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German Pages 512 [513] Year 1970
Studien zur Geschichte der deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen
Dieser Band entstand auf Grund eines Übereinkommens der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin Institut für deutsche Sprache und Literatur und der Ungarischen Akademie der Wissenschaften zu Budapest Institut für Literaturgeschichte
Die in ungarischer Sprache gelieferten Aufsätze wurden übersetzt von Geza Engl und Istvän Frommer f (Budapest) und Bruno H e i l i g t (Berlin)
STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER DEUTSCH-UNGARISCHEN LITERARISCHEN BEZIEHUNGEN Herausgegeben von
Leopold Magon f , Gerhard Steiner, Wolfgang Steinitz f , Miklös Szabolcsi und György Mihäly Vajda
Akademie-Verlag • Berlin 1969
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 Copyright 1969 by Akademie-Verlag GmbH Lizenznummer: 202 • 100/115/69 Herstellung: IV/2/14 VEB Werkdruck, 445 Gräfenhainichen • 2980 Bestellnummer: 5691 • ES 7 C/7 E/7 K
Inhalt
Vorwort
7
György Mihäly Vajda Zur Geschichte der ungarisch-deutschen Literaturbeziehungen
9
Rabän Gerezdi f Der Weltruf des Janus Pannonius und die deutsche Vermittlung
32
Sändor V. Koväcs Die Sodalitas Litteraria Danubiana und das ungarische geistige Leben
44
Istvan Borzsäk Zur Frage der Rezeption Melanchthons in Ungarn
52
Jözsef Turöczi-Trostler f Albert Szenczi-Molnar in Heidelberg
70
Karl-Heinz Jügelt Ungarische Gelegenheitsdichtung des 17. und 18. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Jena
100
Lajos Nemedi Die Rolle des deutschen Vorbildes in der ungarischen Aufklärung
113
Laszlö Sziklay Wege der deutsch-slowakisch-ungarischen Kulturvermittlung zur Zeit des Auflebens der slawischen Literaturen
126
Jözsef Szauder Kazinczys Klassizismus
141
György Walkö Der Bahnbrecher der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung besucht Goethe
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158
Hans Henning/Andräs Vizkelety Dichter und Schriftsteller aus Ungarn in deutschsprachigen Almanachen 1750 bis 1850. Eine bibliographische Skizze Ilona Erdelyi-Török Das „Junge Deutschland" und das „Junge Ungarn"
165 186
Antal Mädl Karl Beck. Ein Vermittler zwischen ungarischer, österreichischer und deutscher Literatur
202
6
Inhalt
Eva Hermann Die Geschichte der Schrift Sajtószabadsàgról nézetei egy rabnak von Mihàly Täncsics. Ein Beitrag zu den deutsch-ungarischen buchhändlerischen Beziehungen im Vormärz
214
Helga Hajdu-Juhäsz Ein Preßburger Goethekreis zur Zeit der Revolution von 1848
232
Gerhard Steiner Die Anfänge der Rezeption des ungarischen Volksliedes in Deutschland
247
József Kiss Petöfi in der deutschsprachigen Presse Ungarns vor der Märzrevolution
275
Manfred Häckel Der Befreiungskampf des ungarischen Volkes 1848/49 in der deutschen Literatur der Zeit
298
Jänos Barta Die ungarische Literatur und der „poetische" Realismus. Zur Frage der tvpologischen Analogien
312
Eló'd Halàsz Die „ungarischen" Beiträge Thomas Manns. Zur Geschichte der Rezeption Thomas Manns in Ungarn
339
Miklós Salyàmosy Ungarische Literatur in der „Frankfurter Zeitung" zur Zeit der Weimarer Republik
397
Làszló Illés Einige Probleme der Anfänge der ungarischen Emigrationsliteratur in Deutschland (1919 bis 1923) Miklós Szabolcsi Béla Baläzs und sein Roman „Unmögliche Menschen"
419 435
György Mihäly Vajda Zur Wirkungsgeschichte der deutschen sozialistischen Literatur in Ungarn. Johannes R. Becher und Bertolt Brecht
453
Ortsverzeichnis
491
Personenverzeichnis
494
Autorenverzeichnis
510
Vorwort
Seit etwa 100 Jahren bemühen sich Literaturforscher, vor allem ungarische, zu untersuchen und darzustellen, welche Fäden die ungarische und die deutsche Literatur in rund 500 Jahren mehr oder weniger enger und sichtbarer kultureller Kommunikation miteinander verbinden. Der einleitende, die Hauptlinien der Geschichte dieser Beziehungen aufzeigende Artikel dieses Bandes und die dazugehörige Bibliographie weisen dies aus. Nachdem diese Forschungen längere Zeit nahezu stillgelegen hatten, wurden sie nach dem zweiten Weltkrieg mit neuen Zielen wieder in Gang gebracht. Jetzt war es auch möglich, sie aus der Vereinzelung herauszuheben und eine planmäßige Zusammenarbeit ungarischer und deutscher Literaturhistoriker zu organisieren. Zahlreiche Besuche und Aussprachen hatten der Verständigung zwischen Literarturwissenschaftlern der Volksrepublik Ungarn und der Deutschen Demokratischen Republik gedient, Formen der gegenseitigen Unterstützung und des Zusammenwirkens waren im einzelnen erprobt worden, als im Mai 1963 das Institut f ü r Literaturgeschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften zu Budapest und das Institut f ü r deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine Gemeinschaftsarbeit beschlossen: Es sollten dieneuenForschungsergebnisseüberdie deutsch-ungarischen literarischen Wechselwirkungen zusammengefaßt und veröffentlicht werden. Ein Redaktionskollegium, das aus den auf dem Titelblatt genannten ungarischen und deutschen Wissenschaftlern bestand, übernahm die Organisation dieser Arbeit und ließ es sich angelegen sein, viele der mit einschlägigen Forschungen Beschäftigten zu gewinnen. Vor allem wurden Mitarbeiter herangezogen, die Themen aus besonders wichtigen Forschungsarbeiten, zum Beispiel aus der Zeit der Revolution von 1848/49 und der Gegenwart, bearbeiten konnten. Maßgebend war das Bestreben, systematischer und planvoller als bisher unter Berücksichtigung bestimmter Schwerpunkte und bisher wenig beachteter Themen eine Darstellung des Gesamtverlaufs der deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen anzubahnen. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist der vorliegende Sammelband. Er umfaßt Studien aus den einzelnen Epochen der literarischen Beziehungen vom Humanismus bis zur Literatur unserer Zeit. Es wird zum Teil neues Material ausgearbeitet und interpretiert, zum Teil werden bereits behandelte, aber unbefriedigend gelöste Probleme neu aufgeworfen. Indem der Band mannigfache Überlegungen vorträgt, grundlegende Zusammenhänge skizziert und weiterführendes Material bietet, will er eine Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Erforschung der deutsch-
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Vorwort
ungarischen und ungarisch-deutschen literarischen Beziehungen geben. Vor allem aber kann diese Sammlung, deren Beiträge aus weit auseinanderliegenden Bereichen der literaturhistorischen Forschung stammen und von verschiedenen Blickpunkten aus erarbeitet wurden, als Grundlage dienen für die Diskussion über Inhalt und Methode der zukünftigen Untersuchungen der Wechselbeziehungen zwischen den Literaturen unserer beiden Völker und eine neue Entwicklung dieser Forschungen auch in organisatorischer Hinsicht einleiten. Der Studienband ist die erste größere Gemeinschaftsarbeit auf diesem Gebiet. Mitarbeiter und Herausgeber hoffen, daß er anregend und klärend wirkt und dazu beiträgt, die Lücken der Forschung mehr und mehr zu schließen und die weltliterarischen Prozesse deutlicher hervortreten zu lassen. So möge er ein Baustein zu dem höheren Werk sein: einer geschlossenen systematischen Darstellung der deutsch-ungarischen Wechselbeziehungen sowie der Geschichte der Literaturbeziehungen der osteuropäischen Völker überhaupt. Das Redaktionskollegium dankt allen, die diese Arbeiten ermöglicht und an ihr mitgewirkt haben, und hofft, daß die begonnene Gemeinschaftsarbeit erfolgreiche Fortsetzung findet. Die Herausgeber widmen diesen Band in ehrendem Gedenken ihren während der Redaktionsarbeiten verstorbenen Kollegen Wolfgang Steinitz, Leopold Magon und Rabän Gerezdi. Im Namen des Redaktionskollegiums GEBHARD STEINER
GYÖBGY MTTTÄT.Y V A J D A , B U D A P E S T
Zur Geschichte der ungarisch-deutschen Literaturbeziehungen
Von Literaturbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Völkern im engsten Sinne des Wortes kann nur dann mit vollem Recht gesprochen werden, wenn jedes Volk bereits über eine selbständige literarische Tradition verfügt. Doch eine literarische Tradition bildet sich erst im Prozeß einer langen geschichtlichen Entwicklung heraus. Ist eine Stufe des gesellschaftlichen Fortschritts erreicht, da eine gewisse Fülle produzierter Güter einzelnen Klassen den Weg zu freier kultureller Betätigung öffnet, so ist einzelnen Individuen der Gesellschaft die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer Fähigkeiten geboten. Doch das genügt nicht. Zu der sich allmählich herausgebildeten literarischen Tradition muß sich auch literarisches Bewußtsein gesellen, das heißt: Die Tradition muß im Bewußtsein ihrer Träger und Erneuerer verankert sein. Literarische Beziehungen im erwähnten Sinne zwischen den Deutschen und den Ungarn konnten frühestens zur Zeit des Humanismus entstehen. Das ungarische Mittelalter brachte kein Rittertum westlichen Typs hervor, und die Handwerker der Städte des ungarischen Königtums waren zum überwiegenden Teil nicht ungarischer Nationalität. So konnte es kein ungarisches Gegenstück zu der großen höfischen Epik des deutschen Mittelalters, der Ritterlyrik und der städtischen Dichtung der Meistersinger geben. Als erster durfte der Humanist Janus Pannonius von sich sagen, er habe die Musen aus Italien nach Pannonien geführt; er brach mit dei früheren ungarischen Art des Schreibens, erneuerte sie in Inhalt und Form und schuf die Grundlagen einer kontinuierlichen autochthonen ungarischen literarischen Tradition. Mit seiner Dichtung gelangten zum ersten Male geistigte Produkte aus Ungarn mit ihrem spezifischen Kolorit in die vornehme Gemeinschaft des europäischen Humanismus: Was vordem gewesen war — jeden individuellen Gepräges bare Produkte des mittelalterlichen religiösen und gelehrten Literatentums —, ging in der christlich-religiösen Universalliteratur auf, aus der diese Schriften geboren waren und ihre Nahrung bezogen. Was davon (im Rahmen der ungarisch-deutschen Beziehungen) auf individuelle Quellen zurückgeht, wie die aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts stammende ungarische Übersetzung eines der Dramen der Gandersheimer Nonne Hrotsvitha, stand gleichfalls, wenn auch innerhalb der Kirche, im Zeichen des Humanismus. Doch die literarischen Beziehungen sind nur Teilerscheinungen der allgemeinen Kulturbeziehungen. Daraus folgt einerseits, daß man beide nicht ganz voneinander trennen kann, und daß andererseits die zwischen den Völkern bestehenden kultu-
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rellen Beziehungen auch literarische Elemente enthalten. Im Verlaufe des Mittelalters bestanden zwischen den Ungarn und den Deutschen nur allgemeine kulturelle Beziehungen. Das daran literarisch Interessante kann noch nicht als literarische Beziehung im engeren Sinne des Wortes gelten. Um so reicher waren die historischen Begegnungen. Wohl beschränkten sich im ersten Jahrhundert nach der Landnahme (896) die Begegnungen der Deutschen mit den auf Abenteuer und Beute ausschwärmenden Ungarn hauptsächlich auf bewaffnete Auseinandersetzungen — sie haben in deutschen und ungarischen Sagen ihren Niederschlag gefunden —, aber schon 973 schickte der ungarische Fürst Geza eine Friedensgesandtschaft an den Hof Kaiser Ottos I., und Stefan der Heilige, Ungarns erster König, heiratete eine bayrische Prinzessin, rief deutsche Benediktinermönche ins Land und ließ seinen Sohn auf den Namen Imre (Emmerich) taufen. Von da an blieben die Beziehungen zur deutschen Kultur das ganze Mittelalter hindurch ungestört bestehen, wenn sie auch nicht intensiver waren als die Beziehungen zu den Italienern, den Franzosen und zu Byzanz oder als der Einfluß der slawischen Kultur. Seit dieser Zeit Stefans des Heiligen standen deutsche Ritter im Lehndienst ungarischer Könige, viele von ihnen erhielten Grundbesitz und wurden in den ungarischen Adel aufgenommen; schon im XII. Jahrhundert kamen zahlreiche deutsche Siedler ins Land, und die Bevölkerung der an den ostwärts führenden Handelsstraßen entstandenen Städte ging hauptsächlich aus den Reihen dieser Deutschen hervor. Viele Spuren weisen darauf hin, daß auch deutsches fahrendes Volk auf das Gebiet des Königreichs Ungarn gelangte, wo die Spielleute auf Märkten auftraten oder f ü r den Zeitvertreib adliger Herren sorgten und so auf ihre Art eine Mittlerrolle zwischen den zwei Völkern spielten. Es ist möglich, daß im Nibelungenlied und in den in lateinischer Sprache abgefaßten ungarischen Chroniken des Mittelalters Spuren dieser Mittlertätigkeit zu finden sind. Jedenfalls weisen die gemeinsamen Elemente der deutschen und der ungarischen Hunnensage auf eine Berührung mit den Spielleuten hin. Am Hofe des ungarischen Königs Lajos (Ludwig) des Großen aus dem Hause Anjou erschienen bekannte deutsche Sänger: Heinrich von Mügeln, Teichner und Suchenwirt; Oswald von Wolkenstein erfreute sich der Gunst des ungarischen Königs und späteren römisch-deutschen Kaisers Sigismund. Wie manches seiner Gedichte bezeugt, hat Wolkenstein auch die ungarische Sprache erlernt. Doch all dies hinterließ keine tieferen Spuren in der Entfaltung der ungarischen Kultur und Literatur. Wenn wir nach den ausländischen Quellen forschen, aus denen Ungarn seine kulturellen Bedürfnisse befriedigen konnte, so stoßen wir auf die ersten großen Universitäten, zuerst auf die weniger ins Gewicht fallende Pariser, dann vor allem auf die Universität von Bologna, die — wie aus dem übrigen Europa — auch von vielen Studenten aus dem römisch-deutschen Reich und aus Ungarn besucht wurde. In die Länder des cisalpinem Europa drang der erste Hauch des Humanismus von den norditalienischen Universitäten, und so nährte sich auch der ungarische Humanismus bis zur Reformation vorwiegend aus italienischen Quellen. Doch schon gegen Ende des Mittelalters, in der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts, kam es zu einem außerordentlich weitgespannten Verkehr mit der damals im Aufstand begriffenen Wiener Universität.
Ungarisch-deutsche Literaturbeziehungen
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Von der Gründung im Jahre 1365 an bis 1526 zählte sie etwa fünftausend Hörer aus dem Gebiet des Königreichs Ungarn; die dritte der vier Nationen der Wiener Universität war die natio hungarica; sie bestand in ihrer Mehrheit aus ungarischen Studenten deutscher Muttersprache, zum geringeren Teil aus Ungarn und Slawen. Nach Wien gelangte der Humanismus in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts, wobei vermutlich Aeneas Silvius Piccolomini eine gewisse Rolle spielte, der jahrelang als Leiter der Hofkanzlei in Wien lebte und während dieser Zeit mit dem ersten großen Mäzen des ungarischen Humanisten, Jänos Vitez, der in Wien studierte, freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Wiens Humanisten waren gern gesehene Gäste am Hofe des ungarischen Königs Matthias Corvinus, der sich, nachdem er 1485 Wien besetzt hatte, als begeisterter Mäzen der Universität erwies und die an seinem Hof lebenden Humanisten aus Italien und Mitteleuropa mit den Wienern in Verbindung brachte. Die Blütezeit des Wiener Humanismus unter Kaiser Maximilian I. war in dieser Hinsicht gleichsam die Fortführung der vorangegangenen Epoche auf höherer Ebene; seine Bemühungen, die Humanisten der Donauvölker zusammenzufassen, fanden u. a. in der Tätigkeit Celtis' ihren Ausdruck. Am Hofe der ungarischen Könige aus dem Hause der Jagiellonen (1490—1526) arbeiteten süddeutsche, tschechische, polnische, ungarische Humanisten und solche anderer Nationen zusammen. Sie entwickelten eine humanistische Bildung mitteleuropäischer Prägung, noch bevor ihre Länder politisch und kulturell unter den Einfluß oder gar die Herrschaft der Habsburger gerieten. Es war ein Humanismus unverkennbar höfischen, aristokratischen Gepräges. Dennoch wies er Elemente der frühbürgerlichen Ideologie auf, ja zu Zeiten trug die geistige Strömung, die sich unter der Ägide der Reformation im Europa des XVI. Jahrhunderts und im Gefolge der türkischen Eroberungen und der Verselbständigung Siebenbürgens auch in dem nunmehr dreigeteilten Ungarn verbreitete, plebejischen Charakter. Zwischen Erasmus und Ungarn vermittelte noch u. a. Wien. Luthers und Melanchthons ungarische Anhänger und Jünger suchten unter Umgehung und gegen den Willen Wiens direkte Verbindung mit ihren Lehrern und Freunden und nahmen ausgedehnte Beziehungen zu den deutschen Protestanten auf, wie sie zuvor mit keinem Lande bestanden hatten. Melanchthon zählte unter seinen Studenten über fünfhundert Hörer aus Ungarn; Wittenberg war vom XVI. bis XVII. Jahrhundert das meistbesuchte Bildungszentrum der lembeflissenen Söhne der in Ungarn beheimateten Protestanten unterschiedlicher Muttersprache; sie kamen zum größten Teil aus den Kreisen des höheren Adels und des städtischen Patriziats. Aus den Schichten des niederen Adels und des mittleren Bürgertums der Städte, denen der AntifeudalisVnus Luthers und Melanchthons nicht radikal genug war, gingen eher Anhänger Calvins hervor. Sie suchten vom Beginn des XVII. Jahrhunderts an unter den deutschen Universitätsstädten vornehmlich die Zentren des Calvinismus, Heidelberg, Herborn und Marburg, auf. Von den siebenbürgischen Fürsten pflegte vor allem Gabor Bethlen die Beziehungen zu den deutschen Protestanten. An der Hochschule von Weißenburg lehrte neben anderen deutschen Gelehrten von Rang eine Zeitlang auch Martin Opitz (1622). Unter der Einwirkung der Reformation entstand eine reiche Disputationsliteratur religiösen und morali-
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G.M.Vajda
sierenden Inhalts; die Lyrik blühte auf, Psalmen- und weltliche Dichtung in gleicher Weise. Während der blutigen Epoche der Religionskriege wurden die deutschen und ungarischen Protestanten wie auch die Katholiken von Wellen der stoischen Philosophie erreicht, die von Justus Lipsius ausgingen. Als sich die deutsche Kultur im Gefolge der Reformation spaltete, verliefen auch die ungarischen Beziehungen in beiden Richtungen: Die eine führte über Wien, die andere zu den mittel- und norddeutschen Universitäten. Dabei blieb es bis Anfang des XIX. Jahrhunderts, ja noch darüber hinaus. Wien war das Zentrum des katholischen Habsburgerreichs und die Residenz der ungarischen Könige aus deim Hause Habsburg, deren Macht jedoch bis zum Ende des XVII. Jahrhunderts nur bis an die Grenzen des von den Türken unterworfenen Gebietes Ungarns und bis nach Siebenbürgen reichte. Die ständigen Kämpfe mit den Türken lösten auch in der deutschen Literatur bedeutenden Widerhall aus, der auf Ungarn zurückwirkte. Vom Ausgang des XVI. Jahrhunderts an wurde die Gegenreformation in Ungarn von Wien aus gelenkt. Die Mönchsorden, vor allem die Jesuiten, waren bemüht, die Kinder der ungarischen Großgrundbesitzer in einem der Habsburger Dynastie genehmen Sinne zu erziehen. Doch die habsburgische Kultur war keine ausschließlich deutsche Kultur. Ihr waren spanische, italienische und französische Kulturelemente beigemischt, und so vermittelte das gegenreformatorische Wien nicht nur — und nicht in erster Linie — deutsche Kultur. Ein katholischer Aristokrat, Graf Miklös Zrinyi, der größte Dichter des XVII. Jahrhunderts, auch hervorragender Heerführer, schrieb ein national-religiöses Ritterepos, dessen Typ in der deutschen Dichtung nicht zu finden ist; es erschien 1651 in Wien. Dagegen fand der in Wittenberg studierende Protestant Albert Szenczi-Molnär, eine der bedeutendsten Gestalten der ungarischen Kulturgeschichte und ein Vertreter der frühen bürgerlichen Ideologie, in Deutschland eine geistige Heimat. 1604 veröffentlichte er in Nürnberg ein großes lateinisch-ungarisches Wörterbuch. 1610 in Hanau eine ungarische Sprachlehre. Gleichfalls auf deutschem Gebiet erschienen seine Übersetzungen und Psalmdichtungen, die f ü r die Entwicklung der ungarischen Lyrik von epochemachender Bedeutung waren. Im Dreißigjährigen Krieg fochten ungarische Truppen ebenso auf der kaiserlichen wie auf der protestantischen Seite. Der zweifache Kontakt mit dem deutschen Kulturgebiet war charakteristisch sowohl für das deutsche Bürgertum der ungarischen Städte als auch f ü r die Vertreter der ungarischen Literatur. Mit besonderer Schärfe wirkte sich die Duplizität der Verbindungen Ende des XVII. Jahrhunderts aus, als die kaiserlichen und die ungarischen Heere die Türken aus dem Land gedrängt hatten und die Liquidierung der in Opposition zu dem feudalen Wiener Regime steheiiden Kräfte einsetzte, deren Hauptstützpunkt Siebenbürgen war. Charakteristisch für die Kompliziertheit der Situation war, daß sich an die S'pitze der antifeudalistischen Befreiungskämpfe Fürst FerencRaköczill. stellte, der, obzwarHerr über riesige Güter, Katholik und Ungar, sowohl von den, slowakischen und ruthenischen Bauern als auch von den protestantischen deutschen Städten der nördlichen Teile des ungarischen Staatsgebiets unterstützt wurde. In Raköczis Heerlager wurde die deutschfeindliche Kuruczen-Dichtung geboren. Dabei hatte Rakoczi die Tochter eines deutschen Aristokraten, des regierenden Grafen von
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Hessen-Rheinfels, zur Frau, die der Kaiser gefangenhielt. Zur Zeit der Protestantenverfolgungen, ganz besonders nach der Niederschlagung der Freiheitskämpfe, mußten die Gegner der Habsburger, ganz gleich welcher Muttersprache, schwerer Bestrafung gewärtig sein. Viele flüchteten ins Ausland. Eine Gruppe zu Galeerenarbeit verurteilter protestantischer Prediger wurde von einem holländischen Admiral befreit. Viele der Flüchtlinge, vor allem die protestantischen „Intellektuellen", Priester und Lehrer, fanden auf deutschem Gebiet außerhalb der Reichweite der habsburgischen Macht Asyl. Man nannte sie Exulanten. Auf Grund ihres Wirkens kommt ihnen ein bedeutender Platz in der Geschichte der deutsch-ungarischen Wechselbeziehungen zu. Einige arbeiteten an deutschen Universitäten, andere wurden Lehrer oder Pfarrer, wieder andere traten in städtische Dienste. Ihnen ist zu verdanken, daß neben Wittenberg die Rolle der Universitäten von Altdorf, Leipzig, Göttingen und Jena in bezug auf die deutsch-ungarischen wissenschaftlichen und literarischen Beziehungen an Bedeutung zunahm; gegen Ende des Jahrhunderts trat die Jenaer Universität an die erste Stelle. Die hervorragendste Gestalt im Kreise der Exulanten war der Dekan der Wittenberger Universität, Georg Cassai-Michaelis, dessen umfangreiche ungarische Bibliothek zusammen mit seinen Stiftungen Generationen ungarischer Studenten das Studium sicherte. Gestützt auf die CassaiBibliothek verfaßte der aus Schemnitz stammende ehemalige Altdörfer Student David Czvittinger sein „Specimen Hungariae Literatae", das erste lexikalisch geordnete Werk über die in Ungarn erschienene Literatur (Altdorf 1711). Es ist in lateinischer Sprache abgefaßt und stellt 269 in Ungarn geborene Schriftsteller als Zeugen der Kultur Ungarns vor. Der drei Jahrzehnte später erschienene Grundriß des Werkes Michael Rotarides', eines ehemaligen Wittenberger Studenten (Altona 1745), enthält bereits doppelt soviel Namen. Teils über die Exulanten, teils auf anderen Wegen kam Ungarn mit pietistischen Strömungen in Berührung; anfangs erfaßten sie das städtische Bürgertum, durch dessen Vermittlung aber auch einige ungarische Dichter. Parallel damit verstärkten sich die Beziehungen Halles zu Ungarn — zum Beispiel standen A. H. Francke und sein Sohn in lebhaftem Briefwechsel mit in Ungarn lebenden Pietisten. Diese Beziehungen trugen habsburgfeindlichen Charakter und richteten sich gegen die herrschende Rückständigkeit. So spielte der Pietismus eine gewisse Rolle in der Vorbereitung der bürgerlichen Entwicklung in Ungarn. Seine führende Persönlichkeit war der in Preßburg tätige hervorragende Gelehrte, Geograph, Naturforscher und Linguist Matthias Bei, der lateinisch, deutsch, slowakisch und ungarisch sprach und schrieb. Zur Zeit Bels und der Exulanten entwickelte sich eine spezifisch ungarische Art von nichtnationalistischem Patriotismus, der sich in dem Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Regnum Hungaricum ausdrückte: dem staatsbürgerlichen Bewußtsein eines „hungarus", das aber auch eines emotionalen Elements nicht entbehrte. Czvittinger und Rotarides waren in Ungarn geborene und herangewachsene Deutsche, und in ihrer Arbeit leitete sie das Streben, ihre deutschen Gastgeber mit der Kultur Hungarias, ihrer Heimat, bekannt zu machen. In der Darstellung der Hungaria literata machten sie keinen Unterschied zwischen den Schriftstellern verschiedener Muttersprache. Das für die bürgerliche „Intelligenz" charakteristische
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Bewußtsein eines „hungarus" reicht in seinen Ursprüngen wahrscheinlich bis auf die mittelalterlichen Universitäten zurück, so auf die „natio hungarica" der Universitäten von Prag und Wien, zu der jeder aus dem Gebiet des Königreichs stammende Student gehörte. In den Registern der ausländischen Universitäten wurden Ungarn, aus dem Königreich stammende Deutsche!, Slawen und Rumänen in gleicher Weise als „hungari", „Ungern" geführt. Als Jan Kollàr, der große Dichter der Slowaken, zwischen 1817 und 1819 Student an der Jenaer Universität, mit Goethe in Verbindung trat, mußte er dem Dichter begreiflich machen, daß er, obzwar dem Universitätsregister zufolge „Unger", kein Ungar im Sinne von „Madjare" sei. Kollàr war natürlich schon national bewußter Slowake, eine Mentalität, die mit dem „hungarus"-Bewußtsein des XVIII. Jahrhunderts noch unvereinbar gewesen wäre. Diesem Phänomen stand die spätere nationalistische Geschichtsschreibung oft verständnislos gegenüber. Auch die heutige Forschung ist in manchen Fällen nicht imstande, die nationale, ja auch n u r die sprachliche Zugehörigkeit einzelner Autoren aus dem Königreich Ungarn, besonders solcher des XVIII. Jahrhunderts, einwandfrei zu ermitteln (Matthias Bèi!), denn der Begriff des Nationalen und das Bewußtsein der nationalen Zugehörigkeit hatten sich hier noch nicht klar herausgebildet. Dazu kommt noch, daß es neben dem „hungarus"-Bewußtseinmehrbürgerlich „intellektueller" Prägung im Königreich Ungarn auch ein anderes Bewußtsein gab, das des nobilis hungarus, das Bewußtsein der Zugehörigkeit zum ungarischen Adel, gleichfalls unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache oder Nationalität. All das wurde in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts von der Staatstheorie der Aufklärung überlagert, die den staatsbürgerlichen Patriotismus propagierte und von den unterschiedlichen Nationalitäten eines Hoheitsgebietes Treue zum Staat forderte. Davon konnte die Habsburger Monarchie auch nicht abgehen, solange sie bestand, obzwar die innerhalb der Grenzen ihres Herrschaftsbereiches lebenden Völkerschaften inzwischen zu Nationalbewußtsein erwacht waren und nach Selbständigkeit strebten. So wurde die Habsburger Monarchie bereits im XIX. Jahrhundert Schauplatz leidenschaftlicher nationaler Auseinandersetzungen, deren Problematik durch den auflebenden Nationalismus der Madjaren und der anderen auf dem Gebiete des Königreichs Ungarn lebenden Nationalitäten weiter kompliziert wurde. Zu dieser Zeit gewann die kulturelle und vermittelnde Rolle der in Ungarn beheimateten Deutschen um so mehr an Bedeutung, als sie im Laufe des XVIII. Jahrhunderts zahlenmäßig stark zugenommen hatten. Nach der Verdrängung der Türken aus Ungarn waren weite Gebiete des Landes verwüstet und zum Teil entvölkert. Diejenigen, die von der habsburgischen Regierung f ü r die Neubesiedlung geworben wurden, kamen zum größten Teil aus dem katholischen Süddeutschland. Ein Teil der Neusiedler, Bauern, nahm die verlassenen Felder in Pflege und machte sie wieder fruchtbar, der andere Teil, Gewerbetreibende und Handwerker, ließ sich in den Städten nieder. Die Siedler erwarteten natürlich Unterstützung aus Wien, und sie erhielten sie auch. So machte sich der geistige Einfluß Österreichs in dem langsam wiederauflebenden Lande im Laufe des XVIII. Jahrhunderts immer stärker geltend. Es war die Zeit der Herausbildung und des Auf-
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blühens der spezifisch österreichischen Kultur unter Maria Theresia und Joseph II., die Epoche der österreichischen Aufklärung, des Josephinismus und der Glaubenstoleranz. Eine Zeitlang wurde den Völkern des Habsburgerreiches der Verkehr mit den Ländern jenseits der Grenzen des Reiches noch erschwert, bis 1781 Joseph II. das Toleranzedikt erließ und zugleich mit der Sicherung der Religionsfreiheit für die Protestanten auch das Studium an ausländischen Universitäten gestattete. Mitte des XVIII. Jahrhunderts hatte die Entwicklung der im Königreich Ungarn lebenden Deutschen einen solchen Grad erreicht, daß sie die Elemente der Aufklärung übernehmen konnten: 1764 gründete in Preßburg Karl Gottlieb Windisch, ein Schüler Matthias Bels und namhafter Aufklärer, die „Preßburger Zeitung", die bis 1929 bestand. (Sie war nach der mit Ferenc Räkoczis Namen verbundenen, von 1705 bis 1711 erschienenen, in lateinischer Sprache geschriebenen Zeitung das erste großangelegte und langlebige Zeitungsunternehmen imlKönigreich). Es erübrigt sich, auf die Wichtigkeit der kulturellen Mittlerrolle der in den folgenden hundert Jahren in Ungarn erschienenen großen deutschsprachigen Zeitungen besonders einzugehen. Im Zuge der Entwicklung der modernen ungarischen Literatur wirkte sich diese Mittlerroilein zwei Richtungen aus: Auf dereinen Seite förderten die deutschsprachigen Zeitungen auch weiter die kulturelle Entwicklung in Ungarn, auf der anderen Seite waren sie Sprachrohr zum deutschen und nichtdeutschen Ausland hin. Von Wien angeregt, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Ungarn auch die deutschsprachigte Theaterkultur, und es kam noch eine andere Form der Unterhaltung auf, besonders unter den Bürgerfrauen: das Lesen von Romanen. Zur „Erbauung" der Damen des ungarischen Adels wurde viert- und fünftrangige zeitgenössische Lektüre übersetzt. Anfang des XIX. Jahrhunderts war die städtische Art sich zu kleiden, die „deutsche Mode", weitverbreitet, wogegen die konservativen ungarischen Schriftsteller leidenschaftlich kämpften. Fest steht jedenfalls, daß die moderne ungarische Literatur Wien und seiner Mittlerrolle viel zu verdanken hat: Aus den Reihen der von Maria Theresia begründeten Leibgarde ungarischer Adliger gingen die ersten ungarischen Schriftsteller der Aufklärung hervor, an ihrer Spitze György Bessenyei, der in Wien mit der französischen und der deutschen Aufklärung — vor allem mit Voltaire und Gottsched — Bekanntschaft gemacht hatte. Da es kein ungarisches Bürgertum gab, wurden der ungarische mittlere Adel und der unbemittelte Berufsadel Träger der Aufklärung und später der Klassik und Romantik sowie Gestalter der ungarischen bürgerlichen Ideologie. Auch die Aristokratie übernahm die Wiener Kultur, gestaltete sie aber nicht zu einer ungarischen Nationalkultur, sondern entfremdete sich selbst kulturell von der ungarischen Nation. Wiens außerordentlich großer Einfluß und seine Mittlerrolle um die Wende des XVIII. zum XIX. Jahrhundert veranlaßte Jakob Bleyer, eine markante Gestalt der ungarischen Germanistik, zur Formulierung der „Wiener Tor"-Theorie, nach der in erster Linie Wien Ausgangspunkt und Quelle oder Vermittler aller ausländischen Einflüsse gewesen sei, die seit den frühesten Zeiten auf die Herausbildung und Entwicklung der ungarischen Kultur eingewirkt haben. Bleyer leugnete durchaus nicht den autochthonen, nationalen Charakter der ungarischen Kultur, baute jedoch zwischen 1912 und 1933, als er Professor an der Budapester Universität und Leiter
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der germanistischen Forschungsarbeit in Ungarn war, sein Programm auf dieser Theorie auf, die er als wichtige Erkenntnis der ungarischen Germanistik bezeichnete und deren Gültigkeit er über Ungarn und die Völker der einstigen Donaumonarchie hinaus auf ganz Südosteuropa ausdehnte. Wie unberechtigt das war, ist schon aus den eben gemachten kurzen Angaben zu ersehen. Unberechtigt nicht nur deshalb, weil ganz allgemein kulturelle Strömungen nicht auf einen einzigen Punkt zurückgeführt werden können, vielmehr durch Tausende von Kapillaren von einem Gebiet ins andere infiltrieren, sondern auch weil der Theorie — wie aus dem bisher Gesagten hervorgeht — das Tatsachenmaterial widerspricht. Jakob Bleyer ließ sich durch seine in der österreichisch-ungarischen Monarchie herausgebildete Anschauungsweise irreführen; doch sein Irrtum erwies sich als wissenschaftlich fruchtbar. Auf der Grundlage seiner Theorie kamen zahllose Forschungen in Gang, die zu vielen, auch heute noch wichtigen Teilergebnissen führten und wertvolles Datenmaterial erschlossen. Bleyers Theorie wird auch nicht gestützt durch die Wirkung der deutschen Klassik auf die ungarische Literatur, durch einen Prozeß, der in seinen Einzelheiten schon mehr oder weniger dargestellt, aber zusammenfassend noch nicht gebührend verarbeitet ist. Die literarische Rezeption der deutschen Klassik ist nicht durch ihren Umfang, sondern durch ihre außerordentliche Tiefe und Intensität charakterisiert. Diese für die ganze Menschheit historisch bedeutsame kulturelle Leistung des deutschen Volkes gelangte nach Ungarn — wo ihre ideologische, ja sogar auch politische Wirkung (wie in ganz Osteuropa) unermeßlich groß war — nur zum geringeren Teil über Wien und in der Hauptsache unmittelbar aus Deutschland, und zwar durch ungarische Studenten sowie durch die zur Zeit des Absolutismus des Kaisers Franz I. eingekerkerten ungarischen Schriftsteller. Die Mittlerrolle der österreichischen Literatur und des österreichischen Denkens kann hier um so weniger als primär gelten, als das zeitgenössische offizielle Österreich der Klassik gegenüber eine reservierte, ja manchmal ablehnende oder gar feindselige Haltung an den Tag legte. Halten wir uns nur an das Beispiel des Theaters: Verglichen mit der Vermittlung bürgerlich-kleinbürgerlicher Stücke, der Ritter- und Rührdramen und der Wiener Volksstücke (deren Wert, selbst im Vergleich zur klassischen Theaterliteratur, hier nicht in Zweifel gezogen werden soll), war die Vermittlung der Klassiker durch die österreichischen und die deutschsprachigen Bühnen Ungarns geringfügig. Zugleich aber schworen die führenden Persönlichkeiten der in Entfaltung begriffenen jungen ungarischen Literatur auf die Klassiker, und nicht nur auf Schiller. Goethe genoß in den Kreisen Ferenc Kazinczys und der ihm nahestehenden fortschrittlichen Schriftsteller und Dichter bereits um die Jahrhundertwende beispiellose Verehrung. Und Ferenc Kazinczy war es, der die Hauptrichtung der ungarischen Literatur bestimmte! Wieland wurde auch in Ungarn zum Erzieher des anspruchsvolleren Leserpublikums. Herders (mißverstandene) Gedanken riefen bei den Ungarn die gleiche Gärung hervor wie bei den slawischen Völkern, wenn auch mit entgegengesetzter Begründung: Hier ging es um den Nachweis, daß Herder nicht recht habe, den Ungarn drohe nicht der „nationaleTod". Jözsef Bajza, der größte ungarische Kritiker der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, erwählte Lessing zu seinem Leit-
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bild. In den ungarischen ästhetischen Schriften des ersten Drittels des XIX. Jahrhunderts taucht immer wieder der Widerschein von Schillers ästhetischen Gedanken auf; Schiller bestimmte den Charakter des historischen Dramas, das in Deutschland und in ganz Osteuropa lange in Blüte stand. Seine rebellischen Stücke waren nicht weniger geschätzt und populär als Shakespeares Dramen, sein Wort gelangte durch die ungarischen Wanderschauspieler bis in ferne Hütten. Und das Ansehen der deutschen Klassik erlitt auch keine Minderung im ungarischen öffentlichen Bewußtsein, als — nach der Julirevolution — die ein moderneres Bürgertum repräsentierende französische Romantik die deutsche Literatur allgemein von ihrem mehr als ein halbes Jahrhundert behaupteten ersten Platz verdrängte. Die ideologische Rolle des Bürgertums, das in Ungarn fehlte, wurde, wie erwähnt, vom mittleren Adel übernommen. So wurde er auch 1848 zur führenden Schicht des Befreiungskrieges und der bürgerlichen Revolution. Der Adel stand seit der Zeit Kazinczys in Opposition zur Habsburgischen Macht und strebte nach nationaler Selbständigkeit, er huldigte bürgerlichen Ansichten, bewahrte aber zugleich in Haltung und Denken adlige „Ritterlichkeit". Als Vertreter einer nach Freiheit strebenden nationalen Ideologie war er dem Temperament nach kampfentschlossen, der Lebensanschauung nach realistisch. Die in ihrer Mehrheit aus seinen Reihen hervorgehenden oder unter seinem Einfluß stehenden ungarischen Schriftsteller machten sich aus der deutschen Klassik die ihnen entsprechenden Elemente (d. h. den eigenen politischen Zielen entsprechend Schillers Rebellentum) zu eigen, ebenso — zur literarischen Untermauerung ihrer angestrebten Verbindung mit den Leibeigenen — den Kult der Volksdichtung, wofür sie bei Herder und auch in der deutschen Romantik Anregung fanden. Die mystischen und die lebensverneinenden Tendenzen der deutschen Romantik lehnten sie ab, f ü r die modernen Feinheiten der Lyrik brachten sie erst Verständnis auf, als diese dichterische Form in Heines und zum Teil auch Lenaus Dichtungen mit fortschrittlichem politischem Inhalt erfüllt wurde. Das „Junge Deutschland", die Dichtung des Vormärz, stieß in Ungarn schon vor Sändor Petofi auf Sympathie, ganz besonders aber in Petofis Dichtung, der, über die Ideologie des progressiven Adels weit hinausgreifend, zum genialen Herold des revolutionären volksverbunden Radikalismus wurde. Seine dichterische Persönlichkeit fühlte sich übrigens viel weniger von der deutschen als der französischen Dichtung angezogen. Parallel zu diesem literarischen Verkehr entfaltete sich auch der Einfluß der deutschen klassischen Philosophie in Ungarn. Vorausgegangen war zur Zeit der Aufklärung die schulmäßige Anwendung des Leibniz-Wölfischen Systems. Es folgte die mehr an der Oberfläche haftenbleibende Rezeption — bzw. Ablehnung — Kants und dann der heftig umstrittene Hegelianismus. Die Hegeische Entwicklungslehre, vermittelt durch Janos Erdelyis Arbeiten, hinterließ ihre Spuren im gesamten literarischen Leben Ungarns, wenn sie auch keinen weitreichenden Einfluß ausübte; dagegen löste gerade die Hegeische Dialektik eine eigenartige Gegenwirkung in Ungarn aus, ein Bestreben nach einer auf einpiristischer Grundlage aufgebauten „nationalen" Philosophie. Auffallend war das verhältnismäßig frühe Auftauchen der Namen der Klassiker des Marxismus in der ungarischen publizistischen Lite2 Deutsch-ungarische Beziehungen
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ratur, wenn es auch vorläufig ohne weitere Folgen blieb. Es traten keine ungarischen Philosophen von Bedeutung hervor — Mihäly Vörösmartys mannhaft romantische philosophische Dichtung entsprang praktischer Lebensweisheit, ohne sich auf irgendein philosophisches System zu stützen. Seit dem letzten Drittel des XVIII. Jahrhunderts drangen Schöpfungen der sich stürmisch entwickelnden ungarischen Literatur über die Sprachgrenzen des Ungarischen hinaus. Schon Anfang des XIX. Jahrhunderts setzte die Übersetzung ungarischer Werke ein, teils im Zeichen des von Franz I. ins Auge gefaßten gemeinsamen österreichischen Patriotismus, teils auch weiterhin mit dem Streben, die Werte der ungarischen Literatur zu demonstrieren. Zu diesem Zweck publizierte 1828 Ferenc Toldy (Schedel) in deutscher Sprache ein Werk über die ungarische Literaturgeschichte. Damit reiste der Autor durch Deutschland. In Berlin hielt er einen Vortrag über die ungarische Literatur. In den dreißiger Jahren des XIX. Jahrhunderts wurde die Mittlerrolle der deutschsprachigen Presse Ungarns besonders intensiv. Die Druckereien von Buda, Pest und anderen Städten machten sich in den folgenden Jahren um die Popularisierung der ungarischen Volksdichtung, der Werke Petofis, Jökais und anderer Autoren hervorragend verdient, wenn sie damit auch nicht immer bis zu den wichtigsten Zentren des deutschen literarischen Lebens vordringen konnten. Das Gros des deutschen Bürgertums Ungarns war vom Geiste des Vormärz und des ungarischen Reformzeitalters durchdrungen, und Druckschriften in deutscher und ungarischer Sprache, deren Erscheinen im Lande durch diehabsburgische Zensur verhindert wurden, fanden in Deutschland hilfsbereite Verleger. Petofis wachsende Popularität durchbrach alle Hindernisse. Seiner Rolle in der Weltliteratur waren die letzten, meisterhaften Studien des 1962 verstorbenen hervorragenden ungarischen Literaturwissenschaftlers Jozsef Turöczi-Trostler gewidmet. Dem zeitgenössischen Interesse f ü r Geschichte Rechnung tragend, erschienen deutschsprachige Arbeiten über die Geschichte Ungarns, die das Interesse f ü r das ungarische Volk förderten. Es kulminierte in den Jahren des Freiheitskrieges von 1848/49, als die fortschrittliche Welt mit ihrer ganzen Sympathie auf der Seite des ungarischen Volkes stand, wofür manches Zeugnis in der deutschen Literatur zu finden ist — z. B. unter vielen anderen bei Bettina von Arnim und Heine — sowie in der demokratischen Presse Deutschlands. Das schönste Zeugnis ihrer Solidarität aber legten die deutschen und österreichischen Helden ab, die den ungarischen Freiheitskämpfern mit der Waffe in der Hand zu Hilfe eilten. Mit dem Freiheitskrieg endete das zweite „Goldene Zeitalter" der deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen. Jänos Arany, der weiseste Dichter dieser Epoche, schrieb 1865 in seiner Zeitschrift „Koszorii" [Kranz], die ungarischen Schriftsteller und Leser verfolgten die deutsche Belletristik nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit wie früher. Das Vermeiden von „Einseitigkeit" bejahte er, nicht aber die Uniformiertheit. „Und gerade die Jahre seit 1850", fügte er hinzu, „sind die Zeit, da immer weniger aus der deutschen Literatur zu uns herüberschallt..." (S. 260). Es wäre oberflächlich, die Ursache dieser Zurückhaltung darin zu suchen, daß die dem Freiheitskrieg folgende Gegnerschaft gegen alles Österreichische auf
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alle deutschsprachigen kulturellen Erscheinungen übergegriffen hätte. Es ist vielmehr so, daß die nach 1848 nach innen gewandte, weitgehend apolitische, den großen Fragen der Menschheit mehr und mehr aus dem Wege gehende deutsche Literatur an Anziehungskraft verloren hatte, und daran änderte sich auch nichts bis ins XX. Jahrhundert. Die ungarische Literatur ihrerseits hielt zum Teil an dem „volkstümlichen" Stil aus der Zeit der vierziger Jahre fest, allerdings jetzt ohne seinein revolutionären Gehalt, oder sie folgte den späten Spuren der Romantik (Jókai). Im Ausland, vor allem in Deutschland, fand lediglich Imre Madàchs dramatische Dichtung „Die Tragödie des Menschen" Resonanz. Der sich seit der Zeit des Freiheitskrieges nach und nach entfaltende ungarische bürgerliche Realismus, der so manche dem deutschen ähnliche Züge aufwies, schöpfte — falls er sich Anregung aus dem Ausland holte — aus französischen, englischen und russischen Quellen. Der ungarische Naturalismus unterschied sich in seinem Wesen vom deutschen; er war empfindsamer und romantischer als dieser, auch soweit es sich um Werke bäuerlicher Thematik handelte, die von den ungarischen Naturalisten bevorzugt wurde. In der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts machte sich in den Arbeiten einiger aus dem Banne Petófis befreiter Lyriker der Einfluß der Philosophie Schopenhauers geltend ; an einzelnen Zügen der Dichtung des ausgehenden XIX. Jahrhunderts und des beginnenden XX. Jahrhunderts — so auch an Endre Adys Schöpfungen — ist die inspirative Wirkung Nietzsches spürbar. Ady war die führende Gestalt der ersten Generation der modernen ungarischen Lyrik. In seinem Auftreten als Seher und Künder gemahnte er an Stefan George, in seinem Wesen aber war er dessen Widersacher. Ady lag es fern, das Dichten als Selbstzweck zu betrachten, er war ein plebejischer Demokrat. Ady und die um ihn gruppierte bürgerliche Nyugat-Generation, die ihren Namen nach der Zeitschrift „Nyugat" [Westen] erhielt, orientierten sich gleich ihren deutschen Zeitgenossen an den französischen Symbolisten. Dabei aber verlor die wissenschaftliche Welt Berlins für die ungarische Intelligenz nicht an Anziehungskraft. In Berlin studierten Anfang des Jahrhunderts — um nur einige bekannte Namen anzuführen — Zoltàn Kodàly, Béla Baläzs, György Lukäcs. Die Repräsentanten der ungarischen Avantgarde begannen ihre Laufbahn im „Nyugat", dann aber wandten sie sich literarisch wie politisch scharf gegen die Zeitschrift. Es lag in der Natur der Avantgarde, daß sie lebhafte Verbindung mit den Avantgarden aller anderen Länder hielt. Der Sozialdemokrat Lajos Kassäk, die führende Persönlichkeit der ungarischen Avantgarde, überwiegend nach Deutschland hin orientiert, pflegte lebhaften Verkehr mit deutschen Expressionisten, vor allem den linksstehenden. Von Ungarn aus konnte er jedoch seine Beziehungen nur bis zum Ende des Krieges aufrechterhalten. Nach dem Sturz der Ungarischen Räterepublik mußten 1919 die besten fortschrittlichen Vertreter aus Literatur und Kunst vor dem weißen Terror des Horthyregimes ins Ausland flüchten. Politische und geistige Unterdrückung lasteten schwer auf Ungarn, und das herrschende System duldete in Kunst und Literatur kaum etwas, was in Inhalt und Form vom „Hergebrachten" und in seiner Ethik vom „ChristlichNationalen" abwich. Auch nach einer gewissen Milderung des Terrors war das 2*
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Horthyregime bestrebt, das Land gegen jegliches Einströmen gesellschaftlich-fortschrittlichen Geistes abzusichern, in erster Linie gegen alles, was aus der Sowjetunion kam, ja man befürchtete sogar die kulturelle Beeinflussung durch die französische bürgerliche Demokratie. Die Weimarer Republik jedoch erfreute sich bis zu einem gewissen Grade einer Ausnahmestellung von Seiten des Horthyregimes. Dort war — neben vielen fortschrittlichen Bewegungen — der militaristische Ungeist nicht ausgestorben. Das Amt des Staatspräsidenten lag in Hindenburgs Händen, in dem der k. u. k. Konteradmiral Horthy seinen alten Waffengefährten sah. Vor allem aber waren die Weimarer Republik und Horthy-Ungarn durch zahlreiche wirtschaftliche Interessen verbunden, und dementsprechend standen die beiden Länder auch in lebhaftem Austausch geistiger Güter. In der Weimarer Republik war eine bedeutende Gruppe ungarischer bürgerlicher Emigranten tätig — es genügt, hier nur den Namen Lajos Hatvany anzuführen —, die der wertvollsten ungarischen Literatur den Weg zum deutschen Publikum ebnete. Die „leichte" ungarische bürgerliche Literatur wurde im XX. Jahrhundert zu einem bedeutenden „Exportartikel". Umgekehrt gelangten neben der seichteren bürgerlichen und der „nationalen" deutschen Literatur aber Thomas und Heinrich Mann® und Gerhart Hauptmanns Werke nach Ungarn. Und nach Ungarn gelangte auch die Literatur der aufstrebenden Arbeiterbewegung und die deutsche proletarisch-revolutionäre Literatur, vorläufig erreichte sie nur den Kreis der verfolgten und unterdrückten ungarischen Arbeiter, aber da und dort auch andere Kreise. Von der Sowjetunion hermetisch abgeschlossen, bekam das geistige Leben Ungarns häufig durch deutsche, tschechische und französische Vermittlung Kenntnis der sowjetischen Kunst und Literatur. Damit nahm die deutsche proletarisch-revolutionäre Literatur die schönste Tradition der ungarisch-deutschen Literaturbeziehungen wieder auf: Aus Eigenem gebend oder aber die Werke anderer vermittelnd, nahm sie teil an der Weiterleitung der besten fortschrittlichen Strömungen nach Ungarn. Zweifellos trug dies auch dazu bei, daß das ungarische Proletariat Attila József hervorbringen konnte. Diesmal entwickelten sich die ungarisch-deutschen Beziehungen zu echter intensiver Wechselseitigkeit. Der größere Teil der führenden geistigen und künstlerischen Schicht innerhalb der ungarischen sozialistischen Emigranten fand in Deutschland freundschaftliche Aufnahme und Asyl und nahm dort aktiv teil an der Herausbildung der proletarisch-revolutionären Literatur. Das Wirken Andor Gabors, József Révais, György Lukâcs', Aladâr Komjâts, Béla Balâzs', Alfréd Keménys (Durus) und der anderen ist heute aus der Geschichte der deutschen proletarisch-revolutionären Literatur nicht mehr wegzudenken. Zum ersten Male in der Geschichte der deutsch-ungarischen Literaturbeziehungen spielte Ungarn eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Zukunft der deutschen Literatur — ihres heutigen Bildes. Bis dahin hatte das ungarische Volk mehr durch seine geschichtliche Existenz, seine nationale Eigenart, durch die heldenhafte Bewältigung seiner Prüfungen bleibenden Eindruck auf die deutsche Literatur hinterlassen; das spiegelte sich auch bis in die neueste Zeit in der deutschen Literatur wider. Die ungarischen Dichter, die das spezifisch Ungarische am reinsten und meisterhaftesten zum Ausdruck brachten.
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stießen in Deutschland auf Resonanz, sie repräsentierten Ungarn im deutschen literarischen Bewußtsein. Vielfältig und auf vielen Wegen wirkte die deutsche Literatur gleich der Literatur anderer großer Völker Europas, aber seit dem XVI. Jahrhundert zeitweilig ain intensivsten, sei es durch ihre eigenen Werke, sei es durch Übersetzungen von Werken anderer Nationen, unmittelbar oder mittelbar oder als Mittler auf die ungarische Literatur ein. Schon aus diesem lückenhaften Abriß der deutsch-ungarischen Literaturbeziehungen ist zu ersehen, daß das gegenseitige Geben und Nehmen dann am wirkungsvollsten und fruchtbarsten war, wenn es mit den Hauptrichtungen des geschichtlichen Fortschritts zusammenfiel. Die intensivsten Anregungen erhielt die ungarische Literatur aus Deutschland im Zeichen der humanistischen Reformation und der klassischen humanitas, während der intensivste moderne Abschnitt der literarischen Wechselwirkung zwischen den beiden Völkern im Zeichen des Sozialismus steht. Das ist, so meinen wir, eine gesetzmäßige Erscheinung. Nach 1945 ließ der rege Verkehr zwischen dem deutschen und dem ungarischen literarischen Leben zeitweilig nach, doch erlebte er nach einigen Jahren und besonders mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik einen neuen Aufschwung. Auf der Basis der gemeinsamen Weltanschauung und der Übereinstimmung der gesellschaftlich-politischen Ziele befestigten sich die freundschaftlichen sozialistischen Beziehungen der beiden Staaten auch auf dem Gebiet der Kultur und Literatur. Die Geschehnisse im kulturellen und literarischen Leben des anderen wurden gegenseitig mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, persönliche Berührung, Meinungsaustausch und Zusammenarbeit zwischen Dichtern, Schriftstellern und Wissenschaftlern intensiv gefördert. Zielgerichtet strebte man danach, die Kenntnis der beiden Literaturen im Lande gegenseitig zu verbreiten. Die Werke der Klassiker und der Neuen erschienen in großen Auflagen auf dem Büchermarkt, sie wurden in den Zeitschriften gedruckt, auf den Bühnen gespielt. Während der letzten fünfzehn Jahre nahmen, um nur die gewichtigsten Namen zu erwähnen, Bertolt Brecht und Johannes R. Becher ihre gebührende Stelle im literarischen Bewußtsein Ungarns ein; die hervorragendsten Vertreter der ungarischen Prosa und Lyrik, vor allem Sändor Petofi, Endre Ady und Attila Jözsef fanden gelehrte Herausgeber, sachverständige Übersetzer und Nachdichter in der Deutschen Demokratischen Republik. Eine humanistische Tradition des klassischen deutschen Schrifttums entfaltete sich dadurch zu neuer Blüte: Mitzuhelfen, daß die poetischen Werte eines sprachlich isolierten Volkes in das Schatzhaus der Weltliteratur aufgenommen werden.
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Literatur zur Geschichte der deutsch-ungarischen literarischen
Beziehungen
Die folgende Literaturauswahl enthält vor allem das Material, auf dem die obige Skizze der Geschichte der deutsch-ungarischen literarischen Beziehungen beruht. Darüber hinaus will sie dem Forscher Hilfe leisten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. 1. Zu Perioden
und
Teilfragen
Jânos Horvâth: A magyar irodalmi muveltség kezdetei [Die Anfänge der literarischen Bildung in Ungarn]. Budapest 1931, 311 S. [Mit Bezugnahme auf die literarischen Berührungen mit dem Ausland. Zur Hunnensage bes. S. 38—45; Klöster in den deutschen Städten Ungarns S. 113 f.; Hrotsvitha S. 178 und 233], Jânos Horvâth: Az irodalmi muveltség megoszlâsa [Die Spaltung der literarischen Bildung], Budapest 1935, 307 S. [Zur Entstehung einer laiischen Bildung und des Humanismus in Ungarn]. Gedeon Petz: Magyar és német hegedosök [Ungarische und deutsche Spielleute]. Irodalomtôrténeti Kôzlemények [Beiträge zur Literaturgeschichte], Jg. 1 (1891) S. 22—31. [Erste wissenschaftliche Bearbeitung der Frage], Elemér Moôr: Die deutschen Spielleute in Ungarn. Ungarische Jahrbücher Bd. I (1921) S. 281—297. [Mit vielen Angaben überhaupt zur Geschichte der deutsch-ungarischen Berührungen im Mittelalter], Bence Szabolcsi: A kôzépkori magyar énekmondôk kérdéséhez [Zur Frage der mittelalterlichen ungarischen Spielleute]. Irodalomtôrténet [Literaturgeschichte], Jg. 17 (1938) S. 220 bis 236. [Bilanz der Forschung mit Einbeziehung musikwissenschaftlicher Gesichtspunkte], AtanâzMotz: Oswald von Wolkenstein élete és kôltészete, tekintettel magyar vonatkozâsaira [0. v. Wolkensteins Leben und Dichtungimit Rücksicht auf seine ungarischen Beziehungen]. Budapest 1915, 91 S. [Bes. S. 23-46], Jakob Bleyer: Die germanischen Elemente der ungarischen Hunnensage. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Jg. 31 (1906) S. 429—599. Zoltân Gombocz: Die bulgarische Frage und die ungarische Hunnensage. Ungarische Jahrbücher. Bd. I (1921) S. 194—203. [Zur Klärung der Frage und auch zur Korrektur Bleyers]. Tivadar Thienemann : Varosi élet a magyar kozépkorban [Stadtleben im ungarischen Mittelalter], Minerva. Jg. 2 (1923) S. 4 1 - 6 9 . Karl Mollay [Hrsg.] : Das Ofner Stadtrecht. Eine deutschsprachige Rechtssammlung des 15. Jahrhunderts aus Ungarn. Budapest und Weimar 1959, 237 S. [Einleitung mit sprachgeschichtliohen und historischen Hinweisen: S. 7—31]. Rabân Gerézdi: A magyar vilâgi lira kezdetei [Die Anfänge der ungarischen profanen Lyrik], Budapest 1962, 327 S. [Zusammenfassung des Problemkreises mit Hinweisen auf deutsche Beispiele und Analogien. Wiener und Krakauer Universität: S. 227]. Péter Klimes : Bées és a magyar humanizmus [Wien und der ungarische Humanismus]. Budapest 1934, 110 S. Tibor Kardos: A magyarorszâgi humanizmus kora [Das Zeitalter des ungarländischen Humanismus]. Budapest 1955, 461 S. [Auch zu dem Anteil des deutschsprachigen Bürgertums in Ungarn am ungarländischen Humanismus (passim)].
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Béla Pukânszky: Herder hazânkban. 1. Herder és a népies irâny [Herder in Ungarn. 1. H. und die volkstümliche Richtung]. Német Philológiai Dolgozatok [Arbeiten zur deutschen Philologie], Nr. 23. Budapest 1918, 119 S. Béla Pukânszky: Herder intelme a magyarsâghoz [Herders Mahnung an das Ungartum]. Egyetemes Philológiai Közlöny [Beiträge zur Gesamtphilologie]. Jg. 45 (1921) S. 35—39 und 8 3 - 9 0 . József Szauder: Verseghy és Herder [V. und H.]. In: A romantika ütjan [Auf dem Wege zur Romantik], Budapest 1961, S. 142—162. [Erste Veröffentlichung der Studie: 1958. Der Einfluß der Geschichtsphilosophie Herders auf den ungarischen Dichter]. József Patai: Bajza és Lessing [B. und L.]. Budapest 1907, 52 S. Gizella Antalffy: Lessing a magyar szinpadon [Lessing auf der ungarischen Bühne]. Budapest 1916, 47 S. József Bayer: Schiller drâmâi a régi magyar szinpadon és irodalmunkban [Schillers Dramen auf der frühen ungarischen Bühne und in der ungarischen Literatur]. Budapest 1912, 112 S. [Grundlegend zum Thema], György Mihäly Vajda: Zweierlei Schiller? Sinn und Form. Jg. 11 (1959) S. 7 1 5 - 7 4 9 . [Mit einem Abriß: Schillers Wirkungsgeschichte in Ungarn, S. 739—749]. Antal Mâdl: Friedrich Schiller. Kurzer Überblick über sein Leben und Schaffen; Schillers Wirkung in Ungarn. In: Friedrich Schiller. Ausgabe des Demokratischen Verbandes der deutschen Werktätigen in Ungarn. Budapest 1959, S. 5—23. (Einleitung zu Schillers Wirkungsgeschichte S. 19-23). Kâroly Horvâth : A klasszikàból a romantikâba [Von der Klassik zur Romantik]. A Magyar Tudomânyos Akadémia Nyelv- és Irodalomtudomânvi Osztâlyânak Kôzleményei [Mitteilungen der Klasse f ü r Sprach- und Literaturwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften]. Bd. XIX (1962) Nr. 1 - 4 S. 2 3 1 - 2 6 6 . [Die Entwicklung der ungarischen Literatur der behandelten Zeit, parallel mit der der westeuropäischen und osteuropäischen Literaturen betrachtet]. Julius von Farkas: Die ungarische Romantik. Ungarische Bibliothek. Reihe 1 Bd. XV Berlin—Leipzig 1931, 231 S. [Vor allem zur Rolle des ungarländischen deutschen Bürgertums] . Otto Winter: Ungarn und die deutsche Philologie am Anfange des 19. Jahrhunderts. Auszug aus der Abhandlung J. Bleyers. I. Friedrich Schlegel und Wilhelm Humboldt. II. Die Brüder Grimm, Büsching und v. d. Hagen. Euphorion. Bd. XVIII (1911) S. 7 2 6 - 7 4 0 und Bd. XIX (1912) S. 2 6 4 - 2 8 3 . Arthur Weber: Bées és a német philológiai tôrekvések a XIX. szâzad elején [Wien und die Bestrebungen der deutschen Philologie am Anfang des 19. Jahrhunderts]. Egyetemes Philológiai Közlöny [Beiträge zur Gesamtphilologie]. Jg. 41 (1917) S. 13—27, 103—112, 195 bis 200. [Hauptsächlich die Erweiterung des Materials der Arbeit Bleyers]. Arthur Weber: Theodor Körner und seine Beziehungen zu Ungarn. Ungarische Rundschau. Jg. 3 (1914) S. 2 2 3 - 2 5 1 . Ârpâd Berczik: Toldy és Gervinus [T. und G.]. Filológiai Közlöny [Beiträge zur Philologie]. Jg. 4 (1958) S. 462—470. [Das Verhältnis des Begründers der modernen ungarischen Literaturgeschichtsschreibung zu Gervinus]. József Szauder: Kölcsey, Kant und die griechische Philosophie. Acta Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös nominatae — Sectio Philologica — Tomus III (1961) S. 23—36. [Kants Rolle in der Entwicklung des Anregers der ungarischen Romantik] . JânosKoszô: Fessier Ignâc Aurél, a regény és torténetiró. A racionalizmustól a romantikâig
Ungarisch-deutsche Literaturbeziehungen
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[I. A. Fessler, der Romancier und Historiker. Vom Rationalismus zur Romantik], Német Philológiai Dolgozatok [Arbeiten zur deutschen Philologie]. Nr. 30. Budapest 1923, 407 S. Béla Pukänszky: A magyar Hegel-vita [Die ungarische Hegel-Debatte]. Minerva. Jg. 1 (1922)'S. 3 1 6 - 3 4 1 . Béla Pukänszky: Hegel és magyar közönsege [H. und sein ungarisches Publikum]. Minerva. Jg. 11 (1932) jk. 3 - 2 1 . György Mihäly Vajda: Az egyezményesek. Fejezet a magyar filozófia torténetébol [Die „Harmonisten". Ein Kapitel aus der Geschichte der ungarischen Philosophie], Budapest 1937, 72 S. [Eine antihegelianische ungarisch-„nationale" philosophische Richtung]. Margit Bän: Heine hatàsa a magyar koltészetre [Heines Einfluß auf die ungarische Dichtung], Budapest 1918, 48i S. József Turóczi-Trostler: Heine, die Weltliteratur und die ungarische Dichtung. Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae. Bd. I (1957) S. 99—178. József Turóczi-Trostler: Lenau. Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft. Bd. 12. Berlin 1961, 313 S. [Zum Ungarnbild des Deutschtums bes. S. 72—104 und 253—275]. Julius von Farkas: Der ungarische Vormärz. Petöfis Zeitalter. Ungarische Jahrbücher. Bd. XXIII (1943) S. 5 - 1 8 6 . Rezsö Boros: Petöfi-Lieder in der romanischen Musik Deutschlands. Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae. Bd. II (1959) S. 405—417. [Über Vertonungen Petöfischer Gedichte von R. Franz, J. Brahms und Fr. Nietzsche]. József Turóczi-Trostler: Zu Petöfis weltliterarischer Bedeutung. Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae. Bd II (1959) S. 3 - 1 1 1 . József Turóczi-Trostler: Petó'fis Eintritt in die Weltliteratur. Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae. Bd. III (1960) S. 3 - 1 1 2 und Bd. IV (1961) S. 2 3 - 1 8 2 . Piroska Szemzö: Német irók és pesti kiadóik a XIX. szàzadban (1812—1878) [Deutsche Schriftsteller und ihre Pester Verleger im 19. Jahrhundert]. Német Philológiai Dolgozatok [Arbeiten zur deutschen Philologie], Nr. 47. Budapest 1931, 154 S. Làszló Mätrai: A „doktrinérek", a marxizmus elsö magyarorszàgi ellenfelei [Die „Doktrinären", die ersten Gegner des Marxismus in Ungarn], In: Gondolat és szabadsäg [Gedanke und Freiheit], Budapest 1961, S. 280—303. [Hauptsächlich über die Gegenwirkung auf die materialistische Philosophie in Ungarn nach 1848], Istvän Sotér: Nemzet és haladäs. Irodalmunk Vilägos utän [Nation und Fortschritt. Die ungarische Literatur nach 1849]. Budapest 1963, 781 S. [Das Gesamtbild der literarischen Strömungen der Epoche mit Ausblick auf die geistigen Tendenzen der Zeit], Jànos Hankiss: Jókai hatäsa a magyar szabadsägharc külföldi képére [Jókais Einfluß auf die ausländische Vorstellung vom ungarischen Freiheitskampfe], Irodalomtorténeti Közlemények [Beiträge zur Literaturgeschichte], Jg. 61 (1957) S. 230—235. Julius von Farkas: Der Freiheitskampf des ungarischen Geistes 1867—1914. Ein Kapitel aus der Geschichte der neueren ungarischen Literatur. Ungarische Bibliothek. Nr. 25. Berlin 1940, 280 S. Béla Pukänszky: Schopenhauer és a szàzadvégi magyar lira [Sch. und die ungarische Lyrik am Ende des 19. Jhs.]. Minerva. Jg. 1 (1922) S. 2 4 1 - 2 5 1 . Béla Lengyel: Nietzsche magyar utókora [Ns ungarische Nachwelt]. Minerva Könyvtär [Minerva Bücherei]. Nr. 125. Budapest 1938, 85 S. Eló'd Haläsz: Nietzsche és Ady [N. und A.]. Minerva Könyvtär [Minerva Bücherei], Nr. 150. Budapest 1942, 224 S. BélaZolnai: Kosztolänyi, Nietzsche, Juhäsz. Irodalomtorténet [Literaturgeschichte]. Jg. 46 (1958) S. 389—405. [Einzelheiten zur Wirkungsgeschichte Nietzsches in Ungarn].
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G. M. Vajda
György Râba: Vilâgirodalmi hatâsok a fiatal Babits kôltészetében [Weltliterarische Einflüsse auf die Dichtung des jungen Babits]. Vilägirodalmi Figyelô [Weltliterarischer Beobachter]. Jg. 6 (1960) S. 419—438. [Baudelaire, Poe, Swinburne, Richepin, Liliencron]. Pâl Réz: Thomas Mann és Kosztolânyi Dezsô [Th. Mann und Dezsö Kosztolânyi], Vilägirodalmi Figyelô' [Weltliterarischer Beobachter]. Jg. 5 (1959) S. 390-403. [Unveröffentlichter Briefwechsel]. Antal Mâdl: Der historische Roman im Dienste des antifaschistischen Kampfes in der deutschen und ungarischen Literatur. Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae. Bd., V (1962) S. 489-495. Jôzsef Waldapfel: Aladâr Komjâts Platz in der ungarischen Literaturgeschichte. Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae. Bd. III (1960) S. 205—231. [Auch zur Geschichte der ungarischen sozialistischen Emigration in Deutschland]. Miklös Szabolcsi: Attila Jözsef e la lirica europea moderna. Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae. Bd. II (1959) S. 203-213. Péter pényi: A két Galilei [Die beiden Galileis], Nagyvilâg [Weite Welt], Jg. 3 (1958) S. 249—260. [Vergleich der Galilei-Dramen Brechts und Lâszlô Némeths]. Lâszlô Illés: Die Probleme der Proletkult-Periode in der internationalen proletarischen Literatur (Mittel- und Osteuropa). Acta Litteraria Academiae Scientiarum Hungaricae. Bd. V (1962) S. 478-483. Miklös Szabolcsi: Über Probleme der Entwicklung der ungarischen sozialistischen Literatur. In: Zur Geschichte der sozialistischen Literatur 1918-1933. Berlin 1963, S. 284—303. Lâszlô Illés: Über die Wechselbeziehungen zwischen der ungarischen und der deutschen sozialistischen Literatur. In: Zur Geschichte der sozialistischen Literatur 1918—1933. Berlin 1963, S. 304-319.
2.
Sammelbände
Philologiai dolgozatok a magyar-német érintkezésekrol (Heinrich Gusztàv emlékkonyv) [Philologische Arbeiten über die ungarisch-deutschen Berührungen (Festschrift für Gusztàv Heinrich)]. Herausgegeben von Robert Gragger. Budapest 1912, 387 S. Aus den Forschungsarbeiten der Mitglieder des Ungarischen Instituts und des Collegium Hungaricum in Berlin. Dem Andenken Robert Graggers gewidmet. Herausgegeben vom Bund der ehemaligen Instituts- und Collegiumsmitglieder. Berlin und Leipzig 1927, 264 S. Festschrift für Gideon Petz. Herausgegeben von Jakob Bleyer, Heinrich Schmidt und Theodor Thienemann. Német Philologiai Dolgozatok [Arbeiten zur deutschen Philologie]. Nr. 60. Budapest 1933, 235 S. Denkschrift für Jakob Bleyer (1874-1933). Berlin-Leipzig 1934, 192 S. [Sonderabdruck aus Bd. XIV (1934) der „Ungarischen Jahrbücher"]. Deutsch-ungarische Begegnungen. Herausgegeben von Béla Pukänszky. Ungarn-Bücherei. Bd. II. Budapest-Leipzig-Milano 1943, 221 S. A szomszéd népekkel vaiò kapcsolataink torténetébol. Vàlogatàs hét évszàzad iràsaiból [Aus der Geschichte der Beziehungen zu unseren Nachbarvölkern. Auswahl aus den. Schriften sieben Jahrhunderte]. Herausgegeben von G. Gabor Kemény. Budapest 1962, 1039 S. Tanulmànyok a magyar szocialista irodalom torténetébol [Studien zur Geschichte der ungarischen sozialistischen Literatur]. Herausgegeben von Miklós Szabolcsi und Làszló Illés. Budapest 1962, 676 S.
Ungarisch-deutsche Literaturbeziehungen
3.
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Zusammenfassungen
Biographisches Lexikon des Kaisertums Österreich enthaltend die Lebensskizzen der denkwürdigen Personen, welche 1750 bis 1850 im Kaiserstaate und seinen Kronländern gelebt haben. Von Dr. Constant v. Wurzbach. Bd. I - L X Wien 1856—1891. Magyar irók élete és munkâi [Leben und Werke ungarischer Schriftsteller]. Zusammengestellt von József Szinnyey. Bd. I—XIV Budapest 1891—1914. [Alphabetisch geordnetes Schriftstellerlexikon, enthält auch die ungarländischen deutschen Schriftsteller]. Deutsch-österreichische Literaturgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Dichtung in Österreich-Ungarn. Herausgegeben von Johann Willibald Nagl, Jakob Zeidler und Eduard Castle. Bd. I Wien 1899, 836 S. - Bd. II Wien 1914, 1117 S. - Bd. I I I - I V (durchgehend paginiert) Wien 1 9 2 6 - 1 9 3 7 , 2388 S. Béla Pukânszky: A magyarorszâgi német irodalom tôrténete (A legrégibb idôktôl 1848-ig) [Geschichte des ungarländischen deutschen Schrifttums (Von den ältesten Zeiten bis 1848)]. Német Philológiad Dolgozatok [Arbeiten zur deutschen Philologie]. Nr. 31. Budapest 1926, 607 S. Dr. Béla v. Pukânszky: Geschichte des deutschen Schrifttums in Ungarn. Erster Band: von der ältesten Zeit bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Deutschtum und Ausland, Heft 3 4 - 3 6 . Münster in Westfalen 1931, 490 S. Julius Farkas: Deutsche Zeitschriften der Ungarnkunde. Geleitwort zum 11. Jahrgang der Ungarischen Jahrbücher, Ungarische Jahrbücher. Jg. 11 (1931) S. 1—14. Jakob Bleyer: Über geistige Rezeption und nationales Schrifttum. Ungarische Literatur und deutscher Einfluß. In: Dichtung und Forschung. Festschrift f ü r Emil Ermatinger. Frauenfeld und Leipzig 1933, S. 233—247. Jânos Hankiss: Europa és a magyar irodalom. A honfoglalâstôl a kiegyezésig [Europa und die ungarische Literatur. Von der Landnahme bis 1867]. Budapest o. J. [1939], 619 S. Karl Kurt Klein: Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland. Schrifttum und Geistesleben der deutschen Volksgruppen im Ausland vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Leipzig 1 9 3 9 , 4 7 4 S. Béla Pukânszky: Német polgârsâg magyar földön [Deutsches Bürgertum auf ungarischem Boden], 0 . 0 . u. J. [Budapest 1941], 217 S. Ferenc Helle: A magyar-német muvelôdési kapcsolatok tôrténete [Geschichte der ungarischdeutschen Kulturbeziehungen]. Budapest 1942, 213 S. Fritz Valjavec: Geschichte der deutschen Kulturbeziehungen zu Südosteuropa. Südosteuropäische Arbeiten Nr. 41—45. Bd. I München 1953, 265 S. — Bd. II München 1955, 275 S. - Bd. III München 1958, 374 S. József Turóczi-Trostler: A magyar irodalom eurôpaizâlôdâsa [Die Europäisierung der ungarischen Literatur], In: Magyar irodalom, vilâgirodalom [Ungarische Literatur, Weltliteratur], Bd. II. Budapest 1961, S. 5 - 6 3 . [Erste Veröffentlichung der Studie: 1946], 4.
Bibliographien
K. M. Kertbeny: Magyarorszâgra vonatkozó régi német nyomtatvânyok 1454—16001. — Ungarn betreffende deutsche Erstlings-Drucke 1 4 5 4 - 1 6 0 0 . Budapest 1880, CLXXXIV [Einleitung], 760 S. Kâroly Kertbeny — Géza Petrik: Magyarorszâgi német kônyvészet 1801—1860. A Magyarorszâgban és hazânkra vonatkozólag külföldön megjelent német nyomtatvânyok jegyzéke. —
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G. M. Vajda
Ungarns deutsche Bibliographie 1801—1860. Verzeichnis der in Ungarn und Ungarn betreffend im Auslande erschienenen deutschen Drucke. Erster Teil. Enthaltend die Literatur der Jahre 1801—1830 nebst wissenschaftlicher Übersicht zum ganzen Werke. Budapest 1886, CCXIX, 416 S. Zweiter Teil. Enthaltend die Literatur der Jahre 1 8 3 1 - 1 8 6 0 . Budapest 1886, 657 S. Károly Szabó: Régi magyar konyvtár [Altungarische Bibliothek], Bd. I Budapest 1879, 751 S. - Bd. II Budapest 1885, 754 S. - Bd. III 1. Teil Budapest 1896, 800 S. - 2. Teil Budapest 1898, 920 S. Mitherausgeber des dritten Bandes: Árpád Hellebrant. [Bd. I : Bibliographie der zwischen 1531 und 1711 in ungarischer Sprache erschienenen Drucke; Bd. I I : Bibliographie der zwischen 1473 und 1711 in Ungarn in nicht ungarischer Sprache erschienenen Drucke; Bd. III: Bibliographie der zwischen 1480 und 1711 außerhalb Ungarns in nicht ungarischer Sprache gedruckten Werke ungarischer Autoren]. Alexander Apponyi: Hungarica. Ungarn betreffende, im Ausland gedruckte Bücher und Flugschriften. Bd. I München 1903, 488 S. - Bd. II München 1903, 423 S. - Bd. III Neue Sammlung I, München 1925, 413 S. — Bd. IV Neue Sammlung II München 1927, 443 S. Neue Sammlung besorgt von L. Dézsi. [Das bibliographische Handbuch enthält Material aus dem 15.—18. Jahrhundert]. Dr. Pál Gulyás: Magyar szépirodalom idegen nyelven a M. N. Múzeum konyvtárában [Ungarische schöne Literatur in fremden Sprachen in der Bibliothek des Ungarischen Nationalmuseums]. Budapest 1915, 346 S. Bibliographia Hungariae. Verzeichnis der 1861—1921 erschienenen, Ungarn betreffenden Schriften in nicht ungarischer Sprache. Zusammengestellt vom Ungarischen Institut an der Universität Berlin. Ungarische Bibliothek, f ü r das Ungarische Institut an der Universität Berlin, herausgegeben von Robert Gragger. (Dritte Reihe) Bd. I Histórica. Berlin und Leipzig 1923, S. 1—318 — Bd. II Geographica. Politico-oeconomica. Berlin u n d Leipzig 1926, S. 3 1 9 - 7 0 9 - Bd. III Philologica. Periódica. Berlin und Leipzig 1928, S. 710 bis 953 - Bd. IV Register. Berlin und Leipzig 1929, 140 S. Goethe 1832—1932. l . T e i l : Ungarische Goethe-Literatur in der Stadtbibliothek. 2 . T e i l : Fremdsprachige Goethe-Literatur in der Stadtbibliothek. Budapest 1932, 50 S. Sándor Kozocsa — György Radó: Lessing Magyarországon. Bibliográfiai vázlat [L. in Ungarn. Eine bibliographische Skizze]. In: György Mihály Vajda: Lessing. Budapest 1955, S. 1 8 4 - 1 9 1 . János Szentmihályi — M. Déri — Endre Pálvolgyi : Thomas Mann magyarul megjelent muvei és a magyar irodalom. Bibliográfia [Die in ungarischer Sprache erschienenen Werke Thomas Manns und die ungarische Sekundärliteratur. Eine Bibliographie]. Budapest 1956, 32 S. László Flórián: Heine (1797—1856). Bibliográfia életrajzi adatokkal és müveinek ismertetésével [Eine Bibliographie mit biographischen Angaben und Inhaltsangaben]. A Fó'városi Szabó Ervin Konyvtár bibliográfiai sorozata [Bibliographische Reihe der Ervin-SzabóBibliothek der Hauptstadt Budapest]. Nr. 7. Budapest 1956, 32 S. Fritz Valjavec [Hrsg.]: Südosteuropa Bibliographie. Bd. I: 1945—1950. I.Teil: Slowakei, Rumänien, Bulgarien. München 1956, 91 S. — II. Teil: Jugoslawien, Ungarn, Albanien, Südosteuropa und größere Räume. München 1959, 263 S. [Ungarn S. 117—182, Zusammengest, v. Thomas v. Bogyay u. Gertrud Krallert-Sattler]. — Bd. II: 1951—1955. Redaktion: Gertrud Krallert-Sattler. I. Teil: Südosteuropa und größere Teilräume, Jugoslawien, Ungarn. München 1960, 360 S. [Ungarn S. 235—360, Zusammengest. v. Franz Király], G. Gábor Kemény — László Katus [Hrsg.]: Magyar tôrténeti bibliográfia 1825—1867. Bibliographia histórica Hungariae 1825—1867. Tomus IV. Historia nationum non hungaricarum. A Magyar Tudományos Akadémia Torténettudományi Intézete [Institut f ü r Ge-
Ungarisch-deutsche Literaturbeziehungen
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schichtswissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften], Budapest 1959, 675 S. Schiller in Ungarn. Bibliographie, zusammengestellt von Gabriel Albert, Piroska D. Szemzö und Andreas Vizkelety. Mit einer Einleitung von Jözsef Turöczi-Trostler. Nationalbibliothek Széchenyi, Budapest 1959, 277 S. [Einleitende Studie: Zur Wirkungsgeschichte Schillers in Ungarn. S. 9 - 5 2 ] , Elemér Hankiss — K. Berczeli-Anzelm: A Magyarorszâgon megjelent szinhâzi zsebkönyvek bibliogrâfiâja. XV111—XIX. szâzad [Bibliographie der in Ungarn erschienenen TheaterTaschenbücher], Budapest 1961, 481 S. [Mit reichem deutschem Material]. Nach 1963 Erschienenes ist nicht aufgenommen. Zur weiteren Orientierung dienen die Bibliographien und Literaturanführungen in den folgenden Werken: Littérature hongroise — littérature européenne. Herausgegeben von Istvân Sôtér und Ottô Süpek. Budapest 1964, 647 S. A magyar irodalom tôrténete [Geschichte der ungarischen Literatur]. Herausgegeben unter der Leitung von Istvân Sôtér. Bd. I: hrsg. v. T. Klaniczay, Budapest 1964, 567 S. — Bd. II: hrsg. v. T. Klaniczay, Budapest 1964, 648 S. — Bd. III: hrsg. v. Pâl Pândi, Budapest 1965, 831 S. - Bd. IV: hrsg. v. I. Sô'tér, Budapest 1965, 1072 S. - Bd. V: hrsg. v. M. Szabolcsi, Budapest 1965, 543 S. - Bd. VI: hrsg. v. M. Szabolcsi, Budapest 1966, 1106 S. Littérature et réalité. Herausgegeben von Béla Köpeczi und Péter Juhâsz. Budapest 1966, 313 S.
R A B A N GEEÄZDI F
Der Weltruf des Janus Pannonius und die deutsche Vermittlung
Janus Pannonius (1434—1472) war nicht nur erster und größter Poet, sondern die bedeutendste Persönlichkeit des mitteleuropäischen Humanismus. Er stammte aus Kroatien und war Neffe des János Vitéz, der ersten bedeutenderen Gestalt des ungarischen Humanismus, des Kanzlers János Hunyadis. Janus absolvierte seine Studien bei Guarino Veronese in Ferrara und wurde schon hier, noch im Kindesalter, zu einem bekannten Dichter Oberitaliens. Aus Italien zurückgekehrt, kam er in die Hofkanzlei des Königs Matthias Corvinus-Hunyadi, wurde Bischof von Fünfkirchen und Hofpoet. Sein Hauptbestreben war „die lorbeerbekränzten Jungfrauen des heiligen Helikon", die Musen der humanistischen Poesie „am Ufer der eisigen Donau" heimisch zu machen. In Italien verfaßte er hauptsächlich Epigramme und Lobreden, die zur Literatur des italienischen Humanismus gerechnet werden, weil sie tatsächlich zum italienischen Kulturkreis gehören. In seiner Heimat schrieb Janus Pannonius vorwiegend Elegien. Sie bilden den Höhepunkt seiner Dichtung und sind künstlerischer Ausdruck seiner seelischen Leiden, hervorgerufen durch Krankheit und die geistige und politische Rückständigkeit seines Landes. Auf Grund seines Lebenswerkes — in erster Linie seiner Elegien — gehört Janus Pannonius zu den bedeutendsten Dichtern des europäischen Humanismus. Seinen Weltruf aber begründeten nach seinem Tode Humanisten mehrerer Nationen: Italiener, Polen und eben nicht zuletzt die Vertreter des deutschen Humanismus. Gefestigt wurde die Weltgeltung des Janus Pannonius zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in der Zeit der Entwicklung der nationalen Literaturen, als die Einheit des „lateinisch-christlichen" Europas zwar noch bestand, aber deren tiefeRisse schon deutlich sichtbar wurden. In dieser geschichtlichen Atmosphäre traten bereits mehrere frühe Varianten des Nationalgedankens mit adelig-ritterlichen und patrizisch-bürgerlichen Tönungen auf, und so war es natürlich, daß an Janus Pannonius' wachsendem Weltruf sowohl ungarischerseits als auch deutscherseits auch frühe nationale Gefühle und Bewußtseinsinhalte als Triebkräfte mitgewirkt haben. Janus Pannonius hinterließ ein umfangreiches, ausschließlich in lateinischer Sprache geschriebenes Lebenswerk. Bezeichnend ist, daß Matthias Corvinus-Hunyadi — kurz nach dem Tode seines früheren Lieblings- und Hofpoeten — durch seinen gelehrten Kanzler, den aus Vitéz' Verwandtschaft stammenden Péter Váradi, lediglich die Epigramme von Janus Pannonius sammeln ließ. 1 Der König beschränkte 1
Vgl. Rabán Gerézdi: Egy magyar humanista: Váradi Péter [Ein ungarischer Humanist:
Janus Pannonius
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sich wahrscheinlich deshalb auf die Epigramme, weil einige von ihnen seinen und seiner Familie Ruhm verkündeten und damit seinen Interessen, seinen dynastischen Zielen entsprachen und dienten. Die gesamte geistige Hinterlassenschaft des gegen ihn revoltierenden, rebellischen Bischofs und deren Schicksal interessierten den feudalen Herrscher keineswegs. Matthias fehlte noch jenes „nationale" kulturelle Bewußtsein, das die Erbschaft Janus' als eine Tradition der künftigen ungarischen nationalen Literatur hätte bewahren können. Im Zeitalter Matthias' pflegte nur ein kleiner Kreis von Literaten „das Andenken jenes hervorragenden Mannes", schreibt der erwähnte Péter Vâradi, „der an geistvoller Ausdruckskraft und an Vielfalt der Themen derart reich war, daß wir keinen anderen Dichter kennen, der den antiken Epigrammendichter Martial so vorzüglich hätte nachahmen können wie er." 2 Nach der Vitézschen Verschwörung (1472) fielen so manche gute Freunde in Ungnade, den Geist unseres Dichters bewahrten nur einige Kirchenmänner von humanistischer Bildung, die an italienischen Universitäten studiert hatten. In ihren Schriften ist Janus neben den römischen Klassikern maßgebliches Vorbild. 3 Zu ihnen gehörte Péter Garâzda, ein Verwandter von Janus. Seine Gedichte gelangten 1483 zu Buda in die Hände des polnischen Gesandten, Experiens Callimachus : Als er sich nach Garäzdas Vorbild erkundigte, nannte Péter Vâradi Janus' Gedichte. Ille rüdem primus permulsit uersibus Histrum Et patriae et gentis Candida fama fuit. 4
In den Augen dieses engen Literatenkreises, größtenteils Kirchenmänner aus dem niederen Adel, galt Janus bereits zu dieser Zeit als „der glänzende Ruhm des Vaterlands und der Nation".
2
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Péter Vâradi]. Magyarsâgtudomâny [Ungartumwissenschaft]. Jg. 1 (1942) S. 324—325. — Über Janus Pannonius s. Jozsef Huszti: Janus Pannonius. Pécs 1931; ferner Rabân Gerézdi: Janus Pannonius. Irodalomtôrténet [Literaturgeschichte]. Jg. 39 (1950) S. 14 bis 30. Die Epigramme Janus' „. . .tum quod multis verborum salibus, et rerum varietatibus exuberent, adeo, ut neminem unquam poetarum viderimus veterem illum epigrammaticum poetam Martialem fabre magis expressisse", schreibt Péter Vâradi in einemBrief aus dem Jahre 1496. Josephus Koller: Historia Episcopatus Quinqueecclesiarum. Bd. IV Posonii 1796 S. 496. Imre Waldapfel : Humanizmus és nemzeti irodalom [Humanismus und Nationalliteratur]. Irodalomtôrténet [Literaturgeschichte], Jg. 22 (1933) S. 16. — Dezsô Kerecsényi: Humanizmusunk helyzetképe Mâtyâs utân és Mohâcs elôtt [Das Bild der Lage unseres Humanismus nach Matthias und vor Mohâcs], Irodalomtôrténet [Literaturgeschichte]. Jg. 23 (1934) S. 66. Jozsef Huszti: Callimachus Experiens kôlteményei Mâtyâs kirâlyhoz [Die Gedichte des Experiens Callimachus an König Matthias], Budapest 1927 S. 19. — Siehe außerdem Tibor Kardos: Callimachus. Tanulmâny Mâtyâs kirâly âllemrezonjârôl [Callimachus. Studie über die Staatsräson des Königs Matthias]. Budapest 1931 S. 11—27 undMagyarsâgtudomâny [Ungartumwissenschaft]. Jg. 1 (1942) S. 323—324. Deutsch-ungarische Beziehungen
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Der Ruf des Janus Pannonius drang in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts über den engen „Familienkreis" hinaus und verhalf Pannonius in der immer breiter werdenden, sich immer mehr kräftigenden ungarischen humanistischen Literatenschicht zu allgemeiner Anerkennung. Vom letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts an gingen zahlreiche Studenten aus dem Königreich Ungarn nach Bologna und Padua, um bei berühmten Meistern wie Beroaldo, Giovanantonio Pio, Achille Bocchi zu studieren, und sie gingen auch an die berühmten Universitäten Krakau und'Wien. Diese beiden Universitäten entwickelten sich um diese Zeit zu Zentren des mitteleuropäischen Humanismus. Jene Literatenschicht besaß ein starkes (adliges) nationales Selbstbewußtsein und stellte als Beweis f ü r die Entwicklung der ungarischen humanistischen Kultur und Literatur Janus Pannonius in den Vordergrund. Die „patria", d. h. das vom feudalen Adel beherrschte Land, und die „natio", die Gesamtheit des feudalen Adels, durfte er würdig vertreten, da er selbst adeliger Abstammung und als Bischof von Fünfkirchen feudaler Großherr war. Janus Pannonius wurde zum nationalen „Klassiker", und jeder bedeutendere ungarländische Humanist des ersten Drittels des 16. Jahrhunderts hielt es f ü r seine „patriotische" Pflicht — ob Pannonum gloriam et meritum Jani —. Janus' Werke herauszugeben. Auf diese Weise machten die Studenten im Ausland der gelehrten Welt deutlich, daß ihr Land imstande war, einen so großen humanistischen Dichter hervorzubringen; andererseits wollten sie ihren heimatlichen Gönnern ihre Gewandtheit und ihre Fortschritte in bonis literis beweisen. Auch ihre Professoren suchten ihren ungarischen Mäzenen durch den Janus-Kult zu gefallen. „Unsere Zeit", schreibt 1507 der Tscheche Jan Slechta, der längere Zeit in Buda in der böhmischen Hofkanzlei des Königs Ulaszlö (Wladislaw) II. arbeitete, „segnete der höchste Schöpfer und der Regent des Weltalls mit einer großen und wahrlich unerhörten Wohltat: mit der wunderbaren Erfindung der Buchdruckerei, die ein Kind unserer Tage ist. Vorher war nämlich der Mangel an hervorragenden. Autoren sehr groß, weil diese aus Gleichgültigkeit oder Unwissen unserer Vorfahren entweder ganz verschollen sind oder nur im Besitz der Reichen und Mächtigen waren, die sich um die Beschäftigung mit den Wissenschaften nicht zu kümmern pflegten, sondern vielmehr um ihre Bereicherung und um die Vermehrung ihrer Ämter besorgt waren." 5 Die erhöhten Ansprüche wurden durch den Buchdruck befriedigt; jeder hervorragende Autor konnte einen breiten Leserkreis erreichen. Die primäre Erscheinungsform der literarischen Werke wurde der Druck. Was des Druckens nicht würdig war oder aus irgend welchem Grund nicht bis zur Presse gelangte, blieb außerhalb der Literatur. Was aber dazu taugte und somit Anspruch auf die „Unsterblichkeit" erheben konnte, mußte unbedingt gedruckt werden. Sogar die huma5
„Magnum enim, ut vides, et pene immortale benficium huic nostrae tempestati summus ille rerum conditor et moderator concedere videtur ex mirifica imprimendarum literarum inventione, quae in diebus nostris reperta est, quum antea illustrium autorum maxima esset penuria, quippe qui vel maiorum nostrorum negligentia atque inscientia penitus interierant, vel tantum penes divites et potentes viros essent, qui non tarn literarum studiis, insudare quam congerendis divitiis et multiplicandis honoribus solent inhaerere." (Josef Truhlai: Dva listare humansticke. Prag 1897 S. 31.)
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nistischen Verseschmiede zehnten Ranges und die obskuren Kommentatoren wollten ihre Geistesprodukte nicht im Manuskript verbreitet sehen, sondern gedruckt, in mehreren hundert Exemplaren. Daß ungarische Humanisten der Jagiellonenzeit sich all dessen bewußt waren, beweist am besten folgender Umstand: Bis 1512 waren die Werke Janus' nur im engen Kreise bekannt. Es existierten lediglich Handschriften. An ihren Druck dachte außer Istvän Brodafich niemand, und auch dieser erst 1505; aber zwischen 1512 und 1523 erschienen nicht weniger als acht Janus-Ausgaben, von denen sieben von Ungarn besorgt wurden. Die Janus-Ausgaben der ungarischen Jagiellonenzeit (1490—1526) wurden von Istvän Brodarich eingeleitet. Auf der Rückkehr von der Universität Padua wollte er im Jahre 1505 einige Arbeiten seines berühmten Landsmannes vom berühmtesten Drucker der Zeit, Aldus Manutius in Venedig, drucken lassen. Dieser Plan zerschlug sich. Im Jahre 1512, bereits als Sekretär der Hofkanzlei, unternahm er einen erneuten, wiederum vergeblichen Versuch: „Damit ein so großer Mann nicht von ewigem Moder bedeckt verschollen bleibe, beschloß ich, seine Arbeiten (opuscula) unbedingt ans Sonnenlicht bringen zu l a s s e n . . . " 6 Brodarichs Bemühen war die Wiener Ausgabe des Guarino-Panegyricus zuvorgekommen. Dieses berühmteste Opus des Janus erschien gegen Mitte des Jahres 1512, mit den Lettern Syngrenius' und Vietors, herausgegeben von dem Krakauer Humanisten und Professor Paulus Crosnensis (Pawel z Krosno). 7 Gewidmet war die Ausgabe einem ungarischen Magnaten, Gabor Perenyi, dem Obergespan von Ugocsa. Dies ist somit die erste, mit der Unterstützung eines ungarischen weltlichen Hochadligen erschienene Janus-Ausgabe. Es dürfte nicht uninteressant sein, die Umstände des Zusammenkommens dieser Ausgabe kurz zu schildern. Die Verbindung des polnischen Humanisten mit dem ungarischen Baron stammte aus dein, Jahre 1508. Im Frühjahr dieses Jahres flüchtete nämlich Paulus Crosnensis vor der Pest mit seinem ungarischen Schüler Sebestyen Magyi nach Ungarn. Der Vater des Schülers, Pal Magyi, ein Mann aus dem niederen Adel, war ein Verwandter der Magnaten Perenyi und Vizepalatin neben Imre Perenyi. Der Krakauer Magister kam durch die Magyis mit dem Oberkämmerer des Königs, dem Obergespan von Ugocsa, Gabor Perenyi, in Verbindung, ebenso mitderPerenyi-Sippschaft, darunter auch mit Istvän Bäthori und der Familie Thurzö. Diesen erwies er die Ehre mit humanistischen Versen. Ein Teil dieser Gedichte war religiösen Charakters, in klassischem Metrum geschrieben (Panegyricus in laudem divi Ladislai regis et Patroni Hungariae etc.), der andere Teil bestand aus gebräuchlichen humanistischen Lobgesängen und schmeichelnden Gelegenheitsdichtungen. Diese Gedichte wurden auch vorgetragen. So sang beispielsweise Sebestyen Magyi, der Schüler des Dichters, die an Bäthori gerichtete Dichtung am 12. Oktober 1508 in Groß6
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„Ne enim uir tantus perpetuo carie obsitus lateat, decreui opuscula eius omnino in lucem emitti curare . . . " Pierre de Ambroise Nolhac: Les Correspondents d'Alde Manuce. Rome 1888 S. 94. — Über den Versuch der Janus-Ausgabe Brodarichs s. Rabän Ger6zdi: Aldus Manutius magyar baratai [Die ungarischen Freunde des Aldus Manutius]. Magyar Könyvszemle [Ungarische Bücherschau]. Jg. 69 (1945) S. 62—67. RMK [Altungarische Bibliothek], Bd. III Budapest 1896 Nr. 177.
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wardein vor Istvän Bäthori und in Gegenwart einer großen Gruppe von Baronen vor. Die Gedichte wurden aber nicht nur vorgetragen oder im Manuskript überreicht; Paulus Crosnensis Ruthenus begleitete im Januar 1509 Perenyi nach Wien und ließ dort in der Offizin Syngrenius' und Vietors die ganze Sammlung herausgeben, die er selbstverständlich dem Obergespan von Ugocsa zueignete, und kehrte erst nachher auf sein Katheder in Krakau zurück. 8 Aus dem bisher Gesagten geht auch hervor, daß der ungarische Hochadel in der Jagiellonenzeit schon kulturell entwickelt war und Verständnis f ü r diehumanistische Literatur hatte. Das kann uns nicht wundernehmen, denn viele Angehörige des Hochadels studierten an Universitäten oder waren Schüler akademisch gebildeter Erzieher. So wird das Mäzenentum Gabor Perenyis verständlich, auch der Umstand, daß er Janus kannte, seine Bedeutung einzuschätzen wußte und den polnischen Humanisten zur Herausgabe der Werke von Janus anregte, wie wir aus dem Empfehlungsschreiben des Paulus Crosnensis für die bereits erschienene Ausgabe erfahren: „Und dieses Geschenkes hielt ich dich um so mehr für würdig, weil du mich auf das Talent, die Tätigkeit, das Wissen und die Weisheit des Mannes (nämlich des Janus Pannonius), den du gut kennst und ehrst, zu wiederholten Malen aufmerksam machtest..." 9 Der Krakauer Meister dürfte keine schlechten Erinnerungen an den ungarischen Magnaten (und an dessen Freigebigkeit) gehabt haben; denn die Anregung nahm er sich wohl zu Herzen: Das erste Janusmanuskript, das ihm in die Hand geriet, bereitete er zum Druck vor und übersandte es seinem ungarischen Mäzen. Und da im Bewußtsein der Literaten dieser Zeit ein humanistischer Dichter und sein Vaterland bereits eng miteinander verschmolzen waren, schreibt Paulus Crosnensis in seinem erwähnten Empfehlungsschreiben: „Und das tat ich umso lieber, als ich sah, daß ich deiner hochedlen Nation einen sehr nützlichen und lieben Dienst erweise: Ich bringe es auch den ausländischen und entferntesten Nationen zur Kenntnis, daß die zarteren und freundlicheren Musen auch bei den Ungarn einzogen." 10 Perenyi sandte das erhaltene „Geschenk" nach Wien zu Syngrenius und Vietor. Diese ließen das Werk durch Adrianus Volphardus zum Druck vorbereiten. Dieser Patriziersohn aus Straßburg (Siebenbürgen) studierte damals schon seit Jahren an der Wiener Universität, er stand im Ruf eines ausgezeichneten Humanisten und gehörte zum Vadianus-Kreis. Er besserte noch an der Handschrift, ergänzte sie mit einer JanusElegie (De arbore foecunda) und versah sie mit begleitenden Versen. 11 Diese Ausgabe eröffnete die glänzende Laufbahn des Janus Pannonius in der Jagiellonenzeit. 8 9
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Irodalomtörteneti közlemenyek [Beiträge zur Literaturgeschichte]. Jg. 62 (1958) S. 547. „Quod munere te precipue dignum esse existimavi, qui crebro huiusce viri quem noras tibi familiarissimum, ingenium, vigilantiam, doctrinam, sapientiam, mihi commendaveris . . . " — Jani Pannonii Opusculorum Pars altera. Herausgegeben v. Samuel Teleki. Traiecti ad Rhenum 1784. S. 246 (im weiteren: Teleki). „Quod eo feci libentius, quom rem patriae tuae nobilissimae non minus utilem quam iucundam me facturum perspicerem; exteris quoque et remotissimis declararem gentibus, ad Pannonios etiam ipsos, humaniores et svaviores migrasse Musas." (ebenda) Johanna Ernuszt: Adrianus Volphardus. Budapest 1939 S. 25.
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Es verstrich kaum ein halbes Jahr, und schon erschien eine weitere Ausgabe. Der ehemalige Schüler des Crosnensis, Sebestyen Magyi, ließ im Februar 1513 in Bologna den Guarino-Panegyricus wieder erscheinen. Er war ein so treuer Schüler, daß er die Wiener Ausgabe seines Meisters, ohne ein Wort darüber zu verlieren, abdrucken ließ (freilich ohne die ursprüngliche epistola dedicatoria des Meisters) und dem dort vorgefundenen Grundmaterial nur zwei Janus-Epigramme und eine neuere Elegie hinzufügte. 12 Magyi studierte zu dieser Zeit bereits an der Universität zu Bologna, und da der Neffe György Szatmaris, der Stuhlweißenburger Propst Lonne Besztercei, sein Gönner war — wem hätte er wohl seine „Arbeit" nutzbringender widmen können, als dem mächtigen Onkel, dem Leiter der Budaer königlichen Hofkanzlei, der die Werke seines Vorgängers als Hofkanzler gern im Druck sehen wollte. 13 Die Bedeutung der Sebestyen Magyischen Janus-Ausgabe besteht nicht in dem zum zweitenmal herausgegebenen Guarino-Panegyricus und seinen Anhängen, sondern in der neuartigen Janus-Bewertung, die im Empfehlungsbrief ausgeführt wird. Der Guarino-Panegyricus war ein Muster jener „gelehrten Poesie", die im Bewußtsein jedes Humanisten als Ideal lebte, die die humanistische Poetik forderte und f ü r die sie warb. Unter dem Eindruck mannigfaltigen, in das Werk eingegangenen und aus dem Werk hervorströmenden Wissens sagte der polnische Humanist, der auch selbst ein gelehrter Poet von Ruf war, über Janus: „ . . . ihn, als den in vielen Wissenschaften bewanderten Mann unserer Zeit (polyhistora seculi nostri) müssen wir zweifelsohne an die Spitze aller, der Allerweisesten, der Hervorragendsten und der Gelehrtesten, stellen." 14 Magyi entwickelte diesen Gedanken seines Meisters weiter. Unter seiner Feder wird der „in vielen Wissenschaften bewanderte Mann unserer Zeit" zum „größten, hervorragendsten Poeten unseres Zeitalters" (nostrae tempestatis). E r macht aber bei der kategorischen Verkündung dieser These nicht halt. Auf seine humanistische Art beweist er auch: In Janus allein ist jene eruditio ac lepor vorhanden, die im Vergil, im Ovid, im Catull und den anderen antiken Poeten gesondert vorzufinden sind. Und: „Wenn er in Heldengedichten die Taten der Führer oder sonst etwas besingt, ist er Vergil ebenbürtig; ja, ich könnte sagen, daß er ihn überragt, wenn ich den Anschein vermeiden wollte, daß ich ihn deshalb so übertrieben lobe, weil er mein Landsmann war. Wenn du seine Elegien liest, denkst du an den geistreichen Dichter der süßen Worte, Tibull. Wenn du seine Epigramme liest, sehnst du dich nicht mehr 12 13
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RMK [Altungarische Bibliothek], Bd. III Budapest 1896 Nr. 182. Über Magyi und Lörinc Kretschmer von Beszterce s. Jänos Honrath: Az irodalmi müveltseg megoszläsa. Magyar humanizmus [Die Verbreitung der literarischen Bildung. Ungarischer Humanismus]. Budapest 1934 S. 212—213 und Rabän Gerezdi: Bologna es a magyar humanizmus [Bologna und der ungarische Humanismus]. Irodalomtörtenet [Literaturgeschichte]. Jg. 29 (1940) S. 154-156. „ . . . q u e m omnibus veluti polyhistora seculi nostri, prudentissimis, integerissimis, scientissimisque facile praeponendum contenderim" (Teleki a. a. 0. S. 245).
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nach Catull." 15 Seiner Meinung nach ist also Janus nicht nur der größte Dichter „unseres Zeitalters", er überflügelt auch die antiken Größen. Wegen des Lobs eines Landsmannes glaubt sich Magyi entschuldigen zu müssen, doch enthüllt er sich dadurch vor uns (freilich nur vor uns, denn seine Zeit akzeptierte seine Janus-Bewertung). Er verehrte Janus sicher deshalb so überschwenglich, weil er sein Landsmann, ein ungarischer Adliger war. In dem Sohn des aus dem niederen Adel stammenden Vizepalatins Pal Magyi konzentriert sich das nationale Bewußtsein des ungarischen Adels, obwohl in das Bologneser Stilgewand der hochtrabenden humanistischen Schule gekleidet. Die von ihm gebrauchten effektvollen Stilschablonen und Wendungen waren in der humanistischen Literatur weder neu noch unbekannt. Italiener, Deutsche, Polen und Humanisten anderer Nationen gebrauchten sie gleichermaßen; aber wenn sie gebraucht wurden, waren sie meistens (allerdings auf verschiedene Art und Weise) von Nationalgefühl begleitet. Von diesem, auf ein europäisches Piedestal gestellten ungarischen Janus erschien für den humanistischen Leser nur ein einziger Band im Druck. Deshalb schreibt Magyi: „Ich würde mehr geben, wenn ich hätte. Ich bin mir nämlich dessen bewußt, daß unser Janus viel mehr schrieb; diese Werke aber, o Schmach! unterschlagen seine Neider auch heute noch. Aus diesem kleinen Buch kannst du aber doch seine Prächtigkeit abmessen nach der Methode des Pythagoras, der aus der Größe der Fußtapfen auf die Riesengröße des Herkules schloß." 16 Wie sehr Magyis Janus-Bewertung dem Herzen und dem Geschmack der ungarländischen Literaten entsprach, wird durch die Tatsache unterstrichen, daß Istvan Werboczi, der „Ideologe" des niederen Adels, zu Beginn des Jahres 1514 zehn Elegien von Janus nach Wien sandte, um sie drucken zu lassen. Er versprach sogar, daß dieser Sendung bald eine neuere, größere folgen würde. Er schickte die Sendung seinem jungen Schützling, dem ebenfalls aus dem niederen Adel stammenden Benedek Bekenyi, der schon seit vier Jahren in Wien unter Anleitung des Professors Joannes Camers studierte. Dieser erfahrene Präzeptor bereitete die Elegien zum Druck vor, ließ aber auch seine Schüler am Erfolg der Ausgabe teilhaben, indem er das Empfehlungsschreiben an den Patron Istvan Werboczi, den Juristen von europäischer Bildung, dessen corpus juris, „Tripartitum" betitelt, die Kodifikation des ungarischen feudalen Rechtssystems darstellte und bis zum 19. Jahrhundert in Kraft blieb, von Bekenyi verfassen ließ.17 Das Empfehlungsschreiben Bekenyis war in weit schlechterem Humanistenstil abgefaßt als das des in italienischen Schulen gebildeten Magyis, aber es atmete denselben Geist des adligen Nationalgefühls. Wir 15
„Si Herois gesta ducum seu quid aliud cantat, Vergilium prorsus effingit; dixissem. exuperat, ni plus nimio conterraneum meum laudando, mihimet placerere viderer. Si elegos eius leges, ingeniosum vatem mellitumque Tibullum credas. Si epigrammata; non Catullum amplius desiderabis" (Teleki a. a. 0. S. 254). 10 „ . . . Plus darem, si plus haberem. Non enim me praeterit, his longe plura Ianum nostrum composuisse; quae, pro pudor! adhuc ab invidis supprimuntur. Ex hoc tarnen, licet parvo libello, praestantiam eius metiri potes, Pythagorae exemplo, qui ex pedis mensura Herculis magnitudinem ratiocinatus est." (Teleki a. a. 0. S. 258). 17 RMK [Altungarische Bibliothek]. Bd. III Budapest 1896 Nr. 188.
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wollen nicht niedriger als die anderen Nationen scheinen! Das war die Losung. Und daß wir schon jetzt nicht geringer sind, dafür ist der Beweis Janus Pannonius. Deshalb sandte Werbôczi die zehn Elegien nach Wien, und deshalb wollte er noch weitere Janus-Werke drucken lassen. Dazu kam es aber nicht mehr. Einige Monate später, im Jahre 1514, brach der große Bauernkrieg in Ungarn aus, und danach hatte der Politiker Werböczi, der reaktionäre Führer des niederen Adels, keine Zeit mehr für die Musen übrig. Infolge des Bauernkrieges und der seiner Niederwerfung folgenden grausamen Vergeltungsmaßnahmen zeigte sich in Ungarn für einige Jahre auf jedem Gebiet, auch auf kulturellem, ein starker Rückfall. So nahm z. B. die Zahl der ungarischen Hörer an den ausländischen Universitäten bedeutend ab. Vorläufig kamen auch die von Ungarländern angeregten Janus-Ausgaben ins Stocken. Jetzt übernahmen die deutschen Humanisten die Führung. Im Juli 1518 erschien, betreut von dem berühmten Philologen und Historiker Beatus Rhenanus aus dem Elsaß 18 , ein im Vergleich zu den bisherigen bedeutend reicherer, das ganze Lebenswerk Janus' vollständiger wiedergebender Band aus der Baseler Druckerei des Joannes Frobenius, eines Freundes von Erasmus. Die erste Hälfte dieses Bandes war nichts anderes als eine Wiederveröffentlichung von Sebestyén Magyis Bologneser Ausgabe. Beatus Rhenanus schwieg über diesen Freundschaftsborg ebenso, wie auchMagyi „vergaß", sich über die von ihm benutzte Wiener Ausgabe zu äußern. Aber die Abhängigkeit verrät sich auf den ersten Blick durch die Übereinstimmung der Texte, durch die gewohnte Reihenfolge der dem GuarinoPanegyricus folgenden Gedichte und durch den Abdruck des zur Bologneser Ausgabe geschriebenen Tetrastichons Achille Bocchis, des Meisters Magyis in Bologna. Das aus Magyis Ausgabe übernommene Material reicht im Band des Beatus bis zur 44. Seite. Das Material der weiteren Seiten (45—110) stammt aber aus einer handschriftlichen Sammlung der Gedichte Janus', die Beatus Rhenanus vom Straßburger Senator Jakob Sturm erhielt. Der hochgebildete Jakob Sturm hatte das Material von seinem Onkel, Peter Schott, bekommen, der ebenfalls Senator von Straßburg war. Der Kodex, der die Gedichte Janus' enthielt, war ursprünglich Eigentum des früh verstorbenen, gleichnamigen Sohnes Peter Schotts; es handelte sich vielleicht um eine autographische Handschrift. Der junge Schott (1458—1490) studierte in Bologna bei berühmten humanistischen Meistern, die auch von Studenten aus Ungarn häufig abgesucht wurden, nämlich bei Urceo Codro und beim älteren Filippo Beroaldo. Hier schloß er Freundschaft für sein ganzes Leben mit dem großen tschechischen Humanisten und Poeten Bohuslav Lobkowicz von Hassenstein. Aber wir kennen auch einen Ungarn aus seinem Freundeskreis. Erhielt er wohl die Gedichte des Janus von ihm? 19 Der Kodex 18 19
Ebenda, Nr. 220. Über Peter Schott jun. s.: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. XXXII Leipzig 1891 S. 406—407 und L. Dacheaux: Un réformateur catholique a la fin due XV e Siècle Jean Geiler de Kaysersberg. Paris-Strasbourg 1876 S. 284—385. — Seinen ungarischen Freund erwähnt er in seinem Brief aus Bologna am 12. März 1480: „Dominus Georgius Ungarns
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enthielt laut Zeugnis der Ausgabe die schönsten, größtenteils in Ungarn gedichteten Elegien (11 Stücke), 18 Epigramme, die „Pro pacanda Italia", Battista Guarinos zwei Gedichte an Janus und das Epitaph des Dichters. Zweifellos wurde die Aufmerksamkeit der transalpinen deutschen Humanisten auf Janus Pannonius durch die Bologneser Ausgabe Sebestyen Magyis gelenkt. Warum man aber so plötzlich Janus entdeckte, das ergibt sich aus dem Empfehlungsschreiben des Beatus Rhenanus, der das Buch zur Drucklegung vorbereitete, und aus dem Vorwort des Druckers und Herausgebers Frobenius. In der an Jakob Sturm adressierten epistola dedicatoria singt Beatus Rhenanus begeistert ein Loblied auf Janus. Er feiert ihn als den berühmtesten Schüler des Guarino de Verona, nennt ihn „unseren" Janus. Und er läßt uns auch darüber nicht im Zweifel, wie dieser Titel zu verstehen ist: „Es gibt welche, die daran, was unsere Zeit und unser Boden hervorbringt, wenig Gefallen finden; ihnen gegenüber bin ich grundverschiedener Meinung: ich lese Janus und Erasmus, obwohl sie deutsche und heutige Dichter sind, wenigstens so gern wie Poliziano oder Ermolao, ja, wie Vergil und Cicero..." 20 Diesen Passus des Beatus nahm sich etwa hundert Jahre später Albert Szenczi-Molnär, der in Heidelberg studierende und arbeitende Psalmenübersetzer der ungarischen Kalvinisten, sehr zu Herzen und fügte daher diesem Teil des Textes folgende Randbemerkung bei: „Non Germanus eratJanusPannoniusipse: sed fuit Ungarico iure satus genere. Wohl wußtest du das, so glaube ich, Rhenane, aber es tat dir leid, daß er kein Deutscher war." 2 1 Der Drucker Frobenius gibt in seinem Vorwort an die Schulmeister (ludi magistris) im wesentlichen die Konzeption des Beatus wieder und illustriert sie mit neueren Exempeln: „Was früher f ü r unsere Germania Rudolphus Agricola Frisius war, was jetzt Erasmus auf allerlei Gebieten der Wissenschaften und der Sprachen ist, Reuchlin in den kabbalistischen Mysterien, was in der Mathematik seinerzeit Joannes Regiomontanus war — das war in der Dichtkunst Janus Pannonius. Lasset eure Kinder ihn nach den Dichtern des Vergilschen Jahrhunderts lesen, weil er nach sodalis noster nomine suo te plurimum saluere iubet." (Schott: Locubratiuculae ornatissimae... Argentinae 1498 fol. IX) Das kann kaum ein anderer gewesen sein als der „honorabilis vir dominus Georgius Thees plebanus ecclesiae Wermesch inUngaria", der am 8. Sept. 1479 zum Prokurator der Bologneser natio germanica gewählt wurde. (Ernestus Fridländer — Carolus Malagola: Acta Nationis Germanicae Universitatis Boloniensis Berolini 1887 S. 227.) Von Schott gibt es übrigens auch ein anderes Schreiben, das zu Ungarn in Beziehung steht: Er verfaßte (1477) ein kurzes Epithalamion zur Hochzeit Matthias' und Beatrix' (Locubratiunculae a. a. O. fol. CLXIII.) — Über Jakob Sturm s. ADB Bd. XXXVII Leipzig 1894 S. 5—20 und F. A. Stein: Jakob Sturm, Stettmeister von Straßburg. Leipzig 1878. 20 „Sunt nonnulli, quibus parum placet quicquid nostrum vel saeculum vel solum protulerit; a quibus ego longe dissentio, quippe qui Ianum et Erasmum, tametsi Germanos, et recentes, non contemptius ac Politianum et Hermolaum, imo quam Maronem Tulliumve lego . . . " (Teleki a. a. O. S. 267.) 21 Dezsö Kerecsenyi: Szenczi Molnär Albert lapszeli jegyzetei [Die Glossen Albert Szenczi Molnärs]. Protestäns Szemle [Protestantische Rundschau]. Jg. 39 (1930) S. 397.
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der Ansicht der Gelehrten neben den Pontani, Marulli und Baptistae den Alten am nächsten kommt." 2 2 Janus' Stern war also im Aufstieg, er glänzte immer heller, und der Dichter befand sich auf dem besten Wege, aus einer Berühmtheit der ungarischen adeligem Nation zum repräsentativen Poeten der nicht-italienischen humanistischen Welt zu werden. Die Welt hatte sich nämlich gründlich geändert: Die kulturelle Überlegenheit Italiens, die noch gegen Ende des 15. Jahrhunderts ungeschmälert anerkannt wurde, kam ins Wanken, sie fiel allmählich der Vergangenheit anheim, und die Musen der bonae litterae zogen sich mehr und mehr hinter die Alpen zurück, zu den von den Italienern verachteten, Barbaren genannten „Ultramontanen". Schon aus Erasmus' Worten, gerichtet an einen englischen Jüngling, der in Italien zu studieren wünschte, klingt das Erkennen des neuen Zustands: „Sie sehnen sich nach Italien? Dabei ist heute auch England ein Italien, und wenn ich nicht irre, ist es sogar italienischer als Italien." 2 3 Besonders der deutsche Humanismus, im Bestreben, sich vom italienischen loszulösen, war bemüht — um seine Kraft und Selbständigkeit zu betonen — Dichtergrößen wie die der Italiener auszuweisen. Er hatte zwar große Gelehrte und mehrere Prosaschriftsteller hervorgebracht, zum Beispiel Erasmus von Rotterdam, den ungekrönten Fürsten der Humanisten, aber einen wirklich großen deutschen Humanistenpoeten gab es noch nicht. Beatus Rhenanus und Frobenius entdeckten deshalb einen solchen in Janus Pannonius. Stärkste Triebfeder dieser Bestrebungen war ein frühes Nationalgefühl, das sich in ganz Europa Hand in Hand mit der Kräftigung des Bürgertums entwickelte. Der Janus-Kult und die Janus-Ausgaben der Ungarn nährten sich vom ungarischen Nationalbewußtsein des Adels; das war es, was letzten Endes den Janus-Kult hervorbrachte. Der Baseler Ausgabe dagegen liegt ein deutsches patrizisch-bürgerliches Nationalgefühl zugrunde. Und wir können es auch nicht für einen Zufall halten, daß der Gedanke und die Ausführung der Baseler Janus-Ausgabe am linken Ufer des Rheins, im humanistischen Kreise Straßburgs entstand und verwirklicht wurde. Am Zustandekommen des Bandes wirkten lauter Elsässer mit. Der ältere Peter Schott war Senator von Straßburg, Jakob Sturm ebenfalls; übrigens war er eine der führenden Gestalten der deutschen bürgerlichen Bestrebungen und Bewegungen. Der zu ihrem Freundeskreis gehörende Rhenanus aus Schlettstadt verließ 1511, Basel zuliebe, Straßburg, aber seine Beziehungen zu Straßburg gab er auch später nicht auf. Straßburg erlebte im 16. Jahrhundert seine Blütezeit. Eine reiche, gebildete Patrizier-Bürgerschaft übte in der Stadt die Macht aus. Infolge ihrer geographischen Lage befand sich die Stadt im Wirkungsbereich des französischen Königreichs. Als Reaktion darauf entwickelte sich bei den führenden Patriziern ein starkes deutsches 22
Quod fuit Germaniae nostrae jam olim Rodolphus Agricola Phrisius, nunc Erasmus, in
omnigena disciplinarum et lingvarum cognitione in Cabbalisticis mysteriis Reuchlinus;
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in Mathematicis olim Io. Regimontanus; hoc fuit Ianus Pannonius in poetica. Quem vos, post Maroniani saeculi poetas praelegere, minime pigeat, ultra Pontanos, Marullos, Baptistas indicio doctorum ad veteres proxime accedentem." (Teleki a. a. 0 . S. 264—265.) P. S. Allen: Opus epistolarum Des. Erasmi Rotterdami. Tom. II Oxonii 1910 Nr. 457.
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Nationalgefühl. Die entsprechenden Empfindungen und Ansichten legten die im Dienste der Patrizier stehenden Schulmeister, Geistlichen und Stadtschreiber hauptsächlich in ihren historischen Werken nieder. 24 Zu den hervorragendsten Persönlichkeiten dieses Straßburger Humanistenkreises gehörten der berühmte Prediger Johann Geiler von Kaisersberg (ein Freund der Schotts — seine Biographie verfaßte 1510 Rhenanus), Sebastian Brant, Jakob Locher und Jakob Wimpheling, Auch Beatus Rhenanus als Wimphelings Schüler und Freund gehörte dazu. Der eigentliche „Ideologe" der Straßburger Humanisten, Jakob Wimpheling, lebte und wirkte im Banne des durch den Humanismus wiederbelebten Germanentums (Tacitus) und der Größe des mittelalterlichen „römischen Reiches"; diese wollte er, allerdings in bürgerlichen Formen, wiederverkörpert sehen. Mit seinem berühmtesten Werk, der 1501 erschienenen „Germania", löste er daher einen wahren Sturm aus. Unter anderem suchte er zu beweisen, daß kein einziger römischer König aus dem Geschlecht der Gallier stamme und daß die Feststellung Julius Casars, das einstige Gallien hätte sich bis zum Rhein erstreckt, unrichtig sei. Ferner hielt er den Umstand, daß sowohl das französische Wappen als auch das Straßburger Lilien aufweist, für eine rein zufällige Übereinstimmung. 25 Und die Mitglieder des Straßburger Stadtrats, Patrizier und Humanisten, erklärten sich mit der „Germania" Wimphelings solidarisch, sie nahmen sie gegen Angriffe in Schutz. Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen, daß die Ideen Wimphelings weder vereinzelt noch isoliert waren. Der Ruhm der alten Germanen, verbunden mit den geschichtlichen Traditionen des mittelalterlichen Reiches und mit dem auf bürgerlicher Grundlage geborenen Nationalgedanken, war selbst bei den größten und fortschrittlichsten Gestalten des deutschen Humanismus lebendig, etwa bei Ulrich von Hutten und Conrad Celtis. Bei den Elsässer Humanisten schlugen diese Vorstellungen gleichsam mit Flamme und Rauch in die Höhe. Beatus Rhenanus und seine Gefährten, die als nördliche Nachfahren der Römermacht die geschichtliche Idee des Reichs über die Karolinger bis zum alten Römischen Reich zurückführten, rechneten, vermutlich von solchen geschichtlichen Ideen ausgehend, den aus der einstigen nördlichen römischen Provinz Pannonien stammenden und nach dieser genannten Janus zu ihrem Kreis. So konnte Janus Pannonius, an die Seite des großen Erasmus gestellt, als nördlich-germanischer Humanistenpoet gelten. Daß aber die Elsässer nur aus „momentaner Not" einen zum italienischen Kulturkreis gehörigen Poeten Pannoniens zum größten Dichter des germanischen Humanismus ernannten und ihn gegen die Italiener ausspielten, wird am besten dadurch bewiesen, daß Janus Pannonius in dem Augenblick von den deutschen Humanisten „entthront" wurde, als dieser Notstand aufhörte, d. h. der wirklich germanische große Poet erschien. Auf den Thron des Joannes „primus", der in der ehrbaren 24
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Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. IV Berlin 1960 S. 167 ff. Dass. und Willy Andreas: Deutschland vor der Reformation. Stuttgart-Berlin 1943 2 S. 4 3 0 - 4 3 1 .
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Nachbarschaft des Erasmus stand, stieg ein größerer Poet: Joannes „secundus" (sit venia verbo), der Dichter der „Küsse" (Basia). Der kurze Ruhm des Janus Pannonius war nicht ohne Folgen. Mit der Baseler Ausgabe hatte er auch im Ausland, im deutschen Kulturkreis, Erfolg, seine europäische Rezeption kam zustande. Sebastian Magyis, Beatus Rhenanus' und Frobenius' Janus-Bewertungen wurden aufgenommen, und gleichzeitig wurde Janus zu einem Schulautor. Die Ausgabe gelangte überall hin, auch nach Ungarn. So z. B. gebrauchte sie auch der Särvärer „ludimagister" Jänos Sylvester, der erasmitische Bibelübersetzer. 26 Durch die Baseler Ausgabe wurden die ungarischen Anregungen gekrönt. Der Dichter aus Pannonien überflügelte weit den mitteleuropäischen Bereich und erhob sich in die erste Reihe des europäischen Humanismus. Auf die Baseler Ausgabe erfolgte bereits einen Monat später die „Antwort". Hieronymus Vietor, der Wien verließ und 1517 seine Druckerei in Krakau eröffnete, veröffentlichte, quasi als Ersatz, 43 Epigramme, die in die Baseler Ausgabe nicht aufgenommen worden waren. 27 Die Baseler Janus Pannonius-Ausgabe war die letzte und bedeutendste Tat der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Interesse der Werke und des Ruhmes Janus'. Die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erschienenen neueren Ausgaben, von denen die berühmteste die des Ungarn Joannes Sambucus (1556) war, folgten diesen Spuren, aber zum Weltruf des Janus Pannonius trugen sie nicht mehr wesentlich bei. Diesen hat Janus Pannonius den deutschen Humanisten zu verdanken. 26 27
Grammatica Hungarolatina . . . Ujsziget 1539 c/2b fol. RMK [Altungarische Bibliothek], Bd. III Budapest 1896 Nr. 221. Diese Ausgabe erschien im August 1518.
SINDOR V.
KovÄcs, BUDAPEST
Die Sodalitas Litteraria Danubiana und das ungarische geistige Leben
Die Jahre von 1497 bis 1511 gehören hinsichtlich der ungarisch-deutschen Beziehungen zu den interessantesten Abschnitten des Humanismus in Ungarn. Es sind die knapp anderthalb Jahrzehnte der Jagiellonenzeit und die Nachblüte des unter König Matthias nach Ungarn verpflanzten lateinischen Humanismus. Zwar beschränkte sich das literarische und kulturelle Leben auf den königlichen Hof und die Residenzen der weltlichen und kirchlichen Fürsten, es war aber dennoch vielseitig und bei weitem nicht provinziell. Diplomatische Aufträge, Gesandtschaftsreisen stellten rege Beziehungen zu Kunst und Wissenschaft des Auslandes her, und die ungarischen Studenten, die die Universitäten in Italien, in Wien und Krakau in immer größerer Zahl besuchten, machten den geistigen Austausch noch intensiver. Das humanistische Ungarn war f ü r die moderne Weltanschauung aufnahmebereit, mehr noch: Auf alle Anregungen der Zeit reagierte es produktiv und brachte eine Reihe hervorragender Diplomaten und Gelehrten hervor, die aus dem europäischen Humanismus nicht wegzudenken sind. Der glänzende Hof des Königs Matthias Corvinus in Buda, seine berühmte Bibliotheca Corviniana und seine Bauten — zum Beispiel in Visegräd — sind die repräsentativen Schöpfungen der Renaissance-Kultur in Ungarn. Als König Matthias 1490 plötzlich starb, hinterließ er den Jagiellonen ein reiches literarisches und wissenschaftliches Erbe, das sie nicht nur zu würdigen und ziemlich langte aufrechtzuerhalten, sondern auch weiterzuverb reiten wußten. So entstanden an zahlreichen Punkten des Landes humanistische Zentren, aber der eigentliche Mittelpunkt blieb weiterhin der königliche Hof. Hier traten alle jene Erscheinungen zutage, an denen sich die charakteristischen Züge des ungarischen Humanismus ablesen lassen. Ein Brennpunkt war die königliche Kanzlei, und um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert bestand unter Teilnahme der in Buda lebenden oder sich dort vorübergehend aufhaltenden Ausländer ein literarischer und wissenschaftlicher Kreis von hohem Rang. So ist es also nicht erstaunlich, daß Konrad Celtis, ein Humanist, der an die Atmosphäre der italienischen und deutschen Kulturzentren gewöhnt war, auf seiner Ungarnreise angesichts des regen geistigen Lebens eine wissenschaftliche Gesellschaft ins Leben rief. 1 Die Sodalitas Litteraria Danubiana vollbrachte während ihres 1
Die gründlichste Bearbeitung des ganzen Problems gibt Jenö Abel: A magyarorszägi humanistäk es a Dunai Tudös Tärsasäg [Die Humanisten in Ungarn und die Sodalitas
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vierzehnjährigen Bestehens eine hervorragende Leistung, wenn es auch Jahre geistiger Passivität gab. Die Sodalitas erwies sich, nicht nur vom Gesichtspunkt der ungarisch-deutschen Beziehungen, sondern von dem des europäischen Humanismus aus betrachtet, als Sammelbecken zahlreicher kulturhistorischer und mehr noch ideologischer und literaturhistorischer Bestrebungen. Um das Wesen des durch die Sodalitas verkörperten Gedankens zu erkennen, müssen wir einen Blick auf die Entstehung des Sodalitas-Gedankens werfen. Wie jeder bedeutende Humanist im 15. Jahrhundert erhielt auch Celtis seine Ausbildung in Italien. In den Jahren 1486—89 besuchte er die berühmtesten Schulen und war Schüler hervorragender humanistischer Professoren. In Padua führten ihn Marcus Musurus und Calphurnius in die Jurisprudenz ein, in Ferrara hörte Celtis die Vorträge des Baptista Guarinus, in Bologna die des Philippus Beroaldus, in Florenz aber war — nach einem Intermezzo in Venedig — der Princeps der neuplatonischen Philosophie, Marsilius Ficinus, sein Meister. Obgleich Celtis sein ganzes Leben lang seine italienischen Jahre als nebensächlich behandelte, wurden ihm doch zweifellos unter dem Einfluß so hervorragender Lehrer die Gundlagen des humanistischen Weltbildes vermittelt. Neben der ideologischen Einwirkung wird auch die praktische Anregung nicht gefehlt haben. In der römischen Schule des Pomponius Laetus lernte er ein Beispiel von Wissenschaftsorganisation kennen. Allen Anzeichen nach ließ der Aufbau der Academia Platónica den Plan Celtis', den er unter italienischem Einfluß schon früher gehegt haben mochte, nämlich eine ähnliche Gesellschaft in deutschen Landen zu gründen, zum Entschluß reifen. Dazu bewegte ihn außer persönlichem Ehrgeiz wohl auch Trotz wegen jener Kränkung, gegen die schon Janus Pannonius protestiert hatte: daß nämlich die italienischen Humanisten die „Ultramontanen", die nördlich der Alpen Lebenden, für Barbaren hielten,. Die Antwort Janus' auf diese Geringschätzung war ein Versuch, den italienischen Humanismus im „Norden", an der Donau, heimisch zu machen. Im Gegensatz dazu wünschte Celtis nicht, den Kampf durch die Verpflanzung des italienischen Humanismus zu führen; er wollte lediglich die Waffen der Italiener ausleihen (Sodalitas-Gründung), sich deren Gebrauch aneignen (indem er der Sodalitas einen internationalen Charakter gab), sonst aber einen selbständigen, „nördlichen" Humanismus entwickeln. Er war fest entschlossen, Germania zunächst zu einem Rivalen des stolzen Roms zu machen und später die Führung an sich zu reißen. 2 So steckte sich also Celtis kein geringeres Ziel, als die nördlichen „Barbaren" zusammenzufassen und mit ihnen ein humanistisches Zentrum zu organisieren. Er
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Litteraria Danubiana]. Budapest 1880. — Die Dissertation von Sándor Fógel: Celtis Konrád és a magyarországi humanisták (Konrad Celtis und die ungarländischen Humanisten]. Budapest 1916, behandelt die Frage von Celtis' Leben und Schaffen, wobei alle Angaben über ungarische Beziehungen im wesentlichen aus den Ermittlungen Abels übernommen sind. Vgl. Slechtas Brief, bei Abel a. a. O. S. 120 — Zitiert bei Péter Klimes: Bécs és a Magyar humanizmus [Wien und der ungarische Humanismus]. Budapest 1934 S.47—48.
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ging von der historisch richtigen Erkenntnis aus, daß sich die humanistische Kultur Europas bereits in eine südliche und eine nördliche Richtung des Humanismus polarisiert hatte, und als Angehöriger der bürgerlichen Klasse hatte er richtig wahrgenommen, daß die Konzeption der Gründung einer Sodalitas, die er in sich trug und für die er Anhänger warb, in der neuzeitlichen Gesellschaft zweifellos eine reale Basis hatte. Das deutsche Bürgertum nahm die modernen, die Scholastik überwindenden Ideen bereitwillig auf, um so mehr, als die Gedankenwelt des deutschen Humanismus, die sich von der italienischen mehr und mehr entfernte, bereits die Keime des bürgerlichen Nationalgedankens in sich barg. Es besteht kein Zweifel, daß schon die bloße Tatsache der Gründung ein Ausdruck dieser Absicht war. Damit setzte ein langer Prozeß ein, an dessen Anfang Celtis stand und der dann von Collimitius, Beatus Rhenanus und anderen Humanisten fortgeführt wurde. Das wissenschaftliche Programm Konrad Celtis' leistete allen diesen nationalen Bestrebungen nachhaltig Vorschub; in diesem Sinne ist das große Werk aus dem Jahr 1495, die „Illustrata Germania", zu werten, ebenso die Herausgabe vonTacitus' „Germania" und der Dramen der Hrotsvita im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Den Abschluß der Reihe bildete die nie verwirklichte Sodalitas Litteraria per Universum Germaniam. Neben wissenschaftlicher Arbeit löste Celtis auch praktische Aufgaben. Mit unerschöpflicher Energie organisierte er die deutschen platonischen Akademien. Bereits 1495 hatte er die Sodalitas Litteraria in Heideibergins Leben gerufen, ein Jahr später die Sodalitas Litteraria Augustana und 1497 die Sodalitas Litteraria Rhenana. Zu den Mitgliedern dieser Gesellschaften gehörten überwiegend Deutsche: hochgestellte Kleriker, Diplomaten, Gelehrte und Professoren, gebildete städtische Bürger, aber auch wandernde Humanisten aus dem In- und Ausland. So gemischt auch die Zusammensetzung der Mitglieder war, die Linie ihrer Tätigkeit erwies sich als gerade: Sie war auf die Verbreitung des mit bürgerlichem Humanismus gepaarten deutschen Nationalgedankens ausgerichtet. Der humanistisch gebildete Kaiser Maximilian I. hätte keine geeignetere Ideologie zur Untermauerung seiner politischen Doktrinen finden können und keinen besseren Propagandisten als Celtis. Die Theorie von einem besonderen deutschen Gebiet der humanistischen Gelehrsamkeit verband der Kaiser gern mit seinen Regierungsprinzipien und zog den Spiritus rector an seinen Hof. Im Frühjahr 1497 berief Maximilian den Ingolstädter Professor an die Wiener Universität. Damit trat nicht nur in Celtis' Laufbahn eine Wende ein, sondern auch in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Damals tat er nämlich den ersten Schritt zur Internationalisierung der Sodalitäten. Schon im Sommer 1497 reiste er nach Buda (Ofen). Der vom Wiener und Krakauer Geist erfüllte Celtis wurde in der deutsch-ungarisch und deutsch-polnisch orientierten ungarischen Hauptstadt freundlich aufgenommen, so auch am königlichen Hof und in der Kanzlei. Er konnte also, nicht nur ohne jedes Hindernis, sondern geradezu gefördert von den Humanisten am Hofe, das Ofener Contubernium der Wiener Sodalitas gründen. Das großzügige germanozentrische Programm begann sich zu verwirklichen. Nach den
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deutschen Gesellschaften trat nun auch Ungarn diesem wissenschaftlichen System bei. Überdies bedeutete der Anschluß der Diplomaten der in Ofen wirkenden böhmischen Kanzlei auch die Einbeziehung der böhmisch-mährischen Humanisten. Auf Grund ihrer fortgeschrittenen bürgerlichen Entwicklung griffen Böhmens Humanisten die Bestrebungen Celtis' gern auf; ganz in ihrem Sinne war, daß das humanistische Wien sich nun in so starkem Maße nach Nord und Ost, auf Ofen, Olmütz, Brünn und Krakau orientierte. Auch mit den polnischen Humanisten unterhielt Celtis gute Beziehungen; nur auf einen engeren Kontakt mit Italien legte er keinen Wert. Von der Zusammensetzung der Ofener Organisation der Sodalitas Litteraria Danubiana können wir uns nur auf Grund gewisser Hypothesen einen Begriff machen. Die Frage, wer die Mitglieder der Sodalitas waren, ist von der Frage zu trennen, was sie als solche hervorbrachten. Nach Celtis war nämlich jeder Mitglied der Sodalitas, der mit ihm in Briefwechsel stand. Es ist aber fraglich, wieweit man das literarische Schaffen der einzelnen Mitglieder als kollektives Ergebnis der Sodalitas betrachten kann. Die literarischen Werke sind zahlenmäßig nicht bedeutend und literarisch auch nicht besonders hochstehend; immerhin haben sie als Quellenmaterial einen Wert. Die verschiedenen Briefe, Begrüßungsgedichte und die in den Texten enthaltenen Hinweise liefern viele wertvolle Angaben über die Zusammensetzung der Gesellschaft und ihre Tätigkeit, Grund genug, diese Dokumente im Auge zu behalten. Besonders bemerkenwert ist die Applausus-Sammlimg, die Celtis als Professor an der Universität feiern sollte (1497). Die Verfasser der Epigramme sind erwiesenermaßen Mitglieder der Sodalitas. Die Liste — ergänzt durch andere authentische Dokumente — läßt sich wie folgt zusammenstellen: Augustinus Olomucensis Moravus, Kanzleisekretär, Propst von Olmütz und Brünn; Hieronymus Baibus, Universitätsprofessor in Wien, ein wandernder italienischer Humanist; Julius Milius, Hofarzt; Georg Neideck, Kanzleisekretär, ein österreichischer Humanist; Jan Slechta, Beamter der böhmischen Kanzlei, ein Humanist von hervorragender Bildung; Valentinus Kraus, Lehrer aus Kronstadt, ein siebenbürgerisch-sächsischer Humanist; Joseph Wel, Pfarrer von Preßburg; Jakob Piso, ein Diplomat des ungarischen Königs Uläszlö (Wladislaw) II., Propst von Fünfkirchen (Pees); Janos Vitez d. J., Bischof von Veszprem, Sekretär der Gesellschaft. Im Verzeichnis sind nur diejenigen ungarischen Humanisten angeführt, die als Mitglieder mit Gewißheit in Betracht gezogen werden können. Wie unsicher die Auswahl der Mitglieder indessen war, geht schon daraus hervor, daß der Tscheche Slechta natürlich als Mitglied der Ofener Sodalitas figuriert, Bohuslaw Lobkowicz von Hassenstein dagegen nicht, obgleich gerade er 1502 und 1503 ein sehr aktives Mitglied der Ofener Gesellschaft war und auch seine früheren, inzwischen unterbrochenen Beziehungen zu Celtis wieder aufnahm. Solche Tatsachen mahnen zurVorsicht. Es ist zwar möglich, daß die Liste unter Umständen erweitert werden kann; denn auffallend ist immerhin, daß von den ungarischen Humanisten am königlichen Hof kaum einer vertreten ist. Dabei ist doch anzunehmen, daß die Gastgeber, die Ungarn, Interesse für die von der Sodalitas veranstalteten Symposien hatten. Und dennoch ist es nicht ihre Aktivität, sondern ihr Fernbleiben, was zu denken gibt.
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Das passive Verhalten der ungarischen Humanisten dieser Wiener Initiative gegenüber läßt sich vielleicht — wenn auch nicht ausschließlich — dadurch erklären, daß die Zielsetzungen der Sodalitas wohl dem unter bürgerlichen Verhältnissen blühenden deutschen Humanismus angemessen waren, nicht aber den Zuständen in Ungarn. Sowohl die königliche Kanzlei als auch die höchsten politischen Ämter wurden überwiegend noch von der Generation der Hunyadi-Zeit beherrscht. Sie hatte ihre humanistische Bildung an italienischen Universitäten erworben, ihre diplomatische Tätigkeit am italienisch orientierten Hof des Königs Matthias begonnen. Jetzt, unter dem Jagiello-König, waren sie hohe weltliche oder kirchliche Würdenträger, die am königlichen Hof oder in ihrer eigenen Residenz lebten und mit bürgerlichen Ansprüchen nichts gemein hatten. Als Ausnahme könnte Jänos Vitez d. J. gelten, der das dritte wichtige Mitglied der Sodalitas nach Celtis und Johannes Dalberg war. Aber der Fall Vitez liegt doch anders: Der Sekretär der Sodalitas Litteraria Danubiana war nicht nur Bischof von Veszprem, sondern auch Administrator der Wiener Diözese und lebte als solcher weder in Veszprem noch in Ofen, sondern ständig in Wien. Eine zweite Ursache weist auf ein charakteristisches neuzeitliches Problem hin: auf die nationale Einstellung der ungarischen Stände gegen Ende des 15. Jahrhunderts, die sich auf Grund der feudalen Hierarchie und nicht auf Grund der nationalen Abstammung gegenüber bürgerlichen Nicht-Ungarn abschlössen oder gegen sie auftraten. 3 Diese Ursachen könnten erklären, woher das Übergewicht der ausländischen Humanisten im Ofener Contubernium stammt: Die über Wien vermittelten deutschen bürgerlich-nationalen Bestrebungen stießen auf das ungarische ständische Nationalgefühl. Andererseits erweckte das von Celtis geförderte Abrücken von den Italienern den Widerwillen nicht nur der älteren, noch aus der Hunyadi-Zeit stammenden Generation, sondern auch der jüngeren, auf die die norditalienischen Universitäten, vor allem Bologna, eine starke Anziehungskraft ausübten. 4 Ein dritter Grund war das Fehlen einer ungarischen Universität und eines von ihr ausstrahlenden geistigen Lebens. Es ist kein Zufall, daß Celtis lebensfähige Sodalitates nur in Universitätsstädten zustande bringen konnte, und daraus läßt sich auch die Labilität der Ofener humanistischen Gesellschaft erklären. Für das Fußfassen der Sodalitas Litteraria Danubiana in Ofen bot die Verschiedenheit der deutschen und der ungarischen gesellschaftlichen Entwicklung keine günstigen Bedingungen. So vermochten die im Geiste Celtis' und seines Programms in Ungarn 1497 vereinigten Humanisten das ungarische literarische Leben der Jahrhundertwende hauptsächlich nur auf geistig-ideologischem Gebiet zu bereichern, leider aber keine fertigen Werke hervorzubringen. 3
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Tibor Klaniczay: A nacionalizmus elözmenyei a magyar irodalomban [Vorgeschichte des Nationalismus in der ungarischen Literatur], A Magyar Tudomänyos Akademia Nyelves Irodalomtudomänyi Osztälyänak Közlemenyei [Mitteilungen der Klasse für Sprache und Literaturwissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften], Bd. XVI Budapest 1960 S. 1 1 - 1 2 . Raban Gerezdi: Bologna es a magyar humanizmus [Bologna und der ungarische Humanismus]. Irodalomtörtenet [Literaturgeschichte], Jg. 29 (1940) S. 146—158.
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Der humanistische Charakter der Sodalitas bestimmte ihren historischen Platz in der Reihe der fortschrittlichen Tendenzen des ungarischen geistigen Lebens der Zeit. In Ungarn waren die Bastionen der mittelalterlichen Theologen stärker als im Deutschland der Renaissancezeit. So ging von der energischen HumanistenPersönlichkeit eines Celtis, der ideologischen Ausstrahlung der Sodalitas, ihrem freieren Denken und von anderen charakteristischen Merkmalen, die später noch etwas eingehender besprochen werden, ein in jeder Hinsicht günstiger Einfluß auf das entwicklungsbedürftige ungarische geistige Leben aus. In der Dichtung Celtis' und seines Kreises kamen, ähnlich wie früher bei Janus Pannonius, bereits vor der Aufnahme von Beziehungen zu Ungarn antiklerikale Neigungen zum Ausdruck. Augustinus Olomucensis aus Celtis' Freundeskreis schrieb sogar ein Gedicht gegen den Papst. Eine üppige Liebeslyrik gewann in Celtis' Kreise Bürgerrecht, er selbst und Baibus traten mit einer ganzen Reihe erotischer Gedichte hervor (ähnlich wie früher Janus Pannonius in Italien). All dies wirkte sich positiv auf das Literaturleben in Ungarn um die Jahrhundertwende aus. Wieweit der Einfluß Celtis' und der Einfluß seines Kreises ins allgemeine Bewußtsein einging, geht daraus hervor, daß die humanistische Kultur der Jagiellonenzeit immer mehr in die Schichten des mittleren Adels und der mittleren Kleriker eindrang, die nicht mehr in Italien, sondern in Wien und Krakau ihre Universitätsbildung erwarben. Das lebhafte Interesse, das Celtis, die Sodalitas und mit ihr das Ofener Contubernium Plato entgegenbrachten, war von großer Bedeutung für den Kampf gegen die mittelalterliche Scholastik. Hat es eine Verbindung zwischen den ungarischen Humanisten und der Sodalitas gegeben, — was nicht bezweifelt werden kann —, so war eins der Verbindungsglieder sicherlich der Neuplatonismus. Diese Philosophie war eine Begleiterscheinung und auch der Träger der modernen Bildung. In Ungarn war sie sogar noch mehr als das. Der Neuplatonismus drang bereits um 1460 — dies war die fortschrittliche Periode des Ficinus — nach Ungarn ein, und Janus Pannonius und seine Studienkollegen aus der Heimat waren die Vermittler. Diese Lehre erfüllte auf Grund ihres Antiklerikalismus und ihrer kämpferischen Tendenz gegen die Türken, die Byzanz genommen hatten, eine wichtige Funktion in dem von den Türken gefährdeten Ungarn unter den Hunyadis und machte auf die führenden Humanisten tiefen Eindruck. Ein Zeichen des großen Inte Besses ist auch, daß in die Corviniana des Königs Matthias die Werke des Philosophen Plato aufgenommen wurden und eine ständige Verbindung zwischen Florenz, Ofen und den Humanisten der Generation des Janus und des Ficinus aufrechterhalten wurde. Dreißig Jahre später bestand die Verbindung immer noch. Um 1490 kam Baptista Guarinus auf Einladung von Péter Garâzda, einem Verwandten des Janus Pannonius, nach Ofen und vielleicht auch nach Gran. Celtis und die Humanisten der Sodalitas vertraten diesen Neuplatonismus nicht. Ficinus hatte nämlich etwa 1470 seine Lehre in vieler Hinsicht abgeschwächt und sie mit den Dogmen der Theologie zu vereinbaren versucht. Dadurch büßte sie gerade ihre wichtigsten Kriterien ein. Der Wunsch nach einem Kompromiß 4 Deutsch-ungarische Beziehungen
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entstand im Kreise des Bürgertums, das mit dem Feudalismus in einer Art Symbiose lebte, in Italien ebenso wie in Celtis' Heimat. Auf dem Wege zur Renaissance, war man dagegen dem neuplatonischen Geist weniger zugänglich. Das ist durchaus verständlich: In dieser Beziehung wurde der Platz des Bürgertums von einer schmalen Schicht des Hochadels und des Klerus eingenommen, die weder gesellschaftlich noch ideologisch imstande war, außer der humanistischen Bildung und der Renaissance-Philosophie auch einer tiefergreifenden bürgerlichen Entwicklung Verständnis entgegenzubringen. In ideologischen Fragen überhaupt verhielt sich die führende Schicht schroff ablehnend, sobald sie deren Klassenursprung erahnte. Sie hielt an den früheren neuplatonischen Ideen fest — allerdings wurde die Türkengefahr unter den Jagiellonen nicht geringer als im Zeitalter der Hunyadis. Sie pflegte die italienischen Beziehungen und war nicht geneigt, ihr Augenmerk statt auf Florenz auf Wien, statt auf Ficinus auf Celtis zu richten. Nicht weniger wichtig f ü r die ungarische Literaturgeschichte ist neben den neuplatonischen Beziehungen die Stellung der Humanisten der Jagiellonenzeit gegenüber Erasmus. Mehrere Mitglieder der Gesellschaft, unter den in Ungarn wohnenden Jan Slechta, standen mit dem Praeceptor Germaniae in Briefwechsel; und es ist anzunehmen, daß außer Ursinus Velius auch Slechta daran Anteil hatte, daß im Anschluß an die Begegnung in Rom die Korrespondenz des ersten unter den Ungarn, des humanistischen Dichters Jakob Piso, mit Erasmus begann. Das Zusammentreffen des Princeps der europäischen Humanisten mit den Ungarn bildet ein besonderes Kapitel in der Geschichte der ungarischen Literatur. Den ersten, wenn auch zaghaften Schritt dazu tat am Anfang des 16. Jahrhunderts jener Piso, der Mitglied der mit Erasmus in Verbindung stehenden Sodalitas war. Das Ofener Contubernium bestand aus gelehrten Humanisten und gebildeten Mäzenen. Ein Schriftsteller von Rang fand sich nicht unter ihnen; so ist auch aus ihrer Gemeinschaft außer der bereits erwähnten Epigrammsammlung kein Werk hervorgegangen, das allein diese Gesellschaft hätte hervorbringen können. Um so interessanter sind die von der Sodalitas veranstalteten Ausgaben, von denen gewisse verborgene Fäden sogar zur ungarischen Literatur führen. „De Mundo" von Apuleius ist von allgemeinem Interesse, ein Dokument der Schwärmerei für den Neuplatonismus. Das Drama „Ludus Dianae" von Celtis kann als ein Vorläufer der humanistischen Dramen in lateinischer Sprache angesehen werden, die nicht viel später auch in Ungarn erscheinen (Bartholomaeus Francfordinus Pannonius: „Gryllus" und „Dialogus inter Vigilantiam et Torporem"). Dem Anschein nach besteht nur eine lockere Verbindung dieser Folge mit der letzten Ausgabe der Sodalitas; der Sammlung „Melopoeiae" des Petrus Tritonius, die 1507 erschien. Diese Wiener Tritonius-Ausgabe sollte den gregorianischen Choral durch die von humanistischem Geist durchsetzte Renaissance-Melodik ersetzen. Hier ergibt sich eine überraschende Beziehung zur ungarischen Literaturgeschichte: Eine ganze Reihe von Melodien und Chorsätzen gelangten von hier in die Odensammlung des Kronstädter Reformators und Buchdruckers Johann Hontems,
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eines siebenbürgischen Sachsen, das erste Werk mit Noten, das im Königreich Ungarn gedruckt wurde (1548). Vieles davon wurde dann, indem es eine akzentuierende Form erhielt, in den Melodienschatz der ungarischen protestantischen und auch katholischen Psalmen übernommen. 5 Durch diese zwei Vermittler drang die sapphische Sprache sogar in die ungarischen Volkslieder ein. So verband sich allmählich das humanistische Latein der Melopoeiae mit der ungarisch gewordenen Gesangdichtung. Zusammenfassend sei festgestellt, daß das in Ofen tätige Contubernium der Sodalitas Litteraria Danubiana vermöge seiner gesellschaftlichen Grundlage und seines ideologischen Programms in Ungarn keine tiefen Wurzeln fassen konnte; zur Entwicklung des ungarischen geistigen Lebens in der Renaissance-Zeit hat jedoch die Sodalitas in vielem und tiefgreifend — in literaturhistorischer Hinsicht nur indirekt — nutzbringend beigetragen. 0
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Bence Szabolcsi: A magyar zenetörtenet kezikönyve [Handbuch der ungarischen Musikgeschichte]. Budapest 1955 2 S. 19.
ISTVÂN BOBZSÂK, DEBRECEN
Zur Frage der Rezeption Melanchthons in Ungarn
Dem zweiten internationalen Kongreß der Lutherforschung (Münster, 8. bis 13. August 1960) wurde ein zusammenfassendes Referat über die MelanchthonForschung in Ungarn vorgelegt. 1 Der Referent betonte jedoch in der Einleitung, daß in Ungarn keine spezielle Melanchthon-Forschung betrieben werde: „Ich muß feststellen, daß es eine solche im Sinne des Wortes nicht gibt. Alle Ergebnisse sind als Nebenprodukte anderer Forschungen zustande gekommen." 2 In der weiteren Folge sprach er — im Zusammenhang mit einer bahnbrechenden ungarischen Péter-Bornemisza-Monographie 3 — von dem ungeahnten Eifer „außerkirchlicher Literaturhistoriker", denen in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Aufsätzen und Büchern über Péter Bornemisza, diesen vortrefflichen ungarischen humanistischen Autor und Schüler Melanchthons, zu verdanken seien. Doch handle es sich in diesen Aufsätzen und Büchern „natürlich nur um kulturgeschichtliches Interesse" und um Beiträge zur Geschichte des Humanismus. 4 Obgleich wir die Worte des erwähnten Referenten keineswegs als Tadel empfinden, möchten wir von vornherein feststellen, daß auch wir uns in unserer zusammenfassenden Übersicht nicht auf das Hoheitsgebiet der Theologie zu wagen gedenken. Allerdings sind wir uns dessen bewußt, daß eine Untersuchung des Melanchthonschen Humanismus den Theologen ebensowenig ausschließen kann, wie eine Würdigung seiner theologischen Leistungen den Humanisten übersehen darf. Hier sei noch eine andere repräsentative Publikation aus Anlaß des vierhundertsten Todestages des großen Präzeptors angeführt: der von Walter Elliger herausgegebene Sammelband. 5 Darin äußert Peter Fraenkel in einer Übersicht über die Melanchthon-Forschung der letzten anderthalb Jahrzehnte den Wunsch nach 1
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Jenö Sölyom: Melanchthonforschung in Ungarn. In: Luther und Melanchthon. Referate und Berichte. Herausgegeben v. V. Vajta. Göttingen 1961 S. 178—188. Ebenda S. 178. Tibor Schulek: Bornemisza Péter (1535—1584). A XVI. szâzadi magyar mûvelôdés és lelkiség tôrténetébô'l [Aus der Gesohichte der ungarischen Bildung und Mentalität im 16. Jahrhundert], Sopron-Budapest-Gyor 1939. Jenö Sölyom a. a. 0. (s. Anm. 1) S. 181. Philipp Melanchthon. Forschungsbeiträge zur 400. Wiederkehr seines Todestages, dargeboten in Wittenberg 1960. Göttingen 1961.
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einer systematischen Erarbeitung der über Deutschland hinausreichenden Beziehungen Melanchthons und weist auf die Notwendigkeit hin, außer dem englischen und französischen Material „nicht zum mindesten auch die Literatur im slawischen Sprachbereich" in die Forschung einzubeziehen.6 Diesem Wunsche nachzukommen ist natürlich die Aufgabe der polnischen7, tschechischen und slowakischen Forscherkollegen. Wir unsererseits erachten es als unsere Pflicht, die Rezeption Melanchthons in Ungarn zu erforschen. Den ganzen Stoff zu bearbeiten, ist eine Aufgabe, die Jahre in Anspruch nehmen würde. Einstweilen können wir nur versprechen, einige Teile dieses gewaltigen, farbenreichen Bildes sichtbar zu machen. Allerdings ist auch die von Deutschland gelieferte Grundlage mangelhaft: Die wohlbekannten Mängel der Bände des „Corpus Reformatorum" kann weder die unvollständige Folge „Supplementa Melanchthoniana" noch Robert Stupperichs „Studienausgabe" (Melanchthons Werkein Auswahl, I.—IV. Gütersloh 1951—60) beheben. Das von Karl Hartfelder gegebene Versprechen wiederum (er wollte die Geschichte von Melanchthons Einfluß schreiben)8 läßt seit fünfundsiebzig Jahren auf seine Einlösung warten. Auf jeden Fall ist also P. Fraenkels Feststellung begründet, mit der er in seiner Arbeit den Abschnitt „Melanchthon als Humanist" abschließt: Eine gründliche Auffrischung oder Ergänzung von Hartfelders Buch sei erwünscht, und dazu sei auch eine entsprechende Würdigung von Melanchthons Klassiker-Ausgaben und Erklärungen vonnöten.9 Unsere Skizze möchte zu diesem im ganzen nicht leicht zugänglichen Thema einige Beiträge aus Ungarn liefern. Die Autoren, die über die Anfänge der Laufbahn Melanchthons schrieben — von Johannes Camerarius bis Stupperich — berufen sich alle auf seinen Lehrer, einen gewissen Johannes Hungarus, der das ihm anvertraute Knäblein im Haus seines Großvaters mütterlicherseits in Bretten an Hand des Lehrbuches von Baptista Mantuanus mit guten Worten und mit orbilianischer Rute zum „Grammaticus" erzog. Bekannt ist auch, wie liebevoll Melanchthon selbst seines braven Lehrers gedachte (CR XXVIII Ann. ad a. 1508), der ihn der Grammatik „zutrieb", keine Nachlässigkeit duldete und ihn, wenn er Fehler beging, verprügelte; doch tat er das mit entsprechender „ Maßhaltung". So machte er aus ihm einen Grammaticus: „ Ita me 6 7
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Ebenda S. 13. Vgl. O. Bartels Referat: Luther und Melanchthon in Polen. In: Luther und Melanchthon (s. Anm. 1) S. 165—177. Übrigens kann die ungarische Humanismus-Forschung ohne Kenntnis der Ergebnisse der polnischen Forschung sowieso nicht bestehen, was natürlich auch umgekehrt gilt. In bezug auf Melanchthon verweisen wir hier in erster Linie auf die Monographie von Jänos Baläzs: Sylvester Jänos es kora [Jänos Sylvester und seine Zeit]. Budapest 1958. Aus der neuesten Literatur s. Endre Koväcs: Melanchthon und Ungarn. In: Philipp Melanchthon 1497—1560. Humanist, Reformator, Praeceptor Germania«. Bd. I Berlin 1963 S. 261—269. Karl Hartfelder: Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. Monumenta Germamae Paedagogica Nr. 7. Berlin 1889 S. 552. Fraenkel a. a. 0 . (s. Anm. 5) S. 28.
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I. Borzsäk
fecit grammaticum. Erat vir optimus, dilexit me ut filium, et ego eum utpatrem." 10 Johannes Hungarus war später als Prediger in Pforzheim tätig (Camerarius, vita Mel. c. II). Melanchthon gedachte seiner stets in Liebe und Hochachtung (CR X 190; vgl. IV 715); er hatte den Namen „Ungarns" an einen Balken seiner Stube geschrieben, damit er stets an seinen einstigen Lehrer erinnert werde.11 Melanchthons Lehrer könnte dem Namen nach ein Ungar gewesen sein, doch sind uns nähere Angaben über seine Abstammung nicht bekannt. Alles, was über seine Person in der älteren Literatur zu lesen ist 12 , bedeutet nur ein Rätselraten, das sich auf zwei Momente konzentriert. Man hielt es erstens für unvorstellbar, daß die glänzende Zeit des Matthias Corvinus so spurlos erloschen sein könnte und suchte deshalb einen Zusammenhang zwischen dem verkümmernden ungarischen und dem mit Reuchlins, Camerarius' und Melanchthons Wirken aufblühenden deutschen Humanismus. Zweitens suchte man eine Erklärung für die tatsächlich auffallende Sympathie Melanchthons für Ungarn und meinte, deren Ursprung in Kindheitserinnerungen, in der Vergeltung für die Sorge seines einstigen „ungarischen" Lehrers entdecken zu können. Hier sei eine alte Streitfrage der ungarischen Wissenschaftsgeschichte erwähnt: ob die beiden Freunde und Mitarbeiter Melanchthons, Simon Grynaeus und Vitus Winshemius, in Buda tätig gewesen sind oder nicht. Nach einer festen ungarländischen Überlieferung mußten sie beide „für ihre Hinneigung zu Luthers Auffassung Ungarn verlassen". 13 Diese Angabe findet man bei fizsaias Budai, der sich auf Johannes Ribinis „Memorabilia ecclesiae Aug. confessionis in regno Hungariae" beruft. 14 Ribini aber beruft sich seinerseits auf das „Hypomnema" des Bartfelder Severinus Sculteti15, wo folgendes zu lesen ist: „Scribit quodam in loco D. Thomas Faber piae memoria« successor D. Leonhardii Stockeli in Ludirectorato Bartphensi 10
Corpus reformatorum. Edidit Carolus Gottlieb Bretschneider, Henricus Ernestus Bindseil. Vol. I-XXVIII Halis Saxonum-Brunsvigae 1834-1860. Künftig: CR I-XXVIII. Hier: CR XXVIII Ann. ad a. 1508: „Ille adegit me ad grammaticam . . . Nihil patiebatur me omittere; quoties errabam, dabat piagas mihi, et tarnen ea moderatione, quae erat conveniens" etc. 11 Robert Stupperich: Melanchthon. Sammlung Göschen Nr. 1190. Berlin 1960 S. 17; vgl. auch Hartfelder a. a. O. (s. Anm. 8) S. 4, 5. 12 Z.B.Jonathan Haberern: Melanchthon Fülöp. [Philipp M.]. Pest 1860 S. 6; ebenso Läszlö Stromp: Praeceptor Germania«. Protestäns Szemle [Protestantische Rundschau]. Jg. 9 (1897) S. 80. — Vilmos Fraknöi: Melanchthons Beziehungen zu Ungarn. Budapest 1874 S. 6. Doch auch noch in der Schrift von Mihäly Bucsay: Melanchthon a reformätor [Melanchthon als Reformator], Reformätus Egyhäz [Reformierte Kirche]. Bd. II (1960) S. 34 lesen wir, Melanchthon habe durch die Förderung seiner Studenten und die unermüdliche Unterstützung der protestantischen Kirche Ungarns „mit Zinseszinsen unserem Volk vergolten, was er von ihm, nämlich durch Johannes Hungarus, bekam". a iSzsaiäs Budai: Magyarorszig histöriäja a mohätsi veszedelemtöl fogva Buda visszaveteleig [Ungarns Geschichte von der Mohäcser Katastrophe (1526) bis zur Zurück eroberung Budas], Debrecen 1814 2 S. 74. 14 Bd. I Posonii 1787 Anm. 4/a. 15 Bartphae 1599 S. 1 7 - 1 9 .
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et Praeceptor noster charissimus, quod andient ex senibus fide dignis adhuc sub Ludovico II. rege Ungariae circa annum Chr. 1525 Budae coepisse doceri Evangelium, sed inde pulsos esse Evangelii professores, inter quos et Simon Grynaeus et Vitus Winshemius viri excellenter docti, qui Scholae Budensis et fortassis etiam Bibliothecae relictae ibidem a Matthia rege praefecti fuerant, relicta Ungaria redierunt in Germaniam, factusque est Grynaeus Philosophiae Professor Basileae, Vitus autem Professor linguae Graecae Wittenberga«. Haec Thomas Faber." Sculteti berichtet also, Thomas Faber, der Nachfolger des Bartfelder Melanchthonschülers Leonhard Stockei, habe gehört, in Buda hätten S. Grynaeus und V. Winshemius um 1525 die Ideen der Reformation zu verbreiten begonnen; die beiden sollen nach Fabers glaubwürdigen Gewährsleuten Präfekten der Schule von Buda und der Bibliothek des Königs Matthias Corvinus gewesen sein und nach ihrer Heimkehr aus Ungarn in Basel und Wittenberg gewirkt haben. Ungefähr dieselben Angaben sind auch bei den Autoren des 17. bis 19. Jahrhunderts zu finden, allenfalls um weitere Personen (Joh. Lange, Conr. Cordatus) und Einzelheiten (z. B. die Einkerkerung des Grynaeus und die Vermittlung des ungarischen Adels oder gar der Königin Maria) erweitert. Bei Ferenc Toldy 1 6 wird aus den Fährnissen der „Academia Corviniana" schon ein ganzer Roman, während ausländische Handbücher höchstens vom „ Schulrektorat" des Grynaeus ii> Buda wissen. Ihre Eigenschaft als Präfekten der Bibliothek ist bestimmt eine ungarische Erfindung: Die deutschen Humanisten, die, aus Wien kommend, vielleicht auch nach Buda verschlagen wurden, dürften in der verwaisten Matthias-Bibliothek nicht mehr zu suchen gehabt haben als Jak. Spiegel 17 oder Cuspinianus und die anderen. Fest steht, daß Grynaeus — ein um vier Jahre älterer Studiengenosse Melanchthons in Pforzheim — im Album der Wittenberger Universität am 17. April 1523 als „Magister Wiennen/-sis/" angeführt ist, ein Jahr später jedoch schon als Heidelberger Professor mit Melanchthon zusammenkommt. (CR I 656). Der 1501 geborene Winshemius (Vitus Oertel de Wintzen Herbi. di.) wurde ebenfalls im Sommer 1523 in Wittenberg immatrikuliert, doch bei Jöcher heißt es 1 8 , sein gleichnamiger Sohn sei schon 1521 in Wittenberg geboren. Aus den vielen indirekten Daten geht zumeist nur die Tendenz der früheren Forschung hervor: Die Protestanten suchten möglichst frühe, direkte Beziehungen zwischen dem Wittenberger (bzw. Baseler) Zentrum der Reformation und Ungarn zu konstruieren, während die Katholiken diese Behauptungen zu widerlegen suchten. Dazu kam dann noch die Verherrlichung der Matthias-Zeit in Ungarn und die gesteigerte Bedeutung, die man der „Academia Corviniana" noch in den Jahren nach 1520 zumutete. Wer Melanchthons Beziehungen zu Ungarn erforschen will, kann sich mit dem Material des CR nicht zufriedengeben. Darüber ging bereits in den Jahren nach 16
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Ferenc Toldy: A magyar nemzeti irodalom törtenete [Geschichte der ungarischen Nationalliteratur]. Bd. II Pest 1851 S. 23. Vgl. I. Borzsäk: Die Tacitus-Handschriften der Bibliotheca Corviniana. In: Az Egyetemi Könyvtär ßvkönyve [Jahrbuch der Universitätsbibliothek Budapest]. Bd. I (1962) S. 142. Allg. Gelehrten Lexikon. Bd. IV Leipzig 1715 S. 1657.
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1870 Vilmos Fraknöi (Frankl) hinaus, als er in seinen Abhandlungen über das ungarische Schulwesen im 16. Jahrhundert und über die Ausbildung der Söhne des ungarischen Magnaten Ferenc Révay (Réwai) usw. einschlägige Dokumente aus ungarischen und ausländischen Archiven, die Korrespondenz zahlreicher ungarischer Schüler Melanchthons, anführte. Als ein Ergebnis der pädagogischen Tätigkeit Melanchthons ist auch die Art und Weise anzusehen, wie einer seiner hervorragendsten Schüler, der Bartfelder L. Stockei 19 , das in Wittenberg Gelernte in seiner pädagogischen Praxis verwertete. Dieser bemühte sich darum, die Aufmerksamkeit auf die Türkenfrage zu richten20, und ließ von seinem Zögling, dem jungen Révay, einen ungarischen Dialog über Ungarns bedauernswerten Zustand und die Besetzung Budas (de miserrimo statu Hungariae et de occupatione Budae) ins Lateinische übersetzen. Die schülerhaften Wendungen der lateinischen Epistel 2 1 widerspiegeln indirekt die Sorge und die Anteilnahme des Wittenberger Präzeptors an Ungarns Schicksal: „Quein hae res non magno dolore afficerent, aut quis earum oblivisci posset? Quod si qui faciunt, eos puto esse duriores quovis saxo et trunco, qui hanc miseriam deplorarent, si quid sentirent, quales multi lapides et trunci reperiuntur, qui nihil afficiuntur communibus malis, quidquid accidat in regno." 2 2 In einem anderen Brief (12. November 1542) teilt Stockei Ferenc Révay, dem Vater seiner Zöglinge, Melanchthons Stellungnahme zur Frage der Beibehaltung der katholischen Zeremonien mit und zitiert diesen wörtlich: „Gaudeo Marchionis librum a te transferri, propter vestras ecclesias. Nam doctrina in eo recte traditur et cum nostris ecclesiis congruit. Caeremonias autem humanas aliquant» plures aut studiosius retinet, quam opus est. Sed has ineptias ferendas esse putavimus, quas quidem tempus ipsum emendat. "23 (Melanchthon erklärte also gewisse Zeremonien für indifferent und überließ ihre Regelung der Zeit.) Melanchthons Brief an Stockei interessiert uns nicht in theologischer Hinsicht, sondern wegen des Schlußsatzes, der an jene „politica quaestio" erinnert, von der es im Nachwort Péter Bornemiszas, zu seiner ungarischen Um- und Nachdichtung der 19
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Dieser „communis Ungariae praeceptor" hielt sich von 1530—38 in Melanchthons Umgebung auf; vgl. V. Frankl: A hazai és külföldi iskolâzâs a XVI. szâzadban [Das Schulwesen im In- und Ausland im 16. Jahrhundert], Budapest 1873 S. 70. Vgl. die einschlägigen Kapitel von Melanchthons Rhetorica. Wittenberg 1542. In CR XIII S. 445; ferner: CR XX S. 4 3 3 - 4 7 2 . - Hartfelder a. a. 0. (s. Anm. 8) S. 299. I. Borzsâk: Az antikvitâs XVI. szâzadi képe [Das Bild der Antike im 16. Jahrhundert], Budapest 1960 S. 96, 122. Den Brief vom 22. Aug. 1543 s. bei V. Frankl: Réwai Ferenc fiainak iskolâztatâsa [Die Ausbildung der Söhne Ferenc Réwais]. Pest 1873 S. 38. Vgl. den Brief Mâtyâs Dévai-Birôs vom 8. Marx 1542 an Ferenc Révay; DévaiBirö war Ende 1541 nach Wittenberg geflohen und wurde von Melanchthon aufgenommen. In seinem Brief beweint er Ungarns Untergang. Nur das Mitleid, das ihm Melanchthon entgegenbrachte, milderte seinen Schmerz: „Non est dies, quo cum Philippo non deploramus et huius et nostri regni miseram sortem." Zitiert bei Frankl a. a. O. (s. Anm. 21) S. 25. Frankl a. a. O. (s. Anm. 21) S. 61.
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sophokleischen Elektra (1558) heißt: „Utrum patria durissima Servitute oppressa tyrannis per vim resistendum sit, an vero calamitatum remedium eit mitigatio, quam ipsum tempus adfert, tutius expectanda sit?" Mit einer Melanchthon entlehnten Wendung empfiehlt also Bornemisza der unter türkischer Knechtschaft leidenden Bevölkerung des Landes die gleiche Taktik des trotzigen Ausharrens. Wir haben an anderer Stelle nachgewiesen 24 , daß das humanistische Nachwort zur Elektra-Übersetzung sowie zahllose klassische Zitate in Bornemiszas späteren Postillen beinahe Satz f ü r Satz den Formulierungen Melanchthons folgen. Bornemiszas Wiener Lehrmeister, Georg Tanner, der sein Testimonium über die in Wittenberg absolvierten Studien am 1. November 1546 von Melanchthon erhielt (CR VI 260—1), war derjenige, der Bornemisza zur Sophokles-Übersetzung anspornte. Tanner kannte also Melanchthons Elektra-Erläuterungen aus dem Jahre 1545 (CR XXVIII Ann. ad a. 1545) sowie sein Vorwort zu Camerarius' TerenzAusgabe (1545 CR V 567 ff.) aus erster Hand. Doch war Bornemisza später selbst Melanchthons Hörer; eine diesbezügliche Angabe hat Sândor Eckhardt in einem Volaterranus-Band der Graner Bibliothek entdeckt. 25 Von der Eintragung „Petrus Besnemus Hungarus" im Albuin der Wittenberger Universität vom 13. September 1559 haben wir festgestellt, daß sie sich auf Bornemisza bezog. 26 Beim Studium von Melanchthons Briefwechsel begegnet man häufig Wendungen wie: „narrat mihi hospes Pannonius" (CR IX 902), „ex Pannonia huc scribitur" (ebenda 903) u. dgl. m. Es lohnt, hier auch auf im CR nicht enthaltene Briefe von Melanchthons ungarischen Schülern hinzuweisen. 27 So beeilt sich zum Beispiel Andreas Batizi (immatrikuliert 19. März 1542), nach seiner Heimkehr (8. Dezember 1543) dem Auftrag nachzukommen, seinen Meister über die Lage in Ungarn „fleißig" zu informieren: „cum mihi discedenti a te diligentissime sit commissum, ut quidquid novarum rerum de Turcica tyrannide audiero, diligenter ad te perscriberem." 28 Er berichtet über die Lage der evangelisch-christlichen Brüder unter der türkischen Herrschaft, über die Zuvorkommenheit des Paschas von Buda und über die Beschämung der verleumderischen „Baalpriester", zugleich aber auch über die Verlogenheit und Grausamkeit der Türken. Noch ausführlicher als dieser ist der Brief L. Stöckels vom 25. August 1544, in dem er die Lage seiner Heimat mit Melanchthons Worten, „nidulo, undique saevissimis lupis cincto", als ein von 24 20
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Vgl. Anm. 19. Siehe die Ausgabe von Bornemisza: Ördögi Kisértetek [Teuflische Versuchungen] Budapest 1955 S. 233. Ebenda S. 93, Anm. 2.; vgl. Istvän Nemeskürty: Bornemisza Péter. Az ember és az irò [P. B. Der Mensch und der Schriftsteller], Budapest 1959 S. 71., bzw. Lajos Eötvös: Adalék Bornemisza Péter reformatorunk ismeretéhez [Beitrag zur Kenntnis unseres Reformators Péter Bornemisza], Protestâns Egyhâzi és Iskolai Lap [Protestantisches Kirch- und Schulblatt]. Jg. 10 (1867) S. 589. Vgl. E. Kovâcs a. a. 0. (s. Anm. 7) S. 266. Mitgeteilt von Jenô Zovânyi: Magyar Protestâns Egyhâztôrténet, Adattar [Ungarische Protestantische Kirchengeschichte, Angaben], Jg. 11 (1927) S. 52.
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blutrünstigen Wölfen umringtes Nest, charakterisiert und weiter ausführt: „Hinc regis impia mens, . . . hinc Turcica immanitas, hinc nobilitatis feritas, hinc civium odia extra et intra moenia nos petunt . . . " — alles Sünden und Erscheinungen, die dem Zusammenbruch von Reichen voranzugehen pflegen (quae regnorum eversionem anteire solent) . . . Diesen Brief schickt er durch einen Studenten, der aus dem von Türken besetzten Gebiet geflohen ist und für den er die Unterstützung des Meisters erbittet. In diesem „Greisenalter" der Kirche (haec tempora senescentis ecclesiae) beklagt auch Stockei mit den noch verbliebenen wenigen Freunden das „gemeinsame Elend" (deploro communes miserias); der Einladung nach Mansfeld kann er eben wegen der bedauernswerten Verwahrlosung der heimatlichen Kirche nicht nachkommen. Ähnlich schrieb Zsigmond Gyalui-Torda (Sigismundus Gelaeus oder Gelous, immatrikuliert 1539) an Camerarius über die heldenmütige Verteidigung der Festung Eger (23. Oktober 1552), an Melanchthon über die Ereignisse auf dem persischen Kriegsschauplatz und über die Wiedereinsetzung des Königs-Kindes Johann Siegmund (14. März 1555), an Lukäcs Egri (Lucas Agriensis, immatrikuliert 20. Juni 1552) über die Religionsverhandlungen in Polen und neuere Unternehmungen der Türken (9. April 1555). In seinem Brief vom 23. Januar 1557 berichtet Stockei bereits Melanchthon über die Lage, die sich nach der Wiedereinsetzung Johann Siegmunds und Isabellas ergab: „Transylvani..., dum Ferdinandi iugum excutiunt, inciderunt in Turcicum." Melanchthon verwertete die auf diese Weise ihm zugegangenen Informationen bei jeder möglichen Gelegenheit: in seinen Briefen, Reden, wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Universitätsvorlesungen. Auch bei der Interpretation klassischer Autoren nahm Melanchthon konsequent auf aktuelle politische Fragen Bezug. So empfiehlt er zum Beispiel seinen Hörern die „Hiketides" (Schutzflehenden) des Euripides (CR X 88), weil er die Aussage dieser Tragödie für aktuell hält (est apta his temporibus): eine Ermahnung zum notwendigen Zusammenstehen aller gegen die Türken. Sehr charakteristisch f ü r Melanchtons Interpretationsmethode mit Bezugnahme auf das Aktuelle ist sein Prolog in Versen zum „Rhesos" von Euripides (CR X 670 — XVIII 1141). Nach der Sage vergalt der Thraker Rhesos als treuer Verbündeter die ihm von Hektar geleistete Hilfe und eilte nach dem von den Griechen belagerten Troja, wo er den Tod fand. Melanchthon legt auch hier auf die tiefere moralische Lehre der Geschichte das Gewicht: Fände sich doch auch heute ein Verbündeter, den greulichen Feind aus Pannonien zu vertreiben! . . . Pannonias Rhesus pacavit vindice dextra, et socio praesens tunc tulit Hector opem. Nunc utinam mittant Rhesum, nunc Hectora divi, qui saevos Turcas inde fugare queant!
Auch zum „heroischen Ausspruch" des homerischen Hektar (II, XII 243) bemerkt er (CR XI 402), die jetzigen Fürsten sollten sich diesen zu Herzen nehmen, dann würden die Türken nicht ungestraft die christliche Welt behelligen. Wenn Me-
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lanchthon sich so äußerte, dann war das keine leere Phrase, sondern Ausdruck aufrichtigen Mitgefühls, der Erasmischen Solidarität. Als Beweis kann uns ein Brief aus dem Jahr 1545 dienen (CR V 741), in dem er abermals mit dem Beispiel Hektars und Rhesos' die deutschen Fürsten zur Hilfeleistung f ü r Ungarn anspornen möchte, allerdings vergebens: „Nos nunc ex vicinia otiosi Pannonicas caedes spectamus, cum quibus tot vinculis, societate religionis, sanguinis et imperii coniuncti sumus." Nehmen wir doch wenigstens die Flüchtlinge auf: „Hospitium palantibus concedamus!" 29 Er selbst tat es, und nicht nur im Fall Matthias Devai-Birös. Im Zusammenhang mit Melanchthons Euripides-Interpretationen 30 müssen wir hier eines zu Unrecht vernachlässigten Produktes der ungarischen humanistischen Literatur gedenken: der lateinischen Orestes-Übersetzung Zsigmond Gyalui-Tordas (Basel 1551). Dieser Sigismundus Gelous war — wie bereits erwähnt — ebenfalls ein Wittenberger Student 3 1 und gehörte zu Melanchthons liebsten Schülern. Der Vortrag, den Gyalui-Torda am 31. Januar 1544 zwecks Erlangung des Magistergrades hielt, ist unter die Werke Melanchthons aufgenommen (CRX 743—45): „Quaestio... de particula ngog rov &eov, et verbum erat apud Deum. Sunt et alia illo ipso exordio Ioannis, quae sine erudita grammatica non possent explicari." Gyalui-Torda lebte von 1546 bis 1550 in Padua als Erzieher der Söhne Ferenc Revaysi32 und unterrichtete dann in Eperjes. Bekannt sind uns eine in Padua erschienene Arbeit „Quaestio, an honesta natura sint, an vero opinione" (1549) und die in Basel 1550 erschienene „Historia Francisci Spirae Civitatulani". Ein Ergebnis seiner Baseler Studien ist auch die Euripides-Übersetzung, die im Januar 1551 erschien. Aus einem dem Bändchen vorausgeschickten Widmungsbrief erfahren wir von den Umständen, unter denen die Übersetzung entstand, und von den melanchthonischen Prinzipien des Übersetzers. Er widmete sich Euripides, so schreibt er, hauptsächlich wegen der vortrefflichen moralisch bildenden Eigenschaften des griechischen Dramatikers. Während des Unterrichts habe er daran gedacht, außer „Hekabe" und „Iphigeneia", die Erasmus bald nach dem Erscheinen der ersten gedruckten Ausgabe bei Aldus Manutius (1504) 3 3 im Jahr 1506 ins Lateinische übersetzte, auch die anderen Dramen den Interessierten zugänglich zu machen, damit sie — prompter linguae Graecae imperitiam — solch hohe geistige Werte nicht länger entbehren müßten. Doch habe er sich nicht mit einer platten wortwörtlichen Wiedergabe begnügt. Eine wortwörtliche Übersetzung sei nur im Anfangsstadium der Studien berechtigt, 29 30
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Die vorhergehenden Zitate s. ebenda S. 5 6 - 6 0 , 71, 73, 75, 76. Vgl. auch die wahrscheinlich von Melanchthon stammende Rede, mit der Vitus Winshemius im Mai 1548 seine Vorträge über Euripides begann. Melanchthoniana paedagogica, ges. u. erkl. von K. Hartfelder. Leipzig 1892 S. 96, 1097. Wie so viele andere ging auch er aus Krakau zu Melanchthon, um weiter zu lernen; vgl. Fraknöi a. a. 0 . (s. Anm. 12) S. 2 4 - 3 2 . Frankl a. a. O. (s. Anm. 21) S. 20, 26, 30. Auch Torda gebrauchte diese „editio Aldina".
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aber auch nur dann, wenn sie jemand mit so scharfem Geist und solcher Sorgfalt bearbeite wie Melanchthon. Von seinem Meister angespornt, habe er die „Hiketiden" und „Herakliden" übersetzt, doch sei er mit diesen seinen frühen Versuchen nicht ganz zufrieden. Inzwischen habe er aber Euripides so liebgewonnen, daß er gerne auch anderen zum Verstehen des Dichters verhelfen möchte, und darum habe er beschlossen, einige Tragödien in lateinischen Versen (numeris) zu übersetzen. Die Begründung, weshalb sich Gyalui-Torda f ü r den „Orestes" entschloß, entspricht ganz dem Geist Melanchthons: Er, Gyalui-Torda, habe den „Orestes" deshalb übertragen, weil ihm vor allem der Gegenstand (argumentum) des Dramas und darüber hinaus eine Anzahl bedeutend-schöner Stellen gefielen. Das Widmungsschreiben schließt mit einem Theokrit-Zitat und dem Ausdruck der Hoffnung, der Adressat möge sich über die bescheidene Freundesgabe freuen. 34 Einige Jahre später,1558, übersetzt der in Wien studierende Péter Bornemisza (Abstemius), von Georg Tanner ermutigt, Sophokles' „Elektra". Doch verwendet er dazu — den rasch heranreifenden kulturellen und gesellschaftlichen Ansprüchen entsprechend — keine gewählt-kunstvollen lateinischen Verse und beschränkt sich auch nicht auf die moralischen und pädagogischen Ziele, von denen das Widmungsschreiben Gyalui-Tordas spricht, sondern er schreibt ein allgemein verständliches (bäurisches) Ungarisch, gestattet sich Paraphrasen, kühne politische Anspielungen, hält sich aber im übrigen an die durch die zehn Gebote geregelten Kategorien der Kirche. 35 Aigisthos und Klytäimiestra müssen f ü r ihre Sünden zwangsläufig ihre Strafe erhalten, um die ewige Geltung des fünften und sechsten biblischen Gebots vor Augen zu führen. (Hortatu doctissimi viri Georgii Tanneri . . . hanc fabulam Hungarico idiomate reddendam suscepi, ut . . . hac exercitatione non solum Graecae, sed et nostrae vernaculae linguae mediocrem copiam mihi compararem.) Bornemisza begnügte sich damit, den Dichter möglichst einfach und klar zu interpretieren. Im Gegensatz zu der von seinem Meister Melanchthon gelernten Interpretationskunst sagt er von sich: „ego vero sententia 34
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Melanchthon erachtete die Tragödie von zwei Gesichtspunkten aus als beachtenswert. Außer der juristischen Frage (licueritne Oresti matrem sine judicio interficere) fand er die moralischen Probleme besonders interessant: de amici et cognati officio, de moribus (? recte: motibus) popularibus sedandis non vi, sed ratione et arte cedendi; quales sint in civitatibus seditionum autores etc. Demnach erwartete er sogar vom Lesen des Euripides die Niederhaltung von Volksbewegungen. — Eine tiefschürfende Analyse von Melanchthons Haltung gab Leo Stern in seinen beiden Arbeiten: Martin Luther und Philipp Melanchthon, ihre ideologische Herkunft und geschichtliche Leistung. Berlin 1953. — Philipp Melanchthon. Humanist, Reformator, Praeceptor Germaniae. Halle i960. Melanchthon gliederte auch den Kommentar zu „De officiis" nach den zehn Geboten (CR XVI 534): ad hanc normam immotam, quae nominatur Decalogus recte intellectus; er hielt dieses Werk Ciceros für die vollkommenste Morallehre (CR XVI 628). In seinen Klassiker-Interpretationen und auch in den Schriften seiner Schüler wiederholt sich mottohaft sein Lieblingsvers aus Vergil: Discite iustitiam moniti et non temnere divos (Aeneis VI 620).
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poetae quam simplicissime et planissime utcunquae reddita contentus fui." Der ungarische Student erkannte es als seine Pflicht, „die schon seit einigen Jahren in literarische Höhe gehobene ungarische Sprache nach Kräften zu pflegen und zu bereichern". Wir wollen dieses denkwürdige Dokument des ungarischen Humanismus aus dem 16. Jahrhundert wörtlich anführen: „Omnibus recte judicantibus notum est Hungaricam linguam iam a paucis annis scribi coepisse." Als Janos Sylvester, ein anderer Melanchthonschüler (immatrikuliert 31. Juli 1529), 1541 das Neue Testament in ungarischer Sprache herausgab — er lebte damals am Hofe des humanistischen Magnaten Tamas Nädasdi, der mit Melanchthon Briefe wechselte —, schrieb er die Widmung bereits in stolzen ungarischen Distichen: „Ans ungarische Volk, welches dies liest." Bornemiszas „Elektra" ist, was philologische und metrische Sicherheit betrifft und mit der lateinischen Verskunst der Humanisten verglichen, vielleicht von geringerem Wert als die gefällige Orestes-Übersetzung von Gyalui-Torda, doch unvergleichlich wertvoller und bedeutsamer, wenn man sie in Hinsicht auf die Pflege und Bereicherung der Landessprache und die fortschrittliche Gesellschaftskritik beurteilt, die stets auf das Recht der Armen, der „armen Gemeinschaft" bedacht ist. Gyalui-Tordas Übertragung hätte in jeder Hochburg der humanistischen res publica litteraria, nicht nur in Padua oder Basel, geschaffen werden können; Bornemiszas hingegen —obgleich sie genauso der Wittenberger Schule des Erasmischen Humanismus entsproß — konnte nur in naher Berührung mit der ungarischen Wirklichkeit entstehen, von der sich der Autor auch in Wien nicht losriß. 36 Wenn wir uns mit Bornemisza befassen, so müssen wir auch einer der Hauptquellen seiner Schriften, der in Melanchthons Bearbeitung verbreiteten und bekannt gewordenen Weltgeschichte Johann Carions, gedenken (Chronicon Carionis Latine expositum et auctum a Ph. M.).37 In den fünfziger Jahren beschäftigte sich Melanchthon systematisch mit der Weiterentwicklung von Carions Chronik, die allerdings schon in ihrer früheren, ebenfalls von Melanchthon redigierten Form, in ganz Europa gtelesen wurde. 38 So kann es uns nicht wundern, daß sich die Verwendung der Chronik schon in Bornemiszas Nachwort zu seiner „Elektra"Übersetzung (1558) nachweisen läßt. Bornemisza zitiert Carion in seinen Postillen wiederholt, und am Ende des V. Bandes (1579) führt er unter seinen weiteren Plänen auch die Drucklegung der „kleinen" Carion-Chronik an, „in der die Dinge der ganzen Welt in recht edler Art enthalten sind". Dieser Plan konnte allerdings nicht mehr verwirklicht werden. 36
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Über den erasmischen Kreis Jakob Pisos in Buda s. ImreTrencsenyi-Waldapfel: Erasmus es magyar barätai [Erasmus und seine ungarischen Freunde], Budapest 1941 S. 54. — Tibor Kardos: A magyarorszägi humanizmus kora [Das Zeitalter des ungarländischen Humanismus]. Budapest 1955 S. 248; Jänos Baläzs a. a. 0. (s. Anm. 7) S. 149. Vgl. Hartfelder a. a. O. (s. Anm. 8) S. 300. - T. Schulek a. a. 0 . (s. Anm. 3) S. 123. Über die Entstehung und Bedeutung des Werkes: W. Goez: Translatio imperii. Tübingen 1958 S. 259. Hartfelder a. a. 0. (s. Anm. 8) S. 301.
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Doch auch andere lasen in Ungarn eifrig den Carion. Zu allererst ist der ebenfalls in Wittenberg geschulte Bibelübersetzer Gäspär Käroli (immatrikuliert 11. März 1556) zu erwähnen, der in seinem Werke „Ket könyv" [Zwei Bücher. Debrecen 1563] „das historische Illustrationsmaterial des kleinen Carion, dieser Fundgrube, systematisch zu erschließen begann". 39 Käroli machte sich die geschichtsphilosophischen Prinzipien Melanchthons völlig zu eigen und betrachtete „die apokalyptischen Ereignisse in der ungarischen Heimat mit der in Wittenberg erworbenen Weltanschauung" , 40 Auch er erblickte in den Schicksalen der Kirche und der Danielischen Reiche die konsequente Durchsetzung der zehn Gebote. Wie er in der Widmung von Carions Chronik (CR IX 533) las („Sit vitae norma Decalogus . . . Postea historias sciamus legum exempla esse ac monstrare poenas atrocium scelerumetliberationesiustorum. Ac in utrisque non tanturn eventus intueamur, sed Dei praesentiam cogitemus, qui sui ordinis custos est") 41 , verurteilte auch Käroli schonungslos diejenigen, die den traurigen Zustand des Landes allein dem Glück und Zufall zuschrieben. 42 Kathona weist überzeugend nach, daß Käroli seinen ganzen historischen Apparat dem Arsenal der Wittenberger Geschichtsanschauung entnahm, mit Melanchthons „ethischer Beurteilung das hinter dem Warum der düsteren ungarischen Gegenwart verborgene Dunkel erhellen wollte", und daß das nationale Schuldbewußtsein, das nach der katastrophalen Niederlage bei Mohäcs die Evangelischen in Ungarn erfüllte, unter dem Einfluß von Melanchthons historischem Weltbild entstand. 43 Interessant ist es, daß, obgleich Käroli bekanntlich ein Vertreter der kalvinistischen Richtung war, die Motivierung seines Schuldbewußtseins, sein Operieren mit den „vier Königreichen", seine apokalyptischen Spekulationen, die ganze eschatologische Spannung seines Weltbildes durchweg auf Wittenbergische Tradition hinweisen, ungeachtet dessen, daß Calvin mit nüchterner Kritik (CR LXVIII 590) die exegetischen Angelpunkte des Wittenbergischen Weltbildes zertrümmert hatte. 44 39
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Istvän Nemeskürty: A XVI. sz. utolsö härom evtizedenek postilla-irodalmäböl [Aus der Postillen-Literatur der letzten drei Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts], Irodalomtörtenet [Literaturgeschichte]. Jg. 45 (1957) S. 457 Anm. 3. Geza Kathona: Karolyi (sie!) Gäspär törtenelmi vilägkepe [Das historische Weltbild Gäspär Kärolyis]. Debrecen 1943 S. 10. Melanchthon weist hier bewußt auf Tacitus' berühmtes Geschichtsschreibungsprogramm hin (Hist. I 4, 1): . . . non modo casus eventusque rerum, qui plerumque fortuiti sunt, sed ratio etiam causaeque noscantur. Aus den zwei Formulierungen geht plastisch der Unterschied zwischen der Weltanschauung und Geschichtsauffassung der beiden hervor: Statt die zufälligen Schicksalsfügungen hinzunehmen, forscht Tacitus „nach den Ursachen und dem Sinn der Ereignisse", Melanchthon dagegen entdeckt in allem Gottes Anwesenheit. 43 Vgl. G. Kathona a. a. O. (s. Anm. 40) S. 17. Ebenda S. 22, 18, 40. Ebenda S. 40. — Zur wittenbergischen Beurteilung der Türkenfrage und zur um die Mitte des 16. Jahrhunderts auch in Ungarn schon weithin bekannten Apokalyptik vgl. neuestens Geza Kathona: Karäcsony György „Szent hada", 1569—1570 [Die „Heilige Schar" von György Karäcsony 1569—1570]. Egyhäztörtenet [Kirchengeschichte]. Neue Folge Jg. 1 (1958) S. 267.
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Für Melanchthon war, wie wir sehen, das Studium der Geschichte kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, die unbedingte Durchsetzung des göttlichen Gesetzes zu erkennen, wie auch die zur Kenntnis der klassischen Sprachen führende Grammatik dazu berufen war, die göttliche Offenbarung authentisch zu interpretieren. Melanchthon betrachtete sich in erster Linie als Grammatiker, seit ihn sein erster Meister Johannes Hungarus dazu erzogen hatte. Als ein Lehrmeister, der die Jugend von halb Europa zweiundvierzig Jahre hindurch unterrichtete, verkündete er konsequent, daß nur der die Heilige Schrift theologisch verstehen könne, der sie auch grammatisch verstanden habe: „Non potest scriptura intelligi theologice, nisi ante intellecta sit grammatice. " 4 5 Dieses pädagogische und in seinem gesamten wisssenschaftlichen Wirken auch praktisch durchgeführte Prinzip läßt sich in vielen Äußerungen Melanchthons nachweisen. 46 Es ist in der Wissenschaftsgeschichte bekannt, daß Melanchthons griechische Grammatik (Institutiones Graecae grammaticae, CR XX 1—192) 4 7 in den hundert Jahren fast fünfzig Auflagen erlebte 48 und dann nach wiederholten Bearbeitungen bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, genauer gesprochen bis zur Einführung von Philipp Buttmanns „Ausführlicher griechischer Sprachlehre" (1819—27), allgemein verbreitet war. 49 Um die Wirkung dieses Werkes richtig einzuschätzen, wäre auch die Beleuchtung seines „Fortlebens" in Ungarn erwünscht. Hier sei die griechische Grammatik des Wittenberger Studenten Péter Kâroli (immatrikuliert 30. August 1563) erwähnt, die in Klausenburg im Jahre 1565 (oder 1567) zum ersten Mal erschien, gedruckt bei Gâspâr Heltai, ebenfalls einem ehemaligen Wittenberger Studenten (immatrikuliert 17. Februar 1543), und deren an Wolfgang Kendi gerichtete Widmung nichts anderes ist als eine Melanchthonischei Apologie der Grammatik. 50 Auf die Frage, was Grammatik sei (Quid est grammatica?), gibt Péter Kâroli beinahe wörtlich genau Melanchthons Definition: „Est ars certam loquendi et scribendi rationem tradens" (vgl. CR XX 245: „Grammatica est certa loquendi et scribendi ratio"). 51 45
Bei Hartfelder a. a. 0. (s. Anm. 8) S. 290. ' Vgl. Hartfelder a. a. O. (s. Anm. 8) S. 174; vgl. ferner die Anekdote in den Melanchthoniana paedagogica (s. Anm. 30) S. 189: Fuit quidam monachus in Belgico, qui cum audiret theologum esse grammaticum, ita dixit: si est grammaticus, est haereticus. 47 Vgl. Hartfelder a. a. 0. (s. Anm. 8) S. 250, 258: das gebrauchteste Schulbuch der Zeit. /,s A. Gudeman : Grundriß der Geschichte der klassischen Philologie. Leipzig-Berlin 1909 2 S. 215. 49 Vgl. U. v. Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie. In: Gercke-Norden: Einleitung in die klass. Altertumswissenschaft. Bd. I. Berlin 1927 3 S. 20. — Ed. Schwyzer: Griech. Grammatik. Bd. I. München 1934 S. 8. 50 Rideat ergo Palladas Grammaticen et dicat eos hanc artem docere, quibus iratus Deus, quorumque nutrix egestas sit, nos tarnen sciamus nec in doctrina Ecclesiae, nec in Philosophia sine ea feliciter quemquam posse versari. ol Erörterung der verschiedenen Formulierungen der Definition bei J. Balâzs a. a. O. (s. Anm. 7) S. 195.
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Es ist nur natürlich, daß Karo Ii als Paradigma der Konjugation der auf to endenden Verben Melanchthons traditionelles rvma> wählt, da doch bereits im zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung Dionysios Thrax dieses Verb konjugiert hatte, und zwar auf Grund einer bis auf Piatons Zeiten zurückreichenden Praxis. Noch im Jahre 1833 sollten sich der Preßburger G. T. Schröer (ein Schüler Fr. Aug. Wolfs) darüber beklagen, daß sich der zwanzigjährige Jüngling mit dem TCTTCO abquält. 52 Es ist nicht unsere Aufgabe, Melanchthons anderes „Welthistorisches Schulbuch" 53 , die „Grammatica Latina" (Hagenau 1525, CR XXX 193—336), im Hinblick auf seine historische, linguistische oder pädagogische Bedeutung zu würdigen. Es ist allgemein bekannt, daß auch dieses in nahezu hundert Auflagen erschien. 54 Melanchthons Verdienste als Grammatik-Verfasser gehen aus der Zusammenstellung auf den Seiten CR XX 339—342 hinlänglich hervor. Untersuchen wir jedoch Melanchthons gesamteuropäische Wirkung, so können wir uns mit der Registrierung der in Deutschland erschienenen Ausgaben nicht begnügen. Es ist eine Aufgabe der ungarischen Forschung, das Fortleben der Grammatiken Melanchthons in Ungarn zu ermitteln. Dieses Thema allein wäre einer umfangreichen Abhandlung wert. Wir beschäftigen uns hier nur mit zwei Dingen: erstens mit der „Grammatica Hungarico-Latina" von Jänos Sylvester (1539), der ersten ungarischen Grammatik, die — wenn auch nicht systematisch geordnet — doch neben der lateinischen in Erscheinung tritt; zweitens mit der Schulgrammatik Gergely Molnars (immatrikuliert am 5. Juni 1554), „Elementa grammaticae latinae pro recta scholasticae juventutis institutione ex praecipuis grammaticorum praeceptis a Georgio M. contracta", Claudiopoli 1556. Die Größe der Leistung Jänos Sylvesters erblickte Jözsef Turöczi-Trostler darin, daß er die Grammatik der toten lateinischen Sprache der Landessprache anpaßte. Sylvesters Bedeutung bestand also „in der erstmaligen Grammatisierung der ungarischen Sprache . . . in der inneren Entdeckung der ungarischen Sprache". 55 Nach Jänos Horväth „zeichneten sich" durch die Anregung Sylvesters „allmählich unbemerkt die Umrisse einer ungarischen Grammatik unter dein Deckmantel des Lateinischen ab". 5 6 Jänos Baläzs wies darauf hin, daß Sylvesters Grammatik zunächst in größerem Maße lateinisch und nur in geringerem ungarisch war und unter den historisch herausgebildeten Typen der gewöhnlichen Grammatiken der „Grammatica Latino Gallica" von Dubois (Jac. Sylvius Ambianus, Parisiis 1531) am nächsten stand. 57 Dazu sei bemerkt, daß der zweisprachige Lateinunterricht auch in Melanchthons 52
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Pius Desiderius: Über Erziehung und Unterricht in Ungarn in Briefen an den Grafen St. Szechenyi. Leipzig 1833 S. 41; zitiert bei Gyula Komis: A magyar müvelödes eszmenyei [Die ungarischen Bildungsideale]. Bd. II Budapest 1927 S. 320. Melanchthoniana paedagogica (s. Anm. 30) S. 94. Nach A. Gudeman a. a. 0. (s. Anm. 48) ist 1757 die 84. Auflage erschienen. A magyar nyelv felfedezese [Die Entdeckung der ungarischen Sprache], Budapest 1933 S. 27. A reformaciö jegyeben [Im Zeichen der Reformation], Budapest 1953 S. 150. J. Baläzs a. a. 0. (s. Anm. 7) S. 190.
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Kreis nicht unbekannt war. Die Lehrer der Torgauer Schule baten 1537 um Melanchthons Genehmigung zu einem ähnlichen Experiment des Marcus Cordelius, das dann mit einer Empfehlung Melanchthons vom 1. Januar 1539 in Basel unter dem Titel „ Institutiones Grammaticae Latinogermanicae" 1541 erschien. 58 Nach einer Prüfung der zwischen Sylvester und Melanchthon bestehenden Übereinstimmung legte Jänos Baläzs in der philologischen Analyse der Grammatik Sylvesters das größere Gewicht auf den ungarischen Teil. Er stellte fest, daß seine Definition des Begriffes Grammatik („Grammatica est ars recte loquendi et scribendi, authoritate optimorum poetarum et oratorum constans") mit keinem der Grammatiker der Antike übereinstimmt, aber auch nicht mit der Definition Melanchthons (CR XX 245: „Grammatica est certa loquendi scribendi ratio"). Am nächsten steht ihr die Definition Guarinos, des Lehrmeisters von Janus Pannonius: „Grammatica est ars recte loquendi recteque scribendi, scriptorum et poetarum lectionibus observata." Im weiteren jedoch, in den Ausführungen über das Wesen der Grammatik, schließt sich Sylvester den Ansichten Melanchthons an. Allerdings weist er im ungarischen Teil — z. B. in der Frage des bestimmten Artikels — mit der gebührenden Hochachtung auch auf etwaige Irrtümer des Präzeptors hin. 59 Ein Verdienst Jänos Baläzs' ist es, daß er bei einer fachkundigen Analyse von Melanchthons Leistung und Wirkung — weit über das Tatsachenmaterial bei Hartfelder 6 0 hinausgehend — die Aufmerksamkeit auch auf die Werke anderer humanistischer Grammatiker und auf die von den ungarischen Humanisten entwickelte Tradition des Lateinunterrichts lenkte. Andere wichtige Ergebnisse liegen bereits außerhalb des Kreises unserer Untersuchungen. 61 Auf jeden Fall halten wir es für notwendig, hier auch Sylvesters zu gedenken, „eines hochverehrten Heros unserer Nation, der auf den Spuren der liebenswürdigen Vorbilder, Melanchthon und Erasmus, wandelte" 62 , wenn wir die Rezeption seines Meisters in Ungarn verfolgen. Wir wollen auf eine inhaltliche Analyse der Grammatik Gergely Molnärs ebenfalls verzichten und nur, auf äußere Indizien gestützt, dieses Jahrhunderte hindurch gebrauchte Hilfsmittel der ungarischen Schule im Wandel der Zeiten verfolgen. Die erste Auflage ist uns nur indirekt bekannt. Aus dem 17. Jahrhundert stammende Exemplare geben in ihrem Vorwort Auskunft über die Entstehungsum58
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Melanchthoniana paedagogica (s. Anm. 30) S. 4 9 - 5 6 ; vgl. CR III 886: . . . Pro Germanica pube hic noster labor unice susceptus . . . ne puer Latinae linguae imperitus . . . id alibi quaerere cogatur, quod hic nullo negotio illi offertur. . . Salsa enim mola litant, qui thura non habent. Zu der Auswirkung der im Umkreis von Melanchthon betriebenen Sprachstudien auf die ungarische und überhaupt auf die finnisch-ugrische Linguistik s. den lehrreichen Beitrag von Jänos Baläzs: Finnisch-ugrisches Treffen bei Melanchthon. Ural-Altaische Jahrbücher. Bd. XXXIII (1961) S. 252, 253. J. Baläzs a. a. 0. (s. Anm. 7) S. 211. Hartfelder a. a. 0. (s. Anm. 8) S. 2 7 0 - 2 7 9 . Vgl. J. Baläzs: Zur Frage des Erwachens der osteuropäischen Nationalsprachen. Festschrift für Ed. Winter. Berlin 1956 S. 3 3 - 7 3 . Worte von Ferenc Kazinczy, zitiert bei J. Baläzs a. a. 0. (s. Anm. 7) S. 378. Deutsch-ungarische Beziehungen
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stände der Grammatik. Dieses Vorwort ist aus Sârospatak vom Januar 1661 datiert und wurde später zahllose Male nachgedruckt. Darin heißt es, Gergely Molnâr habe aus den grammatischen Schriften des hochverdienten Philippus Melanchthon, des Phönix Deutschlands, eine kurze grammatische Übersicht zusammengestellt („ex lucubrationibus grammaticis . . . magni totius Gennaniae Phoenicis: Clar. Domini Philippi Melanchthonis Semper de re litteraria optime meriti . . . brevem quandam Grammatices synopsin"), und sein Werk wurde 1556 von Gâspâr Heltai gedruckt. (Es gehört zum Schicksal der Vorworte — nicht nur zu dem der Bücher —, daß einmal unterlaufene Druckfehler unter Umständen Jahrhunderte hindurch wiederholt werden: Statt der richtigen Jahreszahl steht in fast jeder späteren Ausgabe 1656.) Auch der als Bearbeiter genannte Péter Alvinczi hat in Wittenberg studiert (immatrikuliert am 30. Mai 1598). Die bearbeitete Ausgabe erschien 1613 in Debrecen. Die Bemerkung Péter Bods hierzu in seinem Werke „Magyar Athenâs", Péter Alvinczi habe die Regeln der Grammatik Gergely Molnars in hübsche ungarische Verse gefaßt, die auch heute noch zumeist in den Schulen Ungarns und Siebenbürgens gebraucht werden, ist nicht ganz genau; sind mit den „hübschen Versen" die in den späteren Ausgaben vorkommenden Regeln in Hexametern gemeint, so war Péter Alvinczi, der feurige Gegner Péter Pâzmânys, derjenige, der in den ungarischen protestantischen Schulen die Memorierverse — „Que maribus solum tribuuntur, mascula sunto" usw. aus der Grammatik des Jesuiten Alvares („De Institutione Grammaticae", 1572) — eingeführt hat. 63 Demnach ist — mutatis mutandis — in Ungarn dasselbe geschehen wie in Deutschlands Humanistenkreisen zu Anfang des 16. Jahrhunderts mit dem dreihundert Jahre hindurch gebrauchten „Doctrinale" des Alexander de Villa Dei. Dietrich Reichling formulierte das in seiner Einleitung zur kritischen Doctrinale-Ausgabe sehr taktvoll so: „Die grammatischen Unterrichtsbücher der Humanistenzeit stehen . . . trotz aller Ausfälle auf den „Barbaren" Alexander zu diesem in eng verwandtschaftlichen Beziehungen". 64 Der historischen Wahrheit zuliebe wollen wir uns auf alle Fälle auch auf Wilamowitz berufen, der Melanchthons pädagogische Bemühungen auch darum segensreich für die Zukunft nannte, weil sie die Jesuiten zum Wettbewerb anspornten. 65 Vergeblich bemühte sich Comenius, mit der Einführung des Unterrichts in der Muttersprache usw. die „Pforten der Sprachen zu öffnen" (Ianua linguarum reserata 1631); unsere Schüler leierten auch noch zweihundert Jahre später die 63
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Eine gute Orientierung über „Geschichte und Schicksal" der Grammatik von Alvares gibt der Aufsatz von E. Springhetti: Storia e fortuna della- Grammatica di Emmanuele Alvares. Humanitas (Coimbra). Jg. 1 3 - 1 4 (1961-62) S. 2 8 3 - 3 0 3 . Monumenta Germaniae Paedagogica. Bd. XII Berlin 1893 S. CVI; vgl. Ed. Norden: Die antike Kunstprosa. Bd. II. Leipzig-Berlin 1923 4 S. 741 Anm. 2; aus der einschlägigen ungarischen Literatur vgl. Ernô Finâczy : A kozépkori nevelés tôrténete [Geschichte der mittelalterlichen Erziehung], Budapest 1926 2 S. 183. Ebenda S. 20; nach Hartfelder a. a. 0. (s. Anm. 8) S-266 wurde dieses meistverbreitete Lehrbuch der evangelischen Schulen auch in den katholischen gebraucht.
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qualvollen Hexameter der Grammatik Gergely Molnars herunter. Eine verkürzte Ausgabe der „Elementa grammaticae Latinae" ist noch 1829 in Debrecen erschienen. Auf der Rückseite des Umschlags fehlte da schon der alte Vers, der in klangvollen Hendekasyllaben die Kinder zum Erlernen der Grammatik verlockte: Huc, huc, grammatices amica pubes! . . . Molnar tale tibi tulit libello munus, non lepido, tarnen futurus gratus: nam quid in hoc fere volumen scripsit cum Diomede Priscianus, aut quod Grammaticus notat Philippus66 : certo continet hic brevis libellus . . .
Auch die aus dem Jahre 1661 stammende Widmung vermissen wir, dafür steht hier ein aus drei Distichen bestehender, mit dem Namen Johannes Femmich gezeichneter, aus irgendeiner alten Ausgabe übernommener Vers („Liber ad emptorem"). Femmich, Rektor der Klausenburger Schule (nicht „Lektor", wie unter dem Vers steht) war 1540—64 tätig und hat auch an der Zusammenstellung der Grammatik Gergely Molnars mitgewirkt. Und die Grammatik Gergely Molnars wurde nicht nur in Debrecen, sondern auch in Preßburg benutzt. Es ist bekannt, daß der Romanschriftsteller Mör Jökai in den Jahren 1835—37 das Preßburger Evangelische Lyzeum besuchte, das unter der Leitung des bereits erwähnten Schröer stand. In seinem Roman „Mire megvenülünk" / Wenn man alt wird / gedenkt er seiner Schülererlebnisse in Preßburg. Der nicht besonders begabte Sohn seines dortigen „Tausch"-Vaters schnatterte zehnmal, hundertmal, tausendmal die unverständlichen lateinischen grammatischen Regeln herunter, konnte aber doch nicht die Zeile behalten: „his atacem, panacem, phylacem, coracemque facemque..."67 Stärker und unmittelbarer jedoch als die Wirkung, die von gedruckten Büchern ausging — sei es von Melanchthons eigenen Werken, sei es von Schriften anderer, die durch seinen Einfluß zustande kamen —, war der persönliche Einfluß des 66
Demnach wurde der Grammaticus in Ungarn ebenso nur einfach „Philippus" genannt, wie tausend Jahre hindurch statt Quintilian in ganz Europa nur „Fabius" gesagt wurde. 6 ' Die Episode zitiert Kornis a. a. O. (s. Airrn. 52) Bd. I S. 600; die Regel der „Exceptio II" zur Kenntnis der III. Deklination lautet richtig: His atacem, panacem, colacem styracemque facemque atque abacem, coracem, phylacem compostaque nectes. Über die „barbarische Dunkelheit" der „Quae maribus — Verse" im Alvari der katholischen Schulen und im Gergely Molnär der protestantischen Schulen s. Kornis a. a. O. Bd. I S. 214; über die in Molnars Grammatik hineingeschmuggelten „rebellischen" Anspielungen zur Übung der Chrien und die polizeiliche Beschlagnahme des Buches s. I. Borzsäk: Budai fizsaiäs es klasszika-filolögiänk kezdetei [Ezsaids Budai und die Anfänge unserer klassischen Philologie]. Budapest 1955 S. 8. 5*
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Präzeptors. Unter den Zeugnissen der Schüler pflegt man oft den Brief des aus „Pannonien" (eigentlich aus Wien) stammenden Wolfgang Schiver vom 4. Mai 1523 zu erwähnen, in dem dieser voller Begeisterung von den Vorlesungen in Wittenberg berichtet: „Fleißig höre ich Philippus; unsterbliche Gottheit, welch genialer Mensch und mit was für einem göttlichen Herzen begabt! Man möchte das bekannte Wort des Properz in folgender Weise umwandeln und auf ihn anwenden : Cedite Romani scriptores, cedite Graii, qui vos stultificat, nempe Philippus adest." 08
Die Zahl der ungarischen Studenten, die im Laufe des 16. Jahrhunderts in Wittenberg studierten, dürfte sich auf etwa 1200 belaufen haben. 69 Demnach werden bis 1560 etwa 500 junge Ungarn den großen Präzeptor persönlich gehört haben. Es ist bekannt, daß Melanchthon mit Rücksicht darauf, daß die ungarischen Studenten die deutsche Sprache nur mangelhaft beherrschten, es auf sich nahm, ihnen an Feiertagen, zuerst in seiner Wohnung, später, als sich zu viele meldeten, im Auditorium Maximum den f ü r den Tag bestimmten Bibeltext lateinisch zu erklären. 70 Melanchthons Bibelerklärungen hatten eine gewaltige Wirkung auf seine Hörer, und diese Wirkung zeigte sich nicht nur in der ungarischen PostillenLiteratur in engerem Sinne, sondern auch in der ganzen Tätigkeit der aus Wittenberg heimkehrenden Lehrer und Geistlichen, sozusagen an sämtlichen Schriften der aufsteigenden Phase der ungarischen Reformation. 71 Und wenn es auch nicht allen vergönnt war, zum Meister ein so intimes Verhältnis zu haben wie Märton Dévai-Birô, Stockei oder Zsigmond Gyalui-Torda, so ist doch die Zahl derer sehr groß, die von Melanchthon Anregungen f ü r das ganze Leben empfingen. 72 61
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Beatus Rhenanus Briefwechsel. Herausgegeben v. A. Horavitz — K. Hartfelder. Leipzig 1886 S. 318; in Hartfelders Übertragung: Hartfelder a. a. 0. (s. Anm. 8) S. 101. Vgl. Fr.-K. Schumann: Ungarische Studenten an den Universitäten Wittenberg und Halle-Wittenberg vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Ostdeutsche Wissenschaft. Bd. V (1958) S. 3 4 4 - 3 4 7 (wenig ergiebig). Vgl. Miklös Asztalos: A wittenbergi egyetem magyar hallgatéinak nyelvismerete a XVI. szâzadban [Die Sprachkenntnisse der ungarischen Studenten an der Wittenberger Universität im 16. Jahrhundert], Egyetemes Philologiai Közlöny [Beiträge zur Gesamtphilologie]. Jg. 58 (1934) S. 4. Vgl. Az antikvitâs XVI. szâzadi képe (s. Anm. 20) passim Die Liste, die Jeno Sôlyom a. a. O. (s. Anm. 1) S. 179 über die neuerliche Vermehrung der Melanchthonreliquien und -reminiszenzen in Ungarn zusammengestellt hat, könnten wir nur um einige wenige „adnotatiuneulae" ergänzen. — Allzumenschlich und vielleicht darum eben in den Melanchthon-Biographien unerwähnt ist das „Kreuz seines Ehelebens", das den Wittenberger Studenten wohl kaum verborgen bleiben konnte. Péter Bornemisza, der 1559 nach Wittenberg kam, gedenkt in seiner Postillen-Sammlung Bd. IV Sempte 1578 S. 535 dessen, was er in Wittenberg nicht mehr gesehen, doch noch gehört hat: „Einer erzählte von Philipp Melanchthon, er habe sich in dem Zimmer in dem er studierte, oft vor seiner Frau eingeschlossen. Sie
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Die im ungarischen Geistesleben reifenden Früchte der Rezeption Melanchthons, die Stationen, Faktoren, die direkten und indirekten Ergebnisse der aus Wittenberg mitgebrachten Anregungen, lassen sich einstweilen eher ahnen als genau abmessen und nach Gebühr würdigen. In dieser skizzenhaften Übersicht haben wir den Evangelisten Siebenbürgens, Johannes Hontems, nicht einmal erwähnt. Es wäre wünschenswert, wenn in Zusammenarbeit mit den deutschen Zentren der Melanchthon-Forschung zunächst die Korrespondenz Melanchthons mit seinen Schülern aus Ungarn (bzw. aus der Tschechoslowakei und Siebenbürgen) systematisch gesammelt und so auch die Melanchthon-Beziehungen der ungarischen Literatur des 16. Jahrhunderts verarbeitet würden. In dem Jahrhundert seit Erscheinen des CR sind Melanchthon-Dokumente in großer Zahl zum Vorschein gekommen. Sie wurden jedoch unsystematisch veröffentlicht und nur mangelhaft registriert, so daß es wiederholt vorkam, daß längst Publiziertes als Novum gebracht wurde, während vermutlich manche wertvollen Dokumente ihrer Erschließung harren. kam zur Tür, klopfte zuerst einige Male und sagte: Philipp, Philipp, schließ auf. Jener, wohl wissend, sie komme, um zu zanken und ihn im Studium zu stören, schwieg still. Doch sie klopfte immer weiter und rief: Thu auff, du Schelm! Andere Male, zumeist wenn Freunde bei ihm waren, sagte er nur: Auch das ist das Kreuz der Ehe." All das läßt sich aus der Camerarius-Biographie Kapitel XII. höchstens nur ahnen: „Fuit femina haec religiosissima et viri amantissima, materfamilias assidua atque diligens imprimis, . . . pauperum ita studiosa, u t . . . non modo suarum rerum facultatumque minus rationem habere, sed interpellatione et compellatione pro his ad alios uti soleret nonnunquam intempestiva . . . et victus et cultus negligens. Neque hoc Philippus Melanchthon offendebatur."
JÖZSEF TURÖCZI-TBOSTLBB T
Albert Szenczi-Molnar in Heidelberg*
In den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts machten es sich zwei Schriftsteller aus Ungarn, Albert Szenczi-Molnar und der aus Preßburg gebürtige Martin Schödel, zur Aufgabe, Mittler zwischen Europäertum und Ungartum zu sein. Der eine stammte aus einer Leibeigenenfamilie, der andere war ein Bürgerssohn. Doch in der leidenschaftlichen Liebe zum Buch und zur Kultur, zum geschriebenen Wort und zum Geist — der einzigen inspirierenden Leidenschaft ihres Lebens — waren sie einander nah verwandt. Auch ihr geistiges Quellengebiet war das gleiche. Szenczi-Molnar verbrachte die fruchtbarsten Jahre seines Lebens in Heidelberg und Straßburg, Schödel studierte an der Straßburger Universität. Beide lebten in einer Atmosphäre, in der — an der Schwelle des großen Krieges — französische und deutsche Kultur vielleicht zum erstenmal seit Jahrhunderten und f ü r lange Zeit zum letztenmal einander nicht nur verstanden, sondern befruchteten. Die beiden Schriftsteller waren bescheidene, jedoch geschätzte Mitglieder einer aus Theologen, Philologen und Dichtern bestehenden lockeren und freien internationalen Gesellschaft, an deren Spitze als ihr Lehrer und Beschützer Matthias Bernegger, der berühmte Tacitus-Forscher, Bibliophile und Friedensfreund, stand. In diesem Kreis war, von der Person oder vom Ideengehalt her, die Elite der neuen europäischen Geistigkeit in allen ihren Richtungen und Formen vereinigt: Mathematik und Naturwissenschaft, der kopernikanische Kosmos mit Galilei, Tycho Brahe und Kepler; der Geist der interkonfessionellen Verständigung, verkörpert durch David Pareus; der von Bernegger und Comenius vertretene Gedanke eines Paneuropa und einer Pansophia; die Bewegung der RosenkreuzMystik mit ihrem Initiator J. V. Andreae; die neue Philosophie mit Bacon; die christliche Stoa mit Justus Lipsius; die Rechtswissenschaft von Krieg und Frieden mit Hugo Grotius; die französische Plejade mit ihrem deutschen Vermittler Paul Schede-Melissus und die moderne deutsche Dichtkunst mit Martin * Dieser Aufsatz des verstorbenen Verfassers erschien zuerst ungarisch im Jahre 1955. Die vorliegende deutsche Fassung hält sich — mit einigen Kürzungen — an die endgültige Form des Aufsatzes, der in des Verfassers zweitem Band seiner gesammelten Aufsätze Magyar irodalom — Vilägirodalom [Ungarische Literatur — Weltliteratur] Budapest 1961 S. 115—155 enthalten ist. Eine kurze Einleitung und einen kurzen Schlußteil haben wir einem anderen Aufsatz des Verfassers: „A magyar irodalom euröpaizälödäsa" [Die Europäisierung der ungarischen Literatur] entnommen, erschienen ebenda S. 37 und 39. — Die Herausgeber.
A. Szenczi-Molnar in Heidelberg
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Opitz. Jeder Name ist ein Programm und eine Welt für sich. Szenczi-Molnar und Schödel waren Zeugen der geistigen Gärung, des Wettbewerbs und der Zusammenarbeit der Kulturen. Die neue Problematik der Sprachpflege, des Historismus, der Quellenforschung und der Textkritik erschloß ihnen eine unbekannte Welt. — Die Richtung meiner bisherigen Forschungen weiter verfolgend, geht es mir vor allem darum, die Quellen aufzuspüren, aus denen Szenczi-Molnar seine historische, ideologische und literarische Nahrung schöpfte, und die Umstände zu ermitteln, die ihn zum Humanisten und ungarischen Schriftsteller, zum größten ungarischen Nachdichter der Psalmen machten. In erster Linie möchte ich aber jenen Vorgang beleuchten, durch den in Szenczi-Molnar der Leitgedanke seines Lebens erwachte und der ihn seiner Aufgabe bewußt werden ließ, der Aufgabe, die ungarische und die europäische Perspektive miteinander in Einklang zu bringen. Die bleibende und schönste Verwirklichung dieses Strebens erblicke ich im „Psalterium", die wissenschaftlich bedeutsamste und aktuellste in der „Grammatica". Albert Szenczi-Molnär war in der glücklichen Lage, seine Studien in dem von humanistischer Tradition und Wissenschaft erfüllten Straßburg beginnen, in den Zentren des rheinländischen Kalvinismus, in Heidelberg, Herborn, Altdorf und Marburg, fortsetzen und die produktivsten Jahre seines Lebens in diesen Städten verbringen zu dürfen. Allerdings war damals die schöpferische, aufs Universelle gerichtete Epoche des Humanismus schon vorbei — eine zwangsläufige Folge des verlangsamten Durchsetzungsprozesses des Kapitalismus in Deutschland, des Verfalls des deutschen Bürgertums und nicht zuletzt der Tatsache, daß die ihre revolutionären Anfänge verleugnende Reformation auch den deutschen Humanismus nachteilig beeinflußte. Die „neuen" Humanisten lebten und atmeten nicht mehr im Strom des Lebens. Sie zogen sich immer mehr in die Welt der Bücher zurück, sie wurden Stubenund Fachgelehrte, Textphilologen und Pädagogen. Es entwickelte sich ein neuer Typus des Bürokraten und Hofhumanisten. Immerhin behielten die Humanisten der kalvinistischen Länder selbst unter diesen Umständen noch etwas vom Elan der großen Vorfahren. Sie erwiesen sich mutiger und selbständiger als ihre lutherischen Zeitgenossen, und dank ihren französischen und englischen Beziehungen verschlossen sie sich weniger der anspornenden Wirkung der Politik, dem weltoffenen Denken und der Kunst. Dazu kam noch, daß auch das wirtschaftlich gefestigtere, gebildetere kalvinistische deutsche Bürgertum seine menschliche Würde und Unabhängigkeit dem fürstlichen Absolutismus gegenüber besser zu wahren wußte als das lutherische. Szenczi-Molnar ist in Straßburg mit der großen Welt und mit der Welt des Buches bekannt geworden. Er verdankte die Grundlagen seiner klassischen Bildung der Straßburger Akademie. Hier erhielt er zum erstenmal einen Anschauungsunterricht in jenem Geist des Humanismus und der Toleranz, von dem der Gründer der Akademie, Johann Sturm, und seine Mitarbeiter erfüllt waren. Aber Szenczi-Molnar lernte auch die antihumanistische, fanatische Intoleranz kennen,
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vor der Sturm einige Jahre früher hatte weichen müssen und die auch ihn aus Straßburg vertrieb. 1 Sturms Geist und seine pädagogischen Anregungen lebten auch nach seinem Tode in seinen Mitarbeitern und in den Theateraufführungen der Akademie fort. Durch diese Aufführungen wurden das Laienpublikum, aber auch Szenczi-Molnar zum erstenmal mit Äschylos, Sophokles und Euripides in griechischer, lateinischer, zum Teil auch in deutscher Sprache bekannt. Seine Bibelhörigkeit ließ den jungen Szenczi-Molnar von dieser .neuen Welt kaum etwas ahnen, doch wer sein „Tagebuch" aufmerksam liest, muß bald gewahr werden, wie in ihm ein unlöschbares Verlangen nach Kultur erwacht und vorherrschend wird. Drei Jahre in Straßburg, aber mehr noch die Schweizer und italienische Reise gewöhnten sein Auge an die neuen Perspektiven, und er versuchte, von den ersten Möglichkeiten freier Bewegung Gebrauch zu machen. Sein ganzes Interesse galt dem Menschen und den menschlichen Beziehungen. Er reiste für acht Tage nach Rom, sah sich überall um, verschaffte sich Zutritt, wo es irgend möglich war, sah den Papst, aber das Tagebuch verriet mit keinem Wort, daß er sich in der Hauptstadt des Hochbarocks befand. Die Augen des jungen Studenten sind nicht genügend künstlerisch geschult, um in Bildern und Skulpturen mehr als nur die kultischen Gegenstände, in den Kirchen mehr als nur die Kultstätten, nämlich auch die Kunstwerke zu erkennen. „Das Land zu sehen, dem er in den Werken der lateinischen Klassiker auf Schritt und Tritt begegnet war, besonders Rom, von dem er jeden Tag las . . ., all das dürfte einen besonderen Reiz auf den abenteuerlustigen jungen Mann ausgeübt haben", schreibt Lajos Dezsi über Szenczi-Molnärs italienische Reise. Diese Feststellung dürfte im wesentlichen auch heute noch gelten. Doch zeugt es von einer nur gutgläubig-irrtümlichen Ansicht der Dinge, wenn Dezsi fortfährt: „In Betracht zu ziehen ist auch, daß Luther, Zwingli, Erasmus, Ulrich von Hutten und Calvin in Rom gewesen waren; auch deren Beispiel wirkte anregend auf Molnär." Wir begnügen uns mit dem, was der Wortschatz Szenczi-Molnars, seine Assoziationen, die von ihm gebrauchten Bilder bezeugen: Diese ganze Welt, die ungewohnten Sehenswürdigkeiten, Zürich, Genf und die Begegnung mit Beze, Venedig, Rom und das Meer verlieren sich nie mehr aus seinem Gedächtnis. Ebendeshalb möchte ich dem Schweizer und italienischen Ausflug — mag er noch so improvisiert erscheinen und nur einige Monate gedauert haben — eine tiefere Bedeutung beimessen, als es allgemein üblich ist. 2 1
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G. Meyer: Die Entwicklung der Straßburger Universität aus dem Gymnasium und der Akademie des Johannes Sturm. Frankfurt a. M. 1926. — G. Skopnik: Das Straßburger Schultheater. Frankfurt a. M. 1935. — H. Gumbel: Der elsässische Humanismus J. Sturms. Germ. Rom. Monatsschrift. Jg. 26 (1938) S. 135-141. Lajos Dezsi (Szenczi-Molnar Albert. Budapest 1897 S. 62) schreibt: „Szenczi-Molnar machte in Luzern die Bekanntschaft des Mailänder spanischen Gesandten Alfonso und seiner Familie; der Gesandte lud ihn zu einer Italienreise ein und übernahm die Reisespesen und die Verpflegungskosten. Molnär überlegte nicht lange, sondern nahm das Angebot gern an." All das ist eine novellistische Ausschmückung jener wenigen
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Da ich mich schon seit 1933 wiederholt mit den Beziehungen Szenczi-Molnars zu dem Straßburger M. Bernegger befaßt habe 3 , insbesondere aber mit dessen von der stoischen Philosophie und dem neuen bürgerlichen Humanismus befruchteten, auf ganz Europa ausgedehnten Friedenspropaganda, möchte ich hier nur auf einige neue Gesichtspunkte und Tatsachen hinweisen, die mir im Zusammenhang mit dem jetzigen Anliegen wichtig erscheinen. Bernegger war seit 1613 Professor der Geschichte an der Straßburger Akademie, die erst 1621 den Rang einer Universität erhielt. 1626 übernahm er den Lehrstuhl für Rhetorik. Mit seinen Vorträgen über Tacitus' „Germania" (als Buch 1640 erschienen) eröffnete er ein neues Kapitel in der Geschichte des deutschen Patriotismus. Die meisten seiner Hörer, unter denen es zahlreiche Ungarn gab, disputierten unter seinem Vorsitz über Tacitus und Sallust und über Fragen der Geschichte und Politik. In seiner reichhaltigen Bibliothek befand sich die gesamte historische und auch die hungarologische Literatur jener Zeit. Seine Friedensaufrufe, sein Kampf gegen die Jesuiten und die Inquisition, seine Hilfsbereitschaft gewannen ihm die Sympathie des fortschrittlichen europäischen Bürgertums. Er besaß die Kühnheit, die ganze rückständige Welt herauszufordern. Schon 1612 setzte er sich über jegliche biblizistische Vorsicht hinweg und übertrug Galileis erstes im Druck erschienenes Werk („Le operazioni del compasso geometrico e militare", 1606) ins Lateinische. Noch gewagtere Unternehmen waren die Übersetzungen von Galileis berühmtem „System" („Dialogo sopra i due Massimi sistemi del Mondo") und Campanellas Galilei-Apologie; er tat das zu einem Zeitpunkt, als „Galileus noster, qui nuper Lynceus, visu nunc orbatus et paenitus caecus perpetuisque tenebris immersus, vitam ducit satis ceteroquin pro aetate obfirmata valetudine, animo invicto, corpori vires ministrante" (Brief Berneggers an C. Hoffmann 1638). Wer den Galilei-Prozeß kennt, einen der größten Schandflecke der Barockzeit, weiß, was Berneggers Stellungnahme f ü r die neue Wissenschaft bedeutete, auch wenn er schließlich aus Angst vor seinem eigenen Mut klein beigab. Wenn wir von Berneggers Kreis sprechen, meinen wir nicht eine ortsgebundene, geschlossene Vereinigung, sondern eine ideele Arbeitsgemeinschaft von Historikern, Philologen, Philosophen, gebildeten Laien und Schriftsteilem. Den Stamm bildeten Berneggers Schüler, Freunde und Verehrer sowie Männer aus seiner näheren
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sparsamen Zeilen, die Dezsi in seiner einzigen Quelle, Szenczi-Molnars Tagebuch, las; in diesem steht kein Wort über Bekanntwerden, noch über die Familie, sondern nur über das Gesinde (familia), im besten Fall die Begleitung des Gesandten, der er sich anschloß. Da er sich von dem Gesandten in Mailand trennte (nicht in Como, wie Dezsi schreibt), konnte er schwerlich ganz Italien in dessen Gesellschaft bereisen. A magyar irodalom euröpaizalödäsa [Die Europäisierung der ungarischen Literatur]. Budapest 1946. — A magyar felvilägosodäs elötörtenetehez [Zur Vorgeschichte der ungarischen Aufklärung], Irodalomtörtenet [Literaturgeschichte]. Jg. 42 (1954) S. 321—337. — Zu Bernegger vgl. A. Reifferscheid: Briefe G. M. Lingelsheims, M. Berneggers und ihrer Freunde. Bd. I Heilbronn 1889. — C. Bünger: M. Bernegger. Straßburg 1893.
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oder weiteren Bekanntschaft. Sie lebten größtenteils in Heidelberg, Altdorf, Herborn und Marburg; doch gab es kaum eine Universitätsstadt in Europa ohne korrespondierende Mitglieder des Kreises. Szenczi-Molnär war einer der BerneggerVerehrer. Die unmittelbarsten menschlichen und ideologischen Beziehungen verbanden den Kreis mit Heidelberg: Hier lebte und wirkte M. G. Lingelsheim, fürstlicher Rat, Berneggers vertrautester Freund und Protektor. Szenczi-Molnar immatrikulierte sich am 1. Januar 1597 an der Universität Heidelberg. 4 Hier und an den anderen Stätten des kalvinistischen Kulturkreises, in Altdorf, Herborn, Marburg und Frankfurt am Main, erhielt er, wenn auch anfangs in nicht minder starren, schulmäßigen, theologischen Schranken, einen ganz anders gearteten Anschauungsunterricht als in Straßburg. Rings um ihn war eine neue Welt im Entstehen. Es ist keine übertriebene Behauptung, daß die deutsche humanistische Tradition hier und jetzt, am Vorabend des großen Krieges, in Sprache und Geist national wurde, sich in der Lyrik, in der Musik von der Bevormundung durch die Theologie frei machte und sich weltliches Fühlen und Denken zu eigen machte. 1605 wurde in Kassel das erste ständige Theater Deutschlands gebaut. Aus dieser Welt ging der größte literarische Übersetzer des Jahrhunderts, Dietrich von dem Werder, hervor. Und wo unter dem starken Einfluß der französischen, englischen und italienischen Kultur die Gefahr des Kosmopolitismus am größten war, wurde die erste deutsche Gesellschaft für Sprachpflege, die Fruchtbringende
Gesellschaft
oder Palmenorden,
1617,
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gründet. Zu den Zielen der Gesellschaft gehörten vor allem die Pflege der nationalen Sprache, aber auch die Herstellung der deutschen Einheit. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts hatten die humanistischen Bestrebungen zur Erschließung der Geschichte des deutschen Volkes und der ältesten und mittelalterlichen Denkmäler der deutschen Dichtung nicht aufgehört. Doch erst jetzt, um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, gewannen diese Bestrebungen in Heidelberg einen richtigen nationalen Inhalt und eine systematische Perspektive durch Marquard Frehers Quellenforschungen und Melchior Goldasts Textausgaben und Erklärungen (Minnesang, Ritterepik). Freher war Diplomat und Professor an der Heidelberger Universität. Persönliche Beziehungen verbanden ihn mit dem aus der Schweiz 4
J. F. Hautz: Geschichte der Universität Heidelberg. Bd. I—II Mannheim 1862. — Paulsen-Lehmann: Geschichte des gelehrten Unterrichts. Bd. I Leipzig 1919 S. 246. — Zum kulturellen Leben der kalvinistischen Länder: F. Walter: Geschichte des Theaters und der Musik am neupfälzischen Hofe. Leipzig 1889. — F. J. Schneider: Die deutsche Literatur des Rheingebietes seit Anfang des 17. Jahrhunderts (Der Deutsche und das Rheingebiet). Halle 1926 S. 159. — W. Schoof: Die deutsche Dichtung in Hessen. Marburg 1901. — Zu den französisch-deutschen kulturellen Verbindungen: V. Ressel: Histoire des relations littéraires entre la France et l'Allemange. Paris 1897. — G. Steinhausen: Die Anfänge des französischen Literatur- und Kultureinflusses auf Deutschland. Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte. N. F. Jg. 7 (1894) S. 349. — C. Gebauer: Geschichte des französischen Kultureinflusses auf Deutschland. Straßburg 1911.
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stammenden Goldast, der dem Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz behilflich war, die schönsten Handschriften des Minnesangs f ü r die Heidelberger Bibliothek zu beschaffen. 5 Der junge Opitz hatte noch vor seiner Heidelberger Zeit, aber bereits in Kenntnis einiger alter Texte, seine lateinische Flugschrift über die „Rangerhöhung" der deutschen Sprache und Literatur geschrieben: „Aristarchus sive de contempiu linguae teutonicae" (1617). Wir werden sehen, wieweit SzencziMolnär an dieser Welt interessiert war. Wir erwähnten bereits den Namen Lingelsheim. Langelsheim kam 1584 als Erzieher des späteren Kurfürsten Friedrich IV. nach Heidelberg. Er war Jurist und Hofhumanist, doch frei von der Vorsichtigkeit und Oberflächlichkeit dieses Typs. Als einer der wenigen lebte er noch mit Leib und Seele im Strome der Zeit. Sein Denken war weder von Biblizismus noch von Dogmen beschwert; bezeichnend f ü r sein Verhalten ist, daß er im Gegensatz zu seinem Freund Bernegger, der vor der letzten Konsequenz, der „Kopernikanischen Wendung", zurückschreckte, bis zum Schluß ein „totus Copernicanus" blieb. Wenn auch das ideologische Programm der beiden Freunde das gleiche war im Kampf um den Frieden, gegen die konfessionelle Intoleranz und die Jesuiten, dachte Lingelsheim doch in erster Linie als Politiker und Kulturpolitiker. Sein Blick war auf das ganze fortschrittliche Europa gerichtet; und es gab eine Zeit, da er die Fäden der kalvinistischen Politik ganz Europas in der Hand hielt. Daher kam es, daß sein Freundeskreis anders zusammengesetzt war wie der seines Freundes Bernegger, daß bei ihm neben den zahllosen Theologen und Gelehrten — dem „großen" Hugo Grotius, Johannes Althusius, Johannes Kepler, Gruter, G. J. Vossius — Männer wie der Dichter Opitz, der Erzieher der Lingelsheimschen Kinder war, Politiker und Diplomaten, zum Beispiel der französische Gesandte J. Bongars, der Beauftragte der Niederländischen Stände, P. Brederode, und der Schwede Axel Oxenstierna, Zutritt fanden. Mit dem Ausbruch des großen Krieges und dem Ende des Winterkönigtums des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz endete auch Lingelsheims politische Laufbahn; er siedelte 1621 nach Straßburg über, kehrte 1633 nach Heidelberg zurück, mußte ein J a h r später erneut fliehen und starb 1636 als Achtzigjähriger in Frankenthal. Es ist erstaunlich, wie er — sein letzter Brief zeugt davon 6 — noch angesichts des Todes seine Menschenwürde zu wahren wußte. Mit Recht sah Szenczi-Molnär in diesem großen Manne sein Vorbild. Interessant und lehrreich ist es zu verfolgen, wie Szenczi-Molnär in diese geistige Welt eintrat, wie er sich allmählich in ihr zurechtfand, wie er von Tag zu Tag 3
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R. von Räumer: Geschichte der germanischen Philologie. München 1870 S. 48. — R. Sokolowsky: Das Aufleben des deutschen Minnesanges. Jena 1891 S. 8. — S. von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Göttingen 1920 S. 126. — W. Stammler: Deutsche Philologie im Aufriß. Bd. I Berlin 1952 S. 99. Reifferscheid a. a. O. (s. Anm. 3) S. 559. — Der Brief ist an den Straßburger Buchdrucker und Buchhändler I. Glaser geschrieben. Die letzten Zeilen lauten: „Nolo, deplorent meas miserias: sed credant mihi, quemcunque forte videris, miserum neges. Valete."
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Beschützer und Freunde gewann, wie er sich „humanisierte" und wie sich sein menschlicher Erfahrungsbereich und sein geistiger Gesichtskreis erweiterten. Leider ist nur ein Bruchteil seiner Briefe erhalten geblieben. Doch glücklicherweise besitzen wir sein „Tagebuch", die Antwortschreiben seiner Bekannten, Freunde, Gönner und Mitarbeiter, und auch deren untereinander gewechselte Briefe, die den Verlust einigermaßen ersetzen. Lingelsheim war einer der ersten, mit dem Szenczi-Molnär bekannt wurde. So erfahren wir, daß Lingelsheim dem Ungarn 1603 ein Goldstück schenkte und ihn von da an nicht mehr aus den Augen verlor. Im April 1607 versicherte er Szenczi-Molnär in einem Brief seines größten Wohlwollens, und als Lingelsheim einige Monate später mit seinem besten Freunde, dem Pfälzer Oberbeamten und politischen Geschäftsführer Hippolyt a Collibus, frühstückte, war auch SzencziMolnär dabei. Kurz zuvor war er einer Einladung des Landgrafen Moritz von Hessen, dem er sein Psalterium überreicht hatte, zu einem Schiffsausflug der gräflichen Familie gefolgt. Wie sehr mag dies alles das gesellschaftliche und moralische Selbstbewußtsein des einstigen Bettelstudenten gehoben haben, auch wenn es lediglich Höflichkeitsakte gewesen wären! Daß es sich jedoch um mehr handelte, geht daraus hervor, daß Lingelsheim Szenczi-Molnär ein Hochzeitsgeschenk sandte, die Patenschaft über dessen Sohn annahm und — was wichtiger ist als derartige private und menschlich-gefühlsmäßige Beziehungen — sein literarisches Fortkommen förderte. Ein Beweis dafür ist die Nachdrücklichkeit, mit der Szenczi-Molnar Lingelsheims Namen in den Vorworten zu seiner „Secularis Concio Evangelica" (1618) und zu seinem „Lexicon Latino-Graeco-Ungaricum" (1621) anführt. Das gefeierte Dichtermitglied des Kreises; um Bernegger-Lingelsheim, Martin Opitz, war seit 1619 Erzieher von Lingelsheims Kindern. (Einige Zeitgenossen wollen wissen, daß er Lingelsheims Tochter Kunigunda Liebesgedichte schrieb.) Im Hause Lingelsheim lernte Szenczi-Molnar den Dichter kennen, und aus dieser Bekanntschaft entstand eine Freundschaft für das Leben. Wäre der Briefwechsel der beiden erhalten geblieben, wüßten wir mehr darüber, was dem Professorat Opitz' in Weißenburg voranging. Er dürfte es Szenczi-Molnär zu danken gehabt haben, daß er nicht unvorbereitet nach Siebenbürgen kam. Das einzige Denkmal dieser Freundschaft ist ein Brief, den Opitz 1630 aus Paris an den Preßburger Martin Schödel schrieb, als dieser in seine Heimat zurückkehrte. 7 Wohl wenige Zeitgenossen haben die Bedeutung Szenczi-Molnärs so unmißverständlich formuliert wie Opitz: „Claudiopoli Albertus Molnar est, vir eruditissimus, cuique Hungaria prae omnibus aliis debet, qui unquam apud vos literarum studia exercuerunt. Si perpendant vestrates, quantum ecclesiam, quantum scholas magnis laboribus suis iuverit, fortunam eius satis antea nutantem in solido tandem collocabunt." 8 Aber Opitz bekannte sich nicht nur in einem Privatbrief zu seiner 7 8
A magyar irodalom europaizalödasa a. a. 0. (s. Anm. 3) S. 22. Reifferscheid a. a. 0. (s. Anm. 3) S. 402. — Szenczi-Molnär Albert naplöja, levelezese es iromänyai [Tagebuch, Briefe und Aufzeichungen von A. Sz.-M.]. Herausgegeben v. L. Dezsi. Budapest 1898 S. 396.
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Freundschaft mit Szenczi-Molnär, sondern auch vor der Öffentlichkeit, als er in der Widmung zu seiner Sammlung „Die Klagelieder Jeremiae" Scenczi-Molnär neben den bekanntesten Psalmen-Übersetzern der Neuzeit, dem Deutschen Paul Schede-Melissus, den Franzosen Marot und Beze, dem Italiener Perotti und dem Holländer Dathenus, anführte. 9 Auch Kepler, der große Astronom, wohl der bedeutendste wissenschaftliche Geist, dem Szenczi-Molnar begegnet ist, zeugt für ihn. Wir bedauern, daß nur eine einzige authentische Quelle, Keplers Brief, einiges Licht auf diese Begegnung wirft. Doch geht daraus hervor, daß Szenczi-Molnar auch vor Kepler die Probe bestanden hat. Dezsi berichtet über die Einzelheiten der Prager Reise, doch er konnte natürlich nicht wissen, daß Kepler mit Bernegger und Lingelsheim befreundet war und daß die Mitglieder des Straßburg-Heidelberger Kreises SzencziMolnärs Reise nach Prag vorbereitet hatten. Zu erwähnen blieben noch Brederode, der niederländische, und Bongars, der französische Gesandte (1554—1612), die Herausgeber der „Collectio Hungaricarum Rerum" (Frankfurt 1600). 10 Beide standen Lingelsheim nahe. Szenczi-Molnär übersetzte f ü r Brederode die Geschichte der Verschwörung Kendis ins Lateinische („Conspiratio Kendiana Transsylvanica") und kopierte in Bongars' Auftrag fünfzig Briefe von Andreas Dudith sowie die Manuskripte des englischen Gelehrten Henry Savile (Savillus). 11 Es gab andere Personen, denen Szenczi-Molnär menschlich viel näher stand; hierzu zählen Georg Rem, Nürnberger Rechtsbeirat, Philologe und Dichter; Conrad Rittershausen, Rechtslehrer in Altdorf, und der Philosoph Bartholomäus Keckermann. Andere wiederum kannte Szenczi-Molnär nur aus ihren Universitätsvorlesungen, von ihren Predigten oder ihren Werken, ihrem Ruhm oder dem Namen nach. Mit vielen wechselte er Briefe. Man erkennt die pathetischen Formeln der barocken Höflichkeit, die landläufigen Phrasen, die den Briefschreiber zu nichts verpflichten. Und doch, wenn man die Briefe an Scenczi-Molnär liest, beeindruckt sogleich die Sprache aufrichtiger Liebe und Hochschätzung, an deren Echtheit man um so weniger zweifeln möchte, als diese Briefe nicht an einen Mann von Rang und Würden gerichtet sind, sondern an einen armen Wanderstudenten, Druckereikorrektor, Erzieher und Lehrer. Und Worten der Anerkennung für den Menschen wie den Gelehrten begegnet man auch dann, wenn die Briefe nicht an ihn, sondern an dritte gerichtet sind. Es verhält sich tatsächlich so, wie Szenczi-Molnär über seine 1623 unternommene niederländische Reise (in ungarischer Sprache) schrieb: „Im vergangenen Sommer, als ich auf den Rat guter Freunde mit dem Schwiegersohn des Herrn Abraham Scultetus Gwölfius Reinhard auf dem Rhenus in die Küstenstädte schiffte, wurden wir in Belgien überall mit großer Liebe empfangen, und die Senioren und Beamten einiger Städte, mit denen wir durch 9 10 11
Die Klage-Lieder Jeremiae, poetisch gesetzt durch Martin Opitzen . . . Görlitz 1626. L. H. Hagen: Zur Geschichte der Philologie. Berlin 1879 S. 55. Tagebuch a. a. 0. (s. Anm. 8) S. 34. — Dictionary of National Biography. Bd. XL London 1897 S. 367. — Dezsi wußte mit dem Namen nichts anzufangen. — Eine Arbeit von Savile (Henrici Savilis Commentarius de militia Romana) hat auch Lingelsheim übersetzt, s. Reifferscheid a. a. 0 . (s. Anm. 3) S. 689.
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Vermittlung unserer Freunde bekannt geworden waren, beehrten uns mit schönen Unterstützungen, so in Colonia, Vesalia, Embrica, Ressa, Arnheimium, Hardervicum, Amsterodam, Lugdunum, den Haag usw." Wenn wir uns nur die zwei Jahrzehnte (1600—1622) vor Augen halten, in denen sich Szenczi-Molnar — mit kurzen Unterbrechungen — geographisch und ideologisch einem großen Kreis zugehörig fühlen und die Hilfe einflußreicher Freunde und Gönner genießen durfte, dann können wir mit Recht sagen, daß es kaum einen ungarischen Schriftsteller im Ausland gab, dem sich die Quellen der Kultur und der Wissenschaft so weit erschlossen haben und der davon bis an sein Lebensende so reichlich Gebrauch gemacht hätte. Die Geschichtsauffassung Szenczi-Molnärs bildete sich also heraus in der Atmosphäre eines Universitätshistorismus, wie er um die Jahrhundertwende bestand. Davon, daß er über seine Zeit hinausging, daß seine Anschauung den biblizistisch-theozentrischen Charakter abstreifte und daß er die Geschichte nicht als eine Offenbarung von Gottes unabänderlichem Willen auslegte, kann natürlich keine Rede sein. Andrerseits aber sind bei ihm — das geht aus seinen Widmungsschreiben und Vorreden hervor — nur ganz vereinzelt Spuren jenes historischen Pessimismus zu finden, der so schwer und bedrückend auf der ungarischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts lastete und der in jeder nationalen Katastrophe Gottes strafende Hand sehen zu müssen glaubte. 12 Nicht zufällig wandte sich Szenczi-Molnar mit besonderer Vorliebe der Gestalt des Königs Matthias Corvinus und dem Zeitalter der Renaissance zu. Und nicht weniger beachtenswert ist es, daß er in zunehmendem Maße in historischen Kategorien dachte, ein Zeichen dafür, daß er die in seiner nächsten Nähe betriebenen germanistischen und überhaupt die philologischen Forschungen mit größter Aufmerksamkeit verfolgte. Wie die meisten in seinem Freundeskreis hat er auch das aufsehenerregende Werk des jungen Opitz, den „Aristarchus," gelesen. Nicht weniger ist er von dem Leitsatz der Flugschrift beeindruckt worden, dein aus dem nationalen Rivalisieren der Humanisten so wohlbekannten Satz: „Die deutsche Sprache steht weder hinter der spanischen noch der italienischen, noch der gallischen zurück." Und ebenso hat ihn der Beweis der These beeindruckt, nämlich der Hinweis auf die alte deutsche Dichtung. Woher, wenn nicht aus diesem Kreise, hätte er seine Kenntnisse geschöpft über „jenen großen Kaiser Karl aus dem Geschlecht der Erbauer der abendländischen Reiche, den allerglorreichsten und wunderbarsten Fürsten aller christlichen Länder. Derselbe hat neben anderen großartigen Taten zur Erhaltung der Heiligen Bücher und der nützlichen Wissenschaften und zu ihrer Verbreitung so viele Kollegien gegründet wie es Buchstaben im deutschen Alphabet gibt: in Aquisgranum das erste und das letzte in Zürich, der Hauptstadt Tigurum der Helvetier. Zwei davon aber, die mit den Buchstaben F und H, befinden sich im Lande Eurer Fürstlichen Hoheit (Moritz von Hessen), 12
Über die ideologischen Wurzeln dieses Pessimismus s. J. Turöczi-Trostler: Az orszägokban valö sok romlasoknak okairöl [Über die Ursachen der vielen Übel in den Ländern]. Budapest 1933. Ferner seinen Aufsatz: Die Anfänge der ungarischen Geschichtsprosa. Ungarische Jahrbücher. Bd. XIV (1934) S. 116-134.
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in Hassia" („Szent Biblia" [Heilige Bibel] Hanau 1608. Widmung). Es läßt sich denken, welch tiefen Eindruck es auf Szenczi-Molnar machte, als er sah, wie die Schätze der Bibliothek von Heidelberg zutage gefördert wurden. Jetzt erst versteht man seine vielzitierte schmerzliche Feststellung (in der Widmung zur „Grammatica"): „Libros sane Ungarico idiomate scriptos habemus admodum paucos, neque incidi unquam in Ungaricum codicem manu scriptum." In diesem Zusammenhang sei auf einige Angaben hingewiesen, die, obgleich philologischer Natur, Szenczi-Molnärs Beziehung zum entwicklungsgeschichtlichen Denken neu beleuchten. In der zweiten Widmung zu seinem ungarisch-lateinischen „Dictionarium" (Altdorf, 1604) spricht er von den schwer verständlichen Wörtern, die Sambucus aus Werboczis „Tripartitum" 13 herausgeschrieben hat und die er im Anhang seines Wörterbuchs anführte und um einige „barbarische" (ungewöhnliche) Wörter aus dem „Index" des Sambucus vermehrte. Eine Aufzeichnung Szenczi-Molnärs über veraltete, ungewohnte lateinische Wörter, deren Gebrauch einem vorkomme, als verkoppele man lebende und tote Körper miteinander, gehört auch hierher und dürfte aus derselben Zeit stammen. Wer würde heute das Vaterunser, fährt Szenczi-Molnär fort, in der deutschen Sprache von vor siebzig Jahren sprechen? Und zum Beweis führt er den Text eines alten deutschen Vaterunsers an: „Fater unser im himele bist, din namo werde geheiligot, din Riehe chome, din Willo geskehe, in erdo also in himele. Unser tagolicha brot kib uns hiuto. Und unsere schulde belasz uns, als auch wir belassend unseren schuldigen. Und in Chorunge nicht leitest du unsich, nun belose unsich fone ubele. Amen." Der Text kann, von einigen Schreibfehlern und Modernisierungen abgesehen, als authentisch gelten. Was Szenczi-Molnär nicht wissen konnte, war, daß es sich nicht um ein siebzig Jahre altes, sondern um ein althochdeutsches Vaterunser handelte und daß gerade darin seine Bedeutung lag. 14 Sicherlich hat Szenczi-Molnär keinen handschriftlichen, sondern einen gedruckten Text kopiert. Die Frage ist nur, wie er in dessen Besitz gelangte. Und hier wird Szenczi-Molnärs Text zu einem auch die Geschichte der Germanistik interessierenden Problem. 15 Das erste bekannt gewordene althochdeutsche Vaterunser ist mit dem Namen des berühmten St. Gallener Mönchs Notker Teutonicus (gest. 1022) verbunden. Entdeckt hat es der schweizer-deutsche humanistische Schriftsteller und Gelehrte Joachim Watt-Vadianus (1484—1551), dessen Werk, in dem es veröffentlicht werden sollte, („Farrago ant. de collegiis et monasteriis Germaniae veteribus", 1547) Goldast erst 1606 herausgab. Den Text des Vaterunsers ließ er jedoch schon früher Johannes Stumpf zukommen, der ihn in seiner „SchweizerChronik" 1547 erscheinen ließ. Von hier übernahm ihn Conrad Gesner, der viel1!
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Tripartitum Opus Juris Consuetudinarii Incliti Regni Hungariae. Orania studia J. Sambuci . . . Wien 1581. Dezsi, der auf Grund von Szenczi-Molnärs Tagebuch den Text zum erstenmal publiziert (Tagebuch a. a. 0 . S. 145), knüpft daran keine Bemerkung (s., Anm. 8). Zu den folgenden s. Raumer: Geschichte der germanischen Philologie. München 1870 S. 29. — G. Ehrismann: Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters. Bd. I München 1918 S. 293, 296.
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seitigste Polyhistor des 16. Jahrhunderts, Verfasser der „Bibliotheca Universalis", und veröffentlichte ihn 1555 in seinem „Mithridates". Szenczi-Molnär mußte die Bibliotheca gekannt haben, das geht aus seiner „Idea Christianorum Ungarorum sub tyrannide Turcica" hervor; den „Mithridates" dagegen wird er wohl kaum gelesen haben, sonst wäre die „Sensation" des Buches, das Ave, das Vaterunser und die Grundzahlen bis zehn in ungarischer Sprache, seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Sein althochdeutsches Vaterunser stimmt auch mit jenem St. Gallener Paternoster (um 790) nicht überein, das der zu seinem Freundeskreis gehörende M. Freher 1609 veröffentlichte („Orationis dominicae et' symboli apostilici allemanica versio vetustissima"). Mit anderen althochdeutschen Sprachdenkmälern kann der Text nicht in Verbindung gebracht werden, da diese ausnahmslos erst im 18. Jahrhundert veröffentlicht wurden. Dabei steht der Text dem ältesten, dem Vaterunser Notkers (um 1000) 16 so nahe, daß er eine etwas modernisierte Variante sein könnte. Mit dieser kleinen „Entdeckung" haben wir — das wollen wir eingestehen — nur einen schmalen Spalt geöffnet, durch den wir in die Welt des unbekannten SzencziMolnär blicken können. Einige ähnliche Einblicke würden uns vermittelt, wenn wir, von Werk zu Werk gehend, die erforderlichen Milieustudien betreiben würden. Wir sind uns dessen bewußt, daß Albert Szenczi-Molnär kein eigentlich schöpferischer Geist war, wohl aber einer der bewußtesten und produktivsten ungarischen Schriftsteller, der im Maßstab des humanistischen bürgerlichen Europas gemessen werden muß. Die Frage ist berechtigt, wie er sich zu einem ungarischen Schriftsteller entwickeln konnte, obgleich er jahrelang fern seiner Heimat, fern den lebendigen Quellen seiner Muttersprache, in fremdem Land unter fremden Menschen lebte, deren Sprache sprach, deren Bücher las, dort sein Betätigungsfeld fand. Wie konnte er dennoch, und zwar ohne Widerspruch, die europäische Perspektive mit der ungarischen in Einklang bringen? Man braucht hier nur auf die vielen Ungarn unter seinen Zeitgenossen hinzuweisen, die in ähnlicher Umgebung, in fremden Ländern lebend, der ungarischen Kultur verlorengingen. Als Beispiel mag Sambucus dienen, das große und bewunderte Vorbild SzencziMolnärs, der über der europäischen Perspektive die ungarische aus den Augen verlor. Allerdings stand der Fall Szenczi-Molnärs weder früher noch später vereinzelt da. Es sei an das Erwachen der Schriftsteller erinnert, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Kreis der Wiener Ungarischen Garde hervorgingen, oder es sei — auf die Gefahr hin, Disproportionen zu schaffen — auf ganz große Beispiele der modernen Weltliteratur, auf Börne und Heine verwiesen. Börne wurde während seiner ersten Pariser Jahre der größte deutsche Publizist seiner Zeit, und Heine entwickelte sich, ebenfalls in Paris, zu einem der größten politischen Dichter des deutschen Volkes. Doch welche anderen Kräfte, welche gesellschaftlichen und politischen Faktoren, mußten mitwirken, damit SzencziMolnär seine Mission erfüllen und nicht nur die lateinische, sondern auch ungarische Literatur pflegen konnte? 16
Erste Ausgabe in Johannes Stumpf: Schwytzer Chronica . . . Zürich 1548.
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Die Liebe zur Muttersprache brachte er von Hause aus mit. Als Schüler in Debrecen schrieb er ungarische Verse. Er las alles Ungarische, was ihm in die Hände kam, so begierig, daß ihn seine Lehrer mit Gewalt davon abhielten, damit er das Lateinische nicht vernachlässige. Bekannt ist seine Lehrlingstätigkeit an der Seite des Bibelübersetzers Gâspâr Karoli. Szenczi-Molnâr fand, wie er mit Nachdruck betont, in der Person Demeter Siboltis einen Protektor, der ihm eigene Werke schenkte. Dies scheint der stärkste Antrieb f ü r ihn gewesen zu sein. 17 Vielleicht befand sich unter den geschenkten Büchern auch „Lelki harc" (Seelischer Kampf), denn Szenczi-Molnâr hätte nichts Besseres, Ermutigenderes mit auf den Weg bekommen können als einen Leitgedanken des Buches, der auch zur Richtschnur seiner Laufbahn werden sollte: „Gott und die Wahrheit sind mächtiger als der Teufeil und die Sünde, das Leben ist stärker als der T o d . . . " 18 Die Muttersprache war Seenczi-Molnärs unveräußerliche Heimat auch in der fremden Umgebung. Er führte sein Tagebuch lateinisch, wechselte aber zeitweise ins Ungarische über, sooft er instinktiv spürte, daß er seine tiefsten Gefühle und Gedanken nur in der Muttersprache ausdrücken konnte. So scheint es uns ganz natürlich, daß er auf Ungarisch erzählte, wie er um die Hand Kunigunde Ferinaris anhielt. Als er 1600 nach neunjähriger Abwesenheit die Heimat wieder besuchte, berichtete er in seinem Tagebuch lateinisch über diesen kurzen Besuch. Dagegen bediente er sich viele Jahre später, als er längere Zeit in Ungarn weilte und sich seine Sinne beinahe zusehends für die Aufnahme heimatlicher Eindrücke öffneten, der ungarischen Sprache für seine Aufzeichnungen. Das Lateinische kommt nur noch vereinzelt vor. Aber Szenczi-Molnâr brauchte nicht erst in die Heimat zurückzukehren, um den Kontakt mit der Muttersprache zu wahren. Wo er hinkam — seit dem Straßburger Aufenthalt —, traf er überall Ungarn, die diesen sprachlichen Kontakt belebten. Die Heidelberger Universität war zwischen 1592 und 1622 geradezu überflutet von ungarischen Studenten. Auch an den anderen kalvinistischen Akademien und Hochschulen fehlten sie nicht. In Heidelberg haben führende Persönlichkeiten des ungarischen Kalvinismus studiert, wie der Unionist Jânos Samarjai, der nachmalige Diskussionspartner Pâzmânys, Péter Alvinczi, ferner die späteren orthodoxen Bischöfe Siebenbürgens, Jânos Keserüi-Dajka und Istvân Geleji Katona, der Guevara-Übersetzer Andrâs Prâgai und zwei lorbeergekrönte humanistische Dichter, György Turi und Jânos Filiczki. Szenczi-Molnâr begegnete vielen von ihnen, mit manchen schloß er Freundschaft fürs Leben. Ihnen und seinen Verwandten, ungarischen Bekannten und Gönnern, hatte er es zu verdanken, daß er nicht nur den sprachlichen Kontakt mit Ungarn, sondern auch den geistigen und politischen ständig wahrte. Durch sie wurde er auf dem laufenden gehalten über die Vorfälle in der Heimat, wenn auch diese Berichte durch einen lokalen Gesichtskreis eingeengt bleiben mußten. Den europäischen Überblick zum besseren Ver17 18
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Dictionarium Ungarico-Latinum. Nürnberg 1604. Widmung. Über Sibolti s. Jânos Horvâth: A reformatio jegyében [Im Zeichen der Reformation]. Budapest 1953 S. 241. Deutsch-ungarische Beziehungen
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ständnis der ungarischen Lage erhielt Szenczi-Molnar vom Bemegger-LingelsheimKreis. Seit dem katastrophalen Ausgang der Schlacht bei Mohäcs (1526) hatte zwar ganz Europa seine Augen auf Ungarn gerichtet, doch verlor es, ein gewohntes Element des politischen Weltbildes, allmählich seine beunruhigende, spannungsgeladene Bedeutung. Erst der fünfzehnjährige Türkenkrieg, Bocskais Kampf für die Unabhängigkeit, lenkten die Aufmerksamkeit des in ein protestantisches und katholisches Lager geteilten Europas wieder auf den ungarischen Schauplatz. In den kalvinistischen Ländern Deutschlands erregten hauptsächlich die Übergriffe der katholischen Reaktion in Ungarn einerseits und Bocskais Erfolge andererseits lebhaftes Interesse, ein Widerschein davon fiel auf Szenczi-Molnar: Seine vornehmen Gönner, unter anderen Lingelsheim, schätzten ihn nicht nur als ungarischen Studenten und angehenden Wissenschaftler, sondern sie sahen in ihm auch den Vertreter der ungarischen Kalvinisten. Das erklärt die erhöhte Aufmerksamkeit, mit der sie seine Studien und Arbeiten verfolgten. Aber sie sorgten auch für seine politische Bildung. Der eine oder andere Brief von Bartholomäus Keckermann oder Georg Rem ist eine regelrechte politische Lektion: Ihre Informationen über Ungarn sind überraschend genau und stammen aus zuverlässigen Quellen. Szenczi-Molnar lernt hieran die ungarische Politik aus der Perspektive der europäischen Politik sehen; doch noch etwas anderes nimmt er in sich auf: den Haß gegen die katholische Reaktion, die Jesuiten und Rom, den man aus dem Anhang zur „Secularis Concio Evangelica" oder den „Analecta" geradezu strömen fühlt. Im Briefwechsel Szenczi-Molnärs finden sich manche Stellen, die wie Summierungen ungarisch-deutscher Gespräche und Diskussionen wirken. Sicherlich waren die Diskussionen leidenschaftlicher, als Auseinandersetzungen rein literarischwissenschaftlichen Inhalts zu sein pflegen. Ich denke hier etwa an den Streit über die Person Bocskais und über die Beweggründe seines Aufstandes. Keckermann gesteht an einer Stelle, er stehe dem Problem Bocskai ratlos gegenüber, die Meinungen über ihn gingen so weit auseinander. Zwar habe er Bocskais „Apologia" 19 gelesen, wage aber doch nicht, dazu Stellung zu nehmen. Eben deshalb bitte er Scenczi-Molnär, ihm etwas Schriftliches zu schicken, spfern er darüber verfüge (1. September 1604). So fragten, stritten, politisierten im Umkreis von SzencziMolnar alle, natürlich nicht nur über Ungarn, sondern auch über die europäische Lage, über die Bildung der zwei feindlichen Lager, des katholischen und des protestantischen. Mit der ideologischen Klarsicht von Berufspolitikern und Diplomaten konnten das natürlich nur Lingelsheim und sein enger Kreis —Hippolyt a Collibus, P. Brederode, Marquard Freher, Ludwig Camerarius, der Franzose Bongars, der kaiserliche Rat M. Wacker in Prag —, die alle Szenczi-Molnar ihres J9
Szenczi-Molnar schreibt, er habe am 12. Juni 1608 in Hanau Bocskais ungarische Apologie neu drucken lassen (reeudi curavi Apologium Ungaricum Bocskai). Da Keckermann die Apologie bereits 1605 gelesen hatte, mußte die erste Ausgabe schon früher oder spätestens in diesem Jahr erschienen sein.
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Vertrauens würdigten. Nicht zufällig erschien gerade 1606 die „Ungarische Chronica" des hessischen Hofhistorikers Wilhelm Schäfer — als ein Nebentrieb des politischen Interesses. 20 Es ist kein bedeutendes und auch nicht ganz unvoreingenommenes Werk, gehört aber doch zum Gesamtbild. Indessen gibt es auch andere, edlere Ergebnisse jener Atmosphäre. Seit 1598 las der Theologe David Pareus, Verfasser des „Irenicum", an der Heidelberger Universität. Sein Lebensziel war, die protestantischen Konfessionen miteinander zu versöhnen. Die Zahl der ungarischen Studenten, die unter seinem Vorsitz diskutierten, betrug mehr als siebzig. Manche von ihnen wirkten später in ihrer Heimat in seinem Geiste. Der bedeutendste unter ihnen war Jänos Samarjai, der in seiner „Magyar Harmonia" achtzehn Paragraphen aus dem „Irenicum" übersetzte (Päpa 1628). Pareus' Sohn, Johann Philipp, ein klassischer Philologe, hatte von seinem Vater die Liebe zu Ungarn geerbt. Zwar zerschlug sich sein Plan, Janus Pannonius' Werke herauszugeben, aber 1619 veröffentlichte er in Frankfurt eine Sammlung lateinischer Gedichte von Janus Pannonius, Jänos Sommer, György Turi und Jänos Filiczki (die beiden letzteren waren Szenczi-Molnärs Freunde) unter dem Titel „DeliciaePoetarum Hungaricorum". Einen dichterischen Genuß gewähren uns nur die Gedichte von Janus Pannonius, doch als erstes ungarisches Dokument der neuen humanistischen Einheitsfront erregte die Sammlung überall in Europa Aufmerksamkeit und verdient deshalb auch heute noch Beachtung. Mit einiger Übertreibung könnte man sagen: Wo immer in der zeitgenössischen deutschen Literatur Zeichen einer tieferen Ungarnfreundschaft sichtbar werden, gehen sie auf den Straßburg-Heidelberg-Kreis zurück. In Tübingen, der alten Stadt des deutschen Humanismus, bezeugt diesen Geist Thomas Lansius, ein Freund Berneggers und Lingelsheims, seit 1606 Professor der Jurisprudenz an der Universität. 21 Sein interessantestes Werk, das ihm europäischen Ruf sicherte, ist „Consultatio" eine hohe Schule der Bildung humanistischer Redner und Politiker. Zugleich bietet Lansius ein Beispiel f ü r die praktische Anwendung der neuen Wissenschaft des Jahrhunderts, der Lehre von den Volkscharakteren. Die „Consultatio" behandelt Geschichte, staatliche Einrichtung und geistige Kultur der sieben führenden Nationen Europas, der deutschen, französischen, englischen, spanischen, polnischen, italienischen und ungarischen, und zwar in Form einer Diskussion aus der doppelten Perspektive der bis zum äußersten geführten Thesis und Antithesis, der Anklage und Verteidigung, Idealisierung und Verzerrung. Anklage und Verteidigung werden von siebzehn aristokratischen Rednern besorgt, streng im Geiste Quintilians und in „Deklamationen", die nach seinen Anweisungen aufgebaut sind. 20
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Ungarische Chronica . . . continuieret durch Wilhelm Schäfer, genandt Dilich. Cassel 1606. Siehe über ihn: R. Stinzing: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Bd. I München 1880 S. 690. — Allg. Deutsche Biographie. Bd. XVII Leipzig 1883 S. 700. F[ried] A[chillis] D[ucis] Württemberg]: Consultatio de principatu in provinciis Europae habita. Editio secunda priori emaculatior et auctior: opere et studio Th. Lansii. Tubingae 1620. — Die erste Ausgabe (1613) wurde bald nach ihrem Erscheinen auf den Index gesetzt.
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Der Wortführer Ungarns ist ein württembergischer Baron („Oratio". Henrici Alberti, Limpurgi Baronis S. R. I. pincernae hereditarii et Semper liberi pro Hungaria, 438). Der Grundtext seiner Deklamation ist ein humanistisches Erbe aus der ersten heroischen Zeit der kämpferischen Ungarn: „Die Ungarn sind das tapferste Volk Europas, ihr Land ist ein Paradies auf Erden. Der Geist des Volkes ist dem reichen Boden angemessen. Die Ungarn haben der Kirche Männer geschenkt wie den heiligen Martin und den heiligen Hieronymus und der Wissenschaft Gelehrte wie Andreas Dudith und Sambucus. Die Namensliste der wegen ihrer Gelehrsamkeit berühmten Ungarn ist so reich wie die der Deutschen oder der Spanier. Die ungarische Geschichte ist ein einziger Triumphzug, an dessen Spitze acht aus Pannonien stammende römische Kaiser marschieren. Den Höhepunkt bildet Matthias, der neue Alexander der Große der ungarischen Renaissance. Europa möge zur Kenntnis nehmen: Ungarn ist der Schutzwall der Christenheit; gäbe es keine Ungarn, so stünden die Türken vor unseren Toren. Die Ungarn werfen ihr Land dem grimmigsten Tyrannen Asiens als Beute hin, sie opfern ihre Habe und fangen mit ihrem Leib die auf die ganze Christenwelt abgeschossenen Pfeile auf, nur damit die anderen Völker sich im Schatten erfreuen, die größten Wohltaten der Ruhe und des Friedens genießen können: ,Ita Germani per Hungarorum arma ditescunt, Itali per Hungarorum funera vivunt, Galli per Hungarorum calamitates quiescunt, Hispani per Hungarorum jacturas crescunt, Britani per Hungarorum labores gaudent, Sarmatae per Hungarorum beneficia sunt in tuto. Ita velut Dei opt. Max. hominumque consensu et arbitrio Hungaria facta est clypeus et arx Christianitatis inexpugnabilis.'" — Wir wissen sehr wohl, was man von dieser Gattung, von der Aufrichtigkeit des durch die feierliche Situation inspirierten obligatorischen Pathos zu halten hat. Und doch ist der Ton der Bewunderung im Pathos nicht zu verkennnen, die den heldischen Tugenden des ungarischen Volkes gilt; dergleichen war seit den großen türkischen Konsultationen im 16. Jahrhundert nicht zu hören und wird erst wieder zur Zeit der Freiheitskämpfe 1848/49 vernommen. 23 (Gerade dieses gefühlsmäßige Mitgehen fehlt dem psychologisch vielleicht tieferen 23
Zum ganzen Themenkreis s. meine Aufsätze: Nemet kalandorok Magyarorszägon [Deutsche Abenteurer in Ungarn], Budapest 1913. — Magyar elemek a XVII. szäzad nemet irodalmäban [Ungarische Elemente in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts]. Bd. I—II Temesvär 1914 u. 1916. — Ungarische Stoffe in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. München 1915. — Boeners „Rennbahn der Ehren". Ungarische Rundschau. Jg. 4 (1915) S. 207—212. — A magyar Simplicissimus es Török Kalandor forräsai [Die Quellen des Ungarischen Simplicissimus und des Türkischen Abenteurers], Budapest 1915. — Ungarns Eintritt in das literarhistorische Bewußtsein Deutschlands. Budapest 1930—1931. — Zum weltliterarischen Streit um den ungarischen Charakter. Budapest 1939 (über Lansius S. 9). — Zum Einfluß Quintilians und zur Geschichte der Deklamation als Kunstgattung s. Marianne Wychgram: Quintiiianus in der deutschen und französischen Literatur des Barocks und der Aufklärung. Langensalza 1921. — P. Lehmann: Die Institutio oratoria des Quintiiianus im Mittelalter. Philologus. N. F. Jg. 43 (1934) S. 349—383. - E. R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1954 2 S.'437.
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Charakterbild, das John Barclay, der berühmte und auch in Heidelberg verehrte Autor der „Argenis", von dem ungarischen Volk in seinem „Icon Animoruin" entwirft.) Die Konterdeklamation spricht Ernst Schafelizki, der ein ganz anderes Bild zeichnet. Dieses Bild ist noch! eine von Haß und Furcht eingegebene Schöpfung des Mittelalters. Alles ist verzerrt, eine Verdrehung der ungarischen Geschichte, ein einziges Sündenregister. Matthias ist ein grausamer Tyrann, mit ihm sinkt Ungarns Kraft endgültig ins Grab. Das unerhörte Schicksal des György Dozsa ist der ganzem Welt bekannt. Die Rede ist von Anfang bis Ende eine rein rhetorische Übung. Das Bild, das von den Ungarn entworfen wird, soll, dem Gesetz der Antithesis entsprechend, die positiven Züge des ersten Bildes soweit nur irgend möglich auslöschen: das gehört dazu wie der Schatten zum Licht. Und diese Aufgabe wird voll erfüllt. Am Echo, das die Werke Szenczi-Molnärs erweckten, läßt sich immer wieder abmessen, daß er die Kenntnisse über das ungarische Volk und seine Sprache verbreitet und vertieft hat wie kein anderer. Die ungarische Sprache brauchte er allerdings nicht zu entdecken. Das haben bereits andere vor ihm, deutsche und ungarische Humanisten, besorgt. Einer von ihnen, der Erasmus-Schüler Beatus Rhenanus, stellte bereits 1531 fest, daß die ungarische Sprache eine den anderen europäischen gleichrangige literarische Sprache geworden ist. Wir erwähnten bereits die ungarischen Sprachexempel C. Gesners, und wir könnten noch andere bescheidene Anregungen oder Funde anführen; dennoch verbindet sich die historisch bedeutsame Tatsache der richtigen bewußten Entdeckung der ungarischen Sprache mit dem Namen Szenczi-Molnär. Man braucht nur darauf zu achten, welch neuen Schwung seine Wörterbücher in die sich mit dem Ursprung des ungarischen Volkes und seiner Sprache befassende Literatur bringen, wie sie dazu beitragen, das landläufige Dogma vom hebräischen Ursprung der ungarischen Sprache zu erschüttern. So entbrennt gleich nach dem Erscheinen des „Dictionarium Latino-Ungaricum" ein Streit zwischen G. Rem und B. Keckermann, der den Volksnamen „Hungarus" aus der Bibel ableiten und die Verwandtschaft der ungarischen mit der hebräischen Sprache erklären will. Rem schreibt hierüber (13. August 1604) an Szenczi-Molnär: „Ich halte von eurem Volk, daß es unbedingt sarmatischen oder eher noch skythischen Ursprungs ist." Ein anderer aus Szenczi-Molnärs engerem Freundeskreis, C. Rumel, läßt sich von der Begeisterung und dem Überschwang so weit hinreißen, daß er seinen Begrüßungsvers ungarisch beendet: Ergo tuum nomen unquam leve crede feretur, Dum maneant himlo, föld quoque frugiferens, Dum vigeant zabola few, viz atque nyereg. Isten ember et egh, Kyrali pap et ige.24 Wir können hier nicht den ganzen näheren und weiteren Einflußkreis SzencziMolnärs klären; nur eine einzige Angabe unter den vielen sei hervorgehoben, 24
Zitiert von Dezsi a. a. 0. (s. Anm. 2) S. 118.
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weil sie uns im Hinblick auf die Schnelligkeit, den Weg und die Vermittlerrolle dieses Einflusses wichtig erscheint und weil sie den europäischen Ruf der ungarischen Sprache und Literatur unmittelbar berührt. 1610 erschien C. Gesners „Mithridates" in einer von Gaspar Waser besorgten neuen Ausgabe mit dessen (Wasers) Ergänzungen und Kommentaren. 25 Bezeichnend f ü r Wasers Sachkenntnis ist, daß er das altungarische Vaterunser der ersten Ausgabe ausläßt und es durch den modernen Text Szenczi-Molnärs ersetzt. 26 Er berichtigt Gesners Anmerkung, nach der „die am Fluß Waag lebenden Ungarn die illyrische Sprache sprechen", dahin, daß die ungarische Sprache nichts mit der illyrischen, das heißt mit der britischen, zu tun hat und überhaupt mit keiner anderen Sprache übereinstimmt. Er weiß, daß das Neue Testament in dieser Sprache gedruckt worden ist, doch ziemlich unnützerweise, da es bisher nicht üblich war, ungarisch zu schreiben, und sogar die Bauern lateinisch zu sprechen versuchten, so gut sie eben konnten. „Mir dagegen will scheinen", fügt Waser hinzu, „daß es keine barbarische Sprache gibt, in der schriftkundige Menschen nicht so schreiben könnten, daß man sie versteht. Ein Beispiel dafür ist die rätoromanische Sprache in den Alpen, in der man in unserer Zeit zum erstenmal zu schreiben begann." Was übrigens die ungarische Sprache betrifft: „Imo et vetus et novum Testamentum hac lingua elegantibus typis descripta exstant Herbornae, anno MDCVII. interprete pio et erudito viro Alberto Molnâr. Id vero nunc inutiliter: sed excellenti bono orthodoxarum ecclesiarum in Regno Hungariae." Von nun an bis zu Leibniz' Zeiten und darüber hinaus ist SzencziMolnâr der Kronzeuge für das Lebensrecht der ungarischen Sprache. Er ist die ungarische Quelle für die ersten Forscher der finnisch-ugrischen Sprachverwandtschaft, den Hamburger M. Fogel und den Siebenbürger Joh. Tröster. Überhaupt hat Szenczi-Molnar mit seinen Wörterbüchern und seiner Grammatik die Voraussetzungen für die wissenschaftliche Untersuchung der ungarischen Sprache geschaffen. 27 25
Mithridates Gesneri Exprimens Differentias Linguarum, tum veterum, quae hodie per totum terrarum orbem in usu sunt. Gaspar Vaserus recensuit. . . Editio alter. Tiguri 1610.
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Mithridates Gesneri. . . a. a. O. (s. Anm. 25) fol. 56 a: Oratio Dominica Hungarice, transscripta ex Psalterio Hungarico edito ab Alb. Molnâr. Herbornae 1607. 2 ' Zur „Entdeckung" der ungarischen Sprache s. meine Aufsätze: A magyar nyelv régi latin és német könyvekben [Die ungarische Sprache in alten lateinischen und deutschen Büchern], Magyar Nyelvô'r [Ungarische Sprachwächter]. Jg. 42 (1913) S. 316 bis 319. — In Walachy der naterspan. [Zu einer Stelle Hermanns von Sachsenheim]. Germ. Rom. Monatsschrift. Jg. 12 (1924) S. 123—125. — A magyar nyelv felfedezése [Entdeckung der ungarischen Sprache], Budapest 1933. — A kôzépkor végének magyar nyelvismeretéhez [Zur Kenntnis der ungarischen Sprache am Ende des Mittelalters]. Magyar Nyelv [Ungarische Sprache], Jg. 43 (1947) S. 288. — Zur Vorgeschichte der finnisch-ugrischen vergleichenden Linguistik: J. Kvacsala: Die Anfänge der finnischugrischen Sprachvergleichung. Ungarische Revue. Jg. 12 (1892) S. 123—124. — E. Setälä: Lisiä suomalaisugrilaisen kientetutkimuksen-historian [Beiträge zur finnischugrischen Sprachgeschichte]. Helsingissä 1892. — J. Pâpai: A magyar nyelvhasonlitâs
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Nicht oft genug kann die große Leistung Szenczi-Molnärs hervorgehoben werden, die in der Zusammenfassung progressiver europäischer und ungarischer Entwicklungstendenzen liegt. Deshalb haben wir uns so eingehend mit der gesellschaftlichen und kulturellen Atmosphäre befaßt, in der diese Zusammenfassung zustande kam. Die deutsche Reformation machte gewaltige Volkskräfte frei und schuf mit die Vorbedingungen für das Entstehen und die Entfaltung einer neuen Literatur, der Prosa, der Lyrik und des Dramas, in der Nationalsprache. Doch dadurch, daß sie ihren ursprünglichen, revolutionären Charakter und ihre natürliche Basis, das Volk, verleugnete, sich mit dem fürstlichen Absolutismus abfand und die Rolle der „geistigen Polizei" 28 übernahm, hemmte sie auch die weitere Entwicklung. Am verhängnisvollsten wirkte es sich jedoch aus, daß sie sich im gleichen Maße, wie sie sich vom Volk isolierte, der blühenden deutschen humanistischen Dichtung entfremdete und sie zur Sterilität zwang. Aus diesem Grunde konnte diese Dichtung seinerzeit nach Inhalt und Form nicht national werden wie die italienische, die englische, die französische, die niederländische und, unter unvergleichlich ungünstigeren Umständen — mit Balassi —, die ungarische. Erst sehr viel später, um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, entstanden wiederum in den kalvinistischen Fürstentümern infolge des neuerlichen Aufschwungs der bürgerlichen Klasse, einer neuen wirtschaftlichen Prosperität und nicht zuletzt infolge der Kulturpolitik der Fürstenhöfe in Heidelberg und Kassel Verhältnisse, in denen die Pflege der nationalsprachigen deutschen Literatur auf europäischem Niveau betrieben werden konnte. Bedauerlich ist nur, daß die maßgebenden Dichter, Weckherlin, Paul Schede-Melissus und Martin Opitz, die der Entwicklung gerecht werden wollten und die neue Dichtung auch tatsächlich zustande brachten, Impulse für die nötigen letzten Schritte nicht von innen her, von unten, vom Volke empfingen, sondern sich von oben und von außen her anspornen ließen, indem sie fremden — französischen und niederländischen — Vorbildern, in erster Linie der Plejade folgten. Und doch gewann ihre Leistung historische Bedeutung, denn im Wetteifer mit ihren fremden Vorbildern .entwickelten sie eine neue Terminologie, deren Ausdrucks- und Darstellungsvermögen sich nicht mehr auf die beengte Welt der Religion, der Familie, der persönlichen Empfindungen beschränkte, sondern den weiteren Kreis der Schönheit der Welt, der Ideale und Ideologien einbezog. Wir wissen aus der Geschichte der modernen europäischen Literaturen, daß die Ausübung einer solchen Funktion eine nicht weniger ideologische als sprachliche Aufgabe ist. Darum erscheint es uns natürlich, daß die neue Periode der deutschen Dichtung — das theoretische und praktische Schaffen von Martin Opitz macht das Nachahmen fremder Beispiele beinahe überflüssig — mit dem
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törtenete [Geschichte der ungarischen Sprachvergleichung], Budapest 1922. — M. Zsirai: A modern nyelvtudomäny magyar uttöröi [Ungarische Bahnbrecher der modernen Sprachwissenschaft], Budapest 1952 S. 27. — J. Sajnovics: Demonstratio idioma Ungarorum et Lapponum idem esse. Tyrnaviae 1770 S. 55: „Neque ullum Ungaricum, quod non in Lexico Ungarico Molnarii reperiretur". E. Lemcke: Geschichte der deutschen Dichtung. Bd. I Leipzig 1871 S. 115.
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Aufkommen der deutschen Sprachpflege, der neuen Wörterbücher, des Unterrichts in der Muttersprache und der Übersetzungen zusammenfällt. Wir sehen keine zufällige Koinzidenz, sondern eine zwangsläufige historische und ideologische Gleichzeitigkeit darin, daß Opitz' Programmschrift von der Rangerhöhung der deutschen Sprache und Dichtung 1618, seine Poetik und die erste Auswahl seiner deutschen Gedichte 1624 erscheinen, daß die erste deutsche Gesellschaft zur Sprachpflege 1617 gegründet wird und daß Wolfgang Ratke (Ratichius) 29 in diesen Jahren der Öffentlichkeit des Deutschen Reiches vorschlägt, in der Schule mit dem Unterricht der Muttersprache zu beginnen. Eine ganze Welt mußte sich erst verändern, ehe dieser Antrag gestellt werden konnte. So hielt noch der „große" Joh. Sturm den Gebrauch der deutschen Umgangssprache für eine Schande und nannte die Nationalsprache einen „wilden Trieb", den man schon in jungen Jahren ausmerzen müsse.30 Aber Ratkes Aufruf wurde in Heidelberg und Kassel mit dem größten Verständnis aufgenommen, und der bedeutendste unter den europäisch orientierten Bahnbrechern und Anregem der neuen Dichtung, Weckherlin, wirkte eine Zeitlang in Heidelberg, Zinckgref, der Herausgeber von Anthologien der neuen Dichtung, hielt sich von 1617 an mit kurzer Unterbrechung in Heidelberg auf, während Paul Schede-Melissus — derselbe, der den Ungarn György Turi zum Dichter krönte — als Professor an der Heidelberger Universität tätig war und Opitz im Kreise Lingelsheims zum Dichter wurde. Die menschlich-gefühlsmäßigen und ideologischen Beziehungen, die Szenezi-Molnär mit dieser Welt verbanden, machen es uns klar, daß er den entscheidenden prinzipiellen und praktischen Antrieb zur Verwirklichung seines literarischen Programms nur hier erhalten konnte. Wir dürfen aber auch nicht außer acht lassen, daß Scenczi-Molnär kein weltlicher, sondern nur ein an den weltlichen Dingen interessierter Schriftsteller, Theologe und Pädagoge und als solcher der einzige wirkliche Vorläufer von Jänos Apaczai-Csere war. Ein bedeutender Teil seiner Werke sind Übersetzungen und Bearbeitungen, die praktischen und konfessionellen Bedürfnissen genügen sollten. Ihr ideologischer Quellenbereich ist ausnahmslos Heidelberg. Doch als sprachliche Leistungen gehen sie über die Schranken einer Konfession hinaus. Eine besondere historische Eigenschaft seiner Übersetzungen und Bearbeitungen liegt darin, daß sie typisch sind für ein bewußtes und prinzipientreues philologisches Streben und dadurch Anteil haben an der Weiterentwicklung des ungarischen literarischen Stils. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre es besonders lehrreich, die InstitutioÜbersetzung Szenczi-Molnärs mit jener „klassischen" Bearbeitung des lateinischen Urtextes zu vergleichen, die Calvin selbst besorgte (1541). Auf diese Weise ließe sich feststellen, wieweit im ungarischen Text Szenczi-Molnärs „philologia sacra" und „philologia profana" zugleich wirksam werden. Ein Produkt ganz anderen Zusammenwirkens, des religiösen Gefühls und der 29
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G. Vogt: Das Leben und die pädagogischen Bestrebungen des W. Ratichius (in den Programmen des Kasseler Gymnasiums 1876—1882). Kassel 1876—1882. H. Schultz: Die Bestrebungen der Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts für Reinigung der deutschen Sprache. Göttingen 1888 S. 6.
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künstlerischen Form, des nationalen Bedürfnisses und der europäischen Perspektive, haben wir im „Psalterium Hungaricum" (1607) vor uns. Wie sehr das den tiefsten, persönlichsten Intentionen Szenczi-Molnärs entspricht, verraten seine Widmungen an den Kurfürsten Friedrich IV. und an den Landgrafen Moritz und auch seine Vorrede mit jeder Zeile; aber vor allem verrät es das Werk selbst. Damit soll nicht gesagt sein, die ungarische philologische Forschung habe ihre Aufgabe am Psalterium Szenczi-Molnars nicht erfüllt. Sein Verhältnis zu den Quellen wurde geklärt, doch nicht sein Verhältnis zum ideologischen Quellenbereich; auch seine metrischen Verdienste wurden gewürdigt, aber die neben den quantitativen statistischen Gesichtspunkten nicht minder wichtigen qualitativen kaum beachtet; die Wirkung des Psalteriums wurde untersucht, es wurde jedoch wenig über seine terminologiegeschichtliche Bedeutung gesagt. Erst vor kurzem hat Gabor Tolnai die bisherigen starren Schranken an einem Punkt durchbrochen, als er in dem Psalmen-Übersetzer Szenczi-Molnar den empfindsamen Lyriker entdeckte. 31 Kein ungarischer Übersetzer (Dichter) ist jemals vor eine so schwierige Aufgabe gestellt worden und hat sie so glücklich gelöst wie Szenczi-Molnar. Eine außerordentliche Leistung ist schon allein, daß es ihm gelang, hundertdreißig künstlerisch gefeilte und durch ebensoviele Melodien bestimmte Strophenformen in die ungarische Dichtung zu verpflanzen, und zwar so, daß er ohne größeren Schaden f ü r die inhaltliche Treue die in hundertfünfzig Varianten formulierte kollektive Andacht des Volkes zu vermitteln vermochte, die menschliche Zerknirschung, den Haß gegen den Feind, die unauslöschliche Hoffnung und den Optimismus, die Sehnsucht nach der Freiheit — all das, was in den Psalmen enthalten ist und seit Jahrhunderten so vielen aufbegehrenden und leidenden Menschen und Völkern in der Bedrängnis die Zunge gelöst hat. 32 Vergebens hatte die Kirche versucht, den menschlichen volkstümlichen Kern und das Dichterische der Psalmen in ihren Dienst zu stellen und durch allegorischmystische Deutungen zu verschleiern. Immer wieder kamen revolutionär empfindende Epochen — zum Beispiel die Renaissance, die Reformation, die englische Revolution —, die den zu liturgischen Texten herabgesunkenen Versen ihre Urkraft und ihren Glanz wiedergaben. In aktueller Form ließ der Hugenottenpsalter sie wiedererstehen. Dieses Buch von C. Marot und Th. de Beze, ist das Kollektivwerk des national gewordenen französischen Humanismus und der siegreichen Reformation. Es erschien 1562 inmitten erbitterter Kämpfe, im Jahr des Blutbades von Vassy, als in Frankreich die Häretiker zu Hunderten verbrannt wurden. Aus der Zeit zwischen 1562 und 1565 sind uns zweiundsechzig französische Ausgaben bekannt, und diese Zahl erhöhte sich schließlich auf etwa vierzehn31
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G. Tolnai: Szenczi-Molnar Albert ertekelesenek nehäny kerdese [Einige Fragen zur Wertung des A. Szenczi-Molnar]. Irodalomtörteneti Közlemenyek [Beiträge zur Literaturgeschichte], Jg. 58 (1954) S. 152-162. Zum Nachleben der Psalmen in der Weltliteratur: S. Singer: Die religiöse Lyrik des Mittelalters (Das Nachleben der Psalmen). Bern 1933.
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hundert. Sie entspricht tatsächlich dem realen Bedürfnis 3 3 , dem jeder Vers des Buches nachkommt, ebenso das in Versen verfaßte Vorwort von Bèze (Th. de Bèze à l'Eglise de nostre Seigneur). Jede Zeile ist von revolutionärer Aktualität durchglüht: Die Psalmen sprechen zu einer kleinen, aber in der weiten Welt triumphierenden Herde, nicht zu den Königen und Fürsten, die sich die Ohren verstopfen und die Herzen vor der Wahrheit verschließen . . . „Du Herde, höre die göttliche Musik: Wonne ist sie und Arznei. Ihr jammert? Ihr sollt getröstet werden. Euch hungert? Ihr sollt gesättigt werden. Ihr leidet? Euch soll Linderung werden. Ihr ängstigt euch? Euch soll Mut eingeflößt werden." Die Psalmen sprechen zu den in den Stürmen zerstreuten Herden, zu jenen, die in den Kerkern schmachten um der Wahrheit willen, und zu denen, die den Kampf bestehen bis zum grausamen Tod. Kann das Elend sie zum Schweigen bringen, das Leid sie brechen? Ihr Leib ist Sklave, doch der Geist ist frei; der Leib ist tot, aber der Geist beginnt jetzt zu leben. „Wohlan denn, Freunde, singet die Klagelieder, laßt durch das Feuer die Stimme, das heilige Lob Gottes ertönen! Möge es vor Gott und seinen Engeln zeugen . . . von eurem Eifer gegen die Welt und ihre Undankbarkeit! . . . Und wenn wir sterben müssen, um für Gott Zeugenschaft zu leisten, so lasset uns sterben und — Gott preisend — dieses Jammertal verlassen und eingehen in das heißersehnte Himmelreich! Laßt uns zeigen, daß der Tyrann eher müde wird der Peinigung denn wir im Ertragen der Pein." Der Hugenottenpsalter fand überall fruchtbaren Boden, wo die bürgerlichen und plebejischen Massen noch immer nur eine Form der Offenbarung ihrer Sehnsucht nach Freiheit kannten, die religiöse. Doch hätten sich die Landesgrenzen und die Herzen der Massen kaum so leicht den französischen Psalmen geöffnet, und man hätte diese kaum in fünfzehn Sprachen übersetzt, wenn nicht drei Faktoren fördernd mitgewirkt hätten. Der erste: In den Texten ist keine Spur von dogmatischer, konfessioneller Voreingenommenheit zu spüren; ihr kalvinistischer Charakter zeigt sich auch nur in den anschließenden Gebeten. Der zweite: Die Melodien der Psalmen entsprangen ähnlichen humanistischen und volkstümlichen Quellen wie die Texte. Der dritte Faktor aber ist die künstlerische Einheit von Wort und Musik. Keine zweite deutsche Stadt wäre so geeignet gewesen, mit der Rezeption der französischen Psalmen den Anfang zu machen, wie das mit französischer Kultur gesättigte Heidelberg. Hier finden die verfolgten Hugenotten Schutz. De Bèze selbst kommt hierher. Die berühmtesten Jura-Professoren der Universität sind Franzosen. Die halbamtliche Sprache des Hofes ist das Französische. Kurfürst Friedrich III. schickt den Hugenotten ein mehrere tausend Mann starkes Heer 33
L. 0. Douen: Clément Marot et le Psautier Huguenot. Bd. I—II Paris 1878—79. F. Bovet: Histoire du Psautier. Neuchâtel 1872. — Ph. A. Becker: Clément Marot, sein Leben und seine Dichtung. München 1926. — Ders.: Clément Marots Psalmenübersetzung (Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philol.-hist. Klasse. Bd. LXXII Heft 1). Leipzig 1921. — I. W. Baum: Theodor Bèza nach handschriftlichen und anderen gleichzeitigen Quellen dargestellt. Bd. I—II Leipzig 1843-1851.
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zu Hilfe. Er lädt 1571 Schede-Melissus, den bedeutendsten und zugleich modernsten Dichter unter den deutschen Humanisten, 34 nach Heidelberg ein und beauftragt ihn mit der Übersetzung der Psalmen. Schede-Melissus gehört zu denen, die in ihrer Dichtung vom Lateinischen zum Deutschen übergingen und so den Grund zu der neuen nationalen Dichtung legten Diese Entwicklung wurde durch den Hugenottenpsalter gefördert, was um so beachtenswerter ist, als wir im Falle Szenczi-Molnars eine ähnliche Erscheinung vor uns haben. Schede-Melissus hat sich in Paris, Besançon und Genf aufgehalten und ist dort mit Ramus, Henri Estienne, Scaliger, de Bèze, Ronsard und seinem Kreis, der Plejade, bekannt geworden. Bis dahin hatte er fast ausschließlich lateinisch geschrieben; stolz machte es ihn, sein, Vorbild Ronsard mit den Deutschen bekannt machen zu können. Aber das kündigt er der Welt paradoxerweise in einer lateinischen Ode an: Cantor Franca per oppida Oblivionem earminibus tuis Defendo, Germanos docere Callidus insolidum canorem. 35
In seiner Psalmenübersetzung wendet er in der deutschen Sprache erstmalig die Theorie und die Praxis der Plejade an, kann aber dabei den Humanisten-Dichter in sich nicht zum Schweigen bringen. Seine ganze Sorge gilt der inhaltlichen Treue und der tadellosen Form. Um so weniger kümmert er sich um die Singbarkeit. Zwar schöpft er aus der Volkssprache und den Volksweisen, erreicht aber trotzdem nicht das Volkstümliche. Und damit vergeht er sich an der Absicht der Originaltexte, die in seiner Übersetzung nicht zu Gesängen aller werden konnten. Auf ihnen lastet die ganze Schwere und Problematik der von außen und oben her gelenkten Reform. Das deutsche Volk nahm diese Psalmen nicht an. D?r Lingelsheim-Kreis hingegen, die Beschützer und Freunde Szenczi-Molnars, erblickte in ihnen den ersten Triumph der humanisierten deutschen Dichtung. Wir erkennen und anerkennen ihre bahnbrechende Bedeutung. 36 Der Kurfürst ließ 1572, im Jahr der Bartholomäusnacht, fünfzig Psalmen von Schede-Melissus drucken. Die anderen wurden nicht gedruckt, oder, was wahrscheinlicher ist, Melissus setzte die Arbeit nicht fort. Hingegen übersetzte er einige Psalmen ins Lateinische, und es überrascht, daß seine Stimme hier sogleich viel natürlicher und freier klingt. Sogar von dem Geist der Hugenottenpsalmen M
33 3li
P. de Nolhac: Un poète Rhénan, ami de la Pléiade. Paris 1923. — K. Viëtor: Geschichte der deutschen Ode. München 1923. — Die Psalmenübersetzungen des P. SchedeMelissus. Hrsg. von M. H. Jellinek (Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts Nr. 1 4 4 - 1 4 8 ) . Halle a. d. Saale 1902. - G. Baesecke: Die Metrik des 16. und 17. Jahrhunderts. Euphorion. Bd. XIII (1906) S. 4 3 5 - 4 4 5 . Schediasmata Poetica. Frankfurt a. M. 1574 S. 31. Zu dem und dem folgenden s. Procop: Die Psalmen des Paulus Melissus. Rosenheim 1899. — E. Trunz: Die deutschen Übersetzungen des Hugenottenpsalters. Euphorion. Bd. XXIX (1928) S. 5 7 8 - 6 1 0 .
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vermögen die lateinischen mehr wiederzugeben als die deutschen „Fünfzig Psalmen", ein Zeichen dafür, daß dem eingefleischten Humanisten doch nur das Lateinische richtig lag. Übrigens erschien bereits ein J a h r nach den fünfzig Psalmen die vollständige Psalmen-Übersetzung von Ambrosius Lobwasser, die allen Anforderungen entsprach. Auch Lobwasser 3 7 war Humanist, war Politiker, Jurist, Professor an der Universität Königsberg. Er begann mit lateinischen Versen, jedoch ohne Bindung an die antike Tradition. Sein Weltbild wurde zu Hause durch Erasmus, in Paris durch die Plejade und Ramus, in Bologna durch die besten humanistischen Traditionen geformt. Er war Lutheraner, doch ohne jede konfessionelle Voreingenommenheit. Seitdem er im Jahre 1550 in Berry zum erstenmal Hugenottenpsalmen hatte singen hören, konnte er sich von ihrem Zauber nicht lösen. 38 Bald darauf wurde er mit der Sammlung Marots und de Bezes bekannt. Seine Übersetzungen, die 1573 in Leipzig erschienen, eroberten zuerst das kalvinistische Heidelberg und begannen hier ihren phänomenalen Triumphzug durch die kalvinistische Welt. Sie wetteiferten mit der Volkstümlichkeit der Bibel. Bei all dem ist Lobwasser ein ziemlich anspruchsloser Dichter, der sich vor jeder Neuerung und formalen Kühnheit scheut und sich an die Terminologie der alten protestantischen Gesänge hält. Doch die Sprache, die er gebraucht, ist trotzdem die lebende, gesprochene Sprache, die Sprache des Volkes, mit dem er sich eins fühlt. Daher seine ideologische Sicherheit. E r schaltet seine Persönlichkeit völlig aus und widmet sich mit ganzer Kraft der Aufgabe, Melodie und Form aufeinander abzustimmen. So vermochte er die Singbarkeit seiner Texte zu sichern, die zweihundert Jahre lang eine Mittlerrolle zwischen kollektiver und privater Andacht, zwischen Religion und Welt, Literatur und Volksdichtung spielten. So wurden aus seinen Psalmen Lieder f ü r jedermann, die man in der Kirche sang, Volkslieder, die man bei der Arbeit auf dem Felde, in der Schenke und in der Spinnstube anstimmte. Andreas Spethe übersetzte sie ins Lateinische (Heidelberg 1596), Landgraf Moritz von Hessen vertonte siebenundzwanzig dieser Psalmen, f ü r die es bis dahin keine Melodie gab. Der größte Triumph Lobwassers bestand darin, daß die Lutheraner sich der Wirkung seiner Lieder nicht erwehren konnten, was immer sie auch taten, um durch Gegenpsalter seine Volkstümlichkeit zu schmälern und sein Ansehen herabzusetzen. Es gibt sogar lutherische Gesangbücher, in die sich die eine oder andere Übersetzung Lobwassers eingeschlichen hat. Vergebens hielten ihm auch seine Gegner in Heidelberg mit Schede-Melissus an der Spitze metrische Mängel vor: „Lobwasserus corrumpit in singulis paragraphis Ultimos versus etmelodias depravat, caesuras negligit et hic et alibi passim. In illius versione omnia sunt valde aquea, sive potius aquosa." 3 9 Die Zeit und die Praxis gaben Lobwasser recht. Mit ihm konnten es weder Philipp von Winnenberg aufnehmen, der — gleichsam 3/
38 39
E. Trunz: Studien zur deutschen gelehrten Dichtung des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Bd. I Berlin 1932. E. Trunz, Euphorion a. a. 0. (s. Anm. 36) S. 583. Reifferscheid a. a. 0. (s. Anm. 3) S. 963 Wortspiel, Anspielung auf Lobwassers Namen.
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eine Umkehrung von Schede-Melissus — 1588 eine vollständige Übersetzung des Hugenottenpsalters herausgab, aber die französische Verskunst nicht beherrschte, noch Martin Opitz, der in den „Psalmen" (1637) das von Schede-Melissus Begonnene auf höchster Stufe der Formkunst fortsetzte, noch andere, die ihre geistige Nahrung aus Heidelberg nahmen. 40 Es ist keine Metapher und auch keine Übertreibung, wenn wir Heidelberg die Stadt der Psalmen nennen. Mit dem Psalmensingen war Szenczi-Molnär von Kindheit auf vertraut. Das war jahrelang die unmittelbarste und feierlichste Form, in der sich sein Gefühlsleben äußerte. Bezeichnenderweise finden wir jedoch erst seit 1598 Aufzeichnungen darüber: Es ist das Jahr, in dem er nach Heidelberg kam. E r begann das neue Jahr damit, daß er, im Bett liegend, eine Stunde lang Psalmen sang, und zwar lateinisch, ungarisch und deutsch. Danach stand er auf und las in seinem Psalter. Und das ging so weiter, jahrelang. Er lebte seit Genf und Straßburg im Banne des Hugenottenpsalters und seiner Melodien, genauso wie Schede-Melissus, Winnenberg, Lobwasser, deren Übersetzungen ihn auf den Gedanken des „Psalterium Ungaricum" brachten. Er ließ noch einige Zeit vergehen, ehe er 1605, als sein Psalmenkult auf dem Höhepunkt stand, und 1606, als nach Bocskais Tode die habsburgisch-katholische Reaktion wieder an Kraft gewann, zwei Jahre nach Beendung des ungarisch-lateinischen „Dictionariums" und nach der f ü r seine Entwicklung so wichtigen Prager Reise, mit seiner Übersetzung der Psalmen begann. Die Ereignisse der ungarischen Politik, die Krise des Protestantismus waren für ihn in ähnlicher Weise ausschlaggebend für die Konzeption des Psalteriums wie bei Th. de Beze; dazu kam das „Dictionarium", eine überaus reiche Inventur des ungarischen Wortschatzes, gleichsam eine sprachliche Vorschule zum „Psalterium". Berücksichtigt man dann noch die Anregungen, die von Lobwassers Volkstümlichkeit ausgingen, und die praktischen Winke, die seinem Werk entnommen werden konnten, dann haben wir die wichtigsten, wenn auch lange nicht alle Komponenten vor uns, die für die Entstehung von Szenczi-Molnars Werk mitbestimmend waren. Der epochalen Erkenntnis der Renaissance, daß das Schreiben in der Muttersprache eine nationale Pflicht und Aufgabe erster Ordnung sei, sind sich die deutschen Dichter und Prosaiker erst verhältnismäßig spät, um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert, voll bewußt geworden. Dadurch wurde die Gelegenheit zur früheren Entwicklung der modernen deutschen Dichtung versäumt. In welch neuem Pathos klingt der programmatische „Aristarchus" des jungen Opitz aus, den auch Szenczi-Molnär lesen sollte. „Quod si precibus dandum aliquid et obsecrationi censetis: per ego vos delictissimam matrem vestram Germaniam, per majores vestros praegloriosissimos oro et obtestor, ut nobilitate vestra gentisque dignos spiritus capiatis; ut eadem constantia animorum, qua illi fines sous olim tutati sunt, sermonem vestrum non deseratis. Proaevi vestri, fortes et inclyti Sermones, animam pro aris ac focis efflare non dubitaverunt. Vos ut praestetis, 40
L. Merker-Stammler: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. II Berlin 1926-1928 S. 7 3 4 - 7 3 8 . - Trunz: Euphorion a. a. 0. (s. Anm. 36) S. 604.
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nécessitas minime jam flagitat. Facite saltem, ut qui candorem in generosis mentibus vestris servatis illibatum, oratione quoque illibata proferre eundem possitis. Facite, ut quam loquendi dexteritatem accepistis a paremtibus, vestris posteritati relinquatis. Facite, denique, ut qui reliquas gentes fortitudine vincitis ac fide, linguae quoque praestantia iisdem non cedatis." Ähnliches nationales Selbstbewußtsein gab Weckherlin die Worte ein, die deutsche Muse sei der lateinischen, der englischen, der französischen gleichrangig: „Ihr Gesang ist wahr, klingend und rein." Das „Psalterium Ungaricum" ist das künstlerische Bekenntnis SzencziMolnärs zur nationalen Sprache. Er schrieb Psalmen und keine weltlichen Verse. (Wir sagen absichtlich „schrieb" und nicht „übersetzte", denn seiner historischen Funktion nach kommt dem „Psalterium" die Bedeutung einer Originalschöpfung zu.) Er schrieb Psalmen, weil er in seiner Lage als Theologe keine andere dichterische Form wählen konnte. Im Psalm fand er die einzige Form, die ihm geeignet schien, seine dichterische Veranlagung, seine Lebenserfahrungen und seinen Lyrismus unbeschadet des religiösen, theologischen Inhalts auszudrücken. Außerdem war das die einzige lyrische Gattung, deren ungarische sprachlich-stilistische Überlieferung er kannte. Und schließlich: die ungarischen Freunde und Bekannten Szenczi-Molnärs, Zeugen des Psalmenkults der deutschen Kalvinisten, sahen die Abfassung eines ungarischen Psalters als vordringlichste Aufgabe an, deren Erfüllung sie von Szenczi-Molnar erwarteten. Auch seine deutschen Förderer teilten diese Ansicht. Mir ist kein zweites Werk der alten ungarischen Literatur bekannt, das von der ersten bis zur letzten Zeile mit solch freundschaftlicher Fürsorge und Anteilnahme verfolgt wurde wie das Psalterium Szenczi-Molnärs. Vermutlich wäre es ohne dieses Interesse überhaupt nicht zustande gekommen. Keckermann, in gewisser Beziehung ein Ramus-Anhänger, den die älteren und neueren Erforscher der fortschrittlichen philosophischen Überlieferungen völlig unberechtigt als eine erschreckende Erscheinung hinstellen, widmete SzencziMolnar 1604 einen Gratulationsvers f ü r sein lateinisch-ungarisches „Dictionarium" und schrieb dazu in dem Begleitbrief: „Ceterum ego tibi gratulor hanc mentem, quam tibi video Deum indidisse juvandi et amplificandi studia linguarum, quae necessaria sunt instrumenta cognitionis Dei et veritatis coelestis discendae, docendae propagandae. Imprimis autem te cohortor ad sanctum istum et ecclesiis Ungaricis salwtarem laborem, in vertendis in Ungarico rythmo psalmodiis: ita enirn velut alter Marotius alterque Lobwasserus, praeclarissime mereberis de ecclesia, nomen tuurn immortalitate consecrabis."41 (Hervorhebung von mir.) Und als ob sie sich verabredet hätten, macht Johann Piscator, Professor an der Universität Herborn, ein Ramus-Anhänger, genau um dieselbe Zeit, ebenfalls in einem Begrüßungsgedicht zum lateinisch-ungarischen Dictionarium, eine unmißverständliche Anspielung auf Szenczi-Molnärs patriotische Pflicht, Lobwassers Gesänge zu übersetzen. „De tua Psalmodia Hungarica, quid fiat, scire percupio", schreibt interessiert Rittershausen aus Altdorf. Péter Taksonyi, Alumne des Heidelberger Collegium Casimirianum, der bis dahin die Herausgabe der Bibel 41
Dézsi: Tagebuch a. a. 0. (s. Anm. 8) S. 159.
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forderte, setzte sich seit 1603 auch f ü r die Sache des Psalteriums ein. 42 Istvän Miskolci-Päsztor, Erzieher des jungen Istvän Thököly, überbrachte den Wunsch der ungarischen Gelehrten-Öffentlichkeit, als er Szenczi-Molnär ersuchte, die Arbeit an den Psalmen-Übersetzungen wie begonnen weiterzuführen, „donec ad metam curreres". 4 3 Szenczi-Molnär fühlte offenbar selbst die nationale Bedeutung seines Unternehmens. Vermutlich studierte er damals die Geschichte der ungarischen Psalmendichtung, über die er dann in der Widmung zum Psalterium berichtete, ferner die „Prosodia" des Heidelbergers H. Smet, Professors der Medizin und humanististischen Dichters, die Quelle von Szenczi-Molnärs Kenntnis der antiken Metrik 4 4 , und schließlich die Biographie des protestantischen Liederdichters Wolfgang Musculus (gest. 15 6 6) 45 , die ihm G. Rem ausgeliehen hatte. All das minderte aber nicht sein Interesse an weltlichen Werken. So sammelte er, während er an den Psalmen-Übersetzungen arbeitete, den Stoff zu seiner weltlichsten, nur der Freude am Werk bestimmten Publikation, zu der Anthologie „Lusus Poetici" (1611). Das Psalterium wurde 1607 fertig. Wir sehen darin — natürlich nicht im Hinblick auf die dichterische Qualität, sondern seiner Bedeutung f ü r die Entwicklung dieser Gattung in Ungarn und seiner stilerzieherischen Wirkung wegen — die einzige würdige Fortsetzung des Lebenswerks von Bälint Balassi. Doch das Psalterium hat noch eine charakteristische Eigenschaft, die das ganze Schaffen Szenczi-Molnärs bestimmt und ihm eine Ausnahmestellung in der Geschichte der alten ungarischen Literatur sichert: Es ist in einer fremden gesellschaftlichen und ideologischen Umgebung entstanden, die das Werk seinem ungarischen Nährboden aber nicht entfremdet, es ihm vielmehr noch näher gebracht hat. So bildet es eins der beredtesten und schönsten Denkmäler des Zusammenklangs ungarischer und europäischer Perspektiven und eine Bestätigung unserer alten These: je ungarischer, um so europäischer. 46 Von den Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem Psalterium ergaben, haben wir auf zwei bisher keine befriedigende Antwort erhalten. Die eine bezieht sich auf die Vorrede zum „Psalterium". Es handelt sich im ganzen um einige wenige Blätter, die jedoch tiefe und ferne Zusammenhänge ahnen lassen. Im ersten Augenblick fällt der sichere historische Blick auf, mit dem Szenczi-Molnär die Vergangenheit einer lyrischen Kunstgattung, der ungarischen protestantischen Kirchengesänge, überschaute und aus ihr Bälint Balassi als einziges nachahmenswertes Vorbild hervorhob. Erstaunlich sind die metrischen und stilistischen Kenntnisse, mit denen er über die Primitivität der alten Liederverfasser urteilte, seine Übersetzungen mit den französischen und deutschen Texten verglich und Aufschluß über den Einklang von Text und Melodie zu geben suchte. Es brauchte nicht erst gesagt zu werden, daß Szenczi/,;i 43
45 46
Ebenda S. 141. Ebenda S. 176. K. Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Bd. II Dresden 1886 2 S. 114. — Szenczi-Molnär verwendet die „Prosodia" in seinem Lexicon Latino-GraecoUngaricum. Hanoviae 1611 S. 683. Goedeke a. a. 0. S. 184. Vgl. Entwicklungsgang der ungarischen Literatur. Bd. I Budapest 1928.
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Molnar sich jene bescheidene entwicklungsgeschichtliche Methode zu eigen machte, die gerade die Germanisten Heidelbergs auf die neuerlich erschlossenen alten Epochen der deutschen Literatur anwandten. Die gleiche Methode befolgten aber in den stilistisch-prosodischen Anhängen auch die Verfasser jener neuen deutschen Grammatiken, Claj und Oelinger, die Szenczi-Molnar in seiner Grammatik namentlich anführte, weil er von ihren Richtlinien Gebrauch machte. Eine erschöpfende Bereinigung dieser Frage bleibt einem anderen Aufsatz vorbehalten. Hier möchte ich mich nur auf eine Bemerkung beschränken: Die Originalität Szenczi-Molnärs besteht nicht in der erlernbaren Methode selbst, sondern darin, daß er sie als erster auf ungarische Belange anwandte. Die zweite Frage, ob Szenczi-Molnar Französisch konnte, und wenn ja, wieweit sein Können reichte, ist von ungarischen Forschern bisher meistens nur gestellt worden, um zu klären, inwieweit der Text des ungarischen Psalteriums von dem de® Hugenotten-Psalters abweicht und worin er mit dem Text Lobwassers übereinstimmt. Es wurde kaum beachtet, daß die Psalmen Szenczi-Molnärs ein gewisses geistiges und gefühlsmäßiges Plus, einen tiefer erlebten Biblizismus enthalten, von dem in der pflichtgemäßen Frömmigkeit Lobwassers nichts zu finden ist, wohl aber im Pathos Marots und de Bezes. Diese Verwandtschaft beruht wohl kaum auf etwas anderem als auf dem Verstehen der französischen Texte. Szenczi-Molnar lebte jahrelang unter Deutschen, heiratete eine Deutsche, übersetzte Bücher aus dem Deutschen; er las, schrieb und sang nicht nur, sondern sprach auch deutsch: Das Deutsche war ihm bestimmt mehr als eine Aushilfssprache. Für seine Kenntnis des Französischen gibt es keine so eindeutigen Beweise. Doch wenn man bedenkt, daß das Eindringen der französischen Politik, Kultur und Literatur in die Rheinprovinzen ohne die Verbreitung der französischen Sprache unvorstellbar ist, daß im Lingelsheimschen Haus französische Agenten ein- und ausgingen, daß Szenczi-Molnar seit Genf und Straßburg ständig mit Franzosen in Verbindung stand, daß er sozusagen in jeder Stadt, in die er kam, Gelegenheit hatte, französische Reden, Psalmen und Predigten zu hören, daß es unter seinen Bekannten und Gönnern kaum einen gab, der nicht französisch gesprochen und geschrieben hätte, daß einer seiner besten Freunde, Dubois, zuerst in Hanau, dann in Frankfurt am Main gallikanischer Priester war und daß Szenczi-Molnar als erstes Werk eine Übersetzung aus dem Französischen nach dem Original des Franzosen Daniel Toussaint (Tossanus), Heidelberger Hofgeistlichen und Universitätsprofessors, anfertigte 47 , so dürfen wir mit Recht voraussetzen, daß Szenczi-Molnar sich zumindest die Grundlagen der französischen Sprache angeeignet hatte, sich in dieser Sprache verständigen konnte und seine Kenntnisse mit der Zeit über die Grundlagen hinaus vertiefte. Wenn Szenczi-Molnar im Vorwort zur zweiten Ausgabe (1612) der bearbeiteten Bibelübersetzung Kärolis schrieb, er habe „die auf der Marge ausgezeichneten Stellen, die man Concordancia nennt, mit der Bibel Johann Piscators und der Genfer Bibel der Franzosen verglichen" und demnach berichtigt, so heißt 47
Toussaints Werk, ein Gebetbuch, hat Szenczi-Molnar nicht aus dem Original, sondern aus dem Deutschen übersetzt. Die Übersetzung ist verschollen.
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das, daß er ohne Kenntnis des Französischen aus den Marginalien der Genfer Kalvinistenbibel (1588) kaum einen Nutzen hätte ziehen können. Doch wir können noch weiter gehen. Szenczi-Molnâr wollte sein theologisches Gewissen beruhigen und schrieb deshalb im Vorwort zu seiner Grammatica: „Beispiele f ü r die Regeln der Syntax nahm ich meistens aus der Bibel, daß es nicht den Anschein erwecke, ich hätte die theologischen Studien vernachlässigt. Die Theologie steht nämlich dem Studium der Grammatik überhaupt nicht fern. Ein vornehmer Zeuge dafür ist Theodoms Beza, der hervorragende Theologe, der selbst eine französische Grammatik geschrieben hat, und auch Ramus hat eine geschrieben und sie der französischen Königin zu ihrem Gebrauch gewidmet." (Hervorhebung von mir.) Szenczi-Molnâr hat hier offenbar an die französische Phonetik von Th. de Bèze (De francicae linguae recta pronunciatione. Genf 1583) und an die Grammatik von P. de la Ramée (Ramus) 48 gedacht. Aber daß er sie nicht bloß aus Wichtigtuerei zitiert hat, bezeugen seine „Grammatica" und die Exaktheit, mit der er die französischen Wörter benutzt. Das gleiche bezieht sich auf die lateinisch-griechisch-französischen Wörterbücher, die ihm Clemens Dubois, sein „amicus mihi multum dilectus", zur Verfügung stellte, als er an seinem „Lexikon Latino-Graeco-Hungaricum" arbeitete. Aus der Widmung zum „Psalterium Ungaricum" wissen wir, daß es dieser „ehrenhafte Mann" „französischer Nation" war, mit dessen „getreuer Hilfe" er „erfreulicherweise" die Psalmen verschönern konnte. Auf diese Stelle der Widmung pflegt man sich zu berufen, um zu beweisen, daß Szenczi-Molnâr auf Dubois' Hilfe angewiesen war, weil er nicht Französisch könne. Allerdings gibt es auch eine andere Auffassung. Ernô Csâszâr, der die deutschen, ungarischen und zum Teil die französischen Texte sorgfältig miteinander verglich, und zwar in den starren Grenzen der Wortphilologie, läßt die Hauptfrage unentschieden. Er meint, wenn Szenczi-Molnâr „nach Dubois' Weisungen an seinen Psalmen verbesserte, so können diese Verbesserungen nicht wesentlich gewesen sein und dürften sich wohl nur auf die Versformen bezogen haben. Dies kann man auch schon daraus folgern, daß der französische Geistliche, der nicht Ungarisch konnte, Molnârs Übersetzungen nicht habe verstehen können." 4 9 Fassen wir zusammen: Es besteht kein Zweifel, Dubois konnte nicht Ungarisch, hat also Szenczi-Molnâr schwerlich Ratschläge zur Verbesserung seiner Verse geben können; dazu hätte er außer der ungarischen Sprache auch die ungarische Rhythmik kennen müssen. Szenczi-Molnâr dagegen verstand Französisch, konnte sehr gut Deutsch, was ihn befähigte, ein äußerst schwieriges Problem der ungarischen Übersetzung zu meistern: Gleichzeitig mit der Übertragung Lobwassers deutscher Texte ins Ungarische mußte er seine Verse mit den französischen Melodien so in Einklang bringen, daß er „keinen Syllabus" zuzufügen und sich auch nicht vom „Sensus" zu entfernen brauchte. Dubois' Hilfe
49
Grammaire de P. de Ramée, Lecteur du Roy . . . A la Reyne mère du Roy. Paris 1572. Nach Brunet ist das die zweite Ausgabe, die erste ist 1562 erschienen. — L. Ch. Livet: La grammaire française et les grammairiens du XVIe siècle. Paris 1859 S. 176. — Lateinisch erschien die Grammatik 1583 in Frankfurt a. M. Szenczi-Molnâr hat diese benutzt. Irodalomtôrténeti Kôzlemények [Beiträge zur Literaturgeschichte], Jg. 2l4 (1914) S. 404.
7 Deutsch-ungarische Beziehungen
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beschränkte sich demnach nicht auf die richtige Auslegung des französischen Textes, sondern erstreckte sich auch auf die Kontrolle der Harmonie von den ungarischen Versen und den französischen Melodien. Hierzu bedurfte es nicht der Kenntnis des Ungarischen. „Hätte der gelehrte Freund dem Übersetzer zur Seite gestanden, als er mit der Übersetzung beschäftigt war", sagt Csäszär, „könnten wir verstehen, worin er ihm hätte helfen können. So aber kann man sich schwer vorstellen, welche Ratschläge ihm Dubois hätte geben können, da er ja zu den fertigen Texten nichts sagen konnte." Wir haben gesehen, welche Ratschläge Dubois Szenczi-Molnär gab oder geben konnte. Doch wir wissen auch, daß ein Franzose — und dies ist der Aufmerksamkeit der Forscher entgangen — während der Arbeit an der Übersetzung Szenczi-Molnär in Altdorf zur Seite stand. Dies war ein von ihm geförderter Heidelberger Student, der aus Sedan stammende J. Boilblanc, den Istvan MiskolcziiPäsztor 1606 so charakterisierte: „ Juvenis Sedanensis mihi a te commendatus est pius et modestus, dignus sane qui in bonorum consortium penetret, cui, quantum in me erit, opellain meam non defuturam promisi et tibi idem scribo." 5 0 Boilblanc ging dann nach Sedan zurück. Als er das Titelblatt des „Psalterium" und die Widmung sah, wurden in ihm die Tage von Altdorf wieder lebendig, als sie zusammen die französischen Psalmen sangen: „Psalterii tui titulum cum dedicatione recepi, cuius lectura dulcis nostrae conversationis recordor, itidem melodiae nostrae, tuae tarn concinne Altorfii adaptatae." 5 1 Diese Angabe hat uns, so scheint mir, nicht nur der Klärung der Frage, wieweit Szenczi-Molnär Französisch konnte, nähergebracht, sondern uns auch gezeigt, wie er mit seinen französischen Freunden zusammenarbeitete. Szenczi-Molnär ist mit der weltlichen und wissenschaftlichen Literatur des Späthumanismus enger und intensiver verwachsen als jeder andere ungarische Schriftsteller. Neben ihm erscheinen alle seine ungarischen Zeitgenossen als Dilettanten. Wir sahen seine gefühlsmäßige und sprachliche Zweiseitigkeit. Der ungarischsprachige Teil seines Lebenswerkes entbehrt völlig des weltlichen Elements. Auch sonst sind bei ihm zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden: ein europäischer und ein ungarischer. Seine wissenschaftlichen, instruktiven Arbeiten schrieb er für Europa lateinisch; mit seinen Übersetzungen wandte er sich Ungarn zu. Im Endergebnis vereinigen sich jedoch die beiden Perspektiven in einer dritten, dem neuen Historismus, dessen Völker und Zeiten umfassende Anschauung er sich in Berneggers Umgebung aneignete. Er sah sich selbst und sein Schaffen immer in einer aus Europa und dem Ungartum gebildeten Einheit. Als er die ungarische Bibelübersetzung des Protestanten Gaspar Käroli zur Drucklegung vorbereitete, studierte er außer den ungarischen und deutschen Varianten auch die Bibel der papistischen Theologen Bayerns und die der Genfer Franzosen. Eine Predigt in der „Postilla Scultetica" enthält eine Übersicht über die ersten hundert Jahre des Protestantismus, und das gab ihm, dem Übersetzer, eine willkommene Gelegenheit, 50 51
Brief Miskolczis an Szenczi-Molnär. Dezsi: Tagebuch a. a. 0 . (s. Anm. 8) S. 196. Ebenda S. 225.
A., Szenczi-Molnar in Heidelberg
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einen Bericht über die Predigten-Literatur der ungarischen Protestanten vorzulegen. Die Vorrede zum „Psalterium" stellt eine Einleitung in die Weltliteratur der Psalmenübersetzungen dar. Als Szenczi-Molnär an dem Wörterbuch und an der Grammatik arbeitete, wertete er die gesamte ungarische und europäische Wörterbuch-Literatur aus wie auch die gesamte Literatur zur ungarischen Sprache, der gesprochenen und der geschriebenen, ferner die in lateinischen und deutschen Büchern verstreuten Bruchstücke. Er fühlte sich durch das Schicksal der ungarischen Sprache und des ungarischen Buches ständig beunruhigt und bedauerte, daß er noch nie einen ungarischen Kodex gesehen hatte. Er kaufte ungarische Bücher und ließ sie sich aus der Heimat schicken. Der Teil in der Vorrede zum „Psalterium", in dem er die alt-protestantische Versform, drei Varianten des modernen Stils und die Form der französischen Psalmen den Grundelementen seiner eigenen Verstechnik gegenüberstellt, ist der erste ungarische stil- und versgeschichtliche Versuch. Ebenso neuartig war sein Versuch, auf Bonfinius fußend, die Urgeschichte der Ungarn und den Gang ihrer Christianisierung darzustellen. Beachtenswert im kurzen Entwurf sind die Hervorhebung der geistigen Beziehungen, die vergleichende Anschauung und das Problem der Sprache. SzencziMolnär wußte bereits, daß jede nationale Literatur nur in ihrer eigenen Sprache bestehen kann. So sah er sich dem Problem des lateinischsprachigen ungarischen Humanismus gegenübergestellt. Dabei setzte er voraus, daß König Matthias, hätte er länger gelebt, sich der ungarischen Sprachpflege angenommen hätte. Dennoch war seine Vorstellung von der ungarischen Literatur bei weitem nicht umfassend. Im Jahre 1615 besuchte er Jänos Rimay. Rimay war Schüler und Herausgeber der Werke Bälint Balassis, des ersten großen humanistischen weltlichen Lyrikers, der ungarisch geschrieben hat. Es ist undenkbar, daß Rimay mit ihm nicht über Balassi gesprochen haben sollte, zumal sie beide dessen Sprachkunst so hoch schätzten. Szenczi-Molnar zitiert wohl Zeilen aus einem Psalm Balassis, erwähnt aber seinen Namen sonst nicht. Wenn auch Szenczi-Molnar frei war von menschlicher und konfessioneller Voreingenommenheit, so wagte er doch noch nicht, wenn es um die „Dichtkunst" in der nationalen Sprache ging, den von der protestantischen Kirche gezogenen Kreis zu durchbrechen.
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KABL-HEINZ JÜGELT, BERLIN
Ungarische Gelegenheitsdichtung des 17. und 18. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Jena
/ Im Leben und in der Kultur der europäischen Völker spielte das Gedicht in der Zeit vom 16. bis 18. Jahrhundert eine wesentlich größere Rolle als heute. Von der Wiege bis zur Bahre begleiteten den Menschen Verse. Taufe, Hochzeit, Geburtstag, Begräbnis, Freud und Leid fanden ihren Ausdruck in Reimen. Schon im vorakademischen Unterricht wurden die Schüler mit den Regeln der lateinischen Verslehre vertraut gemacht. Zur Übung wurden gelegentlich auch kleine Gedichte angefertigt und so in manchem Schüler die Freude am Reimen geweckt und gefördert. Und bezogen die Schüler später als Studenten die Universität, besaßen sie zumindest ausreichende theoretische Kenntnisse, um für alle Gelegenheiten ihres studentischen Lebens schreiben zu können. Während jedoch die Volksdichtung erst seit etwa zweihundert Jahren systematisch gesammelt und gedruckt wurde, erschienen die zu Taufe, Hochzeit und aus ähnlichen Anlässen verfaßten Gedichte sehr häufig im Druck, wenn auch meist in sehr kleiner Auflage. Wegen ihres Gelegenheitscharakters wurden sie jedoch über den Anlaß hinaus wenig beachtet und sehr selten länger aufbewahrt. Sie fanden natürlich nur geringe Verbreitung. Eine Ausnahme bildete jedoch eine besondere Art von Gelegenheitsgedichten, die fast immer gedruckt erschien: die Gratulationen für die neugebakkenen Doktoren, die sich soeben in öffentlicher Disputation an den Universitäten des neuen Titels, des erworbenen akademischen Grades, würdig erwiesen hatten. Die Dissertationen erschienen nach erfolgreicher Verteidigung der Thesen im Druck und gelangten so sehr häufig als Pflichtexemplare oder Geschenke mit den beigedruckten Gratulationsgedichten in die Universitätsbibliotheken. Deshalb kann man hier auch diese Gedichte relativ vollständig sammeln. Neben den Studentenalben, die schon häufig Gegenstand der Forschung waren, geben diese Gedichte Aufschluß über die Opponenten und den Freundeskreis des Respondenten. Damit bilden sie eine wertvolle Ergänzung zu den häufig sehr kurzen und nicht sehr aufschlußreichen Biographien. Die an den Universitäten verfaßten Gratulationsgedichte wurden in lateinischer oder deutscher Sprache, sehr selten auch in der Muttersprache der Gratulanten gedruckt.
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Ungarische Gelegenheitsdichtung
II Im Jahre 1958 machte mich Othmar Feyl, der damals als wissenschaftlicher Bibliothekar den Slavica-Auswahl-Katalog der Universität Jena bearbeitete, auf Gratulationen in ungarischer Sprache aufmerksam, die ihm bei der Durchsicht der Dissertationen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek Jena aufgefallen waren. Es handelt sich dabei um jeweils ein Gedicht aus den Jahren 1665 (Jena) und 1695 (Wittenberg), drei Gedichte aus dem Jahre 1717 (Tübingen) und zwei Gedichte aus dem Jahre 1721 (Jena). Diese drei Universitäten, Wittenberg(-Halle), Jena und Tübingen, waren zu jener Zeit die bedeutendsten Zentren des Ungarländerstudiums in Deutschland, zu denen im 18. Jahrhundert noch die Universität Göttingen kam. Da diese Universitäten bisher nicht über vollständige Nachweise ihrer gedruckten Dissertationen verfügen, steht auch die Sammlung solcher Gratulationsgedichte noch aus. Szinnyei 1 erwähnt vereinzelt solche Gratulationsgedichte, so z. B. in der Biographie von Samuel Rumy 2 und in der Dissertation von Georg Ignati 3 . Während das Studium der ungarländischen Studenten an deutschen Universitäten schon vielseitig behandelt wurde, fand diese Seite des Zusammenlebens der ungarländischen Studenten, auch mit den deutschen und anderen ausländischen Kommilitonen, bisher kaum Beachtung. Außer Jözsef Koncz — in seiner auch zeitlich eng begrenzten Arbeit „Lateinische Gedichte der an der Wittenberger Akademie im 16. Jahrhundert studierenden ungarischen Jünglinge" 4 — hat sich bisher niemand mit den Gedichten ungarländischer Studenten systematisch befaßt. Vielleicht regt die vorliegende Veröffentlichung die ungarische Literaturwissenschaft an, sich um eine umfassende Sammlung dieser in ihrer Bedeutung recht unterschiedlichen Produkte der ungarischen Literatur zu bemühen. Von deutscher Seite sind hierzu schon Vorarbeiten geleistet worden. So hat vor einiger Zeit die Deutsche Staatsbibliothek, Berlin, das Manuskript einer Bibliographie der „carmina gratulatoria" von Wolfram Suchier, Halle (Saale), erworben. Es handelt sich dabei um ein Reportorium in sieben Faszikeln, „Die akademischen Gratulationspoeten bes. in Deutschland", die Suchier „aus 10 782 Druckschriften der Jahre 1549—1858 gesammelt . . . " hat und den Literaturforschern, 1
Jözsef Szinnyei: Magyar irök elete es munkäi. [Leben und Werke ungarischer Schriftsteller], Bd. I—XIV Budapest 1890—1914. Zit.: Szinnyei, Magyar irök.
2 3
Siehe unten. Matrikel Tübingen 31.361: 26.8.1715
„Georgius Ignati Schvaboczensis
Ungarus".
Erzieher von Christian Calisius de Calisch, siehe S. 222. Seine Dissertation bei Szinnyei: Magyar irök. Bd. V S. 11. 4
Jözsef Koncz: A wittenbergi akademian a X V I . szäzadban tanult magyar ifjak latin versei. [Lateinische Gedichte der an der Universität Wittenberg im 16. Jahrhundert studierenden Jünglinge],
Irodalomtörteneti
schichte] Jg. 1 (1891) S. 246-260.
Közlemönyek
[Beiträge zur
Literaturge-
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Historikern, Genealogen usw. . . . " für ihre Forschungen zur Verfügung stellt. Das Repertorium umfaßt ein „Lexikon der Dichter von A—Z", eine „Bibliographie der Dissertationen in Marburg UB und Halle UB, welche Gratulations-Gedichte enthalten", es bringt eine Übersicht der Erscheinungsorte sowie ein Namensverzeichnis der in der Bibliographie angegebenen Praesiden, Respondenten, Kandidaten und sonstigen Verfasser und der in den Titeln genannten Personen. Der Datensammlung selbst sind umfangreiche Materialien als Einleitung beigegeben. Eine flüchtige Durchsicht der Bibliographie läßt in Halle und Marburg noch einige Gedichte in ungarischer Sprache vermuten. III Im folgenden bringen wir die sieben genannten ungarischen Gedichte, von denen bisher eines mit verbesserter Orthographie teilweise in einer ungarischen Zeitschrift erschienen ist 5 und ein weiteres nach einer Veröffentlichung bei Feyl 6 die Aufmerksamkeit Istvän Borzsaks gefunden hat. 7 Wir haben für die Wiedergabe die getreue Kopie der Gedichte gewählt, um den Quellencharakter zu erhalten und die wissenschaftliche Bearbeitung zu ermöglichen. Außerdem zeigen die Kopien auch, welche Schwierigkeiten die deutschen Setzer und Drucker mit der ungarischen Sprache hatten. Den Gedichten vorangestellt ist jeweils eine bibliothekarisch genaue Titelaufnahme der Dissertation, die das Gedicht enthält. Die Angabe der Signatur soll die Benutzung erleichtern. Die Erläuterungen zu den Gedichten sollen nur über die Autoren der Gedichte informieren. Eine Wertung der Gedichte ist nicht beabsichtigt. l.Gerhardus, Joh. Ernestus (Präs.) — Johannes Schwabe (Resp.) (Revalia-Livonus): De religione ritibusque Ecclesiasticis Moscovitarum. — Jenae 1665 (18. Oktober) 102 S. [UB Jena 4 Diss. theol. 63 (14)] AZmint Kerteß faból, ofitán Gyñmólcz soka fogadik, mid[o]n oket gyakorlik acképpen sorgalmatoßan 5
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Das Gedicht von Sigmond Mayoor wurde teilweise veröffentlicht in: Soproni Szemle [Ödenburger Rundschau] Jg. 9 (1955) S. 111. Othmar Feyl: Beiträge zur Geschichte der slawischen Verbindungen und internationalen Kontakte der Universität Jena. Jena 1960. Abb. 5 bringt das Gedicht Biners im Faksimile. István Borzsák: Pannonismus Slavonico-Germanicus. Irodalomtorténeti Kozlemények [Beiträge zur Literaturgeschichte]. Budapest Jg. 65 (1961) S. 50—51.
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Igyekezó; Czelekßik mikor mivatal, fogadik. annakokaért, teneket, Eló'tt munka, tutalom áz Apollo (jol tudom) agydni fog: tul Czac Kerésked.8 Praest. Dn. Autori Pannonismo hoc qualitercunque velificare voluit TIMOTHEUS HILLARIUS BINNERUS.
Neusoliensis Hungarus.
Das vorliegende Gedicht beweist, daß Timotheus Hilarius Biner (Binner) — der sich „Neosoliensis Hungarus" nennt — nur unzureichende ungarische Sprachkenntnisse hatte, zumindest im Schriftlichen. Denn sollten solch grobe grammatische Fehler nur um des Reimes willen gemacht sein? Daß ein weiterer „Neosoliensis Hungarus" — Johann Schleiner (SchleimerJ9 in einer slawischen, der tschechischen, Sprache Glück wünscht und die Dissertation Schwabes außerdem noch zahlreiche Gratulationsgedichte deutscher und ausländischer Kommilitonen enthält, läßt vermuten, daß Biner hier nur ungarisch geschrieben hat, um seinem Glückwunsch eine besondere Note zu geben. Ein anderes Gedicht von ihm für den genannten Schleiner (Schleimer) vom Jahre 1666 ist in lateinischer Sprache abgefaßt. Titaotheus Hilarius Biner war der Sohn des aus der Literatur gut bekannten Ernest Hilarius Biner, des Neusohler, später Kaschauer evangelischen Predigers augsburgischen Bekenntnisses. Die Familie Biner selbst stammte jedoch aus Langenfeld in der Pfalz, von wo sie wahrscheinlich schon in der Zeit der ungarischen Könige aus dem Hause Anjou nach Oberungarn ausgewandert war. Timotheus nahm seine Studien in Jena im Sommersemester 1665 auf 1 0 , nachdem 8
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Den Inhalt des Gedichts könnte man so verstehen: Der fleißig Strebende — wenn sein Werk angenommen wird [mívét el fogadik] — ist mit einem Obstbaum zu vergleichen, der erst dann Früchte trägt, wenn er bearbeitet (gepflegt) wird. Deshalb wird dem Respondenten die Belohnung Apolls nicht versagt werden, wenn er sich weiter bemüht. Der Slavica-Auswahl-Katalog der Universitätsbibliothek Jena führt ihn im Register unter Schleiner und Schleimer (Bd. II, 2 S. 277). Die Identität ist aber eindeutig. Im Verzeichnis der Jenaer Ungarländer von Mokos (s. Anm. 10) ist er nicht enthalten. Seine Dissertation „De conficto pontificiorum septenario sacramentorum numero". Jenae 1666 (3. April) 16 S. [UB Jena 4 Diss. theol. 27(26)] nennt ihn „Johannes Schleimerus Neozoliensis Hungarus". Demzufolge stammten Biner und er aus dem gleichen Ort. Umso interessanter sind ihre unterschiedlichen — ungarischen und tschechischen — Gratulationen. Gyula Mokos: Magyarországi tanulók a jénai egyetemen [Ungarländische Studenten an der Universität Jena]. Magyarországi tanulók külföldön [Ungarländische Studenten im Ausland]. Herausgegeben v. Jenö Abel. Bd. I Budapest 1890 S. 22: Sommersemester
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sein Vater schon 1663 gestorben war. 1 1 Nach Abschluß seiner theologischen Studien in Deutschland und Holland blieb er wegen der Verfolgung der Evangelischen in seiner Heimat in Deutschland und wurde Rektor, später Prediger in Bredstedt in Schleswig-Holstein. Dort starb er im Februar 1 7 1 3 . 1 2
2. Röschelius, Joh. Baptista (Präs.) — Joh. Nicolaus Wagner (Pfungstato-Hassus) (Resp.): Ex historia naturali: De mundi. — W i t t e n b e r g e 1695 (12. Jan.) 2 4 S. [UB Jena 4 Diss. philos. 190 (7)] AZ ki e vilägnak bölcs ismeretiben Ejel nappal magät gzakorlya szüntelen E remensegeben meg nem szegyenülhet Mert az ollyan munkäst jöszerencse követ Im hol jö Baratom ez üton eredtel Azert szerencsedhez közeleb is leptel Melly hogy maid teneked ugy gzömölczözhessen A mint ¿rdemletted, kivänom szüvessen. Ira jö Barattyänak V E R E S GYÖRGY,
SS. Th. Cult. 13
Unter dem Namen „György Veres" wird der Suchende in keiner Veröffentlichung über die Ungarländer in Wittenberg 1 4 oder in der veröffentlichten Matrikel der 1665: „Thimothe. Hilarus Biner Nov. Hung.". — Archiv d. Vereins f. siebenbürg. Landeskunde. N. F. Hermannstadt Bd. XII (1874) 'S. 316 „26. Jun. Timothäus Hilarius Biner, Novisol. Hung.". " Szinnyei: Magyar irök. Bd. I S. 1074. 12 Päl Gulyäs: Magyar irök elete es munkäi [Leben u.Werke ungarischer Schriftsteller]. Uj sorozat. Bd. I—VI (A—Dz). Budapest 1939—44. Zit.: Gulyäs: Magyar irök. — Joh. Samuel Klein: Nachrichten von den Lebensumständen u. Schriften evang. Prediger in . . . Ungarn. Bd. I Leipzig und Ofen 1789 S. 13—14; — A. Horänyi: Nova memoria Hungarorum . . . Bd. I Pestini 1792. S. 484. — Johannes Moller: Cimbria literata. Bd. II Havniae 1744 S. 63: „N. S. Hung. ex Scholae Bredstadiensis moderatore vici hujus Cimbrici Pastor". — C. G. Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexikon. Bd. I Leipzig 1750 S. 1096. 13 (In teilweise freier Übersetzung:) Wer in den gelehrten Erkenntnissen dieser W e l t / sich Tag und Nacht pausenlos übt / kann in dieser seiner Hoffnung nicht beschämt werden / Weil einem solchen Arbeitenden Glück folgt / Hier, mein guter Freund, diesen Weg hast Du beschritten / Deshalb bist Du Deinem Glück auch näher gekommen / Welches Dir dann Früchte tragen soll / So wie Du es verdient hast, das wünsche ich herzlich / Das schrieb seinem guten Freund / Gy. V. 14 Miklös Asztalos: A Wittenbergi Egyetem magyarorszägi hallgatöinak nevsora 1601—1812 [Namensliste der ungarländischen Studenten der Universität Wittenberg], Budapest 1931 = Magyar protestäns egyhäztörteneti adattär [Sammlung von hist. Daten der ungar. Protestant. Kirche] Bd. XIV 1931 S. 112-201.
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Universität Wittenberg 1 5 einen Ungarländer finden. Und ob der aus Leutschau in Oberungarn stammende Georg Roth16 jemals in seiner Heimat den ungarischen Namen „Veres" getragen hat, darf bezweifelt werden. In der Matrikel der Universität Wittenberg nennt er sich jedenfalls am 4. Oktober 1693 „Georgius Roth Leutschovia Hungarus". 1 7 Auch die Matrikel der Universität Jena verzeichnet ihn im Wintersemester 1698 als „Georgius Roth Leutschovia Hung." 1 8 E r dürfte außerdem mit dem 1714 in Jena zum „Dr. phil." promovierten Georg Roth identisch sein. 19 So kann man wohl annehmen, daß er seinem ungarischen Gedicht nur die ungarische Form seines Namens beigefügt hat, um so mehr als sich sein Name gut übersetzen ließ. Und sein Gedicht beweist, daß er die ungarische Sprache ausgezeichnet beherrscht. Als er seine Studien 1698 in Jena fortsetzte, hatte er in Wittenberg schon eine Dissertation veröffentlicht. 20 Während aus seiner Jenaer Studienzeit bisher nichts Näheres bekannt ist, verzeichnet Szinnyei 21 noch einen deutschen Glückwunsch Roths zur Hochzeit seines Landsmannes und Freundes, des Magisters und Pastors von Zeuthen bei Niemegk im Brandenburgischen, Gottfried Clannert aus Leibitz in Oberungarn, mit Susanne Almer am 16. September 1695. 22
3. Jaeger, Joh. Wolfg. (Präs.) — Joannes Matolai (U. S. Ung. et in Ser. Duc. Stip. S. theol. Stud.) (Resp.): Placida defensio quam in materia . . . constitutionis Clementis XI. contra Dr. patrem Michel, Canonicum Ingolstadiensem . . . exponit. — Tubingae 1717 (23. Juli) 32 S. [UB Jena 4 Diss. theol. 157 (17)] Der ungarische Respondent Matolai wurde am 4. Juni 1715 in Wittenberg immatrikuliert. Asztalos 2 3 nennt ihn „Ungarns Veterosoliensis" 24 und bezeichnet lr
' Fritz Juntke: Album Academiae Vitebergensis 1 6 6 0 - 1 7 1 0 . Halle 1952. 592 S. = Arbeiten aus der Univ.-u. Landesbibl. Sachsen-Anhalt i. Halle a. d. Saale. Bd. I. Zit.: Juntke: Album. 10 Ungarisch: veres, vörös = deutsch: rot. 17 Juntke: Album (s, Anm. 15) S. 287. 18 Mokos: Magyarorszägi tanulök (s. Anm. 10) S. 33. 19 Promotion Roth's nach 0 . Feyl: Die führende Stellung der Ungarländer..., Wiss. Zeitschrift, d. Fr.-Schiller-Univ.-Jena. GSR Jg. 3 (1953/54) Heft 4/5 S., 433. 20 Diss. politica de jure Majestatis circa erigendas et confirmandas Academicas, quam . . . praeside M. Jacobo Frederico Mollero, publice examinandam o f f e r t . . . ad diem XX. Febr. Anno M.DC.XCV, Wittenbergae. 21 Szinnyei: Magyar irök. Bd. XI S. 1 2 2 7 - 2 8 . 22 Siehe RMK [Altungarische Bibliothek] Bd. III, 2 S. 487 — Szinnyei: Magyar irök. Bd. XI S. 1 2 2 7 - 2 8 . 23 Siehe Anm. 14. M Dem entspricht auch die Abkürzung in seiner Dissertation „Ufetero] S[oliensis] Ungarus". Die Tübinger Matrikel kennt ihn als ,,Sempr[oniensis] Vngarus".
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ihn als „theol. stud. gratuitus". Zwei Jahre später, unter dem 16. November 1717, finden wir ihn in der Tübinger Matrikel als „Joannes Matolai Sempr. Vngarus". Die Angabe seines Stipendiums für 1717 in der Matrikel wird durch seine Tübinger Dissertation bestätigt, in der er sich selbst als Stipendiaten des berühmten Tübinger Stifts bezeichnet, in dem seit 1568 zwölf Studierende aus Ungarn unentgeltliche Versorgung erhalten. Seine Tübinger Immatrikulation wird bei Szinnyei 25 nicht erwähnt, wohl aber seine Tübinger Dissertation. Dabei fehlt jedoch jeder Hinweis auf Gratulationen. Die Dissertation enthält am Ende neben Gratulationen in lateinischer, rumänischer und bibeltschechischer Sprache auch drei ungarische Gedichte. VAlamint az Kedves Nyär sok szep gyiimölcsevel, Es egyeb effele gyönyörüsegevel, Az embernek szivet mostan vidämittya, ß s a vigassägra azt felinditja: Igy szinten Magad-is tudos iräsoddal Örvendeztetz minket disputätioddal. Neked azert sivböl, Baritom, tapsolok, Neked az nagy Urtul minden jot kivänok, Hogy Kedves hazänknak nagy hasznot szerezhes, Es az igaz utra sokakat vezer'lhes. Szerelmes Barättyähoz, ez földejehöz valo älhatatos szereteteböl, nagy örömmel irä Samuel Rumy, Günzino-Hung. A Sz. Iräsban foglalatos az Tub. Hercz. Stip. 26
SaJmuel Rumy entstammt der bekannten adligen Familie des Komitates Vas (Westungarn). Sein Geburtsort ist Güns. Am 18. Dezember 1716 wurde er in Tübingen immatrikuliert.27 In seinem Gedicht und auch in der Matrikel wird er als Stipendiat des Tübinger Stifts bezeichnet. Nach Abschluß seiner Studien kehrte er in seine Heimat zurück und war zuerst als evangelischer Prediger in 25
Szinnyei: Magyar irök. Bd. VIII S. 831. (In teilweiser freier Übersetzung): Wie der liebe Sommer mit seinen vielen schönen Früchten, / Und seinen übrigen dergleichen Herrlichkeiten, / Das Herz des Menschen jetzt erfreut, / Und es zur Lustigkeit anregt: / So erfreust auch Du uns mit Deiner gelehrten Schrift und mit Deiner Disputation. / Dir klatsche ich deshalb von Herzen, mein Freund, Beifall, / Dir wünsche ich von Herzen alles Gute, / Daß Du unserem lieben Vaterland großen Nutzen stiften kannst, / Und viele auf den rechten Weg führen kannst / Das schrieb aus seiner beständigen Liebe zu seinem geliebten Freund und zu seinem Lande mit großer Freude / S. R. aus Güns in Ungarn / Stud. der Theologie und Herzogl. Stipendiat in Tübingen. 27 Matrikel Tübingen 31.532: „Samuel Rumij Sopronio Hung."
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Ödenburg tätig. Dieses Amt hatte er von 1724 bis 1738 inne, als er zum deutschen evangelischen Prediger nach Kaschau berufen wurde. Aus seiner Tübinger Studentenzeit ist, wie schon erwähnt 2 8 , ein weiteres ungarisches Gedicht bekannt. Wenn man die herzlichen Worte für seine geliebte Heimat im vorliegenden Gedicht liest, darf man wohl mit Recht annehmen, daß er auch als deutschsprachiger „Hungarus" ein guter Patriot war. Jedoch sind von ihm neben den beiden genannten Gedichten aus seiner Tübinger Studentenzeit nur zwei in deutscher Sprache gedruckte Leichenpredigten bekannt geworden.
NIncsen nyugodalma az Magyar Nemzetnek, Nem henyel szabläja, nem szännya az testnek Epseget, de hartzol, megyen ellensegnek, Nem äd nyugodalma t az Pogäny Töröknek. Raita megyen, s- gazdag Orszägät pusztittya, Tiizzel s- eles vassal mindenestöl ronttya, Vezernek s- Szultannak fejet häborgattya, Hogy edes haaajät kezebe ne adgya: Vitezlö Barätom, ä Te termeszeted, Ki tetzik am innend te vitez Nemzeted, S-Te tanuläsidban szep minemöseged, Mivel nem nyugodhatz s- hartzra vagyon kedved. Annak pedig lehet ekes tudomännya, A kinek iräsban forog bozogannya, Maga faradsagat, s-munkäjat nem szännya, Mellyre Isten eröt adgyon, azt kivännya. Az itt valo Nemes Magyarsägnak Sereg-Hajtoja. 29
Während alle Gratulanten ihren Namen nennen — wenn auch bisweilen, wie bei den Humanisten, in Übersetzung —, verschweigt uns hier der Autor den seinen. Welche Gründe er dafür auch gehabt haben mag, wir müssen die Anonymität 28
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Szinnyei: Magyar irok. Bd. XI S. 1399 erwähnt ein ungar. Gedicht Rumys in der Dissertation von G. Ignati. Tübingen 1718. (s. Anm. 3). (In teilweise freier Übersetzung:) Keine Ruhe hat die ungarische Nation, / Ihr Säbel ist nicht müßig, sie fürchtet keine Verwundungen, / sondern kämpft, geht an den Feind, / Sie gibt keine Ruhe dem heidnischen Türken. / Sie greift ihn an und vernichtet sein reiches Land, mit Feuer und scharfem Stahl rottet sie ihn aus, / Sie beunruhigt den Kopf des Heerführers und des Sultans, / um ihr teures Vaterland nicht in seine Hand zu geben. / Mein tapferer Freund, Deine Natur und Deine tapfere Nation ragen gewiß hervor, / Und in Deinen Studien Deine guten Kenntnisse, / Weil Du nicht ruhen kannst, und Du Lust zum Streit hast. / Der aber verfügt über ein ausgezeichnetes Wissen, / Der in einer Schrift seine Fähigkeiten zeigt, / Eigene Mühe und Arbeit nicht scheut, / Wozu Gott ihm Kraft geben möge, wünscht /' Das jüngste Mitglied der hier weilenden adligen Ungarn.
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aufzuklären versuchen. Sachlich ist davon auszugehen, daß von den laut Matrikel im Juli 1717 in Tübingen weilenden Ungarländern nur zwei, Adam Asboth und Stephan Szedona, nicht namentlich zu den Gratulanten zählen. 30 Nach der Bezeichnung „nemes magyarsägnak sereghajtöja" kommt nur ein adliger Ungar in Betracht. Szedona ist bei Szinnyei nicht genannt, Adam Asboth kann sich sehr wohl als Ungar mit einem sehr jungen Adelsprädikat bezeichnen, denn die Familie Asboth war erst am 10. Mai 1715 geadelt worden. Die aus England stammende Familie, deren Ahn Ende des 16. Jahrhunderts im kaiserlichen Dienst nach Ungarn gekommen war, hatte sich 1697 einbürgern lassen. Auch die sprachwissenschaftliche Auslegung des „nemes magyarsägnak sereghajtöja" deutet auf die Autorschaft Asboths. Im übertragenen Sinne wird nämlich „sereghajto" zur Bezeichnung des „kleinsten, jüngsien Mitglieds einer Korporation" verwendet. 31 Nach Gulyäs 3 2 wurde Adam Asboth 1690 in Nemesker (Kom. Gyor-Sopron) geboren. Mit 22 Jahren wurde er 1712 in Tübingen immatrikuliert. Das Adelsprädikat wurde der Familie 1715, demnach während des Aufenthaltes in Tübingen verliehen. In der Matrikel bezeichnen sich Asboth und auch Szedona als „Sempronio Hungarus". 3 3 In seinem ungarischen Gratulationsgedicht f ü r Johannes Petrus Komäromy in dessen Dissertation „De vino Hungarico Soproniensi" (Basileae 1715) nennt sich Asboth ebenfalls „Sopron. Hung. SS. Th. St. in III. Stib. Tub". 34 Damit hätte man die von Samuel Nemeth vorgelegte Liste der in Tübingen studierenden Ödenburger 35 um diese beiden Studenten zu ergänzen, die beide 1712 immatrikuliert wurden.
HOgy ma olly eszessen forog â Te karod Meg mutatod nyilvân melly légyen hatârod, Te tanulâsidban minémo aa ârod Azon igen örül â Te jo akarod. KALISIUS KRISTIÂN DE KALIS,
Szabad-Ur és Zâszlo-Tarto.36 30
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Als Gratulanten treten auf: Georg Rumy, Christian Calisius de Calis, Georg Ignati, Johann Jakob Mittermayer, Johann Fleischer, Johann Ziegler (Die beiden letzteren aus Siebenbürgen). G. Szarvas und Zs. Simony: Magyar nyelvtôrténeti szôtâr. [Ungarisches sprachhistorisches Wörterbuch]. Bd. I S. 1266: (im übertragenen Sinne:) „das kleinste, j ü n g s t e Mitglied einer Korporation" (ungar.). In die gleiche Richtung deutet die Erklärung von „A magyar nyelv értelmezô' szôtâra" Bd. V S. 1181 „sereghajto" II, 1. Gulyas: Magyar irök. Bd. I S. 860; Szinnyei: Magyar irok. Bd. I S. 267. Matrikel Tübingen 31.065: 15. 7. 1712 „Adamus Asboth Sempronio Hungarus". Deutsche Staatsbibliothek, Berlin. Nachlaß Suohier. Bibliographie der Dissertationen in Marburg UB und Halle UB, welche Gratulations-Gedichte enthalten. Nr. 804. Soproni Szemle. [Ödenburger Rundschau], Sopron Jg. 9 (1955) S. 99—117.
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Wie der vorgenannte Adam Asboth gehörte auch Christian Calisius de Calisch zum jüngsten ungarischen Adel. Sein Vater Philipp Heinrich hatte ebenfalls erst im Jahre 1715 das ungarische Indigenat erhalten37, Christian selbst leistete erst am 10. Juni 1723 in Laxenburg den Eid auf die ungarischen Gesetze.38 Der Name Calisch oder Kaiisch leitet sich vermutlich von der Stadt Kalisz am Flusse Proszna in Mittelpolen ab. Über de Calisch wissen wir vorläufig nur, daß sein Vater ihn mit dem Erzieher Georg Ignati („Schvaboczensis Hungarus") nach Tübingen schickte, wo beide 1715 immatrikuliert wurden.39 Während Asboth wohl aus Gründen der Bescheidenheit seinen Namen nicht nennt, bezeichnet sich de Calisch stolz als Freiherr und Fähnrich. Die wörtliche Übersetzung des „Liber Baro" in „Szabad Ur" ist sehr ungewöhnlich und zeugt von dem Bestreben, die neuerworbene Zugehörigkeit zum Adelsstand regni Hungariae möglichst deutlich zu zeigen.
4. Wedelius, Georg. Wolffg. — Carolus Frider. Löv (Nobilis, SemproniensisHungarus) (Resp.): Diss. medica de polypodio. — Jenae 1721 (April) 32 S. [UB Jena 4 Diss. med. 25 (52)]
Bóldog ällapotban Népe az Orszàgnak El, ha van hatalma Ura Kirällyanak, Mert annak ereje szerez jobbägyinak Tsendes Békességet, mint hü szolgainak. Hasonlatosképen oily Respublicänak Nagy szerencse jutott, s- az ö lakosinak, A melly Tudós Orvost vàlasstott magànak, A ki zablàt vethet sok nagy Nyavalyànak. Hidd-el, Te felöled mind eztet reménlik, A kik, többi között, tsak Nevedet nézik, Osztän bölts Atyädrul à ki emlékezik, Azt mondja: belöled Tudós Orvos vàlik. Mivel mint Oroszläny Orossläny flakat Szül, nem ina-szakadtt s- mäsgyenge Vadakat, Hanem mindenekben hozzä hasonlókat, Vadak Kiràllyoknak kik mondjäk magokat. 36
37 38
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(In teilweise freier Übersetzung:) Indem Du heute so klug disputierst, / Zeigst Du offen, was Du leisten kannst, /Wie sehr Du in Deinen Studien geschätzt wirst, / Darüber freut sich sehr Dein Dir wohlwollender (Dein Gönner) Chr. C. de C. / Freiherr und Fähnrich. Gesetzesartikel 135./1715 des Königreichs Ungarn. Jànos Illésy und Béla Pettkó: A kiràlyi k ö n y v e k . . . 1527—1867. [Die königlichen Bücher . . . 1527-1867], Budapest 1895 S. 41. Matrikel Tübingen 31.360: 2 2 . 8 . 1 7 1 5 „Christian Calisius de Calisch Trenchiniensis Ungarns". Für Ignati s. Anm. 3.
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110 Ugy, Te is, ki ezen eros Vad Nevériil Neveztetel, mondjàk: nem lött ez ok nélkiil, Mert fog példàt venni, minden kétség kivül, Ezen Vad Allatnak kopasz Kölykeirül. Meg is lött, mert nem tsak Néhaj Atyàd nevét, Hanem räd hagyatott bölts Orvosi Tisztét Viselni akarvàn, elméd vitézségét Mutatod, s- disputàlsz, nyerhes Doctor Nevet. Elly tehàt sokàig, viselly egésségben Doctori Titulust, még részesiilsz többen Kivànom Szerentse lakjon kebeledben, Hogy minden bóldognak mondjon életedben. Ezt kivànnya à Te igaz. jóakaró Szolgàd MAYOOR SIGMOND,
A Filosofìanak, és az Orvosi Tudomànynak Tanulója. 40
Während über den Respondenten Carolus Fridericus Low im nächsten Abschnitt noch zu sprechen sein wird, interessiert uns hier der mit einem ungarischen Gedicht aufwartende Gratulant Zsigmond Mayor. Seine Biographie ist relativ ausführlich bei Weszprémi 4 1 zu finden. Hiernach erhielt seine aus Kaschau stammende Familie 1633 vom Komitat Abauj den Adelsbrief. 4 2 Wie aus den Matrikeln von Jena w
(In teilweise freier Übersetzung:) In glücklichen Verhältnissen lebt das Volk eines Landes, / Wenn sein Herr König Macht besitzt, / Weil dessen Kraft seinen Leibeigenen als seinen treuen Dienern ruhigen Frieden verschafft. / Ähnlich haben auch eine solche Respublica und ihre Bewohner großes Glück errungen, / Welche sich einen gelehrten Arzt erwählt haben, / Der vielen schweren Krankheiten Einhalt gebieten kann. / Glaube mir, von Dir erhoffen das alle, die, unter anderem, nur Deinen Namen sehen. / Derjenige, der sich dann Deines gelehrten Vaters erinnert, sagt: aus Dir wird ein gelehrter Arzt. / Weil, wie die Löwin nur Löwenjunge wirft, nicht lahme und andere schwache Junge, / sondern in allem ihr ähnliche, / Haben die Tiere den Löwen zum König erwählt. / So, sagen sie, der Du den Namen dieses starken Raubtieres trägst: das geschah nicht ohne Grund, weil er, ohne jeden Zweifel, sich ein Beispiel nehmen wird an den nackten Jungen dieses wilden Tieres. / Das geschah auch, da Du nicht nur den Namen Deines seligen Vaters, sondern auch seine Dir hinterlassene Würde eines gelehrten Arztes tragen wolltest, zeigst Du die Tapferkeit Deines Geistes, und disputierst, sollst Du den Doktortitel gewinnen können. / Mögest Du lange leben, trage den Doktortitel in Gesundheit, Du wirst noch andere Titel erhalten. Ich wünsohe Dir, das Glück wohne in Deiner Brust, damit jeder Dich glücklich nenne in Deinem Leben. / Das wünscht Dir Dein Dir wirklich wohlwollender Diener Zsigmond Mayor / Student der Philosophie und der medizinischen Wissenschaften.
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Stephanus Weszprémi: Succincta medicorum Hungariae . . . biographia. Bd. IV Viennae 1787 S. 167. Béla Kempelen: Magyar nemes csalädok. [Ungarische adlige Familien] Bd. VII Budapest 1913 S. 135.
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und Altdorf hervorgeht, wurde Mayor im Herbstsemester (13. September) 1719 in Jena („S'igismondus Mayoor Cassovia Hungarus") und am 8. Juni 1723 in Altdorf („Sigismundus Mayoor Cassovia Hungarus") immatrikuliert. Am 30. Juni 1723 promovierte er in Altdorf mit seiner „Dissertatio inaug. medica: Problematica de mascula sobole proceanda" (Altdorfii 1723) 4 3 zum Doktor der Medizin. Als solcher war er in seiner Vaterstadt Kaschau tätig. Außer Mayor gratuliert auch der „ Jummala Moistuße Oppeja" 44 Karl Gustav Taden (recte: Staden) mit einem 16zeiler in estnischer Sprache, dem Low seinerseits, wie wir im folgenden noch sehen werden, ein Gedicht in ungarischer Sprache gewidmet hat. Aber haben beide — Staden und Low — von der Verwandtschaft ihrer Muttersprache etwas geahnt? 5 Hallbauer, Frid. Andreas (Präs.) — Carolus Gustavus de Staden (Revalia-Livonus) (Resp.): Commentationes philosophicae in quaedam Vet. Test, loca, ex quibus de recta iuvenum educatione statui potest. — Jenae 1721 (18. Juli) 32 S. [UB Jena 4 Diss. theol. 290 (29)] Böltzesseget szerzett Jenai Lakäsod Neked, erröl tanit ez Disputaläsod. Hogy pedig hasznodra legyen tanuläsod, Menny haza, s-szerentses legyen utazäsod Vilägi eltedben, ä mig lesz szdlläsod Boldog menngorszägban Ezt Kiuännga ä TE jö akaröd OROSZLANY CAROLY,
az Oruosi Tudomängnak Licentiatusa. 45
Vergeblich — wie in Wittenberg nach György Veres — wird man in der Jenaer Matrikel nach einem ungarischen Studenten mit Namen Caroly Oroszlany suchen. Wenn man jedoch daran denkt, daß der ungarische „oroszlan" ein deutscher „Löwe" ist, wird man unschwer in ihm den später berühmt gewordenen ungarischen Arzt und Botaniker Carolus Fridericus Low erkennen, von dessen Dissertation schon die Rede war. Und worauf alle ihm gewidmeten Gedichte, wie wir gesehen haben, anspielen: Schon sein Vater — Wittenberger Philosophiestudent von 1677 4 6 und später Doktor '"'J Szinnyei: Magyar irök. Bd. VIII S. 933. Deutsch: Unterweiser in Gottes Wort, d. i. Prediger. 45 (In teilweise freier Übersetzung:) Weisheit hat Dir Dein Jenaer Aufenthalt verschafft, / Davon zeugt Deine Disputation. / Damit aber Dein Lernen zu Deinem Nutzen sei, geh nach Hause, und glücklich sei Deine Reise im weltlichen Leben, bis Du Quartier nehmen wirst im seligen Himmelreich. / Das wünscht Dir Dein Dir wohlwollender / Carolus Low / Licentiat der medizinischen Wissenschaften. 46 Juntke: Album (s. Anm. 15) S. 209. 44
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der Philosophie sowie Jenaer Medizinstudent und Doktor der Medizin vom 31. Juli 1683 — Andreas (Andräs) Low war seit 1693 bis zu seinem Tode am 20. Mai 1710 gewählter Physikus der westungarischen Stadt Ödenburg. Gleichzeitig gehörte er als Mitglied der deutschen Academia Naturae Curiosorum Leopoldina an. Von ihm sind zahlreiche gelehrte Abhandlungen erschienen, die sein Sohn aus dem Nachlaß veröffentlichte. Deshalb entschied sich auch der am 20. März 1699 in Ödenburg geborene Carolus Fridericus f ü r den Arztberuf. Schon mit siebzehn Jahren bezog er 1716 die Jenaer Universität und promovierte hier 1721 zum Doktor der Medizin mit einem Thema aus der Heilmittelbotanik. Was f ü r ein lustiges Studentenleben er mit den gleichzeitig in Jena weilenden, ungarländischen Studenten in der „Fürstenbrunnischen Gesellschaft" führte, ließ sein 1945 leider verlorengegangenes Studentenalbum ahnen. Samuel Nemeth, der davon einiges andeutet 47 , scheint jedoch über diese landsmannschaftliche Vereinigung auch nichts Näheres zu wissen. Die „Leopoldina", der schon Löws Vater angehört hatte, nahm ihn am 18. Oktober 1724 unter dem Namen „Pittacus" auf. Weitere Ehren wurden ihm zuteil. So wurde ihm auch die Mitgliedschaft der Preußischen Akademie der Wissenschafen zu Berlin verliehen. Anerkannt und berühmt als Arzt und Botaniker starb er am 4. November 1741. Das veröffentlichte Gedichtchen gehört sicher zu den armseligsten Zeilen, die er geschrieben hat. Jedoch dürfte die von ihm zu schriftlichen Mitteilungen sehr selten gebrauchte ungarische Sprache auch der Vollständigkeit halber die Aufmerksamkeit seiner Biographen verdienen. 48 47 48
Soproni Szemle. [ödenburger Rundschau], Sopron Jg. 9 (1955) S. 108. Über sein Leben siehe C. v. Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. XV Wien 1866 S. 412, wo auch die ungarischen Quellen angeführt sind.
LAJOS NÉMEDI,
DEBBECEN
Die Rolle des deutschen Vorbildes in der ungarischen Aufklärung
Ferenc Kacinczy, eine der führenden Persönlichkeiten der ungarischen Aufklärung, erzählt in seinen Memoiren, wie er sich 1791 bei einem Wiener Kunsthändler Kupferstiche ansah. Der Kunsthändler war sehr überrascht von seinem Geschmack und seinem Kunstverständnis, zumal er sah, daß sein Gast ein Ungar war. Die Ungarn verstünden, sagte er offen, herzlich wenig von den Künsten. Kazinczy antwortete: „Mein Land ist ein Land ohne Geld, die Liebe zu den schönen Künsten verlangt Geld. Es wird aber auch unsere Zeit kommen, die auch f ü r Wien später kam als für Dresden, Paris und London." Kazinczy begegnete noch am selben Tag Bäröczy, dem literarisch tätigen Offizier der ungarischen Leibgarde, und erzählte ihm das Vorgefallene. „Geh zurück", sagte dieser darauf „und erinnere den Wiener daran, daß man von einer berühmten Zeichnung Schmutzers in Wien vor kurzem kaum mehr als 5 Exemplare hätte kaufen können, wo man doch aus Paris sofort 300 Stück nachbestellte, da die ersten Abzüge vergriffen waren! Die Musen sind wandernde Götter; in Wien und Pest brauchen wir uns dessen nicht zu schämen, daß sie später zu uns kamen. Wir müßten uns schämen, wenn wir sie nicht mit Freude empfangen." 1 So formulierten die führenden Geister der ungarischen Aufklärung ihre Auffassung von der Übernahme der geistigen Anregungen anderer Völker. Die vergleichende Richtung der Literaturgeschichtsschreibung befaßte sich bereits zur Zeit des Positivismus zur Genüge mit den Einflüssen einzelner Nationalkulturen aufeinander und mit der Übernahme von Kulturgütern. Über die geistigen Anregungen, die die ungarische Kultur von der deutschen empfing, schrieben fleißige Philologen bereits Hunderte von Aufsätzen. 2 Das Material wurde zum großen Teil zutage gefördert: Eine Sichtung und Deutung aus marxistischen Gesichtspunkten ist nötig. Die folgenden Ausführungen möchten die Berührung von nationalen Kulturen von der Fragestellung aus beleuchten: Welche Rolle kommt einer kulturell höherstehenden Nation als Vorbild im Entwicklungsgang einer anderen nationalen Kultur 1
Palyäm Emlekezete [Mein Lebenslauf]. In: Kazinczy Ferenc Välogatott Müvei [Ausgewählte Werke von Ferenc Kazinczy]. Bd. I Budapest 1960 S. 126. 2 Vgl. hierzu György Mihäly Vajda: A magyar összehasonlitö irodalomtudomany törtenetenek väzlata [Abriß der Geschichte der vergleichenden Literaturwissenschaft in Ungarn], Vilagirodalmi Figyelo' [Weltliterarischer Beobachter]. Jg. 8 (1962) S. 325 bis 373.
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Deutsch-ungarische Beziehungen
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zu? In unserem Falle handelt es sich um das deutsche Vorbild, und die Epoche, die wir uns wählten, ist die ungarische Aufklärung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die kleine Anekdote, die wir voranstellten, soll zeigen, daß die Periode zum Studium des Problems gut geeignet ist, da die Aufklärung die Frage der Übernahme von geistigen Gütern ihrem Wesen gemäß richtig, ohne nationale Voreingenommenheit beurteilte. Infolge einer günstigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklung erstarkte die nationale Bourgeoisie in England und Frankreich bereits im 17. und 18. Jahrhundert. Die Aufklärung als Ideologie dieser Bourgeoisie verbreitete sich demgemäß aus diesen Ländern über ganz Europa. Daraus folgt, daß die sich um 1770 herum herausformende ungarische Aufklärung im Bereich des politischen und philosophischen Denkens die Engländer und Franzosen als ihre Vorbilder betrachtete. Der Bahnbrecher György Bessenyei, ebenfalls ein Offizier der ungarischen Leibgarde in Wien, war ein Schüler von Locke, sein Lieblingsschriftsteller war Voltaire. Ein Schüler der Franzosen war auch der bereits erwähnte Gardeoffizier Baröczy, Begründer des modernen ungarischen Prosastils, Übersetzer von La Calprenède und Marmontel. Paris ist in seinen Augen „eine Promenade der Welt", die Franzosen eine Nation, „die ihre Sprache in der weiten Welt verbreitete und ganz Europa Gesetze gab." 3 Und in noch schönerem Licht leuchtete das französische Vorbild vor den fortschrittlichen ungarischen Dichtern auf, als 1789 die Revolution ausbrach. Jânos Batsânyi, der bedeutendste politische Dichter der Zeit forderte die unterdrückten Nationen und ihre Tyrannen auf, ihre Blicke Paris zuzuwenden, damit sie ihre Schicksale im voraus sehen. 4 Doch als Batsânyi einige Jahre später wegen seiner revolutionsfreundlichen Gesinnung verfolgt und ins Gefängnis geworfen wurde, berief er sich auf ein deutsches „Beispiel" und verteidigte sich öffentlich damit, daß selbst der große Wieland die Anfänge der Französischen Revolution bejaht habe, ohne dafür verfolgt zu werden. 5 Es gibt ein Gebiet, auf dem in unserer Epoche das deutsche Vorbild in Ungarn mehr bewirkt hat als das englische oder französische: Es ist das Gebiet der nationalen Sprache, es ist die Bestrebung zur Bildung einer nationalen Kultur. Zum besseren Verständnis dieser Erscheinung dürfen einige einleitende Bemerkungen an dieser Stelle nicht überflüssig sein. Das Ungartum blieb wegen der hundertfünfzig Jahre dauernden türkischen Besetzung und nachher unter dem Druck der Wiener Politik in seiner kulturellen Entwicklung im 16./18. Jahrhundert zurück. Nach dem letzten Freiheitskrieg gegen Habsburg, also nach 1711, schienen selbst die geistigen Energien der Nation verebbt zu sein. Im öffentlichen Leben, in der Schule und im wissenschaftlichen Betrieb 3
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Sândor Bârôczy: A védelmeztetett magyar nyelv. Vagyis a deâksâg mennyire szûkséges voltârôl valô kettô's beszélgetés [Die verteidigte ungarische Sprache oder Dialog über die Notwendigkeit des Lateinischen in Ungarn], Bées 1790 S. 75. A franciaorszâgi vâltozâsokra [Auf die Umwälzungen in Frankreich]. Magyar Müzeum [Ungarisches Museum], Jg. 2 (1789) Quartal 1 S. 56. Apolôgia. 1795. Batsânyi Jânos Összes Muvei [Sämtliche Werke von Jânos Batsânyi], Bd. II Budapest 1960 S. 571.
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herrschte das Latein. Die Magnaten bauten sich im Westen des Landes wunderbare Schlösser, die heute noch als Meisterwerke der barocken und spätbarocken Kunst gelten. Pest und Buda hatten eine rein deutsche Bevölkerung. Ein ungarisches Bürgertum gab es kaum. Unter solchen Umständen näherte sich der fortschrittliche Teil des Landadels langsam der kapitalistischen Produktionsweise in der Landwirtschaft. Er übernahm die Führung auch in der Politik und im geistigen Leben, ja er mußte auch die bürgerliche Ideologie der Aufklärung übernehmen. Er schlug den Weg ein, auf dem das Ungartum eine Nation im modernen Sinne werden sollte. Das Land wurde von Wien aus im Sinne dynastischer Interessen regiert. Zollverordnungen unterbanden jegliche industrielle Entwicklung, damit die Industrie in den österreichischen Erbländem um so rascher vorwärts kommen konnte. Wien betrachtete Ungarn beinahe als eine Kolonie, die der österreichischen Industrie Rohstoffe liefern sollte. Das einzige Gebiet, auf dem der bürgerlichen Entwicklung der Weg vorbereitet werden konnte, war die nationale Kultur. „Eins der wichtigsten Mittel der Glückseligkeit des Landes ist die Wissenschaft. Je verbreiteter diese unter den Einwohnern ist, um so glücklicher ist auch das Land." Diese Sätze leiten den Plan einer großangelegten ungarischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1781 ein. 6 Sie stammen von dem Wegbereiter der neuen Ideologie, von György Bessenyei, der ebenfalls aus dem Landadel kam. Er ist es auch, der seiner Nation einprägen wollte: „Jede Nation erwarb sich die Kultur in der eigenen Sprache, in einer fremden aber nie." 7 Das alles heißt ungefähr soviel: Wenn das Ungartum trotz der äußerst ungünstigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sich als selbständige Nation behaupten will, muß es in der Muttersprache eine selbständige Kultur entwickeln. Die Muttersprache sei, betont Bessenyei, der teuerste Schatz der Nation. Sie sei das wichtigste Unterscheidungsmerkmal einer nationalen Gemeinschaft in der Völkerfamilie der Erde. Die Gleichsetzung von Sprache und Nation ist durchaus keine ungarische Eigentümlichkeit. Man findet Beispiele dafür in der spanischen, der niederländischen und auch in der deutschen Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts.8 Mit elementarer Kraft setzt sich diese Auffassung in Ungarn durch, als Kaiser Joseph II. seine germanisierenden Verordnungen erläßt und das Deutsche als alleinige Amts- und Unterrichtssprache in seinem ganzen Reich, also auch in Ungarn, einführt. Ein bedeutender Publizist der Zeit schreibt in einer Zeitschrift: „Seit einigen Jahren konnte man sich unsere Nation als ein Wrack vorstellen . . . dieses halbversunkene Schiff konnte vor allem durch eine Hebestange aus dem Schlamm herausgehoben werden. Diese Hebestange aber war die Muttersprache, die ohne jeden Unterschied 6
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György Bessenyei: Egy magyar târsasâg irânt valô jâmbor szândék [Wohlgemeinter Vorschlag für eine ungarische Gesellschaft], Bées 1790 S. 5. György Bessenyei: Magyarsäg [Die ungarische Sprache], (anonym) Bées 1778 S. 6. Man vergleiche die entsprechenden Kapitel bei Leo Weisgerber: Die Entdeckung der Muttersprache im europäischen Denken. Lüneburg 1948.
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alle wahren Ungarn lieben. Diese Sprache erinnerte sie alle an ihre großen tapferen Vorfahren: an Attila, an Hunyadi, an König Matthias . . . " . 9 Im Bewußtsein des Ungartums nimmt also in diesen Jahren die Sprache einen zentralen Platz ein. Dies erklärt, warum die fremden Vorbilder immer wieder auf dem Gebiete der nationalen Kultur, der Pflege der Muttersprache als wichtige Beispiele angeführt werden. Die Berufung auf das Beispiel fremder Nationen erscheint im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im ungarischen geistigen Leben nicht zum ersten Male, vielmehr begleitet sie es seit der Reformation. Dieser Erscheinung begegnen wir im Leben einer jeden Nation. Die Franzosen haben im 16. Jahrhundert viel von den Italienern übernommen, die Deutschen lernten von den Niederländern, von den Engländern und Franzosen im 17. und 18. Jahrhundert. Die Berufung auf fremde Vorbilder charakterisiert aber regelmäßig die Entwicklung jener nationalen Kulturen, die unter dem Druck ungünstiger Verhältnisse zurückgeblieben sind und etwas nachzuholen haben. Sie setzt natürlich die Erkenntnis der eigenen Rückständigkeit voraus. Diese Erkenntnis bildet auch in der Epoche der Aufklärung einen sehr wichtigen Bestandteil des ungarischen kulturellen Bewußtseins. Der bereits erwähnte Dichter Janos Batsanyi, einer der Redakteure der ersten ungarischen literarischen Zeitschrift „Magyar Müzeum" [Ungarisches Museum] (1788), stellt der ersten Nummer eine Einleitung voraus, in der er die Ursachen der kulturellen Rückständigkeit seines Landes analysiert. Er erwähnt als Hemmnis in erster Linie die Türkenkriege und das Fehlen eines ungarischen Königshofes. Dann setzt er hinzu: „Sehen wir aber lieber, wie wir mit unseren jetzigen Kräften vorwärts kommen können. Laßt uns erforschen, mit welchen Mitteln die heutigen gelehrten Nationen auf die Höhe kamen, auf der sie jetzt sind, und laßt uns ihren Spuren folgen, soweit es unsere Umstände erlauben." 1 0 In einem grundsätzlichen Artikel über die Übersetzungen in der nächsten Nummer der Zeitschrift heißt es dann wieder: „Warum könnten wir auch den glücklichen Beispielen dieser Nationen nicht folgen?" 11 In dem so bedeutsamen Jahre 1790, als die Hoffnung aufkam, daß die Nation, den Prinzipien der Französischen Revolution folgend, der Tyrannei des Wiener Hofes Grenzen setzen könne, erschienen Hunderte von Flugschriften über politische und kulturelle Fragen. 12 Das Werk von Samuel Decsy weist auf das zentrale Problem bereits im barock anmutenden langen (ungarischen) Titel hin: „Der Phönix von Pannonien oder Die aus ihrer Asche auferstandene ungarische Sprache." Der Ausgangspunkt seiner Erörterungen ist wiederum die idealistische Feststellung, daß die blühenden europäischen Länder ihre Blüte einzig und allein der eifrigen Pflege ihrer Muttersprache verdankten. Als Beispiel erwähnt er Christian Thomasius, der 9 10
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Jözsef Peczeli: Mindenes Gyüjtemeny [Vermischte Beiträge]. Jg. 1790 S. 288—289. Bevezetes a Magyar Müzeumhoz [Einleitung zum Ungarischen Museum]. J. Batsanyi a. a. 0. Bd. II (s. Anm. 6) S. 93. Jänos Batsanyi: A forditäsröl [Vom Übersetzen]. A. a. O. Bd. II (S. Anm. 5) S. 101. Vgl. Lajos Nemedi: A nemzeti müvelödes ügye 1790/91-ben [Die Sache der nationalen Bildung in den Jahren 1790/91], Eger 1962.
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bereits am Ende des 17. Jahrhunderts Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache ankündigte. „Sobald Christian Thomasius an der Hochschule von Halle anfing, die Wissenschaften in deutscher Sprache zu lehren, wuchs Preußen zusehends und entwickelte sich soweit, daß es der Lehrmeister von ganz Europa, in zivilen und in Kriegssachen, wurde." 13 Decsy fährt fort: „Nur wir sollten weiter schlummern, nur uns sollte das Vorbild der glücklicheren Nation nicht aus dem Schlaf wecken?" 14 Der patriotische Eifer kann sich in den Jahren 1790/91 nicht genugtun, die fremden Vorbilder vorzuführen, um dadurch den nationalen Ehrgeiz anzuspornen. Ein junger Arzt, Jozsef Kis, verlangt die ungarische Unterrichtssprache an der einzigen Universität des Landes. „Lerne bitte" — damit wendet er sich seinem Leser zu — „hierin von den Engländern, Franzosen und Deutschen, die in allen Schulen und in jedem Amt ihre eigene Sprache gebrauchen." In der Reihe der bisher angeführten Beispiele standen Engländer, Franzosen und Deutsche, allerdings meist in dieser sehr bezeichnenden Reihenfolge. Das deutsche Vorbild hat aber eine sehr wichtige Eigenschaft, die es für die Ungarn am Ende des 18. Jahrhunderts über das englische und französische hinaushebt: daß man ihm leichter folgen konnte als den anderen. Auch das deutsche Volk gehörte ja nicht zu den glücklichsten Europas, es hat gleichfalls ein schweres Schicksal gehabt. Das wußte man in Ungarn zu jener Zeit. Wenn sich nun das deutsche Volk doch rechtzeitig behauptete, seine Muttersprache ausbildete, sich eine nationale Kultur schuf, so kann dasselbe auch den Ungarn gelingen. Noch eine ergänzende Bemerkung soll hier stehen, die die Situation besser beleuchtet. Die deutsche Dichtung in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts stieg auf einen Höhepunkt. Männer wie Klopstock, Wieland, Lessing, Herder, Goethe, der junge Schiller begannen bereits, die Achtung Europas zu erwerben. Ist es dies deutsche Vorbild, das den ungarischen Zeitgenossen vorschwebte und das ihnen erreichbar erschien? Nein. Die Rezeption der fremden Kultur erfolgt mit einiger Verspätung. Sie setzt Verständnis für die Werte der fremden Kultur voraus. Der Empfänger muß wirklich empfänglich, er muß reif sein f ü r die Höhen und Tiefen der fremden kulturellen Leistungen. Seien wir gerecht: Das ungarische Publikum war in den 70er und 80er Jahren noch nicht reif f ü r die Rezeption der neuesten deutschen Literatur, wenn auch manches von ihr bekannt wurde. Für den gebildeten Ungarn bedeuteten damals Gottsched, Geliert, Rabener, die Bremer Beiträge, f ü r wenige noch Klopstocks „Messias" und die „Philosophie der Grazien" Wielands die deutsche Dichtung. Erst in den 90er Jahren, zwischen 1790 und 1793, wurden „Die Räuber" Schillers ins Ungarische übersetzt, in diesen Jahren aber dreimal. (Zwei Übersetzungen wurden 1793 auch gedruckt.) Im 18. Jahrhundert bedeutete Literatur: Wissenschaft und Dichtung. Die schöne Literatur, überhaupt was wir heute einfach Literatur nennen, kämpfte noch um 13
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Samuel Decsy: Pannöniai Féniksz, avagy hamvâbôl feltâmodott magyar nyelv [Der Phönix von Pannonien oder Die aus ihren Aschen auferstandene ungarische Sprache], 14 Bées 1790 Einleitung - Über Chr. Thomasius: S. 84. Ebenda S. 53. Jozsef Kis: A nemes magyar nemzethez rövid emlékezteto beszéd [Kurze Ermahnung an die edle ungarische Nation], o. O. 1790 S. 16.
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die Daseinsberechtigung. Dieser Auffassung gemäß wurde die deutsche Literatur damals für Ungarn keineswegs nur durch Dichter und Dichtungen repräsentiert. Unter deutscher Literatur verstand man vielmehr die ganze deutsche Gelehrsamkeit, von der Wolffschen Philosophie über die klassische Philologie bis zu den „Deutschen Gesellschaften" und den pädagogischen Versuchen eines Basedow, Rochow oder Campe. Von den Dichtern selbst wurden eher die kleineren, wie Matthisson, Hölty, Salis-Seewis bekannt. Dies erklärt, glaube ich, zur Genüge, warum die ungarischen Zeitgenossen von diesen deutschen Vorbildern zur Nachfolge ermutigt wurden und warum sie diese Stufe der Entwicklung in Kürze für erreichbar hielten. Ein weiterer Umstand spielt hier eine Rolle: Die deutsche Aufklärung hat spezifische Züge, die sie von der französischen unterscheiden. Sie ist wegen der Schwäche des deutschen Bürgertums weniger revolutionär und weniger konsequent in politischen und weltanschaulichen Fragen. Ihre größten Leistungen liegen auf literarisch-kulturellem Gebiet. Die fortschrittlichen Kräfte kämpfen in Deutschland für die nationale Einheit, und als Vorbedingung dafür wird eine einheitliche nationale Kultur erstrebt. Deren Grundlage soll die einheitliche deutsche Schriftsprache sein. Die deutsche Frühaufklärung tritt daher energisch f ü r den Gebrauch der Muttersprache im öffentlichen Leben und in der Gelehrsamkeit ein und wendet sich gegen das Lateinische der Gebildeten und das Französische der Höflinge. Die Literatur und die Sprachpflege nehmen so im 18. Jahrhundert im nationalen Leben einen großen Raum ein. Die nationale Kultur erscheint als wichtig, ja lebensnotwendig. Folgerichtig ist das Missionsbewußtsein der Dichter stark und betont. 16 Manches haben also die deutsche und die ungarische Aufklärung gemeinsam, vor allem die stark auf die nationale Kultur ausgerichtete Grundtendenz. Es soll zuerst an Beispielen gezeigt werden, wie anregend und ermutigend daher es für ungarische Patrioten, Gelehrte und Dichter war, sich und ihren Mitbürgern sagen zu können: Die Deutschen haben auch erst vor kurzem begonnen, ihre Muttersprache zu reinigen und auf eine höhere Stufe zu heben. Der talentierte Professor der alten protestantischen Hochschule in Debrecen, György Maröthy, gab 1743 eine Arithmetik in ungarischer Sprache heraus. Er mußte dabei neue Wörter und Wendungen schaffen, und er rechtfertigte sein Verfahren mit dem Beispiel anderer Nationen. Das hätten die anderen auch getan, wie einst die Römer, wie in letzter Zeit die Deutschen, die selbst die Fachausdrücke der Philosophie ins Deutsche übersetzten. 17 Als ein anderes frühes Beispiel soll der Kavalleriegeneral Maria Theresias erwähnt werden, der Dichter Baron von Orczy. In einem Brief an den Kardinal Barköczy um das Jahr 1765 beklagte er sich über die Schwierigkeiten, ungarische Gedichte zu schreiben, da die Sprache hart und donnernd sei. Zur eigenen Ermutigung setzte er dann hinzu: „Wie dem auch sei, ich sehe, daß die Deutschen auch erst in diesen Jahren anfingen, schöner zu schreiben und zu reimen. Deshalb gebe auch ich meine Hoffnung nicht a u f . . . " 1 8 16 17
Erläuterungen zur deutschen Literatur. Band: Aufklärung. Berlin 1958. Maröthi György: Arithmetica. Debrecen 1743 S. 4.
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1788 erscheint, wie schon erwähnt, die erste ungarische Literaturzeitschrift. Als Vorbild schweben dem Redakteur die „Bremer Beiträge" vor. In der bereits zitierten Vorrede zeichnet er ein Bild von Europas geistiger Wiedergeburt nach dem Mittelalter. Erst seien die Italiener hervorgetreten, ihnen aber die Franzosen und die Engländer bald gefolgt. „Die letzten unter diesen gelehrten Nationen waren die Deutschen. Sie haben beinahe ähnliche Hindernisse zu überwinden gehabt wie wir. Eine bedeutendere Epoche der deutschen Literatur begann auch erst mit den 40er Jahren des Jahrhunderts. Bodmer, Brei tinger und Haller bemühten sich schon vorher, fanden aber damals noch keinen Nachfolger... So bereicherte sich ihre Sprache und Wissenschaft immer mehr, so daß sie es heute in allen Gattungen der Literatur mit den berühmtesten europäischen gelehrten Nationen aufnehmen können." 4 9 Wir können leicht beurteilen, was das für die Ungarn im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bedeutete: Die Deutschen sind im 17. Jahrhundert infolge von Kriegen und der mangelnden nationalen Einheit ebenfalls zurückgeblieben; sie haben sich aber aufgerafft und wetteifern bereits mit den Günstlingen des Schicksals. „Besser jetzt als nie", so wendet sich ein führender Publizist, Jôzsef Péczeli, 1789 an die Zeitgenossen. Viele behaupten, Europas kulturelle Entwicklung betrachtend, daß es nunmehr zu spät sei, zu versuchen, auch die ungarische Sprache auszubilden. Péczeli operiert hier wiederum mit dem Beispiel der Deutschen: Vor 50 Jahren war auch ihre Literatur klein, wenig beachtet, und heute steht sie in voller Blüte da! „ . . . auch andere Nationen huldigen ihr. Wer weiß, liebe Patrioten, ob es nicht auch uns möglich ist, es in 50 Jahren so weit zu bringen!" 2 0 Wir wissen, wie es um die deutsche Kultur steht, meint ein Ingenieur aus Szeged, Istvän Vedres: „Kaum 50 Jahre sind verflossen, seitdem die Deutschen ihre Literatur eifriger betreiben, und schon können sie es mit den gebildetsten Nationen Europas aufnehmen. Geliebtes Vaterland, du bist an der R e i h e . . . " 2 1 Warum sollen wir den Deutschen unterlegen sein, warum sollen wir minderwertiger sein als die Nachbarn? So fragt sich in nationalem Enthusiasmus der bereits mehrfach zitierte Bârôczy, der sonst ein schwärmerischer Anhänger der Franzosen ist. 22 Eines der wichtigsten Hindernisse, die der nationalen geistigen Entwicklung im Wege stehen, ist die Verachtung der Muttersprache durch die Aristokratie. („De contemptu linguae teutonicae" hieß ja einmal das Jugendwerk von Martin Opitz; auch Gottsched kämpfte gegen das Französisch der Höflinge.) Der ungarische Zeitgenosse weiß, daß die Verachtung der Muttersprache keine spezifisch ungarische Krankheit ist; auch darin welche Ähnlichkeit mit den Deutschen! Die deutschen Dichter hatten ebenfalls gegen solch unpatriotisches Verhalten kämpfen müssen. Ihr Beispiel soll die Ungarn stärken. Miklôs Rêvai, bis heute einer der größten 18
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Lorinc Orczy's Brief: Kôlteményes Holmi egy nagysâgos elmétôl [Dichterische Produkte eines edlen Geistes]. Herausgegeben v. Miklôs Rêvai. Pozsony 1787 S. 64. Jânos Batsânyi a. a. 0. Bd. II (s. Anm. 5) S. 95. Mindenes Gyujtemény [Vermischte Beiträge]. Bd. II Komârom 1789 S. 62—64. Istvân Vedres: Hazafiui elmélkedés [Patriotische Erwägungen], Bées 1790 S. 43. Sândor Bârôczy a. a. O. (s. Anm. 3) S. 23.
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ungarischen Sprachforscher, schreibt in seiner Jugend einem Freund über die verachtungswürdige Teilnahmslosigkeit vieler Ungarn an der eigenen Muttersprache. Er setzt in wohlklingenden Hexametern hinzu: „Diese Sünde ist nicht nur uns eigen, so war es auch bei den Deutschen, bis sie sich endlich eines besseren besannen. Ihre Sprache glänzt auch erst in solcher Pracht, seitdem sie selbst sie achten lernten. Auch bei ihnen mußten sich abei viele Patrioten für die gute Sache in die Schanze schlagen, und nur auf diese Weise errangen sie den herrlichen Sieg." 2 3 1788 stellt der Mönch Leo Szaitz eine kleine ungarische Phraseologie aus den Werken des gegenreformatorischen Kardinals der Barockzeit, Péter Pâzmâny, zusammen. Für unseren Zusammenhang ist der einleitende Aufsatz wichtig: „Über die ungarische und die deutsche Sprache und über diejenigen, die diese beiden Sprachen nicht in genügendem Maße achten." Es folgen seitenlange Erörterungen darüber, wie die ungarische Sprache lange Zeit vernachlässigt wurde. Selbst heute noch gebe es Leute in Ungarn, die ihr feindlich gesinnt seien. „Wir sollen aber nicht denken," fährt der Mönch fort, „daß es nur bei uns Vögel gibt, die ihr eigenes Nest besudeln, nämlich ihre eigene Muttersprache verachten ; nein, im selben Schiff mit uns sitzen die deutschen Nachbarn." 2 4 Parallelerscheinungen wurden also zwischen der deutschen und der ungarischen Entwicklung entdeckt, die es tatsächlich gab, da gleiche Ursachen unter gleichen Umständen auch im politischen und geistigen Leben gleiche Folgen haben. Die Parallelität der Entwicklung gilt vor allem für Wien, wo Gottscheds Schüler, Anton Klemm und Josef Sonnenfels, auch erst 1761 auftraten und eine Deutsche Gesellschaft gründeten. Der Bahnbrecher der ungarischen Aufklärung trat genau elf Jahre später ebenfalls in Wien auf, mit demselben Eifer und mit ähnlichen objektiven und subjektiven Hindernissen kämpfend. 25 Das deutsche Vorbild ist aber nicht nur im allgemeinen anspornend, es zeigt nicht allein das Ziel. Auch in Detailfragen der Sprachpflege beruft man sich gern auf deutsche Beispiele, um Streitfragen zu schlichten. Ferenc Kazinczy übersetzt 1788 eine schwache Werthernachahmung, „Adolfs gesammelte Briefe" von A. Chr. Kayser (Leipzig 1778, anonym). Im ungarischen Text verwendet er Fremdwörter, um der Sprache einen feineren gesellschaftlichen Schliff zu geben. Da dieses Verfahren f ü r die Zeitgenossen ungewohnt war, meint er, es folgendermaßen begründen zu müssen: „Zu dieser Sonderbarkeit drängte mich außer der unleugbaren Zurückgebliebenheit unserer Sprache das Beispiel der blühendsten Nationen. Ich meine nicht den französischen, italienischen und englischen Wirrwarr; mir schwebt das Beispiel der Deutschen vor, deren Sprache, wie auch die unsere, eine wahre Muttersprache ist. Wenn diese, nachdem sie in allen Wissenschaften klassische Werke aufweisen 23
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Miklös Rêvai: VII. Alagya Bolla Mârtonnak [Siebente Elegie an Märton Bolla], 1777. In: Rêvai Miklös elegyes versei és néhâny apröbb kötetlen irâsai [Vermischte Gedichte und einige kleinere Prosaschriften von Miklös Rêvai], Pozsony 1787 S. 19. Istvân Mari a fi [Leo Szaitz]: Kis magyar frâzeologyia [Kleine ungarische Phraseologie], Pozsony 1788 S. A3. Vgl. Lajos Némedi: Bessenyei György és a német Felvilâgosodâs [Gy. Bessenyei und die deutsche Aufklärung], Eger 1960.
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können, sich nicht schämen, Fremdwörter zu Hilfe zu nehmen, wenn diese selbst in Oden, in epischen Werken, in Tragödien Fremdwörter zulassen — was wollen wir, die wir kaum einige Übersetzungen aufweisen k ö n n e n . . . mit diesem merkwürdigen Purismus?" 2 6 Jedem Volk klingt die eigene Sprache am schönsten. Das ist selbstverständlich und ist ein verzeihlicher nationaler Stolz. Unvermeidlich geht aber damit eine andere, weniger erfreuliche Erscheinung meist Hand in Hand, nämlich eine gewisse Geringschätzung der anderen Sprachen, die nicht so süß klingen wie die eigene. Die Ungarn hatten um 1790 Ursache genug, die deutsche Sprache unschön zu finden. Joseph II. wollte ja bekanntlich die Einführung der deutschen Amts- und Unterrichtssprache erzwingen. Wir finden tatsächlich ungarische Äußerungen in dieser Zeit, die den Werten der deutschen Sprache nicht gerecht werden und gar nicht gerecht werden wollen. Derselbe Kazinczy, der beste ungarische Kenner der deutschen Literatur, der mit Gessner, Lavater, mit Miller und dem Kupferstecher Chodowiecki in Briefwechsel steht, äußert sich im Strome der patriotischen Begeisterung der Jahre nach dem Tod Joseph II. über den unangenehmen Klang der Sprache, „gegen die unsere Väter uns eine Hamilkarsche Abneigung einzuflößen suchten". Er hofft, die ihrer Sprache entfremdeten Ungarn würden es bald einsehen, wieviel schöner das Ungarische klinge als diese rauhe Sprache, die sich zu nichts besser eigne als zu kalten, despotischen Befehlen. 27 S. Decsy meint im gleichen Jahr, Gott hätte das erste Menschenpaar auf deutsch aus dem Paradies vertrieben. Der Ingenieur István Vedres gibt kurz die Ursache dieser Abneigung an: „Wir bekamen vor dem Deutschen Ekel, einzig und allein darum, weil es gegen unsere Natur und weil es Gesetz war." 28 Er meint natürlich die germanisierenden Verordnungen Josephs. So sind die Meinungen oft vom Nationalismus bestimmt. János Földi schreibt an Kazinczy 1791: „Die Deutschen haben die Gewohnheit, die Mitlaute zu vermehren und die Selbstlaute zu vermindern und deshalb harte, rauhe, krächzende Laute zu sprechen." 2 9 Ähnliches meint Gergely Édes, ein Dichter aus Siebenbürgen, wenn er an Kazinczy schreibt: „Wenn ich das Deutsche höre, läuft mir der kalte Schweiß über den Rücken . . . das Deutsche ist einem Tiere, das mehr Knochen als Fleisch hat, gleich." 30 Diese pseudoästhetische Beurteilung der deutschen Sprache — um zu unserem Hauptanliegen zurückzukommen — hängt damit zusammen, daß der Ungar an die Pflege und Erneuerung der eigenen Sprache denkt: „Was der Deutsche mit seiner
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Ferenc Kazinczy: Bácsmegyeynek ösaveszedett levelei [Die gesammelten Briefe von Bácsmegyey], Kassa 1789. Zitiert nach: K. F. Válogatott Müvei [Ausgewählte Werke von F. K.). Bd. II Budapest 1960 S. 93. Ferenc Kazinczy: A Hadi és más nevezetes torténetek szerkesztóségének [An die Redaktion der Zeitung Kriegsnachrichten und andere bemerkenswerte Begebenheiten]. 8. März 1790. In: Kazinczy Ferenc Levelezése [Briefwechsel]. Bd. II Budapest 1890 S. 415 bis 419. István Vedres a. a. 0 . (s. Anm. 21) S. 45. János Földi an Kazinczy. Kazinczy a. a. O. Bd. II (s. Anm. 26) S. 235. Vgl. Gyula Farkas: Magyar romantika [Ungarische Romantik], Budapest 1930 S. 229.
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häßlichen Sprache wagt, warum sollten wir es mit unserer schönen Sprache nicht wagen?" 31 Das Zitat stammt wiederum von Kazinczy, aus einem Brief an den Dichterfreund Janos Kis, der eine gediegene deutsche Bildung genossen hatte. Kein Wunder, wenn der größte Dichter der ungarischen Aufklärung, Mihäly Vitez Csokonai aus Debrecen, seines Meisters Gedanken mit noch mehr Nachdruck wiederholt: Es ist wahr, wir sind jetzt an letzter Stelle in Europa. Um so rühmlicher ist aber unser Bestreben, um so größer wird auch der Preis sein. „Jene rauhe deutsche Sprache, die jetzt mit ihren guten und schlechten Büchern ganz Europa überschwemmt und das europäische wissenschaftliche Leben in das eigene aufsaugen möchte, was war sie vor Gellerts Fabeln? Eine visigotische Sprache, wie der große Friedrich zu sagen pflegte . . . unsere Sprache ist auch noch ungebildet... aber selbst in diesem Zustand ist sie bereits schöner und geeigneter als die kultivierteste deutsche Sprache." 32 Das deutsche Vorbild spielt also in der ungarischen Aufklärung eine wichtige Rolle. Dieses Beispiel half den ungarischen Zeitgenossen, rief zur Nachfolge auf, zu eigenen Leistungen auf dem Gebiet der Sprachpflege, der nationalen Kultur überhaupt. Ohne dieses ermutigende Beispiel, dieses erreichbar erscheinende Vorbild hätten die Vertreter der ungarischen Aufklärung so manches gewiß nicht erreicht. Das Vorbild brachte die Gefahr der Möglichkeit einer allgemeinen Überfremdung mit sich, da das Land wirtschaftlich und politisch unselbständig und österreichischen Interessen ausgeliefert war. Zwischen 1711 und 1848 gab es keinen ungarischen Unabhängigkeitskrieg gegen Wien. Eine Verteidigung der nationalen Interessen konnte nur auf der Ebene der Ideologie, der Kultur, der Sitten erfolgen. Die Literatur im weitesten Sinne übernahm diese Aufgaben. Die Patrioten wiesen fremde Mode und Sitte als „deutsche" Mode und „deutsche" Sitte ab. Es sind dieselben Patrioten, Dichter, Ärzte, Ingenieure, die den vorbildlichen deutschen geistigen Bestrebungen nacheifern. Es übersteigt unsere Aufgabe, die Verbreitung der deutschen Mode und der Sitten im einzelnen zu schildern. Wir bringen hier nur ein Zitat aus einem der ersten ungarischen literaturgeschichtlichen Werke (1808). Samuel Papay beschreibt den Vorgang der Überfremdung in knappen Worten: „Die beiden Nationen, Ungarn und Deutsche, lebten in einem Lande, und weil die größere, die deutsche Nation, die Regierung in der Hand hatte und die bezaubernde Zivilisation besaß, was war natürlicher, als daß sich der Ungar an den Deutschen anpaßte und nicht umgekehrt. Das blendende Licht der Wiener großen Welt hatte die Ersten der Nation so an sich gezogen, und unsere Nation wurde, als das Blendwerk dieser großen Welt auch in unsere Städte, die bekannlich meist deutsch sind, eindrang, durch deutsche Poliertheit und deutschen Luxus verzaubert, daß viele von unseren Großen und Magnaten, besonders die F r a u e n . . . , die nationale Tracht und die nationale 31 32
Kazinczy an Janos Kis. Kazinczy a. a. 0. Bd. II (s. Anm. 26) S. 302. Mihäly Vitez Csokonai: A magyar nyelv feleledese [Die Auferstehung der ungarischen Sprache]. Zitiert nach: Csokonai Valogatott Muvei [Ausgewählte Werke]. Bd. II Budapest 1950 S. 265.
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Sprache verachtend, vom Kopfe bis zu den Füßen derart deutsch geworden waren, daß manche sich schämten, wenn man sie Ungarn nannte." 33 Die germanisierenden Verordnungen Josephs stärkten noch die deutsche Atmosphäre in Ungarn und beleidigten das nationale Gefühl. Die fremde Amtssprache schuf eine erniedrigende Lage. Der Kaiser berief Deutsche zu Professoren an die einzige Universität des Landes, wo also nur lateinisch und deutsch gelehrt wurde. In dieser deutschen Welt mußten sich auch die ungarischen Gelehrten für Deutsche ausgeben, um überhaupt Ansehen zu gewinnen. Der tüchtige ungarische Arzt gilt nichts, wenn er nicht deutsche Kleider trägt oder wenn er einen ungarischen Namen hat, meint eine Flugschrift aus dem Jahre 1790. Der ungarische Landadel sah der Entfremdung der Aristokratie argwöhnisch zu. Aber mehr noch als die deutsche Amtssprache machten diese Schicht andere Pläne Josephs besorgt. Sie gefährdeten einen Teil der Adelsprivilegien, ohne natürlich den Feudalismus als solchen abzubauen. Nationale und Standesinteressen vermischten und überdeckten sich hier. Zur Entladung der aufgespeicherten Erbitterung bot der Türkenkrieg 1789 die günstige Gelegenheit. Joseph mußte auf seinem Totenbett beinahe alle seine Reformen rückgängig machen. Man darf ja nicht vergessen, daß inzwischen die Bastille in Paris gestürmt worden war. Sie fiel als Symbol der Gewaltherrschaft. Der adlige Widerstand meldete sich in Ungarn in nationalen Formen. Die Flammen der nationalen Begeisterung schlugen plötzlich hoch. Man warf die fremden Kleider ab. Die Muttersprache erklang wieder auf allen Lippen. Der Nationalismus des Landadels äußerte sich manchmal in recht naiven Formen: Istvän Szirmay bestimmte zum Beispiel in seinem Testament, ein Mitglied der Familie solle immer Thomas getauft werden, damit es den Deutschen nicht glaube, ein anderes Mitglied soll den Namen Hiob erhalten, damit er die Hiebe, die der Deutsche (gemeint ist Wien) den Ungarn erteilt, ertragen könne. Die fortschrittliche Intelligenz verteidigt 1790 auch die nationalen Interessen, bejaht die Feindseligkeiten zwar nicht, möchte aber den Schwung der adligen Begeisterung zur Sicherung der Grundlagen für eine ungarische nationale Kulturpolitik ausnützen. Im Brennpunkt des Interesses steht die Gründung einer wissenschaftlichen Akadmie, die aber erst 40 Jahre später Wirklichkeit werden sollte. Auch die Dichter und führenden Publizisten wenden sich gegen die Nachahmung der deutschen Sitten. „Jetzt, oder vielleicht nie mehr," heißt es in einem Brief Batsanyis an den Grafen Miklös Forgäcs, den er zur" Unterstützung der Akademie bewegen wollte, „ . . . unsere Sprache wird sonst von der verschmähten Sprache der Fremden unterdrückt, die unsere Heimat überschwemmen; wir werden wieder zu 33
Man vgl. dazu einen Satz aus Benjamin Neukirchs Ausgabe: Herrn von Hofmannswaldau und anderer Deutschen auserlesene und bisher ungedruckte Gedichte. Bd. I Leipzig und Frankfurt 1695. Aus der Vorrede: „Wir leben auch zugleich zu einer Zeit, da die Deutschen fast nicht mehr Deutsche sein; da die ausländischen. Sprachen den Vorzug haben und es ebenso schimpflich ist, deutsch zu reden, als einen schweizerischen Latz oder Wams zu tragen."
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Affen der Deutschen, und mit unserer Sprache und unserem Kleid legen wir auch unsere nationalen Sitten ab." 34 Jözsef Peczeli diskutiert bereits Ende 1789 über die Beweisführung der germanisierenden Verordnungen Josephs, daß nämlich die deutsche Sprache der Aufklärung diene: „Die Deutschen hätten sich auch dagegen gewehrt, wenn die Franzosen vor 50 Jahren sie um den Preis aufgeklärt hätten, daß ihre Sprache dabei verlorengegangen w ä r e . . . uns wird die Aufklärung auch viel zu kostspielig, wenn dadurch gleichzeitig unsere nationale Sprache und unser Charakter verlorengehen." 3 5 Kazinczy kommt jetzt im Jahre der großen nationalen Begeisterung zu der Einsicht, daß selbst der ungewollte Wettbewerb mit der deutschen Sprache den Ungarn zugute kam: „Wir haben gesiegt", schreibt er, „unsere Erniedrigung kam uns zugute, die ausgestandenen Gefahren haben uns gelehrt, daß Uneinigkeit, Zwist, fremde Frauen, Mode und Sitte . . . unser Vaterland bis an den Rand des Abgrundes f ü h r t e n . . . Diese Zeiten, die in trauriger Erinnerung bleiben, lehrten uns, daß wir ohne Beibehaltung und Verbreitung unserer Sprache selbst in unserer Heimat heimatlos bleiben . . . Diesen traurigen Zeiten verdanken wir sogar, daß unsere vaterländische Literatur durch die Verbreitung der deutschen Sprache bei uns zum Wettbewerb gezwungen, in kurzer Zeit ohne Hilfe eine Höhe erstieg, die sie sonst in einem halben Jahrhundert nicht erreicht hätte." 36 Die nationale Begeisterung der Jahre 1790/91, die als Gegenschlag auf Kaiser Josephs Politik erfolgte, ist gewiß nicht frei von Nationalismus. Die Besten der Nation sind gegen solche Übertreibung. Andererseits wird die Lage dadurch nur erschwert, daß der erste Deutschprofessor in Ungarn, Alois Leopold Hoffmann, im Auftrage des Wiener Hofes zwei gehässige Flugschriften, „Babel" und „Ninive", herausgab, in denen der ungebildete ungarische Landadel an den Pranger gestellt und die Kulturmission der Deutschen in Ungarn betont wird. „Es mag vielleicht nicht unwahr sein", damit beginnt Hoffmann, „daß die Deutschen die Art und Weise, wie man als ein Mensch und nicht wie ein Mittelding von Mensch und Vieh leben müsse, zuerst in Ungarn eingeführt haben. Es läßt sich fast nicht leugnen . . . , daß das bißchen Kultur . . . , das Erwachen der schönen K ü n s t e . . . , eigentlich ein Werk der Deutschen sind." 37 Umso unverständlicher erscheint Hoffmann der Deutschenhaß, den er den ungarischen Patrioten vorwirft. Es will ihm gar 34
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Jänos Batsänyi: Nagymeltösagu Gröf Forgäcs Miklös Urhoz [An den hochwohlgeborenen Herrn Grafen Miklös Forgäcs]. Aus dem Jahre 1791. Zitiert nach J. Batsänyi a.a.O. Bd. II (s. Anm. 5) S. 2 0 1 - 2 0 3 . Jözsef Peczeli: Tekintetes Kazinczy Urnak a normäs iskoläk lätogatöjik elött tartott beszede [Die Rede des wohledlen Herrn Kazinczy vor den Inspektoren der Normalsohulen], Mindenes Gyüjtemeny [Vermischte Beiträge], Jg. 1790 S. 187—190. Ferenc Kazinczy: Külföldi Jätszö-szin [Ausländische Schaubühne]. Kazinczy a.a.O. Bd. II (s. Anm. 26) S. 242. Babel. Fragmente über die jetzigen politischen Angelegenheiten in Ungarn. Gedruckt im römischen Reiche. 1790. Ninive. Fortgesetzte Fragmente über die dermaligen politischen Angelegenheiten in Ungarn. Nebst einer wichtigen Beilage. Auch im römischen Reich gedruckt. 1790 (beide anonym). Zitiert: Ninive S. 44.
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nicht einleuchten, daß gerade sein Benehmen und seine gehässigen Ausführungen das ungarische Nationalgefühl aufs äußerste verletzen. Bezeichnenderweise war er ein berüchtigter Gegenaufklärer! Selbst der ungarische Landtag beschäftigt sich mit den Hoffmannschen Schriften. 38 Ungarische Antworten erscheinen darauf in ungarischer, deutscher und lateinischer Sprache. 39 Man wußte ja nicht, daß Hoffmann nur ein Sprachrohr der reaktionären Kräfte des Wiener Hofes war. Der Ungar ist zu dieser Zeit f ü r das deutsche Vorbild sehr aufgeschlossen, er ist sehr geneigt, dem guten Beispiel zu folgen, ist aber auch gegen jede kritische Bemerkung, die ihm von deutscher Seite zuteil wird, sehr empfindlich. Die Lage ist psychologisch gut zu verstehen. Ein Beispiel f ü r das schnelle Reagieren auf die deutsche Kritik vom Anfang des 18. Jahrhunderts soll die Sache näher beleuchten. Der braunschweigische Gelehrte J. Fr. Reimann schrieb 1708: „Ich weiß niemand, den ich dazu recommandieren könnte, de Scriptis et Scriptoribus Hungaricis eine Nachricht zu geben. Ich glaube auch nicht, daß jemals einer von dieser Materie was geschrieben habe oder auch was Sonderliches habe schreiben können. Denn die Ungarn haben jederzeit ein solches Naturell gehabt, daß sie mehr auf ein gewandtes Pferd und einen blanken Säbel als auf ein curioses Buch gehalten." Zwei Ungarländer nahmen das mißachtende Wort auf und schrieben Werke, die eine Grundlage der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung bilden, um zu beweisen, daß die Ungarn sehr wohl Literatur und Kultur besitzen. 40 Eine größere und tiefere Wirkung hatte ein Jahrhundert später in Ungarn Herders „Prophezeiung" vom baldigen Untergang und Aussterben des Ungartums. Man könnte durch die wechselvollen Schicksale beider Nationen die Rolle des deutschen Vorbildes im ungarischen geistigen Leben bis auf heute verfolgen. Vorliegende Arbeit berichtete nur über eine kürzere Zeitspanne, in der das deutsche Vorbild an der Gründung einer modernen nationalen Kultur in Ungarn in einer eigentümlichen Weise mithalf. 38
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A magyar orszäggyülesi vegzeseknek egyik darabja; tigymint: Ama nevezetes ket brosüräk: Babel es Ninive eilen tett hiteles tanüsäg [Ein Stück der ungarischen Reichstagsentscheidung und zwar: Authentische Zeugenschaft gegen jene zwei bedeutsamen Broschüren: Babel und Ninive]. Pozsony 1790. Von den Antworten ungarischer Literaten seien hier nur zwei erwähnt: Eleutherii Pannonii mirabilia fata dum in metropoli Austriae famosi duo libelli Babel et Ninive in lucem venissent. o. 0. 1791. — Gedanken über die Nationaltracht der Frauenzimmer in Ungarn und einige andere Gegenstände wider das berüchtigte Buch Ninive. o. 0 . 1790. Jakob Friedrich Reimann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam insgemein. Halle 1708. — Die ungarischen Werke: David Czvittinger: Specimen Hungariae Literatae. . . Frankfurt und Leipzig 1711. — [Mihäly Rotarides]: Historiae Hungaricae literariae antiqui, medii atque racentioris aevi lineamente . . . Altonaviae et Gervestae 1745.
LASZLÖ SZIKLAY, B U D A P E S T
Wege der deutsch-slowakisch-ungarischen Kulturvermittlung zur Zeit des Auflebens der slawischen Literaturen 1
Die folgende Studie will einen Beitrag zur vergleichenden ungarisch-slowakischen Literaturgeschichtsforschung liefern, indem sie zu zeigen versucht, wie beide Literaturen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Anregungen von Seiten der deutschen Literatur — gleichartig oder verschiedenartig — reagierten. Dabei geht es uns weniger darum, etwa nach dem Vorbild einer positivistischen Wirkungsforschung, in möglichst zahlreichen Erscheinungen den deutschen Einfluß zu beweisen und mechanisch zu registrieren. Wenn wir die Frage stellen, wie die ungarischen und die slowakischen Schriftsteller jener Zeit deutsche Einflüsse rezipierten, so soll ihre Beantwortung in erster Linie die Kenntnis sowohl der ungarischen als auch der slowakischen Literaturentwicklung fördern und eine bessere Grundlage für ihre Vergleichung bieten. Übrigens wird an gegebener Stelle auch auf Literatureinflüsse hinzuweisen sein, die vom südöstlichen Raum nach Deutschland hin wirkten und von dort in andere Literaturen gelangten. Bürgerliche Literaturhistoriker schrieben viel über die Beziehungen der ungarischen und der slowakischen Literatur zur deutschen; es ist allgemein bekannt, daß es infolge der Suggestion der positivistischen Wirkungsforschung oder aus Angst vor dem westlichen „Übergewicht" auch Thesen gab, die z. B. die Entwicklung der ungarischen Literatur lediglich für einen sukzessiven Prozeß der bewußten Loslösung, des Unabhängigwerdens von den westlichen Vorbildern hielten.2 In der ungarischen und slowakischen Literaturgeschichtsschreibung entstanden gleicherweise viele Detailstudien über die Fragen der deutschen Kontakte und des deutschen Einflusses. Über die deutschen Beziehungen Kazinczys und Kölcseys oder Kollars, Safäfiks und Sttirs schrieben schon so manche Autoren; es gibt keinen ungarischen oder slowakischen Literaturhistoriker, der keine Kenntnis vom ungarischen oder slowakischen Nachwirken Herders, Goethes oder Schillers hätte. Trotzdem besitzen wir kein zusammenhängendes Bild von den ungarischen und slowakischen Beziehungen zur deutschen Kultur, das einerseits eine mehr1
2
Unsere Studie setzte sich keinesfalls zum Ziel, die behandelten deutsch-ungarischen, bzw. die deutsch-slowakischen Beziehungen in chronologischer Reihe anzuführen. Wir wollten nur einige Punkte berühren, die die parallele und die voneinander abweichende Entwicklung der erwähnten Literaturen in der besagten Periode illustrieren. Vgl. György Mihaly Vajda: A magyar összehasonlitö irodalomtudomany törtenetenek vazlata [Abriß der Geschichte der vergleichenden Literaturwissenschaft in Ungarn]. Vilägirodalmi Figyelö [Weltliterarischer Beobachter], Jg. 8 (1962) S. 338—339.
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schichtige, moderne, marxistische Aufschließung der weltliterarischen Kontakte der beiden Literaturen, andererseits zu einer gründlicheren Kenntnis der nationalen Entwicklung beitragen könnte. Obwohl sich auch die neue demokratische deutsche Fachliteratur mit dieser Frage beschäftigte, glauben wir, daß eine marxistische Wissenschaft hier noch so manches zu tun hat. 3 Am Ende des 18. Jahrhunderts scheint die Überlegenheit und deshalb auch der Einfluß der deutschen Kultur auf das ungarische und das slowakische Sprachgebiet offenkundig zu sein. Die Sprachneuerung und die literaturorganisatorische Tätigkeit des ungarischen Schriftstellers Kazinczy schöpfen, neben andern europäischen Quellen, vor allem aus dem deutschen Kulturbereich 4 , während die bestehende lutherische Tradition bei der protestantischen (evangelischen) Gruppe der slowakischen Aufklärer zur Verbreitung der Gedanken Lessings, Schillers und anderer großer Gestalten der deutschen Aufklärung beitrug. 5 Die erhöhte Bedeutung der deutschen Vorbilder zur Zeit der Aufklärung geht in beiden Literaturen auf eine gemeinsame Überlieferung zurück: Der Pietismus, der mit so manchen Fäden zur ungarischen Aufklärung hinführte, wurzelte kräftig in deutschem Boden 6 , und sein großer Vertreter Mátyás Bel, der zu beiden Literaturen gezählt wird, vertrat bei Ungarn und Slawen eine gemeinsame Tradition deutscher Beziehungen. Schon in dem Zeitalter, das der Aufklärung voranging, bildete sich auch der vermittelnde Faktor heraus, der von nun an rund dreieinhalb Jahrhunderte hindurch die Aufmerksamkeit der Ungarn und der Slowaken auf die deutsche Kultur lenkte: Wir meinen das deutsche Bürgertum der slowakischen Städte, des ehemaligen Oberungarn 7 , das auf dem slowakischen und teilweise auch auf dem ungarischen Sprachgebiet nicht n u r die lutherische Reformation verbreitete, sondern auch die Aufmerksamkeit auf die deutschen Universitäten lenkte, 3
Z. B. Eduard Winter: Die tschechische und slowakische Emigration in, Deutschland im 17. und 18. Jh. Veröffentlichungen des Instituts für Slawistik. Bd. VII Berlin 1955 S. 568. — Othmar Feyl: Beiträge zur Geschichte der slawischen Verbindungen und internationalen Kontakte der Universität Jena. Jena 1960 S. 378. — Auf wichtige deutsche Beziehungen der Zeit der slowakischen Wiederbelebung wies Karol Rosenbaum hin in seiner Arbeit: Vzt'ah slovenskéholiterámehoromantizniuknemeckémuliterárnemu klasicizmu [Die Beziehung des slowakischen literarischen Romantizismus zum deutschen literarischen Klassizismus]. Literárnohistoricky sbornik [Literarhistorische Sammlung], Jg. 4 (1947) S. 27-41, 116-134, 205-221. Aus der sehr reichen Literatur, die Kazinczys deutsche Beziehungen behandelt, zitieren wir hier nur János Horváths wesentliche Bemerkung aus seiner Abhandlung: A XIX. század fejlodéstorténeti elozményei [Die entwicklungsgeschichtlichen Antezedenzien des 19. Jahrhunderts]. In: Tanulmányok [Studien], Budapest 1956 S. 123. " Vgl. László Sziklay: A szlovák irodalom torténete [Geschichte der slowakischen Literatur], Budapest 1962 S. 190. 6 Ana Císarová- Kolárová: K vyznamu jenské university pro slovenské kulturní déjiny [Über die Bedeutung der Universität Jena in Hinsicht auf die slowakische Kulturgeschichte], Slovenská literatura [Slowakische Literatur], Jg. 2 (1955) S. 209. 7 Vgl. Béla Pukánszky: Német polgárság magyar földön [Deutsches Bürgertum auf ungarischem Boden], o. O. u. J. passim.
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in seiner neuen Heimat zahlreiche wichtige deutsche literarische Werke und Richtungen bekanntmachte und, von ungarländisch-patriotischen Gefühlen durchdrungen, die deutsche Anregung aufzunehmen und das Vorbild auch hier nachzuahmen 'trachtete. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung des alten Ungarn bedeutete das Fehlen des ungarischen und slowakischen Bürgertums, bzw. seine Schwäche ein großes, sich noch im 19. Jahrhundert auswirkendes Problem 8 ; in dieser Lage spielte die deutsche bürgerliche Schicht eine besondere Rolle. Ohne die bürgerliche Atmosphäre der Städte Neusohl und Preßburg wäre das Werk Mätyas Bels ebensowenig zustandegekommen, wie Pal Wallaszky sich auf die Anregung eines Rotarides, eines David Czvittinger hätte stützen können. Die Rolle, die das deutsche Bürgertum ungarländischer Kleinstädte in den vergangenen Jahrhunderten als Vermittler zwischen dem deutschen und dem heimatlichen kulturellen Leben spielte, hörte auch zur Zeit des ungarischen und slowakischen nationalen Erwachens nicht ganz auf, ja, sie bekam sogar bei diesem und jenem Schriftsteller eine interessante neue Tendenz zur Versöhnung und zum Ausgleich in einer Zeit, als die nationalistischen Zwistigkeiten begannen und sich verschärften. Wir müssen hier an erster Stelle K. G. Rumy erwähnen 9 , der die Kultur der nebeneinander lebenden Ungarn und Slawen auch dann noch als Ganzes betrachten und sie als einheitliche Erscheinung ins Ausland vermitteln wollte, als zwischen den Vertretern der ungarischen und der slowakischen Literatur wegen der Unabhängigkeitsbestrebungen bereits scharfe Gegensätze bestanden. Handelte es sich dabei lediglich um das Bestreben eines „verspäteten" Aufklärers zur Zeit der Kämpfe des romantischen Nationalismus? Im Falle Rumys und vieler seiner bereits namenlosen Gefährten müssen wir doch auch an jene kulturvermittelnde Rolle denken, die das deutsche Bürgertum dieser Gebiete traditionsgemäß spielte. Diese Atmosphäre bewirkte es, daß z. B. ein Käroly Kertbeny (Karl Benkert) oder ein Samuel Roznay (der slowakischer Abstammung, aber in deutscher Umgebung tätig war) 1 0 die ungarische Literatur begeistert in deutscher Sprache bekanntmachten. 8
9
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Zoltän I. Töth: A soknemzetisegü ällam nehäny kerdeseröl az 1848 elötti Magyarorszägon [Über einige Fragen des Mehrnationalitätenstaates im Ungarn vor 1848], A Magyar Tudomänyos Akademia Tärsadalmitörteneti Tudomänyok Osztälyänak Közlemenyei [Mitteilungen der Gesellschafts-Geschichtswissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften], Budapest o. J. Bd. VII Heft 4 S. 2 7 4 - 2 7 5 . Vgl. Andreas Angyal: Karl Georg Rumy (1780—1847). Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jg. 8 (1958/59) Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe S. 109—134. — Die Frage der Nationalitätenbeziehungen Rumys behandelte Istvän Fried auf Grund der Korrespondenz Rumys und anderer wichtiger Quellen: Rumy Käroly György, a kulttirközvetitö 1828—1847 [K. G. Rumy, als Kulturvermittler 1828-1847], Filolögiai Közlöny [Beiträge zur Philologie]. Jg. 9 (1963) S. 2 0 4 - 2 1 8 . Rudo Brtän: Roznay Samuel, a magyar költeszet szloväk propagälöja (1787—1815) [Samuel Roznay, der slowakische Propagandist der ungarischen Dichtung (1887—1815)]. Irodalomtörteneti Közlemenyek [Beiträge zur Literaturgeschichte]. Jg. 61 (1957) S. 377 bis 380.
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In der kulturellen Vermittlung spielte auch die deutsche Bürgerschaft Pest-Budas eine große Rolle. Die beiden kleinen Städte an der Donau, aus denen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die heutige Hauptstadt Ungarns entwickelte, wurden der Brennpunkt der ungarischen Literatur, die sich in den Jahrzehnten vor der Revolution 1848/49 rasch und großartig entfaltete — doch hier organisierte sich auch slowakisches, serbisches, kroatisches und rumänisches literarisches Leben. Die verschiedenen, sich nebeneinander entfaltenden nationalen Literaturen empfingen viel voneinander; deutsche Kultur aber vermittelte ihnen allen das hier ansässige deutsche Bürgertum. Dabei spielten auch die heimischen, besonders die Zipser Professoren der Pester Universität eine wichtige Rolle: Der Statistiker Märton Schwartner (1759—1823) unterhielt Beziehungen zu den Pester ungarischen und slowakischen Schriftstellern, ebenso der Ästhetiker und Philosoph Lajos Schedius (1768-1847). Neben diesen Traditionen der Kulturvermittlung wurde am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine andere wichtige Erscheinung wirksam: In der habsburgischen Monarchie war damals Deutsch die Sprache des „diplomatischen Verkehrs", also die vermittelnde Sprache. Das Deutsche benützte fast jeder, der mit Schriftstellern einer anderen Nationalität des Reiches in Verbindung trat. Es war in solchem Maße Vermittlungssprache, daß sogar die wichtigsten Werke des slowakischen nationalen Erwachens in dieser Sprache erschienen: J a n Kollar gab sein Werk über die slawische Wechselseitigkeit deutsch heraus, die slawische Literaturgeschichte von Safäfik ist in deutscher Sprache verfaßt, usw. Hierbei müssen wir aber nicht unbedingt an einen von Deutschland ausgehenden Kultureinfluß oder an entsprechende Wechselbeziehungen denken. Es ging dabei um die offizielle Sprache des Wiener Hofes, aber Wien dürfen wir in der Frage der literarischen Beziehungen nicht mit dem nordwestlich von Wien liegenden Kulturgebiet identifizieren. Gerade in jüngster Zeit wurde wiederholt von sogenannten „Wiener" Traditionen der osteuropäischen Völker gesprochen. 11 J. Bleyer, der ungarisch-deutsch-nationalistische Vertreter der ungarländischen Germanistik, stellte die Theorie auf, daß jede westliche Kulturwirkung über Wien zu den Völkern der Monarchie gekommen sei; Wien sei der große „Filter", in dem auch die englischen, italienischen, französischen Kulturausstrahlungen eine besondere Note erhielten. Diese These wurde schon zur Zeit ihrer Entstehung, aber auch später scharf kritisiert: Der ungarische Romanist Sändor Eckhardt wies 1930 überzeugend darauf hin, daß die protestantischen Schriftsteller — und setzen wir sogleich hinzu: die ungarischen und slowakischen gleicherweise — durch die Universitäten Wittenberg, Jena, Halle usw. nicht österreichische, sondern unmittelbar deutsche Anregungen erhielten, daß die ungarische Kultur und die osteuropäischen Kulturen überhaupt auch unmittelbare italienische, französische und englische Kontakte 11
György Mihäly Vajda a. a. 0. S. 340—345. — Läszlö Sziklay: A keleteuröpai összehasonlitö irodalomtörtenetiräs nehäny elvi kerdeseröl (XIX. szäzad) [Über einige prinzipielle Fragen der osteuropäischen vergleichenden Literaturgeschichte (19. Jh.)]. Vilägirodalmi Figyelö [Weltliterarischer Beobachter], Jg. 8 (1962) S. 473-512.
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hatten und daß entsprechende Auswirkungen noch immetr italienische, französische und englische Einflüsse blieben, auch wenn sie über Wien kamen.12 Bleyers Theorie müssen wir vor allem wegen ihrer ungerechtfertigten Einseitigkeit rügen; die österreichische „kulturelle Überlegenheit" galt bei den osteuropäischen, Völkern durchaus nicht so universell, sie war keineswegs so ausschließlich dominierend, wie es Bleyer behauptete. Von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert an wandten sich manche dieser Völker auch anderen Kulturzentren zu: Universitäten wie Sankt Petersburg, Paris, Jena oder Halle übten auf das gärende literarische Leben Osteuropas eine ebenso starke Anziehung aus wie die Kaiserstadt. Die Entwicklung der Städte Prag, Pest-Buda, Belgrad und später Bukarest zu kulturellen Zentren tat der Alleinherrschaft Wiens weiterhin Abbruch. Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß fast alle Völker, die zum habsburgischen Reich gehörten — so auch die Ungarn und die Slowaken — viel vom kulturellen Leben Wiens erhielten, das besonders in der zweiten Hälfte des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts um vieles weiter entwickelt war als das ungarländische. Hier erinnern wir im Hinblick auf die ungarische Literatur vor allem an die Leibgardisten-Schriftsteller, im Hinblick auf die slowakische an die in Wien ausgebildeten Theologen: György Bessenyei, der literarische Anreger der ungarischen Aufklärung, eignete sich dort die Weltanschauung Voltaires und Rousseaus an, die slowakischen Aufklärer Jozef Ignac Bajza und Anton Bernolak, der Begründer der ersten slowakischen Literatursprache, lernten — wie viele Aufklärer anderer slawischer Nachbarvölker — dort die sprachneuerischen Bestrebungen der Aufklärung kennen. Diese beiden konkreten Beispiele, Bessenyei und Bernolak, weisen aber auch darauf hin, daß nicht alles deutsch oder österreichisch war, was in Wien an sie herantrat. Bessenyei brachte die Liebe zur französischen Kultur und zum voltaireschen Rationalismus mit, die Slowaken wieder lernten während ihrer Wiener Studienjahre u. a. von slowenischen und böhmischen Vorbildern. Homogener und von einheitlicherer Wirkung auf die literarische Entwicklung als die Wiener war die kulturelle Bewegung, die aus dem zur Wende des 18. zum 19. Jahrhundert noch in zahlreiche Kleinstaaten zersplitterten Deutschland auf das untersuchte Gebiet einwirkte. Bei den ungarländischen Schriftstellern dieser Zeit kam die Tendenz auf, da sie das System des Wiener Absolutismus als Kerker empfanden, eine freiere geistige Entwicklung von Weimai zu erhoffen.13 Vom Gesichtspunkt ihrer Vermittlerrolle war die Universität Jena von besonderer Wichtigkeit, da sie in der genannten Zeitperiode eine der von Protestanten am meisten besuchten Hochschulen Mitteleuropas war. 14 Unter ihren Hörern finden 12
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Vgl. Sändor Eckhardt: Az összehasonlitö irodalomtörtenet Közep-Euröpaban [Die vergleichende Literaturgeschichte in Mitteleuropa]. Minerva. Jg. 11 (1931) S. 89—105. Siehe Karl Georg Rumys Briefe an das Weimarer Oppositionsblatt mit den Daten „Karlowitz in Sirmien, am 16. Januar 1820" und „den 16. März 1820" im Goethe-Schiller Archiv. Vgl. unsere Rezension über das zitierte Werk Othmar Feyls (s. Anm. 3). Zeitschrift für Slawistik. Jg. 7 (1962) S. 148. Vgl. Othmar Feyl: Die führende Stellung der Ungarländer in der internationalen Geistesgeschichte der Universität Jena. Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-
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wir sowohl Slowaken als auch Ungarn; in überwiegender Zahl waren das — aus begreiflichen Gründen — evangelische Studenten, und dieser Umstand weist auf eine slowakische Mehrheit unter den ungarländischen Hörem hin. Die Ausstrahlung Jenas auf Osteuropa war zwei Jahrhunderte hindurch äußerst fruchtbar; die thüringische Universität hatte etwa um die Mitte des 17. Jahrhunderts die Rolle Wittenbergs übernommen und vermittelte seitdem die zeitgemäßesten Strömungen des deutschen Protestantismus. Im 18. Jahrhundert verbreitete sie durch Johann Franz Budde (1667—1729) und seine Nachfolger den aus Halle stammenden Pietismus; die Person und die Tätigkeit Matyas Bels zeigen, was dieser Umstand für die Entfaltung sowohl der ungarischen als auch der slowakischen Kultur bedeutete. Mit der Zeit entwickelte sich der in Jena herrschende pietistische Geist zu einer eigenartigen deutschen Variante des aufgeklärten Rationalismus. Deren wesentlicher Zug war, daß sie sich von den theologischen Überlieferungen nicht gänzlich loslöste, sondern die Ideen der Aufklärung und des lutherischen Protestantismus zu vereinen suchte. Auf die Entwicklung der ungarischen Literatur wirkten die Jenaer Einflüsse vielleicht weniger, desto wesentlicher aber war deren Bedeutung für die slowakische. In der slowakischen Aufklärung und in der slowakischen klassizistischen Romantik gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts keinen protestantischen Schriftsteller, dessen Bildung nicht bis zu einem gewissen Grad in der Jenaer Kultur wurzelte. Juraj (Jiri) Palkovic und Bohuslav Tablic oder Jan Kollär und Pavel Jozef Safärik waren Hörer der Jenaer Universität und waren auf Grund unmittelbaren Erlebens mit der dort herrschenden geistigen Richtung verbunden. Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, sei hier nur auf zwei Professoren Kollärs hingewiesen: Johann Philipp Gabler (1753-1826) und Jakob Friedrich Fries (1773—1843). Zwischen beiden bestanden in manchen Gesichtspunkten — und gerade bezüglich ihres Verhältnisses zur Literatur und zu den Künsten — erhebliche Unterschiede. In einem Punkt stimmten Gabler und Fries jedoch überein: Beide verkündeten den „goldenen Mittelweg" zwischen der Theologie und der weltlichen Philosophie des Rationalismus 15 und bemühten sich, die protestantischen Traditionen ihrer Universität mit der Zeitströmung zu vereinen. Nicht nur die unmittelbare Wirkung der Universität Jena, sondern auch die inneren Gesetzmäßigkeiten der slowakischen Entwicklung trugen dazu bei, daß Kollar, Safäfik und ihre Zeitgenossen in positiver Weise auf diese Vorgänge reagierten. Wir haben schon mehrfach betont, daß bei den Slowaken infolge ihrer besonderen gesellschaftlichen Entwicklung theologische Überlieferungen auch in den späteren Perioden ihrer Entwicklung zur Nation, man kann sagen das ganze 19. Jahrhundert hindurch, wirksam waren, auch dann noch, als aus den nachbarlichen Literaturen — so z. B. aus der ungarischen — theologische Gesichtspunkte bereits verbannt
13
8*
Universität Jena. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe. Jg. 3 (1953—54) S. 399—445. — Cisarovä-Kolärovä a.a.O. S. 207. Jan Kollär: Pamäti z mladsich rokov zivota [Erinnerungen aus der Zeit meiner jüngeren Jahre], Bratislava 1950 S. 178-179, 186-187.
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waren. Die slowakischen Schriftsteller, sowohl der Aufklärung als auch der klassizistischen Romantik, waren fast ausschließlich Geistliche und Theologen; die Theologie mit den modernen Ideen zu vereinigen, wie sie es in Jena gelernt hatten, das Auffinden eines „glücklichen goldenen Mittelweges" 16, wie Kollär sich ausdrückte, war für diese literarisch tätigen Theologen eine Grundvoraussetzung, um überhaupt politische, philosophische und allgemein kulturelle Fragen behandeln zu können. Am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die slowakische kulturelle Entwicklung einem noch stärkeren deutschen Einfluß ausgesetzt als die ungarische. Das ist nicht nur für das Zeitalter der Aufklärung bezeichnend, sondern auch f ü r die folgende klassizistisch-romantische Generation, für die Generation Vörösmartys und Kollärs. Führende Persönlichkeiten des slowakischen literarischen Lebens hatten infolge ihrer Studienjahre in Jena viel mehr Gelegenheit, den Größen der deutschen Literatur persönlich zu begegnen, als die ungarischen Schriftsteller. Für Bohuslav Tablic war die Aufzeichnung in seinem Gedenkbuch, die er als Student von Schiller erhielt, ein für sein ganzes Leben wirksames, großes Erlebnis 1 7 ; Kollar suchte Goethe in der Begleitung eines seiner Kollegen namens Mazsäri persönlich auf, ja er debattierte sogar mit Goethe über das Verhältnis der „Hungari" [Ungarländer] zu den Ungarn, er übergab Goethe slowakische Volkslieder, die dieser ins Deutsche übertrug 18, und konnte den deutschen Dichter im Jenaer fürstlichen Park damals fast täglich sehen. 19 Goethe hatte auch mit anderen slowakischen Schriftstellern ähnliche Kontakte, z. B. mit Samuel Ferencik, der den „Erlkönig", den „Sänger", den „Fischer" mit Gitarrenbegleitung vortragen konnte. 20 Kollär kam auch mit Wieland in Verbindung; für die von dessen Sohn Ludwig herausgegebene Zeitschrift „Patriot" schrieb er einen Artikel über das zeitgenössische Ungarn. 21 Darüber hinaus waren die ungarisch-slowakisch-deutschen Beziehungen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch den Unterschied zwischen der ungarischen und der slowakischen gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt. Die historische Rolle für die Entwicklung zur Nation, die in anderen Ländern das Bürgertum spielte, wurde in Ungarn vom mittleren Adel übernommen, in der Slowakei dagegen von der Intelligenz, die zumeist aus Geistlichen, teilweise auch aus Pädagogen (Lehrern, Professoren) bestand. 22 16 17
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21 22
Ebenda S. 179. Albert Prazäk: Studentski pamatnik Bohuslava Tablice [Bohuslav Tablic' Gedenkbuch aus seiner Studentenzeit]. Bratislava [Zeitschrift]. Jg. 2 (1928) S. 204—206; Schillers Eintragung: Multa renascentur, quae iam cecidere cadentque quae nunc sunt in honore. Jan Kollär a. a. O. S. 1 8 7 - 1 9 0 . Ebenda S. 209. Ebenda S. 189. — Vgl. Karol Rosenbaum: Slovanski hostia u Goetheho [Slawische Gäste bei Goethe]. Slovenskä literatüra [Slowakische Literatur], Jg. 6 (1959) S. 491 bis 492 [Besprechung des Buches: Fahrten nach Weimar. Slawische Gäste bei Goethe von Peter Kirchner und Rüdiger Ziemann. Weimar 1958]. Jan Kollär a. a. O. S. 190. Vgl. Anm. 8.
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Sowohl die Schriftsteller der ungarischen Literatur, die vom Adel oder von Honoratioren abstammten, als auch die slowakischen Theologen-Schriftsteller beachteten besonders solche westlichen und deutschen Anregungen, die Osteuropa in denMittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellten. Auf das, was Herder in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" vortrug und in den „Stimmen der Völker in Liedern" zum Ausdruck bringen wollte, reagierten die zeitgenössische ungarische und die slowakische Literatur (zum Teil wegen des erwähnten gesellschaftlichen Unterschieds) auf verschiedene Weise. Der ungarische Adel hat Herders umstrittene Worte mißverstanden und sie als eine das ungarische Volk betreffende ungünstige Prophezeiung aufgefaßt. Eine wichtige Waffe sowohl des ungarischen als auch des slowakischen nationalen Erwachens war die Erweckung der volkstümlichen Kräfte in der Literatur: Die Volksdichtung war das Vorbild, das den ungarischen und slowakischen Dichtern bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts zumeist vorschwebte. Es ist unmöglich, darin die Herdersche Inspiration nicht wahrzunehmen. Doch während Kollär und seine Umgebung in Herders Theorie sich selbst erkannte und die Sammlung ihrer Volksdichtung sozusagen zur Bestärkung der deutschen Theorie herausgaben 23 , war die zeitgenössische ungarische Literatur bestrebt, den großen Deutschen zu dementieren und zu beweisen, daß auch die Dichtung des ungarischen Volkes lebendig genug sei, um als Pfand der Zukunft zu gelten. Trotz des unterschiedlichen slowakischen und ungarischen Reagierens haben die Beziehungen zu Herder in der ungarischen und in der slowakischen Entwicklung auch gemeinsame Züge. Eine dieser Gemeinsamkeiten ergibt sich daraus, daß wir in jener Epoche nicht nur die Wirkungen der deutschen Kultur auf die ungarische und die slowakische Literatur zu beobachten haben. Nach langer Zeit geschah es zum ersten Male, daß Herder, und im allgemeinen das Bürgertum und die Intelligenz des 18./19. Jahrhunderts, sich bewußt der Kultur Osteuropas zuwandten und von ihr Anregungen übernahmen. Ganz außerordentliche Beachtung fand näinlich zu jener Zeit bei den Deutschen — und infolgedessen in fast ganz Europa — das serbische Volkslied. Beifall fand außerdem, was aus der slowakischen oder ungarischen volkstümlichen (oder für volkstümlich gehaltenen) Dichtung nach Deutschland gelangte. Beides trug dort zur Anregung der romantischen Literaturentwicklung bei. Es wäre aber ein Irrtum, anzunehmen, daß dieses Kulturgut dort keine Wandlung erlebte. Die deutsche Literaturrezeption dieser Zeit hielt alles f ü r volksnah und ursprünglich, was vom Osten kam; mit romantischer Idealisierung schuf sie sich ein Osteuropa, das es in dieser Form nicht gab. Dieser Vorgang fand, was Ungarn betrifft, später seine Fortsetzung in der Romantik der ungarischen Puszta, die das 23
Kollär setzte vor seine Volksdichtungssammlung als Motto zwei Zitate; das eine stammt von seinem Sammlergefährten Pavel Jozef Safärik, das andere angeblich von Goethe: „In Gebirgen und Tälern pflegen sich uralte Sitten, Religionen, Gebräuohe, Spiele, Erzählungen, Traditionen, Sprichwörter, Gesänge, Sprachformen und andere Schätze der Volkstümlichkeit am längsten und reinsten zu erhalten." In: Närodnie spievanky [Nationale Lieder], Bd. I Bratislava 1953 S. 33.
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Bild des Ungartums, wie es in der Vorstellung der deutschen Bourgeoisie lebt, bis auf unsere Tage bestimmt. Zur Umgestaltung des von Osteuropa Übernommenen trug im deutschen Geistesleben auch der Umstand bei, daß die Dichtung und die kulturellen Leistungen der Völker Osteuropas in Deutschland meist nur durch Vermittlung, d. h. oft in gefälschter Form, bekannt wurden. Das möchten wir mit einem einzigen — serbischen — Beispiel illustrieren. Goethe lernte den serbischen Volksgesang „Hasanaginica" auf seiner italienischen Reise in der Prosaübersetzung Fortis' kennen. 24 Das Gedicht, das er aus dieser italienischen Version „übersetzte", war offenkundig nicht die getreue Wiedergabe des Originals; die Übersetzung war viel mehr für Goethe selbst als f ü r die slawische Volksdichtung bezeichnend. Auch als Kollâr Goethe einige Originale slowakischer Volkslieder übergab, übersetzte dieser sie seiner eigenen metrischen Vorstellung nach 2 5 , wodurch er sie wesentlich veränderte. Alles das, was wir bisher in Verbindung mit dem Interesse der deutschen Literatur an Osteuropa sagten, hatte vom Gesichtspunkt der ungarischen und der slowakischen Entwicklung zwei wesentliche Folgen. Eine Folge bestand darin, daß sich nicht nur die Selbstbetrachtung der Ungarn und der Slowaken, sondern auch ihre Anschauungen über das andere Volk in gewissem Maße der deutschen Auffassung über beide Völker anpaßte. So wurde das deutsche Zerrbild der „Pusztaromantik" in den Schriften der zeitgenössischen slowakischen Literaten und Kulturpolitiker zu einem Instrument des Nationalitätenkampfes, dagegen die deutsche Theorie vom sanften, weichen Charakter der Slawen und von der jungfräulichen Keuschheit ihrer Volkskultur zur Quelle des Illusionismus der ungarischen Nationalitätenpolitik und des Bildes von den Slowaken bei der zeitgenössischen ungarischen Intelligenz, für die Jokais Slowakenbild charakteristisch ist. So kam es, daß die deformierende Wirkung der deutschen Vermittlung sowohl der Selbstkenntnis der Ungarn und der Slowaken als auch der Kenntnis des anderen Volkes ihre Merkmale aufprägte. Andererseits wieder müssen wir die anspornende Wirkung, die die deutsche Literatur auf die ungarische und auf die slowakische ausübte, als bedeutend bezeichnen. In der ungarischen Literatur sind diese Inspirationen von Ferenc Kazinczy an über Ferenc Kölcsey bis zu den jungen Dichtern der siebziger Jahre ziemlich allgemein bekannt; auch wurde ausreichend behandelt, was Kollârs Betrachtung über die Nation, ja, sogar seine Theorie über die kulturelle Wechselseitigkeit der Slawen dem großen Erlebnis zu verdanken hatten, das ihm, dem jungen slowakischen Dichter, die zur Dreihundertjahrfeier der Reformation auf der Wartburg veranstalteten Festlichkeiten boten und was die deutsche Burschen24
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Aladâr Balâs-Piri: Magyar-szerb irodalmi kapcsolatok [Ungarisch-serbische literarische Beziehungen], A Magyar Intézet értekezései [Abhandlungen des Ungarischen Instituts]. Nr. 20. Pécs 1937 S. 3 1 - 3 2 . Jân Kollâr a. a, 0 . (s. Anm. 15) S. 188.
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schaftsbewegung überhaupt für ihn bedeutete. 26 In bezug auf das Kollärsche Lebenswerk können wir gerade darin die wichtigste Quelle seiner Widersprüche finden; die Spitze seines lyrisch-epischen Gedichtes und die seiner ganzen kämpferischen Tätigkeit richteten sich hauptsächlich gegen die „neidische Teutonia", die seiner Meinung nach große Teile des uralten Slawentums aufsog oder ganz verschwinden ließ, während er selbst einen großen Teil seiner ideellen und künstlerischen Anregungen von jener „Teutonia" erhalten hatte. Die deutsche Einheitsbewegung hatte ein konkretes Ziel: Die Bourgeoisie wollte ihr eigenes Reich gründen, denn die Entwicklung des modernen deutschen Kapitalismus war mit der Souveränität der kleinen Fürstentümer nicht vereinbar. Kollar übernahm die Idee der Integrierung, der Einheit — aber unter den gesellschaftlichen Verhältnissen, die er nach seiner Rückkehr in seiner Heimat vorfand, verwandelte sich der deutsche politische Einheitsgedanke in der Theorie der slawischen kulturellen Wechselseitigkeit. So modelten also nicht nur die Deutschen den osteuropäischen Kulturschatz nach ihrer eigenen Vorstellung um, auch die deutsche kulturelle Anregung wurde in Osteuropa verändert und den dortigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen angepaßt. Die dort lebenden Völker begannen, wie bekannt, unter dem Einfluß Herders ihre eigene, uralte, originelle und heroische Vergangenheit zu ergründen; doch die rekonstruierte Urgeschichte unterschied sich bei den jungen Dichtern der ungarischen und der slowakischen nationalen Bewegung in erster Linie nicht dehalb, weil es tatsächlich so viele objektive Unterschiede zwischen den beiden gab, sondern infolge der verschiedenen gesellschaftlichen Grundlagen, von denen aus z. B. ein Vörösmarty und ein Kollar an die Erarbeitung einer nationalen Mythologie herangingen. Wir möchten noch ein einleuchtendes Beispiel anführen. Es ist schon oft bestätigt worden, daß sich die Studie „Nemzeti hagyomänyok" [Nationale Überlieferungen, 1826] von Ferenc Kölcsey und die Abhandlung „ 0 närodn^ch piesiiach a povestiach plemien slovansk^ch" [Über die nationalen Lieder und Sagen der slawischen Stämme, 1853] von Ludovit Stur in manchen Punkten begegnen. Es ist nicht schwer, in beiden die Elemente einer gemeinsamen Quelle aufzufinden. 27 Die einander ablösende klassische und romantische Kunstdichtung bedeuteten sowohl für Kölcsey als auch f ü r Stur einen gewissen Rückfäll im Vergleich zur Volksdichtung. Es ist sonderbar, daß in den Schriften, die Kölcsey würdigen, nie die Frage aufgeworfen wurde, inwiefern Hegel, der im Zusammenhang mit Stürs Ausführungen immer wieder genannt wird, auf seine Argumentation einwirkte. Kölcsey, der den Epochenwechsel der Urtradition, des klassischen Griechentums und Roms und 28 27
Ebenda S. 197-203. Im Zusammenhang mit Kölcsey erwähnen es sowohl Jänos Horväth: A magyar irodalmi nepiesseg Faluditöl Petöflig [Die ungarische Volkstümlichkeit von Faludi bis Petöfi]. Budapest 1927 S. 123 als auch Jözsef Szauder: Kölcsey Ferenc [Ferenc Kölcsey]. Budapest 1955 S. 124. — Über die Beziehungen Stürs (und der slowakischen nationalen Bewegung im allgemeinen) zu Hegel gibt es zahlreiche Untersuchungen; jedes diesbezügliche Werk spricht darüber.
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der neuzeitlichen romantischen Dichtung analysierte, dürfte von Hegels Entwicklungstheorie höchstwahrscheinlich gehört haben. Die Ähnlichkeit der Gedankengänge des ungarischen und des slowakischen Schriftstellers ist offenkundig; die für das Bewußtwerden der kleinen Nationen gezogene Schlußfolgerung ihrer Ausführungen ist ebenfalls fast identisch: Der Dichter muß seiner Nation auf Grund der alten Überlieferungen dienen. Die scheinbar kleinen, aber doch wesentlichen Abweichungen der beiden Schriften ergeben sich nur zum Teil aus dem Unterschied ihrer Entstehungszeit, also daraus, daß Stur sein Werk etwa siebenundzwanzig Jahre später schrieb. Kölcsey stellt ziemlich pessimistisch fest, daß „zwischen dem modernen Dichter und der nationalen Gemeinschaft keine wirkliche, organische Verbindung besteht" 28 , Stür wiederum schreibt die ganze Studie, um durch die Rückkehr zur Volksdichtung, da er das Zeitgemäße im Volklichen verwirklicht sah, diese Verbindung herzustellen. Wie Jözsef Szauder hervorhebt, bezog Kölcsey seine These auf ganz Europa, während Stürs Zielsetzungen nur auf die slawische Welt gerichtet waren. Stür hielt das Volkslied f ü r eine unbedingt nachzuahmende Dichtung; das wesentlich Nationale findet auch Kölcsey nur in der Volksdichtung, knüpft aber ihre Nachahmung an Bedingungen und bestimmt, „wovor man sich in der Pflege des Volkstümlichen hüten muß und was man von ihm zu erlernen hat...".29 Die Verschiedenheit der Schlußfolgerung ist auf den ersten Blick ersichtlich. Sie beruht zum Teil auf der Verschiedenheit der nationalen Verhältnisse in den Jahren 1826 und 1853. Aber auch die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Grundlagen der beiden Schriftsteller ist nicht schwer zu entdecken — trotz ihrer gemeinsamen Wurzeln und der gemeinsamen Quelle. Was wir in einer anderen Studie über die Verschiedenheit des Fortschrittes des mittleren Adels und über die Volksnähe der kleinbürgerlichen Intelligenz sagten 30 , spiegelt sich hier im ähnlichen, aber doch nicht gleichartigen, Reagieren auf dieselbe deutsche Anregung wider. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die verschiedenartige Wirkung, die die Verehrung Goethes bei den ungarischen und slowakischen Schriftsteilem der Periode auslöste. Gewiß beruht diese Erscheinung zum Teil auch auf der Vielseitigkeit des deutschen Dichtergenies; aber dennoch kann daraus, auf welche Aspekte seines Lebenswerks man reagierte, auch auf das Zeitalter, die gesellschaftliche Lage und die Weltanschauung des rezipierenden Schriftstellers geschlossen werden. Kazinczy bewunderte Goethes Klassizität; Kölcsey — dessen Goethe-Kult sich unter Kazinczys Einfluß entwickelte 3 1 — kam auf diese Weise der altgriechischen Kultur nahe 32 , und eben dieser Umstand hielt ihn, den Romantiker, von der Überschwenglichkeit der deutschen Romantik fern. Auch in der slowakischen Literatur half das Goethesche Beispiel bei der Verschmelzung von Klassizismus und Roman28 29 30 31 32
Szauder a. a. 0. S. 125. Horväth a.a.O. (s.Anm..27) S. 124-125. Sziklay a. a. O. (s. Anm. 11) S. 475. Jänos Horväth a. a. 0. (s. Anm. 4) S. 161. Ebenda S. 134.
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tik: Kollär z. B., der von Goethe die Notwendigkeit und die Möglichkeit der Pflege vieler Kunstarten lernte, übernahm von diesem sogar die Schwärmerei f ü r Italien, die für sein ganzes Lebenswerk von Bedeutung wurde. 33 Dieser Umstand wirkte in großem Maße auf die Klassizität Kollärs; das hingegen, was wir über ihn im Zusammenhang mit seinem persönlichen Erlebnis erwähnten 34 , trug bei ihm zur Anregung der slowakischen nationalen Romantik bei. Neben dem Herderschen Vorbild war die Begegnung mit Goethe während seiner Studentenzeit von entscheidender Wirkung auf die Entwicklung Kollärs, des slowakischen Sammlers der Volksdichtung: Auch unter ein Hauptmotiv der „Närodnie spievanky" [Nationallieder] schrieb er Goethes Namen! 35 Die Untersuchung der deutsch-slowakisch-ungarischen Literaturbeziehungen führt uns auch auf das Gebiet des sogenannten „Biedermeier". Wirkung und Verbreitung des Biedermeier in Ungarn behandeln zwei ältere Dissertationen 36 ; von einem ähnlichen Versuch für die slowakische Literatur ist uns bisher nichts bekannt. Dabei wäre es nicht uninteressant zu klären, wie die kleinbürgerliche Literatur Wiens und der deutschen Städte auf die bürgerliche Entwicklung der Slowakei wirkte. Jena, Herder, die Burschenschaftsbewegung und Goethe trugen in starkem Maße zum Schwung des Fortschrittes bei. Auf diese Wirkungen reagierten unter den Slowaken — wie wir sahen — besonders die Mitglieder der kleinbürgerlichen Intelligenz. Aber neben diesen fortschrittlichen Tendenzen der deutschen Literatur müssen wir auch mit der Wirkung einer zweiten, künstlerisch und politisch weniger progressiven Tendenz rechnen. Zwar äußerte Kölcsey schon selbstbewußt: „ . . . wer sich in Kotzebue findet, kann sich unmöglich auch in Shakespeare finden" 37 ; es ist aber nicht zu leugnen, daß der damals erfolgreiche Bühnenroutinier sowohl in der ungarischen als auch in der slowakischen Literatur populär war. Zweifellos spielte die deutsche Bürgerschaft der Kleinstädte des ehemaligen Oberungarn auch auf diesem Gebiet eine vermittelnde Rolle. Dafür nur ein Beispiel: Als der junge Gymnasiast Kollär in Neusohl von einem Bürgermädchen Deutsch zu lernen begann, fanden sich unter deren Bücher „natürlich auch Kotzebues kleinere Stücke". 38 Es ist nicht ausgeschlossen, daß Kotzebues „Deutsche Kleinstädter", diese Satire auf die kleinbürgerliche Engstirnigkeit und Klatscherei, zur Entstehung der Lustspiele Käroly Kisfaludys beitrug, die den Adel der Provinz verspotteten, oder zu den Lustspielen Jan Chalupkas, die die kleinstädtischen Provinzler lächerlich machten. Chalupka selbst erkannte durchaus den Unterschied zwischen der adligen und 33 34 33 36
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Sziklay a. a. 0 . (s. Anm. 5) S. 2 2 1 - 2 2 2 . Jan Kollär a. a, O. (s. Anm. 15) S. 189. Vgl. Anm. 23. Edit Horväth: A biedermeier eletkep a nemet es a magyar irodalomban [Das BiedermeierLebensbild in der deutschen und der ungarischen Literatur]. Minerva Könyvtär [Minerva Bücherei], Nr. 102 Budapest 1936 S. 66. — Klara Gärdonyi: A biedermeier a magyar költeszetben [Das Biedermeier in der ungarischen Dichtung]. Budapest 1936 S. 47. Szauder a. a. 0 . S. 50 [Sperrung von uns], Jan Kollär a. a. 0 . (s. Anm. 15) S. 67.
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der kleinstädtischen Form der damaligen ungarländischen Rückständigkeit; davon zeugen die ungarische und die slowakische Version des „Ven szerelmes — Staroüs plesnivec" [Der verliebte Alte] 39 . An dieser Stelle müssen wir auch die Frage nach der Wirkung Hegels aufwerfen, einer Wirkung, die — auf Grund der soeben dargelegten Tatsachen leicht erklärlich — gerade f ü r die slowakische Kultur von entscheidender Bedeutung wurde. Stür übernahm die Hegeische Dialektik und wandte sie auf die Entwicklung seiner eigenen Nation an. 4 0 Die oben erwähnte theologische Bindung der slowakischen Intelligenz 41 macht verständlich, warum von Stür und seinem Kreis ein so starker Akzent auf Hegels idealistische Weltanschauung gesetzt wurde, warum bei der Abfassung des Programms der slowakischen (und slawischen) Schriftsteller das messianistische Bestreben, die „Vereinigung" mit dem Hegeischen „Weltgeist" intensiv zur Geltung kommt. Es wäre wichtig, den diesbezüglichen Standpunkt der ungarischen Hegelianer mit den Ansichten Stürs zu vergleichen. Als Beispiel möchten wir hier nur Jänos Horärik erwähnen, der trotz seiner slowakischen Abstammung und seines ursprünglichen Berufs (er war katholischer Geistlicher gewesen) gerade durch Hegel zum Atheismus und auf die Position des linken Flügels des ungarischen Freiheitskampfes von 1848/49 gelangte. Stür und sein Kreis standen im allgemeinen unmittelbar unter dem Einfluß der Alt-Hegelianer; Horärik dagegen war, wie er in seiner Schrift „Harc" [Kampf] sagt 4 2 , schon zu dieser Zeit Anhänger der Neu-Hegelianer 43 , durch deren Lehren er zu der Ansicht gelangte, der Atheismus sei von der Sache der Revolution nicht zu trennen. Gibt es also einen Zusammenhang zwischen dem philosophischen Standpunkt des Slowaken Horärik und seinem Beitritt zum linken Flügel der ungarischen Revolution? Diese Frage ist unbedingt zu bejahen. Mit alldem haben wir durchaus noch nicht alle Probleme der deutsch-slowakischungarischen Kulturvermittlung im 19. Jahrhundert berührt. Wir hätten ausführlicher besprechen können, wie in der ungarischen Literatur, noch mehr aber bei den Slowaken, die Verschmelzung von Klassizismus und Romantik, diese besonders 39
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Vgl. Läszlö Sziklay: Szloväk dramairö magyar nyelvü vigjäteka [Ein Lustspiel eines slowakischen Schriftstellers in ungarischer Sprache]. In: A Szegedi Pedagögiai Föiskola ßvkönyve [Jahrbuch der Pädagogischen Hochschule Szeged]. Szeged 1956 S. 103—115. — Slowakisch: Mad'arsky pisanä veselohra slovenskeho dramatika. Slovenske divadlo [Slowakisches Theater], Jg. 5 (1957) S. 101-114. Vgl. Sziklay a. a. 0. (s. Anm. 5) S. 303. Z. B. in der Studie: A szloväk irodalmi elet a mült szäzad hatvanas-hetvenes eveiben [Das slowakische literarische Leben in den sechziger-siebziger Jahren, des vergangenen Jahrhunderts]. Filolögiai Közlöny [Beiträge zur Philologie]. Jg. 4 (1958) S. 250. hunderts], Filolögiai Közlöny [Beiträge zur Philologie]. Jg. 4 (1958) S. 250. Johann Horäriks Kampf mit Hierarchie und Kirche in den Jahren 1841—45. Leipzig 1847. Jaroslav Dubnicky: O Jänovi Horärikovi a jeho boji s hierarchiou a cirkvou v rokoch 1841—1845 [Über Jänos Horärik und seinen Kampf mit Hierarchie und Kirche in den Jahren 1841—1845]. Aus dem deutschen Original übersetzt von Mikuläs Gasparik. Bratislava 1953 S. 13.
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f ü r Osteuropa so bezeichnende literarische Erscheinung, in gewissem Maße auch in jener gemeinsamen Berührung mit der deutschen Kultur wurzelt. In dieser Beziehung sowie im Hinblick auf den Übergang vom Klassizismus zur Romantik, vom Rationalismus zur Empfindsamkeit haben wir die Bedeutung der Universitäten Jena und Halle für die ungarischen Studenten bereits mehrfach betont. Es ist auffallend, daß fast alle protestantischen Persönlichkeiten der Aufklärung und der „klassizistischen" Romantik die Universität Jena besuchten, daß aber die Generation Stürs sich ausnahmslos der Universität Halle zuwandte. 44 Allein aus persönlichen Gründen ist diese Erscheinung kaum zu erklären, obwohl daran natürlich auch irgendeine suggestive Lehrerpersönlichkeit mit beteiligt sein mag. Die tiefere Ursache für diesen Wechsel der bevorzugten Universität hat Othmar Feyl bisher am deutlichsten ausgedrückt: Der Niedergang des bürgerlichen Rationalismus und der Vorstoß der romantischen Strömungen, besonders die Anziehungskraft Hegels, verminderten die Bedeutung der Universität Jena. Die kleinstädtische Universität büßte ihre führende Rolle unter den Bedingungen der neuen kapitalistischen Welt ein. 45 Die Einzelheiten dieser Erscheinung sind bis heute nicht näher untersucht. Abschließend fassen wir die mannigfachen hier besprochenen Kulturbeziehungen folgendermaßen zusammen: Es gab Fälle, in denen eine dritte Literatur die vermittelnde Rolle spielte, in denen der deutsche Schriftsteller durch eine dritte, bekanntere Sprache in die Nähe der osteuropäischen Kultur, die osteuropäische Kultur wiederum durch die deutsche Sprache in die Nähe einer anderen osteuropäischen Kultur gelangte. Sehr viel bedeutete das persönliche Erlebnis: Die Begegnung mit einem bedeutenden Hochschullehrer, die ein Auslandsstudent hatte, der später zu Hause eine wichtige Rolle im literarischen Leben spielte, schuf oft eine Verbindung, die sich über zwei Generationen hin auswirkte. Die Ausstrahlungskraft der Universitäten Jena, Halle, Wien und Pest war vom Gesichtspunkt der kulturellen Vermittlung ebenso wichtig wie die mannigfaltigen Formen der Berührung zur Zeit der mitteleuropäischen Verbürgerlichung. Hingewiesen sei hierzu nur auf den stark verbreiteten literarischen Briefwechsel, der auch heute noch eine unerschöpfliche Fundgrube für die Erforschung dieser Zeitperiode darstellt. Die Begegnung der Gelehrten und Schriftsteller, deren Tätigkeit die verschiedenen nationalen Literaturen aufblühen ließ, in einem wichtigen Zentrum (Wien, Prag, Jena, Pest-Buda) trug ebenfalls zur Ausgestaltung der Kontakte bei. Es gab auch Zeitschriften (die Prager „Ost und West", die Pester „Tudomanyos Gyüjtemeny" — [Wissenschaftliche Sammlung] usw.), in denen sich Schriftsteller mehrerer Nationalitäten begegneten. Dagegen dürfen wir nicht übersehen, daß die Ideenwelt einiger bedeutender Schriftsteller (Herder, Goethe, Hegel) auch über die geschilderten persönlichen Beziehungen hinaus und unabhängig von diesen wirkte; Herders Anschauungen waren z. B. zu dieser Zeit so allgemein bekannt, daß die ungarische und die slowakische Literatur auch ohne persönlichen Kontakt oder >A 45
Sziklay a.a.O. (s. Anm. 5) S. 3 5 0 - 3 5 2 . Vgl. Othmar Feyl a. a. 0. (s. Anm. 3) S. 57.
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räumliche Nähe auf sie reagierten. Im Hinblick auf die ungarische und slowakische Literatur ist vor allem zu beachten, daß sich das nationale Erwachen damals auf dem Gebiet eines Staates abspielte. Wenn auch das früher durch die Latinität des Feudalismus geistig einheitlichere Ungarn zu Anfang des 19. Jahrhunderts zum Schauplatz nationaler Kämpfe wurde, so hat gerade die Tatsache, daß das nationale Bewußtwerden mehrerer Völker auf seinem Gebiet fast gleichzeitig begann, lange Zeit hindurch die kulturelle Vermittlung zwischen den verschiedenen Nationalitäten begünstigt.
JÖZSEF SzAUDEB, BUDAPEST
Kazinczys Klassizismus
Die entscheidende Epoche des ungarischen Klassizismus fällt in die zwei ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts und ist eng mit dem Namen Ferenc Kazinczys (1759—1831) verbunden. Die Thesen der meist in Verbindung mit den Ideen der Aufklärung auftretenden klassizistischen Poetik wurden von den siebziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts an in gleicher Weise von Schriftstellern klassizistischer, nichtklassizistischer, barocker oder sentimentaler Tendenz anerkannt; ihre literarische Praxis widersprach aber in der Regel der Theorie. Bis 1795 kam es zu keiner Klärung der unterschiedlichen Stilarten, sie traten auch in den Werken ein und desselben Autors gemischt auf. Der Grund dieser Erscheinung war vor allem die Widerspiegelung der Klasseninteressen des Adels in der Literatur. Daraus folgten auf der politischen Ebene Zwiespalt und Zwietracht zwischen den Ideen der bürgerlichen Entwicklung und der nationalen Unabhängigkeit, besonders im Hinblick auf den Josephinismus. Einzig und allein ein aufklärerisches Programm der Pflege und Entwicklung der Nationalsprache als einheitliche Lehre war geeignet, das Gegeneinander der politischen Bewegungen zu überwinden. Das entsprach gleichermaßen den Interessen einzelner Gruppen der Aristokratie, der großen Masse des mittleren Adels und der bürgerlich-plebejischen Intelligenz; denn es konnte sowohl zugunsten der politischen und ökonomischen Sonderstellung der Aristokratie als auch für die Propagierung der bürgerlichen Freiheitsrechte und als Instrument der Massenagitation eingesetzt werden. Das Kulturprogramm, das György Bessenyei, die führende Gestalt der ungarischen Aufklärung, in den siebziger Jahren entwarf, war also eben auf Grund der Betonung der dominierenden Bedeutung der Sprache ein — im weitesten Sinne verstanden — national-bürgerliches Programm. Er drängte die besonderen Gesichtspunkte des Geschmacks und des Stils, der literarischen Anforderungen überhaupt, zugunsten einer neuen, weltlichen und aufgeklärtein Wissenschaftlichkeit zurück und forderte, sie zur Grundlage einer neuen ungarischen Literatur zu schaffen. Doch die Vielschichtigkeit des Adels und das Gewicht der bürgerlich-plebejischen Intelligenz innerhalb der Bewegung, die vom Adel geführt wurde, förderten nur das Durcheinander der Geschmacksrichtungen. Die in gesellschaftlicher und nationaler Hinsicht divergierenden Kräfte vermochten keine Klärung herbeizuführen, sondern begünstigten sogar innerhalb der Werke eines und •desselben Schriftstellers die Vermischung der Geschmacksrichtungen.
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Die kleinbürgerlichen plebejischen Schriftsteller Gabor Dayka und Jänos Batsänyi, Ferenc Verseghy und Läszlö Szentjöbi-Szabö, Jözsef Kärmän und der größte Dichter der ungarischen Aufklärung, Mihäly Csokonai Vitez, haben den rebellischen Sentimentalismus schärfer herausgearbeitet, aber ihre Auflehnung gegen den Latinismus und die feudale Konzeption der Nation verlieh ihrer Kunst noch nicht eine eigenständige literarische Richtung. Gegründet auf die Betonung der Unterschiedlichkeit der nationalen Gepflogenheiten und Moralauffassungen sowie der spezifischen gesellschaftlichen, politischen und ethischen Probleme bedeutete ihre relativistische Anschauungsweise nur einen Ansatz zum Widerstand gegen die Allgemeingültigkeit der klassizistischen Lehre. So kam es, daß sie bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Aussage in den Formen der römisch-antikisierenden Geschmacksrichtung doch einiges gemeinsam hatten mit den barocken Traditionen und dem latinisierenden Klassizismus des Feudaladels, ganz besonders mit dessen modernisierter Variante, dem Klassizismus der als Schriftsteller tätigen ungarischen Mönche. Diese Richtung war vom neuzeitlichen lateinischen Barock ausgegangen, griff im Zuge ihrer Anpassung an die ungarischen literarischen Strömungen auf antike Vorbilder zurück, nahm jedoch in steigendem Maße die neuen ungarischen Inhalte in sich auf. Sie näherte sich also keinesfalls dem auf dein reinen, abgeklärten Sprachzustand aufbauenden Boileau-Horazischen Klassizismus, sondern trat eher in Beziehung zu der modernen Variante des Klassizismus, der als die Vereinigung der Klopstock-Matthisonschen Richtung, der Horaz-Virgilschen Formen und der neuen nationalen Inhalte bezeichnet werden kann. 1795 wurden im Zuge der Jakobinerverschwörung Martinovics' viele der kleinbürgerlich-plebejischen Schriftsteller hingerichtet oder eingekerkert. Zu ihnen gehörte auch Kazinczy, der vom Ende der achtziger Jahre an aufs entschiedenste und im Geiste heterogener Stilarten den Standpunkt der rationalen Propagandisten der Aufklärung und der Schriftsteller vertrat, die sich auch im Rahmen der klassizistischen Formen als sentimentalistische Rebellen bewährten. Seine ersten Erfolge erzielte Kazinczy mit einer Übersetzung von Gessners Idyllen (erschienen 1788) und einer feinfühligen Nachdichtung einer deutschen WertherImitation (1789), dann redigierte er den „Orpheus", die radikalste literarische Zeitschrift der ungarischen Aufklärung, und stellte sich schließlich mit der Übersetzung zahlreicher Bühnenwerke an die Spitze des Kampfes um das ungarische Theater und die Durchsetzung der bürgerlichen Ideologie. Seine Begeisterung für die französische Aufklärung und den französischen Klassizismus (Voltaire, aber auch Rousseau!), seine ausgesprochen von der griechischen Antike und dem Rokoko beeinflußte Liederkultur (im Stil Anakreons) und seine starke Vorliebe f ü r die deutsche Klassik halten sich in seinem Lebenswerk die Waage; doch auch der Sentimentalismus und der Ossiankult nehmen darin einen bedeutenden Platz ein. Zukunftweisend ist das Lob, das er der „göttlichen Simplizität" von Lessings Fabeln zuteil werden ließ (8. Oktober 1793) i : „Unter den Arbeiten der neuen 1
Kazinczy Ferenc levelezese [Briefwechsel von Ferenc Kazinczy]. Bd. I—XXI herausgegeben v. Janos Väczy. Budapest 1890—1911; Bd. XXII herausgegeben v. Istvän
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Schriftsteller sind sie nach meiner Meinung am würdigsten, den, klassischen Schriften der Alten gleichgestellt zu werden." Diese Arbeiten Lessings hielt er für noch schöner als Herders Paramythion, in den er doch „verliebt" war. Daß dabei auch sein Einverständnis mit Lessings Abneigung gegen den Feudalismus eine Rolle spielte, geht natürlich aus seinen Dramenübersetzungen hervor. Vor seiner Haft hatte er dreizehn ausländische Dramen übersetzt: vier von Goethe („Die Mitschuldigen", „Die Geschwister", „Clavigo", „Stella"), je zwei von Shakespeare („Hamlet", „Macbeth" nach Schröder), Lessing („Miss Sara Sampson", „Emilia Galotti") und Metastasio („Temistocle", „Clemenza di Tito"), je eines von Götter („Medea"), Gessner („Erast") und Le Mierre („Lanassa"). Auch an der Übertragung eines Dramas von Gebler hat er mitgearbeitet. Indem er sich in gleicher Weise f ü r die historische Tragödie, das bürgerliche Trauerspiel, das bürgerlich-sentimentale Spiel und die vielfachen Typen des Melodramas einsetzte, bewies er, daß er fähig war, die literarischen Strömungen zu überblicken und die verschiedenen Varianten des zeitgenössischen Dramas in den Dienst eines höheren politischen Ziels zu stellen. Damals bereits verehrte Kazinczy Goethe und arbeitete auch, empfindsam wie er war, die schmerzvollen Lehren seines eigenen Lebens in seine Goethe-Übersetzungen ein. Anfang der neunziger Jahre hatte er ein sonderbares Liebeserlebnis, in dem auch eine dritte Person eine Rolle spielte, und er sagte später, er habe die „Stella" als eigenartige Rechtfertigung seiner eigenen Erotik empfunden. Doch wenn dies auch subjektiv in erster Linie auf sein Streben zurückzuführen war, in der Maske anderer sich selbst auszudrücken, verfolgte er damit doch auch ein objektives Ziel: der Sprache Energie, Pathos, „den Ton der großen Welt" — wie er in deutscher Sprache schrieb — und „Rauschen" zu verleihen (Brief an Janos Kis, 11. Mai 1794). Doch seine Objektivität konnte im Rahmen der zur Zeit allgemein geübten Übersetzungspraxis nicht zum Erfolg führen, war es doch so, daß man sich nicht um die treue Wiedergabe von Inhalt und Form des Originals bemühte, sondern es einfach adaptierte und in die heimischen Verhältnisse hineinversetzte. So verfuhr Kazinczy selbst mit der Werther-Imitation, und auch Goethes „Geschwister" übertrug er in der gleichen Weise ins Ungarische: „Ich kenne kein lieblicheres kleines Stück als dieses; ich bin wahrhaftig darein verliebt. Ich habe das Stück nationalisiert. . . " (am 4. März 1794 an Janos Kis). Das heißt, er hatte es — zur Unterhaltung seines dortigen Freundeskreises — in das Milieu von Kaschau versetzt. Diese Methode läuft dem Prinzip der treuen Wiedergabe des zum Kanon erhobenen Werkes zuwider, das Ideal wird in die Niederungen der lebensbedingten Zufällige keiten herabgezogen, und was auf dem Gebiete der Propaganda und der Erziehung durch die Verkündung des Thesengehalts des Stückes gewonnen wird, wird durch den Verzicht auf die Vollständigkeit des Ideen- und Formengehalts des literarischen Kunstwerkes erkauft. Harsanyi. Budapest 1927; Bd. XXIII herausgegeben v. Jenö Berläsz, Margit Busa, Klara S. Gärdonyi, Geza Fülöp. Budapest 1960. Die Zeitangaben beziehen sich auf die Briefe dieser Ausgabe.
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Vor 1795 war also Kazinczys literarische Produktion — immer im Zeichen der Ideen der Aufklärung — durch die Vielfältigkeit der Geschmacksrichtungen, den Wechsel des Inhalts und der jeweils bevorzugten Form charakterisiert. Während der Jahre der Gefangenschaft (1795—1801) fand er dann seinen festen Stil, wandte er sich fortschreitend dem Klassizismus zu. In dem vorzüglichen Zeichner, der schon als Kind in den Bänden von Penthers Baukunst geblättert und die Bilder daraus abgezeichnet hatte, in dem fleißigen Besucher des Belvedere, der seinen Kunstsinn an den nach Hause gebrachten Katalogen weiterbildete und für die römischen Veduten schwärmte, hatte die unmittelbare Anschauung schon frühzeitig klassizistischen Geschmack entwickelt. Im Gefängnis ging nun Kazinczys Interesse von der klassischen bildenden Kunst zur klassischen Literatur über, obwohl er auch später noch der von der bildenden Kunst ausgehenden Neigung nachgab, die mustergültigen Werke nachzubilden. Seine geschichtlich größten Leistungen jedoch vollbrachte er als Sprachreiniger, im Kampf um die Prinzipien der Autonomie der schönen Literatur und der Praxis der Spracherneuerung. Im April 1795 brachte man ihm Giuseppe Vasis römische Veduten und die Werke Homers ins Gefängnis ; aus diesen Werken schöpfte er im Schatten eines drohenden Todesurteils neue Kraft. Dann — zu unbefristeter Haft verurteilt — ging er an die Übersetzung der Werke Molières und Lessings. Später nahm er seine früheren, bereits veröffentlichten Übersetzungen zur Hand. Unzufrieden mit dem Stil, arbeitete er sie um. Seine Unzufriedenheit war dadurch hervorgerufen worden, daß er seine früheren Leistungen an seinen neuen Idealen maß. Diese nahmen in den Werken Gestalt an, die dem Gefangenen sichere Zuflucht vor selbstzerstörender Ruhelosigkeit boten. Sie versetzten ihn aus der Gegenwart in die Welt der ältesten vorbildlichen Kunst, von deren begeisterndem, aktivem Erleben er eine neue und eindeutige Verwirklichung freien Menschentums und der Schönheit erhoffen konnte. Das Lesen einer Zeile aus den Werken eines antiken Dichters oder Geschichtsschreibers, eine Zeile Rat, den er seinen Freunden in geschmuggelten Briefen über die Besorgung von historischen und philologischen Werken gab, die sich mit den lateinischen und griechischen Klassikern und der Geschichte des Altertums befassen, und schließlich, aber nicht nur grundsätzlich, sondern auch zeitlich an erster Stelle, das eingehende Studium der ideologisch so bedeutsamen Werke Winckelmanns, Sulzers und des Abbé Barthélémy sind Anzeichen f ü r die Formung eines neuen griechisch-römischen klassischen Leitbildes und geschmacklichen wie stilistischen Ideals des Häftlings. Unnötig, im einzelnen zu schildern, daß er die acht Bände der Werke Plutarchs im Munkâcser Gefängnis zurückließ, damit sich dort verbleibende und neu hinzukommende Häftlinge daran moralisch aufrichten konnten, wie er an der Anacharsis des Abbé Barthélémy seinen eigenen Patriotismus stärkte und daraus seelischen Trost schöpfte, mit welcher Gründlichkeit er Sulzer studierte und in den dritten Band einen Hinweis auf seine Beziehungen zu Chodowiecki eintrug usw. Damit wir sehen, mit welcher Ambition er an die Übersetzung Sallusts ging, genügt der Hinweis darauf, daß er seinen Freunden die Beschaffung der Werke Baehrens', Brehms, Kosegartens und Rupertis über klassische Philologie empfahl. Winckel-
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manns Gedanken beeinflußten Kazinczys Arbeit im Sinne der Formung der ungarischen Sprache am Beispiel des antiken klassischen Stils, sie überzeugten ihn von der Notwendigkeit der Nachahmung. Doch das Prinzip der Nachahmung ergab sich bei Kazinczy, dem Citoyen, der f ü r die Jakobiner Partei ergriffen hatte, aus einer Kette tieferer und umfassender Argumente, vor allem aus der Winckelmannschen Vision freien Griechentums, in das er seinen eigenen politischen Freiheitsdrang hineinprojizierte. Während seiner Haft, so berichtet er an einer der ergreifenden Stellen seines Gefängnistagebuchs, ließ er sich Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums kaufen und fragte seinen Wärter höhnisch, ob er ein Buch lesen dürfe, in dem Sätze vorkommen wie dieser: „Warum kann sich die Kunst jetzt nicht so hoch erheben wie bei den Griechen? — Weil dort, wo es keine Freiheit gibt, wo ein König herrscht, dem Genie immer die Flügel gestutzt werden. . . " Wie Winckelmann fand also auch er, daß der griechische Humanismus, der sich in der Vereinigung von Ausdruck und Schönheit zu solchen Höhen der Kunst und der Klassizität aufgeschwungen hatte, im gesellschaftlichen Leben wurzelte. Indem er nun die ungarische Sprache am klassischen Muster formte — und ihr später auch gelegentlich Gewalt antat —, schwebte ihm ein literarisches Ideal vor, das durch die Veränderung des Bewußtseins die Freiheit herbeiführt und die Menschen durch seinen zivilisatorischen Gehalt, sein Schönheitsideal, seine Stilelemente aus feudalistischer Rückständigkeit, Engstirnigkeit und Geschmacklosigkeit erlöst. Und sofort, noch im Gefängnis, ging er mit der SallustÜbersetzung an die — vielfach als „sprachverderbend" verschriene — Erneuerung der ungarischen Sprache. Wie schon Imre Bán 2 nachgewiesen hat, ist fast in jeder Äußerung Kazinczys über den deutschen Hellenismus, vor allem über den von ihm grenzenlos bewunderten Goethe, der Einfluß Winckelmanns erkennbar. „Ganz ruhige Größe in griechischer Grazie", schrieb er (in deutscher Sprache) am 18. Februar 1809 ganz in Winckelmannscher Art über die Iphigenie und über Goethe selbst, auf den er einen seiner besonders begabten Schüler, Sándor Farkas Bölöni, (jetzt in ungarischer Sprache) mit folgenden Worten aufmerksam machte: „Lerne Goethe kennen, Goethe und wieder Goethe. Er ist in allem mein I d o l . . . Anderen glaube mit Vorbehalt. Goethe, in dem eine griechische Seele wohnt, glaube blindlings. Alles an ihm blüht; er hat die Kraft des Mannes und die Schönheit der Jugend vereinigt." (22. Oktober 1815). Der letzte Satz gibt frei wieder, was Winckelmann über die Statue des Apollo geschrieben hat („Ein ewiger Frühling, wie in dem glücklichen Elysien, bekleidet die reizende Männlichkeit vollkommener Jahre mit gefälliger Jugend"). 3 Dagegen erscheinen in dem System, das Kazinczy für die Verhältnisse Ungarns ausgearbeitet hat, Winckelmanns ästhetische Prinzipien nur in Verbindung mit 2
Imre Bán: Kazinczy F. klasszicizmusának kérdéséhez [Zur Frage des Klassizismus F. Kazinczys]. Irodalomtorténeti Kozlemények [Beiträge zur Literaturgeschichte], Jg. 64 (1960) S. 42, 4 6 - 4 7 . 3 J. J. Winckelmann: Geschichte der Kirnst des Altertums. Herausgegeben v. Wilhelm Senff. Weimar 1964 S. 309.
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den Ideen anderer. Es ist ein System, dessen Zweck die literarische Gestaltung der Sprache war und das, um seine Berechtigung in den oft harten Kämpfen der nationalen Bewegung zu erproben, von dem Piedestal des hellenischen Humanismus heruntergeholt werden mußte; und indem Kazinczy sich um die Erneuerung der Sprache bemühte, dieses elementaren Instruments der Veränderung des Bewußtseins, kämpfte er zugleich um die Vereinheitlichung der literarischen Sprache und ihrer Stilarten, ihre Integration und Differenzierung. Derartiges aber kann nicht ohne Solözismen, gewaltsame — willkürliche — sprachformende Akte und Vermehrung des Wortbestandes vor sich gehen — all das sind aber antiklassizistische Momente. Es geht nicht um das Winckelmannsche klassische Ideal, „edle Einfalt und stille Größe", es ist ein um Shakespeare, Sterne, Ossian, Cesarotti und Herder erweiterter, spracherneuernder, die Freiheit des Schriftstellers und die Autonomie der schönen Literatur verkündender Klassizismus voller Spannung und Explosionen. So schlug der Aufbruch von dem klassizistischen Winckelmannschen Prinzip der Nachahmung im Zuge der Kämpfe um die Spracherneuerung in das Gegenteil um: Dem Schriftsteller wird das Recht zugesprochen, die Tradition zu brechen und Herr über die Sprache zu werden, er hat nicht mehr bloß anderen genau zu folgen. Es wird ihm die Freiheit des literarischen Schaffens zugestanden, er hat seinen eigenen Weg zu gehen und soll dem klassischen Ideal seine Originalität, seinen Genius gegenüberstellen. Es geht hier also nicht so sehr um den Einfluß Winckelmanns auf Kazinczy als vielmehr um die Begegnung der in einem weiteren Bildungskreis und freier aufgewachsenen, recht angriffslustigen adligen Literaten mit Winckelmann, die sich in einem Augenblick vollzog, da die der Winckelmannschen verwandte, aber schon früher begonnene, von unmittelbarer gesellschaftlicher Aktualität erfüllte schriftstellerische Tätigkeit Kazinczys gewaltsam von der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens abgeschnitten wurde. Der Funken, der aus dem Werk des deutschen Denkers auf den hochkultivierten Kazinczy übersprang, leuchtete dem Ungarn wohl bei der Konzipierung seines literarischen Programms; dessen Herausarbeitung wurde aber durch die von Kämpfen erfüllte ungarische gesellschaftliche Wirklichkeit und die heimatlichen Bedingungen bestimmt. Die Spracherneuerung war in Ungarn — wenn auch unsystematisch in ihren Prinzipien — schon seit Jahrzehnten bewußt vorangetrieben worden und hatte auch in Kazinczys Plänen lange vor seiner intensiven Beschäftigung mit Winckelmanns Schriften eine wichtige Rolle gespielt, wobei er unter Spracherneuerung Stilerneuerung verstand. „Wenn man beim Alten verharrt, wenn man sich weiter an den beschränkten Kathederstil und das herkömmliche Verseschmieden hält", so schrieb er am 8. April 1791, „wie wird man dann den ansehen, der nach dem Beispiel Catulls eine stilistische Erneuerung anstrebt? Als Sonderling (er gebrauchte das deutsche Wort), der die energiegeladene deutsche, französische und italienische Schreibweise zur ungarischen machen will?" Dieser Sonderling war er, der von dieser Zeit an immer wieder über die Möglichkeiten der Erneuerung des Stils nachgrübelte. Winckelmanns Ideen halfen ihm nur bei der prinzipiellen Konzipierung seiner eigenen
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Aufgabe, und so wurde er im Zuge der schwierigen Sallust-Übersetzung schon im Gefängnis zum „Sprachverderber" und revidierte seine früheren Übersetzungen sofort im Sinne seines neuen Stilideals. Aus der Haft entlassen, sah sich Kazinczy dem revolutionsfeindlichen Bündnis der ungarischen Stände und dem vom ungarischein Adel mit den österreichischen herrschenden Klassen geschlossenen Kompromiß gegenüber, der aber nur neue Spannungen verdeckte. Die Ursachen dieser Spannungen lagen in dem allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung des ungarischen Adels und der damit verbundenen Umschichtung innerhalb dieses Standes. Schon die große Zahl der in klassizistischem Stil gehaltenen Herrenhäuser war ein Zeichen dafür, daß die Kriegskonjunktur bei allen in solchen Zeiten üblichen Beschränkungen wesentlich zum Entstehen von Handelskapital beigetragen und eine weitgehende Einbeziehung des adligen Grundbesitzes in den Warenverkehr herbeigeführt hatte. Als Kazinczy 1801 das Gefängnis verließ, stand er vor der Aufgabe, sich der neuen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung des Adels anzupassen. Der Kompromiß verdeckte die Unzufriedenheit auf ungarischer Seite und auf der andern Seite das Mißtrauen der österreichischen herrschenden Kreise. Wohl unterstützten die ungarischen Adligen Österreich mit allen Kräften im Kampf gegen Napoleon, doch dachten sie nicht daran, den auf Österreich lastenden Druck ungenutzt zu lassen, sondern waren entschlossen, sich der guten Gelegenheit zur Erzwingung neuer Zugeständnisse zu bedienen. So verbargen sich hinter der Kulisse der offiziellen Harmonie ernste Spannungen. Die Haltung des Adels wurde gestärkt durch die Getreidekonjunktur, deren Nutzen dem Besitzadel zugute kam, aber auch durch das mit dem wachsenden Wohlstand zunehmende Bewußtsein seiner historischen Bedeutung. Die Wiederherstellung der Adelsprivilegien, die feudalen Grundsätze der Verfassung und der neue Wohlstand täuschten den adligen Herren das patriarchalische Bild eines „von Milch und Honig fließenden" ungarischen Kanaan vor und legten ihnen das anmaßende Wort „extra Hungariam non est vita" in den Mund. Doch schon die Anfänge der kapitalistischen Wirtschaftsweise und ihr tastendes Eindringen in die Landwirtschaft genügten, um gewisse Sprünge in der hergebrachten Geschichtsauffassung des Adels hervorzurufen. Jetzt mußten auch die adligen Herren der objektiven geschichtsformenden Faktoren gewahr werden: der ökonomischen Veränderungen mit ihren neuen Einrichtungen, ja sogar der charakteristischen Inhalte der gesellschaftlichen Formationen. So tauchten vom Ende des ersten Jahrzehnts des neunzehnten Jahrhunderts an in den Briefen der adligen Herren die Fachausdrücke und Begriffe des Feudalismus und des Kapitalismus auf. All dies erzeugte, wenn auch noch nicht zum Aufbrechen gereifte, so doch sehr ernste Spannungen und führte langsam eine Krise herauf. Sie begann zur Zeit des Reichstags von 1811—12 akut zu werden. Der Reichstag wurde vom König aufgelöst, weil die Stände nicht gewillt waren, die finanziellen Ansprüche des Hofes zu bewilligen. Die Epoche des verfassungswidrigen Regimes setzte ein, das den geschlossenen ständig wachsenden Widerstand des Adels auslöste und zur ersten Formulierung der bürgerlichen Reformbestrebungen führte. 10*
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Gleichfalls im Jahre 1811 setzte der Kampf um die Erneuerung der Sprache ein. Seine prinzipiellen und ideologischen Grundlagen bot Kazinczys Klassizismus. Er selbst leitete ihn mit der Veröffentlichung einer aggressiven Epigrammsammlung und einer meisterhaften, treffsicheren satirischen Epistel ein. Er hielt sich dabei an die Grundsätze der klassizistischen Geschmacksrichtung. Es war noch die Zeit des Kompromisses. Nach 1812 aber, als der Kompromiß schon zerfallen war, setzte auch unter Kazinczys Gesinnungsfreunden die Diskussion über das von ihm vertretene Nachahmungsprinzip ein; ja, auch er selbst war unsicher geworden. Ungeachtet seines adligen Gepräges war der ungarische Klassizismus in seiner gesellschaftlichen Basis dem allgemeinen europäischen Klassizismus verwandt. Er spiegelt den vorübergehenden Vergleich wider, den der Adel, der im Begriffe war, die bürgerlichen Funktionen zu übernehmen, mit der absoluten monarchischen Gewalt schloß. Der ungarische Klassizismus im weiteren Sinne ruhte auf breiteren Grundlagen als der besondere Klassizismus Kazinczys, und er machte in den ersten Jahren des Jahrhunderts, insbesondere durch die Modernisierung der römischklassischen, aber von nationalem Geist erfüllten Richtung, Fortschritte, die in den achtziger Jahren von den schon erwähnten schreibenden Mönchen eingeleitet worden war. 1799 waren Benedek Virâgs Gedichte erschienen. Seine im Geiste des Empire-Klassizismus gehaltene, zu bürgerlicher Tugend, Besonnenheit, Selbsterkenntnis, Pflichtbewußtsein und opferbereitem Patriotismus erziehende, dabei beschwingte, polierte, geistvolle Lyrik bewies durch die Vielfalt der Themen und der Kunstgattungen und die Mannigfaltigkeit der angewandten Arten der griechisch-römischen Metrik die Lebensfähigkeit dieser Richtung. Zu dieser Zeit hatte Daniel Berzsenyi, der größte Lyriker der ungarischen Klassik, dessen Arbeiten den Höhepunkt der Richtung markieren und bereits zur Romantik hinüberführen, schon seine ersten bedeutenden Gedichte geschrieben, aber noch nicht veröffentlicht. Jânos Kis, einer der ersten ungarischen bürgerlichen Schriftsteller, selbst ein Propagandist der mit Empfindsamkeit durchwobenen klassizistischen Richtung, machte den öffentlichkeitsscheuen Berzsenyi 1803 mit Kazinczy bekannt, der sich übrigens zu der Zeit, als er von Gefängnis zu Gefängnis geschleppt wurde, auch Virâgs Gedichte beschafft hatte. Dieser und Jânos Kis waren Kazinczys treueste Kampfgefährten und Freunde; Berzsenyi, der größte Dichter, unterwarf sich Kazinczys Urteil. Mit Miklös Rêvai, dem hervorragenden Sprachwissenschaftler, der 1802 als Professor an die Budapester Universität berufen worden war, verbündete sich Kazinczy deshalb, weil Rêvai die Kriterien sprachlicher Richtigkeit aus den Lehren der Sprachgeschichte ableitete und sich dadurch über die Umgangssprache, die regionalen Varianten und die Einflüsse des Trivialen zu erheben vermochte. Übrigens betätigte sich Rêvai auch selbst als Dichter und verfaßte von nationalem und sentimental-bürgerlichem Geist erfüllte antikisierende Gedichte in griechisch-römischem Versmaß. Als auch Ferenc Kölcsey, der wie kein anderer Dichter seiner Zeit der griechischen Antike huldigte und Hölderlin literarisch nahestand, sich Kazinczy anschloß (1809), war die Absonderung der klassischen Stilrichtung von den übrigen vollzogen. Innerhalb der klassizistischen Richtung fiel dem Mann die dominierende Stellung zu, der ihren literaturgeschichtlichen
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Inhalt am umfassendsten und ihre Gesetze mit der größten dialektischen Schärfe bestimmt hatte: Kazinczy. Der von Kazinczy geführte ungarische Klassizismus grenzte sich gegen die beiden anderen — nichtklassischen — Richtungen deutlich ab : vom Sentimentalismus des Adels und von der bäuerlich-volkhaften Richtung, der selbst in ihren plebejischen Tendenzen noch die patriarchalisch-provinziellen Züge anhafteten. Jener wurde von dem erfolgreichsten Schriftsteller der herrschenden Klasse, Sândor Kisfaludy, repräsentiert, der 1801 mit einem sentimentalen Liederzyklus in die Öffentlichkeit getreten war. Den bedeutendsten Vertreter der volkhaften Richtung sah Kazinczy in Csokonai, dem umfassendsten Geist unter den Dichtern der Aufklärung. Csokonai hatte alle Stilrichtungen ausprobiert, neigte aber doch am stärksten der bäuerlich-volkhaften Richtung zu. In den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts hatten sich also die im ersten Abschnitt der Aufklärung noch eng verbundenen, noch ungeklärten Stilrichtungen voneinander gelöst. Die ästhetische Differenzierung wurde in erster Linie dadurch hervorgerufen, daß der kompromißlerische Adel geschlossen an seiner revolutionsfeindlichen politischen Stellungnahme festhielt und dadurch jedem direkten politischen Handeln den Weg verlegte. Die durch den Kompromiß verdeckten Spannungen offenbarten sich nur in stilistischen Abweichungen. Auch das Streben nach bürgerlichem Fortschritt und die Tendenzen des Adels, sich weltanschaulich der Zeit anzupassen, bahnten sich nur in der literarisch orientierten Sprachpflege ihren Weg. Zur Zeit der Entlasssung Kazinczys aus der Haft war die bäuerlich-volkhafte Richtung bereits von der neuen, durch Kisfaludy vertretenen sentimentalischen Richtung der feudalen Reaktion verdrängt worden, die wohl laut f ü r Originalität des literarischen Schaffens eintrat, darunter aber Verharren im feudalistischen Bewußtseinsinhalt, unveränderte sprachliche und kulturelle Abschließung im hergebrachten Rahmen, Fernhalten alles „Fremden" und „unverdorbenen" Nationalcharakter verstand. Dagegen lehnte sich Kazinczy auf, und es gelang ihm, eine kleine, aber aktive Gruppe von Menschen teils adliger, teils kleinbürgerlichplebejischer Herkunft, die an den Ideen der Aufklärung festhielten und f ü r Reformen in ihrem Sinne eintraten, um sich zu sammeln. So wurde Kazinczys Klassizismus Ausgangspunkt des Kampfes um die Reform der ungarischen Sprache, durch die sie geeignet wurde, bürgerliche ideologische Inhalte zum Ausdruck zu bringen. Seinen größten politischen Erfolg erzielte Kazinczy in der Entfaltung der neuen literarischen Sprache. „Ungarns Antwort auf die Französische Revolution war die Erneuerung seiner Sprache und die Durchsetzung einer neuen Literatur; die ungarischen Schriftsteller waren bestrebt, auf dem Gebiete der Sprache, der literarischen Formen, der Poesie das zu verwirklichen, was das französische Volk in der gesellschaftlichen Wirklichkeit geschaffen hat: die neue bürgerliche Welt." (Jözsef Rêvai.) 4 4
Jözsef Rêvai: Vâlogatott irodalmi tanulmânyok [Ausgewählte literarische Studien]. Budapest 1960 S. 10. (Aus der Studie: Ferenc Kölcsey.)
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Es wurde bereits erwähnt, daß die Spracherneuerung eine Bewegung älteren Datums war, doch gewann sie erst mit dem Eingreifen Kazinczys im Zeichen des Klassizismus nationale Bedeutung. Damit begann ihre entscheidende, kämpferische Epoche. Deshalb konnte Kazinczys Klassizismus zur führenden und tonangebenden Richtung des unabhängig von ihm entstandenen ungarischen Klassizismus überhaupt werden. Kazinczy war davon ausgegangen, das stille Gewässer der ungarischen Kultur mit Hilfe der „copia", der Kopierung fremder Meisterwerke, aufzurühren. Am 15. März 1803 schrieb er an Schedius, den Professor für Ästhetik an der Budapester Universität: „Wer seinen Geschmack an den schönsten Werken von Ausländern gebildet hat, fühlt, daß wir in denKünsten nur dann weiterkommen werden, wenn wir uns an Stelle des — bisher unglücklich verlaufenen — Bemühens um die Schaffung schöner Originale die Meisterwerke glücklicherer Nationen zu eigen machen. Dahin geht mein Streben . . . " Doch der Plan, die Klassiker ins Ungarische zu übertragen, konnte nur in einer in ihrem Sprachschatz, in ihrem Stil erneuerten und ästhetisch entwickelten ungarischen Sprache verwirklicht werdein. „Wer fühlt nicht, wenn er es einmal unternommen hat, einen Klassiker anderer Nationen ins Ungarische zu übersetzen, wie arm unsere Sprache ist?" schrieb Kazinczy am 12. Februar 1804 an Jänos Kis. Und zusammenfassend sagte er: „Mögen mich die Puristen verdammen, die sich deshalb an meinem Solözismus stoßen, weil sie ihn nicht verstehen . . . " Klassische Vorbilder, ihre Kopierung, Solözismus: logische Stationen einer durchdachten literarischen Laufbahn. Während er zur Zeit seiner Haft Werke seiner Lieblingsautoren, selbst Arbeiten Goethes, in ungarische Verhältnisse hineingestellt und frei bearbeitet hatte, legte er jetzt strengere Maßstäbe an und machte einen Unterschied zwischen frei zu übertragenden und originalgetreu zu übersetzenden Werken. „Mögen sie (die Rückständigen) mich belehren, daß man beim Übersetzen freie Hand haben müsse; ich weiche nicht von meinem Weg ab. Auch ich habe frei übersetzt. Ihnen zuliebe — und nur ihnen zuliebe — habe ich zwei Lustspiele Molières so übersetzt; so werden auch Metastasios Titus, Themistokles und Regulus übersetzt werden. Dem Übersetzer Lessings und Goethes und Marmontels aber geziemt es, Hamlets Rat zu befolgen, den Worten des Autors nichts Eigenes hinzuzufügen." (An Schedius am 15. März 1803.) Zu den Kriterien der Klassizität gesellte sich offenbar eine weitere Überlegung, die auf der gleichen Ebene lag, aber schließlich entscheidend wurde. Wie wäre es sonst zu erklären, daß Kazinczy sich herausnahm, den doch als Klassiker geltenden Molière frei zu übersetzen? Im Hinblick auf die Frage, welchem Klassiker man zu folgen habe, hielt sich Kazinczy die universale Sprach- und Stilkonzeption vor Augen, die mit den Namen Klopstock, Wieland, Jenisch und Herder verknüpft ist. Sein Kampf um die Erneuerung der Sprache galt der Verwirklichung des vollendeten Sprachideals, und dieses war f ü r ihn dialektisch verbunden mit der Praxis der werkgetreuen Wiedergabe der Klassiker. Das greifbarste Kriterium der idealen Sprache sah er in der Vielfarbigkeit und der Mannigfaltigkeit der Stilarten. Das Ideal der Vielfarbigkeit
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formulierte er in seinen „Pályám emlékezete" [Erinnerungen an meipe Laufbahn] betitelten Memoiren folgendermaßen: „Es gibt unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Stilarten, und jede ist durch die besondere Sprache des Schriftstellers bestimmt. Gut schreibt, wer so schreibt, wie es eben am Platze ist — apte qui dicit. Wir müssen also nach Vielfarbigkeit streben, nicht, wie andere es wünschen, nach Einfarbigkeit." 5 Aber über der Vielfarbigkeit, das heißt der Differenzierung der Stilarten, steht das ästhetische Prinzip: „Schreibt der gut, der sich so ausdrückt, wie jedermann es tut, aber nicht schön, oder der, der sich nicht so ausdrückt wie jedermann, aber schön?" 6 So legte er in der Form einer Frage seine Ansicht dar, daß man nicht so zu schreiben hat, „wie sich jedermann ausdrückt, sondern schön". Die Wahrer schönen Ausdrucks und guten Stils aber sah er in den Klassikern. Und jeder Klassiker schreibt seinen eigenen Stil. Selbstbewußt schreibt Kazinczy am 15. September 1805 an Sándor Prónay: „Seit vier Jahren übe ich mein Können in vielen Arten des Stils. Bald werden einer nach dem anderen fünf Bände meiner mit großer Sorgfalt verfaßten Übersetzungen erscheinen. Der erste wird Marmontels moralische Erzählungen (Contes moraux) enthalten, deren Thema die französische Eleganz ist, der dritte Band zwei Meisterwerke Lessings : Emilia und Minna — ihr Thema ist die deutsche Kraft —, der fünfte Band sieben Gesänge von Ossian und zwei von Denis sowie die schönsten Stücke von Klopstocks Messias . . . Ferner sind die Gnomen von LaRochefoucauld in Druck . . . " Da es sich hier um Werke handelt, die kaum über den im Alltagsleben üblichen Stil hinausgreifen, fühlte sich Kazinczy frei, sich auch seinerseits der Umgangssprache, einer „gewöhnlicheren", volkstümlichen Ausdruckweise zu bedienen — genau wie er sich erlaubte, Molière und Metastasio frei zu übertragen. Das Ideal des „vielfarbigen" Stils, eine klare Absage an die blutleere Abstraktion, enthielt — im Gewand des Klassizismus — bereits durch die Forderung nach bewußter Anpassung an die Aussage und die Individualität des Autors und den Leserkreis im Keim Grundbegriffe der späteren Literaturtheorie des Realismus. Es war die Mannigfaltigkeit der klassischen Stilarten, die Kazinczy dazu brachte, zu erklären — und damit in die Meinungsbildung einzugreifen — : „Das Schlimme ist unsere Weigerung, zu begreifen, daß es wohl eine ungarische Sprache gibt, aber der Poet, der Rhetor, der Historiker, das Theater, der Markt, die Schule und die Kirche nicht die gleiche Sprache sprechen." (5. Januar 1814.) Eben deshalb hielt er die Erneuerung der Sprache für unabweisbar, denn „didaktische Arbeiten und Predigten kann man ohne Neologisierung schreiben, aber nicht alles in anderen Arten der L i t e r a t u r . . . " (23. März 1805.) Die abschätzige Erwähnung des Didaktischen und der Welt der Predigten und ihres Stils war auf die feudale Trivialität und Engstirnigkeit gemünzt; sie brachte Kazinczy in erster Linie in seinen von den klassischen Idealen der Spracherneuerung erfüllten Kämpfen zu Fall. 5
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Pályám emlékezete [Erinnerungen an meine Laufbahn]. Neueste Ausgabe: Kazinczy Ferenc válogatott müvei [Feienc Kazinczys ausgewählte Werke], Bd. I Budapest 1960 S. 133. In: Élet és Literatura [Leben und Literatur], Jg. 2 (1827) Pest Bd. II S. 299.
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Unnötig, im einzelnen darauf einzugehen, wie klar er erkannt hatte, daß sich der Schriftsteller in seinem Stil an den Gegenstand seines Werkes und dessen inneren Gehalt halten muß ; daß der Übersetzer die in dem Werk gestalteten Personen ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit, ihrem Gemütszustand, ihrem Bildungsgrad entsprechend in verschiedenem Stil sprechen zu lassen hat (auf seine Egmont-Übersetzung eingehend, sagte er: „Klärchen spricht nicht wie Frau Margarete, und Machiavell und diese sprechen nicht wie die scheibenschießenden Flamen" — 8. Juni 1816); daß in der Übersetzung auch die individuellen Eigenheiten des Autors zur Geltung kommen müssen und daß es eine große Sünde sei, wenn die rückständigen Schriftsteller und Propagandisten der Unveränderlichkeit der Sprache „Tacitus, Livius, Seneca, Cicero und Sallust gleichmachen" (21.September 1814). Seinen eigenen Anhängern, den Neologen, machte er den Vorwurf, sie ließen das geistige Niveau und die Aufnahmefähigkeit des lesenden Publikums außer acht: „Vergessen wir nicht, an welche Schicht der Leserschaft wir uns wenden; wir halten dort, wo es am Platze wäre, klar, einfach und maßvoll zu sprechen, schillernde, gespreizte, widerlich gezierte Reden." 7 Sein Ideal und der Stil seiner künstlerischen Praxis war in der Prosa die kaustisch-bündige, von ihm im Zeichen des „style coupé" entwickelte Natürlichkeit, die aber nicht der durchaus bewußt disziplinierten Appelle an das Gemüt und der Inspiration entbehrte. Als charakteristische Abart von Kazinczys klassischem Stilideal sei der Begriff der „höheren Schreibart" hervorgehoben. Am Anfang und längere Zeit nachher bedeutete sie bei ihm nichts anderes als Distanzierung vom Alltagsstil des Feudalismus durch Gewähltheit und Erhabenheit der Sprache. Die „fließende Rede" nannte er „Musa pedestris" (27. August 1801), also immerhin Muse, und er erkannte ihre Berechtigung dort an, wo der Gegenstand und die Kunstgattung (z. B. der leichte Unterhaltungsroman) eine solche Schreibweise rechtfertigte. Im Zuge der Kämpfe um die Erneuerung der Sprache jedoch mahnte er die neologen Autoren schöner Literatur, sich vom Gebrauch der Alltagssprache völlig abzuwenden, wobei er in schärferer Formulierung sagte, was er schon 1804 festgestellt hatte: „Ich bin ganz und gar nicht begierig nach dem Lob, das in gewissem Sinne und in gewissem Maße jedem Schriftsteller zur Pflicht macht, so zu schreiben, wie es gebräuchlich ist. Mir steht der Sinn nach anderem Lob : dem Lob, das Goethe und Klopstock f ü r ihre Erneuerung der Sprache zuteil wurde." (5. Februar 1804.) Die Bestimmung der „höheren Schreibart" sah Kazinczy darin, eine besondere klassizistische poetische Sprache zu schaffen, wobei die prinzipiellen Lehren zu berücksichtigen seien, die er auf dem Gebiete des Neologismus aus der griechischen Art des Horaz, aus den Schriften Vergils und insbesondere aus dem Gräzismus und Gallizismus Lessings, Klopstocks, Goethes, Wielands, Schillers und Voß' gtezogen hatte. Die ersten Erfolge der Stilerneuerung sah Kazinczy darin, „daß die Sprache unserer Poeten sich so sehr von der Prosasprache zu unterscheiden beginnt, daß alles, was wir in der oben erwähnten poetischen Art schreiben, für jeden, der sich nicht im 7
Orthologus és neologus [Der Orthologe und der Neologe]. Tudomänyos Gyiijtemény [Wissenschaftliche Sammlung], Jg. 3 (1819) Bd. XI S. 25.
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Kreise des Handwerks bewegt, ebenso unverständlich ist, wie es die deutsche Poesie in der Jugend Klopstocks f ü r die deutschen Leser war" (12. April 1810). Eine extrem radikale Erklärung Kazinczys — zum Teil hervorgerufen durch die gegen ihn gerichteten Angriffe — warf den Schatten einer Krise seines Klassizismus voraus. „Der Belletrist kennt kein höheres Gesetz, als daß seine Arbeit schön zu sein hat. Was ihm dabei helfen kann, ist ihm erlaubt, ob es die Grammatik und der Sprachgebrauch zulassen oder n i c h t . . . Ja, er, der Schriftsteller gebietet, daß es so zu sein hat und so sein wird; ja, er macht zum Brauch, was nicht Brauch gewesen i s t . . . " 8 Sein Denken nahm eine romantische Wendung und rüttelte bereits an dem Grundsatz der absoluten Nachahmung des Klassischen. Die positive Seite dieser Wandlung lag nicht n u r darin, daß Kazinczy dadurch auch innerlich auf den Weg der Originalschöpfung gelenkt wurde (abweichend von seiner früheren, überwiegend übersetzerischen Tätigkeit), sondern vor allem darin, daß sie ihn zur ersten Formulierung des Prinzips der Unabhängigkeit des Schriftstellers veranlaßt hatte. Durch die Betonung des „Schönen" leitete er die Befreiung des literarischen Denkens von der Bevormundung durch die Erudition, die Gelehrsamkeit ein, und lenkte es zugleich in neue, bürgerliche Bahnen. Er setzte sein aristokratisches Ideal der „höheren Schreibart" dem Geschmack des Feudaladels entgegen, und so bedeutete seine aggressive Absonderung innerhalb des Lagers der „Kenner" aüch soviel, daß er „die Männer des Geistes .für den nach Geburt Auserlesenen ebenbürtig hielt" (Bän). 9 Es war die einzige Möglichkeit f ü r den Citoyen, unter den schwierigen Bedingungen der revolutionsfeindlichen Epoche dem bürgerlichen Fortschritt den Weg zu bahnen. Das behäbige, schwerfällige, ungeschliffene Leben des Adels und der Bauernschaft im feudalen Ungarn veranlaßten ihn zur Formulierung seiner literarischen Ideologie, die, gestützt auf die alten und modernen Klassiker, neben der „Vielfarbigkeit" nun besonders die Forderung nach „höherer Schreibart" betonte. Den Schlußstrich unter seine ein Jahrzehnt umfassenden Kämpfe setzte Kazinczy selbst im Jahre 1819 mit einer sehr schönen Studie, der er den Titel „Der Orthologe und der Neologe bei uns und bei anderen Nationen" gab. Darin bekannte er sich als Synkretist und akzeptierte, zugleich als Korrektur seiner früheren extremen Ansichten, die von den Orthologen und der jüngsten, der romantischen Generation in gleicher Weise bejahte Lehre vom Genius der Sprache, den Gedanken, daß man in die Eigenart der nationalen Sprache eindringen, ihre verborgenen Möglichkeiten zu entfalten und die ihr innewohnenden Schönheiten ans Licht zu bringen habe. E r hätte einer solchen Formulierung schon 1813 zugestimmt, wäre man auf der anderen Seite nicht bestrebt gewesen, eben unter der Flagge solcher Ansichten dem Fortschritt den Weg zu verlegen und die Befolgung der klassischen europäischen Vorbilder zu verhindern. Jedenfalls bezeugt die Ausrufung der besonderen Rechte des Schriftstellers innerhalb der rationalistisch-klassischen These des 8
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Aus einer Rezension Kazinczys. Tudomänyos Gyüjtemeny [Wissenschaftliche Sammlung], Jg. 1 (1817) Bd. XII S. 87. A. a. 0. S. 49 (s. Anm. 2).
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Sprachideals, daß zur Zeit die Klärung des Verhältnisses zwischen dem grammatischen „Genius" der Sprache (Umwandelbarkeit) und seinem rhetorischen (Originalität, Wandelbarkeit) auf der Tagesordnung stand. 10 Kazinczy hatte sich bereits vollkommen von der Sprachkonzeption Adelungs losgesagt (ebenso wie von Sulzers Ästhetik) und deren Opponenten Wieland, Jenisch und Herder zugewandt, deren Arbeiten er eifrig studierte und eingehend kommentierte. In seiner Studie „Der Orthologe und der Neologe bei uns und bei anderen Nationen" hat Kazinczy seine Erkenntnisse zusammengefaßt und dem literarischen Frieden den Weg geebnet. Schon aus dem ersten Satz spricht die Sorge um eine einheitliche literarische Sprache, eine „Schriftsprache": „Wo immer die Literatur aufblühte, mußte sich die Nationalsprache Veränderungen gefallen lassen — denn, zur Sprache der Bücher geworden, fehlten der Sprache des Lebens die fertigen Ausdrücke für die neuen Ideen, und der Schriftsteller sah sich gezwungen, Gedanken und Gefühle in schärferen Umrissen zu zeichnen." 11 Er faßte die prinzipiellen Grundlagen der Neologie, des Neuerertums, wie sie fast für alle Zeiten gelten, dialektisch auf und ordnete auch seinen Klassizismus logisch in die Grundsätze seiner Neuerungsbestrebungen ein: „Gut und schön schreibt, wer zugleich ein glühender Orthologe und ein glühender Neologe ist und sich mit sich selbst im Einklang und im Widerspruch befindet... Und was ist dem Schriftsteller im Sinne dieser Schule erlaubt? In der erwähnten Schreibart alles, was das Ideal der Sprache erfordert, die Natur der ungarischen Sprache (ihr althergebrachter Gebrauch und ihre Gesetze) nicht eindeutig verbietet, was der durch die alten und die neueren Klassiker herausgebildete Stil gutheißt und die Notwendigkeit unabweisbar befiehlt." 12 In dieser Weise hatte er seine früheren Definitionen erweitert und zu einer These zusammengefaßt, die geeignet war, die Widersprüche auszugleichen. Durch die Paradoxie, „mit sich selbst im Einklang und im Widerspruch" zu sein, unterschied sich Kazinczy scharf von den anderen. Sie legt Zeugnis ab von seiner dialektischen Überlegenheit, die auch in seiner subtilen Begriffsbestimmung des Orthologen und des Neologen zum Ausdruck kam: „Sie (die Orthologen) streben die Einheit der Einheit an, die es nur als Trugbild übergescheiter Spekulation gibt; in der Natur aber — der physischen wie der geistigen Welt — entsteht und besteht alles durch die Einheit der Unterschiedlichkeit, und daran hält sich der Neologe." 1 3 In diesem Sinne macht Kazinczy auch einen Unterschied zwischen der „höheren Art" der vornehmlich an die Gebildeten gerichteten poetischen und der „für alle" bestimmten Literatur. In jener läßt er — jetzt schon mit gewissen Einschränkungen — die Freiheit des Schriftstellers gelten, in dieser, der volks10
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Für die neueste semantische Untersuchung des Ausdrucks „Genius der Sprache" s. den Aufsatz von Luigi Rosiello: Analisi semantica dell' espressione „genio della lingua". Quademi dell' Istituto di Glottologia. Bd. VI Bologna 1961. Tudomänyos Gyüjtemeny [Wissenschaftliche Sammlung]. Jg. 3 (1819) Bd. XI S. 3. A. a. O. S. 25. A.a.O. S. 19.
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tümlichen Literatur, sei erlaubt, was das breite Leserpublikum gutheißt und akzeptiert. Diese Differenzierung besiegelte die historische Wende, die im Verlauf der Kämpfe um die Erneuerung der Sprache — vor allem dank Kazinczys tatkräftigem Eingreifen — mit der Erkenntnis der sprachlichen Schichtung und der notwendigen Entfaltung einer Literatursprache und eines literarischen Stils eingetreten war. Kazinczy, dieser scharf rationalistisch denkende Geist, suchte nach ungarischen Wörtern, mit denen die Begriffe des zeitgenössischen Denkens ausgedrückt werden könnten (ihm sind z. B. die genauen ungarischen Äquivalente von „Wesen" und „Geist" zu verdanken) und bewies auch im Prägen neuer Wörter große Findigkeit, doch strebte er seinem Ziel, der Reform des Stils, lange überwiegend mit Hilfe von Übersetzungen zu und erst später — von 1816 an — mit eigenen Arbeiten. Seine in neun Bänden erschienenen Übersetzungen (1814—1816) wirkten besonders stark auf die jüngeren Schriftsteller. Er schrieb in vielerlei Kunstformen und Tonarten, in idyllischer und tragischer, in humoristischer und Salonmanier, sentimental und pathetisch. Seine erste vollständige Ossian-Übersetzung machte großen Eindruck auf Vörösmarty, den Großen der ungarischen Romantik. In Kazinczys geschliffenen Übersetzungen ist eine gewisse Gesuchtheit und Gekünsteltheit zu spüren, doch viele seiner Redewendungen sind endgültig in die ungarische Sprache eingegangen. Seine Übersetzungen erzählender Prosa und dramatischer Werke sind farbenreich, und er hat auch die Sprache des dramatischen Dialogs bereichert. Ein Teil seiner Übersetzungen, wie die von Arbeiten Gessners und Marmontels, waren jedoch im früheren, bereits überholten Stil der Aufklärung gehalten und stießen deshalb auf geringes Interesse. In den berühmten neun Bänden sind Übersetzungen von Werken Gessners, Marmontels, Herders, Sternes, Goethes, Ossians, Wielands, Lessings enthalten, und es hätten etwa sechs weitere Bände mit Bühnenwerken Lessings und Molieres sowie Klopstocks „Messias" folgen sollen. Wegen Kazinczys Armut und des geringen Interesses des Verlegers und der Öffentlichkeit kam es aber nicht dazu. An keines Autors Arbeiten hatte Kazinczy mit solcher Geduld gefeilt wie an denen Sallusts, die ihm besonders am Herzen lagen. Daß er mit seinen Übersetzungen ewig unzufrieden war, ist auf sein Prinzip zurückzuführen, daß es immer etwas zu korrigieren gebe, und der Zwang zu immer neuer Umarbeitung ergab sich aus seinen klassizistischen Auffassungen: Seine mit extremer Strenge befolgten stilistischen Grundsätze machten ihn gegenüber der fertigen Arbeit, ihrer klassischen Geschlossenheit unsicher. Dieser Zwiespalt zwischen Prinzip und Praxis trat in der Zeit nach 1815 zutage, als die auf dem gesellschaftlich-politischen Kompromiß ruhende Grundlage des ungarischen Klassizismus zusammenbrach und die geänderten Verhältnisse die ersten charakteristischen Erscheinungen der Romantik hervorbrachten. Bezeichnend ist, daß Kazinczy, der bis dahin immer nur übersetzt hatte, auf einmal zum Schreiben eigener Werke überging. Dazu hatten ihn seine besten, jetzt aber von ihm abfallenden Freunde angeregt. Als seine Übersetzung von Herders bayrischer Preisschrift („Einfluß der schönen Wissenschaften auf die höheren Wissen-
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schaften") erschien 14 und einer seiner Gegner sie lobte, reagierte Kazinczy, der Herder neben Lessing und Goethe — als Autor der Iphigenie — am höchsten schätzte, unwillig: „Du würdigst meineHerder-Preisschrift der Anerkennung; über meine Epigramme schweigst Du Dich in dem Heft aus. Mir scheint ein einziges meiner Epigramme mehr wert zu sein als zwanzig solche Übersetzungen..." (An Endre Horväth, 8. Juni 1816.) In der Tat offenbart sich seine Klassizität am stärksten in seinen Epigrammen, Sonetten und poesievollen Briefen. Ihn reizten die Schwierigkeiten der Formgebung, die Invention in der Befolgung der für das Sonett gültigen Regeln und die epigrammatische Pointe. Bewußt gebaut, wurden diese Dichtungen durch ihre Grazie, ihren malerischen Charakter und eine gewisse bürgerliche Empfindsamkeit zu echter Lyrik. Spontaneität lag ihm nach wie vor fern. Neben seinen Studien und Kritiken sind vor allem seine autobiographischen Schriften bis heute lebendige Literatur geblieben. Sie haben Kazinczy in den Rang eines Klassikers der ungarischen Literatur erhoben. Seine Prosa trägt typisch französische Züge. Ihre Flüssigkeit, ihre Schmiegsamkeit, ihr Esprit machen Kazinczy den Prosaautoren seiner Zeit weit überlegen. Doch finden sich auch in diesen Schriften Anzeichen dafür, daß das Streben nach absoluter Perfektion — zum Schaden der Geschlossenheit des Kunstwerkes — bereits zur Stilunsicherheit führte. Seine Arbeiten Siebenbürgische Briefe (Erdelyi levelek), Erinnerungen an meine Laufbahn (Pälyäm emlekezete) und Mein Gefängnistagebuch (Fogsägom naplöga) liegen in verschiedenen Versionen vor, und es sind nicht die späteren, sondern die früheren, unter denen sich einwandfreie, vollendete und künstlerisch bestens gelungene Fassungen finden. Doch er machte auch aus dieser Krise das Beste. Er strebte nicht mehr nach Geschlossenheit. Die Eigenart seiner Komposition liegt gerade im Wechsel von offenen und geschlossenen Formen, dem Zusammenklang von stimmungsvoller Eingebung und geradezu archaischer Gestalt- und Charakterzeichnung. „Ihre Komposition gleicht der eines englischen Gartens", schrieb er über seine Erinnerungen an meine Laufbahn. „Immer wieder interessante Szenen, und jede kommt unerwartet, bei jeder läßt sich gut verweilen" (an Gabor Döbrentei am 3. Mai 1816). Damit spielte er auf das stimmungsbedingte Flattern des Stils an. „Es herrscht keine chronologische Ordnung, alles ist poetisch verflochten" (an Mihäly Helmeczy am 21. April 1816). Unter „poetischer Verflechtung" ist das perspektivische, bewußt aufgebaute, ständig wechselnde Panorama charakteristischer Porträts und Situationen zu verstehen, das zwischen strenger Sachlichkeit und ironisch-sentimentaler Transfiguration schwebt. Auch das gehört zu Kazinczys Klassizität, deren Züge er so genau an seiner eigenen Kunst zu messen verstand. „Der antike Stil ist am echtesten in meinen Gedichten gewahrt. Berzsenyi wird verdientermaßen von anderen und von mir geschätzt. Aber ist seine beste Ode von reinem Stil? In keines ungarischen Schriftstellers Werk finde ich soviel Klassizität wie in meinem... Darunter verstehe ich nicht die klassische Schönheit, sondern Kenntnis des Klassischen, und darunter 14
Erdelyi Müzeum [Siebenbürgisches Museum], Jg. 2 (1815) H. 4 S. 7, 28.
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wieder nicht nur Reminiszenzen und Allusionen, sondern auch den Ton, und dies auch dort, wo mir kein neues oder altes klassisches Beispiel vorschwebt." So schrieb Kazinczy am 25. Januar 1827 an seinen Schüler Feremc Toldy, einen romantischen Literaten, der sich später um die Herausbildung einer systematischen ungarischen Literaturgeschichtsschreibung verdient gemacht hat. Was Kazinczy aus der deutschen Klassik lernte, ging in sein Lebenswerk und dadurch in einen wichtigen Abschnitt des kulturellen und literarischen Fortschritts Ungarns ein. Das änderte aber nichts an seiner überlegenen, französischem Geiste verwandten, kritischen Originalität, seiner Fähigkeit zu unterscheiden und auszuwählen, änderte auch nichts an seiner analytischen und farbigen Schreibweise. Jedoch vervollständigte er durch das Studium der deutschen Literatur seine Kenntnisse der griechisch-römischen Klassik im zeitgemäßen Geist. Nachdem er sich von der früheren deutschen Literatur (Gottsched, Adelung usw.) abgewendet hatte, machte er jenen Humanismus zum Maßstab der Ästhetik und der Literatur, dem er in den Arbeiten seiner großen Vorbilder: Winckelmann, Lessing, Klopstock, Herder und, alle überragend, in den von ihm geradezu verschlungenen Werken Goethes begegnet war — nicht des Schöpfers des Faust, der ihm fremd blieb, sondern des Dichters des Clavigo, der Stella, des Verfassers von Hermann und Dorothea, des Meisters der Lyrik, des Dramatikers, dessen Egmont er übersetzt und in dessen Iphigenie er alle Ideale für Leben und Literatur vereinigt fand. Die Art, in der er sich in den schweren Stunden seines Lebens förmlich in das Menschentum der Goetheschen Helden hineinversetzte, die Sorgfalt und die Erregung, mit der er ihre ganze Welt ins Ungarische übertrug und leidenschaftlich interpretierte, all das war in den Augen der Repräsentanten des feudalen Ungarn bloßes abstraktes Schaupiel, trat ihnen aber sofort als gesellschaftliche Wirklichkeit, als aggressive Wahrheit im Kampf um das Gemeinwohl entgegen, als es zum zeitgemäßen geistigen Motiv einer umfassenden Spracherneuerung und Stilreform wurde. Über die individuellen Begegnungen im Bereich des Geistes und des Stils hinaus wurde Kazinczys Umgang mit der deutschen Klassik darum von epochaler Bedeutung und Fruchtbarkeit, weil die Befolgung des Beispiels der größten deutschen Dichtung für ihn und seine Generation den Weg des Kampfes gegen den Feudalismus und für den bürgerlichen Fortschritt freilegte, indem er sich die höchsten Humanitätsideale der Zeit zu eigen machte.
GYÖRGY WALKÓ, B U D A P E S T
Der Bahnbrecher der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung besucht Goethe
Goethe kam mit zahlreichen Ungarn in persönliche Beziehung, doch nur mit einem bedeutenden Vertreter des zeitgenössischen ungarischen literarischen Lebens: dem jungen Ferenc Toldy (1805—1875), dem Bahnbrecher der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung und nachmaligem hochangesehenem Kritiker und Zeitschriftenherausgeber. Kurz nach Beendigung seiner Hochschulstudien — er hatte das Ärztediplom erworben — gab der dreiundzwanzigjährige Toldy 1828 seine erste literaturhistorische Arbeit von Bedeutung heraus, das in deutscher Sprache verfaßte „Handbuch der ungriischen Poesie" 1 , eine systematische Übersicht der ungarischen Literaturgeschichte mit einer umfangreichen Sammlung von Beispielen. Toldy stammte aus einer in Ungarn ansässigen deutschen Familie und hieß ursprünglich Schedel. Den Namen Toldy gebrauchte er anfangs nur als Pseudonym, nahm ihn aber 1847 gesetzlich an. Toldy sandte ein Exemplar seines Handbuchs Goethe zu. In dem Begleitschreiben 2 nannte er sich einen „deutschschreibenden ungrischen Schriftsteller" und kündigte zugleich der Weimarer Exzellenz seine Absicht an, im nächsten Jahr seine Aufwartung zu machen. Goethe verzeichnet den Eingang des Handbuchs und des Begleitschreibens in seinem Tagebuch vom 10. November 1828: „Erhielt durch Hoffmanns: Handbuch der ungarischen Poesie von Franz Toldy mit einem Briefe von Franz Joseph Schedel aus Pest. Dürfte also jenes wohl ein angenommener Name sein." 3 Ein Jahr später registriert Goethe am 4. September 1829 auch den Besuch Toldys in seinem Tagebuch, ohne jedoch vom Literatentum des Besuchers Kenntnis zu nehmen: „Früh hatten mich besucht: Herr Prof. Dr. Hecker aus Berlin, Dr. Schedel aus Pesth, beydes Mediciner." 4 Toldy berichtete in einem ausführlichen, einer Reisebeschreibung gleichkommenden Brief über seine Deutschlandreise seinem „Meister" Ferenc Kazinczy, der führenden Persönlichkeit der ungarischen Spracherneuerung und der wiedererwachenden ungarischen Literatur. Der Besuch bei Goethe ist jedoch in einem einzigen Satz erwähnt: „Die schönsten Tage warteten jedoch in Weimar auf mich, wo mich 1
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Handbuch der ungrischen Poesie. In Verbindung mit Julius Fenyery herausgegeben von Franz Toldy. 2 Bde. Pesth und Wien 1828. Veröffentlicht durch Leo Verö: Goethe und Franz Toldy. Goethe-Jahrbuch. Bd. XXVIII. 1907 S. 252. Weimarer Ausgabe. Abt. III Bd.XI S. 301. Ebenda Abt. III Bd. XII S. 121.
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Goethe höflich (in bona signif.) empfing und mir eine halbe Stunde bei ihm zu verbringen gestattete." 5 Und wie gespannt warteten doch Toldys Schriftstellerfreunde in Ungarn auf das Ergebnis dieses Besuches! „An manchen Stellen deines Briefes schrie ich auf, doch an keiner so sehr, als wo du schreibst, du durftest bei Goethe eine halbe Stunde verbringen und wurdest mit warmer Höflichkeit empfangen", schrieb Kazinczy in seiner Antwort und fuhr einige Zeilen weiter fort: „Ich hoffe, du hast mit Goethe über unsere Sprache und Literatur gesprochen . . . und hättest du ihm doch etwas ungarisch deklamiert, daß er danach den Klang unserer Sprache hätte beurteilen können." 6 Die gespannte Erwartung erwies sich indessen als vergeblich. Weder dem Handbuch noch dem Besuch seines Verfassers war es gelungen, bei dem neunundsiebzigjährigen Goethe Interesse für die Fragen der ungarischen Literatur zu erwecken. Ein Jahrhundert später verbuchte die ungarische literarische Öffentlichkeit diesen Mißerfolg immer noch mit einer gewissen Enttäuschung. Bei der Audienz dürfte der junge Toldy neben seinem Reisegefährten, dem Professor der Medizin, kaum zu Worte gekommen sein, und mit seiner Absicht, Goethe für die ungarische Literatur zu interessieren, erlitt er Schiffbruch. Aus Anlaß des Goethe-Jahres 1932 gedachte Lajos Hatvany im Ton der Resignation dieses erfolglosen Besuches. „Toldy", schrieb Hatvany, „schwieg ein Leben lang über die Einzelheiten seines Besuchs bei Goethe, weil er die Illusionen seiner Freunde mit der Beschreibung der Wirklichkeit nicht zerstören wollte." 7 Toldy hatte tatsächlich geschwiegen und nicht verraten, worüber bei der Audienz gesprochen wurde. Im Brief an seine Eltern 8 , den er deutsch schrieb, steht nur soviel über das, was Goethe sagte: „Er dankte mir für die Zusendung meines Handbuches." Den freundlichen Empfang erwähnt er natürlich auch in diesem Brief nicht ohne Stolz („der uns recht freundlich aufnahm"). Dennoch war es Toldy selbst, der bei aller Wortkargheit als erster den Ton der Enttäuschung angeschlagen hatte. Als sein guter Freund, Mihäly Vörösmarty (1800—1855), einer der bedeutendsten Dichter der ungarischen Reformzeit (1825—1848) und der ganzen ungarischen Literatur, sich bei ihm nach dem Ergebnis seiner Reise erkundigte, erwiderte ihm Toldy: „Ich muß mit einer recht traurigen Antwort dienen . . . Goethe hat sich anscheinend nicht die Zeit genommen, das Handbuch durchzusehen . . . " 9 5
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Kazinczy Ferenc levelezese [Briefwechsel Ferenc Kazinczys]. Bd. XXI Budapest 1911 S. 158. Ebenda S. 186. Lajos Hatvany: Magyar lätogatö Goethenel. A Goethe-ev ele [Ein ungarischer Besuch bei Goethe. Zum kommenden Goethe-Jahr]. Magyar Hirlap, 10. Jan. 1932; vgl. Gyula Földessy: Toldy Ferenc lätogatäsa Goethenel [Der Besuch Franz Toldys bei Goethe], In: Földessy: Tanulmanyok es elmenyek az. irodalomtörtenet, esztetika es filozöfia köreböl [Aufsätze und Erlebnisse aus dem Bereich der Literaturgeschichte, Ästhetik und Philosophie], Budapest 1934 S. 176-179. Mitgeteilt von Leo Verö a. a. 0. S. 253-254. Vörösmarty emlekkönyve [Vörösmarty-Gedenkbuch] Herausgegeben v. Läszlo Czapäry — Szekesfehervär 1900 S. 299.
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Die vom Gefühl der Enttäuschung genährte Mutmaßung Toldys wird jedoch von Goethe selbst widerlegt. Am selben Tag, an dem er den Eingang des Handbuchs verzeichnete (10. November 1828), schrieb Goethe in seinem Tagebuch über die Abendstunden: „Ich las weiter in dem Handbuch der ungarischen Poesie. Auch sodann die Schule der Frommen von Carl Immermann; ein trauriges Geles." 10 Schreibt Goethe: „Ich las w e i t e r . . . " , so heißt das, daß er sich mindestens zweimal das Handbuch vorgenommen haben muß, und er dürfte es dann, nachdem er einen hinlänglichen Einblick gewonnen hatte, einem „traurigen Geles" zuliebe beiseite gelegt haben. Es ist bekannt, daß Goethe erstaunlich schnell las. Und so ist es sehr wahrscheinlich, daß er die deutschsprachigen Teile des Handbuchs tatsächlich gelesen oder zumindest aufmerksam durchgeblättert hat. Von den zwei dicken Bänden des Handbuchs ist nämlich nur ein geringer Teil deutsch geschrieben. Den größten Raum nimmt die ungarisch-sprachige Anthologie ein, nämlich 700 von 921 Seiten. Für diejenigen, die nur deutsch lasen, boten sich nur zwei längere Abschnitte an: als Einleitung die literarhistorische Übersicht, und der Anhang, in dem ein Bruchteil der ungarischen Anthologie in deutscher Übersetzung gegeben wird. Dazu kommen noch die biographischen und sonstigen Anmerkungen in deutscher Sprache. Vom informativen Wert der deutschen Übersetzungen, überwiegend Verse, hatte Toldy selbst keine sehr hohe Meinung; „ . . . aus diesen allein auf den Werth der ungrischen Poesie zu schließen, wäre gefehlt", schreibt er in der Vorrede zu seinem Buch. Hätte also Toldy erhofft, Goethe würde auf Grund der literarhistorischen Zusammenfassung und der Übersetzungen die Qualitäten der ungarischen Literatur erkennen und sich darüber ein einem Erlebnis gleichkommendes Bild machen, wäre er mit sich selbst in Widerspruch geraten, was folgerichtig zu einer Enttäuschung hätte führen müssen. Doch hat Toldy nicht damit gerechnet. Sein Buch wollte nicht nur in die ungarische Literatur, sondern auch in die ungarische Sprache einführen. Er wollte den Leser dafür gewinnen, die Texte im Original zu genießen. In der Vorrede spricht er an erster Stelle von den Inlandsdeutschen, die sich die ungarische Sprache aneignen wollen, als von den zukünftigen Lesern; und auch weiterhin wendet er sich an den „Lehrling", „welcher... zur Lektüre der vorzüglicheren Schriftsteller fortgehen will", und betont erst dann, das Handbuch „ d ü r f t e . . . nicht nur dem Lehrling erwünscht seyn, sondern auch dem nach allseitiger Kenntniß strebenden deutschen Auslande manche willkommene Aufschlüsse über unser nicht gehörig bekanntes, oft mißkanntes literarisches Wirken geben, manche irrige Angaben berichtigen". In der Vorrede wird ausdrücklich betont, daß das Handbuch zugleich die Aufgabe eines Sprachbuches erfüllen soll; diesem Zweck sollen die auch Sprachliches erklärenden Anmerkungen und das Wörterverzeichnis des Anhanges dienen: „Verzeichnis der in diesem Werke vorkommenden, veralteten, selteneren oder neuen Wörter, welche in den gangbarsten Wörterbüchern nicht oder unrichtig erklärt sind." Toldy schwebte demnach ein nichtungarischer Leser vor, der sich mit dem Wörterbuch in der Hand durch die ungarischen Originaltexte durcharbeitete. 10
Weimarer Ausgabe, Abt. III Bd., XI S. 301.
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Einer nationalen Literatur läßt sich nur in der eigenen Sprache nahekommen. Dies war Toldys Auffassung, mit der er zu seiner Zeit nicht allein stand. Weder Kazinczy noch Vörösmarty dachten an die Möglichkeit, die Literatur im Ausland ohne die Propagierung der ungarischen Sprache volkstümlich zu machen. Sie erwarteten von Toldy, er solle das Ausland mit der Schönheit und „Literaturfähigkeit" der ungarischen Sprache bekanntmachen und ihrem Rang unten den Sprachen der europäischen Kulturvölker Anerkennung verschaffen. Schon aus den zitierten Zeilen Kazinczys geht hervor, daß er „den Klang unserer Sprache" Goethe und den anderen deutschen Schriftstellern vorführen wollte, und auch Vörösmarty muß Ähnliches gedacht haben, als er sich bei dem in Deutschland weilenden Toldy erkundigte: „Schreiben Sie mir immerhin, mein Freund, ob Sie einige Aufmerksamkeit für unsere Sprache finden?" 11 Dieser ausdrückliche Wunsch nach einer Sprachpropaganda im Ausland findet seine Begründung auch in der damals ziemlich verbreiteten „sprachästhetischen" Anschauung. Die Theorien der deutschen Ästhetiker und Sprachphilosophen (Garve, Jenisch) beeindruckten auch die ungarischen Schriftsteller. Übrigens war die Lage der ungarischen Sprache in der Konkurrenz der vergleichenden Sprachästhetik nicht gerade günstig. Jenisch zum Beispiel hatte in seinem Buch, in dem er nicht weniger als vierzehn europäische Sprachen auf „philosophisch-kritischer" Grundlage miteinander verglich 12 , die ungarische Sprache nicht berücksichtigt. Kazinczy bedauerte diesen Mangel und hatte vor, einen Preis auszuschreiben f ü r ein Werk über die ungarische Sprache, das als „Supplement zu Jenischs Werk angesehen werden k ö n n t e . . . " 1 3 . Man war sich dessen bewußt, daß die zur finnisch-ugrischen Sprachenfamilie gehörende, unter den indo-europäischen Sprachen ohne Verwandte dastehende ungarische Sprache unbekannt war und hielt deshalb die „Sprachpropaganda" f ü r eine der wichtigsten Aufgaben. Auf Vörösmartys Anfrage antwortete Toldy in klagendem Ton: „Überall denkt man, unsere Sprache sei etwas wie eine arme Tochter der slawischen Mutter." 14 Toldy tat sein Möglichstes, die ungarische Sprache bekanntzumachen: Am 29. Januar 1830 hielt er einen Vortrag „vor mehreren Gelehrten B e r l i n s . . . über den Aufbau unserer Sprache", dabei sprach er auch „über unsere Prosodie" und las „allerlei gereimte und ungereimte metrische Verse" vor. (Ein zustimmendes „Sehr schön!" lösten beim Publikum damals jedoch nur die in der Übersetzung vorgetragenen ungarischen Verse aus.) 1 5 Toldy wünschte, daß der ansehnliche ungarische Teil des Handbuchs im Original gelesen werde, indem er voraussetzte, es geradezu forderte, daß sich der ausländische Leser der ungarischen Literatur zuliebe mit den Elementen der ungarischen Sprache bekanntmache. Demnach muß man Toldy doch darin recht geben, daß Goethe „sich anscheinend nicht die Zeit genommen, das Handbuch durchzu11 12
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Vörösmarty emlekkönyve. S. 299 (s. Anm. 9). D. Jenisch: Philosophisch-kritische Vergleichung und Würdigung von vierzehn . . . Sprachen Europens. Berlin 1796. Kazinczy a. a. O. Bd. XI S. 64. Vörösmarty emlekkönyve. S. 299 (s. Anm. 9). Kazinczy a. a. 0. Bd. XXI S. 250.
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G.Walkó
s e h e n . . . " . Die Zeit hat er sich allerdings nicht genommen, der Intention Toldys entsprechend, die ungarischen Texte mit Wörterbuch und Grammatik zu lesen. Andererseits kann man Toldy nicht den Vorwurf machen, er habe an den greisen Dichter eine absurde Forderung gestellt. Wir kennen Beispiele dafür, daß Goethe sich tatsächlich die Mühe machte, Texte in einer ihm unbekannten Sprache zu lesen. Und diese unbekannte Sprache braucht man gar nicht sehr weit zu suchen, sie ist auch in der geographischen Nähe der ungarischen zu finden. In Goethes Nachlaß finden sich nämlich Blätter, auf die er tschechische Wörter aufgeschrieben hatte, um sie sich einzuprägen. 16 1821 ließ er sich die „Böhmische Sprachlehre" von Karl Ignaz Tham kommen.17 Am 16. August 1824 bat er Riemer, ihm eine tschechische Grammatik zu verschaffen, um die nach Prag an Josef Dobrovsk^ abzusendenden Kopien aus dem Jenenser Kodex „ Antithesis Christi et Antichristi" zu kontrollieren. 18 Es ist bekannt, daß Goethe mit dem tschechischen geistigen Leben enger verbunden war als mit dem ungarischen. Er weilte in seinem Leben siebzehnmal in Böhmen, in Ungarn nicht einmal. Trotz dieser häufigen Berührung mit den Slawen gestand Goethe doch 1825 gelegentlich einer Rezension, daß er „keinen der slawischen Dialekte, ohnerachtet mehrerer Gelegenheiten, sich jemals eigen gemacht noch studiert" habe und „also von aller Originalliteratur dieser großen Völkerschaften völlig abgeschlossen blieb". 19 Diese resignierte Erklärung stammt aus dem Jahr 1825; drei Jahre später, 1828, erhielt er dann Toldys Handbuch, das zum größeren Teil den Anspruch an ihn stellte, „Originalliteratur" in der Originalsprache zu studieren. So lag die Ursache des Mißerfolgs weniger an diesem Anspruch an sich als an dem relativ späten Zeitpunkt: Goethe hatte damals schon auf derlei Experimente verzichtet. Für Goethe kam das Handbuch zu spät. Welches Bild sich Goethe auf Grund der deutschsprachigen Teile des Buches machte, wissen wir nicht. Er las in dem Buch und bedankte sich dafür bei Toldy. Hinter dem höflichen Dank ohne weitere Äußerung kann man natürlich eine negative Kritik vermuten. Goethe hat zum Beispiel die Volkslieder, die er auch schon früher vergebens aus Ungarn erbat 2 0 , im deutschsprachigen Teil des Handbuchs nicht gefunden (sie waren im ungarischen Teil versteckt). Goethes zurückhaltend verschwiegene Kritik kann sich aber höchstens auf das Buch bezogen haben, keinesfalls auf die Literatur. Das Handbuch war mit der ungarischen Literatur nicht identisch. Wir haben immerhin einige Angaben über Goethes Interesse für die Literatur der Ungarn. 21 Es ist also durchaus möglich, daß das 16
J. Urzidil: Goethe in Böhmen. Zürich und Stuttgart 1962 S. 305. Ebenda. 18 Ebenda S. 306. 19 Über Kunst und Altertum. Weimarer Ausgabe Abt. I Bd. XLI T. 2 S. 148; zitiert bei Urzidil a. a. O. S. 306. 20 Nach einer Aufzeichnung von Ján Kollár. Nach Biedermann; Gespräche, zitiert von Gideon Petz: Goethes Beziehungen zu Ungarn. Deutsch-Ungarische Heimatblätter. Jg. 4 (1932) S. 104. 21 Vgl. Vero a. a. O. S. 253 (s. Anm. 2). 17
Toldy besucht Goethe
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Handbuch seine Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grad erregt hat. In Kenntnis der Gewohnheiten des alten Goethe konnte man aber auch in diesem Fall nicht erwarten, daß er sich mit Toldy, der zum erstenmal bei ihm vorsprach, in ein Gespräch über Literatur einließ. Die Beispiele sind nur allzu bekannt, es erübrigt sich, sie anzuführen: In seinem Alter äußerte sich Goethe über literarische Fragen nur vor Eingeweihten, Auserwählten oder erprobten alten Bekannten. Dem Besuch junger Dichter und Schriftsteller begegnete er im allgemeinen freundlich, aber zurückhaltend; und er mied die literarischen Themen, besonders wenn die jungen Besucher mit den Romantikem eine Verbindung unterhielten. Und Toldy hatte mit solchen Kreisen Fühlung, vor und nach der Weimarer Audienz (mit Tieck und A. W. Schlegel). Der Fall jener, die mehr Erfolg bei Goethe hatten, ist kein Gegenbeweis. Man denkt zuallererst an Dobrovsky, abermals ein tschechisches Beispiel. Josef Dobrovsky (1753—1829) hatte um die Begründung der tschechischen Literaturwissenschaft ähnliche Verdienste wie Toldy um die ungarische. Auch Dobrovsky schrieb Werke in deutscher Sprache, unter anderem das grundlegende Werk „Geschichte der böhmischen Sprache und älteren Literatur" (1792). Im Marienbader Tagebuch gedenkt Goethe der Besuche Dobrovskys, und zwar bei drei Gelegenheiten (21., 22., 23. Juli 1823). Zum Besuch Toldys und Doktor Heckers bemerkt er nur: „beydes Mediciner"; im Falle Dobrovsky hingegen: „Von böhmischen und anderen Literaturen, Dokumenten und sonst verwandten Gegenständen sprechend" 22 . Mit Dobrovsky hat also Goethe über Literatur gesprochen, doch war Dobrovsky, den er nicht einmal, sondern dreimal empfing, damals schon kein Unbekannter für ihn, und überdies war Dobrovsky ein bejahrter Mann, der sein Lebenswerk schon hinter sich hatte. Außerdem aber versprach der größere Reichtum der alten tschechischen Literatur, der Goethe nicht ganz unbekannt war, einen ausgiebigeren Gesprächsstoff als die ungarische Literatur. „Die tschechische Nation hatte immer mehr poetischen Geist als wir", bekannte Toldy selbst in der Folge seiner Prager Erlebnisse und fügte hinzu: „Wenn ich einmal Zeit finde, schreibe ich etwas über die alt-tschechische Literatur." 2 3 Toldys wissenschaftliches Gewicht und Ansehen ließ sich zur Zeit der Weimarer Audienz mit dem Dobrovskys nicht vergleichen. Er war ein junger Mann ain Anfang seiner Laufbahn, der gerade die ersten Schritte zu seinem später so ausgedehnten Schaffen auf dem Gebiet der Literaturgeschichte getan hatte. Um für sein Erstlingswerk über die am Anfang des 19. Jahrhunderts aufblühende ungarische Literatur und für seine eigene Person Interesse zu wecken, dazu kam er zu früh zu Goethe. (Sein Handbuch hatte ja nur die ermutigenden Anfänge der in der Reformzeit erneuerten ungarischen Literatur, bei weitem nicht ihren ganzen Reichtum widerspiegeln können.) Zu früh also im Hinblick auf Toldys Laufbahn, zu spät aber im Hinblick auf 22 23
Zitiert bei Urzidil a. a. 0. S. 311. Kazinczy a. a. 0 . Bd. XXI S. 157. — Toldy wurde während seines Aufenthaltes in Prag vor allem von den erst später als Fälschungen erkannten alt-tschechischen Handschriften (Königinhofer Handschrift, Grüneberger Handschrift) beeindruckt.
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Goethes Versuche, Literatur in den Originalsprachen zu lesen: Dieser verfehlte Zeitpunkt erklärt hinlänglich die Erfolglosigkeit von Toldys Besuch. Daß es indessen auch unter den Zeitgenossen solche gab, die ohne übertriebene Illusionen die Umstände des Besuchs bei Goethe beurteilten und von Toldy nicht mehr erwarteten, als er getan hatte, beweist der Brief Vörösmartys. (Der Briefwechsel zwischen Vörösmarty und Toldy im Zusammenhang mit dem Besuch bei Goethe wurde bisher von der Forschung nicht beachtet, obgleich er vieles erklärt.) Toldy berichtete auch Vörösmarty in einem Brief, der verschollen zu sein scheint, über die Audienz. Bekannt ist indessen die Antwort, die er darauf erhielt und seine folgende Replik. Die Meinung Vörösmartys, die er in seinem Antwortschreiben vom Oktober 1829 äußerte, deutet auf die gleichen Ursachen hin, mit denen unsere heutige Forschung den Mißerfolg erklären kann: „ . . . daß man bei einem Mann wie Goethe nicht lange weilen kann, glaube ich wohl; zu ihm kommen aus allen Erdteilen viele Menschen, und er muß die vielen Besuche, selbst wenn er ein Engel wäre, satt bekommen haben, und daß er nicht über Literatur und ganz besonders von der unsrigen sprechen und darüber informiert werden wollte — ist ebenfalls kein Wunder: Er kennt so viel Schönes und Großartiges, daß er sich nicht gern bei Anfängern aufhält. Schreiben Sie mir immerhin, mein Freund, ob Sie einige Aufmerksamkeit für unsere Sprache finden? Allerdings müssen wir uns jetzt noch zufriedengeben, wenn unsere Nation uns einige Aufmerksamkeit s c h e n k t . . . " 2 4 Vörösmarty wußte nichts von den „kühnen Illusionen", die Lajos Hatvany erwähnte. 25 Es war tatsächlich kein Grund zu Illusionen, aber auch nicht zur Enttäuschung, es war der zeitliche Abstand zwischen der Entwicklung der ungarischen Literatur und Goethes Laufbahn, der Toldys Unternehmung in erster Linie scheitern ließ. Es tut jedoch seinem Verdienst keinen Abbruch: E r suchte eine unmittelbare Verbindung mit dem, der das Wort „Weltliteratur" geprägt hatte — im Namen der sich erneuernden, nach weltliterarischen Höhen strebenden ungarischen Literatur. 24 25
Vörösmarty emlekkönyve. S. 298—299. s. Anm. 7.
H A N S H E N N I N G , W E I M A R , UND ANDKAS V I Z K E L E T Y , B U D A P E S T
Dichter und Schriftsteller aus Ungarn in deutschsprachigen Almanachen 1750—1850 Eine
bibliographische
Skizze
Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar besitzen mit ihrer Zentralbibliothek der deutschen Klassik unter anderen eine Sammlung von Almanachen und Taschenbüchern, die zu den bedeutendsten Beständen dieser Art gehört. Rund 3000 Bändchen von etwa 600 Almanach-Reihen aus der Zeit von 1750 bis 1850 stellen die Hauptquelle f ü r nachfolgende Untersuchungen dar. 1 Im Zusammenhang mit der Erhellung der deutsch-ungarischen Wechselbeziehungen auf literarischem Gebiet ist eine Durchsicht der deutschsprachigen Almanache auf das Auftreten von Autoren aus Ungarn nicht uninteressant. Das Ergebnis der Nachforschungen wird hier mitgeteilt. Frühere Arbeiten, die sich mehr oder minder eingehend mit der deutschen, österreichischen und ungarischen deutschsprachigen Almanachliteratur beschäftigen, machten uns auf einige Almanache und Taschenbücher besonders aufmerksam. 2 Leider waren sie aber nicht all© auffindbar. Selbst Almanache, die von Forschern vor dem zweiten Weltkrieg in ungarischen Bibliotheken noch benutzt worden sind und wohl viele Beiträge ungarischer Dichter enthalten, gingen verloren. 3 Unter den Übersetzungen in deutschsprachigen Almanachen sind auch Werke namhafter ungarischer Dichter vertreten. Der Übersetzer ist zumeist Mailäth. Die Almanache spiegeln aber nur einen kleinen Teil der gesamten Übersetzungstätigkeit und der Vermittlung deutscher und ungarischer Literatur in diesem Zeitabschnitt wider. An den deutschsprachigen Almanachen arbeiteten in erster Linie deutschschreibende Dichter des ehemaligen Königreichs Ungarn mit, während Übersetzungen nur in geringem Maße abgedruckt wurden. Die in den Almanachen übersetzten ungarischen Autoren zählen wir mit ihren Beiträgen in alphabetischer Reihenfolge auf: 1
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Die Verfasser stützten, sich ferner auf Hans Köhrings „Bibliographie der Almanache, Kalender und Taschenbücher für die Zeit von ca. 1750—1860". Hamburg 1929. Livia Bazsó: Ungarns deutsche Musenalmanache. Diss. Budapest 1916. — Otto Rommel: Der Wiener Musenalmanach. Leipzig u. Wien 1906. Euphorion. Ergänzungsheft 6. — Béla Pukànszky: A magyarorszàgi német irodalom torténete a legrégibb idoktó'l 1848-ig. [Geschichte des deutschen Schrifttums in Ungarn von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1848], Budapest 1926. Unerreichbar blieben beispielsweise der „Almanach einiger Freunde ungerischer Musen" (Preßburg 1800), der „Almanach für edle Herzen" (Pest 1803), der „Vaterländische Almanach für Ungarn" (Pest 1820) usw.
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Dayka [Dajka], Gabor: Verborgenes Leid. Gedicht. Aglaja, 1821. S. 167-169. Übers, von J. Mailäth. Josika, Miklös: Die Perle der Mohilen. Erzählung. Iris, 1840. S. 2 7 1 - 2 9 2 . Übersetzer unbekannt. Kazinczy, Ferenc: Auf dem Grabstein meiner Tochter Iphigenie von Kazinczy. Gedicht. Musen-Almanach von und f ü r Ungarn, 1808. S. 119—120. Übers, von K. G. Rumy. Das Versprechen. Gedicht. Vaterländischer Almanach f ü r Ungarn, 1821. S. 50 bis 51. Übers, von J. Mailäth. Kisfaludy, Karoly: Andor und Juczi. Erzählung. Huldigung den Frauen, 1829. S. 335-350. Übers, von J. Mailath. Kisfaludy, Sandor [Himfy]: Aus dem Ungrischen des Himfy. Vaterländischer Almanach für Ungarn, 1821. S. 115. Übers, von A. F. Halitzky. Die Sänger der Liebe. Himfi's 13. Lied. — Vergebliche Sehnsucht. Himfi's 57. Lied. Aglaja, 1821. S. 167-169. Übers, von J. Mailäth. Magyarische Liebeslieder, aus Kimpfyr [Himfys] klagender und beglückter Liebe übersetzt. Huldigung den Frauen, 1825. S. 145—148. Übers, von J. Mailäth. Kölcsey, Ferenc: Die Schatzkammer in den Karpaten. Erzählung. Iris, 1840. S. 369 bis 459. Übersetzer unbekannt. Töth, Läszlö: Liebe und Freundschaft. — An Fräulein R***. — Der spielende Eros. Gedichte. Vaterländischer Almanach für Ungarn, 1821. S. 53—56. Übers, von J. Mailath. Viräg, Benedek: Der Vogel im Käfig. Gedicht. Vaterländischer Almanach für Ungarn, 1821. S. 5 1 - 5 2 . Übers, von J. Mailäth. In diesem Zusammenhang erwähnen wir noch Mihäly Fazekas (1766—1828), dessen antifeudales Gedicht „Ludas Matyi" (Matz Gänseling) die Dichtung „Der Döbröger Bauernmarkt" G. Gaals anregte. (Ceres, 1823. S. 56-61.) Auf dieses Gedicht kommen wir noch zurück. Im folgenden werden die Autoren aufgezählt, die im Gebiet des damaligen Ungarn geboren wurden und tätig waren, und die in deutschsprachigen Almanachen mit eigenen Werken oder mit Übersetzungen in Erscheinung traten. Dabei wurde bei den einzelnen Dichtern nicht unterschieden, ob sie der ungarischen oder österreichischen, slowakischen etc. Nationalliteratur zugezählt werden müssen. Eine derartige Einschätzung dieser Schriftsteller setzt voraus, daß ihr ganzes Leben und Lebenswerk, die historischen und gtesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Epoche untersucht werden. Diese Untersuchung ist bisher in Hinsicht auf die betreffenden Schriftsteller weder von der ungarischen Literaturgeschichte noch von der Literaturwissenschaft der betreffenden Völker durchgeführt worden. Eine solche Analyse würde natürlich den Rahmen und die Aufgaben vorliegender Arbeit überschreiten. Bei einer endgültigen Klärung dieser Frage darf aber die deutschsprachige Almanachliteratur auf keinen Fall unberücksichtigt bleiben. Die Aufzählung der Dichter erfolgt in der zeitlichen Reihenfolge ihres ersten Beitrags, der isich ermitteln ließ. Anonyme und halbanonyme Beiträge wurden nicht
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aufgenommen. Die Vornamen all dieser Dichter bringen wir in deutscher Form, wie sie auch in den Almanachen stehen. Da es sich um solche Autoren handelt, die nach ihrer Abstammung und Tätigkeit und ihrem dichterischen Rang recht verschieden und auch wenig bekannt sind, schien es uns angebracht, den Namen einige Hinweise auf das Leben und Schaffen beizufügen.4 Batthyany [Batthyan, Batthyani], Ludwig Fürst von (1753—1806): Kammerherr. Andere Angaben über seine literarische und sonstige Tätigkeit sind nicht bekannt. [K.] Wienerischer Musenalmanach, 1785: Erzählung. [Gedicht]. S. 45—47. — Der Abend. [Gedicht]. S. 102-104. Dass., 1789: Als eine Dame dem Verfasser ein Blatt von dem Blumenstock abpflückte, der an ihrem Fenster blühte. [Gedicht]. S. 72—73. Dass., 1790: Leiden, Trost und Dank, ein Lied. Mit der Musik auf das Fortepiano von Herrn Anfossi. S. 69—70. Dass., 1793: Die Gränzen der Pflicht. Nach Hagedorn. [Gedicht]. S. 74—76. Die lyrischen Versuche Batthyànys sind im Stile einer spielerischen und idyllischen Poesie gehalten. Als Probe führen wir an 5 : Ich war ein kleines Blättchen nur, Wie tausende auf mancher Flur Wohl ungepflogen grünen, Doch mir gewährte das Geschick Vor tausenden ein stolzes Glück, Und gab mich Wilhelminen: Sie nahm mich in ihr Kämmerlein, Da könnt' ich mich beym Sonnenschein Den ganzen Tag erquicken; Doch Abends, da die Sonn' entwich, Kam sie, und ich erquickte mich Wohl mehr an ihren Blicken. 4
Unsere Quellen waren: József Szinnyei: Magyar irók élete és munkài. [Leben und Schaffen der ungarischen Schriftsteller], 1 - 1 4 . Budapest 1891—1914. [Im weiteren: Sz.] — B. Pukanszky, a . a . O . [Im weiteren: P.] — Béla Kempelen: Magyar nemes Csalàdok. [Adelige Familien Ungarns]. 1—11. Budapest 1911—1932. [Im weiteren: K.] — Dezsó Szabó: A herceg Festetics-csalàd torténete. [Geschichte der Familie Herzog Festetics]. Budapest 1928. [Im weiteren: Sza.] — Constant v. Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 1—60. Wien 1856—1891. [Im weiteren: W.]. - Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. 2. Aufl. Bd. 6—8 u. 12. Dresden 1898-1921. [Vgl. vor allem im Bd. 7 den § 298. N = Ungarn. S. 3 7 - 1 2 9 , darin über die Almanache S. 47—53; P = Siebenbürgen. S. 131—160; ferner im Bd. 12 den § 336. M = Ungarn u. Siebenbürgen. S. 4 0 8 - 4 1 3 . — Im weiteren Goecieke 7, 37 usw.], " „Als eine D a m e . . . " Wiener Musenalmanach. 1789. S. 72—73.
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168 Wie lieblich wallte durch die Luft Der nachbarlichen Rose Duft Zur heitern Morgenstunde, Doch wehte, wenn von ungefähr Sie näher kam, weit lieblicher Der Hauch aus ihrem Munde. Hin ist mein Stolz, hin ist mein Glück! Nun weht kein Hauch, nun strahlt kein Blick Für mich von Wilhelminen. Nun traur' ich armes Blättchen hier, Welch andres Kräutchen wird bey ihr An meiner Stelle grünen?
Schok, Johann (Lebenszeit unbekannt): Aus Preßburg. Verfasser eines in Preßburg herausgegebenen Gelegenheitsgedichtes (1779). [Sz., P.] Preßburger Musenalmanach, 1785: Kauniz's Porträt. S. 1. — Husarenlied. S. 2 bis 4. — Beitrag zur Geschichte. S. 9—12. — Avanzement. S. 22. — Nachahmung des Boileau. S. 42. — An den Verfasser des Horus. S. 49. — Frage. S. 53. — Rondeau. S. 70. - Epistel. S. 8 1 - 8 4 . — Trost wider den Tod. S. 9 7 - 9 8 . Messerschmids Grabschrift. S. 105—106. [Gedichte]. Seivert, Johann (1735 Hermannstadt/Siebenbürgen — 1785 Szent-Erzsebet/Siebenbürgen): Studierte drei Jahre an der Helmstedter Universität. 1757 kehrte er in seine Heimat zurück, unterrichtete im Gymnasium seiner Geburtsstadt, wurde dann Pastor in Szent-Erzsebet. Verfasser mehrerer historischer und geographischer Arbeiten. Seine Gedichtbände erschienen in Koburg (Siebenbürgische Kleinigkeiten, 1757), in Frankfurt und Leipzig (Freimüthige Gedanken von Gespenstern, 1757) und in Preßburg (Hypochondrische Einfälle, 1784). [Sz., Goedeke 7, 141-142] Preßburger Musenalmanach, 1785: Die Wildschuren. S. 25. — Pätin. S. 37. — Der Prinz und der Dorfrichter. Eine dänische Anekdote. S. 57. — An die Spinne. S. 99. [Gedichte]. Tekusch, Johann Michael (1764 Preßburg — 1813 Brünn): Studierte drei Jahre an den Universitäten Göttingen und Jena, unterrichtete dann in Preßburg. 1803 wurde er zum Pfarrer in Brünn gewählt. Schrieb theologische, historische Werke und Schulbücher in deutscher und lateinischer Sprache. Gab den „Preßburger Musenalmanach auf das Jahr 1785" heraus. [Sz., P., Goedeke 7, 58] Preßburger Musenalmanach, 1785: Der Einzug. S. 5—7. — Lied eines Mädchen. S. 1 3 - 1 5 . - Sinngedicht. S. 15. - Virgil an Blumauer. S. 3 3 - 3 7 . - An Händel. Den 24. Junii 1784. S. 38. — An Friedrich, den Grauen. S. 4 4 - 4 5 . — Kleon S. 49. — Bis dat, qui cito dat. S. 56—57. — Das Ende eines Jünglings, der unter
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seinem Fleiße erlag. S. 71—74. — Der taube Hans. S. 78. — Antwort auf die Epistel. S. 85—88. — Das Mädchen an einen schönen Schmetterling. S. 92—93. — Klage eines Mädchens über ihren gebrochenen Fächer. Eine Aufgabe von S . . . H . . . S. 9 4 - 9 6 . — Die Trauerode. S. 100-104. - An Mad. T.**, die sich in Kupfer wolte stechen lassen. S. 107. [Gedichte]. Bredeczky, Samuel (1772 Jakobsau/Komitat Säros — 1812 Lemberg): Von 1769 an studierte er an der Jenaer Universität, besuchte Goethe, Schiller, Herder und Wieland in Weimar. Goethe schenkte ihm ein Exemplar von „Hermann und Dorothea". War nachher im Ödenburger und Wiener evangelischen Gymnasium tätig, wurde dann nach Polen berufen und starb als Superintendent in Lemberg. Seine typogaphischen und statistischen Bücher waren in Deutschland wichtige Informationsquellen über Ungarn. [Sz., P., Goedeke 7, 96—97] Musenalmanach von und für Ungarn, 1801: Vaterland. S. 15—17. — Grabschrift eines Tabakrauchers. S. 134. — Die Gans und die Ente. S. 141. [Gedichte]. Gotthard, Michael (1756 Topschau — ?): Seine erste Ausbildung erhielt er in Leutschau und Miskolc, wo er auch ungarisch lernte. Seit 1780 besuchte er die Universität zu Wittenberg, später wurde er Pastor in Wagendrüssel und Iglau. Schrieb Predigten und Gelegenheitsgedichte und übesetzte eine wichtige Quelle aus der Türkenzeit ins Deutsche. [Sz., Goedeke 7, 9 2 - 9 3 ] Musenalmanach von und für Ungarn, 1801: An den Mond. [Gedicht]. S. 62—66. Halitzky [Haliczky], Andreas Friedrich (1753 Frauenmarkt/Komitat Hont — 1830 Pest): Studierte in Wien Theologie und Pädagogik, war danach Lehrer in verschiedenen Städten. Im Jahre 1792 wurde er Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Pester Universität. Schrieb Gelegenheitsgedichte und -reden, machte sich auch als Übersetzer naturwissenschaftlicher Werke verdient. [Sz., P., Goedeke 7, 6 4 - 6 5 ] Musenalmanach von und f ü r Ungarn, 1801: Anfang und Ende. S. 31. — Ode auf die Ankunft Ihrer K. Hoheit Alexandra Paulowna zu Ofen. S. 33—34. — Gebet an die Muse. S. 35—36. — Ode auf den Tod des Grafen Joseph Teleki von Szek. S. 9 2 - 9 4 . — An die Rose. S. 96. [Gedichte], Musenalmanach von und für Ungarn, 1804: Epistel an Ign. Fröhlich. Pest, d. 1. Mai 1795. S. 33—34. — An den Claudius. S. 4 0 - 4 1 . — Der trauernde Olympus. S. 91—92. — Ode an Elise. S. 101. — Gleichnis aus Ovids 15. Buche der Verwandlung. S. 142. [Gedichte], Vaterländischer Almanach für Ungarn, 1821: Die menschlichen Plagen. S. 64 bis 65. — An Herrn D. v. G. S. 113. — Aus dem Ungarischen des Himfy [von Sändor Kisfaludy], S. 115. - Ein Gleichniß. S. 132-133. - Die Dauer der Freundschaft. S. 137-139. [Gedichte],
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Lübeck, Johann Karl (1770 Bösing — 1814 Ipolysäg)' Studierte in Preßburg und an der Jenaer Universität. Nach Reisen durch ganz Deutschland bestand er in Wien das medizinische Examen und war in verschiedenen Städten, zuletzt in Pest und Ipolysäg, als Arzt tätig. — Verfasser vieler medizinischer und ökonomischer Werke. Seine „Toilette der Grazien, oder die Kunst, die Schönheit der Damen zu e r h a l t e n . . . " erschien bis 1837 in drei Auflagen. Er gab den „Almanach einiger Freunde ungerischer Musen für das Jahr 1800" (mit 40 eigenen Gedichten) und das „Patriotische Wochenblatt für U n g a r n . . . " (1804) in Pest heraus. [Sz., P., Goedeke 7, 102] Musenalmanach von und f ü r Ungarn, 1801: An Vally. Um Mitternacht. S. 17 bis 19. - Das Glück der Liebe. S. 3 0 - 3 1 . - Nach Bouffiers. S. 45. — Meine Freude. S. 55. — An die Einzige. S. 94—96. — Beim Abschied. S. 97. — Einladung. S. 128-130. - Die Ephemere. S. 139—140. - Husarenlied. S. 145-148. - Die vier Lebensperioden der Frauen. S. 153. — Epistel an Rösler. S. 163—167. [Gedichte]. Dass., 1804: Die Fäden des Lebens. S. 2 3 - 2 4 . - Die Laune. S. 3 5 - 3 7 . - Vorsatz. S. 66—69. — Die Tagesschönheiten. S. 97. — Die Gebote der Liebe. S. 105. - Sonnenuntergang. S. 135-136. - Der Bettler. S. 143-144. [Gedichte]. Nitsch, Karl Daniel (1763 Preßburg - 1808 Sarospatak): Studierte im evangelischen Lyzeum seiner Geburtsstadt Die längste Zeit seines Lebens verbrachte er als Hauslehrer bei verschiedenen adeligen und bürgerlichen Familien. 1788—91 studierte er in Göttingen, im Jahre 1801 wurde er Professor an der theologischen Hochschule zu Sarospatak. — Außer mineralogischen und topographischen Werken schrieb er eine deutsche Grammatik und Sprachlehre in ungarischer und lateinischer Sprache. Seine zweibändige Gedichtsammlung erschien in Leipzig im Jahre 1804. [Sz., P., Goedeke 7, 74—75] Musenalmanach von und für Ungarn, 1801: Prolog für das Gesellschaftstheater des Fürsten G. S. 4—9. — Agnes. S>. 26—27. — Lied. S. 2 7 - 2 8 . — Auf dem Umschlag bei Zurücksendung geliehener Bücher. S. 66—67. — Epistel an die Fr. G. Karwinszka geb. Freyin von Gleichen. S. 117—120. — Auf Josephine. S. 121—122. — Das alte Lied. S. 131—132. — Das beraubte Vogelnest. S. 144 bis 145. [Gedichte]. Dass., 1804: Die Fr. Marquisin Cusani. S. 48—51. — Die Unbekannte. S. 72—73. - An Wieland. S. 9 5 - 9 7 . [Gedichte], Schauff, Johann (1757 Hermanmestec/Böhmen — 1812 Preßburg): Zeichenlehrer in Preßburg. Verfasser mehrerer Werke über die Baukunst. [Sz., P., Goedeke 7, 7 0 - 7 1 ] Musenalmanach von und für Ungarn, 1801: Auf dem Umschlag einer Anleitung zum Zeichnen. [Gedicht]. S. 130. Schedius, Ludwig (1768 Raab — 1847 Pest): Studierte in Ödenburg und Preßburg, danach in Göttingen. 1791 kehrte er in
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seine Heimat zurück, und ein Jahr später wurde er zum Professor für Philologie und Ästhetik ernannt. Auch als Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und der Kisfaludy-Gesellschaft nahm er an der Erneuerung des ungarischen literarischen und wissenschaftlichen Lebens intensiv teil. — In vielen Werken machte er sich als Vermittler zwischen der deutschen und ungarischen Kultur verdient. [Sz., P., Goedeke 7, 6 0 - 6 1 ] Musenalmanach von und f ü r Ungarn, 1801: Lied der Minnesänger. S. 57. — Chorgesang bei der Feyer des Namensfestes Ihrer K. Hoheit Alexandra Paulowna auf einem deshalben von den Pester Bürgern gegebenen Balle, den 6. Mai 1800. S. 58—59. — An I. K. Hoheit Alexandra, Im Namen der Masken, welche die verschiedenen Nationen Ungarns vorstellten den 6. Mai 1800. S. 123—124. [Gedichte]. Dass., 1804: Fragment aus einem Oratorium: Das Weltgericht. S. 25—33. — An seine Exzellenz des Grafen Franz Szecheny. S. 75—76. — An H. D. v. G. zu seinem Hochzeitsfeste im Aug. 1793. S. 98—100. [Gedichte]. Vaterländischer Almanach f ü r Ungarn, 1821: Albrecht Dürer der Alte. Skizze. [Prosa], S. 8 6 - 9 9 . Schwarz, Johann Michael (1774 Güns — 1858 Eperies): Studierte in ödenburg, dann in Wittenberg und Jena. Seit 1800 war er Pastor in Eperies. Verfasser theologischer und didaktischer Schriften. [Sz.] Musenalmanach von und f ü r Ungarn, 1801: Die Lästerzunge. S. 61. — Der kluge Alte. S. 70. [Epigramme]. Thorwächter, Andreas (um 1760 Hermannstadt/Siebenbürgen— 1815 Großpolden/ Siebenbürgen): Erhielt die erste Ausbildung in seiner Vaterstadt. Später studierte er in Neumarkt und Jena. War dann in verschiedenen siebenbürgischen Ortschaften Pfarrer. — Schrieb Predigten und moralisch-didaktische Werke, besaß eine wertvolle Handschriftensammlung. [Sz., Goedeke 7, 151] Musenalmanach von und für Ungarn, 1801: Die Lüge. S. 81—83. — Myrtha. Aus dem Französischen. S. 157—158. [Gedichte]. Bexheft, Johann Konrad (1766 Eperies — 1825 Großschlagendorf): War Pfarrer in verschiedenen Ortschaften der Zips. Verfasser eines Gelegenheitsgedichtes und einer Predigt. [Sz., Goedeke 7, 66] Musenalmanach von und für Ungarn, 1804: Wiegenlied. S. 51—53. — Am ersten Jahrestag meiner Vermählung. S. 74. — An die Hoffnung. S. 128—132. — An Gott vor dem Altar der Freundschaft. S. 145—146. [Gedichte]. Wir zitieren die erste Strophe seines Gedichtes „An die Hoffnung", das zweifellos unter dem Einfluß der Schillerschen Hymne „An die Freude" entstanden ist:
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H. Henning/A. Vizkelety Himmelstochter! unsres Lebens Freundlichste Begleiterin; Holde Hoffnung! alles Strebens, Alles Wirkens Königin. Dir nur huldigen wir alle, Denn dein süßer Zauber schenkt Zucker uns zu jeder Galle, Womit uns Fortuna tränkt.
Glatz, Jakob (1776 Deutschendorf - 1831 Preßburg): Im Gymnasium zu Kaisermarkt unterrichtete ihn der berühmte Pädagoge J. Genersich (s. diesen). Um Ungarisch zu lernen, wurde er nach Miskolc geschickt. Danach studierte er in Preßburg und Jena. Einige Jahre verbrachte er in Schnepfenthal bei Christian Gotthilf Salzmann; war dann Lehrer und Pfarrer in Wien. — Glatz war der bedeutendste pädagogische Schriftsteller seiner Zeit in Ungarn, der auch in Deutschland großen Widerhall fand. Seine 97 selbständigen Werke erschienen außer in Preßburg und Wien in Schnepfenthal, Leipzig, Gotha, Altenburg, Altona, Dresden, Fürth, Jena, Frankfurt a. M., Frankfurt a. d. 0., Nürnberg, Augsburg, Tübingen, Amsterdam, Berlin und Aarau. [Sz., P., Goedeke 7, 8 4 - 9 2 ] Musenalmanach von und für Ungarn, 1804: Bedingung. S. 13. — Erinnerung an Elisen. S. 2 0 - 2 2 . — Um Mitternacht. S. 56—57. - Der Deutliche. S. 60. Das Mädchen mit der Rose. S. 71. — Zuruf. S. 73. — Mädchenerziehung. S. 81. — Lebensvernichtung. S. 86. — Herzliche Bitte. S. 94—95. — Gutes Kennzeichen. S. 100. - Vollendete Kraft. S. 112. - Verabschiedung der Elegie. S. 122-124. - Wallende Geister. S. 141-142. [Gedichte]. Rösler, Johann Christoph (1773 Preßburg - 1837 Ofen): Besuchte das evangelische Lyzeum seiner Heimatstadt, studierte dann in Wittenberg und Göttingen. Danach wurde er Bibliothekar des Freiherrn Gabor Prönay zu Acsa; war eine Zeitlang an der ökonomischen Hochschule „Georgikon" in Keszthely tätig. — Seit 1800 gab er in Ofen mehrere deutschsprachige Zeitungen heraus (u. a. „Vereinigte Pesther-Ofner Zeitung", 1800—1837). Außer Gelegenheitsgedichten verfaßte er die Geschichte von Acsa und eine Studie über die ungarischen Naionaltrachten. [Goedeke 7, 83—84] Musenalmanach von und für Ungarn, 1804: An Lübeck. S. 11—13. — Der Dichter an seine Verächter. S. 16—22. — Eigene Welt. S. 38—40. — Denkzeichen in Voß Luise. S. 4 1 - 4 2 . — An Cs. S. 42. — An meine Fortuna. S. 54—56. — Der Weinberg bei Acsa. S. 57—58. — Tokayer-Lied. S. 62—65. — Einsamkeit. S. 69—71. — Der Pilger. S. 76—79. — Schaukellied. S. 8 2 - 8 4 . — Fritz an sein verabschiedetes Steckenpferd. S. 84—86. — Sehnsucht. S. 92—94. — Meinem Mädchen. S. 101—104. — Lied im Kreise toleranter Lebensfreunde. S. 106—110. - Epistel an Josephi. S. 116-122. — Mein Täubchen. S. 125—128. - Erinnerungen an F. Th.v.P. S. 132-135. - Lob der Melone. S. 137-140. [Gedichte].
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Vaterländischer Almanach für Ungarn, 1821: Der Rabe und der Bauer. S. 56 bis 57. — An meine Nachtigall. S. 135—136. — Rechtfertigung. S. 142—143. — Der Schutzgeist. S. 155—156. [Gedichte], Asböth, Johann (1768 Tschobing/Komitat Eisenburg — 1823 Keszthely): Besuchte das Gymnasium in Ödenburg und die Universität zu Göttingen, unterrichtete dann in Leutschau und Kaisermarkt. Seit 1801 war er Direktor der ökonomischen Hochschule „Georgikon" zu Keszthely. — Schrieb Gelegenheitsgedichte und -reden. Seine naturwissenschaftlichen und theologischen Studien befinden sich in der Handschriftensammlung der Szechenyi-Nationalbibliothek zu Budapest. [Sz., Goedeke 7, 67—68] Musenalmanach von und für Ungarn, 1808: Gesang der Comtesse Sidonia Festetics von Tolna bey der feyerlichen Einweihung der, der heiligen Sophia gewidmeten Hofskapelle zu Keszthely... 1806. S. 23—25. — Lied, wodurch das Georgikon zu Keszthely den hohen Neuvermählten, dem Grafen Elias A l m ä s y . . . und Sidonia gebornen Gräfinn Festetics . . . am 2. Mai 1806 seine Verehrung bezeigten wollte. S. 44—45. [Gedichte]. Genersich, Johann (1761 Kaisermarkt — 1825 Wien): Als Kind erlernte er die ungarische und slowakische Sprache in Debrecen und im Komitat Gömör. Studierte in Preßburg und Jena. Das Lyzeum seiner Heimatstadt wurde durch seine Tätigkeit in ganz Oberungarn berühmt. Seit 1821 unterrichtete er an der evangelischen Hochschule zu Wien. — War als pädagogischer Schriftsteller bedeutend. [Sz., P., Goedeke 7, 76—77] Musenalmanach von und f ü r Ungarn, 1808: An das Grab. S. 21. — Abhandlung von dem Einfluß der Musik auf die Geistesbildung. S. 62—68. — Uiber Lucians Charon oder die Weltbeschauer. S. 131—149. [Gedichte]. Gruber, Karl Anton (1760 Szeged - 1840 Preßburg): Nach seinen Studien ließ er sich eine Zeitlang in Wien nieder und fand als Lyriker im Freiherm Friedrich Reczer einen Mäzen. Dieser empfahl ihn bei Wieland und August Böttiger. Danach führte Gruber ein abenteuerliches Leben, war Offizier, Schauspieler, Hauslehrer und schließlich Bibliothekar des Grafen Apponyi. — Verfaßte viele deutsche Dramen und Idyllen, auch mehrere Studien über die ungarische Sprache. [Sz., W., Goedeke 7, 71—73] Musenalmanach von und für Ungarn, 1808: Die Musik. S. 16—17. — Dem Freyherrn von Gemmingen zur Namensfeyer. S. 28—29. [Gedichte], Marienburg, Lukas Josef (1770 Blumenau bei Kronstadt — 1818 ?): 1789—91 besuchte er die Universität zu Jena. Nach dem Abschluß seiner Studien wurde er Rektor im Gymnasium seiner Heimatstadt, danach Pfarrer in verschiedenen siebenbürgischen Städten. Wurde zweimal zum Mitglied der Jenaer Mineralogischen Gesellschaft gewählt; auf beiden Urkunden steht Goethes Unterschrift. — Schrieb historische, naturwissenschaftliche Werke und Schul-
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bûcher. In seiner deutschen Stilistik (Grundlinien des deutschen Styls. Bd. 1—4. Leipzig, Erfurt 1796—97) vertrat er die Prinzipien Adelungs. [Sz., P., Goedeke 7, 153-154] Musenalmanach von und f ü r Ungarn, 1808: Gedichte in kronstädtisch-siebenbürgischer [deutscher] Sprache. 1. Trinklied. — 2. Das höchste Gut der Männer. — 3. Parodie auf die Opernarie „Ihr Männer nehmt euch mit den Weibern in Acht, usw." S. 50—55. Rumy, Karl Georg (1780 Iglau - 1847 Gran): Im Kaisermarkter Gymnasium war er Genersichs Schüler. Ungarisch lernte er an der reformierten Hochschule zu Debrecen, setzte seine Studien in Göttingen fort (1800). Unterrichtete danach in verschiedenen Städten Oberungarns. Zu dieser Zeit trat er in engte freundschaftliche Beziehungen zu Kazinczy, der ihm etwa 100 Briefe schrieb. Keszthely, Preßburg und Wien waren die nächsten Stationen seines Lebens. 1824 trat er zum Katholizismus über, danach wurde er Professor der Rechtswissenschaft in Gran. — Gehört zu den bedeutendsten Polyhistoren und fruchtbarsten Schriftstellern des damaligen Ungarn. [Sz., P., Goedeke 7, 104-106] Musenalmanach von und f ü r Ungarn, 1808: Probe einer Uibersetzung der Alcestis des Euripides. S. 55—60. — Proben von deutschen Übersetzungen arabischer Gedichte. S. 60—62. — Epigramm auf eine gefallene Jungfrau. S. 81. Aurora, 1827: Der Schulmeister zu Czinkota und der König Matthias Corvinus. Eine Ungarische Sage. Dem Magyarischen nacherzählt. S. 240—247. Schmitz, Johann Georg (1765 Kaisermarkt — 1826 Bielitz) Studierte an der Greifswalder Universität. War Lehrer und Pfarrer in Oberungarn. 1806 wurde er zum Pfarrer in Bielitz (Schlesien) gewählt. Er starb als Superintendent von Mähren und Schlesien. — Schrieb Predigten und Gelegenheitsgedichte. [Sz., Goedeke 7, 103-104] Musenalmanach von und f ü r Ungarn, 1808: An einen Hagestolzen. 1799. S. 20 bis 21. — Der Wechsel der Jahreszeiten. S. 25—28. — Dank-Adresse an meinen Arzt und Freund, Herrn Flittner, Comitatschirurgus in der Zips. 1803. S. 30—32. — Die Statution zu N. in Ungarn. 1802. S. 35—40. — An ein Gelehrtes Frauenzimmer. S. 43. — An meinen Freund, Johann Samuel Fuchs, Professor der Philosophie am ev. Gymnasium in Leutschau, bey dessen Hochzeitfeyer 1798. S. 45—47. — Ode auf seine k. k. Hoheit Joseph, Erzherzog von Österreich... bey Gelegenheit Höchstdero Ankunft zu Großlomnitz in der Zips, im August 1806. S. 4 7 - 5 0 . [Gedichte]. Unger, Johann Karl (1771 Rissdorf/Zips - 1836 Wien): Wurde erster Direktor des Theresianums zu Wien. Seine Tochter Karoline war die Verlobte Lenaus. — Seine Gedichtbände, Reisebeschreibungen, historischen und landwirtschaftlichen Werke sind in Wien erschienen. [Sz., W., Goedeke 7, 99-100]
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Musenalmanach von und für Ungarn, 1808: Haus Könnend, oder die Weihe für das Vaterland. Eine Ballade. S. 17—20. — Epistel an Selie nach einer Redoute zu Wien. [Gedicht]. S. 3 2 - 3 4 . Goal, Georg (1783 Preßburg - 1855 Wien): Der erste bedeutende Entdecker des ungarischen Volksmärchens und Vermittler zwischen der deutschen und ungarischen Literatur. — Studierte zu Waizen, Erlau, Preßburg, Pest und Wien. Wurde Ökonom, dann Bibliothekar des Herzogs Esterhazy. — Seine deutschen Gedichte sind in Dresden (1812) erschienen. Übersetzte u. a. ungarische Dramen, Märchen, Sagen und Sprichwörter ins Deutsche. Auch die vergleichende Märchenforschung in Ungarn ist in ihren Anfängen mit seinem Namen verbunden. [Sz., P., Goedeke 7, 110—111] Selam, 1817: Emm's Thränen. Romanze. S. 5 6 - 6 0 . - Alter Brauch. S. 2 6 7 - 2 6 8 . — Scherz und Ernst. S. 268. — Warnung. S. 268. — Glückliche Verirrung. S. 269. — Trauer der Blume. S. 269-270. — In Fanny's Stammbuch. S. 270 bis 271. [Gedichte]. Aglaja, 1820: Sängerlohn. Eine Ballade. S. 282-285. Taschenbuch vom K. K. privilegierten] Theater in der Leopoldstadt. ([2. Titel]: Erato), 1821: Die rothe Ziege. [Gedicht]. S. 1—9. Feierstunden, 1821: An Lina's Geburtstag. S. 364-366. - Die Wohlthat. S. 367 bis 368. - Die Wunder der Dichtung. S. 3 6 8 - 3 7 0 . [Gedichte]. Aglaja, 1822: Die treue Magd. S. 139-144. — Rache der Nymphe. S. 184—193. [Balladen], Ceres, 1823: Der Döbröger Bauernmarkt. [Gedicht]. S. 56—61. Huldigung den Frauen, 1823: Impromptu. [Gedicht], S. 1—2. Almanach Dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande, 1824: Simon Kemeny. Ein vaterländisches Original-Drama. S. 175—250. Aurora, 1825: Cabestaing. Erzählung. S. 48—59. Huldigung den Frauen, 1825: Liebesklage. Nach dem Spanischen des Francisco de la Torre. [Gedicht], S. 9 7 - 9 8 . Philomele, 1825: Aphorismen. S. 246—251. Huldigung den Frauen, 1828: An M. H. [Gedicht]. S. 296. Oesterreichischer Musen-Almanach, 1840: Die Irokesen. [Gedicht]. S. 239—243. Von den genannten 20 Dichtungen Gaäls, die in deutschsprachigen Jahresanthologien veröffentlicht wurden, zitieren wir die durch Mihaly Fazekas 6 angeregte Dichtung, die in der „Ceres" von 1823 auf den Seiten 56—61 erscheint: 6
„Ludas Matyi" von Mihäly Fazekas greift ein antifeudales ungarisches Volksthema auf. Das ungarische Original wurde in Wien (1815) von Ferenc Kerekes und zum zweiten Mal wieder in Wien (1817) von Jözsef Märton herausgegeben.
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H. Henning/A. Vizkelety Der Döbröger Bauernmarkt. Aus Matz Gänseling, von Georg von Gaal. — Traun, ich muß gestehen: Wer sich noch nie im Ungerland Auf einem Bauernmarkt befand, Der hat noch nichts gesehen. O lieben Leute! denkt ihr euch — Wenn euch ein Bild voll Saft und Kraft Zu fassen noch nicht ganz erschlafft, Ja, denkt ihr eins, wies weder Brauer, Noch Breughel noch Ostad' im Schauer Der regsten Künstlerwuth (und hätte Auch jeder in die Wette Ins hellste Fett sein Farbenbrett Und seinen Pinsel eingetaucht,) Mit kräft'germ Schmalzesduft beschmaucht J a Eins auf Leinwand hingehaucht; Ein Bild, so voller Lebensspur Und rein natürlicher Natur, Daß Zeuris [!] Traubenwunder Nur schlechter Plunder Dagegen sey; So habt ihr — Phantasey. Doch seht und riecht ihr wohl dabey, Bey hundert lust'ger Feuer Blicken, Den Hekatombenduft Von tausend Schweinebraten, Würsten, Schinken, Der rings umher die Luft So kräftig würzet und durchquillt, Daß ihr, von Leben überfüllt, Zu Boden mochtet sinken? — Nein, nein, ihr lieben Leute, Dieß alles seht und riecht ihr nicht, So glücklich ihr auch je ins Weite Auf Flügelpferdes Rücken dringt, Wenn ihr nicht Nase und Gesicht, In Döbrög selbst zu Markte bringt. O denkt zu all den schönen Dingen Euch einen lauten Festchoral Von Hühnern, Enten ohne Zahl, Von Gänsen mit und ohne Schwingen, — Von Ochsen, Kälbern, Schafen, Pferden Von borstiger Geschöpfe Heerden, So edler Füll' und Größe, Daß manch verlorner Sohn
Deutschsprachige Almanache Auch außer seiner Frohn Sie gern in seine Arme schlöße. Zu dem, — O könnt' ich's je erstreben, Die Wonne des magyarischen Ohrs, Des wakern Werberchors Heroische Weisen nachzulallen, Die zauberhaft die Luft durchbeben, Mit Macht von Ohr zu Ohre hallen Wie Blitz durch Mark und Busen wallen, Elektrisch alle Muskeln beben; Und nicht wie Amphion Mit seinem Klimperton Ein Paar Magnetensteine — Nein, die, so seltsam es auch scheine, Die Bauerbengel selbst beleben, Daß sie im raschen Wirbel schweben. Ha, welch ein Leben! Welch eine neue Welt! Begeistert steht Ihr da und seht, Zu frohem Bund gesellt, Die auserlesensten Husaren, Die je, seit uns der Mondprophet Mit seinen ungewaschnen Schaaren Den Rücken endlich zugedreht, Auf einen Fleck beysammen waren. Aus ihren Augen blitzt Mavort'sche Glut, Heroisch ruht Die Linke in die Hüft' gestützt; Die Recht' ist nach dem Haupt gekehrt, Worauf mit Busch und Quast Zum Fall geneigt die stolze Last Des rothen Tschakos sitzt. Doch ist sie oft mit einer vollen Flasche, Wohl auch mit einer Knoblauchwurst bewehrt; Indessen Pelz und Säbeltasche Ganz leicht am bunten Leder Und lichten Messingspangen Hernieder hangen; Der Sporen Doppelräder, Wie Thaler groß, erklirren drein, Und schlagen von sich selbst gar fein Den Takt zum muntern Reih'n Ein lautes Tinnai Tinnai klingt Von allen Seiten; Alles schwingt Sich rasch, und webt und schwebt und springt, Das euch der Taumel fast verschlingt. 12 Deutsch-ungarische Beziehungen
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178 Und ruft mit heiterm Sinn, Wenn gleich bescheiden nur und mäßig, Ein Einziger dabey Sein Juhuhu! Juchhey! So wackelt Nase euch und Kinn, Ich weiß es zuverläßig. Geschäftig vor dem Zelte steht Der braunen Geiger Schaar Mit hochgekraustem Haar, Und lockt, wie jene Wunderzwerge Karfunkel aus dem Schacht der Berge, Melod'sche Zauberweisen Aus ihren Holzgehäusen. Bey jedem Bogenstrich, Zuckt sichtbarlich Des Fiedlers Nas' und Bart; Doch fein und zart, Als sucht' er tändelhaft Der Töne tiefgeheimste Kraft Der Muse selber abzulisten, Sieht man den Zimbalisten Bald klingend, bald mit offnen Wimpern, Bald rasch, bald zweifelhaft Auf seinem Brette klimpern. Und ringsherum ist Alles Ohr, Und Alles streckt die Häls' empor, Denn weit geöffnet ist der Himmel, Und sichtbar all sein Lustgewimmel. Kurzum, ich schwör' euch insgemein, Bey meiner schönsten Tabakspfeife Und meinem Sohnurbart obendrein: Ein Herz, das diesem Wonnebild Nicht spannenweit entgegenschwillt, Das muß von Debreziner Seife Wohl gar von purem Specke seyn!
Mailäth, Johann Graf (1786 Pest — 1855 Starnberg): Studierte Rechtswissenschaft in Erlau und Raab. Bald verließ er den Staatsdienst und lebte nur seiner literarischen Tätigkeit, verarmte aber völlig und beging mit seiner Tochter zusammen im Starnberger See in Bayern Selbstmord. War besonders als Vermittler zwischen der ungarischen und deutschen Literatur bedeutend: Magyarische Sagen und Märchen (Brünn 1825), Magyarische Gedichte (Brünn 1825), Geschichte der Magyaren. Bd. 1 - 5 (Wien 1 8 2 8 - 3 1 ) , Praktische ungarische Sprachlehre für Deutsche (Wien 1831), gab mit J. P. Köffinger den „Koloczaer Codex altdeutscher Gedichte" (Stuttgart 1819) heraus und übersetzte
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Werke von Sandor Kisfaludy und Jözsef Eötvös. [P., Sz., Goedeke 6, 339 u. 12, 409-411] Aglaja, 1818: Zwölf Worte. Erzählung. S. 4 8 - 5 7 . Dass., 1820: Des Armen Vaterhaus. S. 76—77. — Der Abendstem. S. 213. [Gedichte]. Taschenbuch für die vaterländische Geschichte, 1820: Maria, Königinn der Ungarn. [Historische Skizze], S. 1—20. — Gedeon Graf Raday, der ältere. [Historische Skizze]. S. 304-307. Aglaja, 1821: Magyarische Liebeslieder (Die Sänger der Liebe. Himfi's 13. Lied. — Vergebliche Sehnsucht. Himfi's 57. Lied. — An Rose. Von Verseghi. — Verborgnes Leid. Von Dajka. S. 167-169). 7 Taschenbuch für die vaterländische Geschichte, 1821: Die Mongolen. [Historische Skizze], S. 155-171. Aglaja, 1822: An meine Schwester Elise. S. 200-201. Taschenbuch für die vaterländische Geschichte, 1822: Die Legende von der heiligen Elisabeth ( 1 2 0 7 - 1 2 3 1 ) . [Historische Skizze], S. 2 1 1 - 2 2 4 . - Hedwig. [Historische Skizze]. S. 223—239. Ceres, 1823: Dichternoth. (Erzählung mit folgenden Abschnitten: Johann Graf Mailath an Karl von Kisfaludy. — Irene an Johann Grafen Mailath. — Die Sage; an Johann Grafen Mailath. — Das Schloß Saros oder die Herrin von Ardö. — Johann Graf Mailath, an die Leser und Leserinnen). S. 15—55. Huldigung den Frauen, 1823: Die Liebe. Aus dem Englischen. S. 149. — An das ferne Lieb. Aus dem Englischen. S. 240. [Gedichte]. Taschenbuch für die vaterländische Geschichte, 1823: DieBänffi's. [Historische Skizze], S. 307-340. Huldigung den Frauen, 1824: Charadenkranz an Johanna. [Gedicht], S. 333—340. Taschenbuch für die vaterländische Geschichte, 1824: Die ungarische Königstochter Margarethe. [Historische Skizze], S. 82—96. — Ofens Rückeroberung im Jahre 1686. [Historische Skizze], S. 312—333. Huldigung den Frauen, 1825: Magyarische Liebeslieder aus Kimpfyr [Himfys] klagender und beglückter Liebe, übersetzt. S. 145—148. — Charade an Sofronia. S. 376-377. - Räthsel-Spiel. S. 377-380. [Gedichte], Philomele, 1825: Erzsi die Spinnerin.[Erzählung], S. 5—27. Huldigung den Frauen, 1827: Glosse (zu „Wer das Scheiden hat erfunden, Hat an's Lieben nicht gedacht"). [Gedicht]. S. 135—136. Dass., 1828: Ergebenheit. [Gedicht], S. 159-160. 7
Dem Abdruck ist eine Bemerkung der Redaktion beigefügt: „Proben aus einer Sammlung der vorzüglichsten magyarischen kleineren Gedichte, mit deren Übertragung der kenntnissreiche und geschmackvolle Graf Johann v. Mailath schon seit einiger Zeit beschäftigt ist, und welche, sammt einer einleitenden Darstellung über die Geschichte der ungrischen Poesie und über die ungrische Prosodie, größtentheils vollendet, zum Drucke bereit liegt." (S. 167.)
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Dass., 1829: Drei kleine Erzählungen. ( l . D a s Fräulein von Bodmann. — 2. Andor und Juczi. Aus dem Ungarischen des Kisfaludy. — 3. Die Gaben). S. 335-350. Dass., 1832: Der Brief. Ein Mährchen. S. 2 6 1 - 2 7 4 . 8 Dass., 1835: Mit einem Glas an die Mutter eines neugebornen Mädchens. [Gedicht]. S. 182-183. Iris, 1840: Helena Zrinyi. [Historische Erzählung], S. 317—338. Dass., 1841: Vier Lieder. ( l . I h r Bild. — 2. Nachtgedanken. — 3. Das Kristbäumchen. - 4. Was besteht?) S. 397-400. Thalia, 1841: Glückwunsch an Iphigenie. [Gedicht], S. 129. Iris, 1842: Gilli die Märchenerzählerin. Erklärung des [beigegebenen] Kupferstiches. S. 4 1 4 - 4 1 6 . 9 Thalia, 1842: Maurisches Ständchen. [Gedicht]. S. 116—117. Iris, 1843: Isabella Zäpolya. [Historische Skizze], S. 66—103. Dass., 1844: Gilli's Mährchen von dem Mädchen mit den goldenen Augen. S. 281 bis 308. - Nekrolog. Mathias Leopold Schleifer. S. 381—393. Thalia, 1844: Einem ungarischen Volkslied frei nachgebildet. S. 44—45. Dass., 1845: Als ich Ihr die Uebersetzung von Alficins Agamemnon sandte. S. 130. Iris, 1846: Die graue Frau von Plassenstein. Novelle. S. 309—334. Thalia, 1846: Portrait. [Gedicht], S. 100. Iris, 1847: Scenen aus der ungarischen Geschichte. (König Salomon). [Historische Skizze], S. 335—356. Dass., 1848: Johann Zapolya's Königswahl und Krönung. Zeitraum 30. August bis 11. November 1526. [Historische Skizze], S. 239-277. Libussa, 1856: Schwanenlied. [Wiederabdruck von „Des Armen Vaterhaus" aus Aglaja, 1822, ohne letzte Strophe.] S. 65—66. An Mailäths literarischem Wirken ist die deutlich sichtbare Beziehung zur ungarischen Volkspoesie, Literatur und Geschichte besonders bemerkenswert. Es er8
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Der Abdruck von „Der Brief" wird von folgender Anmerkung begleitet: „Der Redacteur der ungarischen heftweis erscheinenden Zeitschrift, .Leben und Literatur' filet es Literatura hatte die Idee, mehreren Schriftstellern aufzugeben, etwas au schreiben, wobei ein Brief die Verwicklung seyn sollte. Der Antrag kam auch zu dem Verfasser dieses Mährchens mit dem Beisatz, der Druck des Heftes sei suspendiert, bis seine Arbeit geliefert seyn würde, er sagte: ,was bis zehn Uhr Abends fertig gemacht werden könnte, schickt derselbe der Redaction', denn weder hegte er Lust, die Erscheinung des Heftes zu verspäten, noch weniger aber kann er mehr als einen Tag zu dem Ding verwenden. So entstand beiliegendes Mährchen." (S. 261.) Die „Erklärung" wird mit diesen Worten eingeleitet: „Die Leser und Leserinnen der Iris wissen, oder wissen nicht, daß ich, der Schreiber der vorliegenden Zeilen, in meiner Heimath unter die Erzähler gerechnet werde..." (S. 414.)
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scheint uns darüber hinaus das am Schluß der Erklärung zum Kupferstich der Märchenerzählerin Gilli abgedruckte Sonett so aufschlußreich f ü r das Schaffen Mailaths, daß wir es hier wiedergeben wollen 10 : Die Kinder schauen mit neugier'gen Blicken Zu ihr hinauf, als wollten ihre Augen Der Rednerin das Wort vom Munde saugen, Und in den Angesichtern schwimmt Entzücken. Und sie erzählt von Spuk der bösen Geister Von unterirdischen verborg'nen Schätzen, Wie gute Feen an Wohlthun sich ergötzen, Und wie der Held wird grimmer Drachen Meister. Und durch den blüh'nden Kreis, der sie umschlinget, Fließt hin die Rede süß, wie eine Quelle, Die sich durch Blumen windet sanft und helle. Mir aber scheint ein Märchen selbst das Ganze, Und Sie in ihrer Schönheit Zauberglanze Wie eine Wunderblume, welche singet.
Habermann, J. F. von (Lebenszeit unbekannt): Gab mit J. S. Zerffi zusammen den „Vaterländischen Almanach für Ungarn auf das Jahr 1820 bzw. 1821" heraus. [Goedeke 8, 100 = Nr. 219] Vaterländischer Almanach für Ungarn, 1821: Margarethen-Insel. S. 35—38. — Der Ebersquell bei Ofen. S. 38—40. — König Ludwig von Ungarn. S. 65—69. — Hörst du mich? S. 6 8 - 6 9 . - Du hörtest mich! S. 6 9 - 7 0 . - Die Nacht. S. 71—72. — Der Zweikampf. S. 73—75. — Jenseits und Diesseits. S. 76—78. — König Stephan der Heilige. S. 100—103. - Der Ofner Festungswall. S. 124—126. — Schlaf und Wachen. S. 131-132. - Schwert und Geschoß. S. 147-152. Zauber der Armut. S. 152—154. — Die welke Rose. An**». S. 170—171. Ungewißheit. S. 172. [Gedichte]. — Charaden und Logogryphen. [Zusammen mit J. Chr. Rösler und J. S. Zerffi], S. 201—208. Zerffi, J. S. (Lebenszeit unbekannt): Pukänszky (S. 481) verwechselt ihn mit Gustav Zerffi [Hirsch], geboren 1820, der wahrscheinlich sein Sohn war. [P., Sz.] Vaterländischer Almanach für Ungarn, 1821: Versuch einer gedrängten Darstellung der Geschichte Ungarns. Erster Abschnitt: Urgeschichte von Ungarn. [Prosa]. S. 1 - 3 4 . - Die Ankündigung. S. 49. - Gefühl und Verstand. S. 6 0 - 6 1 . Die Thränen. S. 61. - Autors Lob. S. 72. — Vormals und Jetzt. S. 76. - Die Heirat nach der Mode. S. 82. — Der Schmeichler. S. 83. — Die Jugend unserer Zeit. S. 8 4 - 8 5 . - Des Freundes Weinberg. S. 110—112. — Frage und Antwort. S. 114.-Freundschaft. S. 123.-Erinnerung. S. 123. - Trinklied. S. 1 2 8 - 1 3 0 . 10
Vgl. Iris. 1842 S. 4 1 4 - 4 1 6 .
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Aus dem Französischen des Abbé Sabathier. S. 130. — Die Pille. S. 135. — Der Beweis. S. 168. — Die Türkische Trommel. S. 169. — Ein halb wahrer, halb erdichteter Liebesschwank. S. 175—198. [Gedichte]. S. noch bei Habermann. Festetics, Albert Karl Graf (1787—?): Als Schüler schrieb er zwei Gelegenheitsgedichte, übersetzte dann ein Drama von Kâroly Kisfaludy und gab die deutschsprachige Zeitschrift „Pannonia" (Pest 1819-1822) heraus. [Sz., P., Sza, Goedecke 8, 32 = Nr. 145] Fortuna, 1825: An Lina. [Gedicht]. S. 2 1 5 - 2 1 6 . Pulszky, Franz (1814 Eperies-1897 Budapest): Politiker, Direktor des Ungarischen Nationalmuseums, Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. — Studierte Rechtswissenschaft, unternahm lange Reisen nach Westeuropa. Nach 1848 war er Lajos Kossuths engster Mitarbeiter, wurde Gesandter der Revolutionsregierung in England. Nach dem Scheitern des Freiheitskrieges wurde er zum Tode verurteilt. Im Exil bemühte er sich mit Kossuth (Amerikareise, Verhandlungen in Italien mit Garibaldi) um die Wiederaufnahme des Kampfes gegen Habsburg. 1851 erschien in Berlin sein zweibändiger Roman „Die Jakobiner in Ungarn" in deutscher Sprache. 1866 kehrte er hoffnungslos und völlig vereinsamt nach Ungarn zurück und wurde amnestiert. — Auch bedeutender Historiker, Altertumswissenschaftler und Publizist. [Sz.] Iris, 1841: Ungarische Volkssagen. [Prosa], S. 81—88. Teleki, Ladislaus Graf (1811 Pest-1861 Pest): Nach seinen Studien an der Pester und Berliner Universität machte er längere Reisen; in Paris war er mit Victor Hugo befreundet. Unter seinem Einfluß schrieb Teleki sein romantisches Drama: „Kegyenc" [Der Günstling]. In Ungarn wandte er sich der Politik zu, wurde Anhänger Kossuths, seit 1848 sein Gesandter in Paris. Zum Tode verurteilt, lebte er im Exil. 1860 nahm ihn die sächsische Polizei in Dresden fest und lieferte ihn der österreichischen Regierung aus. Er wurde jedoch begnadigt. 1861 beging er Selbstmord. — Schrieb auch historische und publizistische Werke. [Sz.] Huldigung den Frauen, 1843: Treiben der Männer. [Gedicht]. S. 121—123. Dass., 1845: Die Rose. [Gedicht]. S. 90—92. Dass., 1847: Die Entrissene. [Gedicht], S. 53—54.
Deutschsprachige Almanache
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Beiträge von Autoren aus Ungarn sind nach der obigen Übersicht in folgenden Almanachen und Taschenbüchern zu finden: Aglaja. [Hrsg.: J.Sonnleitner und Josef Karl Schreyvogel]. Wien 1818, 1820, 1821, 1822. Almanach Dramatischer Spiele zur geselligen Unterhaltung auf dem Lande. Leipzig 1824. Vaterländischer Almanach f ü r Ungarn. Hrsg.: J. S. Zerffi u. J. F. von Habermann. Pest 1821. Aurora. Hrsg.: Franz Gräffer. Wien 1825. Ceres. Hrsg.: [Franz] Gräffer. Wien 1823. Feierstunden. Hrsg.: Ferdinand von Biedenfeld und Christoph Kuffner. Brünn 1821.
Fortuna. Hrsg.: Franz Xav[er] Told. Wien 1825. Huldigung den Frauen. Hrsg.: Ifgnaz] F[ranz] Castelli. Leipzig (seit 1827 Wien) 1823, 1824, 1825, 1827, 1828, 1829, 1832, 1835, 1843, 1845, 1847. Iris. Hrsg.: Johann Graf Mailäth (und bis 1841 S[amuel] Saphir). Pesth 1840, 1841, 1842, 1843, 1844, 1846, 1847,1848. Libussa. Hrsg.: Paul Aloys Klar. Prag, Leipzig 1856. Oesterreichischer Musen-Almanach. Hrsg.: Andreas Schumacher. Wien 1840. Preßburger Musenalmanach. Hrsg.: Johann M[ichael] Tekusch. Preßburg 1785. Musen-Almanach von und für Ungarn (bzw. Musen-Almanach f ü r das österreichische Kaiserthum). Hrsg.: [Johann] Christoph Rösler und K[arl] G[eorg] Rumy. Preßburg, Leutschau 1801, 1804, 1808. Wienerischer (bzw. Wiener) Musenalmanach. Hrsg.: J[oseph] F[ranz] Ratschky und A[lois] Blumauer. Wien 1785, 1789, 1790, 1793. Selam. Hrsg.: I[gnaz] F[ranz] Castelli. Wien 1817. Philomele. Hrsg.: Franz Gräffer. Brünn 1825. Taschenbuch für die vaterländische Geschichte. Hrsg.: Joseph von Hormayr und [Alois] vonMednyansky [Mednyanszky], Wien 1820,1821, 1822, 1823, 1824. , Taschenbuch vom K. K. privilegierten] Theater in der Leopoldstadt. ([2.Titel]: Erato). Wien 1821. Thalia. Hrsg.: Johann Nepomuk Vogl. Wien 1841, 1842, 1844, 1845, 1846. Als die wichtigsten erscheinen demnach „Aglaja", „Huldigung den Frauen", „Iris", „Musen-Almanach von und f ü r Ungarn", „Wienerischer Musenalmanach", „Taschenbuch f ü r die väterländische Geschichte" und „Thalia". Von den Herausgebern, die sich um die Aufnahme ungarischer Literatur in deutschsprachige Almanache verdient gemacht haben, sind Sonnleitner, Schreyvogel, Gräffer, Castelli, Mailäth sowie Hormayr bzw. Mednyanszky, Vogl, Rösler und Rumy hervorzuheben. Nach den Verlagsorten handelt es sich bei den meisten der angeführten Almanache um österreichische, häufig Wiener Ausgaben. Leipzig und andere Erscheinungsorte sind Ausnahmen. Mit der „Iris" erscheint dann ein Almanach auf ungarischem
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Gebiet, in Pest. Damit wird eine günstigere Verbreitungsmöglichkeit geschaffen. Dagegen entsteht schon früher mit dem „Musenalmanach von und für Ungarn" — mit Rösler und Rumy als Herausgebern — eine Reihe, die sich in starkem Maße der ungarischen Literatur zuwendet. Was für die Herausgeber und die Verlagsorte gilt, bestätigt sich in ähnlicher Weise für die Thematik. In die Lyrik dringen allmählich ungarische Motive ein, wobei neben dem Gedicht auch die erzählende Poesie zur Geltung kommt und sogar das dramatische Schaffen. Die Behandlung nationaler Themen und der Zuwachs an formalem Reichtum ist mit dem Emanzipationsprozeß der ungarischen Literatur verknüpft. Die Wirkung der deutschen Almanache und Taschenbücher auf das literarische Leben und den literarischen Geschmack Ungarns ist bisher ungenügend behandelt worden. 11 Die Herausgeber der ersten ungarischen Taschenbücher — sowie der ersten Zeitschriften — nahmen sich bewußt deutsche und österreichische Muster als Vorbild. Diese Wirkung hatte natürlich ihre kulturgeschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründe. Die periodisch erscheinenden Schriften setzten bereits ein solches literarisches Leben, ein solches Lesepublikum voraus, wie es infolge des materiellen und geistigen Aufstiegs des Bürgertums entstand. Die bürgerlichen Lebensformen konnten sich in Ungarn nur in den westlichen und nördlichen Gebieten und in Siebenbürgen relativ ungestört entwickeln, weil diese Gebiete nicht durch eine lange türkische Besetzung in ihrer Entwicklung gehemmt wurden. Da die Städte dieser Gebiete vorwiegend von Deutschen bewohnt waren, ist die starke Wirkung der deutschen bürgerlichen Kultur ohne weiteres zu verstehen. Unter den Mitarbeitern der Almanache begegneten uns deshalb vielfach deutsch schreibende Schriftsteller. Auch die Religion spielte innerhalb dieser Kultur eine besondere Rolle. Die Bewohner waren hier zum größten Teil evangelisch und suchten — vor allem die künftigen Pastoren — ihre Weiterbildung auf evangelischdeutschen Universitäten. Die lehrhafte, moralisierende, empfindsame und religiös gefärbte Literatur in der Zeit der deutschen Aufklärung übte eine sehr große Wirkung auf sie aus. Weil die Herausgeber der Taschenbücher finanziell auf eine möglichst breite Bevölkerungsschicht angewiesen waren, mußten sie sich auch nach dem Geschmack ihres Lesepublikums richten. Das gilt zwar allgemein f ü r die gesamte europäische Aufklärung, doch in besonderem Maße f ü r die um ihre Eigenständigkeit ringende ungarische Literatur. Der Bildungsstand der Käuferschicht bestimmte lange Zeit hindurch das literarische Niveau der deutschen, der deutschsprachigen und der ersten ungarischen Almanache. Als Muster wurden Gessner, Wieland, Gleim, Kleist, Hölty, Uz, Hagedorn, Blumauer, Geliert, die ersten typischen, zum Teil anakreontischen, lehrhaften, sentimentalen Alamanachdichter gewählt. A. F. Halitzky, deutschsprachiger Gelegenheitsdichter, der erste aus Ungarn gebürtige Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Pester Universität, sprach z. B. 1792 in seiner Antrittsrede von Hagedorn, Gessner, Uz, ¥ Vgl. Elemer Csäszär: A nemet költeszet hatäsa a magyarra a XVIII. szäzadban. [Der Einfluß der deutschen Dichtung auf die ungarische Literatur im 18. Jahrhundert.] Budapest 1913.
Deutschsprachige Almanache
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E. Chr. Kleist und Geliert mit der höchsten Anerkennung. Klopstock, Wieland, Lessing und Schiller wurden aber nur nebenbei erwähnt, und Goethe würdigte er keines Wortes. 12 Bei der Aufnahme Goethes in Ungarn waren nicht die deutschsprachigen Dichter des Landes, sondern war Ferenc Kazinczy bahnbrechend. Diese Vorbilder behaupteten sich weitgehend in den ungarischen Almanachen. Die ungarischen Taschenbücher erreichten auch erst dann ein beachtenswertes Niveau, als sie am Kampf um die nationale Selbständigkeit immer stärker teilnahmen. 13 Mit Sandor Petofis Auftreten wird später die unverbindliche Almanachliteratur in Ungarn gänzlich überwunden. Dieser Prozeß muß aber außerhalb der Betrachtungen bleiben. Es sei lediglich angeführt, daß die Ablösung der charakteristischen Dichtweise in den ungarischen Almanachen bereits vorbereitet wurde. Wir haben lediglich noch das „Taschenbuch für die vaterländische Geschichte" anzuführen, das wiederholt Darstellungen der ungarischen Vergangenheit bringt. Auf diese Beiträge kann nur allgemein hingewiesen werden, wie überhaupt die Behandlung ungarischer Thematik 14 von nichtungarischen Autoren hier und in anderen Reihen 15 weiteren Nachforschungen vorbehalten bleiben muß. Sicher läßt sich in anderen Almanachen, die den Verfassern nicht zu Gesicht gekommen sind, weiteres Material entdecken. Das Ziel unserer Ausführungen konnte keine vollständige Titelsammlung sein. Ihr Hauptzweck besteht vielmehr darin, auf die Aufnahme ungarischer Literatur in deutschen Almanachen und Taschenbüchern hinzuweisen, die als Quellen f ü r die Erforschung deutsch-ungarischer Wechselbeziehungen auf literarischem Gebiet bisher weitgehend unberücksichtigt blieben. 12
Antrittsrede bei Eröffnung des Lehrstuhles der deutschen Sprache und Literatur. Gehalten den 14. Mai 1792. Ofen 1792. 13 Vgl. Istvän Fenyö: Az Aurora, egy irodalmi zsebkönyv ¿letrajza. [Die „Aurora", die Lebensgeschichte eines literarischen Taschenbuches.] Budapest 1955. v ' Beispielsweise findet sich ein anonym abgedrucktes Gedicht erzählender Art mit dem Titel „Menödy" in der „Thalia" von 1842, das von Kämpfen bei Szigetvär gegen die Türken berichtet. 10 Köhring (S. 21) nennt etwa den „Almanach von Ungarn" (Wien, Preßburg 1778), der von Johann Matthias Korabinsky herausgegeben und verfaßt wurde. Er war „nicht für Einheimische allein, sondern auch für Ausländer" (S. III) gedacht, enthält aber nur Aufsätze zur Geschichte und Landeskunde (Namensverzeichnis aller Könige in Ungarn, Tabelle über Regierung Stephans und Andreas II., Übersicht über die lebenden Magnaten und bekannten Gelehrten, Berichte über die königliche Schatzkammer, über das neue Erziehungssystem, über Gewässer, Weingewächse, Bergwerke und Mineralien, Register der merkwürdigen Orte und Städte von A—K, Angaben über Münzen, Jahrmärkte usw.).
ILONA ERDELYI-TÖRÖK,
BUDAPEST
Das „Junge Deutschland" und das „Junge Ungarn"
1830, das Jahr der Julirevolution, ist in der deutschen Literatur ein wichtiges, epochemachendes Datum. Um diese Zeit gewann eine neue literarische Auffassung Gestalt, ein Zeichen f ü r die Erneuerung des geistigen und literarischen Lebens in Deutschland; um diese Zeit meldeten sich die Tendenzen, die den Weg zum Jahr 1848 vorbereiteten, entschiedener zum Wort. Dem scharfsinnigen zeitgenössischen Kritiker Janos Erdelyi zufolge beginnt auch in der ungarischen Literatur um das Jahr 1830 eine neue Periode. Sie ist durch das Eindringen der „volkstümlichen und nationalen Elemente" in die Literatur gekennzeichnet und kann charakterisiert werden durch den Prozeß, der sich „vom Triumph des Prinzips des Ideellen bis zur übermäßigen Verbreitung des Individuellen oder — wie manche es meinen — bis zur Verbreitung des Volkstümlichen erstreckt". 1 Mit der Entwicklung der deutschen und ungarischen Literatur dieser Zeit beschäftigte sich am Anfang der 30er Jahre Julius von Farkas in einigen Kapiteln seiner Monographie „A ,Fiatal Magyarorszäg' kora" [Das Zeitalter des .Jungen Ungarn', 1932] und in seiner Abhandlung „Deutsch-ungarische geistige Auseinandersetzung im Vormärz". 2 Julius von Farkas untersuchte in der zuerst genannten Schrift die literarische Erneuerung, also die beiden Jahrzehnte, die Petofis Dichtung vorbereitet hatten. Die Jahre von 1830 bis 1850, das Zeitalter, das viele neue Bestrebungen zeitigte und viele interessante Persönlichkeiten, sowohl Politiker wie Schriftsteller, aufwies, analysierte Farkas, nach einer überholten Methode, indem er drei Generationen unterschied. Die Zeitperiode benannte er nach der dritten Generation, nach der Generation Petofis und seiner Gefährten, deren „Generationsbewußtsein" seines Erachtens „stärker als alles andere war, deren Geist ihren Stempel am kräftigsten dem Zeitalter aufdrückte und die größten Schöpfungen zustandebrachte. Diese Generation nannte sich .Junges Ungarn', zwar nach fremdem Muster, aber mit urwüchsig-ungarischer Sinngebung." Julius von Farkas beruft sich auf einen Brief, den Petofi am 17. August 1847 an den Dichter Janos Arany schrieb. 3 Petofi berichtet darin seinem Freund über das neue Blatt seines Kreises, 1
2 3
Janos Erdelyi: Egy szazadnegyed a magyar szepirodalomböl [Ein Vierteljahrhundert ungarischer Belletristrik]. Kisebb prözäi [Kleinere Prosawerke]. Bd. II Debrecen 1865 S. 11. Letztere in: Ungarische Jahrbücher. Bd. XII (1932) S. 1 - 2 0 . Gyula Farkas: A „Fiatal Magyarorszäg" kora [Das Zeitalter des „Jungen Ungarn"].
Das „Junge Deutschland" und das „Junge Ungarn"
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ßletkepek [Lebensbilder], das das Organ „des jungen Ungarns ist, dem ich alles zurechne, echte Liberale, die nicht engherzig sind, die Mut besitzen und Großes wollen f ü r jenes junge Ungarn, das nicht gewillt ist, ewig den alten Bundschuh des Vaterlandes zu flicken, damit der Ungar nicht Lumpen über Lumpen, sondern von Kopf bis Fuß neue Kleider t r a g e . . . " Laut Farkas sind die Repräsentanten der ersten Generation die „Romantiker", also die Trias Vörösmarty, Bajza und Toldy, die der zweiten Jözsef Eötvös, Zsigmond Kemeny und Jänos Erdelyi, die der dritten Petofi und die Schriftsteller des „Jungen Ungarn". Jedoch können die genannten und die übrigen Dichter und Schriftsteller der Zeit, aus deren Reihen dem Volk die glänzendsten Talente erwuchsen, nur auf Grund oberflächlicher, äußerlicher Merkmale in die drei Generations-Kategorien eingegliedert werden. So geraten z. B. der Dramatiker Ede Szigligeti, ferner Gabor Kazinczy und Imre Vahot in die dritte Generation, obwohl sie schon gegen das Ende der dreißiger Jahre auftreten, während ihr Zeitgenosse Jänos Erdelyi, der, ähnliche Ansichten vertretend, gleichzeitig mit ihnen seine Laufbahn beginnt, als ein Mitglied der zweiten Generation bezeichnet wird, und zwar nur deshalb, weil Farkas der Ansicht ist, daß Erdelyis theoretisierende Veranlagung der geistigen Formation der zweiten Generation entspricht. Ebenso wird der begeisterte Goethe-Übersetzer Miklös Szemere, ein Zeitgenosse und Freund Jözsef Bajzas, zu einem „jungen Dichter", einem Mitglied der dritten Generation ernannt, obwohl er etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre älter war als die Generation Petöfis. Ein anderer Mangel der Konzeption Farkas' besteht darin, daß er die Untersuchung der kleineren Schriftstellergruppen, der scheinbar weniger wichtigen und schwer einzureihenden schriftstellerischen Unternehmungen unterließ. Deshalb gelang es ihm nicht immer, auf den Grund der Erscheinungen zu dringen; er gab sich mit der Registrierung der Tatsachen zufrieden. Dasselbe läßt sich auch über Farkas' deutschsprachige Abhandlung „Deutschungarische geistige Auseinandersetzung im Vormärz" sagen, die er kurz nach dem Erscheinen des Bandes schrieb. Der vor allem für das deutsche Publikum verfaßte Aufsatz charakterisiert zunächst das ungarische politische und geistige Leben der behandelten Zeit, geht dann auf die literarischen Beziehungen zwischen Wien und Pest ein und schildert endlich die Verbreitung der deutschen klassischen Literatur und der Ideen des „Jungen Deutschland" in Ungarn. Die Wirkung des „Jungen Deutschland" hält Farkas nicht so sehr auf dem Gebiete der literarischen Gestaltung f ü r bedeutend als vielmehr auf dem der Verbreitung der politischen Ideen, die die Werke dieser Schriftstellergruppe ausstrahlen. Der Geistesgeschichtler Julius von Farkas begnügte sich mit der Berufung auf „unsichtbare Fäden", die das „Junge Ungarn" mit dem ganzen „jungen Europa" Budapest 1932 S. 13. Die deutschsprachige Bearbeitung des Materials dieses Werkes erschien als Studie unter dem Titel: Der ungarische Vormärz. Petofls Zeitalter. Ungarische Jahrbücher. Bd. XXIII (1943) S. 5—186. Da aber in der umfangreicheren ungarischen Bearbeitung die uns interessierenden Teile bedeutend eingehender behandelt worden sind, bleiben wir bei deren Anführung.
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verbanden. Doch diese Fäden sind gar nicht unsichtbar. Farkas wandte seine Aufmerksamkeit nicht jener Schriftstellergruppe zu, die sich schon in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, also etwa zehn Jahre vor dem Erscheinen des „Jungen Ungarn" Petôfis und seines Kreises, zu den revolutionären Ideen der Zeit bekannte, die auch das „Junge Deutschland" vertrat. Wir werden nicht darüber unterrichtet, daß gegen Ende der dreißiger Jahre eine einheitliche neue Schriftstellergruppe auftrat, die ihre „jungen" Ideen erst in Zeitschriften, dann auch in selbständigen Presseerzeugnissen propagierte. Organisator und Führer dieser Gruppe war Gabor Kazinczy. Mitglieder waren die radikalsten Vertreter der neuen Honoratiorenschicht: Schriftsteller, Schauspieler, Advokaten und Ärzte, hervorragende Gestalten des ungarischen literarischen und kulturellen Lebens, die zukünftigen führenden Persönlichkeiten des Freiheitskampfes von 1848. Die große Welle der revolutionären Flut, die 1789 sich in Europa auszubreiten begonnen hatte, brachte allmählich den ganzen Erdteil in Bewegung. Ihre Stöße gelangten wie die eines Erdbebens zu verschiedenen Zeitpunkten und mit unterschiedlicher Wucht in alle Länder Europas. Die Bewegung, die auf Grund der Juligeschehnisse einsetzte, wurde in Italien, Frankreich, in der Schweiz und besonders in Deutschland durch die „Giovine Italia", die „Jeune France" und das „Junge Deutschland" bedeutend. Nach Ungarn gelangten die ersten Wogen, durch die Wirkung der Revolution des nachbarlichen polnischen Volkes verstärkt, in Form der Bauernaufstände von 1831. Später setzte sich die Welle im Landtag 1832—1836 in Preßburg im Kreise der Gesandten und der Parlamentsjugend fort. Ungarn wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, seit der Konspiration des Martinovics, aber besonders von 1808 an, als sich die napoleonischen Kriege dem Lande immer mehr näherten, vom übrigen Europa ziemlich isoliert. Diese Isolierung wurde erst von 1825 an durchbrochen, als die Schranken den reiselustigen jungen Leuten und den neuen Ideen allmählich weichen mußten. In dem Maße, in dem die Bewegung, die nach dem Landtag 1825 einsetzte, das politische und gesellschaftliche Leben ergriff, geriet auch das geistige Leben in Gärung. Ein bezeichnender Zug dieser bewegten Zeit war der Umstand, daß in der Provinz und in der Hauptstadt die verschiedensten Gesellschaften wie Pilze aus der Erde schössen, und zwar unter immer anderen Namen, aber mit demselben Ziel. Sie drückten die allgemeine Unzufriedenheit mit den Zuständen des Landes aus und bereiteten die Wandlungen der Zukunft vor. Unter den zahlreichen literarischen Selbstbildungs- und Jugendvereinen ragt, ihrer Bedeutung nach, die „Konversationsvereinigung" besonders hervor, die von den Rechtspraktikanten des Landtags in Preßburg gegründet wurde. Die Vereinigung, die sich die Selbstbildung der jungen Leute zum Ziel setzte, wurde von liberalen Gesandten wie Ferenc Deâk, Ferenc Kölcsey und Miklös Wesselényi unterstützt. Im Jahre 1836 waren die Tonangebenden der Vereinigung schon die Radikalen, die sich zu den Ideen der 1833 in Paris tätigen „Société des droits de l'homme et du citoyen" bekannten. Ideale Vorbilder der Jugend waren die hervorragenden Gestalten der Französischen Revolution, die Bürgerlich-Radikalen Börne und Heine
Das „Junge Deutschland" und das „Junge Ungarn"
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sowie der mystische Revolutionär Lamennais. 4 Ihre Tätigkeit wurde mit Aufmerksamkeit und Sympathie vom ganzen Lande verfolgt. Aber noch schärfer beobachtete sie die Wiener Polizei mit Hilfe ihrer Agenten oder — wie die jungen Leute sie nannten — der „faux frères". Der mächtige Polizeiminister Sedlnitzky sammelte sorgfältig Belastungsmaterial, auf eine günstige Gelegenheit wartend, um über die Vereinigung herzufallen. Der maßgeblichste Augenzeuge, Lajos Kossuth., charakterisierte die Lage folgendermaßen: „Es ist eine wahre Parforcejagd, welche das königliche Tafelgericht auf die Jugend und die Liberalen veranstaltet, nur ist das Verhältnis zwischen Jagenden und Wild verkehrt; in Parforcejagden verfolgen Hunde die Wölfe, hier werden die braven Hunde von den Wölfen gehetzt." 5 Der Zweck der energischen Maßnahmen war über die Bestrafimg der Rebellen hinaus die Beruhigung der allgemeinen Stimmung. Wien verrechnete sich aber; denn die ungerechten Prozesse, die Massenverhaftungen, die Verschleppung Lâszlô Lovassys, des Führers der Jugend, in den Kerker zu Spielberg fachten das Feuer der Empörung noch mehr an. In der gedrückten Atmosphäre, in der ein Polizeiverhör das andere ablöste, verließ die Jugend — und mit ihr Gabor Kazinczy — die Stadt des Landtags, Preßburg. Viele kamen nach Pest, in die größte Stadt des Landes, um sich hier nach einem Broterwerb umzusehen oder ihre Studien fortzusetzen. Die jungen Advokaturkandidaten, die voller Haß gegen das despotische Wiener Regime nach Pest kamen, trennten sich auch hier nicht. Und in Pest, wie früher in Preßburg, nahmen sie tatkräftig an den politischen Aktionen der Opposition teil, nicht zuletzt Gabor Kazinczy und seine Gesinnungsgenossen. Auf Grund der Retorsionen, die kein Ende nehmen wollten, hörte in Ungarn — wie überall, wo Metternich regierte — das politische Leben auf. In dieser Situation bildete sich ein kleiner Kreis, dessen Mitglieder über die Gemeinsamkeit der Weltanschauung und die Einheitlichkeit der Absichten hinaus ein gesteigertes Interesse für die Literatur verband. Die Freundschaft der jungen Leute hätte aber die gewohnten konventionellen Schranken der Jugendfreundschaften nicht überschritten, wenn sich unter ihnen nicht ein Organisator, eine anfeuernde, unermüdliche, energische, unternehmende Persönlichkeit wie Gabor Kazinczy befunden hätte. 6 E r war es, der den jungen Leuten das Ziel gab, das sie vereinte. Beim Auffinden geistiger Gefährten kann der Zufall mitspielen, im
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Vgl. Imre Révész: Lamennais és a magyarok [Lamennais und die Ungarn]. Különlenyomat a MTA Târsadalom-Tôrténeti Tudomânyok Osztâlyânak kôzJeményeibôl [Sonderabdruck aus den Mitteilungen der Klasse der gesellschaftlich-historischen Wissenschaften der Ungarischen Akademie der Wissenschaften]. Budapest 1954 S. 38. Daniel Kâszonyi, Mitglied des Geselligkeitsvereins, zitiert die Sätze von Kossuth in seinem Buch: Ungarns vier Zeitalter. Bd. I Leipzig 1868 S. 177. Über Gabor Kazinczy s. Elek Jakab: Kazinczy Gâbor irodalmi hatâsârôl [Über die literarische Wirkung G. Kazinczys], Budapest 1880; Jânos Gâl: Kazinczy Gâbor irôi és politikai mukôdése [Das schriftstellerische und politische Wirken G. Kazinczys]. Budapest 1918; ferner meine Arbeit: Az Ifjû Magyarorszâg és Kazinczy Gâbor [Das „Junge Ungarn" und Gâbor Kazinczy]. Budapest 1965.
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allgemeinen bestimmen aber die äußeren Umstände oder die individuellen Gegebenheiten, wohin sich das Interesse eines Künstlers, eines Politikers oder überhaupt eines Menschen richtet. So wandte sich auch die Aufmerksamkeit Gabor Kazinczys, der in Ungarn als erster die polnische, dann die russische Literatur popularisierte, nicht zufällig der nachbarlichen deutschen Literatur zu. Er wurde ergriffen von den schwungvollen Ideen der Dichtergruppe, die sich in Deutschland gebildet hatte, in dem Lande, das sich im großen und ganzen in einer ähnlichen politischen und gesellschaftlichen Lage befand wie Ungarn und ebenfalls unter der Reaktion litt. Die jungen Leute, die die Führer der Französischen Revolution, Lamennais und den polnischen Freiheitskrieg vergötterten, wandten sich natürlicherweise dem „Jungen Deutschland" zu. Gabor Kazinczy lernte die Schriften Börnes, Heines und der Jungdeutschen während seines Aufenthalts in Preßburg kennen. Allein der Umstand, daß diese Schriftsteller in den Augen Metternichs und Tzschoppes „personae non gratae" waren, weckte die Sympathie der begeisterten jungen Demokraten. Der Bundestagsbeschluß vom 10. Dezember 1835, der die Schriften der fünf Schriftsteller Karl Gutzkow, Ludolf Wienbarg, Theodor Mündt, Heinrich Laube und Gustav Kühne aus der Öffentlichkeit ausschloß, lenkte die Aufmerksamkeit besonders auf sie. Ein beredter Beweis dafür ist der Umstand, daß die ungarische literarische Welt unverzüglich vom Bundestagsbeschluß in Kenntnis gesetzt wurde : Der Hegelianer Lajos Tarczy, Petôfis Lehrer in Papa, übersetzte 1836 den fortschrittsfeindlichen Artikel Wolfgang Menzels, der die Anklagen gegen das „Junge Deutschland" zusammenfaßte. 7 Nach Menzels Artikel propagiere das „Junge Deutschand" eine allgemeine, jede Nationalität tötende Menschheit und Weltbürgerschaft. Das „Junge Deutschland" bekenne sich ferner zu den Ideen Saint-Simons, die die Zukunft usurpieren und die zukünftige Revolte Europas vorbereiten. Menzels dritte Anklage bezieht sich auf die Religionslosigkeit der Bewegung, die vierte auf ihre Unsittlichkeit. Im weiteren wendet sich Menzel vor allem gegen Wienbarg und Gutzkow und beschuldigt sie der Vergötterung der Franzosen, da sie die Namen Börnes und Heines auf ihre Fahnen schrieben. Menzels Meinung nach sind die Mitglieder des „Jungen Deutschland" „die Consule der kommenden Weltrepublik". 8 Lajos Tarczys Artikel, der in der ziemlich verbreiteten Zeitschrift „Tudomanytär" [Wissenschaftsmagazin] erschien, hatte zweierlei Resultate. Er lenkte zwar die Aufmerksamkeit der „gutgesinnten" (oder — wie Imre Vahot sie nannte — der bösgearteten) Kreise auf die „gefährlichen" Ideen, doch errregte er gleichzeitig auch die Aufmerksamkeit der Opposition. (Wir dürfen annehmen, daß dies die eigentliche Absicht Tarczys war, wenn er jenen Artikel des „Teutschtümlers" Menzel bekannt machte.) Die Orientierung der Öffentlichkeit von „gutgesinnter" Seite schien deshalb nötig, damit man zwischen dem Verbot des „Jungen Deutsch7
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Tudomânytâr. Literatura [Wissenschaftsmagazin. Literatur], Bd. IX (1836) S. 199 bis 218. Vgl. Jôzsef Turôczi-Trostler: Magyar irodalom — Vilägirodalom [Ungarische Literatur — Weltliteratur], Bd. II Budapest 1962 S. 272.
Das „Junge Deutschland" und das „Junge Ungarn"
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land" und dem des Bildungsvereins keinen direkten Zusammenhang konstruiere, was aber tatsächlich geschah. Nach dem Verbot der Tätigkeit des „Jungen Deutschand" wuchs dessen Popularität, vor allem die Heines und Börnes, in Ungarn sprunghaft. In dem Sündenregister der Mitglieder der Konversationsvereinigung steht neben der Lektüre Lamennais' und polnischer Bücher auch die der Werke Heines und Börnes. Dieses Moment erwähnt Julius von Farkas in seiner Monographie, indem er Ferenc Pulszky zitiert: „Denn in diesen Zeiten wandte sich auch ein Teil der Deutschen und gerade der von den Gefühlen der Freiheit und des Fortschrittes durchdrungene Teil unter der Führung Heines und Börnes den Franzosen zu und sah in dieser Nation den Erlöser der Menschheit; die niedrige Verfolgung aber, der die begeisterten Schriftsteller auch von der deutschen Literatur ausgesetzt waren, förderte die durch die glänzende und funkelnde Schreibart dieser Partei bereits erweckte Sympathie der ungarischen Jugend." 9 Julius von Farkas erwähnt aber in diesem Zusammenhang den Namen Gabor Kazinczys, des feurigsten Übersetzers und Vermittlers der Ideen des „Jungen Deutschland", nicht. Dabei wurde Gabor Kazinczy schon zu seiner Zeit, besonders von seinen Feinden, der Führer des „Jungen Ungarn" genannt, und gegen ihn und seine Freunde wurden fast dieselben Anklagen erhoben, die Menzel gegen das „Junge Deutschland" vorbrachte. Gabor Kazinczy, dieser außergewöhnlich gebildete junge Mann, der schon mit dreizehn Jahren Wieland und Herder übersetzte, verfolgte die zeitgenössische deutsche Literatur seit 1835, seit seinem Aufenthalt in Preßburg, mit großem Interesse. In seinen Aufzeichnungen begegnen wir am häufigsten dem „Magazin für die Literatur des Auslandes", der in Prag erscheinenden Zeitschrift „Ost und West", der unabhängigen und liberalen „Augsburger Allgemeinen Zeitung", dem „Bildermagazin", der „Allgemeinen Weltchronik", dem „Literarischen Zodiacus" und dem Hamburger „Telegraphen für Deutschland". Bei den beiden letzten Presseorganen, dem „Zodiacus" und dem „Telegraphen", waren von der Mitte der dreißiger Jahre an Mündt und Gutzkow bzw. Wienbarg als ständige Mitarbeiter tätig. Kazinczy übersetzte, wie aus seinem handschriftlichen Nachlaß hervorgeht, viele Aufsätze aus den aufgezählten Blättern noch im Jahre ihres Erscheinens. 10 Er konnte aber seine Artikel zum größten Teil nicht unterbringen. Sie erschienen entweder überhaupt nicht oder erst mehrere Jahre später. Seinen Gesinnungsgenossen erging es nicht besser. Jänos Erdelyi, der spätere hervorragende Kritiker, übersetzte in den Jahren 1837—1838 WienbargS Studie „Ästhetische Feldzüge", die wichtigste theoretische Manifestation des „Jungen Deutschland" 11, sozusagen für sich selbst. Ebenso erging es auch anderen jungen Schriftstellern, z. B. Lajos 9 10
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Julius von Farkas a. a. 0. s. Anm. 3 S. 255. Ein Teil von Kazinczys handschriftlichen, unbearbeiteten Werken befindet sich im Handschriftenarchiv der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Budapest; das zitierte Material ist in den Schachteln MS 4892, MS 4894, MS 4896 zu finden. Die Übersetzung Jänos Erdelyis erschien auch später nicht; die Handschrift ist im Band XXIII des Erdelyi Tär [Erdelyi Archiv] zu finden, das den Nachlaß des Schriftstellers aufbewahrt (in Privatbesitz).
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Lukacs und dem späteren begeisterten Anhänger Peto'fis, Istvän Dobrossy, sowie Sandor Vachott. 12 Die Theaterstücke Gutzkows, die Lukacs und Dobrossy übersetzten, konnten erst zu Beginn der vierziger Jahre auf die Bühne gebracht werden. Vachotts Goethe-Studie, die sich auf einen Artikel von Gutzkow stützte und auf Anregung Kazinczys entstand, konnte statt 1838 erst 1842 erscheinen. Nur einmal gelang es Kazinczy, Laubes „Schattenzeichnung" „Maske" nach Fertigstellung der Übersetzung unter des Verfassers eigenem Namen zu veröffentlichen. Die Aufnahme bewies, daß sich so etwas kaum wiederholen ließ. Das Preßburger Blatt „Hirnök" [Bote] wurde sofort auf die Namen Laube und Kazinczy aufmerksam und zog die folgende, f ü r Kazinczy nicht ungefährliche Konsequenz daraus: „Laube ist, wie wir wissen, ein Literaturheld des französierenden .Jungen Deutschland' und ein schlechter Poet. Die literarische Richtung Gabor Kazinczys wird durch die Titel: „Tatarische Novellen", „Balzac", „Le roi s'amuse", „Laube" hinreichend bezeichnet." 13 Kazinczy mußte einsehen, daß er mit seinen fertiggestellten Aufsätzen nicht hervortreten durfte. Entweder konnte er sie, auf bessere Zeiten wartend, im Schreibtisch liegen lassen, oder er mußte versuchen, ein eigenes Presseorgan zu gründen. Kazinczy wählte diesen Weg. Gabor Kazinczy und das junge Schriftstellerlager, das sich um ihn scharte und das sich oft „junge Literatur" nannte, glaubten an die Allmacht der Presse und der periodischen Zeitschriften. Gabor Kazinczy, der auf Grund seiner materiellen Lage, seiner Organisationsfähigkeit und seiner Verbindungen am ehesten daran denken konnte, trug sich schon im Oktober 1837 mit dem Gedanken, eine periodische Zeitschrift zu gründen. Einen Monat später schrieb er: „ . . . ich gedenke, eine Zeitschrift herauszugeben in einer (bei uns) bisher unbekannten Richtung. Ihre Losung ist: ,Leben und Bewegung!' Ihr Ziel und ihre Anschauungen, das Was und Wie, drückt am besten eine Strophe von Ludwig Uhlands Gedicht .Freie Kunst' aus: Heilig achten wir die Geister, Aber Namen sind uns Dunst, Würdig ehren wir die Meister, Aber frei ist unsre Kunst."
Zum Titel seines Blattes wählte er „Literarische Feldzüge". Er nannte sein Blatt ein Parteiorgan, einen Anzeiger, für seine Gefährten und Freunde bestimmt, ein Zentralblatt der modernen Richtungen der Literatur. 14 Der Öffentlichkeit wurde das Blatt im Juni 1839 bekannt gemacht. 15 Das Blatt „Nepbarat" [Volksfreund] (bis dahin war der Titel schon geändert worden), 12
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Über Lajos Lukacs, Istvän Dobrossy und Sändor Vachott vgl. meine erwähnte Arbeit (s. Anm. 6). Hirnök [Der Bote], Jg. 2 Nr. 31 (16. Apr. 1838). Erdelyi Jänos Levelezese [Korrespondenz Jänos Erdelyis], Zum Druck vorbereitet und mit Anmerkungen versehen von Ilona Erdelyi-Török. Bd. I Budapest 1960 S. 20 und 54. Figyelmezö [Beobachter], Jg. 3 (1839) Sp. 383.
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stand vor dem Erscheinen. In der Titeländerung spiegelt sich auch die Änderung des Inhaltes, der Richtung, wider. Der frühere Titel wurde zum Untertitel: „Feldzüge für die Volksinteressen und die Literatur politischer Bewegungen". Die Kenntnis des handschriftlich erhaltenen Materials des Blattes ermöglicht es uns, das Programm und die Zielsetzungen des Redakteurs und seiner Mitarbeiter näher zu betrachten. 16 Ihr Gefühl für aktuelle Problematik wird durch den Umstand bewiesen, daß alle ihre Schriften, ob es nun politische, literarische Aufsätze oder Gedichte waren, irgendeine heikle, brennende Frage der Zeit oder des literarischen Lebens berührten. Das Vorwort des Redakteurs offenbarte in bestimmten Umrissen, was er politisch zu sagen hatte: das Bewußtsein der Notwendigkeit einer radikalen politischen Wendung und den Wunsch nach einer baldigen Änderung. Die zweite Hälfte des Vorwortes, die die literarischen Pläne und Anschauungen darlegt, ist etwas übereilt. Man sieht, daß f ü r die junge Literatur der politische Inhalt das Primäre ist. „Der vor neun Jahren tobende gewaltige, weltzerstörende Orkan", sagt das Vorwort im Jahre 1839, „muß auch uns die neue Welt bringen. Er muß mit dem Alten aufräumen. Die alte Lebensform muß verschwinden. Die einst glorreichen Burgen wurden zu Eulennestem; ihre farbigen gotischen Fenster muß man weit öffnen, damit die frische Luft hineinströmen und die Gespenster der alten Welt, die Erinnerung an pantherfellbekleidete Recken, auslüften k a n n . . . Und sollten wir fürchten oder uns dessen schämen, daß wir uns den versteinerten Traum, in den uns ein verdammtes Zauberwort stieß, endgütig aus den Augen wischen?" Kazinczy verkündet die Notwendigkeit der Liquidierung der feudalen, mittelalterlichen Ritterwelt im Interesse der Grundlegung einer neuen Gesellschaft. Wir dürfen nicht rückwärts, wir müssen vorwärts blicken, verkündet Gabor Kazinczy. Mit der Rücksichtslosigkeit der Zwanzigjährigen kündigen sie den Kampf im Namen ihrer Generation, „der f ü r ihre Ideen kämpfenden ungarischen Jugend", gegen das „bornierte Philistertum" an. Diese Generation, deren Anschauungen aus den Bedürfnissen der Zeit geboren wurden, forderte Platz und Recht für sich im politischen und literarischen Leben; denn die Zukunft gehöre ihr, der Jugend. Die Erneuerer der kommenden Zeit rekrutierten sich nicht aus den Reihen „der Alten, deren Energie dahinsank und die nur an selbstsüchtigen Freuden Wohlgefallen haben", sondern aus der Jugend, auf die große Aufgaben und Taten warten. Sie empfinden ihre Verantwortung gegenüber der Zukunft. Sie sehen, wieviel sie zu tun haben, also verkünden sie die Dichtung der Tat statt der sentimentalen Stubendichtung. „Fort mit der Resignation, mit der Lebensverzweiflung!" 16
Gabor Kazinczys Blatt durfte nicht erscheinen, aber ein Teil seiner Handschriften ist erhalten geblieben. Die Fassung des Vorwortes, aus der wir zitieren, befindet sich im Handschriftenarchiv der Budapester Nationalbibliothek Szechenyi, unter Quart. Hung. 1256, in einem neueren und ebenfalls erfolglosen Publikationsversuch Kazinczys, im Ör [Wächter], zu dessen Vorwort er vom Vorwort des Nepbarät [Volksfreund] Gebrauch machte. Das detaillierte Inhaltsverzeichnis, mit dessen Hilfe wir das Material des Blattes aus den uns zur Verfügung stehenden Handschriften rekonstruieren können s. Figyelmezö [Beobachter]. Jg. 3 (1839) Sp. 383.
13 Deutsch-ungarische Beziehungen
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rufen sie. Sie fühlen sich als die Soldaten des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts des Fortschritts, und erblicken in der Literatur den Dienst an einer „heiligen Sache". „Wir sprechen von einer Sache", hieß es, „und indem wir über ihre Rollenträger die Beschreibung unseres literarischen Lebens zu geben wünschen, und je nachdem wir in ihnen die Hebel oder die Hemmschuhe der Sache sehen..wollen wir „unabhängig von persönlicher Freundschaft, ohne Haß, Achtung oder Galle..." schreiben. Dann betonen sie die Wichtigkeit der Annäherung an die Wirklichkeit und das Leben, die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Schilderung des Lebens. Sie fordern die Schilderung ihrer eigenen Zeit statt des unausgesetzten Wachrufens der glorreichen Vergangenheit. Zudem wollte Gabor Kazinczy dadurch die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die zeitgenössischen geistigen Bewegungen lenken, auf die Schriften der Besten der Auslandsliteratur. Die öffentliche Meinung des Landes wollte er an dem regen kulturellen Leben der neuen, verbürgerlichten Gesellschaft bilden. So läßt er einen seiner Freunde, von Gutzkows Aufsatz ausgehend, die Öffentlichkeit mit der Tätigkeit Shelleys bekanntmachen, deshalb veröffentlicht er ein Porträt von Heinrich Laube, aus diesem Grund stellt er einen Aufsatz von Theodor Mündt vor. 17 Aus der Lektüre der Artikel und des Vorwortes des Blattes ist ersichtlich, daß sich dieses Unternehmen das Propagieren revolutionärer Ideen zum Ziele setzte, neuer Ideen, die in der ungarischen Literatur bisher unbekannt waren. Zum Erscheinen des ungarischen „Volksfreunds" hätte es vielleicht kommen können, wenn Kazinczy für sein geplantes Blatt weniger, aber klüger Propaganda gemacht hätte. Bei der Ankündigung des Blattes, in der Kazinczy auch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis veröffentlichte, horchte jeder auf, in erster Linie aber die Reaktion. Das erste, gleichzeitig das Schicksal des Blattes entscheidende Echo kam vom konservativen Preßburger Blatt Hirnök [Der Bote]. Pal Csatö, Kazinczys alter Feind, begrüßt das neue Unternehmen in höhnischem Ton. „Endlich kam das Organ der ,Jeune Hongrie' zur Welt!!! Die ,Jeune Hongrie', die sich bisher nur in vereinzelten Zeitungsartikeln bekundete", spottet Csatö weiter, „beginnt sich ernsthaft zu bewegen... Nun ja, eine sehr große Schande und ein Unglück f ü r unsere Zeit wäre es, wenn wir Ungarn, nach dem es eine ,Jeune France' und eine ,Jeune 17
Übersetzer des Gutzkowschen Shelley-Artikels ist Böszörmenyi, wahrscheinlich Mihäly Böszörmenyi, als Quelle des Aufsatzes ist „Gutzkows Frankfurter Telegraph 1838" angegeben,. Die Handschrift: Handschriftenarchiv der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, MS (4895. — G. Kazinczys Heinrich-Laube-Portät erschien in Tudomanytar. Literatura [Wissenschaftsmagazin. Literatur], Bd. V (1841) S. 300—303. — Als Quelle des Artikels von Mündt ist angegeben: „Literarischer Zodiacus 1835 MärzHeft". Handschrift: Handschriftenarchiv der Ungarischen Akademie der Wissenschaften unter MS 4894. Er erschien verstümmelt in Közlemenyek az iSlet es Tudominyok Körebo'l [Nachrichten aus dem Leben und aus den Wissenschaften], Jg. 1 (1841) Bd. II S. 36.
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Allemagne' gab, keine ,Jeune Hongrie' gehabt hätten. Und könnten wohl die Geister und unsere in den Bewegungen des Jahrhunderts gut unterrichteten Leser den Titel der Zeitschrift erraten? Wie denn nicht? Denn der kann kaum etwas anderes sein, als was er in Wirklichkeit ist: L'ami du peuple! Der Volksfreund! J a hier lesen wir also gedruckt: Zu Kaschau wird im Druck erscheinen: ,Volksfreund, Feldzüge für die Volksinteressen und die Bewegungsliteratur.' (Bewegungs-Literatur! Feldzüge! f ü r die Volksinteressen!) Von Gabor Kazinczy in der Gesellschaft von fünfundzwanzig Soziussen herausgegeben!!! Da wirds was geben! Das wird ein Mordskrawall! Wehe euch, ihr Älteren, die ihr den Wert der Klassizität und ihre Schwierigkeiten kennt, ihre Meisterwerke bewundert und nicht alles blind anbetet, was Romantik i s t . . . ! Und dreimal und viermal wehe euch, die ihr in den literarischen und politischen Reformen im Schritt gehen wollt und nicht dahinsausend rast! Das Rad der Zeit wird euch zermalmen, und die junge Literatur wird auf euren Leichen ihren glorreichen Einzug in ihr Pantheon halten — an der Spitze ihr Führer und Held Gabor Kazinczy! et nous verrons 9a!" So schließt Pal Csatös Artikel. 18 Nach dem Erscheinen dieses Aufsatzes war es nicht fraglich, welches Schicksal der Plan Kazinczys und seiner Gefährten haben würde. Die Zensur verbot tatsächlich das Erscheinen des Blattes. Die letzte Nachricht über das „gefährliche Buch" „Volksfreund" stammt vom Oktober 1839, als Kazinczy seinen Freunden mitteilt: „Die Flügel unseres flotten Falken wurden für eine Zeit gestutzt..." 19 Die neue Literatur blieb ohne Presseorgan, und die späteren Versuche zeitigten auch kein Ergebnis. Man mußte sich zurückziehen und auf günstigere Zeiten warten. Bevor wir untersuchen, welche Merkmale der politischen und ästhetischen Prinzipien Gabor Kazinczys und seiner Gefährten eine Verwandtschaft mit den Zielsetzungen des „Jungen Deutschland" aufweisen, möchten wir auf einige Übereinstimmungen hinweisen, die schon auf den ersten Blick erkennbar sind. Kazinczy selbst kommt uns zu Hilfe, indem er im November 1837 seinem Freund Janos Erdelyi die bereits zitierten wichtigen Worte über den Plan einer Zeitschrift schreibt. 20 Dia wichtigsten Übereinstimmungen ergeben sich aus der Zeit, in der die beiden literarischen Richtungen entstanden sind; eine Analogie ist aber auch in der Herkunft und der gesellschaftlichen Stellung der Mitglieder der beiden Kreise aufzufinden. 21 Es entspricht der Verschiedenheit der deutschen und der ungarischen gesellschaftlichen Situation und historischen Entwicklung, daß die reprä18 19
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Hirnök [Der Bote], Jg. 3 Nr. 50 (24. Juli 1839). Erdelyi Jänos Levelezese [Korrespondenz Jänos Erdelyis]. Bd. I Budapest 1960 S. 77 (s. Anm. 14). Siehe Anm. 14 (S. 20). Die auf das Junge Deutschland bezüglichen Feststellungen stützen sich auf Walter Dietzes Werk: Junges Deutschland und deutsche Klassik. (Zur Ästhetik und Literaturtheorie des Vormärz). Berlin 1957. Im weiteren machen wir Anmerkungen nur bei Zitaten.
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sentativen Gestalten des „Jungen Deutschland" Söhne des deutschen Kleinbürgertums, des „tiers état" waren. Laubes Vater war Maurerpolier, Wienbargs Vater Schmied, Gutzkows Vater Kanzleidiener, um nur die bezeichnendsten zu erwähnen. In Ungarn stammten die jungen Leute, die für die demokratischen Ideen, für die gesellschaftliche Erneuerung kämpften, zum größten Teil aus den Reihen des Adels, manchmal aus den Reihen des Bauerntums oder auch der reformierten Geistlichen und Lehrer. Diese Adligen verließen ihr Gut, lebten in den Städten das Leben des Bürgertums, und zwar des unbemittelten Bürgertums; sie waren in ihrer Lebensform und in ihrem Bewußtsein gleichermaßen Bürger. Die Mitglieder der jungen Literatur nannten sich latinistisch „Proletarier", was nach dem damaligen ungarischen Wortgebrauch einen „literarischen Vaganten", einen von seinem schriftstellerischen Einkommen lebenden oder sein Leben fristenden Intelligenzler bedeutete. Gabor Kazinczy, Sohn einer alten, ehrwürdigen Gutsbesitzerfamilie, brach mit den seit Jahrhunderten hergebrachten Sitten seiner Klasse und lobte, indem er sich auf Heinrich Laube bezog, die städtische Lebensform.22 Er fühlte sich nur mehr in Pest wohl, und als er sich gezwungen sah, aufs Land zu gehen, fühlte er sich unglücklich wie ein Fisch auf dem Trockenen. Jânos Erdélyi und Istvân Dobrossy waren Söhne von Bauern, der Vater Lajos Kuthys war reformierter Geistlicher, der Vater Lajos Lukâcs' Handwerker in der Provinz. Unter ihnen vertraten die Gebrüder Vachott, Sândor und Imre, das deutsche Bürgertum Ungarns. Die Advokaturkandidaten, die aus den protestantischen Kollegien, den, Hochburgen des Patriotismus — aber auch eines sich vor den zeitgenössischen Ideen ziemlich verschließenden Denkens — zum Landtag in Preßburg und dann nach Pest kamen, lernten in Pest eine neue Welt kennen. Und dazu trug die Bekanntschaft mit der lebhaften deutschen literarischen Richtung, mit den Ideen der journalistischen, typisch städtischen Schriftsteller, der Jungdeutschen, bei. „Nicht die schwerfällige Wissenschaft und die dicken Anzeiger verbreiten die neuen Ideen", schreibt Gabor Kazinczy, „sondern das Journal und das Feuilleton. Die Helden unserer Tage bewegen sich nicht in schwerem, mittelalterlichem Panzer; diese Wehr würde sie bewegungsunfähig machen und als leichte Beute dem Feind ausliefern. Sie stellen sich in Lackschuhen in die Kampfreihe, ihr Panzer ist die Jugend, ihre Waffe die Feder." 2 3 Auch die Parallele zwischen dem öffentlichen Auftreten des „Jungen Deutschland" und des „Jungen Ungarn" ist auffällig. Beide Gruppen setzten den Erfolg ihres Unternehmens durch allzu stürmischen Trommelwirbel aufs Spiel. Karl Gutzkow 22
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Im Brief an Istvân Dobrossy vom 15. Dezember 1838: „Wieviel sich über Pest schreiben läßt, weiß nur der, der in Pest ist; der Reiche wirft seine hundert Gulden in den Staub, die der Arme für das Glück seines Lebens ansehen würde. Der Großstädter, wenn er auch nie sein Zimmer verläßt, lebt auf einer regen Landstraße, sagt Laube!" [Handschriftenarchiv der Akademie der Wissenschaften, Budapest, Literarisches Korrespondenzarchiv]. In einer späteren, im Juli 1839 entstandenen Fassung des Vorwortes zum Népbarât [Volksfreund]. Handschriftenarchiv der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Schachtel MS 4896.
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lenkte im Sommer 1835, als er im „Phönix" die Benennung „Junges Deutschland" mit der neuen literarischen Richtung identifizierte, die Aufmersamkeit der Reaktion ebenso auf sich wie vier Jahre später Gabor Kazinczy durch die Ankündigung des ungarischen „Volksfreunds". 1835 war das Ergebnis der Aktion Gutzkows der berüchtigte Bundestagsbeschluß, das der Aktion Gabor Kazinczys — infolge etwas günstigerer politischer Verhältnisse — bloß die Verweigerung der Druckerlaubnis für das Blatt. Eine interessante Parallele deckt der zuerst entworfene Titel des geplanten Blattes Gabor Kazinczys auf, der später eine Variante des Untertitels der Zeitschrift „Volksfreund" wurde: „Feldzüge auf dem Felde des Lebens und der Literatur". Dieser Titel war in der ungarischen Literatur bis dahin völlig unbekannt. Auch Kazinczy benannte sein Blatt nicht zufällig so, sondern auf Grund der programmatischen Abhandlung „Ästhetische Feldzüge" von Wienbarg. Kazinczy war sich im klaren über die Wichtigkeit des Titels als der Losung, die die Ziele und die Richtung der Bewegung ausdrückt, über die Wichtigkeit der „Fahne". Er wählte den Titel bewußt, wie er im Vorwort der geplanten Zeitschrift schrieb: „Die Fahne meines Glaubens zeigt das Titelblatt, und wen dessen Motto nicht zu freundschaftlichen Gefühlen stimmt, der lebt f ü r mich nicht!" Diesen Gedanken erwähnte er noch zweimal: das erste Mal in der im „Figyelmezo" [Beobachter] erschienenen Rezension des Buches „Histoire du Romanticisme en France" von M. de Toreinx, das zweite Mal in seinem Brief an Jânos Erdélyi. Als Beispiel beruft er sich in beiden Fällen auf Mme de Staël, die, um die Romantik vor den wütenden Angriffen der Akademiker in Schutz zu nehmen, der Richtung schleunigst einen Namen suchte: „Denn der Name ist eine Fahne!" 24 Die Zielsetzungen, die ästhetischen Prinzipien und das Programm der neuen Literatur kündigten sie im Vorwort ihres geplanten Blattes „Volksfreund" an. In den bisherigen Betrachtungen nahmen wir Abstand von einer eingehenderen Besprechung des Vorwortes, weil durch den Vergleich der beiden Richtungen und die Hinweise auf die Analogien die wichtigsten Prinzipien ohnedies deutlich werden. Schon am Anfang des Vorwortes, wo Gabor Kazinczy über die Erwartung und das Kommen der neuen Welt spricht, ist die Quelle seines Gedankens zu erkennen. Er greift das „bornierte Philistertum" an, im Gegensatz zur „ungarischen Jugend, die f ü r ihre Ideale kämpft". Hier spricht er von einer Denk- und Lebensform, die unter den ungarischen feudalen Zuständen, unter den damaligen ungarischen Verhältnissen ungewohnt war. Das schon von Heine gegeißelte „Philistertum" war eine typisch deutsche keinbürgerliche Erscheinung. Deren ungarländische Entsprechung waren die feudale „Tafelrichter-Anschauung" und „Tafelrichter-Politik". Im ungarischen kulturellen Leben gab es damals noch kaum ein Bürgertum. Die Parallele taucht wieder auf, wenn die junge Literatur die Wichtigkeit der Schilderung des gegenwärtigen Lebens, ihres eigenen Zeitalters betont. Nach Ungarn gelangten zwar — nach heimatlichen Vorläufern — auch die Reise24
M. de Toreinx: Histoire du Romanticisme en France. Figyelmezo [Beobachter], Jg. 1 (1837) Sp. 169-176. - Korrespondenz J. Erdélyis (s. Anm. 14) S. 31.
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beschreibungen von Sterne, Radischtschew und Mme de Stael, aber die Reihe der Reisebilder eröffnete sowohl beim „Jungen Deutschland" als auch beim „Jungen Ungarn" Heine. In der reaktionären Periode nach dem napoleonischen Zeitalter boten nämlich Reisebilder und Briefe dem Schriftsteller Gelegenheit, die Wachsamkeit der Zensur zu umgehen und über heikle und aktuelle Probleme zu sprechen. Die Aufmerksamkeit der Behörden war leichter durch Feuilletons zu täuschen, die in Fortsetzungen erschienen und voll schöner Naturbilder waren, als durch politische Schriften. Der von Heine geschaffenen Mode der satirisch-ironischen Menschen- und Gesellschaftsschilderung huldigten Börne, ferner Wienbarg mit den Werken „Holland in den Jahren 1831 und 1832" und „Tagebuch von Helgoland", Laube mit seinen „Reisenovellen" und Gutzkow mit den „Briefen aus Paris". Am Ende der dreißiger Jahre und zu Beginn der vierziger Jahre überschwemmten die Reisebeschreibungen den ungarischen Büchermarkt. Kazinczy schrieb schon im März 1837 in Verbindung mit einer versprochenen, aber nicht abgesandten Novelle an Bajza, den Redakteur der führenden ungarischen kritischen Zeitschrift „Athenaeum": „Es war meine alte Idee, unsere jämmerlichen Zustände unter novellistischer Bemäntelung zu malen . . . " Die direkte Konsequenz dieser Anschauung ist die Schilderung der heimatlichen Verhältnisse, die die Aufmerksamkeit auf das feudale, rückständige Land, auf das unmenschliche Schicksal des armen Volkes der ungarischen Dörfer lenkt. „Die Schilderung unserer Zeit ist also das Ziel der jungen Literatur. . . die Schilderung der Sonnen- (soweit es solche gibt) und der Schattenseiten unserer Zustände... stets in lebenstreuen B i l d e r n . . . die Annäherung der Dichtung an das Leben, weil nur das lebt, was sich im Leben auflösen k a n n . . . " , schreibt Kazinczy.25 Ähnlich äußert sich Wienbarg, indem er sich auf Goethe beruft: „Poesie und Leben sind inseparabel, . . . wer die Poesie vom Leben trennt, trennt das Leben von der Poesie. Diesen Goetheschen Grundsatz nennen wir das große Goethesche Samenkorn, ausgestreut in die Literaturen des neunzehnten Jahrhunderts . . . " 2 6 Die Betonimg der Pflicht des „Zeitgemäßen", der großen Taten ist ebenfalls verwandt mit dem Geist des „Jungen Deutschland". Diese Auffassung von der Rolle der Literatur bringt es mit sich, daß gegenüber dem Wertherschen „Taubengurren" die Dichtung der Tat verkündet wird und die Pflicht des Schriftstellers, sein Talent und seine Berufung in den Dienst der „Sache" zu stellen. „Fort mit der Resignation, mit der Lebensverzweiflung!" „Es ist soviel zu tun, zu bauen und abzubauen, zu stören und zu richten, zu töten und zu schaffen, daß, wer jetzt keinen Drang in sich fühlt, in das frische, grüne Leben hinauszutreten und eine ganze Welt zu umarmen, wer jetzt mit Wertherschem Taubengurren lamentiert, dem Tode geweiht ist! A bas mit ihm!" Oder, wie Wienbarg sagt, der unter den Mitgliedern des „Jungen Deutschland" am schärfsten den Gedanken der Aktivität ausdrückt: „Die 25
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Kazinczys Brief an Jözsef Bajza. Nationalbibliothek Szechenyi. Briefwechsel Gabor Kazinczy s. Walter Dietze a. a. O. S. 120.
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lyrische Poesie, wenn sie nicht philosophiert als Pindar, oder die Tuba bläst wie Tyrtaeus, gehört den Frauen an. Ein Jüngling, der Liebeslieder dichtet, ist ein Narr." 27 Wenn wir das Vorwort des ungarischen „Volksfreunds" lesen, so sehen wir, daß bei der Bewertung der Schriftsteller der entscheidende Punkt ihr Dienst an der Literatur und am Vaterland war, die Frage, wie weit sie mit ihrem Talent dem Vaterland und dem Fortschritt dienten. Bei den Dichtern des „Jungen Deutschland" offenbarte sich diese Anschauung in der Gegenüberstellung Goethes und Schillers oder Goethes und Jean Pauls. An Goethe wurde ausgesetzt, daß er seine Macht, sein schriftstellerisches und menschliches Ansehen nicht in den Dienst des Fortschritts und der Freiheit gestellt hat. Die Gegenbeispiele waren Schiller, der „napoleonfeindliche Volksdichter" und Jean Paul, der „Sänger der Armen" und „Apostel des Rechtes". Parallel mit diesem Gedanken ist die dichterische Haltung, die auf das Publikum zu wirken wünscht, das Idealisieren des „Dichter-Apostels", die Popularisierung des bereits erwähnten Jean Paulschen und Schillerischen Vorbildes im Gegensatz zum aristokratischen Goethe oder dem Troubadour, der nur sich selbst oder einen kleinen Kreis unterhält, dem „Schöngeist". Auch der Verbindung der Begriffe Dichter und Apostel begegnen wir hier im Kreise der jungen Literatur. Das Schicksal des Schriftstellers, der f ü r das Wohl der Gemeinschaft arbeitet, ist das Los des Apostels, der keinen Dank und keine Anerkennung erntet, sondern nur Unverständnis. Gabor Kazinczy geht auf diesen Gedanken in einem Brief vom 16. Dezember 1838 an den Schauspieler Gabor Egressy ausführlich ein. 28 Die Rolle des Dichter-Führers, die Gestalt der außerordentlichen Persönlicheit, die über das Volk hinausragt und sein Schicksal lenkt, entwarf zuerst Janos Erdelyi in seinem 1839 entstandenen Gedicht „Der neue Moses". 29 Er schildert den Dichter, der, sich dem Sturm, dem Toben der Elemente widersetzend, f ü r das Wohl seines Volkes kämpft, den Dichter, der seinem Volk „das Wort des Gesetzes" vermittelt, „wie Moses auf dem Berg der Offenbarung". Dem Messiasglauben des „neuen Moses" begegnen wir bei Kazinczy im Vorwort des „Volksfreunds". „Ja, wir sind die Menschen des Fortschritts und der schönen Zukunft", schreibt Kazinczy, „wie das Volk Gottes warten auch wir auf einen Messias, der das nächtliche Dunkel zerreißen wird, das ihr, Menschen der Spekulation und des Schreckens, uns als Erbe ließet." In Deutschland begann der leidenschaftliche Angriff gegen Goethes Person und Kunst um 1820. Die Führer der Angreifer waren Börne und Menzel. Die GoetheBewertung im Kreise der ungarischen jungen Literatur äußerte sich anders. Zwar waren ihnen die erwähnten Schriftsteller wohl bekannt, deren stürmisches Revoltieren gegen Goethe als Menschen und Künstler hatte hier aber kein Echo. 27 28
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Walter Dietze a. a. 0. S. 122. Päl Rakodczay: Egressy Gabor es kora [Gabor Egressy und seine Zeit]. Bd. I Budapest 1911 S. 138-139. Erdelyi Jänos: Költemenyek [Gedichte]. Buda 1844 S. 172.
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Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß die Führer des „Jungen Ungarn", Gabor Kazinczy und János Erdélyi, Anhänger Goethes blieben. Gábor Kazinczy war vom Autor des „Götz" und des „Egmont" ergriffen; er liebte auch den Lyriker und übersetzte viele seiner Gedichte. Für János Erdélyi war Goethe, dessen Bildnis an der Wand seines Zimmers hing, ein Idol. Erdélyi verehrte und achtete in erster Linie den Lyriker, dessen schlichte Sprache er seinen Freunden, den ungarischen Dichtern, als Vorbild pries. Erdélyi und Gabor Kazinczy standen der GoetheBeurteilung Wienbargs näher, die an Stelle von Menzels und Börnes einseitiger, voreingenommener Anschauung eine historisch glaubwürdige und reale Bewertung anstrebte. Aber während Erdélyi sich niemals gegen Goethe wandte, war bei Gabor Kazinczy ein gewisses Schwanken festzustellen. Gábor Kazinczy machte 1838 in den Spalten des angesehenen Blattes „Figyelmezo" [Beobachter] das Buch „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" von Bettina von Arnim bekannt.30 Von den vielen widersprechenden, Goethe angreifenden und Goethe vergötternden Stimmen wählte er aber gerade Börnes Kritik, die im Literaturblatt Menzels erschienen war, und veröffentlichte sie, mit einem kurzen Kommentar versehen. Börnes Aufsatz, der 1835 in Auteuil entstand, war sein letzter goethefeindlicher Ausfall, sein letzter leidenschaftlicher, zorniger Ausbruch gegen den Meister. Kazinczy machte sich zwar das Urteil Börnes nicht zu eigen, aber er widersetzte sich ihm auch nicht. In seinem Kommentar bemerkte er bloß, er hoffe, der mitgeteilte Aufsatz werde auch in Ungarn seine Wirkung haben, „wo zwar nur noch wenige sich über den so oft vergötterten und so oft verschmähten hervorragenden Mann im klaren sind". Zur gleichen Zeit jedoch, als er Börnes Artikel veröffentlichte, feuerte er seinen Freund Sándor Vachott an, Gutzkows Aufsatz „Über Goethe im Wendepunkt zweier Jahrhunderte" zu übersetzen. Gutzkow versuchte schon am Ende der dreißiger Jahre — im Gegensatz zu Mündt, Kühne und Laube —, in gründlicher und umsichtiger Arbeit ein selbständiges und objektives Goethe-Bild zu zeichnen. Auch in diesem Aufsatz nahm er Goethe in Schutz, indem er sich mit Menzel auseinandersetzte. Sándor Vachott stellte, der Bitte Kazinczys Folgte leistend, seinen Aufsatz „Goethe és két század fordulója" [Goethe und der Wendepunkt zweier Jahrhunderte] bald fertig. Der Aufsatz war eine gekürzte Variante des Gutzkowschen Artikels, konnte aber erst nach vier Jahren, im Jahre 1842, erscheinen, ebenso wie ein anderer Artikel von Kazinczy: die Besprechung von Uwarows Goethe-Gedenkrede.31 Wir müssen aber hinzusetzen, daß das Goethe-Bild der Mitglieder des „Jungen Ungarn" im allgemeinen unklar und nicht einheitlich war. Der erwähnte jüngere 30 31
Figyelmezo [Beobachter]. Jg. 2 (1838) Sp. 715-724 und 799-800. Auf dem Manuskript Vachotts steht als Quellenangabe: Allgemeine Zeitung Jg. 1836 Nr. 18, 19, 20, 22. Manuskript: Handschriftenarchiv der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Schachtel MS 4895; erschienen: Tudománytár. Literatura [Wissenschaftsmagazin. Literatur]. Bd. VI (1842) S. 1—14. Der Uwarow-Artikel Kazinczys s. Athenaeum Jg. 4 (1840) Bd. II Sp. 577-583 und Sp. 609-615.
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Bruder Sändor Vachotts, Imre Vahot (er schrieb nunmehr seinen Namen so) beurteilte in seiner 1841 erschienenen Arbeit „Toredékek a vilàgkoltészetról" [Fragmente über die Weltdichtung] Goethe negativer als seine Gesinnungsgenossen.32 Imre Vahot, der Mitte der vierziger Jahre ein Freund Petofis und später sein Redaktionschef war, stand der Goethe-Bewertung Börnes und der späteren goetheabweisenden Auffassung Petófis am nächsten.33 Das bisher Gesagte zeigt, daß man in Ungarn die Schriftsteller des „Jungen Deutschland" früher kannte, als wir bisher annahmen. Eine einheitliche, organisierte Gruppe übersetzte ihre Schriften, verfolgte ihre Ideen mit Sympathie. Wenn wir nach den Parallelen der damaligen deutschen und ungarischen Literatur forschen und die beiden „jungen Literaturen" vergleichen, so sehen wir, daß das „Junge Ungarn" Gabor Kazinczys dem „Jungen Deutschland" näher stand als das „Junge Ungarn" Petófis und seiner Gefährten. Petófi und seine Gesinnungsgenossen verkündeten radikalere politische Ideen und übertrafen das „Junge Deutschland" an revolutionärem Geist im Leben und in der Literatur. Die literaturhistorische Rolle der Mitglieder des „Jungen Ungarn" bestand aber gerade darin, daß sie nach dem reaktionären Angriff von 1836 durch ihre Verbindungen mit dem „Jungen Deutschland" und den französischen Schriftstellern die Strömung vermittelten, die den jungen ungarischen Schriftstellern und Dichtem die unter den damaligen ungarischen Verhältnissen einzig mögliche progressive Tätigkeit finden half: die den direkten politischen Kampf ersetzende, politischen Zwecken dienende literarische Arbeit. 32 33
Athenaeum. Jg. 5 (1841) Bd. I Sp. 3 5 3 - 3 7 2 und Sp. 3 9 0 - 3 9 2 . Béla Pukänszkytbefaßte sich in seinem Artikel „Ungarische Goethegegner und -kritiker", Ungarische Jahrbücher Bd. XI (1931) S. 353—376, mit dem Goethe-Echo der ungarischen Reformzeit, Pukänszky ging aber auf das „Junge Ungarn" nicht ein, sondern erwähnte bloß die Aufsätze von Gabor Kazinczy (über Uwarow und Bettina von Arnim) und die von Imre Vahot. Den Autor des erwähnten Gutzkow-Artikels konnte er nicht ausfindig machen. Von Sändor Vachotts Übersetzung des Artikels behauptete Pukänszky, daß es sich dort nicht so sehr um Goethes Person handele als vielmehr um die Hegels : „Allerdings war es dem unbekannten ungarischen Bearbeiter zunächst nicht um Goethe, sondern um Hegel zu tun; denn weit schärfer als Gutzkow zieht .er gegen den Antihegelianer und Goethekommentator Karl Ernst Schubart zu Felde, der doch Goethes Allnatur besser zu würdigen wußte als viele hervorragende Zeitgenossen, und seine Ausführungen klingen in dem von Gutzkow übernommenen echt Hegeischen Satz aus, daß Goethe stets die Dialektik berührte und somit für das werdende Deutschland dasselbe bedeutet wie Aristoteles für das Mittelalter." (S. 368).
ANTAL MADL, BUDAPEST
Karl Beck. Ein Vermittler zwischen ungarischer, österreichischer und deutscher Literatur
Karl Beck, der 1816 in der südungarischen Stadt Baja geboren wurde, hatte innerhalb der sich herausbildenden österreichischen Literatur einen äußerst komplizierten Werdegang. Als er in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts seine ersten Werke veröffentlichte, traten zwar die Merkmale einer selbständigen österreichischen Literatur immer mehr hervor, aber die meisten Wiener und die aus den verschiedenen Teilen der Monarchie stammenden Dichter und Schriftsteller verfolgten im Interesse einer demokratischen Entwicklung doch mit den Dichtern der deutschen Staaten gemeinsame Ziele. Diese Aufgabe, die sich die österreichischen Dichter gestellt hatten, war kaum zu bewältigen; denn sie konnten sich vor den Traditionen ihrer engeren Heimat, insbesondere von den josefinischen Ideen, nicht lossagen, waren aber gleichzeitig bestrebt, mit jenen deutschen Dichtern und Schriftstellern, die unter wesentlich fortgeschritteneren Verhältnissen lebten, einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu finden. Nicht nur in der Politik und nicht bloß 1848 war es eine wichtige Frage, ob Österreich seine Zukunft gemeinsam mit Deutschland und — wenn ja — mit oder ohne seine Nationalitäten zu gestalten versuchte. In ganz besonders komplizierter Form mußte diese Frage bei österreichischen Dichtern auftreten, die infolge der Freiheitsbestrebungen der einzelnen Nationalitäten in vielen Fällen gezwungen waren, ihre engere Heimat zu verlassen, und ihre dichterischen Träume in Wien oder in deutschen Städten zu verwirklichen suchten. Solche Schwierigkeiten waren aber für ihre dichterische Laufbahn nicht unbedingt von Nachteil, sie verliehen ihren Werken oft gerade durch die Überwindung dieser Hindernisse völlig neue Züge, wie das bei Nikolaus Lenau und — wenn auch künstlerisch nicht in so reifer Form, aber politisch desto prägnanter — bei Karl Beck der Fall war. Diese neuen Züge spiegelten sich nicht nur in den haßerfüllten Anklagen von Dichtern aus den Mitgliedsstaaten der Donaumonarchie wider. Oftmals begegnen wir auch dem ehrlichen Versuch, aus einer höheren Art von Humanität heraus den überspannten nationalen Gefühlen den richtigen Platz einzuräumen. Ein wesentlicher Charakterzug der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts war der immer heftiger werdende Wettstreit; man suchte zu beweisen, daß die österreichische Literatur der anderen deutschsprachigen ebenbürtig war. Als eine weitere Eigentümlichkeit ist die stetige, wenn auch nicht immer freundschaftliche Wechselwirkung zwischen der österreichischen und den im Aufstieg begriffenen volksverbundenen nationalen Kulturen der Monarchie zu beobachten: thematisch,
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weltanschaulich und in bezug auf die Gattungen und die sprachlich-stilistischen Mittel. Wien war in dieser Zeit zweifelsohne ein wichtiges Kulturzentrum, das bestrebt war, den benachbarten Kulturen sein eigenes Gepräge zu geben. Zugleich wurden — besonders zur Zeit Metternichs — alle politischen und kulturellen Tendenzen bekämpft, die im Gegensatz zur konservativen Wiener Atmosphäre standen. Auf diese Weise entstand im Vormärz — wie schon oft in der Geschichte des Habsburgerreiches — die merkwürdige Lage, daß Wien Dichter, Schriftsteller und andere Vertreter der Kultur und Wissenschaft anzog und sie dann, nachdem sie in ihren Hoffnungen enttäuscht waren, abstieß. Eine lange Namensliste jener Dichter, Schriftsteller und Künstler könnte vorgelegt werden, die aus den verschiedenen Nationalitätengebieten der Monarchie nach Wien gingen, weil sie dem nationalen Aufschwung ihres Geburtslandes fernstanden und, von dem kulturellen Ideenkreis Wiens angezogen, in der Heimat nicht mehr ihren Platz fanden. Sie traten meistens radikaler auf als ihre Wiener Dichterkollegen und mußten deshalb, von Metternich vertrieben, in die Emigration gehen. Vielen von ihnen haben deutsche Kleinstaaten politisches Asyl gewährt, manche gingen nach Frankreich oder, wie Lenau, nach Übersee, ohne irgendwo Wurzeln fassen zu können. 1 Karl Beck ist in dieser Hinsicht eine typische Erscheinung innerhalb der österreichischen Literatur des Vormärz. Nach seiner Kindheit in der südungarischen Kleinstadt Baja lernt er Deutsch und besucht das deutsche Gymnasium in Pest. Im Laufe seiner philosophischen Studien übt er sich — ebenfalls in Pest — in der deutschen und lateinischen Sprache, geht dann auf Wunsch des Vaters nach Wien und besucht die medizinische Fakultät der Universität. Durch sein Interesse f ü r die Klassiker der deutschen Literatur veranlaßt und schließlich durch eine Krankheit genötigt, gibt er die ärztliche Laufbahn auf. Er kehrt nach Pest zurück und wird Kaufmann. Aber anstatt Rechnungen auszustellen, bringt er, wie Heine, Gedichte zu Papier und beginnt seine ersten dichterischen Versuche in Wien zu publizieren. 1836, im Alter von 20 Jahren, verläßt er die Hauptstadt der Monarchie. Später tritt er in Leipzig vom jüdischen zum lutherischen Glauben über. Er setzt sich mit den Vertretern des „Jungen Deutschland", insbesondere mit Gustav Kühne, in Verbindung und erwirbt sich nach und nach die „Eintrittskarte" für das deutsche literarische Leben. Er folgt einer Einladung Ottilies von Goethe, und so wird Weimar die nächste Station seines Lebens. In diesen Jahren ist er bereits einer der meistgefeierten Dichter der jungen Generation. Allgemein wird man auf seinen kühnen Ton, auf seinen an Börne erinnernden Radikalismus aufmerksam. Von konservativen Literaturhistorikern und Kritikern wird er abgelehnt, fort1
Lenau gab dieser Wurzellosigkeit in folgender Form Ausdruck: „Und stets geneckt von Zweifeln und gezerrt, Ein Fremdling ohne Ziel und Vaterland." Vgl. auch Antal Mädl: Über Lenaus weltanschauliche Krise. In: Annales Universitatis Scientiarum Budapestiensis de Rolando Eötvös Nominatae. Sectio Philologica. Tomus IV. Budapest 1963 S. 5 1 - 5 4 .
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schrittliche Politiker und Ästheten erwarten aber viel von ihm. Deshalb befaßt sich der junge Engels mehrmals mit Becks ersten lyrischen Gedichten. 2 In der oppositionellen Stimmung der Reformzeit bewirkten seine ersten Jugendeindrücke, vor allem seine Zugehörigkeit zu einer noch kaum geduldeten Konfession, daß er, noch bevor er gegen Metternich und den Feudalismus im allgemeinen Stellung nahm, zu den politischen Dichtern gezählt wurde. Die Überschwenglichkeit seiner frühen Gedichte, die Wurzel seines an Börne und häufig an Robespierre anklingenden revolutionären Pathos ist hier zu suchen. „Ein Sultan bin ich, wild und sturmbewegt", sagt er im Programmgedicht seines ersten Gedichtbandes, der unter dem Titel „Nächte, Gepanzerte Lieder" (Leipzig, Engelmann 1838) erschienen ist: Mich drängts hinaus ins Stürmen und ins Grauen, Wo Völker bluten, Männertränen blitzen — Auf des Gedankens Eichen möcht ich sitzen, Ein Aar ins dunkle Tal hinunterschauen — Kein Vöglein, das begehrt im sichern Hafen Auf eines Mädchens Busen einzuschlafen. 3
Dieses dichterische Programm war auch nach dem Erscheinen von Grüns „Spaziergänge eines Wiener Poeten" in der in Österreich und Deutschland aufblühenden politischen Lyrik verhältnismäßig neu und ungewöhnlich. Es ist deshalb leicht zu verstehen, daß seine scharfe Anklage gegen das Philistertum, sein asketisches Kämpfertum und sein vertrauensvoller Optimismus von seinen Feinden mit tiefem Befremden und von seinen Freunden zugleich mit Bewunderung und hohen Erwartungen aufgenommen wurden. Das Gedicht „Die Eisenbahn" (1835) verbreitete den Namen Becks bald in weiten Kreisen. Der Philister und der seine Wertpapiere zählende Kapitalist, der zugleich Grundbesitzer ist und deshalb durch den Bau von Eisenbahnen mehrfach und in widerspruchsvoller Weise berührt wird, scheinen dem Dichter leicht besiegbare Gegner zu sein. In den „Banknoten" glaubt Beck die Schriftzeichen der deutschen Einheit zu entdecken, und das Eisenbahngleis, das die Unendlichkeit umspannt, wird von ihm mit einem Ehering verglichen, der Völker und Länder wie Liebende miteinander vereinigt. 4 Dieses Gedicht, das er zur Eröffnung der Strecke Dresden—Leipzig schrieb, war eine Hymne auf den technischen und menschlichen Fortschritt. Der Dichter, der das lebhafte Getriebe der deutschen Kleinstaaten kennengelernt hatte, ließ im Gedicht alle seine Wünsche erklingen, die ihn über die Zurückgebliebenheit der Monarchie erheben sollten. Er war optimistisch, aber in sozialen Fragen naiv und unwissend. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß er, als nach dem dichteri2
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Siehe Karl Marx—Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur. Herausgegeben v. Michael Lifschitz. Berlin 1950, u.a. bes. S. 434 u. 447. Karl Beck: Nächte, Gepanzerte Lieder. Leipzig 1838 S. 7 bzw. 16. A. a. 0. S. 31.
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sehen Erfolg des ersten Bandes die von ihm erwartete gesellschaftliche Wirkung nicht eintrat, in seinem Selbstvertrauen zu schwanken begann und sich schon mit seinem nächsten lyrischen Band, mit den „Stillen Liedern" (Leipzig, Engelmann 1840), aus dem Kampf zurückzog: Mein Glaube sinkt, ein Aschenbild, zusammen, Will es ein Finger zu berühren wagen, Ihr kühnen Träume, gaukelvolles Heer Von Freiheitsplänen aus verblichnen Tagen, Zerstreut, geächtet, flattert ihr umher, — Muß ich so früh dem Kampfpanier entsagen? 5
Der ersten Begeisterung mußte notwendigerweise die Hoffnungslosigkeit folgen, die etwas später, gegen Mitte der vierziger Jahre den Dichter ergriff, etwa zur gleichen Zeit, als die gesamte deutschsprachige politische Lyrik vorübergehend stagnierte. Diese Krise fand im Band „Das Lied vom armen Mann" (Leipzig, Hermann 1846) ihren vollen dichterischen Ausdruck. Engels hat an diesem Band scharfe Kritik geübt 6 und damit auch seinen eigenen früheren Hoffnungen abgesagt, die er einige Jahre vorher noch an Becks Wirken geknüpft hatte. Dieser Band Becks wurde zum charakteristischen Beispiel jener sozialen Lyrik, die von den konsequenteren Mitkämpfern und Zeitgenossen des Dichters und so auch von Engels gebrandmarkt wurde, weil sie im Gegensatz zu der politischen Dichtung, die den Klassenkampf propagierte, die Armut von der Position der religiösen Barmherzigkeit und des Mitleids aus darstellte. Schon das erste Gedicht des Bandes ist f ü r diese Geistesrichtung charakteristisch, wenn es von den Reichen, von Rothschild und seinesgleichen, die Linderung der Armut durch Almosen erwartet. Damit wurde Beck zum Befürworter der dem Klassenkampf entgegenstehenden kleinbürgerlichen und religiösen Richtung, und er verdiente die scharfe Kritik, die Engels und später Marx an ihm übten. Diese Kritik hat kurz vor dem Ausbruch der Revolution 1848 sogar im Kommunistischen Manifest 7 ihren Niederschlag gefunden. Zu den naiven Vorstellungen des Dichters trug auch der Umstand bei, daß er die Verhältnisse des Habsburgerreiches im Auge hatte, als er westeuropäische Verhältnisse beurteilte und die von der feudalen Herrscherschicht verursachte Not mit Unterstützung der Kapitalisten mildern wollte. Aber schon während er sich in dieser krisenhaften Periode seiner dichterischen Laufbahn befand, übte er in einigen seiner Dichtungen noch eine ähnlich scharfe Kritik wie in seinen ersten Schöpfungen, und zwar wesentlich konkreter als dort. Es sind dies besonders die Werke „Der fahrende Poet" (Leipzig, Engelmann 1838) und „Janko" (Leipzig, Bösenberg 1841). Beide Werke tragen zur Vielfarbigkeit und zum politisch5 6 7
Karl Beck: Der fahrende Poet. Leipzig 1838 S. 184. Vgl. Karl Marx-Friedrich Engels: a. a. 0. (s. Anm. 2) S. 2 8 3 - 2 8 7 . Marx—Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Berlin 1952 S. 39—43.
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dichterischen' Radikalismus des Vormärz bei, und das ist in erster Linie der glücklichen Themenwahl und der für den Vormärz charakteristischen dichterischen Form zu verdanken. „Der fahrende Poet" ist thematisch für das Schicksal und die Tätigkeit der österreichischen Dichter des Vormärz charakteristisch. Beck erzählt darin — etwas an Byrons „Childe Harold" erinnernd — von seinem eigenen ruhelosen Leben und seinen Enttäuschungen: Drum sei, mein Geist, mit deiner Sendung stumm Und sieh dich still auf dieser Erde um.8
Diese passive Betrachtung stellte im Vergleich zu seinen früheren Konzeptionen einen Rückzug dar, begünstigte jedoch eine konkrete Beobachtung und kritische Stellungnahme insofern, als sie die Darstellung eigener Erlebnisse, persönlicher Eindrücke ermöglichte. Es ist demnach nicht bloße Manieriertheit, wenn Beck den fahrenden Poeten seine Wanderungen in Ungarn antreten läßt, verbinden doch den Dichter alle seine Jugenderinnerungen mit diesem Lande. Es erfüllt ihn mit aufrichtiger Freude, daß sein Geburtsland besseren Zeiten entgegensieht, und begeistert preist er die Schönheit der ungarischen Landschaft: Ein Stück des Himmels fiel zur Erde nieder, Mich dünkt, es ist mein heimatliches Land."
Auch die Donau, die die beiden Städte Pest und Ofen verbindet, wird in schönen, poetischen Versen besungen. Das bewegte politische Leben der ungarischen Reformzeit läßt Beck f ü r einen Augenblick seine kontemplative Einstellung und seine Enttäuschungen vergessen. Er glaubt, daß sein Freiheitsideal in einer ferneren Zukunft verwirklicht wird und ist davon überzeugt, daß die Ketten der Tyrannei die Völker nicht auf ewig fesseln können: Dein Enkel wird sie glänzend einst zerbrechen, So glänzend, wie sie je ein Volk zerbrach.10
Den beiden letzten Kapiteln hingegen, die über Weimar und die Wartburg berichten, fehlt die Frische, die aus konkreten, persönlichen Erlebnissen herrührt. Auf eine f ü r die episch-lyrische Kunstgattung des Vormärz bezeichnende Weise tritt der Dichter in der Ichform auf. Dem kontemplativen Charakter entsprechend, steigt er nach seiner Ankunft in Wien auf den Turm des Stephansdomes. Er überblickt von dort die Stadt und in seinen Gedanken sogar die ganze Monarchie. Der erste Gegenstand seiner Kritik ist die Zensur, die ihn aus seiner Heimat ver8 9 10
Karl Beck: Der fahrende Poet (s. Anm. 5) S. 207. A.a.O. S. 14. A. a. O. S. 19.
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trieben hat. Mit dieser Kritik schließt sich Beck jenen Dichtern des Vormärz an, die in breiter Front die Zensur angegriffen haben. In seinem Gedicht wird der Dom zum Symbol der Gefühllosigkeit, der Unbarmherzigkeit und des Fanatismus der Kirche. Treffend schildert er Wien als eine sich modern entwickelnde Großstadt. Er beweist, daß Wien nicht die Stadt der ungetrübten Heiterkeit des Biedermeiers ist und es niemals war. Die Vergnügungsstätten des Praters, die lustigen Einfälle des Hanswurstes und der Tanz dienen nur der billigen Zerstreuung des Volkes. Die Wiener wurden von Metternich irregeführt, behauptet der Dichter: O tanzet nur, wollustig hingetragen, Genießet, was die Augenblicke schenken, Denn an die Zukunft dürft Ihr doch nicht denken. 11 Mich täuschet nicht des Volkes Jubelchor, Es ist ein Irrwischtanz auf faulem Moor. Lebendiges Schattenreich! Und Klein und Groß Ist selig hier, — doch ist's ein Schatten bloß! 1 2
Er beurteilt das Schicksal der Völker der Monarchie, indem er vom Dom herab einen Blick auf ihre Geschichte und die gegenwärtigen Verhältnisse wirft: Doch ach, die spiegelhellen Fluten haben Auch eine Tiefe: schwarz, und kummervoll; Da liegt von manchem Reich ein Wrack begraben, Und ringsum wirbelt der empörte Groll; In Sehnsucht steckt es aus dem Klippengrunde Den Mast empor, von Moos und Schlamm umspült, Noch hofft und harrt es auf die große Stunde, Wo der Orkan es aus der Tiefe wühlt. 13
Um dieses Bild entwerfen zu können, mußte er die Völker der Monarchie kennen. Nur dann konnte er die komplizierten Verhältnisse beurteilen, die für die buntbevölkerte Monarchie am Anfang des ungarischen Reformzeitalters, zur Zeit des Vormärz, charakteristisch waren. Noch origineller ist das Bild, das Beck von der Lage des österreichischen Volkes und seinem Verhältnis zu den Nationalitäten entwirft: Ein Riesenwagen, im Triumphe rollend, Darauf ein kleiner Triumphator sitzt, Und eine Völkerschar, die finster grollend 11 12 13
A. a. O. S. 108. A. a. 0. S. 78. A. a. O. S. 82.
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A. Mädl Den Wagen zieht, von Staub und Schweiß erhitzt: Dies dunkle Bild erscheint vor meinen Blicken! Seht ihr den kleinen Triumphator nicht, Das Völkchen Österreichs . . . Unschuldig, kindlich, fröhlich und gesund, So lebt dies Volk sein stilles Pflanzenleben! Sein Herzchen ist geöffnet bis zum Grund, Und bald gestillt ist auch sein höchstes Streben. 14
Diese Gesellschaftskritik und die Beurteilung der Lage, die uns überraschen muß, wenn wir sie mit anderen, um diese Zeit entstandenen Gedichten vergleichen, wird im Versroman „ Janko" noch konkreter fortgesetzt. Während das eben besprochene Werk unter Byrons Einfluß entstand, lehnt sich Karl Beck in der Themenwahl diesmal an Lenau an, mit dem er bereits ein Jahr lang eng befreundet war. Das Bemühen, Geschichte und Gegenwart der Länder der Monarchie thematisch in die österreichische Literatur einzubeziehen, gehörte übrigens zum Programm jener Generation von Schriftstellern, die ihre Impulse noch vom Josefinismus erhalten hatten. Es war ein Bestandteil der literarisch-künstlerischen Manifestation der Bestrebungen, einen zentralisierten einheitlichen Staat aufzubauen. Hormayr und Mednyanszky arbeiteten mit ihrem Jahrbuch 15 auf dieses Ziel hin, als sie den österreichischen Dichtem und Schriftstellern eine im wesentlichen historische Sammlung von Themen zur Verfügung stellten. Auch Pyrker hat in diesem Sinne seine Themen aus der ungarischen Vergangenheit geholt, und auch der josefinisch eingestellte Franz Grillparzer stand unter diesem Einfluß, als er in seinen Dramen Themen der tschechischen und ungarischen Vergangenheit bearbeitete. Neben dem Exotischen und der historischen Anschauungsweise des Josefinismus bestimmte bei Lenau und Beck, aber auch bei anderen im Karpatenbecken geborenen Schriftstellern in erster Linie ihr Geburtsland ihre Themenwahl. Von ihrer Gegenwart ausgehend, konnten sie sich leicht in die historischen Begebenheiten einfühlen, und was auf andere exotisch wirkte, war ihnen oft persönliches Erlebnis. Auf Grund solcher Erlebnisse konnte Karl Beck im „Janko" eine beachtenswerte Analyse nicht nur seiner engeren Heimat, sondern auch der Monarchie und in mancher Hinsicht sogar der in Deutschland herrschenden Zustände geben, während in seinen anderen Werken seine weltanschauliche Unsicherheit und sein Pessimismus dominierten. Im „Janko" berührt Beck,; der gern mit romantischem Aufwand arbeitet, auf Schritt und Tritt wichtige gesellschaftliche Probleme. Janko, ein Sohn der ungarischen Pußta, ist ein einfacher Pferdehirt, dessen Leben vom gewöhnlichen Lebenslauf 14 15
A. a. 0 . S. 92/93. Josef von Hormayr und Alois Mednyanszky gaben zwischen 1822 und 1848 gemeinsam die Reihe „Taschenbuch für die vaterländische Geschichte" heraus, in der sie versuchten, die gemeinsame Vergangenheit Österreichs und der Mitgliedsstaaten der Monarchie im josefinischen Geiste darzustellen.
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seinesgleichen abzuweichen beginnt, als er die Tochter des im Dorfe wohnenden deutschen Gastwirts aus den Händen eines Räubers rettet. E r verläßt seine frühere Geliebte, das Zigeunermädchen, und sein einziger Wunsch ist, die Wirtstochter zu heiraten. Der aus deutschem Sprachgebiet stammende Gastwirt hatte aus seiner Heimat fliehen müssen und im Ungarn der Reformzeit politisches Asyl gefunden. Der Grund f ü r die Flucht war, daß sein Sohn im Kampf gegen Napoleon gefallen und der Vater beschuldigt worden war, er habe ihn gezwungen, in den Krieg zu gehen. Der ungarische Graf, der soeben aus dem Ausland zurückgekehrt ist, zerstört das Hochzeitsglück der Wirtstochter und des Pferdehirten. Er verdreht dem Mädchen den Kopf, worauf der Hirt Rache übt, das gräfliche Schloß in Brand steckt und den Grafen tötet. Dem Hirten stehen nun zwei Möglichkeiten offen. Nach den bestehenden Gesetzen müßte er sich den Panduren stellen und ins Gefängnis gehen. Doch des Dichters Freude am Romantischen verwandelt den Hirten der ungarischen Pußta in einen Räuber. Auch die Gerechtigkeit diktiert dem Dichter diese Lösung. Letzten Endes hat sich nicht der Hirt gegen die Gesellschaft vergangen, sondern die Reichen haben sich in der Person des Grafen gegen die Armen vergangen. Nach der Darstellung des Dichters vagabundiert Janko nicht aus romantischer Liebhaberei in der Pußta umher, sondern er nimmt das Schicksal des Ausgestoßenen auf sich um — ähnlich dem Betyaren im Bakony bei Lenau — das Unrecht zu sühnen: . . . meinen Namen kennt der Ungarkönig bald! Wie zu Nacht Geheul des Wolfes, klingt er durch das ganze Reich, Und die Herren in ihren Schlössern werden krank und bleich. 16
Mit der Figur des Grafen wird von Beck eine der heikelsten Fragen in den Mittelpunkt des Werkes gerückt, die Frage des Verhältnisses zwischen dem ungarischen Adel und dem Habsburger Herrscherhaus. Die Figur des Grafen ist voll von Widersprüchen. Er kehrt aus dem Ausland heim, kennt kaum noch die Sprache seiner Ahnen, und doch will er ungarische Lieder hören, einer Bauernhochzeit beiwohnen. Aber diese Anwandlungen dauern nur so lange, bis er ein Auge auf das deutsche Mädchen geworfen hat. Sofort beginnt er deutsch zu sprechen, und anstatt des Csardas tanzt er einen Walzer, weil er meint, damit die Gunst des Mädchens zu gewinnen. Er beklagt sich bitter über die ihm am Wiener Hof zugefügten Beleidigungen, aber als er die Gründe anführt, stellt sich bald heraus, daß seine Beschwerden mit denen seiner Leibeigenen keinesfalls identisch sind. Er grollt dem Wiener Hofe, weil man ihm dort wegen seiner Unbildung und schlechten Manieren den Laufpaß gegeben hat. Auch sein Freiheitsdrang ist rein individualistisch. Er stellt seine Forderungen im Namen des Adels und beruft sich auf die Menschenrechte, doch verlangt er von seinen Untergebenen unbedingten Gehorsam: Freiheit — waren meine Bauern Willig und geduldig blieben? 16
Karl Beck: Janko. Leipzig 1841 S. 317.
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A. Mädl Sorgten sie für meine Felder? Sind die Zehnten eingetrieben? Sind die Dämme aufgeworfen? Ist das Holz im Wald gehauen? 17
Beck befaßte sich mit diesem in seiner Zeit fast unlösbaren Widerspruch, in dem die nationale, halbkoloniale Unterdrückung und die Klassenausbeutung in außerordentlich komplexer Art verkoppelt sind, mit richtigem kritischen Sinn und humaner Gesinnung. Er wußte nicht, wie diese Probleme zu lösen wären, doch die Art, wie er sich mit ihnen in seinem Versroman auseinandersetzt, zeugt von einem hohen ethischen Maßstab und von seiner Suche nach historischer Wahrheit. Bis zum Ende hat er Ungarn als sein Heimatland betrachtet, doch stand er dem (nicht selten zum Nationalismus tendierenden) ungarischen Patriotismus des Reformzeitalters fern, obwohl er sich, von Heimweh erfüllt, manchmal als „Magyarenkind" bezeichnete. Er hielt sich für einen Österreicher im Sinne des Nationalitätenstaates, der über den Mitgliedsstaaten steht; als Dichter jedoch war er gezwungen, seine Themen fast ausschließlich dem Milieu seiner ungarischen Heimat zu entnehmen. Alle aus dem Gefühl und der Erfahrung geschöpften Motive führten ihn in die Heimat zurück. Anderseits aber schrieb er deutsch und gelangte — von den sozialen Problemen des ungarischen Lebens ausgehend — nach seinen Wiener Erfahrungen zur deutschen politischen Lyrik. Und doch ist er, seiner Stellungnahme und seiner Problematik nach, so sehr österreichisch, daß er — seit Friedrich Engels — immer zu den österreichischen Dichtern gezählt wird und als Verbindungsglied zwischen Ungarn, dem damals bedeutendsten Mitgliedsstaat der Monarchie, und den deutschen Kleinstaaten gilt. In gewisser Beziehung sah man in ihm auch den Vermittler der Gedanken der französischen utopischen Sozialisten. Er erhebt seine Stimme im Interesse der ärmsten Volksschichten, deren Vertreter er im Zigeuner und im Hirten sieht. Leidenschaftlich protestiert er gegen die Habsburger und gegen die halbkoloniale Unterdrückung Ungarns. Gleichzeitig durchschaut er die Doppelzüngigkeit des Adels, der herschenden Klasse in Ungarn, ihren Patriotismus, der sich in Phrasen erschöpft, ihre diensteifrige Schmeichelei dem Hofe gegenüber. Er wußte auch zu gut, daß während der Regierung Josephs II. das alte Ständewesen und die adeligen Vorrechte oft unter dem Vorwand des Patriotismus gegen die fortschrittlichen und zum beträchtlichen Teil bürgerlichen Bestrebungen verteidigt wurden. Beck war imstande, ein eingehendes, kritisch-analytisches Bild des Habsburgerreiches zu geben, weil er seine ersten Erfahrungen in der ungarischen Pußta machte, die als Nationalitätengebiet galt. Daß er beide Bereiche gleichzeitig übersah, erweiterte seinen Gesichtskreis, machte es ihm jedoch unmöglich, weiter in dem vom Geiste Metternichs beherrschten Wien zu bleiben. Seine Wanderfahrt durch die deutschen Kleinstaaten bereicherte ihn um weitere Erlebnisse und Er17
A.a.O. S. 159.
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fahrungen. Er wurde von Börne, den Schriftstellern des „Jungen Deutschland" und ganz besonders von Herwegh, mit dem er während seiner Emigration in der Schweiz Freundschaft schloß, ermutigt. Die französischen utopisch- sozialistischen Lehren lernte er während seiner Reisen nach Frankreich kennen, und diese, verbunden mit seinen Jugenderlebnissen, bewegten ihn dazu, die soziale Not der modernen Großstädte von einem eigenartigen Standpunkt aus zu betrachten: Sämtliche Volksschichten stehen vereinigt dem Adel gegenüber und suchen nach einer Mög1lichkeit, die bestehenden Zustände zu beseitigen. Es ergibt sich daraus, daß Beck aus seiner Pußta-Perspektive die Lösung der sozialen Probleme von der Barmherzigkeit der Kapitalisten erwartete, anstatt sich die Lehre vom Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat anzueignen, der in dieser Zeit in offenen Auseinandersetzungen sichtbar wurde, z. B. im Aufstand der schlesischen Weber 1844. Dies erklärt, daß er nach vielen wertvollen politischen Feststellungen und vielversprechenden dichterischen Anfängen, eine falsche Richtung einschlug. Das äußerte sich schon vor der Revolution in seiner ideologischen Unsicherheit und führte mittelbar zum langsamen Versiegen seines dichterischen Talents. Einige seiner Werke, besonders der schon erwähnte „Fahrende Poet" und „Janko", weisen — neben der inhaltlichen Aussage — auch beachtenswerte formale Eigenheiten auf. Beck weicht hierin nicht von der für die deutschsprachige politische Dichtung charakteristischen Form ab; auch er schafft umfangreiche episch-lyrische Dichtungen und folgt damit dem Vorbild Heines und Lenaus. Diese episch-lyrische Gattung hat in den erzählenden Dichtungen Heinrich Heines, des größten deutschen politischen Dichters, ihren künstlerisch wertvollsten Ausdruck gefunden, insbesondere in „Deutschland, ein Wintermärchen" und „Atta Troll". Heine mag diese Kunstgattung infolge seiner lyrischen Einstellung und der ersten Erfolge seiner in Prosa verfaßten „Reisebilder" gewählt haben, es dürfte aber auch der Umstand mitgewirkt haben, daß es diese Kunstgattung dem kranken Dichter während seiner Pariser Emigration am besten ermöglichte, seiner Kritik prägnanten Ausdruck zu geben. Seine österreichischen Dichterkollegen — einige von ihnen wurden von Metternich ebenfalls in die Emigration getrieben — haben aus ähnlichen Gründen zu dieser Kunstgattung gegriffen. Aber auch die in der Heimat gebliebenen wählten zur Tarnung und zur Irreführung der Zensur manchmal einen Spaziergang oder eine Reise als Rahmen f ü r ihre dichterische und zugleich politische Aussage (z. B. Grün: „Spaziergänge eines Wiener Poeten"). Lenau wandte sich dieser dichterischen Gattung aus zwei Gründen zu: Einerseits wollte er sich von einigen Phrasendreschern der Tendenzpoesie distanzieren, andererseits zwang ihn die Zerrissenheit und Kompliziertheit seiner Zeit, immer wieder f ü r ihre wesentlichen Tendenzen die geeignete Gattung zu suchen. Seine umfangreichen epischen Werke — „Savonarola", „Die Albigenser", „Faust" und „Don Juan" — sind das Ergebnis solcher Experimente. Lenau unterscheidet sich von anderen Zeitgenossen dadurch, als er nicht irgendwelche Reisen als Rahmen wählte, sondern die seit der josefinischen Epoche auch in Österreich neu erweckte traditionelle Eposform seiner eigenen philosophischen Aussage anzupassen versuchte. 14*
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Wir sehen hier eine charakteristische neue Kunstgattung, die in Ungarn während des Reformzeitalters, im österreichischen und deutschen Vormärz und in Westeuropa, wo das industrielle Proletariat schon seine revolutionären Forderungen erhob, fast gleichzeitig in den Vordergrund gerückt war. Eine der zu dieser Kunstgattung führenden Linien geht vom Epos aus. Denken wir an Goethes „Hermann und Dorothea", in dem zuerst versucht wird, das durch die Stürme der Französischen Revolution gefährdete Leben des deutschen Kleinbürgertums in der Form des Epos darzustellen, oder an den „Reineke Fuchs", in dem der Dichter seine Ansicht über die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit indirekt ausdrückt. Die Versuche der josefinischen österreichischen Dichter, das Epos aufleben zu lassen, Pyrkers deutsch geschriebene Epen, deren Stoffe der ungarischen Vergangenheit entnommen sind, drücken ähnliche Bestrebungen aus wie Vörösmartys Epos „Zalän futasa" [Zalans Flucht]. Die ungarische Literatur durchlief den ganzen Weg von Vörösmarty bis Sändor Petofis „Helyseg kalapäcsa" [Der Dorfschmied], vom neuen Aufleben des Epos bis zu dessen satirischer Vernichtung. Zur gleichen Zeit sucht auch Lenau mit der epischen Darstellung des Lebens legendärer Volkshelden die Form zu finden, in der die Ideen des Vormärz gestaltet werden können. Um dieses Ziel zu erreichen, erprobt er sogar episch-dramatische Mischformen. Eine weitere Ausgestaltung dieser vorherrschenden Kunstgattung ermöglichen die versifizierten Reisebilder. Die Reisebeschreibungen, die mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft Mode geworden sind und ein großes Leserpublikum gefunden haben, erhalten durch die Romantik neue Impulse. Die früher sachlichen Reiseberichte werden ins Künstlerische gehoben, und die Phantasie erhält freien Spielraum. Im Vormärz wird dann das ursprüngliche Hauptziel der Reisebeschreibungen, die Berichterstattung, nebensächlich, und die durch die Romantik aufgelockerte Form der Reisebeschreibung wird in den Dienst der gesellschaftlichen und politischen Tendenzen des Autors gestellt. Gemeinsames Merkmal des erneuerten Epos, der legendären Lebensbeschreibung, der Spaziergänge und Reisebilder ist ihr von den traditionellen Gattungen abweichender Charakter, ihre Bezogenheit auf aktuelle gesellschaftliche Probleme. Dieser Zug, der meistens eine oppositionelle Stellungnahme ausdrückt, sprengt den Rahmen des Epischen, erhebt die Helden der Volksbücher in die Sphäre der Kunstdichtung und gibt den tagebuchartigen Reisebeschreibungen eine künstlerische Form. Vorbedingung dafür war, daß man der klassischen Konzeption der reinen Kunstgattung entsagte, sich bis zu einem gewissen Grade den Begriff der romantischen Universalpoesie aneignete und die formalen Eigenschaften den Ideen dienstbar machte, die im Vormärz von den komplizierten sozialen Problemen angeregt wurden. Baja, Buda und Pest, Wien, ferner zwei solche Mittelpunkte der deutschen Kulturgeschichte wie die Wartburg, der zeitweilige Aufenthaltsort Luthers, und Weimar, die Wiege der deutschen klassischen Literatur, boten Karl Beck im „Fahrenden Poeten" nicht nur einen würdigen Ramen für neue Erlebnisse, sondern bereicherten die besonders in der österreichischen politischen Dichtung dominie-
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rende episch-lyrische Gattung um neue Züge. Im „Janko" werden dann alle Möglichkeiten dieser Mischform, um den Ausdruck wichtiger sozialer Erkenntnisse zu ermöglichen, ins Spiel gebracht. Die romantische Handlung wird bravourös in Versform und in rhythmische Prosa gekleidet. Lyrischen Monologen folgen Dialoge in verschiedenen Versmaßen, mit denen die Gestalten des Werkes charakterisiert werden. Epische Beschreibungen werden unterbrochen, um die Schilderung von Jugenderlebnissen in Verbindung mit der liberal-radikalen Beurteilung des ungarischen Reformzeitalters und der Epoche des Vormärz in Österreich zu ermöglichen. Auch entbehrt das Werk nicht dramatischer Spannungen, die sich zwangsläufig aus den sozialen Konflikten der Zeit ergeben. So gelang es Beck, eine Dichtung zu schaffen, die — den Tendenzen des Vormärz entsprechend, zum Teil auch unter dem Einfluß der Romantik stehend — die klassischen Traditionen aufgibt und einfach aus den Bedürfnissen der Zeit heraus die drei Grundgattungen — Lyrik, Epik und Dramatik — in sich vereint, nicht aus Manieriertheit, sondern abhängig von der Aussage des Werkes. Diese ästhetischen Bestrebungen und der Ideengehalt einiger seiner Jugendwerke machten Beck einige Jahre hindurch zu einer bedeutenden Gestalt der politischen Dichtung des Vormärz. Er machte im Vormärz den Versuch, die sozialen und politischen Probleme seiner Zeit zu erfassen. Seine vielseitigen persönlichen Erlebnisse ermöglichten das und rückten ihn, wenn auch nur für kurze Zeit, in den Vordergrund des literarischen Interesses. Er wirkte anregend, als er auf die soziale Not seiner Zeit aufmerksam machte. Er wurde heftig angegriffen, als er den Versuch unternahm, antagonistische Klassen und Interessen zu versöhnen. Seine Bedeutung besteht in diesen großen, wenn auch gescheiterten Zielsetzungen. Wenn wir seinen Platz in der Geschichte der österreichischen Literatur bestimmen wollen, müssen wir diese Bestrebungen in Betracht ziehen, auch wenn er nach 1848 fast völlig verstummte. Er war vor und auch nach der Revolution von 1848 immer bestrebt, die nationalen Unterschiede, besonders innerhalb der Monarchie, auszugleichen, und er glaubte, in der wechselseitigen Vermittlung der Literaturen der Völker Mitteleuropas den richtigen Weg dafür gefunden zu haben. Sein Weg führte von Petofi, der ihm eine eigenhändig geschriebene deutsche Autobiographie für eine geplante Ausgabe seiner Gedichte in deutscher Sprache schenkte, bis nach Paris, wo der größte deutsche Lyriker seiner Zeit, Heinrich Heine, in der Emigration lebte. Die Verbreitung der ungarischen Literatur in deutscher Sprache war eines seiner Hauptanliegen. Am meisten am Herzen lag ihm das Werk Petofis, dessen Name ihn seit der ersten Begegnung im Jahre 1846 in Pest durch ganz Österreich, Deutschland und Frankreich begleitete und noch nach Jahrzehnten in Bann hielt, als er in Breslau 1889 in einem umfangreichen Aufsatz Petofis gedachte.
EVA HEKMANN, LEIPZIG
Die Geschichte der Schrift Sajtöszabadsägröl nezetei egy rabnak von Mihaly Tancsics Ein Beitrag zu den deutsch-ungarischen
buchhändlerischen
Beziehungen
im
Vormärz*
Als Mihäly Tancsics im Jahre 1843 seine Schrift „Sajtöszabadsägröl nezetei egy rabnak" [Ansichten eines Sklaven über die Pressefreiheit] verfaßte, war er sich von vornherein darüber im klaren, daß er sie in Ungarn wohl nicht werde veröffentlichen können. 1 Er hatte darin das feudale Zensursystem einer schonungslosen Kritik unterzogen und vom eben zusammentretenden ungarischen Reichstag ein Gesetz verlangt, welches garantierte, daß „in unserem Vaterlande Ungarn f ü r alle ungarischsprachigen Bürger die Presse f ü r immer frei" werde. 2 Die Pressefreiheit bildete eine der zentralen Forderungen der bürgerlichen Emanzipationsbewegungen in Europa vor 1848, die die Schaffung kapitalistischer Verhältnisse zum Inhalt hatten. Zur Durchsetzung und Verbreitung ihrer Gedanken und Zielsetzungen bedurften ihre Vertreter einer von der Zensur freien Presse als einer wirksamen Waffe im Kampf gegen die feudalabsolutistische Reaktion. In Ungarn mußte diese Bewegung, die dort um 1830 einsetzte und als bürgerliche Reformbewegung in die Geschichte einging, auf Grund der besonderen historischen Situation das Ziel haben, das Land aus der Krise des Feudalismus heraus auf den Weg der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung zu führen und gleichzeitig die nationale Unabhängigkeit von Habsburg zu erringen. Da es ein starkes Bürgertum nicht gab, mußte die Führung der mittlere und niedere Adel übernehmen, eine Klasse, die, von der Krise des Feudalismus schwer betroffen, selbst an einer bürgerlichen Umgestaltung brennend interessiert war. Die Reformbewegung des liberalen Adels mußte sich daher sowohl gegen den jeder Veränderung abholden reaktionären Hochadel im eigenen Lande als auch gegen den habsburgischen Feudalabsolutismus richten. Obgleich Ungarn gemäß seiner Ständeverfassung souverän war, hatte sich der habsburgische König das Recht angemaßt, über die Institution der Zensur nicht * Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind inzwischen in einem größeren Rahmen, unter E. Hermann: Die Buchstadt Leipzig und ihre Rolle bei der Vorbereitung der bürgerlichen Revolution von 1848 in Ungarn. In: Beiträge zur Geschichte des Buchwesens. Bd. I. Leipzig 1965 S. 5 3 - 2 5 1 erschienen. 1 M. Tancsics: ßletpälyäm [Mein Lebenslauf], Kolozsvär 1943 2 S. 100. 2 Zitiert nach der von G. Supka 1947 in Budapest neu herausgegebenen zweiten Aufl.: (Mihäly Tancsics:) Sajtöszabadsägröl nezetei egy rabnak [Ansichten eines Sklaven über die Pressefreiheit]. 2. kiadas, 1846, London, Paternoster row (eigentlich Hamburg) S. 71 [Übersetzt von mir, E . H . ]
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nur in den österreichischen Erbländern, sondern auch in Ungarn allein zu verfügen. Mit Hilfe dieses Machtinstruments suchte der Wiener Hof den Abfall Ungarns von der k. k. Monarchie zu verhindern und die Entfaltung der ungarischen Reformbewegung durch die Unterdrückung aller fortschrittlichen Gedanken niederzuhalten. Zur Überwachung des geistigen Lebens und der Presse wandte er also auch in Ungarn die Prinzipien der unter Leitung des Wiener Polizeichefs Sedlnitzky stehenden Zensurhofstelle an, die aus der einschlägigen Literatur sattsam bekannt sind. 3 Je spürbarer die Auswirkungen dieser Zensurpolitik des Wiener Hofes gegen die erstarkende Reformbewegung in Ungarn wurde, um so energischer nahmen deren Vertreter den Kampf gegen die königliche Zensur auf, die sie als einen groben Verstoß gegen die verfassungsmäßigen Freiheiten der ungarischen Nation betrachteten. Auf dem ersten ungarischen Reformreichstag von 1832/36 kamen ihre Wortführer noch nicht gegen den ungarischen Feudaladel auf, dessen Interessen mit denen des Hofes zusammenfielen. 4 Der von Wien nach diesem Reichstag gegen die Presse und jede freie Meinungsäußerung in Ungarn eingeleitete verstärkte Terror, der in der Verhaftung und Verurteilung Kossuths und Wesselenyis als der Führer der nationalen Opposition kulminierte, brachte den Herrschenden jedoch nicht den gewünschten Erfolg. Er bewirkte im Gegenteil, daß die Bewegung f ü r Pressefreiheit nunmehr ganz Ungarn ergriff und nicht mehr erlahmte. Hof und Regierung mußten auf dem Reichstag von 1839/40 nachgeben. Die beiden Politiker wurden freigelassen, und bei der Statthalterei in Buda, der zentralen ungarischen Regierungsstelle, wurde 1840 eine eigenständige ungarische Zensurbehörde eingerichtet. Die Verfechter der Pressefreiheit gaben sich aber mit diesen Zugeständnissen nicht mehr zufrieden, war doch damit die feudale Zensur nicht gefallen, sondern lediglich aus den Händen der habsburgischen in die der ungarischen Reaktion überführt worden, die im Interesse der Konservierung der feudalen Gesellschaftsordnung auch weiterhin die Zensurpolitik des Wiener Hofes befolgte. Die besten Vertreter der Reformbewegung forderten daher seit 1840 vom ungarischen Reichstag die Ablösung der königlichen Zensurverordnungen durch ein Gesetz, das die Freiheit der im Dienste der bürgerlichen Entwicklung stehenden Presse von der Zensur festlegen sollte. 5 Die Deputierten wurden beauftragt, sich in der bevorstehenden Ständeversammlung von 1843 dafür einzusetzen. 3
5
Einen Überblick über die reichhaltige Literatur gibt J. Marx: Die österreichische Zensur im Vormärz. Schriftenreihe des Arbeitskreises für Österreichische Geschichte. München 1959. So war es den Verfechtern der Pressefreiheit auf dem Reichstag von 1832/36 nicht einmal gelungen, ein bescheidenes Gesetz über die Herausgabe einer ungarischen Reichstagszeitung durchzubringen, die die Nation über die sie betreffenden politischen Fragen informieren und damit der Reformbewegung eine breitere Basis schaffen sollte. Ö. Both. Az 1848. evi sajtötörveny letrejötte [Die Entstehung des Pressegesetzes von 1848], Szeged 1956 S. 42 ff.
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Zu ebendieser Zeit entstand die Schrift Tâncsics' über die Pressefreiheit. Der aus der leibeigenen Bauernschaft stammende Publizist gelangte jedoch darin über seine Zeitgenossen aus dem liberalen Adel hinaus, indem er anstelle eines den Interessen einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung dienenden Pressegesetzes die uneingeschränkte Pressefreiheit forderte. Tâncsics wies sich damit schon als der revolutionäre Demokrat aus, als den ihn seine späteren Schriften und besonders seine Wirksamkeit während der Revolution von 1848/49 bestätigten. Indem er als konsequenter Vertreter des ungarischen Volkes, in erster Linie der f ü r die Befreiung von der feudalen Unterdrückung kämpfenden Bauernschaft, mit seinen Forderungen weiter ging als die liberale Opposition um Kossuth, riß er diese mit sich, mobilisierte die Volksmassen und bestimmte dadurch Richtung und Tempo der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 entscheidend mit. Seine konsequente demokratische und revolutionäre Haltung rückte ihn neben Kossuth und Petôfi in die Reihe der bedeutendsten Persönlichkeiten der Revolution. 6 Es lag auf der Hand, daß die Reaktion alle Hebel in Bewegung setzte, um das Erscheinen solcher Schriften, die offen die Änderung der bestehenden Verhältnisse verlangten, zu vereiteln. Manuskripte politischen Inhalts mußten in Ungarn daher generell vom Zensor, dem die Erteilung der Druckgenehmigung streng untersagt war, dem zentralen Bücherzensuramt in Buda vorgelegt werden, und dieses hatte — auch nach 1840 — seinerseits die endgültige Entscheidung von der in Wien amtierenden Ungarischen Hofkanzlei einzuholen. Hier fanden sie dann meist keine Gnade. Bei Tâncsics trat zu alledem der erschwerende Umstand hinzu, daß er in dem Rufe stand, ein „politisch gefährlicher" Publizist mit einer sehr spitzen Feder zu sein. Er hatte sich dieses Prädikat 1833 gleich nach Erscheinen seines ersten Werkes, eines Lehrbuchs der ungarischen Sprache f ü r Deutsche, verdient. 7 Schon in der Wahl der Beispiele der auf den ersten Blick harmlos anmutenden Sprachübungen klang die politische Stellungnahme des Verfassers an. Der Palatin Ungarns, Erzherzog Joseph, dem das Tâncsicssche Lehrbuch zufällig in die Hände geraten war, hatte, über den Unterton entsetzt, sofort die Konfiskation im ganzen Lande angeordnet 8 , den Zensor f ü r die Erteilung der Druckgenehmigung bestrafen lassen 9 und dafür gesorgt, daß Tâncsics als Lehrer und Erzieher adliger Sprößlinge unmöglich gemacht und das Erscheinen weiterer Schriften von ihm unbedingt vereitelt wurde. 10 6
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J. Rêvai: Magyar szabadsâg — vilâgszabadsâg [Ungarns Freiheit — Weltfreiheit]. In: Marxismus, népiesség, magyarsâg [Marxismus, Volkstümlichkeit, Ungartum], Budapest 1955 4 S. 104 ff. Magyar és németh beszélgetések és nyelvgyakorlatok [Deutsch-ungarische Konversation und Sprachübungen]. Pest 1833. Magyar Orszâgos Levéltâr [Ungarisches Landesarchiv], abgekürzt: MOL, Budapest, Helytartétanâcs Levéltâra [Archiv der Statthalterei], abgek.: Htt. Lt., Dep. rev. libr., 1834 f. 7 pos. 1, 2, 9 - 1 1 , 14, 15, 38, 72, 91. M. Tâncsics: Életpâlyâm, a. a. 0. S. 69. Ebenda S. 70.
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Das Zensuramt bei der Statthaltern ließ demgemäß im darauffolgenden Jahr ein Manuskript Täncsics', das dort seiner Genehmigung harrte, auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Die nächste, im gleichen Jahre verfaßte Arbeit strich der entsprechend instruierte und verängstigte Zensor derart zusammen, daß der Autor sie zurückzog; als er den „anstößigen" Teil dennoch in Klausenburg drucken ließ, wurden alle Exemplare davon unverzüglich konfisziert. Bei zwei weiteren Schriften hielt es sein Verleger von vornherein f ü r zwecklos, das Imprimatur zu beantragen. Auch die Zeitschriften wagten nicht mehr, seine in radikalem Ton geschriebenen Artikel zu veröffentlichen. 11 Seine „Sajtôszabadsâgrôl..." verfaßte also Täncsics von vornherein in der Absicht, sie entweder unter Umgehung der Zensur in Ungarn oder aber im Ausland drucken zu lassen. Nur brauchte er einen Verleger und einen Drucker, die auf ein solches Unternehmen eingingen. Aber gerade diesen waren in Ungarn durch das besagte System kleinlicher Zensurvorschriften die Hände gebunden. Sie waren ständig unverhofften Visitationen durch die Bücherrevisoren ausgesetzt, denen Konfiskationen, polizeiliche Untersuchungen und hohe Strafmaße auf dem Fuß folgten. Täncsics' bisheriger Verleger Heckenast in Pest stand unter spezieller pressepolizeilicher Kontrolle, da er des öfteren dabei ertappt worden war, über seinen Schwager, den Leipziger Buchhändler Otto Wigand, „gefährliche", in Ungarn verbotene Schriften erhalten und vertrieben zu haben. Ebenso vergeblich klopfte Täncsics mit seinem neuen Manuskript bei Karl Friedrich Wigand, dem Bruder Ottos, in Preßburg an 1 2 , der aus dem gleichen Grunde ständig überwacht wurde. Aber auch die anderen Verlagsbuchhändler in Pest, Preßburg und Szeged, denen Täncsics sein Anliegen vortrug, wagten nicht, das Risiko auf sich zu nehmen. 13 Den Mut dazu brachte n u r ein junger Pester Buchhändler, Gustav Emich, auf, der, zwei Jahre erst im Beruf und von den schlechten Erfahrungen seiner älteren Kollegen noch verschont, sich kühn dazu entschloß, die Drucklegung der Schrift im Ausland zu vermitteln. 14 Als Zufluchtsort f ü r verbotene ungarische Manuskripte galt im vormärzlichen Ungarn allgemein die deutsche Buchmetropole Leipzig.15 Durch den Besuch der 11 12
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Ebenda S. 6 9 - 7 9 . Nach einer Aussage Karl Friedrich Wigands vom 20. Juli 1844. Erwähnt im Vortrag des ungarischen Kanzlers Mailâth vom 11. August 1844; MOL Budapest, Magyar Kancellâria Levéltâra [Archiv der Ungarischen Kanzlei], Acta praesidialia. abgek.: Kanc. praes. 1844 Nr. 685 Bl. 8 ff. M. Täncsics: Életpâlyâm, a a. O. S. 100. Emich machte sich auch später zum Anwalt der Autoren, deren politische Schriften in Ungarn nicht zugelassen wurden. Näheres über ihn s. bei A. Gârdonyi: Régi pesti könyvkereskedök [Frühe Buchhändler in Pest). Magyar Könyvszemle [Ungarische Bücherschau]. Jg. 1929 3 . - 4 . Band S. 163 ff. Ein Sprecher der Opposition, Pâl Nagy drohte auf einer Zirkelsitzung der Stände am 26. Dezember 1832 damit, daß sie ihre in Ungarn unterdrückten Geistesprodukte in Leipzig drucken lassen werden, wo die Macht der Zensur nicht hinreiche („Lehet Lipcsében is nyomtatni, hovâ a cenzüra hatalma nem ér el"); L. Kossuth: Orszâggyulési
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traditionellen Buchmessen hatten die Buchhändler Ungarns mit dieser Stadt Verbindungen aufnehmen und festigen können. Die Umbildung Sachsens in eine konstitutionelle Monarchie im Jahre 1831, die eine liberale Atmosphäre auch für den Buchdruck und -handel des Landes sowie für die Beaufsichtigung der Presseerzeugnisse zu sichern schien, weckte Hoffnungen bei den Verfassern und Verlegern verfolgter ungarischer Manuskripte. Sie wurden noch genährt, als sich im Jahre 1833 Otto Wigand in Leipzig niederließ, der vordem sechzehn Jahre lang Buchhändler in Ungarn gewesen war. 16 Grund dazu gaben nicht allein die enger gewordenen persönlichen Kontakte mit der sächsischen Buchstadt, sondern vor allem die Tatsache, daß Wigand als emanzipierter Bürger den Problemen der bürgerlichen Umgestaltung gegenüber selbst aufgeschlossen war und im Interesse ihrer Verbreitung durch das gedruckte Wort keine Schwierigkeiten scheute. 17 Das Erscheinen des „Stadium" von Szechenyi, dem Initiator der ungarischen Reformbewegung, und des „Baliteletekrol" von Wesselenyi 1833 und 1834 in Leipzig sowie anderer, in Ungarn verbotener Schriften von höchster politischer Aktualität bewiesen es aufs neue. So verstärkten sich die Hoffnungen der zum Schweigen verurteilten Autoren Ungarns. Und Leipzig enttäuschte sie nicht. Davon zeugt die ansehnliche Zahl von Schriften aus und f ü r Ungarn, die bis 1848 dort erschienen sind. 18 Immer mehr Leipziger Verlagsbuchhändler und Drucker boten den von der feudalabsolutistischen Reaktion bedrängten ungarischen Kollegen und Mitstreitern die Hand zur freundschaftlichen Hilfeleistung und nahmen mit ihrem zunehmenden Interesse am ungarischen Büchermarkt auch offen Partei f ü r die Vertreter des Fortschritts in Ungarn. Dieser Stand der Dinge ermunterte auch Emich dazu, sich mit Täncsics' „Sajtöszabadsagröl..." nach Leipzig zu wenden. In seinem Leipziger Kommissionär, dem Verlagsbuchhändler Franz Koehler, fand er sofort den ihm gleichgesinnten Mann. Koehler, ebenfalls jung an Jahren und im Beruf 19 , gebrach es ebensowenig an Mut, seinem ungarischen Kollegen Hilfe zu bieten, und er ging auf das Anerbieten Emichs ein. Allerdings mußte Koehler dafür einiges riskieren. Denn im Jahre 1843 sah es in Leipzig in bezug auf die Möglichkeiten zur Veröffentlichung ungarischer Schriften wesentlich anders aus als zu Beginn der dreißiger Jahre. Otto Wigand konnte 1833 noch eine relative — im Vergleich zu Ungarn recht spürbare — Bewegungsfreiheit
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Tudösitäsok [Reichstagsnachrichten] (Kossuth Lajos Összes Munkäi.). Herausgegeben v. I., Barta Bd. I Budapest 1948 S. 34. Seit 1817 in Kaschau, seit 1827 in Pest. Näheres über seine buchhändlerische Tätigkeit und seine politische Einstellung s. bei E. Hermann: Die Buchstadt Leipzig..., a. a. O S. 81 ff, S. 93 ff, S. 104 ff, S. 126 ff, S. 149 ff und S. 169 ff. Vgl. „Das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Leipzig und Ungarn 1830—1848"; ebenda S. 207 ff. Näheres über ihn s. bei C. B. Lorck: Geschichte des Vereins der deutschen Buchhändler zu Leipzig während der ersten fünfzig Jahre seines Bestehens 1833—1882 (Festschrift). Leipzig 1883 S. 172.
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der Leipziger Presse ausnutzen. Inzwischen war aber diese gerade hinsichtlich der ungarischen Schriften bedeutend geringer geworden. Sachsen lag, wenn auch weiter von Wien entfernt als Ungarn, so doch nicht außerhalb der Reichweite Metternichs. Der Gendarm Europas verfügte über Möglichkeiten, auch das sächsische Pressewesen in Schach zu halten. Nach einem Gesetz des Deutschen Bundes, dem Sachsen ebenfalls angehörte, zeichnete jeder Bundesstaat den anderen gegenüber f ü r seine Presseerzeugnisse verantwortlich. 20 Kaum wurde man angesichts der ersten ungarischen Titel aus der Otto Wigandschen Verlagsbuchhandlung gewahr, was man von der Tätigkeit des ehemals Pester Verlegers in Leipzig zu erwarten hatte, mahnte Metternichs Gesandter Sachsen auch schon an seine Bundespflichten. Seitdem unterließ er es nicht mehr, Dresden mit Beschwerden zu traktieren und zu verlangen, daß der Druck ungarischer Schriften in Sachsen verboten werde. Sein unablässiges Drängen führte in Leipzig im März 1834 zu einem bedingungsweisen Verbot ungarischer Drucke. Da man in der Buchmetropole keinen Zensor fand, der die ungarische Sprache beherrschte, sollten die betreffenden Werke ins Deutsche übersetzt der Zensur vorgelegt werden. 21 Auch damit noch unzufrieden, bohrte der österreichische Gesandte in Dresden weiter, bis im Februar 1837 ein endgültiges Druckverbot f ü r ungarische Schriften in Leipzig erlassen wurde. 22 Zu dieser drakonischen Maßnahme war es im Zuge einer allgemeinen und bis dahin unbekannten Zensurstrenge gekommen, die in Sachsen mit der Verordnung vom 13. Oktober 1836 eingeführt wurde. 23 Die sächsische Regierung hatte ihre 1831 eingschlagene fortschrittliche Richtung bald wieder aufgegeben und war immer mehr in das Fahrwasser der Reaktion geraten. Um die Klasseninteressen des eigenen reaktionären Feudaladels zu bemänteln, kam daher die von Metternich diktierte außenpolitische „Notwendigkeit" wie gerufen, die Bewegungsfreiheit der Leipziger Presse wieder einzuschränken. So wurden, als Folge der Wiener Ministeriafkonferenzen von 1834, aber nicht unfreiwillig, das gesamte sächsische Zemsurwesen neu organisiert und gestrafft, seine oberste Leitung dem Innenministerium und die örtlichen Zensurkompetenzen den königlichen Kreisdirektionen übertragen, die die Geschäfte streng im Interesse der Regierung führten. Vergeblich protestierten die Leipziger Buchhändler und Drucker gegen diese Härte und pochten auf die ihnen in der Verfassung zugesicherten Rechte, vergeblich liefen die liberalen Abgordneten im sächsischen Landtag Sturm gegen die Verordnung. Sie trat am 1. Januar 1837 in Kraft. Im Bunde mit den reaktionären Ständevertretern sabotierte die Regierung die Realisierung des im § 37 der Verfas20
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Karlsbader Beschlüsse vom 20. September 1819. Verordnungs- und Gesetzblatt für das Königreich Sachsen 1819 S. 231 ff. Verordnung des sächsischen Kultusministeriums vom 8. März 1834 an das Leipziger Zensurkollegium; Stadtarchiv Leipzig, Tit. XLVI Nr. 106 Bl. 29. Verordnung des sächsischen Ministeriums des Innern vom 3. Febr. 1837 an das Leipziger Zensurkollegium; (in Abschrift) Staatsarchiv Dresden, Ministerium des Innern, abgek.: M. d. I., Nr. 3703 Bl. 280, b. Näheres darüber s. bei E. Hermann: Die Buchstadt Leipzig.. a. a. 0 . S. 129 f.
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sung versprochenen freiheitlichen Pressegesetzes drei Landtage hindurch, und die Zensurstrenge blieb bestehen. 24 Unter ihren spürbaren Auswirkungen und dem ausdrücklichen Druckverbot war es also in Leipzig seit 1837 unmöglich geworden, ungarische Schriften herauszubringen. 25 So sah sich Koehler auch 1843 noch genötigt, nach anderen Möglichkeiten auszuschauen, um Emichs Bitte erfüllen zu können. Eine Chance bot sich in verlockender Nähe an. Im Nachbarland Preußen waren, obwohl es keine Konstitution hatte wie Sachsen, seit 1842 die Zensurverhältnisse merklich gelockert und im Oktober gar die Schriften über zwanzig Bogen Umfang zensurfrei geworden. Zu diesen vielversprechenden Veränderungen war es anläßlich der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. gekommen. Der König zerstörte aber sehr bald die in ihn gesetzten Hoffnungen des liberalen Bürgertums, denn er zog die Zensurfessel wieder enger an. Doch Koehler genügten im Herbst 1843 auch die nur etwas größere Bewegungsfreiheit der Drucker in Preußen und der Umstand, daß dort der Druck ungarischer Werke nicht ausdrücklich verboten war. Die jüngste sächsische Pressepolizeiverordnung schrieb zwar vor, daß jedes im „Ausland" gedruckte, aber im Verlag einer inländischen Buchhandlung erscheinende Werk dem sächsischen Zensor vorgelegt werden müßte, bevor es in den Vertrieb ging. 26 Aber da er ja die Täncsicssche Schrift nicht in Sachsen vertreiben wollte, hoffte Koehler diese Klippe ohne Schaden umsegeln zu können. Außerdem hatte vor ihm Otto Wigand schon diesen Pfad betreten, und zwar, wie es schien, mit Erfolg. 27 Von ihm wußte Koehler auch, daß in Halle die Druckerei Heynemann Aufträge dieser Art ausführte. 28 Also wagte auch er den Schritt und gab die „Sajtoszabadsagröl..." zum Druck nach Halle, zu Heynemann. Sicherlich war er sich des Charakters und der Aussage der Schrift und damit der Gefahren bewußt, denen er sich durch die Vermittlung aussetzte. Um jeden Verdacht von sich abzulenken und die Aufsichtsbehörden irrezuleiten, ließ er nämlich, vermutlich auf Anraten Emichs 29 , die fingierte Firma Amyot, Paris („Pärisban Amyotnal") auf das Titelblatt drucken. 24 25
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Ebenda S. 139 f. Als Ersatz dafür erschienen in den Jahren nach 1837 deutschsprachige Schriften aus und für Ungarn. Sie wurden, sofern sie den Niederschlag des Nationalitätenhaders und Sprachkampfes darstellten und damit die Kräfte der Reformbewegung spalteten, von Wien nicht verfolgt; ebenda S. 138. Verordnung über Verwaltung der Preßpolizei vom 13. Oktober 1836; Verordnungsund Gesetzblatt für das Königreich Sachsen 1836, Nr. 67 S. 284. Otto Wigand hatte, durch die Not erfinderisch gemacht, als erster diese Chance entdeckt und genutzt, und er wurde erst Ende 1845 dafür verfolgt und bestraft; E.Hermann: Die Buchstadt Leipzig. . . a. a. 0. S. 149 ff. Wigand hatte im Impressum der Wesselenyischen Schrift: Szözat a magyar es szläv nemzetiseg ügyeben [Aufruf in der Sache der ungarischen und slawischen Nationalität], Lipcse 1843, angeben lassen: Nyomatott Häläban, Heynemann Eduard betüivel (gedruckt in Halle, mit den Lettern Eduard Heynemanns). Von Emich stammte nachweisbar auch der Vorschlag, auf beiden Schriften: Mozaik
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Heynemann ging auf das Unternehmen ein. Er zog vor, das Manuskript, obgleich es nur fünf Bogen Umfang hatte und damit der Zensurpflicht auch in Preußen unterlag, lieber doch keinem Zensor vorzulegen — ein Zeichen dafür, daß auch er über Inhalt und Umstände der Schrift Bescheid wußte. In Halle merkten die Behörden nichts. Auch in Leipzig klappte der Versand der Auflage ins Bestimmungsland ohne Zwischenfälle. Koehler verpackte sie, ohne die Vertriebserlaubnis einzuholen, geschickt zwischen anderen, „harmloseren" Titeln, die nach Ungarn gingen. 30 Emich erhielt die ersten Exemplare schon im Februar 1844. 31 Im Laufe des Frühjahrs wurden die anderen von ihm genannten Buchhandlungen Ungarns durch Koehler beliefert. 32 Emich widerfuhr allerdings das Mißgeschick, daß in dem f ü r ihn bestimmten und im Pester Dreißigstamt eintreffenden Bücherballen die „Sajtöszabadsägröl..." trotz der Vorsichtsmaßregeln Koehlers am 24. Februar 1844 entdeckt und beschlagnahmt wurden. 33 Ob er diese konfiszierten Exemplare dann — vielleicht durch Bestechung der Zollbeamten, die gang und gäbe war — doch noch in seinen Besitz brachte oder ob er andere, und zwar auf „sichereren" Wegen, von Koehler erhielt, läßt sich nicht feststellen. Wir wissen nur, daß er im Juli 1844 durch den Revisor überführt wurde, die Täncsicssche Schrift an „Eingeweihte" verkauft zu haben und 40 Exemplare zu besitzen. Er kam im ersten Falle ungeschoren, im zweiten mit einer Rüge davon. Denn mit dem gleichen Geschick, mit dem er im Februar das Revisionsamt der Statthalterei davon zu überzeugen vermochte, nicht das geringste von dem ihm zugesandten Werk zu wissen, gelang es ihm auch im Juli/August, seine Behörden glauben zu machen, vom Inhalt der „Sajtöszabads ä g r ö l . . . " keine Ahnung gehabt zu haben — weil er doch nicht ungarisch könne 1 34 Durch den Zwischenfall im Februar 1844 gewarnt, mußte Emich jedoch beim Vertrieb der Schrift größte Vorsicht walten lassen. Um seinem Verleger den Absatz zu erleichtern, faßte daraufhin Täncsics den Entschluß, selbst nachzuhelfen. Er kaufte, obwohl er in Geldnot war, Emich so viele Exemplare der „Sajtöszabadsägröl . . . " ab, wie es auf dem ungarischen Reichstag Deputierte gab, brachte sie
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und Magyarorszäg hätramaradasa ügyeben. Felelet Dr. Wildner Ignäcz Ürnak Fenyes Elektol [In der Angelegenheit der ungarischen Zurückgebliebenheit. Antwort an Dr. Ignaz Wildner von Elek Fenyes], die Koehler für ihn ebenfalls bei Heynemann in Halle drucken ließ, die täuschende Angabe „Lipcseben, Ottönäl" [in Leipzig, bei Otto] setzen zu lassen; vgl. Vortrag der Leipziger Kreisdirektion vom 7. Juli 1845 über die Befragung Franz Koehlers; Staatsarchiv Dresden, Min. d. I., Nr. 3752 Bl. 28. Zu entnehmen dem Bericht des Statthaltereidirektors Merey vom 21. September 1844 an den Palatin über die Beschlagnahme auf dem Dreißigstamt; MOL Budapest, Kanc. praes. 1844 Nr. 935 Bl. 13. Ebenda. So hatte Koehler am 18. Juni 1844 20 Exemplare der „Sajtöszabadsägröl..." an Kilian & Weber in Pest abgeschickt; ebenda Bl. 18. 34 Ebenda Bl. 13. Ebenda.
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nach Preßburg, wo die Stande gerade tagten, und ließ sie durch „unbekannte Hände" jedem einzelnen Abgeordneten auf den Platz legen.35 Die einmalig mutige Aktion verschlug der habsburgischen und ungarischen Reaktion zunächst die Sprache. Als sie sie wiederfand, ließ sie ihrer Empörung freien Lauf. „In diesem politischen Pamphlet", so beeilte sich der Wiener Polizeichef unverzüglich seinem König zu melden, werden „höchst aufrührerische und gemeinschädliche Ansichten und Grundsätze vorgetragen. ., gepaart mit den vermessensten Schmähungen gegen die Staatsverwaltung und die geheiligte Person Eurer Majestät, in einem populären für die verschiedenen Volksklassen faßlichen und auf die Irreleitung des gemeinen Mannes berechneten Style". 36 Um so ungeheuerlicher sei es, daß es auf dem Reichstag und während der Zirkelsitzung der Stände am 6. Juli 1844 von oppositionellen Komitatsdeputierten verteilt worden war. Diese Handlung der Opposition sei um so gefährlicher einzuschätzen, als in ihr „die böswillige Tendenz der Oppositionsparthey sich neuerdings auf die unverschämteste Weise beurkundete". Regierungsrat Ferstl wurde umgehend beauftragt, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. 37 Da aber der eigentliche Regisseur, Täncsics, sein Werk behutsam inszeniert hatte und den Herrschenden der Gedanke, daß hinter der unentgeltlichen Verteilung ein mittelloser armer Teufel stecken könnte, gar nicht kam 3 8 , verlief die Untersuchung im Sande. Groß war der Schrecken, den die „vermessene" Schrift den höchsten Kreisen einflößte. König Ferdinand ersuchte persönlich seinen „lieben Grafen Mailäth", Ungarns Kanzler, daß dieser ihm „die Maßregeln, welche in Beziehung auf diese Druckschrift, dann auf die Entdeckung des Verfassers, sowie hinsichtlich dem Verbreiten derselben... durch die ungarischen Behörden etwa schon getroffen worden sind, sogleich anzeigen, und das wohlerwogene Gutachten über die weiter noch diesfalls zu machenden Einleitungen erstatten" sollte. 39 Der König drängte auch in der Folge, wie wir sehen werden, immer wieder ungeduldig auf die Beschleunigung der Untersuchungen und konnte kaum erwarten, daß die „Schuldigen" ihre Strafen erhielten. Seine Lakaien hatten von sich aus schon alle Hebel und den gesamten Verwaltungsapparat in Bewegung gesetzt. Als das Schreiben des Königs den ungarischen Kanzler erreichte, wurden dessen Anordnungen, alle Buchhandlungen in Ungarn nach dem Werk abzusuchen, die vorgefundenen Exemplare unverzüglich zu beschlagnahmen und die Buchhändler nach dem Verleger und Verfasser auszufragen, bereits ausgeführt. 40 35
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So wenigstens stellt es Täncsics in seiner Autobiographie (a. a. 0. S. 101) dar. Es ist aber möglich, daß irgendein vermögender Oppositioneller die Sache finanzierte, dessen Namen zu verschweigen er für richtiger befand. Vortrag Sedlnitzkys vom 20. Juli 1844; MOL Budapest, Kanc. praes. 1844 Nr. 685 Bl. 2. Ebenda Bl. 3. M. Täncsics: ßletpälyäm, a. a. 0. S. 102. Ferdinand am 9. August 1844 an den Grafen Mailäth; MOL Budapest, Kanc. praes. 1844 Nr. 685 Bl. 6. Vortrag Mailäths vom 11. Aug. 1844; ebenda Bl. 8.
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Mit den Konfiskationen, die schlagartig einsetzten, gelang es der Reaktion tatsächlich, einen guten Teil der Auflage dem Vertrieb zu entziehen. In Pest „erbeutete" der Bücherrevisor innerhalb von drei Tagen 290 Exemplare 41 ; in Preßburg wurden 150 Exemplare beschlagnahmt, die für Karl Friedrich Wigand gerade auf dem Dreißigstamt eingetroffen waren. 42 Nicht so schnell ging es mit der Fahndung nach dem Verfasser und Verleger voran. Dabei erklärte Karl Friedrich Wigand auf Befragen dem Revisor klipp und klar, daß er seine 150 „Sajtöszabadsägröl..." von Franz Koehler aus Leipzig bekommen hätte — dessen Lieferschein er sogar als Beweis dazu vorlegte — und plauderte auch seine Vermutung aus, daß der Verfasser der Broschüre Mihäly Täncsics sei, der ihm vergangenes Jahr ein Manuskript zur illegalen Veröffentlichung angeboten hätte. 43 Aber die Obrigkeit, in deren Augen K. F. Wigand als ein mit allen Wassern gewaschener, verlogener Buchhändler galt, dünkte sich zu klug, um seinen Informationen zu trauen — zum Glück f ü r Täncsics, Emich und die wirklich Beteiligten! Sie tappte lieber im Dunkeln weiter. So glaubte sie eher Emichs Aussagen, der Otto Wigand als den vermeintlichen Verleger hinstellte und als Verfasser einen Mitredakteur Kossuths, Gyurmann, nannte. 44 Damit setzte Emich die Büttel der Reaktion geschickt auf eine falsche Fährte, ohne die „Denunzierten" zu gefährden, denen ja doch nichts nachgewiesen werden konnte! 45 Die Bereitschaft, Emichs Informationen Glauben zu schenken, rührte nicht allein daher, daß dieser Buchhändler ein noch unbeschriebenes Blatt war, sondern vielmehr aus dem tiefverwurzelten Argwohn der höchsten k. k. Behörden gegen Leipzig und speziell gegen Otto Wigand. Hinter der fingierten Pariser Firma vermuteten sie von vornherein den ihnen verhaßten Leipziger Buchhändler, der ihnen schon so manches Schnippchen geschlagen hatte. Selbst in Koehler, den der Lieferschein belastete, sahen sie nur einen Mittelsmann Wigands. Metternich, der auf die Verfügung seines verängstigten Monarchen vom 9. August 1844 hin 4 6 die Fahndung nach Verfasser und Verleger auch auf diplomatischem Wege einleitete, stellte seinem Gesandten am sächsischen Hofe, dem Grafen Kuefstein, Otto Wigand als den Sünder hin. Bewiesen sei, daß der Preßburger Wigand eine Sendung der 41
Und zwar bei den Buchhändlern Müller 20, Kilian & Weber 20, Kilian & Soc. 50, Hartleben & Altenburg 50, Eggenberger 50 und Geibel 100; vgl. Meldung des Revisors Büth über die am 6 . - 9 . Juli in Pest durchgeführten Nachsuchungen, ebenda Nr. 779 Bl. 1 ff. 42 43 Mailäth am 7. Aug. 1844 an Metternich; ebenda Nr. 674 Bl. 1. Ebenda. v " Merey am 21. Sept. an den Palatin; ebenda Nr. 935 Bl. 14. /