vorsätze. Wer billig denkt, wird darin keinen Grund zum Vorwurf finden. Den ungeheuren Mengen der Aufgaben steht eine kleine Zahl von Arbeitern gegenüber, von denen die meisten ihre Hauptbeschäftigung anderswo haben und die Fachprobleme der fremden Wissenschaft mit dilettantischer Vorbereitung angreifen müssen« (Freud: >Zur Geschichte der psychoanalytischen BewegungProbleme der Mystik< des jungen Herbert Silberer versuchte vergeblich, ein >anagogisches« Prinzip in die mechanistische Beschreibung des Seelenlebens einzuführen, und es bedeutet dasselbe, wenn eine dritte Stimme an ihr die »eingeborene Idealität des Ich« vermißt. Ein Schüler Freuds, H a n n s Sachs, hat die geschilderte Anschauung zu spezialisieren versucht, indem er aus dem psychologischen Sonderfall der Gemeinsamen Tagträume< weitere Schlüsse zog. Es kommt vor, wird dort gesagt, daß sich zwei junge gleichgeschlechtliche Menschen zusammenschließen, um gemeinsam ein phantasiertes Wunschleben auszugenießen. Sachs unterläßt es, die reichen Belege herbeizuziehen, welche die Literaturgeschichte in den Dichterbiographien f ü r diese Erscheinung bietet, und wendet d a f ü r seine aus der Praxis gewonnenen Resultate auf das seelische Verhalten des erwachsenen Dichters an. Danach befindet sich dieser mit einem imaginären Partner, dem Publikum, in einer entsprechenden Situation. Der Tagtraum des Einzelnen ist asozial, er befriedigt nur das vereinsamte Individuum; der gemeinsame Tagtraum dient zwei Teilnehmern auf Grund bestimmter Voraussetzungen, die in ihnen erfüllt sind, das Kunstwerk aber ist f ü r möglichst viele geschaffen und wird auf Grund eigentümlicher Prozesse eine große soziale Leistung wie die Wissenschaft oder die Religion. Es sind damit nur die gröbsten Umrisse dieser Schrift angedeutet; ich erwähne sie audi deshalb, weil ihre ausgezeichnete Sachkenntnis und Schreibart einen entschiedenen Bruch mit den unerfreulichen Gepflogenheiten anderer psychoanalytischer Abhandlungen darstellt. Obschon sich auch hier die Konklusionen etwas allzu rasch ergeben, werden diese Essays über Schillers >Geisterseher< und Shakespeares >Sturm< auch vom außenstehenden Forscher mit Interesse und Genuß gelesen werden. Natürlich ist nicht die Frage nach dem Wesen der dichterischen Phantasie das Neue an diesen Lösungsversuchen. Es genügt, den einen N a m e n Wilhelm Diltheys zu nennen. Ich sehe das Wertvollste dieser Beantwortungen in der psychologischen Vertiefung, die sie in unsere Anschauung vom Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft hereintragen. Die Frage nach der Herkunft des vom Dich167

ter gestalteten Materials und seiner formenden Kraft ist in ihnen allerdings mit einem Willen zur konkreten Faßbarkeit gestellt, der sich als solcher auf die Dauer durchsetzen könnte, wenn er den Grundsatz möglichster Zurückhaltung und Vorsicht weiterhin beibehält. Ein anderes Merkmal, das dem fremden Betrachter an diesen Forschungen auffällt und das mit dem Wesen der Psychoanalyse zusammenhängt, ist die radikale Psychologisierung der dichterischen Phänomene. Angesichts ihres Vorgehens mag der Literarhistoriker allerdings erkennen, wie tief er tatsächlich in der Legendenbildung befangen ist, die der Historiographie heute von mehr als einer Seite zum Vorwurf gemacht wird. Aufbau, Personal und Szenerie eines dichterischen Werkes sind dem Analytiker zum vornherein nur verschiedene Dokumentationen eines tieferen Sinnes, der sich hinter ihnen verbirgt. Sie symbolisieren die unbewußten Prozesse, die Zustände und Regungen in jenem Bereich der Psyche, der nur auf indirekten Bahnen beleuchtet werden kann. Die Gestalten des Faust oder des Mephisto zum Beispiel, die nach dem Glauben einer anders orientierten Auslegung längst ein vom Dichter und von der Dichtung losgelöstes Leben im Bewußtsein des gebildeten Europäers führen, werden hier plötzlich wieder als Manifeste einer bestimmten Phantasie, als Kundgebungen einer besonderen menschlichen Verfassung in Untersuchung gezogen. Sie sind wie alle künstlerischen Gestaltungen lediglich »Projektionen< seelischer Tatsachen und Vorgänge nach außen, die verführerisch schöne Verkleidung des immer gleichen armen dichtenden Ichs. Die Analyse führt sie erbarmungslos auf den funktionalen Gehalt zurück, der in ihnen investiert ist. Sie nennt dieses Verfahren Rückprojektion oder Reduktion, und sie wendet es nicht nur gegenüber den Personifikationen der dichterischen, sondern audi an denen der religiösen Phantasie an. Wenn man bedenkt, wie tief der Literaturwissenschaft die Tradition der heroischen Idealisierung sowohl des Dichters wie der erdichteten Gestalt eingepflanzt ist und mit welchem Erfolg diese mythenbildnerische Überlieferung sich noch heute durchzusetzen weiß, dann wird auch der Literarhistoriker in dieser Methode nicht mit Unrecht so etwas wie ein Gottesgericht über seine Forschung erblicken. Es besteht in der konsequenten Anwendung des genetischen Prinzips. Das bedeutet aber keineswegs, daß die Elemente des dichterischen Werkes auf biographische Tatsachen zurückgeleitet werden. Der Inhalt der Biographie untersteht vielmehr demselben 168

Grundsatz der Deutung, so daß etwa das reale Liebeserlebnis eines Dichters samt seiner künstlerischen Darstellung auf den gemeinsamen Grund: auf die unbewußte Beziehung zur Mutter reduziert wird. In dieser Problemstellung erscheint die Dreizeitigkeit des Phantasielebens wieder, die Freud für den Dichter festgestellt hat. Die erfundenen Gestalten haben also den Nimbus der Endgültigkeit durchaus verloren. Die sämtlichen Personifikationen der Leidenschaft, die ein Dichter in seinen Werken und in seinem Leben aufweist, werden gegeneinander gehalten, probeweise füreinander eingesetzt, auseinander entwickelt, woraus sich ergibt, daß die eine eine Vorstufe der andern, diese andere die sorgfältig verhüllte Doppelgängerin einer dritten verkörpern kann. Sie sind in ihrer Gesamtheit bloßes Material für die Aufstellung der psychologischen Formel, welcher der schaffende Dichter jeweils unterworfen ist. Ein weiteres Kennzeichen dieser Arbeiten, das ich erwähnen möchte, ist die Interpretation des dichterischen Naturgefühls. Auch sie geht aus einem der seelischen Grundkonflikte hervor, welche die Psychoanalyse behandelt: aus dem Inzestgelüste, dem ödipusmotiv. Die Besingung der Natur, gewiß eines der ereignisvollsten Kapitel in der Geschichte der Dichtung, wird als Besingung der unbewußt geliebten Mutter ausgelegt. Gott und die Natur, diese zwei Lieblingsvorstellungen der Kultur, sind riesenhafte Projektionen des Vaters und der Mutter aus einer kindlich gestimmten Seele an das Himmelsgewölbe und an den Horizont der Erde. Für die Natur, die Landschaft wird damit übrigens ein Zusammenhang mit den großen Muttergottheiten, den Gestaltungen der Magna Mater hergestellt, die sich nach den Ergebnissen der vergleichenden Mythologie an der Wiege jeder menschlichen Kultur erheben. Dichterische Sehnsucht nach der Natur ist unbewußt Sehnsucht nach Wiedervereinigung mit der Gebärerin und nach Neugeburt aus ihr, und ein Gedichtzyklus wie Gottfried Kellers >Lebendig begraben< spricht demnach thematisch nichts anderes aus als diese Heimkehr in den Mutterleib, wobei aber der Grad der Verdrängung an Bedeutung noch über den verborgenen Inhalt emporsteigt. Die Folgerungen, die sich aus diesem faszinierenden Zusammenhang ergeben, sind heute kaum noch abzusehen, weil bisher von keiner Seite eine ausführliche Darstellung unternommen worden ist. In letzter Linie ist mit ihm die Frage des künstlerischen Realismus auf einer neuen Grundlage zur Diskussion gestellt. Hier ist ein grundlegendes Problem der Literaturwissenschaft berührt. Ich zweifle keinen Augenblick, daß dieser Ge169

danke, der hier gleichfalls nur angedeutet worden ist, die Wissenschaft von der Dichtung noch ausgiebig beschäftigen wird. Im Zentrum der psychoanalytischen Bemühungen steht ferner der Begriff des Symbols. Er ist der Gegenstand stets erneuter theoretischer Auseinandersetzungen, da er zu den fundamentalen Angelegenheiten der Lehre selber gehört. Das Wissen um die Natur des Symbols, darüber ist auch unter Literarhistorikern kein Zweifel möglich, ist der Schlüssel zum Verständnis der Dichtung. Es hat deshalb auch in der neueren Literaturwissenschaft nie an Bestrebungen gefehlt, das Geheimnis der Symbolschaffung hervorzuheben und aufzuklären, wofür wiederum der große Name Diltheys als einziger Beweis genannt zu werden braucht. Die Psychoanalyse hat ihrerseits eine ganze Symbollehre entwickelt, die allerdings nichts weniger als einheitlich erscheint, dennoch aber, soviel ich sehe, weit über alles hinausgeht, was in der Literaturwissenschaft über diesen Gegenstand bisher in Umlauf war. Auch am Symbol unterscheidet sie wie am Traum, an der Phantasie, am Mythus einen manifesten und einen latenten Gehalt. Auch hier liegt der Vielfalt der Produktionen ein einheitlicher symbolbildender Prozeß zugrunde, dessen Voraussetzungen sich entwicklungsgeschichtlich und psychologisch durchforschen lassen. Der nichtanalytische Literarhistoriker pflegt das Symbol als ein Sinnbild der dichterischen Weltauffassung hinzustellen, das keine weitere Auflösung erlaubt, aber diese auch nicht verlangt, weil es, wie gesagt wird, seine Bedeutung in sich selber trägt. Die Psychoanalyse geht gänzlich anders vor. Sie versucht zunächst, und immer auf die seelische Enthüllung ihrer Krankheitsfälle bedacht, die scheinbar individuellen Symbole, die in Traum und Neurose auftauchen, nach verschiedenen Richtungen zu gruppieren. Sie kommt so zur Unterscheidung von sexuellen, somatischen, funktionalen, anderswo etwa von individuellen und sozialen Symbolen. Es ergibt sich die Notwendigkeit, Herkunft und Struktur dieser typischen Symbolformen festzustellen, was nur durch eine Vereinigung mythologischer, kulturgeschichtlicher, linguistischer, ethnologischer und noch anderer Gesichtspunkte erreicht werden kann. Die Psychologie begibt sich auf diesen halsbrecherischen Weg. Sie verfolgt den Bedeutungswandel des einzelnen Symbols und stellt bei den meisten archaisches Alter fest. Sie versucht in den kulturgeschichtlichen Moment seiner Entstehung einzudringen und gelangt dabei zu der Auffassung, daß die Bildung von Symbolen ursprünglich eine tragende biologische Funktion des Menschen, eine 170

Art der Realitätsanpassung gewesen sein müsse. Auf diese Weise gelingt es, Kategorien für die Klassifizierung und Bewertung des Symbols aufzustellen: es muß die Stellvertretung für Unbewußtes innehaben, es muß eine bestimmte Konstanz der Bedeutung besitzen, es muß von individuellen Bedingungen unabhängig sein, muß Beziehungen zur Sprache und phylogenetische Entsprechungen besitzen usw. Es gibt also rational zu definierende Bedingungen, unter denen von Symbolik gesprochen werden kann und überdies von verschieden hoher Wertigkeit der Symbole. Es wird die Unmöglichkeit der Symbolbildung aus dem reinen Bewußtsein wie aus dem reinen Unbewußtsein erwiesen. Ein Symbol hat nach Jung Unaussprechliches in unübertrefflicher Weise darzustellen (siehe die Definitionen im Anhang zu den Psychologischen Typenüberdeterminiert< aufgefaßt werden müsse, auch wenn sich ein logisch zufriedenstellender Sinn, ein volles bewußtes Begreifen ergebe, das jede weitere Bemühung scheinbar überflüssig mache. Auch diese verständlichen Symbole werden also auf Grund der psychoanalytischen Einsichten >verifiziertunentstellte< Bedeutung zurückgeführt. Es genügt uns durchaus, zu wissen, daß die Tiefenpsychologie spontan zu dieser eingehenden Erörterung des Symbolbegriffs und zu so differenzierten Resultaten gelangt ist. Das ist doch wohl, auch ohne weitere Verständigung über das Sachliche in diesen Ableitungen, für die grundsätzliche Einschätzung ihrer Stellung zur Literaturwissenschaft aufschlußreich genug. Dank ihrem Ziel, der Erforschung des unbewußten Denkens, ist für die psychoanalytische Literaturforschung nirgends die Erfassung und Nachgestaltung der großen Persönlichkeit die bestimmende Absicht. Ihr Interesse ist auf die überindividuellen Zusammenhänge gerichtet, und diese Zusammenhänge erstrecken sich nicht über Jahrzehnte oder Jahrhunderte, höchstens über ein Jahrtausend wie in der übrigen Literaturwissenschaft, sondern über jene unendlich grö171

ßeren Zeiträume hin, wie sie der Mythenforschung und der Urgeschichte vertraut sind. Sie setzt den neuzeitlichen Autor unbedenklich mit jenen entrückten Kulturstufen in eine genau modifizierte Verbindung, denn sie glaubt die Nachwirkung jener Epochen in gewissen Äußerungen des modernen Menschen wieder aufzufinden. Der Dichter ist ihr in erster Linie als psychischer Grenzfall wichtig, der jene Zusammenhänge in besonderer Wucht und Klarheit zeigt. Wo sie das Material, das sie braucht, außerhalb der Dichtung findet, ergreift sie es mit demselben Eifer und setzt es als ebenbürtig neben die Bestandteile der zerpflückten Kunstwerke hin. Auf diese Weise hat etwa, um noch ein Beispiel zu zitieren, Otto Rank das Motiv der >Nacktheit in Sage und Dichtung< verfolgt und eine allerdings schwer vergeßbare Geschichte und Erklärung des nackten Menschen in der Dichtung skizziert. Er geht den verdrängten Regungen des Exhibitionismus nach und zeigt im Traum von der eigenen Entblößung und Fesselung, aber auch im Traum von der übertriebenen Kleiderpracht und der körperlichen Entstellung das Wirken der Zeigelust; das Widerspiel liefert die Schaulust mit den Motiven der Blendung, der verschwundenen und der wiederentdeckten Geliebten und der eigenen Unsichtbarkeit. Die Deutung dieses Motivbestandes wird nun, dem psychoanalytischen Grundsatz getreu, ohne weiteres auf die Dichtung übertragen. Dem Eindruck der Dynamik, welche hier scheinbar zusammenhanglose Themata der Poesie verkettet und in eine sinnvolle Abhängigkeit setzt, kann sich wissenschaftlicher Sinn für die Literatur nicht entziehen. Im Drama dieser so ungewohnt gesehenen zeitlosen Beziehungen fehlt aber völlig die Gestalt der aus einmaligem Antrieb schaffenden Dichterpersönlichkeit. Das Verfahren, das ihm zugrunde liegt, scheint eine bloße Wiederholung jener Stoff- und Motivgeschichten, die einst auf dem Boden der materialistischen Kunstwissenschaft gefordert und durchgeführt worden sind. Aber dieses erste Urteil trügt. Im Gegensatz zu jenen früheren Versuchen liegt hier nicht eine vom Material der Literaturgeschichte her konzipierte oberflächliche Orientierungsmethode vor, sondern die legitime Anwendung eines konsequent aufgebauten anti-individualistischen Systems der Psychologie. Dieses System drängt auf Schritt und Tritt nach der Aufhellung des dichterischen Prozesses als eines kollektiven, mit dem Menschen selber gegebenen, sozialen Phänomens hin, das sich in allen Zeiten und Völkern mit zahllosen Spielarten, als alltägliches Wortspiel wie als beinah unvergleichliche Tragödie, 172

durch2usetzen weiß. Für die Bewertung einer so umfassenden E r scheinung scheint tatsächlich das fruchtbarste Prinzip zunächst jenseits der ästhetischen Betrachtung, in jenem rationalen Forschungswillen zu liegen, den Freud in seiner zuerst anonym erschienenen Abhandlung über den >Moses des Michelangelo< von sich bekannt hat: »Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf midi aus, insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien. Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheiten lange v o r ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise erfassen, d. h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich das nicht kann, ζ. B. in der Musik, bin ich fast genußunfähig. Eine rationalistische oder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mir dagegen, daß ich ergriffen sein und dabei nicht wissen solle, warum ich es bin, und was mich ergreift.« Klarer und schöner ist wohl die Grundvoraussetzung aller wissenschaftlichen Kunstbetraditung selten ausgesprochen worden, und erst die Konsequenzen, die in der Psychoanalyse aus ihr gezogen werden, nicht die Voraussetzung selbst, können den Widerspruch der Fachvertreter erregen, sofern sie sich überhaupt zum Prinzip der strengen Wissenschaftlichkeit bekennen. In Wahrheit findet man aber bei Freud selbst, so reichlich seine Schriften die Kritik der Psychologen herausfordern mögen, Belege genug dafür, daß sich seine Entschlossenheit zur psychologischen Erforschung auch der Kunst sehr wohl mit der Anerkennung eines unlösbaren Geheimnisses im großen Schöpfertum verträgt. Woraus vermöchte sich denn, wenn es anders wäre, sein unablässiges Interesse f ü r die Kunst zu nähren! Ich erinnere an jene Sätze am Schluß seiner Arbeit über Leonardo da Vinci, w o er die frevelhaft anmutende Untersuchung am Seelenleben eines Genies mit den Worten abbricht: »Wir müssen hier einen G r a d von Freiheit anerkennen, der psychoanalytisch nicht mehr aufzulösen ist. Ebensowenig darf man den Ausgang dieses Verdrängungsschubes als den einzig möglichen Ausgang hinstellen wollen. Einer anderen Person wäre es wahrscheinlich nicht geglückt, den Hauptanteil der Libido der Verdrängung durch die Sublimierung zur Wißbegierde zu entziehen; unter den gleichen Einwirkungen wie Leonardo hätte sie eine dauernde Beeinträchtigung der Denkarbeit oder eine nicht zu bewältigende Disposition zur Zwangsneurose davongetragen. Diese zwei Eigentümlichkeiten Leonardos erübrigen also als unerklärbar durch psychoanalytische Bemühung: seine ganz besondere Neigung zu 173

Triebverdrängungen und seine außerordentliche Fähigkeit zur Sublimierung der primitiven Triebe. Da die künstlerische Begabung und Leistungsfähigkeit mit der Sublimierung innig zusammenhängt, müssen wir zugestehen, daß auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist.« Angesichts dieses Ausspruchs versteht es sich von selbst, daß die Psychoanalyse Freuds von jedem, der ihr eine restlose begriffliche Zergliederung des Kunstwerks und des Künstlers zutraut oder als Intention zuschreibt, mißverstanden worden ist. Wenn also Freud an einer andern Stelle, wo er auf den Gedanken einer psychoanalytischen Hochschule anspielt, in den Lehrplan des analytischen Unterrichts auch Fächer einstellen möchte, die dem Arzt heute fern liegen, nämlich Kulturgeschichte, Mythologie, Religionspsychologie und Literaturwissenschaft, so kann damit nicht die Ersetzung der nichtanalytischen Literaturforschung geplant sein. »Es ist ein Widersinn, an dem ich keinen Anteil haben möchte«, heißt es in derselben Abhandlung (>Die Frage der Laienanalyseoffiziell< approbiertes Betrachtungsprinzip wie die geopolitisch orientierte Stammesliteraturgeschichte Josef Nadlers zeigt überraschende grundsätzliche Berührungen mit den Ergebnissen der psychoanalytischen Methode: es relativiert auf ähnlich verheerende Weise die einzelne Ausnahmeerscheinung, indem es das Bild der literarischen Vergangenheit mit einer Unzahl von mittelmäßigen Repräsentanten überschwemmt, in der die wenigen angeblich Unsterblichen früherer Literaturgeschichten zu verschwinden drohen — getreu dem Wort Grillparzers, das es zum Motto erhebt: »Man 174

kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat.« An der Berechtigung einer solchen Überzeugung kann man zweifeln, aber es wird schwer sein, sie kurzerhand als unmöglich oder unerlaubt abzulehnen. In Wahrheit ringt eben auch die moderne Literaturwissenschaft um eine neue, eine tiefere Erkenntnis der menschlichen Individualität und scheut vor Experimenten nicht zurück, wenn sie ihr eine Bereicherung in dieser H i n sicht zu versprechen scheinen. Sie kann sich je länger je weniger damit begnügen, nachträglich die Einheit eines Dichters und seiner Leistungen festzustellen, weil sie darin ein Höchstmaß der Mechanisierung erblickt. Sie möchte endlich — dies ist seit Jahrzehnten ihr Bestreben — ihre Einsicht in das Wesen des schöpferischen Individuums bis zum Letztmöglichen präzisieren, um das Letztunmögliche desto ehrerbietiger auf sich beruhen zu lassen, und sie hat auf diesem Wege den Dichter nacheinander zum Politiker, zum Philosophen, zum Psychologen, zum Religionsstifter, neuerdings also zum Neurotiker gestempelt. Die Begriffe der Weltanschauung, des Erlebnisses, des Stammes, zuletzt des Traumas oder des Komplexes sind die immer neuen Netze, die nach der unveränderlich unerreichbaren Beute, der schöpferischen Seele, ausgeworfen werden. Es ist gegen die Psychoanalyse geäußert worden, daß der Literarhistoriker es nicht so sehr mit der Schicht des Seelenlebens zu tun habe, in der sich die Menschen mehr oder weniger gleich seien, als mit jener andern, in der sie sich voneinander unterschieden. Dieser Einwand geht nach allem Gesagten am entscheidenden Punkt vorbei. Es kann nicht richtig sein, daß die Gegebenheiten des Genies durch und durch einmalig sind, weil sonst sein Wachstum und seine Wirkung verunmöglicht wären. Auch das Genie ist mit der Menschheit durch Beziehungen von ungeheurer Heftigkeit verbunden, und es wäre primitiv, sie einfach zu leugnen, weil sie ungewöhnlich geartet sind. Gerade in seinem Ausnahmecharakter muß das Menschliche, nichts anderes, überwältigend enthalten sein, so daß die Psychologie ohne Zweifel einen Weg ins Innere des Schöpfertums darstellt. Nach ihrer ganzen Vergangenheit ist aber die Literaturwissenschaft heute sehr wohl in der Lage, eine psychologische Bereicherung ihrer Hilfsbegriffe anzunehmen. Es kann ihren fruchtbarsten Bemühungen nichts schaden, wenn sie sich von der Psychologie beispielsweise darüber belehren läßt, daß im Menschen ein großer Schaffenstrieb nicht besteht ohne eine ebenso mächtige Lust, zu zerstören (Goethe: »Ich habe niemals von einem Verbrechen gehört, 175

das ich nicht hätte begehen können«). Auch der Künstler muß also, in einem sehr hohen Sinne, aus Gesetzlichkeiten abzuleiten sein — das Widerstreben gegen diese Auffassung, die allerdings nicht mit flachem Determinismus zu verwechseln ist, gehört einer Zeit an, die es in jeder Hinsicht als peinlich empfand, einer überindividuellen Norm zu unterstehen. Unsere Epoche hat solche Romantik notgedrungen abgeworfen, und es gehört zu ihren extremsten, aber audi verständlichsten Einstellungen, daß sie eher den Glauben an eine voraussetzungslose Genialität aufopfert, als daß sie die Überzeugung von einer allgemein bindenden Gesetzlichkeit fahren läßt. Im übrigen ist durch diese außenseiterischen Unternehmungen, wie aus den angeführten Worten Freuds hervorgeht, für die Literaturwissenschaft nichts weniger als die Existenzfrage gestellt. Das können nur Heißsporne behaupten, die von der Differenziertheit der modernen literarhistorischen Forschungsmethoden, von dem Niveau ihrer Problemstellungen und ihrer repräsentativen Leistungen unzureichende Begriffe haben. Das Verhältnis der Energien, die sich da gegenüberstehen, wäre in Wirklichkeit bedeutend anders zu umschreiben. Es gibt noch immer grundlegende Probleme der dichterischen Gestaltung genug, die heute einzig von der nichtanalytischen Literaturforschung einer Lösung näher gebracht werden, und zudem darf gesagt sein, daß manche Ergebnisse, auf die sich jene Widersacher berufen, in ihrem Gehalt, wenn auch nicht in ihrer Entstehung, nicht so weit von den Resultaten der bisherigen geisteswissenschaftlichen Untersuchung entfernt sind, wie sie sich den Anschein geben. Aber es handelt sich in diesem Augenblick zweifellos weder auf dieser noch auf der andern Seite um die Frage der Kompetenz. In den psychoanalytischen Schriften zur Literatur lebt unter der Oberfläche, mit der sie beim Literarhistoriker Anstoß erregen, ein Ziel, das auch in der Fachforschung unserer Zeit bekannt ist und dort von vielen als befreiend empfunden wird: die Überwindung des naiven zeitlich-räumlichen Nacheinander in der Geschichte der Dichtung, das in Wirklichkeit den Genius weit schmählicher unterjocht als der kühnste Psychologismus. Auch die Psychoanalyse verschüttet diesen ererbten Aspekt der Historie, verfährt aber dabei ganz anders als die gleichgerichteten Umwälzungen in den Geisteswissenschaften: die letzten Größen, die bei ihr übrig bleiben, sind die seelischen Konflikte selbst, die außerhalb der Individuen ein zeitloses Dasein führen. Die Kategorien Zeit und Raum werden von ihr ersetzt durch die verschiedenen Stufen der Verdrängung, der 176

Sublimierung, der Regression und wie die Termini heißen. Die inhaltliche Anerkennung dieser Begriffe steht und fällt mit der Anerkennung der Psychoanalyse selbst, die aber nicht der Literaturwissenschaft allein zusteht. Über diesen möglichen Skeptizismus hinaus ist der außenstehenden Forschung hier mancherlei Anlaß zur Selbstbesinnung geboten, w o f ü r ich noch ein letztes Beispiel anführe. Ich denke an den starken kasuistischen Einschlag dieser Arbeiten, der davon herrührt, daß die psychoanalytischen Literaturforscher ihre Funde an der Dichtung ständig mit Fällen aus ihrer ärztlichen Praxis in Parallele setzen, und der den Literarhistoriker mit unbewußtem Neid erfüllen muß, so befremdlich er seinem Bewußtsein erscheint. Diese klare, ja naive Bindung an das Leben der Gegenwart ist seiner Disziplin längst verloren gegangen, aber sie hat sie in früheren Zeiten, die wahrlich keine geringeren waren, auf eine freilich ganz andere Weise audi besessen. Hier wird vielleicht die schwächste Seite der modernen Literaturwissenschaft auf eine, ich gebe es zu, höchst robuste, ja ruchlose Art berührt. Die größte Gefahr, der diese Forschung in gewissen Momenten zu unterstehen scheint, ist ihre innere Entfremdung vom Leben der eigenen Epoche. Sie kann es sich nicht mehr ohne weiteres leisten, an der Stimme der lebendigen Gegenwart vorüberzugehen, auch wenn diese Stimme ihre Ohren beleidigt, um wieviel weniger dann, wenn sie ihr auf ihrem höchsteigenen Boden entgegenkommt. Ihr Gegner kämpft ja mit dem Nachteil, auf einem ihm innerlich fremden Gebiet zu stehen, und es kann heute nicht zweifelhaft sein, wo die wirkliche Überlegenheit in der geistigen Vertrautheit mit der Dichtung zu finden ist. Aus diesem und aus noch manchen andern Gründen scheint mir für die Literaturwissenschaft die Stunde gekommen, wo sie nicht länger darauf verzichten sollte, sich in Ehren und zu ihrem eigenen Gewinn auf die Auseinandersetzung mit diesem Rivalen einzulassen.

WALTER DEHORN

Psychoanalyse und neuere Dichtung [i932l Seit dem Jahre 1907 befindet sich die Bewegung der Psychoanalyse in stetigem Aufstieg, nicht nur in Deutschland, sondern auch in an-

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dem Ländern Europas und in Amerika. Zehn Jahre zuvor hatte ein Wiener Arzt, Sigmund Freud, sie ins Leben gerufen. Nur schwer gelang es ihm, seiner Theorie Anerkennung zu verschaffen, denn ein gewaltiger Angriff setzte ein, hauptsächlich aus den Kreisen der Medizin, wo das Dogma positiver Wissenschaft mit einer physiologischen Untersuchung und Bestimmung von Gesundheit und Krankheit jede Diagnose und Therapie psychogenetischer Leiden ablehnen hieß. Die erregte Diskussion war jedoch keineswegs unfruchtbar, weil die prinzipielle Negation sehr dazu angetan war, den positiven Gehalt des Grundgedankens einer Neurosenlehre in konzentrierter Gestalt darzustellen. Was Freud selbst im heißen Streit der Meinungen an begrifflicher und stilistischer Klarheit gewonnen haben mag, läßt sich am besten ersehen, sobald man seine Erstlingsschriften vergleicht mit der zielsicheren Autobiographie in der Sammlung: >Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen«-,1 Hier zeigt sich der Fortschritt vom ungewissen Bemühen natürlicher Logik zur methodischen und erkenntnistheoretischen Begründung eines Systems der Psychologie. Ein Blick in die deutschen Lehrbücher der Psychologie, die um das Jahr 1896 erschienen, also zu der Zeit, wo Freud seine Hypothese zu verkünden begann, überzeugt uns, daß der Problemkreis des Bewußten und Unbewußten nicht Gegenstand der Forschung, sondern Anlaß zumeist spekulativer Erwägungen war. 2 Selbst E. von Hartmann, dessen Philosophie des Unbewußten eines allseitig tragfähigen Unterbaues nicht entraten konnte, verzichtete in seiner Psychologie auf jede Berührung des Tatsachenkomplexes, den Freud später umschrieb.3 Die gleiche Feststellung gilt für Ebbinghaus.4 Wie ist solches Stillschweigen zu erklären? Gewiß durch die Tatsache, daß jene Psychologen ausschließlich den Gegebenheiten des Bewußtseins zugewandt und auf deren systembildnerische Verarbeitung bedacht waren. Ihr Grundproblem blieb der psychophysische ' P r o f . Grotes Schriftenreihe: Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Felix Meiner, Leipzig 1925. Vgl. Sigmund Freud, Über Psychoanalyse, 1910, 7. Auflage 1924. 2 Vgl. H. Höffding, O. Külpe, W. Wundt und besonders F. Jodl, Lehrbuch der Psychologie, I (1896), 91—128. 3 E. v. Hartmann, Die moderne Psychologie, 1901, S. 32—114. 4 H . Ebbinghaus, Grundzüge der Psychologie, 1897, 2. Auflage 1902, S. 4 7 - 5 5 · 178

Parallelismus, der jede dynamisdie Wechselwirkung zwischen Seele und Leib leugnet. Hinzu kommen folgende Gründe. Psychopathologie lag noch außerhalb der eigentlichen Psychologie, ebenso wie Psychotherapie in das Grenzgebiet organischer Medizin gehörte. Nur G. Störring wagte sich in die dunkle Vorhalle des Bewußtseins, indem er die Phänomene des Doppel-Ich, der Hypnose und Suggestion, zu behandeln unternahm. 5 Die Nähe von Forschern wie A. Forel, Th. Flournoy, P. Janet und Th. Ribot erklärt diesen Versuch methodischer Umstellung in der deutschen Psychologie. Freud konnte solche Neuordnung wenig verwerten. Sie bedeutete nur eine Episode und trat zurück in dem Kampf um die Seele, deren Wesen entweder als Substanz oder als Aktualität geistigen Geschehens verstanden wurde, je nachdem man naturwissenschaftlich oder kulturwissenschaftlich, kausal oder phänomenologisch vorging.® Es kam zu einer Krisis der Psychologie, denn der Tatbestand des Bewußtseins enthielt einen irrationalen Faktor, dessen gesetzliche Struktur einer elementaren Mechanik des Denkens unerklärlich erscheinen mußte. Nur wenn der Mensch als organisches Lebewesen mit einer leibseelischen Existenz wieder Geltung erlangte, konnte Qualität und Wirklichkeit alles Psychischen erkannt werden. Nietzsche hat das große Verdienst eines Bahnbrechers dieser Erkenntnis. Ihm war das Bewußtsein nur Epiphänomen, die gesamte Existenz des Menschen inmitten tatsächlicher Umwelt und geschichtlicher Tradition wurde seinem intuitiven Blick das Phänomen. Hartnäckig focht er gegen die Schemata einer abstrakten Geistesphilosophie und gegen die bürgerliche Gesellschaft, die aus Furcht vor den dämonischen Mächten des Lebens mit dem Rationalismus ein Schutz- und Trutzbündnis geschlossen hatte. 7 Seine Kritik zerbrach gar oft an der Wucht ihrer eigenen Skepsis, dennoch verfehlte sie nicht das Ziel. Nietzsche hat die Diktatur des bürgerlichen Geistes gestürzt und dem Individuum zur Herrschaft verholfen. Der Mensch dient nicht mehr als Werkzeug maschineller Technik, sondern entfaltet mit instinktivem Sinn für Recht und Gesetz das Ideal einer freien und starken Persönlichkeit. Leben ist kein Begriff und 5

G. Störring, Vorlesungen über Psychopathologie, 1900, S. 186 ff. W. Dil they: Ideen Uber eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, 1894. Gesammelte Schriften, V (1924), 139—240. 7 F. Heinemann, Neue Wege der Philosophie, 1929, S. 127 ff. Vgl. E. Bertram, Metzicfee, 1929, S. 76 ff.

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keine Theorie, es ist ein Letztes und Ursprüngliches, das jede Form des Seins zu schöpferischem Werden und Wirken zwingt. In diesem biologischen wie psychologischen Prozeß spielt auch der Leib eine Rolle. »Der Leib ist weiser als der Geist«, sagt Nietzsche, und mit paradoxem Überschwang definiert er im Geist nur »die Zeichensprache des Leibes.« Die dionysische Gewalt leiblicher Energie lehnt sich auf gegen den Befehl des Intellekts, weil dieser das Drängen und Streben vitaler Notwendigkeit unterdrückt und die wirkliche Welt umwandelt in ein Scheinreich höherer Ordnung. Es führt zur Katastrophe, wenn der Mensch seine Aufgabe verkennt und in feigem Wahn den Idolen des Intellekts nachhängt, statt mit gutem Gewissen dem Trieb der Natur zu folgen. »Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung... ist tiefer, metaphysischer als der Wille zur Wahrheit.« Nietzsche wäre kein Meistermoralist, wenn er das nicht erschaut hätte. Sein ganzes Werk ist ein Protest gegen den Fetisch von Lug und Trug, der in der Gesellschaft spukt und sie verführt zu Angst und Flucht vor dem Schicksal. Mut der Gegenwehr stammt nur aus jener Kraft, die als Grundtrieb des Daseins wirken muß und diese wesentliche Kraft heißt Wille zur Macht. Alle Liebe zu einem wahren und schönen Leben äußert sich hier in sublimierter Stärke und mit dem Glück höchster Freiheit. Die Trieblehre Nietzsches gipfelt also in der Antithese von Gesundheit und Krankheit, von Blut und Geist, von Leben und Tod. Sie ermöglicht uns eine wertvolle Einsicht in die romantische Naturphilosophie von Schelling bis Schopenhauer. Gleichzeitig aber eröffnet sie ein tieferes Verständnis für die Psychoanalyse Freuds, dessen historische Leistung darin besteht, daß er die Triebwelt des Unbewußten auf dem Wege konkret empirischer Forschung erschlossen hat. Freuds Psychoanalyse entwickelt eine Naturgeschichte der Seele. Als solche trennt sie sich von aller spekulativen und metaphysischen Romantik auch da, wo diese wie bei dem Mediziner C. G. Carus wissenschaftliche Grundlagen anstrebt. 8 Von Physik und Chemie bleibt sie unterschieden durch ihre biologische Richtung, die nicht nur mechanistisch erklären darf, sondern vor allem Sinn und Struk8

C. G. Carus wurde von dem Charakterologen Klages neu eingeführt. Vgl. S. Hampe, >Die Ideenlehre in der Philosophie des C. G. Caruslibido< genannt, erzeugt jene schweren Spannungen im Konflikt von Natur und Kultur, die nur zu oft in tragischem Schuldgefühl sich entladen müssen. In der Kindheit des einzelnen Individuums wie in der mythologischen Vorzeit ganzer Völker spielt die Sexualität nicht selten eine Rolle, die das Verhängnis der Verdrängung und den verderblichen Mangel an Sublimierung in grelles Licht rückt. So kommt es, daß Freud dem Inzestmotiv in der Geschichte des Menschengeschlechtes mit geradezu fanatischem Eifer nachspürt. Ödipuskomplex und Elektrakomplex sind ihm Wahrzeichen für die geschlechtliche Bedingtheit von Naturmensch und Kind. Ihre Liebe bleibt den Eltern und Geschwistern verhaftet, ohne sich durch Projektion und Introjektion restlos zu sublimieren und führt leicht zu verdrängungsneurotischen Erkrankungen und dissozialen Traumata. Im Vergleich mit dem Sexualtrieb findet Freud das Schicksal 10

Federn-Meng, Das psychoanalytische Volksbuch, Psychoanalyse der Gesamtpersönlichkeit, 1927. 182

1926. F. Alexander,

anderer Triebe und Wünsche von untergeordneter Bedeutung. Trotzdem besteht für jedes Affekterlebnis die Gefahr, daß sein psychischer Inhalt nicht ganz aufgelöst wird, wodurch dann im Unterbewußtsein ein feindlicher Hinterhalt entsteht für die Gesundheit des Leibes und der Seele. D i e Aufgabe des Psychoanalytikers ist nun eine zweifache. Seine Einsicht in die innere Ökonomie der Triebe bestimmt ihn zu praktischer T a t , sei es als Arzt oder als Heilpädagoge. E r muß versuchen, nervöse Leiden zu beseitigen durch analytische Verarbeitung jener Materialreste, die verborgen, vergessen und verdrängt das Gleichgewicht der Seele stören. U m solcher Technik sicher zu sein, bedarf es einer Vertiefung in die psychographischen Dokumente, mit denen uns Medizin, Geschichte und Literatur versorgen. Dieser doppelten Aufgabe entspricht es, wenn Freud und seine Anhänger das Reich von Mythos und Dichtung durchforschen, denn dort lagern häufig die Tatsachenkomplexe, mit denen die Psychoanalyse arbeitet. W i r besitzen eine Reihe solcher Untersuchungen, und jährlich vermehrt sich ihre Zahl beträchtlich. Abgesehen von manchen Fehlschlüssen und Übertreibungen bieten die Studien von Freud, R a n k , 1 1 Jones, Abraham, Silberer, Pfister, Reik, um nur einige Namen zu nennen, mancherlei Kenntnisse über den Stoffkreis der Dichtung. Zum eigentlichen Problem des Künstlertums und seines Werkes vermögen sie wenig oder nichts zu sagen. 12 Das gilt zumal von den vielen Arbeiten über Leonardo, Rousseau, Schopenhauer, Balzac, Flaubert, Kleist, Nietzsche, Strindberg, Dostojewski, worin die zwangsneurotische Art des Schaffens großer Meister dargelegt wird. Man kann unmöglich Dichter schlechthin als Neurotiker ansprechen und ihre libidinöse Energie als Quellgrund schöpferischer Ideale betrachten. Ein Vergleich zwischen Künstler und Psychopath mag merkwürdige Analogien ergeben. Fälle wie die von Byron, Baudelaire, Wilde, Wedekind oder jene der van Gogh, Gauguin, 1 3 Kandinsky, Nolde 1 4 und Brendel bezeugen die logische Begründung solcher Ähnlichkeit und Verwandtschaft. Jedoch, es gibt eine weit11

12 13 14

S. Freud, Psychoanalytische Studien an den Werken der Dichtung und Kunst, 1924. O. R a n k , Das Inzestmotiv in Sage und Dichtung sowie Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung, 1919. O. Walzel, Gehalt und Gestalt, 1929, S. 1 7 1 . Vgl. M. Raphael, Von Monet zu Picasso, 1 9 1 9 , S. 67 ff., 104 f f . G . F. Hartlaub, Kunst und Religion, 1 9 1 9 , S. 89 f., 94 ff. 183

hin sichtbare Grenze, die das irre Wunschbild des Geisteskranken über jeden Zweifel hinweg von dem wahrhaftigen Symbol eines Künstlers scheidet und abtrennt. Das normale Bewußtsein bildet diese Grenze. Was den Dichter kennzeichnet, ist sein Formgewissen, seine Inspiration und Intuition. Er gestaltet letzten Endes immer bewußt und strebt allem Drang der Triebe zum Trotz nach stilgemäßem und persönlich einheitlichem Ausdruck. Anders der Patient einer psychiatrischen Klinik. 15 Auch sein gelungenster Kunstversuch verrät den Zwiespalt seiner Seele, die keine Brücke zu schlagen weiß zur Wirklichkeit des Lebens. Die Welt des Neurotikers spaltet sich und verfällt, da ein dynamischer und ökonomischer Ausgleich zwischen Instinkt und Intellekt unmöglich wird. Unsere Deutung versagt angesichts neurotischer Werke, selbst wenn die spezifisch irre Note nicht unmittelbar durchdringt. Das Gesetz der Form, seine geistige Norm und soziale Funktion verbietet auch, Sexualität und Dichtung prinzipiell zu verbinden. Niemand wird leugnen, daß Erotik eine Rolle spielt im künstlerischen Schaffen. Es wäre aber falsch, wollte man deshalb Kunst als ein Reifezeugnis und Kultsymbol erotischer Begierde erklären. 16 Freud hat solche Definition versucht und damit eine Verwirrung angerichtet, die sogar Taines Milieutheorie in Schatten stellt. Rasse, Zeit und Umwelt bedeuten ihm nur äußere Faktoren, die verschwinden gegenüber der inneren Macht des Sexualtriebs, der Charakter und Schicksal aller Kunst beherrscht. Blindes Ausleben des Triebs stürzt ins Verderben, Verdrängung seiner Kraft erzeugt Zwangsneurose, nur angemessene Sublimierung entspricht der organischen Forderung von Natur und Kultur. Diesen Lebensdienst im eigentlichen Sinne erfüllt nun die Kunst, vor allem die Dichtung. Durch sie findet die menschliche Sexualität ihre sinnbildliche Ubertragung, Stellvertretung und Erlösung. Dichtkunst wird eine Dramaturgie unseres Daseins. Wäre die Konstruktion Freuds richtig, so bestünde das Werk eines Genies nicht als bewußt schöpferische Tat, sondern als die unbewußte Tätigkeit atavistischer Triebe. Der Künstler verlöre individuellen Rang und persönliche Würde, da alles Wissen und Wollen sich fatalistisch vollziehen müßte. Von Sinneinheit und Zweckfreiheit könnte nicht die Rede sein, obwohl jedem Kunstwerk gerade diese Merkmale wesentlich anhaften. Hier 15 16

H. Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken, 1923. S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 1910. 184

liegt die Klippe, an der die Ätiologie Freuds scheitert. Sie irrt in der Idee des Menschen. D e r Mensch ist kein isoliertes Geschlechtswesen, sondern ein sozialpolitisches Vernunftwesen. Auch die tiefste M a terialanalyse sexueller Erfahrung genügt nicht, wenn es gilt, das Formproblem von Gehalt und Gestalt zu verstehen. Im Reich der Kunst waltet ein Geist der Ordnung. Trieb drängt zum Chaos, nur der Geist schafft Ordnung. E r zerstört die Sensation und Illusion des Körpers und baut die wirkliche Welt von Leib und Seele innerhalb einer geschichtlichen Gemeinschaft. 17 Die Sexualtheorie Freuds erfährt eine Umwandlung in den Schriften A. Adlers und C . G . Jungs mit dem Erfolg, daß man im Unbewußten wieder den Born der produktiven Phantasie entdeckt. Piaton, Plotin, K a n t und Hegel orientieren sich an der sinnbildlichen Sprache des Ausdrucks Phantasie, die ihnen Organ war, um die Archetypen oder Urbilder der Dinge ästhetisch >hervorstrahlen< zu lassen. Für Adler gewinnen über jene spezifischen Fragen der Triebpsychologie hinaus auch die sittlichen und allgemein philosophischen Probleme von Mensch und Erde erneute und erhöhte Geltung. D e r sexuelle Trieb bedeutet ihm nur eine symbolische Äußerungsform für den urgewaltigen Drang der menschlichen N a tur nach Macht und Freiheit. Am besten vermeidet Jung die Gefahren einer zwangsneurotischen Untersuchung, indem er die Triebpsychologie zu einer Tiefenpsychologie erweitert. E r überwindet die primitiv materialistische Psychophysik Freuds und steuert entschieden zurück in den H a f e n eines positiven Idealismus, denn er möchte den Künstler religiös verwurzeln in den tieferen Schichten des Kosmischen, wo ein absolutes Wesen erscheint. Die Auswirkung der psychoanalytischen Lehren auf dem Gebiete der neueren Literatur läßt sich in ihrer ganzen Tragweite schwer ermessen. Kunst lebt als Leistung gerade dann, wenn sie eine magische Beschwörung innerer Konflikte darstellt, die das Individuum in seiner Grundform als soziale Potenz bedrängen. So wird Kunst Exponent und Symbol ganzer Kulturepochen, ein tragisches Maskenspiel von Unwert und Wert, von Krankheit und Gesundheit, von Unterwelt und Überwelt. A r z t und Künstler gehören demnach zusammen, besonders in der Gegenwart, wo die Psycho17

Vgl. E. Utitz, Grundlegung der allgemeinen (1920), 268 ff., auch O. Weininger, Geschlecht S. 212 ff., 315 ff.

Kunstwissenschaft, II und Charakter, 1905,

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neurose das Zeitübel ist. 18 Beide erfüllen ihre Aufgabe am besten als Seelenkundige mit einem moralischen Vermögen für einen therapeutischen Aufbau menschlicher Lebensgründe. Die Methode des Arztes hat vieles gemein mit der des Künstlers. Sie zielt im ersten wie im zweiten Falle darauf ab, eine Sinneinheit herzustellen, die den Dualismus von unbewußten und bewußten Anlagen überwindet. Dabei bedient sich der Arzt vor allem der Naturwissenschaft, während der Künstler als geisteswissenschaftlicher Psychologe mehr intuitiver Sprachgestaltung vertraut. Vom Arzt erhält der Patient eine sachliche Belehrung, die sein Gewissen beruhigt und stärkt gegen die Angriffe von Kindheit und Jugend auf den Vollbesitz seiner Reife. Auch der Künstler betreibt diese analytische Technik des Arztes, wenn er in Wort und Bild den Spuk der Vergangenheit in die Beleuchtung des Tages rückt. Allein, durch seine Komposition, welche die Irrwege der Triebe vorstellt und ordnet, wird er ein Führer zu reicherem, tieferem und weiserem Lebensdienst. Zwei Möglichkeiten, so scheint es, stehen dem Künstler offen, falls sein Werk den Weg bereiten und die Brücke schlagen will von der Dämonie des Unbewußten zur Harmonie bewußter Lebenskunst. Er kann als Hygiertiker und Therapeut vorgehen, dem es namentlich auf Erhaltung und Erneuerung der Gesundheit ankommt, oder er kann sich als Ethiker und Mystiker bemühen, da er von einer sittlichen und religiösen Lebensführung das Heil erwartet. In beiden Fällen ist das kulturelle Ziel verschieden, nicht aber die Methode. Sie beginnt als Traumdeutung und Analyse von Fehlhandlungen und endet mit der freien Assoziation, wodurch dann verdrängte Triebwünsche und Komplexe mit allen Trugbildern und Blendwerken ihrer Erinnerung ausgelegt und umgestaltet werden. Die freie Assoziation wirkt wie die Katharsis des Dichters, der inmitten der jähen Flucht seiner Szenen und Gestalten das Kernerlebnis einer tragischen Leidenschaft entdecken will, um dem wirklichen Leben neue Kraft und neuen Wert zu verleihen. Nietzsche sagt einmal: »Der Grad von Widerstand und der Grad von Übermacht — darum handelt es sich bei allem Geschehen.« Freuds Methode der freien Assoziation gründet sich auf diese Tatsache seelischer Dynamik. 1 9 Nach diesem Plane muß auch der Künstler das 18

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Vgl. Hugo Ball, >Der Künstler und die ZeitkrankheitDer Schleier der Beatrice< (1900) steigt Schnitzler in diesen Untergrund der menschlichen Seele und macht die Verdrängung krankhafter Gefühle, ihre Reinigung und Gestaltung zum Gegenstand seiner Formkunst. Der Dichter Filippo und seine Geliebte werden durch ein Traumsymbol analysiert, das alle Angst verscheuchen und alle Bedrückung aufheben soll. 22 V o m Dialog 20

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2!

M . Dessoir, Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 1906. »Objektivismus«, S. 60 ff. M. Dessoir, Ästhetik, Subjektivismus, S. 7J ff.; Das Problem der Methode, S. 89 ff. Richard Specht, Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk, S. 181 ff.

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kommt Schnitzler zu seiner eigentlichen Bekenntnisform, der Novelle. >Frau Berta Garlan< (1901) zeigt Schnitzler wieder bei seiner psychoanalytischen Stoffwahl. Es handelt sich um die Krisis der Frau, wenn sie das Recht der Leidenschaft gegen das Schicksal des Alters verteidigen will. Dauernde Sublimierung ist unmöglich im wirren Spiel der Phantasie. Nach einer intimen Sichtung und Sonderung halbbewußter Taten, hysterischer Zwangsideen und infantiler Wunschträume, rät der Dichter zur Umkehr mit einem flüchtigen Hinweis auf urnatürliche Pflichten. Das Tragische eines Schicksals, das mit menschlicher Affektivität und Eifersucht Fangball spielt, ist nicht seine Aufgabe, denn ihm fehlt der Glaube an die inspirierende Macht des Willens, der sich aufschwingen kann zu den Höhen des Ethischen und Religiösen. Es besteht die Ansicht, daß Schnitzler mit Vorliebe als romantischer Ironiker auftritt. Bedenkt man, wieviel intellektuelles Besserwissen der Ironie eines Schlegel und eines Heine beigemischt ist, so wird auch die sarkastische Kennermiene bei Schnitzler offenkundig. 23 Wie seine Vorläufer Ibsen und Maupassant so beschäftigt sich der Wiener Impressionist gern mit dem sexuellen Triebleben der Frau aus der Bürgerwelt, die gleichsam im Halbdunkel gesellschaftlicher Rangordnung lebt. Hier triumphiert seine Tendenz, menschliches Wünschen und Streben zu zergliedern, den tatsächlichen Wirkungskreis der Triebe experimentell genau abzustecken. Von einem künstlerischen Vorstoß über die Vitalsphäre hinaus in das Reich des Geisttheoretischen erfährt man nichts. Jede Einzeluntersuchung der eben genannten Werke könnte unser Urteil nur bestätigen. Man lese zu diesem Zweck eine Studie von Theodor Reik, die das Werk Schnitzlers als Objekt der Psychoanalyse behandelt. Auf ihn wirken die Gestalten der Beatrice und Berta, als wären sie Versuchspersonen für den experimentellen Nachweis der Traumsymbolik Freuds.24 Die Diagnosen sind oft übereifrig und kunstfertig, sie zeigen jedoch, daß Schnitzler ähnlich wie Freud den fatalistischen Gedanken vertritt, wonach der Mensch ein Geschlechtswesen ist, das von frühester Kindheit auf unglaublichen Schleichwegen dem Rauschglück der 23

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A . Schnitzler, Buch der Sprüdje und Bedenken, 1927. >Schi(ksal und Willesüße Mädel·, den leichtfertigen Leutnant, die genußfreudige Witwe und den bedenkenlosen Flaneur, deren Leben aufgeht im Kokettieren mit den schmeichelnden Lügen einer moralisch verbrauchten Gesellschaft. Die Krämerstochter Beatrice eröffnet den Reigen solcher Triebwesen, umgaukelt vom schwül-orgiastischen Sinnenkult der italienischen Renaissance, die Burckhardt und Nietzsche entdeckt und mit grotesker Satire geschildert hatten. 25 Im Schatten ihrer erotischen Sehnsucht huldigt auch die Witwe Berta diesem dreisten Taumel der Sinne. Der Jugendfreund Emil Lindbach dient ihr wie der Spiegel des Narzissus, Seligkeit und Beklemmung raffinierter Liebesträume zu verklären. Besonders anschaulich wird die Triebpsychologie Schnitzlers in dem symbolischen Roman >Der Weg ins Freie< (1905—07). Das Werk selbst ist literargeschichtlich und autobiographisch höchst bedeutsam, denn es gibt eine Analyse der modernen Kultur im Sinne Paul Bourgets26 und eine Analyse jüdischen Künstlertums auf dem Untergrund der Wiener Literatur, die Jakob Wassermann mit philosophischer Beredsamkeit verteidigt hat. 27 Sehen wir ab von den weitschweifigen rassenpolitischen Diskussionen des Romans, so ersteht vor unseren Augen die Liebesgeschichte eines Paares, das durch alle Traumata und Komplexe einer zwangsneurotischen Gesellschaft irrwandelt. Anna Rosner, die überaus sympathische Heldin, wird das Opfer, weil ihr Geliebter in verhängnisvoller Übertragung von der Vater-Imago nicht loskommt, um sich individuelle und soziale Sexualfreiheit zu erkämpfen. Wenn er endlich das Ziel erreicht, so ist es nicht durch eigene Kraft, sondern durch die zugleich drückende und erleichternde Verlegenheit eines Zufalls, der ein klinisches Abreagieren krankhafter Verdrängungen bewirkt. Es zeigt sich, daß die Liebe des Barons ein freventliches Spiel war, ein biologisches Laster ohne Gefühl für Recht und Pflicht, für Schuld und Sühne. Sobald das Kind der Liebe stirbt, löst sich die Verbindung des Paares und der erotomanische Baron Georg von

25 26

27

Vgl. K . Borinski, Geschichte der deutschen Literatur, II (1921), 605. Paul Bourget, Essais de Psychologie contemporaine, 1883. Vgl. Bourgets Novellen: Le Disciple, 1899 und L'Etape, 1902. Vgl. Specht, S. 289 ff. Jakob Wassermann, Lebensdienst, 1928, S. 502 ff. »Der Literat oder Mythos und Persönlichkeit^ S. 173 ff. >Der Jude als Orientalen Mein Weg als Deutsdier und Jude, 1921.

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Wergenthin geht seinen Weg, als gäbe es nach dem Verlöschen der Libido weder eine natürliche noch eine moralische Ordnung menschlicher Verhältnisse. Meisterhafte Kunst läßt uns diesen skeptischen Grundzug vergessen in >Fräulein Else< (192.4) und in der >Traumnovelle< (1925). Hier zeigt sich Schnitzler nicht nur als glänzender Erzähler, sondern auch als echter Seelenforscher. Der äußeren Technik wie der inneren Form nach umkreisen beide Stücke das psychoanalytische Problem. In >Fräulein Else< überwiegt die Methode der freien Assoziation, während in der >Traumnovelle< die Deutung von Fehlhandlungen und Geheimnissen des Unterbewußtseins vorherrscht. Zuerst erfahren wir das untergründige Schicksal eines Mädchens aus der guten Gesellschaft; dann enthüllt ein Ehepaar in der Nacht nach einem Ball sein erotisches Vorleben. Im wirren Taumel von Wachsein und Traum, von Gegenwart und Vergangenheit wird ein ernster Konflikt heraufbeschworen, der jedoch nicht zum Austrag kommt, weil unser wirkliches Dasein den tiefsten Erlebnissen und Sehnsüchten der Seele widerstreben muß. Ganz verwickelt in die Materialanalyse und Motivbestimmung Freuds ist Schnitzlers >Frau Beate und ihr Sohn< (1913). Nach Reik ist es »dasjenige Werk Schnitzlers, in welchem das Inzestthema am unverhülltesten behandelt wird.«88 Der Arzt kontrolliert den Künstler in dieser Novelle so, daß wahrhafte Kritik ihr unmöglich Beifall zollen kann. Ein Fortschreiten auf dem Wege der psychogenetischen Erforschung erotischer Komplexe bietet Schnitzlers >Therese< (1928), ein Roman, der den Untertitel trägt >Chronik eines FrauenlebensProfessor Bernhardt ( 1 9 1 3 ) wird man diesen Mangel einer psychoanalytischen Leitidee feststellen. Bei oberflächlichem Blick führt das Drama uns einen Lieblingsgedanken der europäischen Romantik vor, nämlich den Kampf eines intrigenreichen Philistertums gegen die Sozialpädagogik wissenschaftlichen Fortschritts. Im Grunde jedoch verfolgt es nicht den Zweck, das vorurteilsfreie Judentum als Trägerin medizinischer Forschung wider die Angriffe christlich-sozialer Parteigänger und Dunkelmänner zu verteidigen. Das eigentliche Problem betrifft den Konflikt zwischen Glauben und Skepsis, der sich in der Person des Pfarrers der katholischen Kirche und eines Professors für interne Medizin darstellt. Der Wissenschaftler läßt eine Patientin im Zustand der Euphorie hinüberschlummern ohne Beichte und Absolution des Priesters. Ein Strafverfahren wird gegen den Professor eingeleitet und endigt mit einer Verurteilung zu zwei Monaten Gefängnis. Kurz nach Abschluß des Prozesses erscheint der Pfarrer beim Mediziner, und hinter der Portiere zum Speisezimmer entspinnt sich ein bewegtes Zwiegespräch. Nicht um den Sinn einer Euphorie oder Sublimierung in natürlicher oder übernatürlicher Bedeutung dreht sich der Widerstreit, sondern um ein weltanschauliches Bekenntnis von Vertretern zweier Mächte, Humanismus und Kirchentum. Ein psychoanalytischer Vorgang dient somit zur Erklärung eines Gegensatzes, der Arzt und Seelsorger trennt. Auch jetzt will Schnitzler keine Lösung, die euphorische Selbstentlastung gilt ihm mehr als die sakramentale Beichte; trotzdem reichen sich der Gläubige und Zweifler die Hand »über — den Abgrund.« Ein Jahrzehnt jünger als Schnitzler ist Hugo von Hofmannsthal. Auch ihm ist das psychoneurotisdie Thema nicht fremd, obwohl seine Kunst der Einfühlung in die Fremdheit und Verworrenheit der Antike und Renaissance die Zuspitzung unserer Kernfrage erschwert. Seine Stärke liegt im Weckruf des Abgeschiedenen, im Zauberspiel von Nachklang und Sehnsucht. Der Tod allein ist das reale Bewußtsein alles Irdischen; was vor ihm liegt und nach ihm kommt ist der Abendschein von Traum und Wachen. Psychoana191

ly tischen Inhalt erkennt man in >Die Frau im Fenster< (1898) und in >Die Hochzeit der Sobeide< (1899), zwei dramatische Studien, die auch wichtig sind für die geistige Umwelt, aus der die Psychoanalyse Freuds stammt. Für beide Gedichte bleibt wahr, was Freud von der erotischen Spannung menschlichen Trieblebens sagt. Sie wird aus sich heraus nicht befriedigend gelöst. Es findet eine Abwehr statt, sei es durch den äußeren Zwang der Gesellschaft oder durch Angst, in der sich das Aufleben des persönlichen Gewissens kundgibt. Treten dann Ereignisse ein, die das Ich bis in seine tiefsten Schichten erschüttern, so wühlt vom Seelengrunde alles, was dort abgelagert war, an die Oberfläche. Dianora, Heldin des ersten Stücks, und auch Sobeide, Heldin des zweiten Dramas, bekennen in ihren hysterischen Lebensbeichten, daß sie lieber den Abenteuern der Begierde nachtaumeln als sich bürgerlicher Sitte und Ordnung zu vertrauen. So vollstrecken sie ihr eigenes Todesurteil, Opfer von grausigem Mord und Selbstmord. In seinen Nachdichtungen von Dramen der griechischen Klassik, in >Elektra< (1904) und in >Ödipus und die Spbinx< (1905), rückt Hofmannsthal das psychoanalytische Problem in die Mitte. Sophokles und Euripides werden kühn kompliziert und umgestaltet. Das Inzestmotiv beherrscht beide Dramen als wäre es Ate und Moira zugleich. Es ist nicht schwierig, das Untragische soldier Kausalität darzulegen. Genügen möge der Hinweis auf jene Szenen, wo sich die krampfhafte Ausbeute dieser dem Original feindlichen Grundidee in grellstem Lichte zeigt.30 Hofmannsthal hat in seiner Übersetzung vom >König Ödipus< (1909) des Sophokles den mythischen Anhauch der Sage verspürt und sich gehütet vor der Überfrachtung literarischer Meisterwerke durch Tagesgüter der Moderne. Wie Claudio in >Der Tor und der Tod< (1893), so war auch dem Dichter die Sehnsucht laut geworden nach dem Sinn des Lebendigen, das jenseits künstlich-begrifflicher Form liegt.31 Damit eröffnete sidi Hofmannsthal eine tiefere Einsicht in den Nutzwert psychoanalytischer Technik, die über das Wissen um Krankheit und Verfall symbolisch hinausweist. Die methodische Bloßlegung der ins Unterbewußtsein verdrängten Wünsche allein kann das seelische Gleichgewicht nicht herstellen, weil sie 30

31

Elektra, Tragödie in einem Aufzug. 1906, S. 10 f., 28 ff., 7 7 ff. ödipus und die Sphinx, 1906, S. 31 f., 33, 68 ff., 101 ff. Hugo von Hofmannsthal, Kleine Dramen, I, S. 60, 62, 66 ff.

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nur die intellektuelle Vorbedingung schafft für den moralischen Aufstieg zu gesundem Leben und kultureller Arbeit. Auf der Höhe solcher Erkenntnis und Aufgabe steht Hofmannsthals klassische Übertragung von >]edermann< ( 1 9 1 1 ) , ein Spiel, worin die Sublimierung im Sinne mittelalterlicher Mystik ihre Wunder wirkt. Wenige Jahre später greift der Dichter mit erneuter Kraft nach dem antiken Muster der >Alkestis< (1916), um dann in der Erzählung >Die Frau ohne Schatten< (1919) ein Meisterwerk sprachschöpferischer und divinatorischer Gestaltung zu schaffen. Psychoanalytisches Material wurde hier in freiester literarischer Form umgewandelt, so daß man in Wahrheit von einer Erfüllung des magischen Idealismus sprechen kann, den einst Novalis als die poetische Sendung Europas feierte. 32 Im Symbol des Teppichs erkennen wir den Sinn der Freiheit vom Unterirdischen und der Freiheit zum Glücksgesetz wesentlicher Ziele. Die Antwort des Mädchens auf die Frage des Kaisers deutet unser Rätselraten über das Geheimnis des Lebens: »Ich scheide das Schöne vom Stoff, wenn ich webe; das, was den Sinnen ein Köder ist und sie zur Torheit und zum Verderben kirrt, lasse ich weg.« Das Gedankenspiel zwischen Sein und Schein nimmt einen religiösen Aufschwung im Trauerspiel >Der Turm< (1925). Das Drama atmet die Luft der spanischen Traum-Philosophie eines Calderon und lebt in einer verklärten Seelenlandsdiaft von Geschichte und Sage. Seinem Dichterberufe 33 gemäß versucht Hofmannsthal eine Traumaturgie unserer Zeit und bedient sich daher jener Technik von Sinngebung und Deutung, von Bekenntnis und Erkenntnis, wie sie die Psychoanalyse vermittelt. Durch eine intensive, wenn auch weitläufige Verknüpfung von Motiven gelingt es ihm, Traumata und Komplexe der Gegenwart zu sublimieren. Nacht und Licht ihres Schicksals gestalten sich vor allem in König Basilius und seinem schmählich gemarterten Sohn und Nachfolger Sigismund. Beide Charaktere verkörpern auch die Spannung zwischen Geist und Blut, Alter und Jugend, Vater und Sohn, weltlicher Gewaltherrschaft und seelischer Kultur. Weitere Gegensätze der irdischen Wirklichkeit spiegeln Julian und der Arzt, der Beichtvater des Königs und 32

3S

Hugo von Hofmannsthal, Die Frau ohne Schatten, S. 84 ff. Vgl. Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit, 1928, S. j 2 j . Hugo von Hofmannsthal, >Der Dichter und seine ZeitDie Heilung durch den Geist< (1931). 3 4 Schon in dem ersten Ring des Novellenkreises >Die Kette< werden uns als >Erstes Erlebnis< ( 1 9 1 1 ) vier Geschichten aus Kinderland erzählt, die unerklärliche Äußerungen und seltsame Abweichungen des Seelenlebens zu deuten unternehmen. Die melancholische Wortmusik klingt unverkennbar aus der Atmosphäre der Donaustadt und stört nicht selten durdi virtuose Gewandtheit und Stimmungstedinik die Bildkraft einer ursprünglichen Idee. Jedoch die Erzählung >Brennendes Geheimnis< wirkt zwingend, ja selbst erschütternd, weil sie untergründige Vorgänge und Zustände erschließt, die plötzlich ein der Umwelt unfaßbares Schicksal entriegeln. 35 Ähnliches gilt von der psychoanalytisch geschulten Kunst des zweiten Ringes der >KetteAmok< (1923) 3 6 jähe Novellen einer Leidenschaft entwickelt. Von den fünf Stücken scheint uns die Erzählung >Brief einer Unbekannten« an tiefinnerste Wesenheiten im Gefühlsleben der Geschlechter zu rütteln, so daß man unter Herzklopfen an die Metaphysik Freuds zu glauben beginnt. Welch ungeheurer Abstand zwischen Schnitzlers >Therese< oder gar Heinrich Manns >Mutter Marie< und dieser glutvollen und trotzdem objektiv geformten Liebesnovelle. Unwillkürlich zögert der kritische Leser, wenn er sich dem Bann solcher lyrisch und dramatisch ergreifenden Dichtung entzieht, um mit >Verwirrung der Gefühle< (1926) den dritten Ring der 34

Stefan Zweig, Die Heilung durch den Geist, 1931. Wertvoll sind die Kapitel >TraumdeutungDie Technik der PsychoanalyseKette< zu vollenden. Die künstlerische Intensität von Sprache und Vortrag ist keineswegs ermattet, allein jene beständige Folge von Themen, die unerquickliche Sexualkonflikte behandeln, ermüdet zweifellos audi die stärksten Nerven und gesundesten Sinne. Alle Novellen Zweigs, so kann man rückschauend behaupten, entstehen und enden in pathologischen Resten von Sexus und Eros. Demgemäß ist seine Philosophie, die jeweils im Vorspruch der drei Bände festgelegt ist, relativ und negativ. Die Geschiditen aus Kinderland bewahren noch die poetische Weihe des reinen Gefühls, anders >Amok< und »Verwirrung der Ge}ühleVerhaeren< (1910). Der Wiener Essayist gelangte zu einer umfassenden Darstellung des Lebenswerkes dieses belgischfranzösischen Dichters, nachdem er durch Übersetzungen Baudelaires, Verlaines und Rimbauds in die künstlerische, philosophische und religiöse Gedankenwelt des Symbolismus eingedrungen war. Verhaeren war ihm ein moralisches Problem und somit eine Entscheidung des Gemüts. Zwei Welten ringen in der Seele des Belgiers. Selbst in seiner reiferen Lyrik 8 7 stören Krämpfe und Krisen. Zweig geht ihnen nach und entdeckt im Werdecharakter von Dichtung und Künstlermensch Niederschläge und Zeugnisse einer persönlichen und zugleich universalen Seelengeschichte. So erblickt er in der Gestalt des Flamen den Typus des magischen Idealisten, dessen Seele versonnen und traumkundig ausharrt auf dem Mutterboden des heimatlichen Klimas, während seine riesig gespannte Intelligenz fortstürmt in das faustische Begriffsdrama des bewußten Geistes. Zwangsläufig entwickeln sich jene psychoneurotischen Konflikte, von denen das Werk Verhaerens in bedrückender Qual erfüllt ist.38 37

38

Verhaeren, Les Villes tentaculaires, Les Visages de la Vie, Les Forces tumultueuses, 1895—1902. E . Verhaeren, Die Trilogie: Soirs, Debacles und Flambeaux noirs, 1888 bis 1890.

195

Erst durch unbekümmert freies Bekenntnis und durch schöpferische Aussprache erlöst sich der flämische Dichter von seinem Leiden. Sobald er das Kraftzentrum seiner Seele entdeckt hat, hungert und dürstet ihn nach der dunkelfarbigen Wirklichkeit des Lebens, nach dem herrlichen Reichtum seines melodischen Rhythmus. 39 Als Meister intuitiver Seelenkunde steht Zweig vor uns in seinem Lebensbild der französischen Dichterin >Marceline Desbordes-Valmore< (1927). So wie Verhaeren stammt sie aus dem flandrischen Grenzgebiet, gehört aber in die frühe Blütezeit der Romantik. Bekanntlich hat Verlaine diese Lyrikerin des Liebesleids seinen >Poetes maudits< eingereiht. Es scheint, als wolle Zweig sich diesem Urteil anschließen, denn f ü r ihn ist Marceline »Entrechtete des Schicksals, Enterbte des Glücks, >Paria der LiebeNotre Dame des PleursZauberbergs< weit bessere Anwälte der Psychotherapie als diesen Gleisner. Als Erotiker und Ironiker der Bürgerwelt will er sein Ziel verfolgen, das nach eigenem Bekenntnis in einer »Metamorphose des Geistes« 8 9 besteht. I m Einklang mit dieser Grundidee betreibt Thomas Mann die psychoanalytische Methode als ein Heilverfahren der Kunst, wonach die einer jeden Wirklichkeit innewohnende Triebenergie zum freien, vorbildlichen Ausdruck gelangen muß. D e r R o m a n tritt in den Dienst der Kultur, das Sanatorium wird ein Bildungslaboratorium. Exponiert wie in einer hermetischen Retorte ist alles, was auf der Bergeseinöde sich zuträgt, und trotzdem wirkt jedes Ereignis, als wäre es ein ideelles Problem. Besonders wertvoll erweist sich das Tun und Lassen der Hauptgestalten für die pädagogischen Zwecke des Künstlers. D a begegnet uns zunächst der ehrenwerte Joachim Ziemßen. Seine »feuchte Stelle« hat so bedenklichen Umfang angenommen, daß er den »Schweren« zugerechnet wird. Allein, mag der K ö r p e r schwindsüchtig verbleichen, die Seele behält ihre starke Resonanz und Resistenz. Angeekelt von der Völlerei des Nichts um ihn her »desertiert er zur Fahne«, denn das Leben im Flachlande steht unter den Sturmzeichen des Krieges. D e r Dienst im Felde zerrüttet seine Gesundheit, er muß ins Sanatorium zurück, wo er, treu dem Schicksal ergeben, den Heldentod stirbt. D i e Haltung dieses Mannes der Pflicht entbehrt nicht einer homologen T y p i k , überblickt man den Werdegang seines Stammesgenossen. Tiefer dringt der Einfluß, den Settembrini, der italienische V o r kämpfer eines sozialen Aktivismus, auf Castorp ausübt. Wohl hat dieser effektstrebige Demokrat etliche Züge, die ein humorvolles Lächeln herausfordern, dennoch bleibt sein Charakter ungetrübt sympathisch. Settembrini steht vor uns als hochherziger Mensch88 89

Vgl. M. Havenstein, Thomas Mann, 1927, S. 346—348. Bemühungen: >Von deutscher RepublikZauberbergs< sollte hier münden. Es geschah, aber Atmosphäre und Landschaft des Romans lassen kein rechtes Verständnis für Nietzsches Gedanken aufkommen. Die Pathologie des Organischen überfällt uns, daß der Boden einsinkt, 95 w 97 98 99

Bemühungen, S. 273 f. Betrachtungen, S. 55. Vgl. F. Heinemann, Neue Wege, S. 122 ff. E. Bertram, Nictzic^e, 1929: >ArionZauberberg< vermittelt, ist eine Unsumme von Wissen über den Prozeß der Decadence, über die »Sympathie mit dem Tode«. Ganz schüchtern melden sich die Lebenswerte der Gemeinschaft in den elegischen Klängen des »Lindenbaums«. Selbst ein Skeptiker vom Geblüt wie Mann bedarf also eines objektiven Rückhalts, einer materialen Wertethik und idealen Weltanschauung, weil sonst das Dasein in sinnloser Illusion zerflattern würde. Für das Problem von Psychoanalyse und Dichtung beweist gerade der Altmeister impressionistischer Kunst, daß alle äußere Heiltechnik versagt, sobald das Innerste der Menschenseele zur Entfaltung kommen soll. Die Wissenschaft der Hygiene erfüllt sich erst im Bereich tiefreligiöser Mystik.

HERMANN PONGS

Psychoanalyse und Dichtung [1933] »Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich mit ihr nicht sicherer als durch die Kunst.« Goethe

I. Allen Aufsätzen und Schriften zu unserem Thema, soweit sie nicht aus der engeren Freud-Schule stammen, ist gemeinsam eine zwiespältige Haltung zur Psychoanalyse, die ablehnt und bejaht zugleich, eine >Ambivalenz des Gefühls< also, psychoanalytisch gesprochen, die zu ihrer Erklärung selbst vielleicht schon der Tiefenpsychologie bedarf und jedenfalls darauf hindeutet, daß hier besonders schwierige und unsichtige Verhältnisse vorliegen, die einer klaren Entscheidung im Wege sind. Abgelehnt wird ziemlich einmütig der Einbruch psychoanalyti100

M. Havenstein, Thomas

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Mann,

S. 345 ff.

scher Forschungsmethoden in die wissenschaftliche Kunstwerkbetrachtung. Der Psychoanalytiker C. G. Jung selber wendet sich scharf dagegen, 1 Freuds am Kranken gewonnene »reduktive Methode«, die zu jedem bewußten Vordergrund sich einen Hintergrund des verdrängten Unbewußten erschließt, auf das »überpersönliche« Kunstwerk anzuwenden. »Sie schält aus dem schimmernden Gewände des Kunstwerks die nackte Alltäglichkeit des elementaren homo sapiens heraus, zu welcher Spezies auch der Dichter zählt.« Immer wieder findet sich in anderer Form der Einwand, daß die Psa. mit ihrem Sich-Einbohren in den dichterischen Schaffensvorgang das Geheimnis der Gestalt, der Form mißachtet und am Einmalig-Schöpferischen der Persönlichkeit verständnislos vorbeisieht, womit alle eigentlich künstlerischen Wertfragen ausgeschaltet werden. Das Erstaunliche aber ist, daß trotz dieses offensichtlichen Versagens der psa. Methode vor dem Dichtwerk der Literarhistoriker sich nicht zu einer klar eindeutigen Ablehnung entschließt, v. Grolman,2 der die Anmaßung der psa. Literaturbetrachtung streng und scharfsichtig in ihre Schranken zurückweist, erkennt doch »Chancen einer Wechselwirkung«. »Wenn es einer etwa möglichen Zusammenarbeit von Psa. und Literaturwissenschaft gelänge, unter Wahrung der oben gezeigten Grenzen die bleierne Last der übererbten und schiefen Vorurteile zu brechen, dann wäre der Vorteil für das deutsche Geistesleben wesentlich.« Und er findet als Ursache der Ablehnung der Psa. vielfach nur Bequemlichkeit und »Angst vor dem klaren und kühlen Benennen des Sexuellen«. Der methodisch besonders klare Aufsatz Volbards3 geht aus von der grundsätzlichen Forderung: »In die Schicht, in der sich Leben und Werk als verschiedene Emanationen der gleichen, triebhaft-geistigen Einheit darstellen, wird man heute stets hinabsteigen müssen, wenn man sich dem Rätsel dichterischen Schaffens durch eine sinnvolle Deutung zu nähern bestrebt ist.« Dieses Hinab in die Untergründe nimmt bei allen Vorbehalten das Arbeiten mit den Einsichten der Psa. für den Literarhistoriker als »unerläßlich« auf. Auch die verklausuliert-ablehnende Untersuchung Biebers4 muß »nicht nur terminologische Verdienste« der Psa. für die Deu-

1 2 3 4

Seelenproblem der Gegenwart, 1 9 3 1 , S . 4 7 . [ V g l . hier S. 2 3 ] Literarische Betrachtung, 1 9 3 0 , S. 9 1 . [ V g l . hier S. 1 4 8 ] K r i s i s der Psa. I, hrsg. v . Prinzhorn, 1 9 2 8 , S. 1 3 7 . [ V g l . hier S. 1 0 3 ff.] Krisis der Psa. I, S. 407.

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tung moderner Seelenzustände in der Dichtung anerkennen. Am weitesten kommt W. Muschg5 der Psa. entgegen, er begrüßt geradezu die »radikale Psychologisierung der dichterischen Phänomene« als eine Art »Gottesgericht« über eine Forschung, der »die Tradition der heroischen Idealisierung des Dichters wie der erdichteten Gestalt« allzu tief eingepflanzt war; er begrüßt »die legitime Anwendung eines konsequent aufgebauten, antiindividualistischen Systems der Psychologie«, das auf »überindividuelle Zusammenhänge« gerichtet sei; er begrüßt die »immer höhere Konkretisierung« in den Aussagen der psa. Symbolforschung, gleichzeitig mit der Einsicht in die »verheerende Weise«, mit der die Psa. »die einzelne Ausnahmeerscheinung relativiert«, mit der sie »das Gestaltete auflöst«, die »Symbole zertrümmert«. Bei solcher ablehnend-bejahender Grundhaltung erscheint es wenig ergiebig, das einzelne Für und Wider mit seinen jeweiligen Begründungen zu diskutieren. Es wird nötig sein, eine Gesamtsicht zu gewinnen, die beide Phänomene, Psa. und Dichtung, dem übergeordneten Lebenskreis eingliedert, d. h. dem GesamtbegrifF der Existenz, nicht um hier Existenzwissenschaft; zu treiben, sondern um einen mehr als formalen Hilfsbegriff zu gewinnen, der objektive Einsicht möglich macht. Wenn die Methoden, die die Psa. auf Dichtungsdeutung anwendet, bisher offenbar unzulänglich sind, so werden vielleicht die Impulse, die von ihr ausgehen, aller unangemessenen Methodik zum Trotz fruchtbar sein. Was von den Grundsätzen ästhetischer Gestaltlehre her als unzulässig herangetragenes artfremdes Prinzip erscheint, mag sich von der Sicht der Existenz her zur wechselseitigen Beleuchtung und Vertiefung des Phänomens verbinden lassen. Der Lebensbegriff, in dem sich Psa. und Dichtung unmittelbar berühren, ist das Unbewußte. Die Psa. erhebt als Tiefenpsychologie den Anspruch, die Kenntnis des bewußten Menschen, des Ich, zu ergänzen durch Einsicht in Seelenkräfte unterhalb dieses Ich, die dynamischen Charakter haben und sich im Seelenleben wirksam durchzusetzen wissen, ohne bewußt zu werden. Die Existenz eines solchen dynamischen und aktiven Unbewußten, eines Es in jedem Ich, wird am wenigsten vom Dichter bestritten. Goethe erst ist vor wenigen Jahren als der große »Entdecker des Unbewußten« neu be5

Psa. und Literaturwissenschaft. Antrittsrede 1930, S. 18, 23, 25. [Vgl. hier S. 156 ff.]

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leuchtet und gepriesen worden. 6 Eindeutige Aussprudle Goethes bekennen sich zur schöpferischen Kraft des Unbewußten: »Der Mensch kann nicht lange im bewußten Zustande verharren, er muß sich wieder ins Unbewußte stürzen, denn seine Wurzel liegt darin.« »Ich glaube, daß alles was das Genie als Genie tut, unbewußt geschieht.« »In der Poesie ist durdiaus etwas Dämonisches, und zwar vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle Vernunft zu kurz kommt.« Wenn das, was der große Dichter hier und an anderen Stellen mit dem schöpferischen Unbewußten meint, sich nur irgend mit dem berührt, was die Psa. als das Es im Ich bezeichnet, dann ist damit eine Beziehung zwischen Psa. und Dichtung aufgedeckt, die sich als immer neues Problem f ü r beide Bereiche darbietet, bei jedem einzeln betrachteten Dichter und bei jedem Werk. Ein doppelter Zugang zum Unbewußten ist gewonnen, durch dichterische Gestalt und durch Analyse. Man erkennt den Dichter als einen, der sein Werk allein aus der dunklen Fülle seines Unbewußten so und nicht anders schaffen konnte, dessen Werk also selber gestaltgewordenes Unbewußtes ist. Der Forscher dagegen deutet das U n bewußte durch Analyse fremden Seelenlebens; was ihm an unmittelbar bewegter Verbundenheit mit den K r ä f t e n des Unbewußten abgeht, ersetzt er durch Abstand, Übersicht, Kühle, die mit H i l f e exakter Beobachtung und Verallgemeinerung das verworrene Dunkel des individuellen Unbewußten erhellt und gesetzhaft einordnet. Indem die psa. Forschung, die das Unbewußte am lebendigen Menschen untersucht, gerade auch Gestalten und Motive der Diditung in ihre Analyse einbezieht, deutet sie an, d a ß Psa. und Dichtung auf gemeinsamer existentieller Basis stehen. Allerdings hat bekanntlich die Psa. als ärztliche Disziplin ihren Ausgang genommen am Verhältnis Arzt und Patient, und es sind die krankhaften Symptome der Neurotiker, an denen sie ihre ersten Einsichten ins Wesen des Unbewußten fand. Die Gefahr besteht, daß bei solchem Ausgangsp u n k t das allgemeine Unbewußte eine Festlegung nach dem K r a n k haften erfährt, und daß man das Dichterische mit dem Neurotischen zusammenfallen läßt. H i e r wird es um so mehr des Gegengewichts durch das in Dichtung Gestalt gewordene Unbewußte bedürfen, um Verfälschungen vorzubeugen. Das Zeitgefühl hat der Beziehung zwischen Psa. und Dichtung einen überlegten und weithin sichtba-

• K l a g e s , Jahrbudi d. fr. Hodistifts, 1 9 2 8 , S. 1 6 ff.; neuerdings als B r o schüre: >Goethe als Seelenforscher«, 1 9 3 2 .

" 3

ren Ausdruck gegeben, indem dem Begründer der Psa., Sigmund Freud, die Ehrung durch den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt zuteil wurde. Der Widerspruch, daß hier der leidenschaftlichste Analytiker unter das Sternbild des synthetischsten Menschen gestellt wird, ist durch folgenden Satz der Begründung ausdrücklich bewußt gemacht:7 »so i s t . . . der durch Ihre Forschungsweise geförderte, gleichsam mephistophelische Zug zum schonungslosen Zerreißen aller Schleier der unzertrennliche Begleiter der faustischen Unersättlichkeit und Ehrfurcht vor den im Unbewußten schlummernden, bildnerisch-schöpferischen Gewalten.« Hier ist offenbar der analytische Zergliederer des Unbewußten Mephisto verglichen und ihm zugleich die faustische Natur zuerkannt, damit jene umfassendste Gestalt der Dichtung, in der Goethe sein widersprüchliches Gesamtwesen am mächtigsten versinnbildet hat. Ist das mehr als ein höflich huldigendes Gleichnis? Höchst zwiespältig, mephistophelisch und faustisch-titanisch zugleich, wirkt der Leitspruch, den Freud seinem ersten Werk, der >TraumdeutungTraumdeutungmanifesten Traumlatente Traumgedanken< auf, die durch eine besondere >Traumarbeit< erst in die sinnliche Einheit des gelebten Traums überführt werden; der Traumarbeit fällt ebenso die Umsetzung der Wunschgedanken in bildhafte Situationen zu wie die Verwertung zufälliger leiblicher Traumreizquellen und der sogenannten >TagesresteMethode< der >TraumsymbolikWahrträume< hält und ihre >allegorische< Einkleidung, die besonderer Deutung bedarf, sucht Freud gerade die kleinen, alltäglichen Träume auf, um mittels seiner an Kranken erprobten Ausfragetechnik die latenten Traumgedanken und damit die tieferen Lebenswünsche zu ergründen. Symbolik oder Allegorik in Schopenhauers Sinn als Einkleidung eines >prophetischen< Traums kennt diese nüchterne Traumdeutung nicht, sie arbeitet allein mit dem verdrängten Unbewußten des Einzelnen, der seine Wunschbilder unter der Zensur der Traumarbeit im manifesten Traum verhüllt durchsetzt, so wie sich im Neurotiker das verdrängte Unbewußte in krankhaften Symptomen durchsetzt. Dennoch ist hier ein Zugang ins Leben der Träume gefunden, die Herder »die Mütter der eigentlichen Dichtkunst« nennt.

10

>Versuch über das Geistersehen und was damit zusammenhänge; dazu Werner Adielis, Problem des Traums, 1 9 2 8 ; L u d w i g Binswanger, Wandlungen in A u f f a s s u n g und Deutung des Traums, 1 9 2 8 .

Freud selbst hat den Schritt getan, seine Methode der Traumdeutung am Traumleben einer Dichtung zu erproben. Die 1903 erschienene Novelle >Gradiva< yon W. Jensen 11 macht er zum Gegenstand einer analytischen Untersuchung: >Über Wahn und Träume in Jensens GradivcK, 1907. 12 Was den Analytiker anzieht, ist offenbar die Grundanlage der Novelle, die als Heilung eines Liebeswahns durch Analyse bezeichnet werden kann. Ein junger Archäologe, der im Wissenschaftseifer sein Triebleben verdrängt hat, erfährt die Rache des Unbewußten, das sidi gerade seiner wissenschaftlichen Neigungen bedient, ihn in einen seltsamen Liebeswahn zu stürzen. Er verliebt sich in das antike Relief einer schreitenden Mädchengestalt, die er Gradiva nennt. Was ihn hier unbewußt anzieht in Umriß und Bewegung, ist die Ähnlichkeit mit einer Jugendfreundin, deren Bild er völlig aus seiner Erinnerung beseitigt hat. Der Liebeswahn steigert sich von einem Traumgesicht, das ihm die lebendige Gradiva in Pompeji zeigt, wie sie vor seinen Augen verschüttet wird, bis zur wirklichen Reise nach Pompeji, wo er die Ersehnte sucht und findet. Während sein Wahn sie für das Mittagsgespenst der Gradiva hält, ist es die wirkliche Jugendgeliebte, die seinen Liebeswahn schnell durchschaut und ihn heilt, indem sie ihm das verdrängte Unbewußte ins Bewußtsein ruft; Liebeserklärung und Heilung fallen zusammen. Dies von Jensen intuitiv erfaßte Spiel des Unbewußten durch kluge Analyse aufzudecken ist Freuds Meisterleistung, die sich weit interessanter liest als Jensens Novelle selbst mit ihrem Gartenlaubenschluß. Freud findet durch den Dichter alle seine Gesetze des unbewußten Seelenlebens bestätigt. Besonders tiefsinnig zeigt sich die Traumphantasie am Werk, wenn sie die Gradiva nach Pompeji zurückversetzt, wozu das Relief keinen Anlaß bot. Damit wird an einer dem Archäologen vertrauten Vorstellung eben der Seelenzustand beziehungsreich verbildlicht, der den Liebeswahn hervorgerufen hat: die Verschüttung von etwas Lebendigem. Freud findet in der Verschüttung Pompejis eine »treffliche Ähnlichkeit mit der Verdrängung, von der der Held durch sozusagen endopsychische Wahrnehmung Kenntnis hat«. 18 Das heißt, die Traumphantasie zeigt sich befähigt, im Zurücktauchen in die unbewußte Innenzuständigkeit 11

C . Reißner, Neudruck 1 9 1 3 . [Vgl. Sigmund Freud, 1 9 7 3 ] Werke I X , 2 7 3 ; psa. Bewegung, 1. Jahrg., 1929, S. 207. [Vgl. Sigmund Freud, 1 9 7 3 ] " W e r k e I X , 319. 12

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der Seele eine Bildschöpfung zu leisten, die repräsentativ wird für bedeutungsvolle Vorgänge des Unbewußten. Hier kann man mit Freud von >Symbolik< sprechen; 181 hier ist eine Grundform dichterischer Traumverwendung gekennzeichnet und psychoanalytisch erkannt, die in Bildsynthesen innerlich unbewußte Vorgänge und Entwicklungen richtunggebend nach außen stellt, so daß der Traum in der Dichtung das legitimste Mittel wird, um das Unbewußte und seine Bedeutung gegenwärtig zu halten. Dem entspricht es, daß die Novelle mit jenem Traum eigentlich einsetzt und seinen Inhalt mit ungewöhnlicher Sorgfalt, der Zeit gemäß, in wahrhaft Makartschen Farben ausmalt. Freuds Traumdeutung aber folgt nicht jenem Hinweis, daß in dem Traum als Bildwerdung einer >endopsychischen Wahrnehmung* eine eigenartige Persönlichkeit sich enthüllen soll, sondern er hält sich an psa. Regeln, die einen Triebmedianismus verdrängter sexueller Wünsche verdeutlichen. Dadurch klafft an der dichterisch entscheidendsten Stelle ein Gegensatz zwischen der Intuition des Dichters, der dem eigenartigen Unbewußten seines Helden Gestalt gibt, und zwischen der psa. Schematisierung des Unbewußten. Der schreckvoll beängstigende Untergangstraum erfährt durch die Kraft unbewußt idealisierender Liebe eine Steigerung um die Gradivagestalt, durch die zuletzt alle Schrecken des Todes in Adel und Anmut überwunden sind.14 Diese Traumleistung eines Sterbens in Schönheit als immanente Wesensoffenbarung des Träumers selbst beachtet Freud nicht. Er hält sich an den manifesten Trauminhalt und deutet nur solche Elemente, die in das Schema des typischen Angsttraums aus verdrängter Libido passen. Daß die Traum-Gradiva sich unter dem Aschenregen auf die Tempelstufen niederlegt, versteht er als herbeigewünschte Geste erotischer Willfährigkeit (der fast unkenntlich gemachte Rest des latenten Traumgedankens).15 Verloren geht bei dieser Deutung nicht nur das schwer Wägbare der Seelenstimmung, sondern vor allem das Eigenartig-Beson13a

14

15

Besser wohl: Traummetaphern; vgl. dazu meinen Aufsatz: >Das Bild und das Unbewußte« im Journal de Psychologie, 1933. »Vom Vesuv her überflackerte der rote Schein ihr Antlitz, das mit geschlossenen Lidern vollständig dem eines schönen Steinbildes glich; nichts von einer Angst und Verzerrung gab sich in den Zügen kund, ein wundersamer, sich ruhig in das Unabänderliche fügender Gleichmut sah aus ihnen.« IX, 331· 227

dere einer schicksalsmäßigen Liebeswahl, die sich gerade in der Kraft und edlen Art der inneren Bilder als seelenhaft beweist. Offenbar dringt damit der Dichter tiefer ins Unbewußte vor als Freud. Er nähert sich Schopenhauers »prophetischem TraumProbleme der Mystik und ihrer Symbolikmaterialen KategorieTraumdeutungTerminus technicus< zu betonen, führt er in seinen > Wandlungen der Libido< 1912 2 9 den Begriff >Imago< ein, anknüpfend an die antik religiöse Vorstellung der imagines et lares< und an Spittelers Erzählung >Imagoödipuskomplex< noch so symptomatisch sein. Noch ein zweites Drama der Weltliteratur hat Freud psa. ausgelegt;58 hier gerade ist es der Charakter, den er aus Nachwirkungen der ödipussituation erklärt, Shakespeares >HamletUnklarheit< dieses Charakters, an dem Freuds analytischer Spürsinn ansetzen kann im Wettstreit mit den zahlreichen Deutungen dieser unergründlichen, ersten modernen Individualität. Deutlicher als beim >ödipus< treten an dieser schwierigen analytischen Aufgabe die Doktrinen der Freudschen Lehre hervor, durch Arbeiten der Freud-Schule erläutert und fortgeführt. 59 Freud sieht Hamlet als gehemmten Neurotiker, gehemmt durch unbewußte Nachwirkungen des Ödipuskomplexes. Warum zögert er, »die ihm zugeteilte Rache zu erfüllen«? Nicht weil er überhaupt zum Handeln unbrauchbar wäre, er erscheint oft genug als schnell entschlossen und überlegen Handelnder! Was also hindert ihn? »Hamlet kann alles, nur nicht die Rache an dem Mann vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dessen Stelle einge58 59

II, 267. Jones, Schriften z. angewandten Seelenkunde 1 0 ( 1 9 1 1 ) ; R a n k , Inzestmotiv 1 9 1 2 , 2. Aufl. 1 9 2 6 ( K a p . 2 und 6 ) ; lmago 4 ( 1 9 1 5 ) , 4 1 ff.

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nommen hat.« Das heißt, es sind die »eignen, verdrängten Kinderwünsche«, die Hamlet in der Tat des Onkels erfüllt findet; er selbst hat als Kind den Vater beseitigen und die Mutter besitzen wollen. Darum wird »der Abscheu, der ihn zur Rache drängen sollte, ersetzt durch Gewissensskrupel, die ihm vorhalten, daß er wörtlich verstanden selbst nicht besser sei als der von ihm zu strafende Sünder«. Nur macht sich Hamlet diese Vorwürfe nicht bewußt; der ganze Ödipuskomplex ist bei ihm verdrängt (gemäß »dem säkularen Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben der Menschheit« seit dem >ödipusödipusÜberdeutung< fähige neurotische Symptom. Diese methodische Rüdkendeckung gibt die Freud-Schule auf, indem sie das ganze Hamletdrama nach Freuds Voraussetzungen erklärt. Von den grotesk vergröberten Methoden heben sich die fruchtbaren Impulse um so klarer ab. Die besondere Schwierigkeit für die psa. Deutung liegt in dem Fehlen jeder Spur von Inzest- und Vatermordwünschen Hamlets. Aus Symptomen müssen sie gedeutet werden. Für Rank genügt es,60 daß die große Unterredung Hamlets und der Mutter im Schlafzimmer stattfindet, um darin »in nicht mißzuverstehender Weise« den Hinweis auf »die reale Situation« zu finden, »welche dieser Auffassung zugrunde liegt«. Der Geist des Vaters, der hier Hamlet bittet, die Mutter zu schonen, wird zum »lästigen Störenfried der kindlichen Liebesbeziehung zur Mutter«, zum »Spielverderber«, als solcher »typisch für kindliche Einstellung« und verräterisches Anzeichen für »den infantilen Charakter dieser ganzen Phantasie«. Damit ist bereits Hamlets Verhältnis zum Vater mitberührt. Die hohe Verehrung, die er für den Vater im Herzen trägt, erklärt sich dem Psychoanalytiker auf Grund »der gesicherten Ergebnisse der Neurosenpsychologie« als »Reaktion« auf ursprünglichen Vaterhaß. 81 Dieser dem Ödipuskomplex entspringende Vaterhaß wird als 60 61

Inzestmotiv, S . 74. Inzestmotiv, S. 70.

242

»treibende Kraft des ganzen dramatischen Gefüges entdeckt«.62 Der aus dem Haß geborene Mordwunsch wird, um ihn zu rechtfertigen, nach außen projiziert, d. h. auf den Oheim verschoben, so daß jetzt der Geist des ermordeten Vaters selbst den Sohn zur Tötung des Gatten der Mutter antreibt.63 »Einer so komplizierten Rechtfertigungsphantasie ist aber der dichterische Projektionsmedianismus gleichsam nicht gewachsen.« Er bringt es nur zu »einer Art Traumfigur«, der Geisterscheinung. Dies Versagen der Projektionsarbeit gestattet um so tieferen Einblick in die komplizierten Seelenvorgänge des Dichters. Der Geist verkörpert Hamlets Haß gegen den Nebenbuhler bei der Mutter »in einer besonderen Verdrängungsform, die sowohl den Wunsch nach dem Tod des Vaters durch seine Erscheinung als Geist demonstriert, zugleich aber diese verwerfliche Phantasie sanktioniert durch Zugrundelegung des edlen Motivs der Vaterrache«. So ist der Geist »dem ambivalenten Affektverhältnis zum Vater« entsprungen.64 Die Ambivalenz ist es, die Hamlets Tatkraft lähmt und es zur Rache nur kommen läßt in der Phantasie, im »Schauspiel im Schauspiel«. Hier ist der psa. Begriff der >Identifizierung< zur Hand, die abgründige Ambivalenz der Affekte zu spiegeln: Hamlet identifiziert sich mit dem Mörder auf der Bühne,65 um schwelgerisch die Mordtat zu genießen, die er wünscht und vor der er zurückbebt, er identifiziert sich mit dem Vater, um seine Rolle bei der Mutter zu spielen, und er erlebt zugleich »die infantile Rolle des Zuschauers der elterlichen Zärtlichkeiten«, das »Urtrauma« seiner ödipuseinstellung. 66 Man gewinnt hier ein Bild von der Unbrauchbarkeit der psa. Methode, die nicht erlaubt, auch nur mit einer einzigen Regung des Helden vorbehaltlos mitzufühlen, die wie ein Detektiv hinter jeder Äußerung ihr Gegenteil wittert und jeden Tatbestand schließlich, wie sie will, zurechtschiebt, indem der infantile Ödipuskomplex mittels Ambivalenz und Identifizierung für alles zu brauchen ist. Das Hamletdrama aber gibt die Möglichkeit, gerade an dieser Vergröberung der Freud-Methode ein grundsätzliches Unvermögen aufzudecken, das auch die Grenzen der vorsichtigeren Freudschen ·* S. 203. 63 S. 69. " S . 203. ,s

ββ

Imago 4, 44. Imago 4, 50.

243

Analyse deutlich macht. Es ist das Unvermögen, mit dem Begriff der Ambivalenz allein dem Rätsel Hamlet auf den Grund zu kommen. Und darin tritt abermals, und jetzt unvereinbar, der Gegensatz des Forschers und des Dichters hervor. Der Forscher heftet sich an Hamlets Charakter wie der Arzt an den neurotischen Patienten, d. h. er betrachtet ihn als erkrankte, als asoziale Einzelseele;67 und so sieht er ihn allein als Träger von hemmenden Ambivalenzen! Der Dichter faßt Hamlet immer im Zusammenhang der Welt, audi wo er sich von ihr ausgestoßen fühlt; immer sieht Hamlet seine Aufgabe im Hinblick auf die Welt. So wird hinter aller subjektiven Ambivalenz ein objektiver Zwiespalt im menschlichen Dasein spürbar, der jeden bedroht. Durch seine Bewußtheit sieht Hamlet sich selber in den Zwiespalt von Geist und Leben gestellt. An der unwiderruflichen Entscheidungstat, die die Rache ihm abverlangt, wird der eigne Zwiespalt ihm als ein Weltzwiespalt bewußt, der unheilbar ist. Das ist die anagogische Deutung. Sie macht aus dem gehemmten Neurotiker einen tragischen Helden, der vergebens um die unbewußte Ganzheit ringt, die den Impuls zur Tat naturhaft mit sich bringt; sie weitet das Charakterdrama zum Schicksalsdrama von der Mordtat, die ihren Ablauf will; sie ergänzt, mit Goethes Wort, 68 »das Wollen« durch das »unausweichliche Sollen«. Es ist die Deutung, die die Dichter geben: Goethe, Ludwig, Nietzsche. Freud, von der Analyse des vereinzelten Triebmenschen her, sieht auch diese Deutung nur unvollständig und geradezu falsch,69 wenn er »die heute noch herrschende, von Goethe begründete Auffassung« anknüpft an das Wort von des Gedankens Blässe, durch die Hamlets Tatkraft gelähmt wird. Ausdrücklich hat schon Nietzsche70 »jene wohlfeile Weisheit« zurückgewiesen »von Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Überschuß von Möglichkeiten, nicht zum Handeln kommt«. Was den Dichtern bei ihrer Hamletdeutung vorschwebt, ist immer der in ein Schicksal geworfene tragische Mensch, sei es Goethes 71 »schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen«, das »der großen Tat nicht gewachsen 67

Daß Neurose asozial macht, ist erst eine Entdeckung des späteren Freud, X , 90ff.; V I , 3 4 7 f f . 63 > Shakespeare und kein Ende< ( 1 8 1 3 ) ; dazu Petsch, Gehalt und Form, S. 174. ·» II, 267. 70 Geburt der Tragödie, Kap. 7. 71 Wilhelm Meisters theatr. Sendung, V I , 8.

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ist«, »ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht«, sei es Nietzsches 70 Held der Erkenntnis, der »in der Bewußtheit der einmal geschauten Wahrheit überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins sieht« und mit den wohltätigen >Illusionen< jeden Impuls zum Handeln verloren hat. J e weiter aber hier analytische und anagogische Deutung auseinander klaffen, um so besser lassen sich die fruchtbaren Impulse erkennen und abgrenzen, die aus Freuds Lehre zu gewinnen sind. Unzweideutig vertieft sich die Auslegung des Dramas durch Hamlets Mutter>bindungSymptomenÜberdeutung< von Einzelzügen entwickeln, erreicht die einfache Wucht dieses Symbols vom tragischen Verhältnis des wissenden Menschen zu Welt und Leben. Im großen Monolog »Sein oder Nichtsein« sind alle privaten Affekte aufgesogen von der Einsicht in die Unheimlichkeit eines Daseins, das um den Tod weiß. Der Mensch als doppelwertiges Wesen ist hier erkannt·, mit dem Wissen, daß solche Einsicht nur gewonnen wird unter dem Verlust der naiven Ganzheit der Existenz. Und die Handlung des Dramas greift tiefer als in die Kampfzone der infantilen ambivalenten Komplexe, sie ist das heroische Ringen des gro-

72

A . a . O . V I , 8 in anagogischer D i k t i o n : » D a s zuverlässige Bild, das sich ein wohlgeratenes K i n d so gern v o n seinen E l t e r n macht, verschwindet. . . . Sie ist audi ein Weib. U n t e r dem allgemeinen Gesdileditsnamen: Gebrechlichkeit ist nun auch sie begriffen.«

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ßen Charakters, das lähmende Wissen um die Sinnlosigkeit alles Tuns zu überwinden im Rückfall ans Unbewußte, das zur Tat befreit: 73 L a ß t uns einsehn, d a ß Unbesonnenheit uns manchmal dient, wenn tiefe P l ä n e scheitern; und das lehr' uns, d a ß eine Gottheit unsere Zwecke f o r m t , wie wir sie auch entwerfen.

Hier ist der Mensch in seiner Doppelheit des Bewußten und Unbewußten als höhere Einheit geahnt, die von der >Gottheit< geformt wird (wie Hamlet zuletzt für den Tathelden Fortinbras entscheidet). Es ist die anagogische Synthese des Phänomens Bewußt— Unbewußt, das dem Analytiker nur dazu dient, Ambivalenzen ad infinitum aufzuspüren. Der Dichter bindet damit Charakter und Schicksal zusammen und treibt das Drama zu dem Punkt, wo Charakter und Schicksal eines werden im Augenblick der Tat, der der Augenblick des Todes ist. Der Analytiker aber verstärkt die neurotischen Tathemmungen Hamlets noch durch das Zurückgehen auf den Vaterkomplex, in Umkehrung aller >manifesten< Züge im Drama. Sind auch hier trotzdem noch produktive Impulse zu gewinnen? Die Frage gilt für den Ödipuskomplex überhaupt. Das Vater-Sohn-Verhältnis im >Hamlet< erscheint geradezu als anagogische Gegenform zum Ödipuskomplex der Freudschen Prägung. Erschließt es sich dem Spürblick des Analytikers allein im Triebmechanismus des asozialen Einzelnen, so öffnet es sich dem Dichter im objektiven seelischen Zusammenhang der Generationen. Was Freud aus dem Unbewußten als >titanische< Empörung gegen den Vater aufsteigen läßt, findet sein Gegengewicht in der selbstverständlichen Hochwertung des Vaters als Stütze der Weltordnung. Während bei Hamlet auch nicht das geringste Zeichen eines Vaterhasses zu spüren ist, zeigt die Geisterscheinung das Verhältnis Vater und Sohn als eine das Leben überdauernde Bindung, als unaufhörliche seelische Gegenwart des Vaters im Sohn! Warum aber vermag Hamlet diesen Vater dennoch nicht zu rächen? Wirken hier nicht doch lähmend die verknäuelten Ambivalenzen des Ödipuskomplexes, versteckter Vaterhaß neben unbewußtem Inzestwunsch zur Mutter? In der Symbolschöpfung 78

V . A k t , 2. Szene.

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des Dichters begegnen allein die objektiven Kräfte der Vater-undMutter-Bindung, die schicksalhaft für jeden Menschen sind. Statt quälender subjektiver Ambivalenzen erlebt Hamlet im Drama mit der zerstörten Vater-Mutter-Bindung das zerstörte Gleichgewicht der Welt, den Zusammenbruch aller Ordnung, den Sturz ins Bodenlose. Das allerdings ist genau die ödipussituation, doch nicht die der Freudschen Analyse, sondern die des ödipusdramas, wo der Mensch als ein tragisches Wesen in seinen naturhaften Bindungen, in seiner Mischung bewußt und unbewußt als immer bedrohte Einheit zusammengesehen ist. Hamlets dumpfes Schuldgefühl, für die FreudSchule ein Beweis des stets verdrängten Vaterhasses, stellt sich im Drama dar als Hamlets vollkommenes, inneres Jasagen zu den Ordnungen der Welt, denen er mit seinem erschütterten Gleichgewicht nicht spontan genügen kann. So kann wohl Freuds Hinlenkung auf die Vater-Mutter-Bindung die Einsicht in die Schicksalsverstrickungen des Dramas vertiefen, doch wird mit der Eingrenzung auf Hamlets analysierbaren Ödipuskomplex (und die überall aufgespürten Indizien) niemals das tragische Weltgefühl erreicht, das wie im >ödipus< so auch hier die eigentliche Intuition des Dichters vom Menschen im Gefüge der Welt erst gibt, worauf die ewige Wirkung ruht. Die Gegensätze in der Auffassung vom Unbewußten haben sich verschärft: Der Analytiker haftet am verdrängten Unbewußten der Einzelseele, das führt ihn zum Ödipuskomplex und seinen Ambivalenzen. Der Dichter sieht den Menschen als bewußt-unbewußte Einheit im Gesamtgefüge, tragisch gefährdet zwischen Trieb und Geist. In dieser Sicht des Gesamtmenschen hat auch das verdrängte Unbewußte seine Stelle, aber es ist eingefügt ins Ganze und darum nicht überwertet. Die Vielschichtigkeit gerade ist es, die den Gestalten des Dichters die Tiefe und überzeugende Wirkung für alle gibt, die man auszeichnet als Symbolwirkung der großen Kunst. Audi hier bleibt der Analytiker zurück mit seinen >Wegen zur SymptombildungImago< Problem war: der Dichter gestellt zwischen Leben und Werk, diese Grundentscheidung für jeden schöpferischen Menschen, der nicht zugleich triebhaft leben und geistig schaffen kann, es ist ein Spezialfall der großen menschlichen Kulturfrage nach Herkunft und Wesen des Anagogischen überhaupt, als dem Vermögen, sich entscheiden zu können aus überpersönlichem, objektivgerichteten Lebenstrieb. Man kann es als Verdienst der Psa. buchen, wenn sie ihre Gegner zwingt, diese Grundfrage wie auch die Frage nach dem Sinn der Kunst im Zusammenhang des Seins erneut zu stellen und die bisherigen Lösungen zu überprüfen. Freuds Verfahren, in seinem Verhältnis zur Dichtung das Dichterische als rätselhafte Sonderbegabung einzuklammern und im übrigen Kunst als Unterhaltungskunst auf einen einfachen Wirkungsmedianismus zu bringen und mit Gestalten und Problemen des Kunstwerks wie mit seinem neurotischen Material zu schalten, ist ebenso einseitig und unbefriedigend, wie umgekehrt etwa Spittelers ablehnende Stellung zur Psa., wie sie sich in seiner heftigen Ablehnung des Ödipuskomplexes ausspricht: »Den Ödipuskomplex halte ich für eine wesenlose Gehirnmarotte! Ich lebe nun schon 67 Jahre auf dieser Erde, habe verschiedene Völker gesehen und unzählige Menschen beobachtet und noch nicht ein einziges Mal ein Beispiel dieser ebenso ungeheuerlichen wie ekelhaften Regung gesehen.«74 Solche Ablehnung ist nur nicht, wie Freud immer an74

Brief Spittelers. Almanadi des psa. Verlags 1926, J7.

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nimmt, Kulturheuchelei oder verdächtiger >WiderstandDunkel< der Triebe, aus dem es auch für den höchsten Geist kein Entrinnen mehr gibt. Kulturwerte wirklich bewahren aber wird man nur, indem man sie am tiefsten kennenlernt. Dazu müssen auch die Impulse der Psa. dienen.

V. Noch einmal hat Freud seinen Ödipuskomplex an einem Werk der Weltliteratur aufgesucht, und zwar in jüngster Zeit erst, dreißig Jahre nach der ersten Ödipus-Hamlet-Auslegung, an Dostojewskis >Brüdern KaramasoffVerdrängung< entsteht. Und so tritt für Freud die Sublimierung in jeder Beziehung hinter der Verdrängung zurück, selbst für den Aufbau der Kultur. Noch in j e n seits des Lustprinzips< (1920) heißt es: » D i e bisherige Entwicklung des Menschen scheint mir keiner anderen Erklärung zu bedürfen als die der Tiere, und w a s man an einer Minderzahl von menschlichen Individuen als rastlosen D r a n g zu weiterer V e r vollkommnung beobachtet, läßt sich ungezwungen als Folge der Triebverdrängung verstehen, auf welche das Wertvollste an der menschlichen K u l 75

IV, 385; X I , 192, 233. ™ V o r w o r t zur >Urgestalt der Brüder Karamasoff< (Piper); abgedruckt A l m a n a d i der Psa., 1 9 3 0 , 9 ff. 77 I V , 404 ( 1 9 0 9 ) .

*49

tur aufgebaut ist. D e r verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach einer vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde; alle E r s a t z - , Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind ungenügend, um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, weldies bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren gestattet, sondern nach des Dichters Worten >ungebändigt immer v o r w ä r t s dringtIchIdeals< oder >Über-Ichs< im Ich, als »Ersatz für den verlorenen Narzißmus der Kindheit«. 81 Das Ich-Ideal entsteht durch >Identifizierung< mit dem Elternvorbild bei der >Verdrängung< des Ödipuskomplexes, 82 als Reaktionsbildung auf das Schuldgefühl früher aggressiver Regungen, so daß jetzt die »Repräsentanz der Elternbeziehung« im Ich zu herrschen beginnt als >Über-IchGewissenUnbehagen in der KulturWahnideen< der Neurotiker vergleichbar. (So nennt Freud »die Religion die allgemein menschliche Zwangsneurose«.) Der Ausweitung auf Eros und Todestrieb aber entspricht nun auch eine Ausweitung des Unbewußten im Menschen, der Bereich des Es,90 »dem das Ich nur oberflächlich aufsitzt«. Dieses Es umfaßt jetzt mehr als das verdrängte Unbewußte des einzelnen Ich, es »beherbergt in sich die Reste vieler Ich-Existenzen«. Sein »Anwalt« wird das Uber-Ich, als »der Erbe des Ödipuskomplexes« vieler Generationen vorher. Freud kommt zu dem vielsagenden 85

VI, 381.

8

« V I , 403. 87 Zuerst in >Jenseits des LustprinzipsDas Ich und das EsDas Unbehagen in der K u l turDestruktionsbetrieb< erkennbar, bei Dostojewski »gegen die eigne Person gerichtet, als Masochismus und Schuld"VI, 92 98

371.

Rilke, >StundenbudiRequiem< u. a. A l m a n a d i , S. 9 ; dazu die Kritik der Freud-Schule, Almanach, S. 3 3 .

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gefühl«, und im Gegensatz zum Verbrecher »mit enormer Liebesfähigkeit« gepaart, doch deutlich in der Stoffwahl des Dichters, in der Vorliebe für gewalttätige, mörderische Charaktere, und in der »schrankenlosen Sympathie für den Verbrecher«, eine »Identifizierungssympathie auf Grund der gleichen mörderischen Impulse« (»eigentlich nur ein um ein geringes verschobener Narzißmus«). Derselbe Vaterkomplex, als »Sohnesschuld« von »überindividueller Stärke«, erklärt für Freud dann audi Dostojewskis Religion, die »im Christusideal Ausweg und Schuldbefreiung zu finden« hoffte, und ebenso die »volle Unterwerfung unter Väterchen Zar«, beides für Freud »der schwache Punkt der großen Persönlichkeit«. Der Roman ist für Freud 94 Dostojewskis »poetisches Geständnis« seines Urverbrechens, des Vatermordes. Dem faktischen Vatermörder Smerdjakoff hat er »seine eigne Krankheit, die Epilepsie, angehängt, als ob er gestehen wollte, der Epileptiker, Neurotiker in mir ist ein Vatermörder«. Im Gefühl gewollt aber haben alle Brüder die Tat, bis auf »die Kontrastgestalt« Aljoscha; darum »sind sie alle gleich schuldig«. Es ist erstaunlich, wie tief Freud damit ins Grundgewebe des Romans hineinleuchtet. Die Urschuld unbewußter Vatermordwünsche ist das gewaltige Thema (»Wer wünscht nicht den Tod des Vaters?«, sagt Iwan). 95 Alle vier Söhne haben einen Vaterkomplex, der auf Eindrücke der frühesten Kindheit zurückgeht, die jedem anders durch dies Scheusal von Vater zerstört worden ist. Diesen Kindheitsmotiven ist ausführlich Raum gegeben; die Kindheit nach allen ihren Möglichkeiten durchleuchtet wird geradezu zum stillen Gegenthema in diesem düsteren Roman des Vatermords. Freuds analytischer Grundsatz von der Wichtigkeit der infantilen Erlebnisse findet sich, anagogisch gewendet, in Aljoschas Schlußwort: »Es gibt nichts, das höher, stärker, gesünder und nützlicher für das Leben wäre als eine gute Erinnerung aus der Kindheit, aus dem Elternhause.« 96 Indem der Roman Freuds Theorie des Vaterkomplexes weithin bestätigt, bringt doch zugleich der Dichter im intuitiven Wissen um das Gesamtmenschliche eine Gegenkraft zur Geltung, die Freuds Ödipuskomplex wesentlich ergänzt. Die Mutter wird, das anagogische Prinzip für die Söhne. Nur wo die Mutter bei der Geburt 94

Almanadi, S. 26. Piper-Ausgabe (1908) II, 678. 9 « II, 872. 85

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stirbt, bei dem unehelichen Kinde Smerdjakoff, führt der Vaterhaß zum Mord. In Dimitri wirkt das Mütterliche, das er so früh entbehren mußte, in allem Dunkel seiner leidenschaftlichen Triebe als tiefe Sehnsucht »zum Lichten«. Das zeigt97 der Traum vom »Kindichen«, der seine Seele in ihrer tiefen Liebes- und Leidenskraft enthüllt und auch die Leidenschaft zur Geliebten in den Aufschwung zum Lichten hineinnimmt. Entscheidender lebt in Dimitris Stiefbrüdern, in Iwan und Aljoscha, die Mutter fort als die wehrlose durch den Vater geschändete Heilige. 98 Iwan mit seinem großen Intellekt mehr des Vaters als der Mutter bedürftig, wirft die ganze Mutterliebe in den Vaterhaß und ringt mit dem Vaterprinzip in der Welt, indem er Gott selber ausmerzt aus der Schöpfung. Und doch steht auch über seinem Geschick Aljoschas Gedanke, als ein unsichtbares Mutterwort: »Der Gott, an den er nicht glaubte, und seine Wahrheit hatten das Herz überwältigt, das sich noch immer nicht hatte ergeben wollen.« 99 Aljoscha zuletzt, ganz vom Geist der mystischgläubigen Mutter geformt, ist nicht nur »Kontrastfigur«, wie Freud sagt. Er wächst zur Hauptgestalt heran, zum Träger des anagogischen Sinnes im Roman, zum Sachwalter des mütterlichen Prinzips der sorgenden Liebe: nach dem Tode der Mutter anheimgegeben der Mutter Kirche, Freund und Führer der Jugend, Trost und Hilfe für alle Leidenschaftsverstrickten, den Brüdern vertraut aus den dunklen Tiefen des gemeinsamen Blutes. Wie die Mutter entzieht er sich der Gemeinheit des Vaters in einem »hysterischen Anfall·, 100 so tief hat Dostojewski die Identifikation mit der Mutter aufgespürt; der Vaterkomplex entkräftet sich ihm durch eine andere geistige Vaterwahl, in der Hingabe an den Starez Sosima. Darum ist es, in der Schuldverstrickung aller, durchaus nicht gleichgültig, wer die Tat wirklich ausgeführt hat, wie Freud meint. Jeder ist unter diesem Scheusal von Vater in einen Vaterkomplex geworfen. Wie er mit ihm fertig wird, wie er ihn verarbeitet, daran zeigt sich der Charakter, daraus erwächst erst das »Schicksal·, und dafür ist im Roman die Mutterbindung entscheidend wirksam gemacht.101 87

II, 2 9 6 ff. 1 , 269. 90 11,615. 100 1 , 269. 101 D e m entspricht f ü r die Vorzeit gegen Freuds Urvater-Theorie ( X , 1 7 1 ) , als anagogische Gegendeutung des Dichters, Jeremias Gotthelfs »Schwarze 98

2

54

Dostojewskis Hohn auf die Psychologie als den »Stock mit zwei Enden« würde darum heute auch die Psa. treffen. 1014 Denn wenn sie auch tiefer eindringt in die Menschenseele als die Richterpsychologen, die Dostojewski mit ihrem Fehlurteil verspottet, so ersetzt sie doch nur jene Lehre vom >AffektKomplexeDichterische< einklammert. Doch ist er der Verführung nicht entgangen, eine Szene der Dichtung zu analysieren, und zwar von höchstem dichterischen, d. h. symbolischem Gewicht, den Kniefall des Starez vor Dimitri. 102 Freud versteht diesen Kniefall allein aus der Analyse des Starez: als einen Verdrängungsakt, der die Haßregung des Heiligen gegen den Sünder ersetzt durch eine Gebärde übergroßer Ehrfurcht; gerade das Zuviel erscheint Freud verdächtig, er erspürt hinter der ganzen Szene nur den Destruktionstrieb des Dichters, Dostojewskis »schrankenlose Sympathie für den Verbrecher«. Durch solche isolierende Analyse aber verzerrt Freud den objektiven Vorgang in der Dichtung, läßt seine religiöse und mitmenschliche Tragweite außer acht. Der Kniefall des Starez ist eine Kundgebung, kein bloßer Ausdruck des Gefühls. Indem der Heilige den Gefühlsgehalt der religiösen Urgebärde auf den Sünder wendet, spricht er eine Sprache der Seelendeutung, die alle erschüttert, 103 obSpinnePsydiologisdie TypenIndividualpsychologieRosmersholmWildenteKlein EyolfSchnitzler als Psychologe 1 9 1 3 ; Josef Körner, >Schnitzlers Gestalten und Problemen 1 9 2 1 ; »Schnitzlers SpätwerkKrise der Psychologies 1929 2 und Prinzhorns Sammelwerk »Krisis der Psa.Die existentielle Bedeutung der Psa. in ihrer Konsequenz für deren Kritik< (Nervenarzt III, Heft n , 1930), das Infragestellen der Menschlichkeit des Menschen durch die Psa. wird über Freuds »Selbstmißverständnis« hinaus zur letzten radikalen Fragwürdigkeit geführt. Umfassender ist die Stellung Max Scbelers >Wesen und Formen der Sympathies 1 9 1 3 , >Stellung des Menschen im KosmosDie Generation ohne MännerFifty Years of the Psychoanalysis of Literature 1900— i9$oIndex Psychoanalyticus 1893—1926< v o n J°hn Ridsman z u Rate ziehen (London 1928). Schließlich dankt der Herausgeber manchen Literaturhinweis dem Psychoanalytic Literature Index< des Chikagoer Institutes für Psychoanalyse, der sich im Sigmund Freud-Institut in Frankfurt a. M. befindet. D e r Bibliothekarin, Frau Siepmann, danke ich für freundliche Auskünfte. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Johannes Cremerius, gemeinsam mit dem Herausgeber, umfangreiche Sekundärliteraturverzeichnisse und unveröffentlichte Dokumente zum Verhältnis einzelner Dichter zu Freud und zur Psychoanalyse vorlegen wird in: Johannes Cremerius — Bernd U r b a n : Die Literaten und Sigmund Freud. Die Rezeption der Psychoanalyse durch deutschsprachige Dichter und Schriftsteller in der ersten Jahrhunderthälfte. 2 Bde. Frankfurt a. M. S. Fischer Verlag. D e r erste Band wird 1974, der zweite 1975 erscheinen. Abraham, K a r l : Traum und Mythus. In: A b r a h a m : Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung und andere Schriften. Hrsg. von Johannes Cremerius. Frankfurt a. M. S. 261 ff. [1969] Abraham, K a r l : Die Psychoanalyse als Erkenntnisquelle für die Geisteswissenschaften. In: A b r a h a m : Psychoanalytische Studien. Bd. II. Hrsg. v o n Johannes Cremerius. Frankfurt a. M. S. 372 ff. [ 1 9 7 1 ] 262

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