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German Pages 292 [293] Year 1978
Werner Bahner
Formen, Ideen, Prozesse • Band 2
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Werner Bahner
Formen, Ideen, Prozesse in den Literaturen der romanischen Völker Band 2: Positionen und Themen der Aufklärung
Akademie-Verlag • Berlin l
977
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1977 Lizenznummer: 202 • 100/232/77 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4855 Bestellnummer: 753 205 5 (2150/52) • LSV 8051 Printed in G D R D D R 9,50 M
Inhalt
Vorbemerkung
7
Übergreifende und spezifische Aspekte der Aufklärung in den romanischen Ländern
9
Die Friedensideen der französischen Aufklärung . . .
85
Die Position des Abbé de Mably in der französischen Aufklärung
187
Das gesellschaftspolitische Anliegen Jean-Jacques Rousseaus
219
Anmerkungen
255
Personenverzeichnis
288
Vorbemerkung
Vorliegende Aufsätze wurden speziell für diesen Band verfaßt. Bei ihrer Ausarbeitung konnte sich der Autor teilweise auf einige vor vielen Jahren publizierte Studien mit stützen, die im jeweiligen Anmerkungsteil genannt werden. Die Herausgabe dieser Aufsätze erfolgt unter dem Blickpunkt, daß Erschließung und Aneignung des humanistischen Kulturerbes eine breitgefächerte und weitgespannte ideologiegeschichtliche und literarhistorische Forschung voraussetzen, der es um das Aufdecken von Prozessen, einschließlich der damit verknüpften historisch-gesellschaftlichen Verflechtungen zu tun ist. Indem in den vorliegenden Studien die Vielfalt der Aufklärungsbewegung in den romanischen Ländern, die Herausbildung der Friedensideen in der französischen Literatur und die gesellschaftspolitischen Ideen J.-J. Rousseaus und des Abbé de Mably untersucht werden, soll ein Beitrag hierzu geleistet werden. Der Verfasser verfolgt in erster Linie das Ziel, Entwicklungslinien abzustecken und charakteristische Positionen in der sich im 18. Jahrhundert vollziehenden ideologischen Entwicklung herauszuarbeiten, wobei Frankreich in den Mittelpunkt rückt. Frau Dr. Cornelia Lehmann gebührt besonderer Dank dafür, daß sie sich, wie bereits beim ersten Band, der erforderlichen redaktionellen Arbeit annahm. Ebenso bin ich Frau Helga Busse zu großem Dank verpflichtet, die das Manuskript beider Bände tippte und das Personenregister anfertigte. Berlin, im Juni 1976
Werner Bahner
Übergreifende und spezifische Aspekte der Aufklärung in den romanischen Ländern
Wie in den meisten anderen europäischen Ländern stand auch in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Rumänien die sich während des 18. Jahrhunderts vollziehende geistig-literarische Entwicklung im Zeichen der Aufklärung. Die Aufklärungsbewegung erwies sich als eine verbindende Kraft, die alle ideologischen Bereiche durchdrang und unverkennbare Spuren ihres Wollens und ihrer Wirksamkeit hinterließ. Es wäre indessen ein Trugschluß, wollte man in der Aufklärung ein einheitliches und simultanes ideologisches Phänomen erblicken. Die Aufklärung in den einzelnen Ländern läßt sich nicht einfach synchronisieren. Der von dem bekannten französischen Komparatisten Paul Hazard in dieser Richtung unternommene Versuch, eine Synthese der europäischen Aufklärungsliteratur zu bieten, mißglückte. Seine profunden Kenntnisse und seine brillante Darstellungsweise konnten entscheidende methodologische Mängel nicht überdecken. Ausgeprägter noch als in seinem erstmals 1935 publizierten Werk La Crise de la conscience européenne (1680-1715), in dem er den Bruch mit den traditionellen Denkformen und die Vorposten der Aufklärungsbewegung beleuchtete, kam dies in seiner Abhandlung La 'Pensée européenne au XVIIIe siècle. De Montesquieu à Lessing (1946 zum Ausdruck. Gewiß ist nicht in Abrede zu stellen, daß Hazard einige übergreifende charakteristische Merkmale des aufklärerischen Denkens in verschiedenen europäischen Ländern des 18. Jahrhunderts herauszuarbeiten verstand. Da der französische Forscher aber nicht ohne Vereinfachung auskam, wesentliche Erscheinungen in den einzelnen Ländern überging und von der konkreten historisch-gesellschaftlichen Entwicklung 9
und den jeweiligen Traditionen in den einzelnen Ländern völlig absah, erwiesen sich manche der postulierten Gemeinsamkeiten bei näherer Betrachtung des jeweiligen Entwicklungsprozesses als wesentlich komplexer. Hazard fügte etwas gewaltsam Erscheinungen zusammen, die im historisch-gesellschaftlichen Prozeß des jeweiligen Landes einen recht unterschiedlichen Stellenwert besaßen. Herbert Dieckmann kritisiert deshalb in seinem Aufsatz Themen und Struktur der Aufklärung mit Recht, daß Hazard einer abgerundeten Synthese zuliebe auf eine Darstellung der sehr komplexen Verhältnisse und ihrer Widersprüche verzichtet. Dieckmann folgert: „Um der literarischen Eleganz willen mußte diese Synthese zugleich den Reiz des g r a n d t a b l e a u haben, des eindrucksvollen Gesamtbildes. So ging er daran, aus einer großen Anzahl von Werken gemeinsame Elemente zu extrahieren. In Wirklichkeit handelt es sich um verschiedenartige, manchmal stark voneinander abweichende Ideen individueller Denker in einer Reihe von Ländern, deren geistige, politische und soziale Bedingungen ungleich waren. Hazard mußte die Ideen weitgehend vereinfachen, um ihnen die für seine Darstellung erforderliche Allgemeingültigkeit und Verbreitung zu geben. Das Ergebnis dieses Verfahrens war, daß die Epoche ihre vielfältige Struktur, die Dichte der historischen Substanz und das komplexe Gewebe von Ursachen und Wirkungen einbüßte." 1 Hazards Bestreben lief darauf hinaus, die rein nationalgeschichtliche Betrachtungsweise durch eine übernationale Optik zu ersetzen. Damit erschien zwar die untersuchte Literatur in einer wesentlich breiteren Dimension, doch statt der Dialektik •von nationaler und internationaler Entwicklung wurde letztlich nur eine kosmopolitische Alternative zu jener eng nationalen Sicht vorgebracht, die in Deutschland in den zwanziger und dreißiger Jahren durch eine nationalistisch getönte „Geistesgeschichte" und in Frankreich durch eine national bornierte Forschungsrichtung positivistischer Prägung vertreten worden war. Da sich die traditionelle vergleichende Literaturwissenschaft Frankreichs mit Vorliebe den Kontaktbeziehungen zwischen zwei Nationalliteraturen zuwandte, fand sie bald besonderes Interesse an der geistig-literarischen Welt des 18. Jahrhunderts. 10
Zwei Momente waren es vor allem, die immer wieder den Blick auf jene Periode lenken ließen: die auf breiter Ebene sich dokumentierende weltbürgerliche Gesinnung und die in den einzelnen europäischen Ländern anzutreffende Ausstrahlungskraft der französischen Literatur. Das Bild eines kosmopolitisch eingestellten „französischen Europa" 2 drängte sich auf, bei dem allerdings nur sehr ungenügend die gesellschaftlichen Grundlagen beachtet wurden. Gerade die fundamentale Tatsache, daß die französische Kultur damals entweder höfischen oder bürgerlich-aufklärerischen Charakter trug, daß die kosmopolitische Gesinnung entweder übernationales aristokratisches Gepräge besaß oder von der für die bürgerliche Emanzipationsbewegung typischen Dialektik von Patriotismus und Weltbürgertum zeugte, blieb zum Schaden der Forschung meist außerhalb des Blickfeldes. Die ebenso vielfältigen wie kühnen Schriften der französischen Aufklärer stießen im 18. Jahrhundert in zahlreichen anderen Ländern in der Tat auf eine beachtliche Resonanz. Sie erregten Bewunderung, forderten zum Widerspruch heraus, erwiesen sich als Denkanstoß bei der Beurteilung der eigenen Situation und dem Bemühen, das Bestehende zu verändern. Frankreich lenkte damit in Europa erneut den Blick auf sich. Jetzt war es allerdings nicht mehr wie im 17. Jahrhundert ausschließlich der Glanz einer als vorbildlich erachteten höfischen Gesellschaft und Kultur, sondern gerade die auf Abschaffung des herrschenden Gesellschaftsgefüges ausgerichtete Aufklärungsideologie, die in mannigfaltigen literarischen Formen ebenso attraktiv wie wirkungsvoll dargeboten wurde. Bei der umfassenden ideologischen Instrumentierung des Kampfes gegen Feudalität und Klerus bot die französische Aufklärungsbewegung den Ideologen bürgerlicher Emanzipation in anderen Ländern viele Anknüpfungspunkte für die Bewältigung •der eigenen Aufgaben, auch wenn diese den spezifischen Bedingungen gemäß in modifizierter Weise in Angriff zu nehmen waren. Das französische Beispiel zeigte, daß sich eine breite Literaturbewegung in den Dienst dieser auf grundlegende Bewußtseinsveränderungen ausgerichteten emanzipatorischen Bestrebungen stellte. Die Aufnahme der französischen Aufklärungsliteratur in zahlreichen europäischen Ländern wurde
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zweifellos auch dadurch begünstigt, daß die französische Sprache im 18. Jahrhundert allgemeine Geltung erlangt hatte. War das Erlernen der französischen Sprache seit dem 17. Jahrhundert dank dem Prestige der höfischen Gesellschaft und Kultur Frankreichs überall in den herrschenden Schichten Mode geworden, so zeichnete sich darüber hinaus im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer stärker die Tendenz ab, anstelle des Lateins das Französische als internationale Wissenschaftssprache zu verwenden. Die Berliner Akademie bestätigte nur mit ihrer 1784 gestellten Preisfrage, worauf sich die Weltgeltung der französischen Sprache stütze, diesen Tatbestand. In der Forschung ist immer wieder herausgestellt worden, daß sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts, nicht zuletzt im Zuge der Aufklärungbewegung, auf geistig-kulturellem Gebiet der internationale Kommunikationskreis beträchtlich erweiterte. Von entscheidender Bedeutung war hierbei, daß in jener Periode der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus gesellschaftliche Bedürfnisse gleicher oder ähnlicher Art diesen Prozeß trugen. Obwohl die nationalen Eigenheiten der jeweiligen Aufklärungsbewegung ziemliche Differenzen aufwiesen, hingen sie doch mit der erwähnten, wenn auch unterschiedlich vorangekommenen sozialökonomischen Entwicklung unmittelbar zusammen. Daß in diesem Rahmen von der englischen und französischen Aufklärung als Ausdruck fortgeschrittener sozialer bzw. ideologischer Verhältnisse besondere Anziehungskraft ausging, überrascht nicht. Die englische Aufklärung basierte auf bereits erkämpften bürgerlichen Errungenschaften. Die französische Aufklärung hingegen als ideologische Bewegung der vorrevolutionären Phase zeitigte die kompromißlose Bereitschaft, das Gebäude des Ancien régime allseitig zu unterminieren. Ungeachtet aller Differenzen zwischen einzelnen Vertretern und Gruppierungen war zugleich nicht zu übersehen, daß es bei den militanten Bestrebungen der französischen Aufklärer um eine nationale und politische Bewußtseinsbildung aller Schichten im antifeudalen und weltlichen Sinn ging. Der aus der Beschäftigung mit der englischen oder französischen Aufklärung gewonnene Einblick in die Probleme der Aufklärungsbewegung darf allerdings nicht dazu verleiten, die Aufklärung in den anderen europäischen Ländern von den 12
gleichen Vorstellungen her zu betrachten und zu werten. Auch gilt es stets zu bedenken, daß die englische und die französische Aufklärung nur in dem Maße auf Resonanz stoßen konnten, in dem reale gesellschaftliche Bedürfnisse hierfür die Basis boten. Werner Krauss unterstreicht mit Recht, daß der historische Stellenwert und der Verlauf der Aufklärung innerhalb der Gesamtentwicklung der einzelnen Literaturen unterschiedlich ist: „Es versteht sich von selbst, daß auch für die zeitliche Gliederung der Aufklärung ein für alle nationalen Bewegungen des 18. Jahrhunderts gültiges Schema nicht aufgestellt werden kann, obwohl die Einflüsse der als vorbildlich und normativ angesehenen französischen und englischen Geistesbewegungen alle literarischen Räume ergreifen." 3 In seiner Studie Der komparatistische Aspekt der Aufklärungsliteratur hebt er hervor, daß sich zwar aus dem generellen Kampf gegen veraltete Feudalstrukturen parallele Züge in der Aufklärungsbewegung der verschiedenen europäischen Länder ergaben, daß aber auch von Anfang an die Aufklärung in den einzelnen europäischen Nationalliteraturen ein grundverschiedenes Gepräge erhielt. Er zieht daher folgendes Fazit: „Die Kenntnis der französischen und englischen Aufklärung kann den komparatistischen Blick auf die anderen Aufklärungen nicht entbehrlich machen. Die Nachhut eines Heeres ist nicht weniger wichtig als seine vorgeschobensten Posten. Die verschiedenen Beiträge der einzelnen aufklärerischen Literaturen reichen aus, um eine synchronistische Betrachtung des ganzen Komplexes zu sichern. Diese Gemeinsamkeiten stehen aber so verschiedenen Ansätzen und Schicksalen der einzelnen Bewegungen gegenüber, daß jeder Versuch, die Aufklärung als ein in ganz Europa zutage tretendes Phänomen zu betrachten, zu dem die einzelnen Nationen nur ihre Beiträge zu liefern hätten, scheitern müßte." 4 Auch wenn es Paul Hazard nicht gelang, die Aufklärung als eine europäische Bewegung in einer breit angelegten Synthese überzeugend darzustellen, heißt das natürlich nicht, auf die Herausstellung einiger genereller übergreifender Züge zu verzichten. Entscheidend sind stets die dafür herangezogenen Merkmale und das Erfordernis, konkret im Einzelfall zu differenzieren. Bei allen nationalen Besonderheiten, die sich aus 13
der speziellen Konstellation in der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung, einschließlich der jeweiligen Traditionen ergaben, darf ja nicht verkannt werden, daß schon der übergreifende sozialökonomische Prozeß des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus auf einige, ganz wesentliche gemeinsame Momente hinlenkt. Eine vergleichende Betrachtungsweise, die stets den historisch-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu beachten hat, muß die vielschichtigen Zusammenhänge zwischen den eigenen gesellschaftlichen Erfordernissen und Bedürfnissen, die stets primären Charakters sind, der darauf fußenden und wieder zurückwirkenden ideologischen Entwicklung und den aus anderen Ländern erhaltenen geistigen Impulsen, die sekundärer Art sind, in den Mittelpunkt rücken. E i n e so angelegte komparatistische Forschung vermag sowohl den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten wie auch den damit unmittelbar in Verbindung stehenden spezifisch nationalen E n t wicklungstendenzen Rechnung zu tragen. Auch hier gilt, was Lenin über das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem feststellte: „Das Einzelne existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt. Das Allgemeine existiert nur im Einzelnen, durch das Einzelne." 5 Das in der Forschung zuweilen gezeichnete Bild einer verhältnismäßig homogenen europäischen Aufklärung verwischt die recht beträchtlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. In Wirklichkeit konnte teilweise von einer Aufklärungsbewegung nur in Ansätzen oder überhaupt nicht die Rede sein. Ein realer Zugang zur Dialektik von nationaler und internationaler Entwicklung eröffnet sich bei der Aufklärung wie bei anderen komplexen ideologischen Erscheinungen nur dann, wenn sie auf den jeweils gegebenen sozialökonomischen Entwicklungsprozeß bezogen werden, der wiederum Bestandteil universaler Gesetzmäßigkeiten ist. Zwar wies die Aufklärung, die spezifische Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins im 18. Jahrhundert repräsentierte, eine relative Eigenständigkeit auf, doch waren auch bei ihr der vielfältige Charakter und die differenzierte Entwicklung letztlich durch den damaligen, allgemeinen sozialökonomischen Entwicklungsprozeß bedingt. Übergreifende Tendenzen in der Aufklärung der einzelnen Länder sind deshalb primär aus diesem Prozeß abzuleiten, des14
sen jeweiliger Entwicklungsstand in letzter Instanz die spezifischen Züge bedingte. D i e jeweilige Profilierung dieser Grundzüge in den einzelnen Ländern hing entscheidend von der entsprechenden sozialökonomischen Konstellation ab. Man macht es sich ohne Zweifel zu einfach, wenn man die Aufklärung nur als relativ einheitliche geistige Strömung versteht, die im Hinblick auf den gesellschaftlichen Fortschritt im 18. Jahrhundert eine dominierende Rolle spielte und daher zugleich als Periodenbegriff der Ideologiegeschichte zu fungieren vermag. E s handelt sich hier um komplexere Erscheinungen, waren doch mit der Aufklärung mehrere, in sich differenzierte fortschrittliche Bewegungen und vielfältige ideologische Prozesse verknüpft. Diese zielten auf ein diesseitsbetontes Weltverständnis ohne jede religiöse Hülle und Vermittlung ab,, das wiederum mit den von antifeudaler Stoßrichtung geprägten bürgerlich-kapitalistischen Emanzipationsbestrebungen in Verbindung stand und in den einzelnen europäischen Ländern, entsprechend den historisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen, ein unterschiedliches Profil und mehrere Entwicklungsphasen aufwies. Diese Richtungen erstreckten sich von kompromißlerischen Varianten gegenüber der Offenbarungsreligion wie auch der ständischen Ordnung bis hin zu prononciert antiklerikalen Einstellungen, konsequent materialistischen Positionen und radikalen naturrechtlichen Auffassungen von der Volkssouveränität. Auch wenn sich hier viele Unterschiede und Abstufungen feststellen lassen, bekundete sich in allen diesen ideologischen Bestrebungen der Kampf der aufsteigenden bürgerlichen Klasse gegen ständische Strukturen, Verhältnisse und Institutionen am Ausgang der Ubergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus. Dies gilt selbst für die Fälle, bei denen entwicklungsbedingt noch kein in politisch-ideologischer Hinsicht selbstbewußtes Bürgertum hervortrat. Die Aufklärungsbewegungen der einzelnen Länder beanspruchten, für eine unbedingt erforderliche allgemeingesellschaftliche Emanzipation zu wirken. Sie vermochten damit partiell alle gesellschaftlichen Schichten anzusprechen und mitzureißen. Verschiedensten gesellschaftlichen Kräften, die an 15
einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse von inhaltlich recht unterschiedlichen Zielstellungen her interessiert waren, bot sich eine gemeinsame Plattform. Mit dem Anwachsen der Aufklärungsbewegungen konnten auch die erklärten Gegner der Aufklärung nicht mehr umhin, auf die neu aufgeworfenen Fragen einzugehen. Die Aufklärung beinhaltete mit gesellschaftlichen Bewegungen verknüpfte ideologische Prozesse, die eine unerbittliche Kritik an den bestehenden feudalständischen Verhältnissen darstellten und zugleich die Durchsetzung eines diesseitsbetonten Weltbildes auf breiter gesellschaftlicher Ebene zum Ziele hatten. Mit der Propagierung dieses Weltbildes, das mit seinen Vorstellungen und Idealen bei allen Unterschieden auf eine Förderung und Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen hinauslief, sollte ein tiefgehender Wandel in der allgemeinen Denkweise bewirkt werden. Mit Hilfe von Wissenschaft und Kunst wurde auf ein Weltverständnis ohne theologische Vermittlung orientiert. Erscheinungen der Gesellschaft und der Natur versuchte man aus sich heraus zu erklären. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten zur Veränderung der Lebenspraxis benutzt werden. Die Ideen der Humanität, der Größe und Würde des Menschen, des menschlichen Glücksstrebens, der gesellschaftlichen Nützlichkeit usw. fanden ihren Niederschlag ebenso in der künstlerischen Gestaltung wie in •den verschiedensten philosophischen und gesellschaftspolitischen Überlegungen. Der Nationalerziehung wurde eine entscheidende Rolle zugemessen. Es formierte sich eine öffentliche Meinung als „nationales" Forum, was mit der Entfaltung der Publizistik, der zunehmenden Behandlung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme einherging. Bei all diesen Erscheinungen trat eine antifeudale Stoßrichtung hervor, wenn auch im einzelnen beträchtliche Unterschiede zu verzeichnen waren und der Grad der Radikalität nicht überall derselbe war. Die Darlegung der neuen Weltsicht erfolgte in zähem Ringen mit den Traditionsmächten der ständischen Ordnung und war mit heftiger Kritik am Bestehenden und Uberlieferten verknüpft. Sie schloß eine oppositionelle Haltung wie auch einen polemischen Grundzug ein. Die Gegensätze zwischen der vorgefundenen Realität und den pro16
grammatisch entwickelten gesellschaftlichen Prinzipien, zwischen dem bestehenden ständischen „Ancien régime" der Privilegierten und der im Namen des „Naturrechts" anvisierten neuen Gesellschaftsordnung bürgerlicher Idealität, zwischen feudalabsolutistischer Politik der Willkür und postulierter Volkssouveränität, zwischen feudaler Verachtung und bürgerlicher Wertschätzung der Arbeit wurden in unterschiedlicher Schärfe, je nach dem gegebenen historisch-gesellschaftlichen Entwicklungsstand, aufgezeigt. Teilweise wurden sie zu einem so unüberbrückbaren Antagonismus zugespitzt, daß die privilegierten Stände als negative Repräsentanten der Gesellschaft schlechthin, als Verkörperung der allgemeinen Schranke gegenüber jedem gesellschaftlichen Fortschritt erschienen. Mit der aufkommenden, sich meist noch im Schöße des Feudalabsolutismus vollziehenden kapitalistischen Entwicklung und der damit verknüpften breiteren wissenschaftlichen Erschließung der Natur entfiel nunmehr jede theologische Vermittlung, erfolgte die Erörterung der gesellschaftlichen Probleme ohne religiöse Hülle. J. D. Bernal unterstreicht in seinem imposanten Werk Die Wissenschaft in der Geschichte (Berlin 1961), welche gewaltigen Fortschritte die Wissenschaftsentwicklung im 18. Jahrhundert aufwies und wie daran anknüpfend das wissenschaftliche Weltbild als entscheidende Alternative zum scholastisch-aristotelischen Weltbild des Mittelalters allseitig begründet wurde. Besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergaben sich zunehmend Querverbindungen zwischen Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Politik, die für die weitere gesellschaftliche Entwicklung von erheblicher Tragweite sein sollten. Friedrich Engels charakterisierte die neuen Momente in der Wissenschaftsentwicklung wie folgt: „Das achtzehnte Jahrhundert faßte die Resultate der bisherigen Geschichte, die bis dahin nur vereinzelt und in der Form der Zufälligkeit aufgetreten waren, zusammen und entwickelte ihre Notwendigkeit und ihre innere Verkettung. Die zahllosen, durcheinander gewürfelten Data der Erkenntnis wurden geordnet, gesondert und in Kausalverbindung gebracht; das Wissen wurde Wissenschaft, und die Wissenschaften näherten sich ihrer Vollendung, d. h. knüpften sich auf der einen Seite an die Philosophie, auf der anderen an die 2
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Praxis an . . . Der Gedanke der Enzyklopädie war für das achtzehnte Jahrhundert charakteristisch; er beruhte auf dem Bewußtsein, daß alle diese Wissenschaften unter sich zusammenhängen, war aber noch nicht imstande, die Übergänge zu machen, und konnte sie daher nur einfach nebeneinanderstellen."6 In Die heilige Familie stellten Karl Marx und Friedrich Engels fest: „Die Metaphysik war im 17. Jahrhundert (man denke an Descartes, Leibniz etc.) noch versetzt mit p o s i t i v e m , profanem Gehalte. Sie machte Entdeckungen in der Mathematik, Physik und andern bestimmten Wissenschaften, die ihr anzugehören schienen. Schon im Anfang des 18. Jahrhunderts war dieser Schein vernichtet. Die positiven Wissenschaften hatten sich von ihr getrennt und selbständige Kreise gezogen."7 Die praktisch-gesellschaftliche Bewährung wurde zu einem maßgeblichen Kriterium wie auch entscheidenden Faktor in der Symbiose von Wissenschaft und Aufklärungsbewegung. Innerhalb der aufklärerischen Bestrebungen erlangte die Literatur eine Schlüsselstellung. Es kam zu einer umfassenden Verflechtung des literarischen Lebens mit dem gesamtgesellschaftlichen Geschehen, wobei die Massenwirksamkeit und der Kampfwert der Literatur ebenso wie das Engagement des Schriftstellers für den gesellschaftlichen Fortschritt in eine neue Beleuchtung rückten und als wesentliche Merkmale galten. „Die Literatur erwirbt damit die Kompetenz zur Vermittlung und zur Vertretung aller Wissensbereiche, sie ist der Nenner für alle Geistesbemühungen - in ihr ist das Bewußtsein der gesellschaftlichen Verpflichtung aller Wissenschaften lebendig geworden . . . Ihre Vormacht wird aber vor allem durch ihre Herrschaft über die öffentliche Meinung begründet, die selbst nicht nur als Objekt, sondern als spezifisches Produkt der Aufklärung begriffen werden muß."8 In seinem 1794 abgeschlossenen und postum veröffentlichten geschichtsphilosophischen Werk Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain (Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes) gab sich Condorcet Rechenschaft darüber, welche bedeutsame Rolle die aufklärerischen Schriftsteller gespielt hatten. Seine Bilanz lautete: „Sehr bald entstand in Europa eine Klasse von 18
Menschen, die weniger damit beschäftigt waren, die Wahrheit zu entdecken oder zu ergründen, als sie zu verbreiten. Sie widmeten sich der Aufgabe, all die Vorurteile bis in die Schlupfwinkel hinein zu verfolgen, in denen Klerus und Schulen, Regierungen und althergebrachte Korporationen ihnen Zuflucht gewährten und sie gehegt hatten; sie suchten ihren Ruhm mehr darin, die im Volk verbreiteten Irrtümer auszurotten, als darin, die Grenzen des menschlichen Wissens zu erweitern. Sie dienten dem Fortschritt der Erkenntnis mittelbar, was weder ungefährlicher noch nutzloser war." 9 Dies war zwar vorwiegend vom französischen Blickwinkel aus gesehen, doch trafen die von Condorcet herausgestellten Bestrebungen ebenso für die Aufklärer in den anderen romanischen Ländern zu, wenn sie auch nicht immer mit der gleichen Konsequenz und Wirkung zutage traten. Weiterhin hob Condorcet hervor, daß sich die französischen Aufklärer sämtlicher Waffen zu bedienen wußten und sich durch Gelehrsamkeit, Philosophie, Geist und schriftstellerische Begabung auszeichneten: „ . . . sie schlugen jeden Ton an, gebrauchten alle Formen des Ausdrucks vom Scherz bis zum Pathos, vom gelehrtesten und weitschweifigsten Sammelwerk bis zum Roman oder zur Spottschrift, die für den Tag berechnet war." 10 Die Aufklärer bezeugten ein ausgeprägtes geschichtliches Selbstbewußtsein. Ihre Zeit begriffen sie als einen markanten Abschnitt in der bisherigen Menschheitsentwicklung, als „aufgeklärtes" Zeitalter. Kaum einer der üblichen ideologiegeschichtlichen Periodenbegriffe war je so stark im gesellschaftlichen Bewußtsein des betreffenden historischen Abschnitts verankert wie derjenige der Aufklärung. In der französischen Geschichte des 18. Jahrhunderts fand dies in geradezu exemplarischer Weise seinen Niederschlag. Schon wenige Jahre nach dem Ende des Regimes Ludwigs XIV. wurde dieses geschichtliche Selbstbewußtsein in wachsendem Maße zu einem bestimmenden Zug des Jahrhunderts. Im eigenen Zeitalter erblickte man gegenüber den vorangegangenen geschichtlichen Phasen eine Zäsur, die den Eintritt der mündig gesprochenen Menschheit in ihre eigene Geschichte markierte. Diese geschichtliche Selbstbestimmung bedeutete einen radikalen Wandel, denn, wie Werner Krauss bei der Erörterung dieser Pro2»
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blematik unterstreicht, war bis zur Aufklärung „das Bestreben aller Epochen darauf gerichtet, die überzeitliche Gemeinsamkeit aus allen zeitlichen Besonderheiten herauszuheben" 11 . Diese geschichtliche Selbstbestimmung fällt voll ins 18. Jahrhundert, so daß von geringen zeitlichen Differenzen abgesehen das 18. Jahrhundert schlechthin zum „siècle éclairé", zum „aufgeklärten Jahrhundert" erklärt wurde. Viele Zeitgenossen empfanden ihr Jahrhundert als „siècle des lumières" oder „siècle philosophique". Sie brachten dies selbstbewußt, keinesfalls aber selbstgefällig zum Ausdruck. Denn trotz einiger Fortschritte, die inzwischen im Kampf gegen die den neuen philosophischen Zeitgeist mißachtenden reaktionären Kräfte und Institutionen erzielt worden waren, hatte sich bei ihnen die Einsicht befestigt, daß die Hauptarbeit noch bevorstand und es weiterer zielbewußter Anstrengungen auf einer zunehmend breiteren gesellschaftlichen Ebene bedurfte. Der unablässige Kampf der meisten Aufklärer des 18. Jahrhunderts gegen Aberglauben, Fanatismus, Intoleranz, Betrug und Verdummung seitens der geistlichen und weltlichen Mächte war von dem Bewußtsein getragen, daß es der menschlichen Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen gelte. Die Aufklärer erblickten in der Aufdeckung der genannten dunklen Machenschaften der herrschenden Kreise und der Beseitigung der Vorurteile einerseits sowie in der Erziehung ihrer Zeitgenossen zur Humanität andererseits ihre Hauptaufgabe, die sie als Forderung des Tages und gleichzeitig als geschichtsphilosophisches Anliegen auffaßten. Ihr hierbei sich manifestierendes Sendungsbewußtsein stützte sich auf die Überzeugung, daß die Menschheitsgeschichte trotz aller Wirrnisse und Zufälligkeiten, trotz aller Zeiten der Greuel und Schrecken eine innere Entwicklungslinie andeute. Getreu ihren Denkkategorien hielten sie unbeirrbar fest am allmählichen Vorwärtsdrängen der Vernunft und damit an der Bewegung zu immer größerer Vollkommenheit. Erstmals erwies sich so das Zeitbewußtsein einer historischen Periode als ausgesprochenes Geschichtsbewußtsein, begriff man das eigene Zeitalter als Etappe innerhalb der als fortschreitenden Prozeß konzipierten Menschheitsgeschichte. Eine ähnliche geschichtliche Selbstbestimmung durch die Aufklärungsbewegung erfolgte im Verlauf des 18. Jahrhunderts 20
auch außerhalb Frankreichs, doch war sie vielfach weniger stark ausgeprägt. In diesem Zusammenhang spielten gleichfalls nunmehr säkularisierte Vorstellungen vom Erleuchten, vom klaren Denken, vom Licht-in-die-Finsternis-Tragen usw. eine wesentliche Rolle. Die jeweiligen volkssprachlichen Entsprechungen von französisch „lumière" bzw. „lumières" waren vorrangig anzutreffen, ohne daß immer von einer nach französischem Vorbild vorgenommenen Lehnprägung gesprochen werden konnte. Auch die heute in den einzelnen europäischen Ländern üblichen Periodenbegriffe für das 18. Jahrhundert decken sich damit oftmals nicht.12 In Italien ist zwar heute zur Kennzeichnung der Aufklärungsbewegung im allgemeinen „illuminismo" üblich, doch im 18. Jahrhundert selbst fanden für die aufklärerischen Bestrebungen die Wörter „luce" und „i lumi" Verwendung, unter „illuminato" verstand man „aufgeklärt", und die Bezeichnungen „secolo illuminato" bzw. „secolo filosofico" für aufgeklärtes Zeitalter waren immer wieder anzutreffen. In der Einleitung zu seinem 1764 erschienenen berühmten Werk Dei Delitti e delle pene (Von Verbrechen und Strafen) bezog sich Cesare Beccaria selbstbewußt auf den durch die Aufklärungsbewegung vermeintlich erzielten Durchbruch: „Dem angezündeten Lichte philosophischer Wahrheiten, die durch Erfindung der Druckerei bekannter wurden, ist man die Kenntnis der wahren Verhältnisse schuldig, welche zwischen dem Beherrscher und seinen Untertanen obwalten und die Völker miteinander verbinden."13 Diese Früchte, betonte er, schulde man der in seinem Jahrhundert wirksam werdenden Aufklärung (luce). In der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts griff man für „Aufklärung" zu den Benennungen „luz" bzw. „luces" oder „ilustración". Als Verb diente „ilustrar" und als Partizip „ilustrado". Allerdings setzte sich diese Bezeichnungsgebung erst gegen Ende der sechziger Jahre durch, als entschiedener auf eine Veränderung des Bewußtseins und einzelner Institutionen auf verschiedenen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens orientiert wurde und in erkenntnistheoretischer Hinsicht der Sensualismus stärker zum Zuge kam.14 Das mit dem Begriff der Aufklärung verbundene Selbstbewußtsein ihrer Verfechter ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Es war erfüllt vom 21
Glauben an die Zukunft, von der eigenen volksbildnerischen Verantwortung für den weiteren geistigen Fortschritt und der Genugtuung, im eigenen Zeitalter bereits verheißungsvolle Zeichen für die Entfaltung der Wissenschaften und der menschlichen Vernunft wahrzunehmen. In bewußter Abgrenzung zum 17. Jahrhundert verkündete 1776 Capmany, einer der bedeutendsten spanischen Gelehrten auf philologischem und historischem Gebiet: „ D a s vergangene Jahrhundert war eine Zeit der Phantasie, in der die Interessen der Dichter im Vordergrund standen. Dieses Jahrhundert ist dasjenige der Vernunft, in dem die exakten Wissenschaften glänzen, die Philosophie regiert, die Rechte der Menschheit wiederhergestellt werden, die bisher wenig Beachtung fanden. Man entdeckt die Natur, wendet sich der Anatomie des Menschen zu, sucht die Wahrheit und anerkennt die Freiheit, sie zu sagen." 1 5 Jovellanos, die wohl herausragendste Gestalt der spanischen Aufklärungsbewegung, meinte 1802 voller Optimismus, daß die sich abzeichnende Aufklärung in ihrer weiteren Entwicklung der zukünftigen Menschheit glänzende Perspektiven biete: „Wer sieht nicht, daß mit der Vervollkommnung der physischen und moralischen Kräfte des Menschen einerseits und ihren Organisationsformen andererseits sich die öffentliche und private Handlungsweise bei den Völkern bessern muß und ihre Übel und Unordnung in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Aufklärung abnehmen werden? . . . Wer sieht nicht, daß der Fortschritt der Bildung selbst eines Tages zuerst die aufgeklärten Völker Europas und schließlich diejenigen der ganzen Welt zu einer allgemeinen Konföderation führen wird, deren Zweck es sein wird, ein jedes Volk in den Vorteilen zu belassen, die es dem Himmel schuldete und allen Völkern einen unverletzlichen und ewigen Frieden zu wahren . . , ? " 1 6 Im Portugiesischen stellt „seculo das luzes" die gegenwärtige Benennung für das Aufklärungszeitalter dar. Für Aufklärung verwenden portugiesische Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts zwar oftmals nach italienischem Vorbild „iluminismo", doch scheinen sich heute in Portugal und Brasilien immer mehr die Ausdrücke „luzes" und „ilustragäo" durchzusetzen. Die portugiesischen Aufklärungstexte selbst hingegen bezeugen für Aufklärung die Wörter „luzes" oder auch gele22
gentlich „lumes", für aufklären „ilustrar" und „lumiado" für aufgeklärt. 17 Im Rumänischen ist heute „iluminism" die gängige Bezeichnung für Aufklärung als historische Periode wie auch als gesellschaftliche Bewegung. Seltener taucht dafür „luminism" auf. Von den rumänischen Schriftstellern selbst, die als Aufklärer gelten, wurden „luminare" (Aufklärung), „lumin ätor" (Aufklärer), „luminat" (aufgeklärt) und „a lumina" (aufklären) benutzt 18 , allerdings vorwiegend erst in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die rumänischen Aufklärer erblickten in der Volksbildung eines der brennendsten Probleme. Den in dieser Hinsicht damals fortgeschritteneren Völkern sollte unter Besinnung auf die eigenen Kräfte und Möglichkeiten nachgeeifert werden. Insbesondere schloß eine in Angriff zu nehmende zielgerichtete Volksbildung die Pflege der eigenen Muttersprache ein. Im 1795 entworfenen Programm einer rumänischen philosophischen Gesellschaft, die durch den Argwohn der österreichisch-habsburgischen Behörden gegenüber aufklärerisch-volksbildnerischen Bestrebungen nicht zustande kam, wurde die Feststellung getroffen, daß es viele Völker durch die Pflege von Sprache und Wissen zur Unsterblichkeit brachten. Auch den Rumänen gezieme es nun, sich mit den Wissenschaften zu beschäftigen, dadurch den Geist zu schärfen und wahrhaft aufklärerisch (luminat) zu denken. 19 Der siebenbürgische Pädagoge Constantin Diaconovici Loga schrieb 1821: „Gerade in der Muttersprache wollen wir uns Wissen aneignen (sä ne luminäm), denn wir können dies, wie es auch andere Völker konnten, die ebenfalls noch in der Finsternis der Unwissenheit gewesen waren, solange sie damit noch nicht begonnen hatten." 20 Die rumänische Aufklärung, speziell in den zur habsburgischen Monarchie gehörenden Gebieten, trug den Stempel einer nationalen Emanzipationsbewegung, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts voll entfaltete. In innigem Zusammenhang mit ihren volksbildnerischen und politischen Bestrebungen leitete sie auf breiter Ebene die Bemühungen ein, die auf die Formung einer für das moderne Leben ausgerüsteten einheitlichen rumänischen Literatursprache hinausliefen. Zugleich entwickelte sie ein nationales Geschichtsbild, das der Selbstver23
ständigung wie auch Selbstbehauptung und Rechtfertigung gegenüber den anderen Nationalitäten Siebenbürgens diente. Doch nicht nur in Rumänien, auch in den anderen romanischen Ländern spielten eng mit der Formung des Nationalbewußtseins verknüpfte Aspekte eine Rolle innerhalb der Aufklärungsbewegung. Sie artikulierten sich nur in anderer Weise. Selbst in Italien, wo sich erst im 19. Jahrhundert mit dem Risorgimento sehr kraftvoll das Bestreben nach politischer Einheit bekundete, war zumindest in kultureller Hinsicht ein übergreifendes nationales Moment vorhanden. Die in einzelnen italienischen Staaten mit der Aufklärung hervortretende patriotische Tendenz bezog sich zwar auf gesellschaftspolitischer Ebene völlig auf das jeweilige staatliche Territorium, besaß also überhaupt keine gesamtitalienische Ausrichtung, in Fragen der Sprache und Literatur jedoch war deutlich das übergreifende nationale Moment spürbar. Seit der Renaissance existierte ja ein Bewußtsein sprachlich-kultureller Zusammengehörigkeit. Walter Markov hat mit Recht hervorgehoben, wie sehr die Aufklärungsbewegung mit der Herausbildung der bürgerlichen Nation zusammenhing: „Alle Aufklärung des 18. Jahrhunderts zielt letztendlich auf Abtragung feudaler Hypotheken und Freilegung der bürgerlichen Nation. Verschiedenartigkeit in den gesellschaftlichen Voraussetzungen führte indessen nicht nur zu zeitlichen Verschiebungen, sondern ebenfalls zu Veränderungen der konkreten Aufgabenstellung. Hatte sich eine nationale Bourgeoisie wie die niederländische und besonders die englische durchgesetzt, so floß Aufklärung in die Festigung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, ihrer spezifischen Produktionsweise und ihres Staatsgebäudes ein. Bereitete sie sich, wie in Frankreich, in scharfem Klassenkampf auf die unmittelbare Machtübernahme vor, so wohnten ihren Ideen und Idealen alle Spannungsbereiche revolutionären Umsturzwillens inne." 21 In Italien, Spanien, Portugal und Rumänien konnte sich die Aufklärung nicht unter so günstigen sozialökonomischen Verhältnissen entwickeln. Die Bourgeoisie war hier nicht so mächtig und selbstbewußt. Vielfach sah sie sich bei der Durchsetzung ihrer Interessen nur auf den Absolutismus verwiesen, der 24
besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch die Auswirkungen des in England bereits siegreichen Kapitalismus und die wachsenden inneren Krisen zu Reformen gezwungen war. Teilweise in Verbindung mit der Aufklärungsbewegung oder unter Berufung auf „aufklärerischen" Reformwillen wurden Maßnahmen eingeleitet, die zwar nicht die realen Machtverhältnisse und damit das bestehende System grundlegend veränderten, doch in der Tendenz zumindest zum weiteren Formierungsprozeß der bürgerlichen Nation beitrugen. Diese Reformen wurden von den eindeutig reaktionären Kräften mit großem Argwohn aufgenommen oder, wenn sich die Möglichkeit ergab, bekämpft. Angesichts der revolutionären Ereignisse in Frankreich nahm der Feudalabsolutismus selbst dann viele von ihnen wieder zurück. Unter für die bürgerliche Emanzipation noch nicht herangereiften ökonomischen und politischen Bedingungen innerhalb des Feudalabsolutismus: kündigte sich damals in mehr oder weniger sichtbaren Konturen der dann im 19. Jahrhundert voll zur Entfaltung kommende Prozeß der Formierung der bürgerlichen Nationen an, den Lenin wie folgt charakterisiert: „In der ganzen Welt war die Epoche des endgültigen Sieges des Kapitalismus über den Feudalismus mit nationalen Bewegungen verbunden. Die ökonomische Grundlage dieser Bewegungen besteht darin, daß für den vollen Sieg der Warenproduktion die Eroberung des inneren Markts durch die Bourgeoisie erforderlich, die staatliche Zusammenfassung von Territorien mit Bevölkerung gleicher Sprache notwendig ist . . . Die Bildung von N a t i o n a l s t a a t e n , die diesen Erfordernissen des modernen Kapitalismus am besten entsprechen, ist daher die Tendenz (das Bestreben) jeder nationalen Bewegung." 22 Die auf den vorangehenden Seiten als generelle Grundzüge der Aufklärung angedeuteten ideologischen Prozesse gehören sozialökonomisch zur letzten Periode der sich auf mehrere Jahrhunderte erstreckenden Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, deren wesentliche Markierungspunkte die frühbürgerliche Revolution des 16., die englische Revolution des 17. und die Französische Revolution gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren. Von daher ergeben sich auch in der Ideologiegeschichte übergreifende Momente, die für die ge25
samte Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus charakteristisch sind und besondere Beachtung verdienen. Bestimmte ideologische Prozesse, die erst nach und nach stärker zur Geltung kamen und sich in unterschiedlicher Breite und Intensität abzeichneten, kamen erst im 18. Jahrhundert zur vollen Entfaltung. Dies betrifft vor allem zwei Aspekte: erstens die Säkularisierung, das heißt die nicht mehr vermittelte forscherische Zuwendung zu den Erscheinungen von Natur und Gesellschaft, um deren Gesetzlichkeit zu erkennen und sie dadurch beherrschen zu lernen; und zweitens die Herauslösung des Individuums aus seinen ständischen Bindungen mit all ihren ideologischen Konsequenzen. In zunehmendem Maße kam es zu einer Freisetzung des Individuums, die nach Karl Marx als persönliche Unabhängigkeit auf der Basis sachlicher Abhängigkeit zu kennzeichnen und für die sich herausbildende Gesellschaftsform typisch ist. Die von der Aufklärungsbewegung geprägte Periode der Ideologiegeschichte erstreckte sich zwar generell vom Ausgang des 17. bis zu den Anfängen des 19. Jahrhunderts, doch ergaben sich innerhalb dieses abgesteckten Zeitraums in den ein2elnen Ländern infolge des differenzierten Tempos der sozialökonomischen Entwicklung vielfach Phasenverschiebungen, so daß in einer Reihe von europäischen Staaten aufklärerische Bestrebungen erst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts deutliche Konturen erhielten. Zwei entscheidende Wendepunkte sind indessen bei allen spezifisch nationalen Aspekten nicht zu übersehen: die englische Revolution im 17. Jahrhundert, die mit der auf einem Klassenkompromiß zwischen Adel und Bourgeoisie beruhenden „Glorreichen Revolution" von 1688 ihren Abschluß fand, und die 1789 beginnende Französische Revolution. Sie markieren den Beginn bzw. das Ende der Aufklärungsperiode. Die Anfänge der Aufklärung reichen bis in die letzten zwei Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts zurück. Paul Hazard beschrieb jenen Zeitraum ideologischen Umbruchs umfassend in La Crise de la conscience européenne (Die Krise des europäischen Bewußtseins) (1680-1715). Zwar lassen sich nicht alle von Hazard geschilderten ideologischen Erscheinungen als Frühaufklärung subsumieren; denn manches Phänomen wurzelte noch 26
zu stark in der vorangegangenen zweiten Periode der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus, doch zeichnete sich bereits deutlich eine neue Qualität im übergreifenden Säkularisierungsprozeß ab. Nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche wurden jetzt einbezogen, und die Entwicklung der Wissenschaften schritt rasch voran. Holland und England hatten hierbei dank ihrer siegreichen bürgerlichen Revolution entscheidend geholfen, die Weichen zu stellen. Die in der Renaissance einsetzende frühbürgerliche Emanzipation der Wissenschaften von der Theologie war hier bereits seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts besonders gefördert worden. Sie brachte auf Erfahrung und Vernunft basierende Methoden und Denksysteme hervor, in denen die Aufklärer Vorposten ihrer eigenen Bemühungen erkannten und an die sie in schöpferischer Auseinandersetzung anknüpften. Nur in England setzte auf Grund der abgeschlossenen bürgerlichen Revolution die Aufklärung bereits Ende des 17. Jahrhunderts auf breitester Ebene ein. Es begann eine nachrevolutionäre Phase, in der die Bourgeoisie, weiterhin in politischer Konkurrenz mit der Aristokratie, ihre erreichte Position ideologisch und wirtschaftlich abzusichern suchte. Zum Unterschied von der vorangegangenen Periode erwies sich hierbei in ideologiegeschichtlicher Hinsicht das Zusammentreffen folgender drei Momente als charakteristisch: eine auf deistischer Grundkonzeption basierende und auf allgemeine Toleranz abzielende Religionskritik, eine empiristische Philosophie, die rationalistische metaphysische Systeme ablehnt, sowie eine auf dem bürgerlichen Naturrecht beruhende und den Absolutismus ausschließende gesellschaftspolitische Konzeption. Diese Positionen waren zwar vereinzelt schon seit dem 16. Jahrhundert in England entwickelt worden, doch erst mit dem Ende der Revolution wurden sie zu einer Einheit verknüpft und von einer breiteren gesellschaftlichen Basis getragen. Die revolutionären Auseinandersetzungen in England um die Mitte des 17. Jahrhunderts waren schließlich noch in religiöser Hülle erfolgt. Die siegreiche Revolution in England zeitigte in der Folgezeit auch für die sozialökonomische Entwicklung auf dem europäischen Kontinent weitreichende Konsequenzen. Sie vermittelte Impulse, die beispielsweise für die Herausbildung der 27
Aufklärung in anderen Ländern von beträchtlichem Gewicht waren, sofern dort die entsprechende historisch-gesellschaftliche Basis herangereift war. Mit der weiteren Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse im Schöße des Feudalismus wurde in den feudalabsolutistischen Staaten des europäischen Kontinents die politische, administrative, wirtschaftliche und verkehrsmäßige Zentralisation vorangebracht. Dies war vielfach mit dem Bestreben, verknüpft, durch Entfaltung des Handels, der Gewerbe und die Einrichtung von Manufakturen die königliche Kasse zu füllen. So wurde es notwendig, auch der Förderung von Wissenschaft und Technik mehr Aufmerksamkeit zu schenken. „Das angesichts seiner ökonomischen Schwäche politisch einflußarme und unprätentiöse Bürgertum des Festlandes ging noch nicht auf Kollisionskurs mit seinen Stuarts. Es tendierte im Streben nach Eingrenzung des partikularistischen Feudalschluders auf durchdachte Zentralisierung einer aufgeklärten Monarchie, unter deren merkantilistischem Schutz und Schirm geschlossene Markt- und Bildungssysteme aufblühen sollten." 23 Mit diesem fortschreitenden Aufkommen der kapitalistischen Elemente hingen der Ausbau einer selbständigen weltlichen Laienbildung und die Entwicklung einer innerweltlichen Moral mittelbar zusammen, die auf der Autonomie der menschlichen Vernunft fußte. Dies konnte nur in Auseinandersetzung mit den Verfechtern der kirchlichen Orthodoxie erfolgen, die in den katholischen Ländern die Position der Gegenreformation zu halten suchten, und in Konfrontation mit bestimmten Feudalkräften. Durch die Bildung von Akademien und gelehrten Gesellschaften unterstützte mancher absolutistische Staat teilweise diesen Prozeß, ohne daß er damit als „aufklärerisch" bezeichnet werden darf. Dies begann in Frankreich schon im 17. Jahrhundert und trat in Spanien erst mit der neuen Dynastie der Bourbonen im 18. Jahrhundert in Erscheinung. Ebenso gab der Absolutismus in einzelnen Ländern durch seine Auseinandersetzung mit den weltlichen Machtgelüsten der katholischen Kirche und durch die Beschneidung geistlichen Feudalbesitzes ideologischen Diskussionen Auftrieb, die sich gegen päpstliche Ansprüche richteten, bald in aufklärerisches Fahrwasser gerieten, teilweise eine unverkennbar antiklerikale N o t e 28
bezeugten und das Verhältnis von Kirche und Staat in ein neues Licht rückten. Mit der zunehmenden Säkularisierung des Denkens war es dem Absolutismus zugleich aber auch nicht mehr möglich, den Ursprung seiner Macht auf ein Gottesgnadentum zurückführen zu lassen. Er brauchte nunmehr eine weltliche Begründung, die von seinen ideologischen Wortführern aus bürgerlichen Schichten mit den Mitteln der im 17. Jahrhundert entwickelten Naturrechtslehre vorgenommen wurde. Diese rückten das gesellschaftliche Gemeinwohl allmählich stärker in den Mittelpunkt und erblickten in dessen Herbeiführung und Sicherung die Funktion und zugleich die Legitimation des Monarchen. Frankreich24 In Frankreich zeichneten sich einige frühaufklärerische Positionen in den letzten zwei Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts ab. Doch erst nach 1715, in der Zeit der Régence, begann sich die Aufklärungsbewegung zu formieren. Der Abbau des theologisch-metaphysischen Weltbildes erhielt in der französischen Literatur ganz entscheidende Impulse durch Pierre Bayle und Fontenelle. Beide begannen auf ihre Art einen konsequenten Kampf gegen Aberglauben, Vorurteile und blinden Autoritätsglauben. Bayle, der zum Kreis der französischen protestantischen Emigranten in Holland gehörte, wirkte in dieser Hinsicht vor allem durch seine 1682 veröffentlichte Schrift Pensées diverses sur la comète (Verschiedene Gedanken über den Kometen) und sein Dictionnaire historique et critique (Historischkritisches Wörterbuch) vom Jahre 1697, das für die weitere Aufklärung zu einem unentbehrlichen Instrument wurde. Fontenelle eröffnete seine aufklärerischen Bestrebungen mit der 1686 publizierten Schrift Histoire des oracles (Geschichte der Orakel), in der er dem Priesterbetrug auf die Spur zu kommen suchte. Als dieses Werk erschien, fand es durchaus die Billigung des Absolutismus. Die königliche Zentralgewalt wandte sich damals gegen die Hexenverfolgungen ihrer Kriminalgerichte, und Fontenelles Darlegungen kamen nicht ungelegen. Als jedoch 1707 die zweite Auflage erschien, wurde diese Schrift als Provokation empfunden. Inzwischen hatte sich 29
die Situation am königlichen Hof nämlich insofern geändert, als nunmehr jesuitische Beichtväter und Frau von Maintenons Bigotterie Ludwig XIV. wesentlich zu beeinflussen verstanden. Fontenelle zog es vor, sich nicht auf die für ihn persönlich größte Gefahr heraufbeschwörende Polemik einzulassen, die der eifernde Jesuitenpater Baltus jetzt mit seinem bedrohlichen Angriff auf die Histoire des oracles auszulösen gedachte. Er hielt sich lieber an die schützende Hand des ihm zugetanen Pariser Polizeipräsidenten und schwieg.25 Von der neuentzündeten "Querelle des anciens et modernes" ausgehend, entwickelte Fontenelle in seinem 1678 erschienenen Werk Digression des anciens et des modernes überdies ein neues geschichtliches Weltbild, das unmittelbar in die Aufklärungsbestrebungen einmündete und für die weitere Entwicklung der Fortschrittstheorie von maßgeblicher Bedeutung war. Er ging von den wachsenden Erfahrungen und Erkenntnissen der Menschheit aus und verwandelte darauf fußend das in der Renaissance anzutreffende zyklische Geschichtsbild in die Lehre von einem noch undialektisch begriffenen mechanischen Prozeß unaufhörlichen menschlichen Fortschritts. Bereits in den letzten Jahrzehnten des Regimes Ludwig XIV. fand mit den sich rascher entwickelnden Naturwissenschaften in Frankreich die induktiv-experimentelle Methode von Newton und Locke starke Beachtung, was auch eine Belebung der weltanschaulichen Diskussionen bedeutete und von beträchtlichem Gewicht für die weitere Unterhöhlung der theologisch-metaphysischen Grundsätze war. Lockes berühmter Essay über den menschlichen Verstand (1690), der hierfür das theoretische Fundament lieferte und mit seiner sensualistischen Erkenntnistheorie eine entscheidende Grundlage für die zukünftige europäische Aufklärungsphilosophie legte, erschien 1700 in französischer Übersetzung. Er fand ein lebhaftes Echo, wie es zahlreiche Nachauflagen und die in den folgenden Jahrzehnten geführten aufklärerischen Bemühungen überzeugend dokumentierten. Die offen zutage tretende Krise des Regimes Ludwigs XIV. um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert führte nach vielen Jahrzehnten absolutistischer Machtpolitik, vor allem nach 1715, zu einer erneuten Auseinandersetzung zwischen den 30
rivalisierenden Standesgruppen des Schwertadels, der Noblesse de Robe (Amtsadel) und des Klerus, wobei das erstarkende Bürgertum, zunächst noch im Gefolge des Königtums, deutlich seine Interessen mit zu artikulieren verstand. D a dies ideologisch von jeder gesellschaftlichen Gruppierung im Namen des vorgegebenen Gemeinwohls instrumentiert wurde, kamen nun zahlreiche politische, geschichtliche, gesellschaftliche, ökonomische und religiöse Probleme zur öffentlichen Diskussion. E s begann sich in dem Maße, wie das aufstrebende Bürgertum immer selbstbewußter wurde, nicht nur eine öffentliche Meinung zu formieren. Auch die in diesem gesellschaftlichen Kontext entwickelten frühaufklärerischen Argumente, welche die Fundamente des vorherrschenden, wenn auch in sich differenzierten feudal-klerikalen Weltbildes sprengen mußten, konnten unter diesen Bedingungen besser Eingang finden. Ideengeschichtlich wurde in der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichenden Frühaufklärung eine zuweilen bis zum Materialismus vorgetriebene Verweltlichung in dem Bemühen sichtbar, die in Natur und Gesellschaft verborgenen Gesetzlichkeiten aufzudecken. 2 6 Dem christlich-theologischen Weltbild wurde allseitig der Prozeß gemacht. Der Kampf gegen Aberglauben, Autoritätsgläubigkeit und Vorurteile war auf vielen Ebenen eröffnet. Indessen wurde die frühaufklärerische Offensive publizistisch noch nicht in aller Breite vorgetragen. Viele ihrer kühnen Ideen verbreiteten die Frühaufklärer in handschriftlich vervielfältigten Manuskripten. Auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle des Absolutismus existierten noch zahlreiche Illusionen. Die Hoffnungen auf ein Bündnis zwischen Krone und Frühaufklärung, das sich in der Régence tatsächlich anzubahnen schien, blieben erhalten. D i e mit dem Durchbruch des Neuen erforderliche Überwindung der feudalklerikalen Vorurteile sollte mit Hilfe des Monarchen gelingen. Wesentlich rigoroser wandte sich die feudalabsolutistische Zensur zunächst gegen die vom Geist des Jansenismus erfüllten Schriften, da sie darin einen trotzigen partikularistischen Anspruch gegen die Krone witterte. Nach 1737 und mehr noch nach 1745 änderte sich jedoch die Lage. Nunmehr wurden von den absolutistischen Behörden sehr gezielt repressive Maßnahmen gegen die Veröffentlichung von deistischen und atheisti31
sehen Werken ergriffen. 27 Es zeigte sich immer mehr, daß es ¿wischen dem Feudalabsolutismus und der Aufklärungsbewegung weder zu einem Bündnis noch zu einem Kompromiß kommen konnte. Die Konfliktsituation zwischen beiden vertiefte sich zusehends. In gesellschaftspolitischer Hinsicht lenkten verschiedene Frühaufklärer mit aufrichtiger Bewunderung den Blick auf die Zustände in England, ohne deswegen wie Montesquieu theoretisch ein antiabsolutistisches Konzept zu entwickeln. Voltaires 1734 publizierte Lettres philosophiques, ou Lettres sur les Angglais (Philosophische Briefe oder Briefe über die Engländer), •die das Pariser Parlament verdammte, fanden eine beachtliche Resonanz, zeigten sie doch das breite Panorama einer gesellschaftlichen Alternative zu den französischen Verhältnissen. Voltaire machte nicht nur sichtbar, was Toleranz für die Gesellschaft bedeutete, welche hohe Wertschätzung in diesem Land die Wissenschaft und ihre Vertreter genossen, wie insbe.sondere Newton und Locke die menschlichen Erkenntnisse entscheidend voranbrachten, sondern er wies zugleich auch auf •die politischen Errungenschaften des dritten Standes in England hin. Im 8. Brief schrieb er: „Die englische Nation ist die einzige auf der Erde, der es gelungen ist, die Macht der Könige durch Widerstand zu regulieren und die durch fortgesetztes Streben schließlich die vernünftige Regierungsform erreicht hat, unter der der Herrscher alle Macht hat, Gutes zu tun und die Hände gebunden findet, Unrecht zu begehen, unter der die aristokratischen Herren ohne Unverschämtheit und ohne Vasallen sind und unter der das Volk Anteil an der Regierung hat, ohne Verwirrung zu stiften." 28 Nach der Jahrhundertmitte setzte sich unter den französischen Aufklärern immer stärker die Erkenntnis durch, daß die Krone nicht an tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen interessiert war, daß es aber auf gesellschaftspolitischem Gebiet unbedingt darauf ankomme, grundlegende Veränderungen ins Auge zu fassen. Das zunehmend erstarkende Bürgertum manifestierte nach 1750 ein beträchtlich gewachsenes politisches Selbstbewußtsein. Es formulierte sehr deutlich und Wesentlich radikaler als vorher seine Ziele und begann, in publizistischer Hinsicht eine breite ideologische Front gegen 32
alle Erscheinungen des Ancien régime zu entwickeln. Dies wiederum veranlaßte die feudalabsolutistische Reaktion zur ideologischen Gegenoffensive, ohne indessen wirkliche Erfolge verbuchen zu können. D i e ideologische Stoßrichtung der französischen Aufklärung trug sowohl antifeudalen als auch antitheologischen und antimetaphysischen Charakter. Sie bezweckte eine praktisch-gesellschaftliche Bewährung mit bewußtseins- und damit in aufklärerischer Sicht auch gesellschaftsverändernden Konsequenzen. Von einer kämpferischen Oppositionshaltung gegenüber den herrschenden Anschauungen, gesellschaftlichen Verhältnissen und Institutionen erfüllt, wollte sie unmittelbar volksbildend sein. Sie stellte die gesellschaftlichen und geistigen Grundlagen des Ancien régime grundsätzlich in Frage, erschütterte das Sekuritätsgefühl der herrschenden Kreise und entwarf zugleich die Prinzipien für eine neue anzustrebende gesellschaftliche Ordnung, vielfach von der Illusion getragen, ein „Reich der Vernunft" aufrichten zu können. D i e Unumgänglichkeit eines Wandels der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zeichnete sich mehr oder weniger deutlich als zwingende Konsequenz aus den Darlegungen der französischen Spätaufklärer ab. Friedrich Engels bemerkte mit Recht: „Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, traten selbst äußerst revolutionär auf. Sie erkannten keine äußere Autorität an, welcher Art sie auch sei. Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte seine E x i stenz vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder auf die Existenz verzichten. D e r denkende Verstand wurde als alleiniger Maßstab an alles angelegt. Es war die Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf den Kopf gestellt wurde . . , " 2 9 D i e Vielfalt und Dynamik der französischen Aufklärungsbewegung soll hier nicht im einzelnen dargelegt werden. Dies ist unlängst in marxistischer Sicht ausgezeichnet von einem unter Winfried Schröders Leitung stehenden Kollektiv des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der D D R geleistet worden in dem umfangreichen Band Französische Aufklärung. Bürgerliche Emanzipation, Literatur und Bewußtseinsbildung (Leipzig 1974). Uns kommt 3
Bahner, Bd. 2
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es in diesem Beitrag nur auf die Kennzeichnung einiger Besonderheiten der französischen Aufklärung gegenüber der Aufklärung in anderen, speziell romanischen Ländern an. Solche Besonderheiten erblicken wir vorrangig in folgenden Erscheinungen : Nur in Frankreich mündete die Aufklärungsbewegung mit ihrer ideologischen Stoßrichtung des unerbittlichen Kampfes gegen die Feudalstrukturen in die Revolution ein, nur hier spitzten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Widersprüche zwischen dem Charakter der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen derart zu, daß die Bourgeoisie durch die Volksmassen zu einer gewaltsamen, kompromißlosen Veränderung der ständischen Struktur gedrängt wurde. Während in England die nachrevolutionäre Aufklärungsbewegung zur Absicherung und Organisierung der erreichten Machtverhältnisse und damit zur Vorbereitung der industriellen Revolution beitrug, erfuhr die auf eine Revolution hinauslaufende, im ideologischen Kampf sich artikulierende bürgerliche Emanzipationsbewegung in Frankreich ihre schärfste und vielfältigste Ausprägung und wurde so zum vorrevolutionären Musterbeispiel der aufsteigenden bürgerlichen Klasse. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Aufklärungsideen in diesem Land die Revolution ideologisch vorbereiteten, wenn auch der Beitrag hierzu im konkreten Fall unterschiedlich geartet war und hinsichtlich seiner revolutionären Sprengkraft recht ungleiches Gewicht besaß. Die vom englischen Bürgertum entwickelten aufklärerischen Erkenntnisse und Grundsätze fanden in Frankreich nicht nur ein breites Echo. Sie wurden von den französischen Aufklärern unter Anknüpfung an nationale Denktraditionen im Hinblick auf die eigene gesellschaftliche Situation schöpferisch verarbeitet, dabei weltanschaulich vielfach radikalisiert, teilweise in eine militant atheistisch-materialistische Richtung vorangetrieben und zugleich wesentlich stärker popularisiert. Den eigenen gesellschaftlichen Bedürfnissen gemäß modifiziert, wurde ihr Zündstoff erneuert, ja erhöht angesichts der wachsenden vorrevolutionären Spannung in der französischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Keine andere Aufklärungsbewegung zeitigte eine so breite Phalanx von materialistisch-athei34
stischen Denkern wie die französische. Holbach brachte in seinem Système de la nature (System der Natur) eine geschlossene Darstellung der Prinzipien des mechanischen Materialismus. Und Helvétius entwickelte von Locke ausgehend materialistische Gedankengänge, deren Konsequenzen nach Karl Marx und Friedrich Engels direkt in den Sozialismus und Kommunismus münden. 30 Ebenso war der Antiklerikalismus, dem wohl Voltaire beredtesten Ausdruck gab, nirgendwo so durchgängig und vielseitig wie in der französischen Aufklärung. Keine andere Aufklärungsbewegung wies eine so große Fülle von Autoren auf wie die französische. In Frankreich wurde deutlich demonstriert: „Die Aufklärung ist nicht das geniale Werk einzelner, sondern das Produkt einer ganzen Epoche, die kollektive Leistung einer Fülle von Schriftstellern, deren Bedeutung oft im umgekehrten Verhältnis zu einer nur geringen literarischen Begabung steht." 31 Hier zeigte sich, welche Bedeutung auch dem unbekannten Literaten zuzumessen war, wie von Schriftstellern der zweiten und dritten Reihe wertvolle Impulse ausgingen und neue Erkenntnisse und kühne Forderungen vorgebracht wurden. Damit hing weiterhin die Tatsache zusammen, daß die französische Aufklärungsbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts trotz der vorhandenen gemeinsamen Grundanschauungen die größte Differenzierung aufwies, was ihr eine besondere innere Dynamik der Auseinandersetzung, Polemik und Argumentationsbreite verlieh. Innerhalb der vorsozialistischen Gesellschaftsentwicklung gehört die französische Aufklärung ohne Zweifel mit zu den Abschnitten, in denen in besonders starkem Maße die allseitige Veränderung des gesellschaftlichen Bewußtseins als vorrangiges Anliegen hervortrat. Die Rolle des Bewußtseins für die Veränderung der Praxis, die Funktion der nunmehr rein weltlich gefaßten Ideologie in ihrer Bedeutung für die Veränderung der gesellschaftlichen Realität war vor den französischen Aufklärern kaum so umfassend erkannt und gebieterisch unterstrichen worden. Auch wenn die Begrenzung ihrer Einsicht allein schon dadurch gegeben war, daß sie noch nicht die historisch-gesellschaftliche Bedingtheit der Ideologie erkennen konnten, boten sie doch für ihre Zeitgenossen weit über Frankreich 3«
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hinaus geradezu exemplarisch ein Beispiel dafür, wie die Gesellschaft von umwälzenden Ideen durchdrungen werden konnte. In der weiteren Entwicklung zeigten sich indessen deutliche Grenzen. Obgleich sich aufklärerisch gesinnte Fraktionen in verschiedenen Institutionen des Ancien régime festzusetzen vermochten und die öffentliche Meinung Zeugnis von dem wachsenden Einfluß der Aufklärungsideen ablegte, obgleich in den privilegierten Schichten selbst durch die Aufklärungsideen starke Zweifel an der bestehenden Ordnung genährt wurden und reformwillige Kräfte auf dem Plan erschienen, gelang es nicht, die realen Machtverhältnisse zu verändern. Der Widerstand der etablierten Mächte erwies sich als stärker. Erst durch die Revolution wurden einschneidende Strukturveränderungen erzwungen. Für die französische Spätaufklärung ist ferner bezeichnend, d a ß es mit dem fortschreitenden sozialökonomischen Prozeß der Zersetzung des Feudalismus durch den aufkommenden Kapitalismus zu recht ausgeprägten ideologischen Differenzen innerhalb des dritten Standes kam. Mit J.-J. Rousseau beispielsweise, um nur den profiliertesten Vertreter zu nennen, hob sich insbesondere in viel größerer Breite als in der Aufklärungsbewegung anderer Länder ein plebejisch-kleinbürgerlicher Flügel ab, der zwar ebenfalls an wesentlichen aufklärerischen Positionen festhielt, doch zugleich Erscheinungen der sich herausbildenden kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft scharf aufs Korn nahm. In dem Bemühen, eine Alternative abzustecken, entwickelte diese Richtung einerseits rückwärtsgewandte wirtschaftliche Anschauungen, andererseits demokratische Grundsätze. Außerdem bezeugten diese Ideologen vielfach eine wesentlich kompromißlosere Einstellung zum Ancien régime. Ihre Systemkritik enthielt keinerlei Konzessionen an die bestehende feudalabsolutistische Ordnung. Für die Idee eines „aufgeklärten Absolutismus" ergab sich hier im Gegensatz zur Position der breiten bürgerlichen Mitte nicht der geringste Spielraum. Außerdem waren kräftige Stimmen zu vernehmen, die über die anvisierte Konstituierung der bürgerlichen Gesellschaft hinausreichende egalitäre Prinzipien vertraten und ein utopisch-kommunistisches Programm umrissen.
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Italien32 Die politische Zerrissenheit des Landes prägte hier auch die Aufklärungsbewegung. Von einer einheitlichen italienischen Aufklärung konnte keine Rede sein. Es gab eine neapolitanische, lombardische, toskanische, piemontesische,'venezianische Aufklärung usw., die entsprechend den jeweils gegebenen staatlichen Verhältnissen partikulare Züge aufwies. Der größte Teil der Apenninenhalbinsel gehörte entweder zum Machtbereich der spanischen Bourbonen oder zu dem der österreichischen Habsburger. Nur Venedig, Genua und der römische Kirchenstaat wurden nicht von einer fremden Dynastie regiert. Die bedeutendsten Zentren der sich erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts stärker profilierenden Aufklärungsbewegung waren das zur habsburgischen Krone gehörende Herzogtum der Lombardei und das selbständig gewordene Königreich Neapel-Sizilien mit einem Monarchen aus der Dynastie der spanischen Bourbonen. Auch das Großherzogtum der Toskana mit einem Habsburger auf dem Thron, der sich um einen „aufgeklärten Absolutismus" bemühte, zeigte eine interessante Entwicklung. Ebenso kam es in Parma, Genua und Venedig zeitweise zu bemerkenswerten aufklärerischen Tendenzen. Im Mittelpunkt der aufklärerischen Bestrebungen in Italien standen der Abbau des theologisch-metaphysischen Weltbildes und die Reformierung überlieferter gesellschaftlicher Strukturen. Zahlreiche aufklärerische Traktate behandelten deshalb vornehmlich Fragen der Wirtschaft, des Rechtswesens und der Verwaltung. Die in den einzelnen Staaten überkommenen gesellschaftlichen Verhältnisse waren recht unterschiedlich geartet. Im Königreich Neapel-Sizilien beispielsweise herrschte noch eine ausgesprochen feudale Ordnung. Zwar war dort die Macht des Adels gegenüber der Krone eingeschränkt, doch übten die Barone auf ihren Besitzungen weiterhin Feudalrechte aus. Handel und Gewerbe vermochten sich nur unter großen Schwierigkeiten zu entwickeln, und die Bauern auf dem Lande waren ärgster Ausbeutung ausgesetzt. In Mailand und in anderen Städten der Lombardei hingegen existierte eine jahrhundertealte kommunale Tradition, in der die reiche Bourgeoisie sich bestimmter Privilegien bemächtigt hatte. Handel, Bank37
wesen und Gewerbe hatten einst die Grundlage zum Reichtum jener Patrizier gelegt, die ihr Kapital fast ausschließlich in Grundbesitz anlegten, sich meist von den Geschäften zurückzogen und zur Aristokratie aufstiegen. Hier herrschte ein anderes Verhältnis zu kommunalen Einrichtungen und Traditionen und zu Handel und Manufaktur als in den süditalienischen Gebieten. Auf dem Lande jedoch bestanden auch in der Lombardei noch feudale Abhängigkeiten. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zeigte sich in Italien, besonders im Norden des Landes, ein gewisser wirtschaftlicher Aufschwung. E r wurde noch dadurch begünstigt, daß Italien bis zur Französischen Revolution nicht in kriegerische Auseinandersetzungen verstrickt war. Zahlreiche Manufakturen wurden gegründet oder zu neuer Blüte gebracht. Auf dem Lande setzten sich bestimmte kapitalistische Praktiken zur weiteren Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge durch, insbesondere das Pachtsystem breitete sich aus. Doch die feudalen Gegebenheiten und ein umfangreicher Kirchenbesit2 wirkten weiterhin als schwere Hemmnisse. Diese Entwicklung fiel nicht zufällig in der Toskana, der Lombardei und im Königreich Neapel-Sizilien mit dem Bestreben der neuen Fürsten zusammen, das Rechts- und Verwaltungswesen ihres Staates zu reorganisieren sowie eine zielgerichtete Steuer- und Wirtschaftspolitik zu betreiben. Durch rationelleren Aufbau des Staatswesens sollte zum einen die Machtposition des Herrschers gestärkt werden, zum anderen hatte es sich gezeigt, daß gegenüber Ländern wie England und Holland ein wirtschaftlicher Rückstand aufzuholen war, der größer zu werden schien und recht negative Auswirkungen auf die weitere Entwicklung des eigenen Landes haben konnte. Für aufklärerische Bestrebungen bot sich unter diesen Umständen ein günstiges Wirkungsfeld. D i e Idee des „aufgeklärten Absolutismus" brach sich Bahn. 3 3 D i e noch relativ schwache Bourgeoisie suchte die Stunde zu nutzen, stieß jedoch bald auf unüberwindliche Hindernisse. Die von den absoluten Herrschern durchgeführten oder geplanten Reformen liefen eben nicht auf umwälzende Strukturveränderungen hinaus. Die italienische Frühaufklärung erstreckte sich ungefähr vom Beginn bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie zeigte eine Ver38
trautheit mit dem rationalistischen Denken des 17. Jahrhunderts, vor allem mit Descartes, Bayle sowie mit der englischen Aufklärung (Locke, Newton) und knüpfte zugleich bewußt an die eigene, durch Galilei begründete Tradition an. Ihre bedeutendsten Vertreter waren Giambattista Vico (1668 bis 1744), Pietro Giannone (1676-1748) und Lodovico Antonio Muratori (1672-1750), von denen jeder unverwechselbare Akzente setzte und eine ganz bestimmte Stoßrichtung der italienischen Frühaufklärung verkörperte. Der neapolitanische Denker Vico, der als Universitätslehrer wenig Beachtung fand und dessen Bedeutung erst im 19. Jahrhundert voll erkannt wurde, war insofern für die Frühaufklärung charakteristisch, als er sich, vertraut mit dem Wissen des 17. Jahrhunderts, intensiv mit Descartes auseinandersetzte. Er plädierte zwar auch für die experimentelle Methode in den Naturwissenschaften und lobte deswegen Bacon und Galilei, doch bekämpfte er Descartes' Versuch, ein rationalistisches System zu begründen. Vico hielt Descartes entgegen, daß man nur das erkennen und beweisen könne, was man selbst geschaffen habe. Dies sei aber nicht die Natur, sondern die Geschichte. Seine besondere Aufmerksamkeit galt der menschheitlichen Frühgeschichte. In den Mythen erblickte er die dichterische Gestaltung einer unreflektierten Wirklichkeit. Zugleich entmythologisierte er die Geschichte, indem er historisierte. 34 Vico bezeugte allerdings weder ein reformerisches Wollen, noch nahm er Themen auf, die für die Zeitgenossen von unmittelbar gesellschaftlichem Interesse waren. Ganz anders verhielt es sich damit bei seinem neapolitanischen Mitbürger Pietro Giannone, einem Juristen. Dieser begab sich auf ein Gebiet, das im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer wieder zur Diskussion stand und die italienischen Aufklärer besonders bewegte: das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Macht, die politische Rolle der römischen Kurie. 1723 erschien sein Werk Istoria civile del Regno di Napoli (Geschichte des Königreichs Neapel), in dem er die politischen Ansprüche des Papstes bekämpfte. Es erregte beträchtliches Aufsehen durch seine antiklerikalen Töne und die polemisch-militante Darstellungsweise, mit der die Usurpationen der Kurie und die Mißbräuche der Geistlichkeit angeprangert wurden. Viele Auf39
klärer, weit über Italiens Grenzen hinaus, zollten ihm Beifall, u. a. Montesquieu und Voltaire. Es wurde ins Französische und Deutsche übersetzt. Nach der Veröffentlichung dieses Buches begannen die Jesuiten ein Kesseltreiben gegen Giannone. Schleunigst mußte er seine Heimatstadt verlassen. In Wien fand er Zuflucht, wo er mit kaiserlicher Pension ausgestattet elf Jahre blieb. Als er sich dann wieder in italienische Gebiete begab, mußte er feststellen, daß ihm kein italienischer Staat Asyl zu gewähren wagte. Von Genf aus wurde er nach Piemont in eine Falle gelockt, verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Papst Clemens XII. ließ dem König von SardinienPiemont übermitteln, daß er damit der katholischen Kirche einen großen Dienst erwiesen habe. Vor dem Turiner Inquisitionsgericht schwörte Giannone zwar seine Ideen ab, doch mußte er bis an sein Lebensende im Gefängnis bleiben. In seinem Werk Triregno (Das dreifache Reich), das erst im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde, brachte Giannone noch kühnere Ideen vor. Unter anderem beschuldigte er darin das Papsttum, den Geist des Christentums verraten zu haben. In politischer Hinsicht stand Giannone bedingungslos auf dem Boden des Absolutismus. Ihm ging es noch nicht um eine kritische Prüfung der weltlichen Machtverhältnisse, der Legitimität der bestehenden königlichen Herrschaft. Gewiß gingen Giannones antipäpstliche Argumente auf eine bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition zurück, waren sie mit denen verwandt, die schon Machiavelli, vor allem aber Paolo Sarpi zu Beginn des 17. Jahrhunderts vorgebracht hatten. In einem bedeutsamen Memorandum, das erst 1721 in französischer Übersetzung veröffentlicht wurde 3 5 und mit seinen antipäpstlichen Argumenten der Aufklärung Zündstoff für den Antiklerikalismus lieferte, verteidigte Sarpi die Republik Venedig gegenüber einem päpstlichen Interdikt. Zum anderen war aber bei Giannone auch die Tendenz vorhanden, über fromme Einfalt, Leichtgläubigkeit und Aberglauben zu spotten. In seiner Kritik machte er selbst vor katholischen Dogmen nicht halt. Nicht zuletzt griff er die katholische Kirche deshalb als politische Institution mit Vehemenz an, weil sie als mächtige Feudalmacht für die neuere wirtschaftliche Entwicklung ein gewaltiges Hemmnis bedeutete. 36
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Giannone, der die Schriften von Descartes, Gassendi und Spinoza, wie auch die der englischen Deisten Cudworth, Spencer und Toland und ebenso einige Werke des deutschen Frühaufklärers Thomasius und solche der modernen Bibelkritik (Simon, Leclerc) kannte, war nicht ausschließlich ein Repräsentant des Regalismus, der antikurialen Strömung, wie dies von einigen modernen Forschern immer wieder behauptet wird. 37 Seine Werke bezeugten zugleich auch eindeutig frühaufklärerische Züge. Die Aufklärer in und außerhalb Italiens sahen in ihm einen der ihren, weil er mit seinen Schriften kühn einen wesentlichen Eckpfeiler des Obskurantismus und der feudalen Machtverhältnisse angriff und weil er durch die Repressionen reaktionärer Machthaber zu einem Märtyrer des aufklärerischen Kampfes wurde. Ohne Zweifel half er entscheidend mit, ideologisch den Boden für die um die Mitte des 18. Jahrhunderts breiter einsetzende Aufklärungsbewegung in Neapel vorzubereiten. Wesentlich weniger militant, doch nicht weniger einflußreich war im 18. Jahrhundert das äußerst vielseitige geistigliterarische Schaffen von Lodovico Antonio Muratori, der die meiste Zeit seines Lebens in Modena als Hofbibliothekar und Archivar tätig war und zum Benediktinerorden gehörte. Bei ihm verbanden sich erstaunliche Gelehrsamkeit mit kritischem Sinn und intellektuelle Neugier mit dem Bemühen, praktische Wirksamkeit zu erreichen. Er gab die italienischen Geschichtsquellen des Mittelalters heraus, schrieb Werke über die italienische Geschichte, verteidigte die italienische Literatur gegenüber Angriffen französischer Kritiker, stellte die gesellschaftsdienliche Funktion der Wissenschaften heraus und behandelte kritisch die Mißstände der italienischen Rechtspflege. 38 Auch im kirchlichen Bereich ging es ihm um Reformen. Statt auf Heiligenverehrung, spektakuläre Prozessionen und rein äußerlichen Kult sollte mehr Gewicht auf tätige Nächstenliebe gelegt werden. Vor allem seine 1747 erschienene Schrift Deila regolata Divozione de'Cristiani (Über die geregelte Frömmigkeit der Christen), in der er solche Grundsätze entwickelte, wirbelte ziemlich viel Staub in geistlichen Kreisen auf. Die Jesuiten, seine alten Widersacher, versuchten ihn als 41
Ketzer zu entlarven. Da Muratori jedoch bei Papst Benedikt XIV. in hoher Gunst stand und sich stets der kirchlichen Autorität unterwarf, kamen die Jesuiten nicht zum Zuge. Recht aufschlußreich war auch Muratoris 1749 publizierte Altersschrift Della Felicità pubblica (Über das öffentliche Wohl), die auf ein im Mittelpunkt aufklärerischen Denkens stehendes Thema hinlenkte, es aber noch patronalistisch behandelte. Das Wohl des Volkes stellte er darin als oberste Aufgabe heraus und beleuchtete es von verschiedenen Seiten her. Fragen der Staatsräson, die in den politischen Traktaten des 17. Jahrhunderts vorrangig erörtert worden waren, rückten jetzt völlig in den Hintergrund. Muratori ging davon aus, daß es zwischen Volk und Herrscher einen stillschweigenden Vertrag gebe, nach dem der Herrscher für das Gemeinwohl zu sorgen und aus diesem Grunde unbeschränkte Macht erhalten habe. Zur Herbeiführung des Gemeinwohls entwickelte Muratori Grundsätze für eine Politik, die auf umfassende Förderung von Handel, Gewerbe und Landwirtschaft, von Gesundheitswesen, Wissenschaften und Künsten hinauslief. In diesem Zusammenhang wies er auf verschiedene europäische Länder hin, in denen in dieser Hinsicht bereits beachtliche Fortschritte erzielt worden seien. Ihnen gegenüber zeigten die italienischen Gebiete auf wirtschaftlichem, technischem und wissenschaftlichem Gebiet ziemlichen Rückstand, den es einzuholen gelte. Vor allem beeindruckte ihn die Entwicklung der Naturwissenschaften tief. Er erkannte sofort, welche große Bedeutung die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse für die weitere menschliche Entwicklung besaßen. Im 13. Kapitel folgerte er: „Die Experimentalwissenschaft, auf die man vor allem achten muß, hat seit einundeinhalb Jahrhunderten große Fundgruben sehr nützlicher Wahrheiten entdeckt, und sie entdeckt jeden Tag weitere. Alles, was zum Studium der Natur gehört, selbst wenn es sich um kleine Dinge handelt, verdient Wertschätzung, damit wir die Ursachen, die Wirkungen, die Kraft, die spezifische Eigenheit usw. ausfindig machen. In diesem Bereich hilft eine Wahrheit der anderen, und die Experimente berühmter Wissenschaftler haben uns in jüngster Zeit bedeutende, vorher nicht gekannte Wahrheiten gebracht." 39 Typisch für Muratori war es, daß er sich vorbehaltlos um 42
die Entwicklung der Wissenschaften bemühte, bei theoretischen Schlußfolgerungen jedoch systematisch den Bereich des Glaubens ausgeklammert wissen wollte. E r unterschied streng zwischen Wissen und Glauben und hütete sich, Fragen des Glaubens in wissenschaftlichen Diskussionen zu berühren. Von Lockes sensualistischer Erkenntnistheorie beispielsweise war er zwar tief beeindruckt, doch meinte er, sie letztlich aus religiösen Gründen verwerfen zu müssen.40 Mit Recht ist die Frage aufgeworfen worden, ob Muratori überhaupt zur Frühaufklärung zu rechnen sei. E r gehörte offensichtlich zu den Intellektuellen der katholischen Kirche, welche die gewaltige Entwicklung der Wissenschaften und mit der Herausbildung kapitalistischer Elemente verbundene gesellschaftliche Prozesse mit dem katholischen Glauben zu versöhnen suchten. Ihm war klar, daß dazu Reformen auf verschiedenen Ebenen erforderlich waren. Er engagierte sich dafür, wenn er auch recht vorsichtig alles zu vermeiden suchte, was zu einer offenen Konfrontation mit den bestehenden Mächten geführt hätte. Zwar begrüßte er die moderne Entwicklung, doch wollte er daraus nicht die nötigen Konsequenzen für eine grundlegende Erneuerung des philosophischen Weltbildes ziehen. Sicherlich war es nicht zufällig, daß Muratoris reformerische Ideen um die Mitte des 18. Jahrhunderts gerade in katholischen Ländern wie Österreich und Portugal starke Resonanz fanden. Eduard Winter bezeichnet ihn als hervorragenden Repräsentanten der katholischen Aufklärung. 41 Zweifellos dominierte bei Muratori das Bemühen, eine auf dem Katholizismus und dem Absolutismus basierende gesellschaftliche Welt der modernen wissenschaftlichen und ökonomischen Entwicklung anzupassen. Von Aufklärung kann daher wohl nur bedingt die Rede sein. Zum anderen darf natürlich nicht verkannt werden, daß Muratori gerade in den Staaten, in denen die katholische Kirche als Institution damals noch einen außerordentlich starken Einfluß auf das geistige und gesellschaftliche Leben auszuüben vermochte, mit seinen kompromißlerischen Ideen und Reformvorstellungen wesentlich mit den Weg für die weitere geistige Entwicklung in Richtung Spätaufklärung öffnen helfen konnte. 43
Von einer Aufklärungsbewegung konnte in verschiedenen italienischen Staaten erst nach 1760 die Rede sein. Während in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur hier und da einzelne Persönlichkeiten frühaufklärerische Ideen entwickelt hatten, bildeten sich nunmehr kleinere aufklärerische Gruppen, die Ideen der englischen und französischen Spätaufklärung schöpferisch aufnahmen und sie auf die gesellschaftliche Situation des eigenen Landes anzuwenden suchten. Das herausragendste Beispiel dafür bot die Lombardei. In Mailand gründeten aufklärerisch gesinnte Männer eine geistig-literarische Gesellschaft, die sie bezeichnenderweise „Accademia dei Pugni" (Akademie der Fäuste) nannten. Viele ihrer Ideen veröffentlichten sie in der von 1764 bis 1766 erschienenen Zeitschrift II Caffè (Das Café), die bewußt den englischen Wochenschriften nachstrebte. Der Herausgeber und Begründer dieser Zeitschrift war Pietro Verri (1728-1797), einer der führenden Köpfe der „Akademie der Fäuste". Weiterhin spielten eine maßgebliche Rolle dessen Bruder Alessandro Verri (1741-1816), Cesare Beccaria (1738-1794) und zeitweise der Mathematiker Paolo Frisi (1728-1784). Unabhängig von dieser Gruppe wirkte in Mailand im aufklärerischen Sinne auch der bedeutendste italienische Dichter des 18. Jahrhunderts Giuseppe Parini (1729-1799), der besonders scharf das Parasitentum müßiggängerischen Adels aufs Korn nahm und in seinen Versen u. a. wissenschaftliche Errungenschaften der neuen Zeit besang. Die oberitalienischen Aufklärer kämpften gegen Ignoranz und Aberglauben und bemühten sich selbst, volksbildnerisch zu wirken, wovon viele Artikel in II Caffè Zeugnis ablegten. Besonders auf ökonomischem und juristischem Gebiet setzten sie sich für einschneidende Reformen ein und deckten die Gebrechen überlieferter Formen und Institutionen auf. Ausgerüstet mit Erkenntnissen und Prinzipien der Spätaufklärung, bemühten sie sich, diesen in konkret abgesteckten Bereichen der gesellschaftlichen Praxis Geltung zu verschaffen. Pietro Verri z. B. plädierte für Handels- und Gewerbefreiheit und wandte sich gegen die Anwendung der Folter in der Justiz. Diese oberitalienischen Aufklärer protestierten entschieden gegen jene Kräfte, die starr an veralteten italienischen Tradi-
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tionen festhielten und nicht das zur Kenntnis nehmen wollten, was die wissenschaftliche und geistige Entwicklung inzwischen in anderen europäischen Ländern, vor allem in England und Frankreich hervorgebracht hatte. Auch dem sprachlichen Purismus der Crusca setzten sie konsequenten Widerstand entgegen und traten im Zusammenhang mit den neuen Wissenschaften und Ideen für eine Bereicherung der italienischen Sprache ein. Sie entlehnten zu diesem Zweck zahlreiche Wörter aus dem Französischen. Für die um II Caffè gescharten Aufklärer war eine geistige Erneuerung Italiens ein dringendes Erfordernis und ohne die schöpferische Aneignung der westeuropäischen Aufklärung nicht möglich. Angesichts dieser Situation waren sie zugleich bestrebt, ein neues Verhältnis zur italienischen Vergangenheit herzustellen. Die italienische Renaissance geriet in die Perspektive einer wegbereitenden Etappe. Stolz wurde gegenüber der englischen und französischen Aufklärung darauf hingewiesen, daß nicht nur Bacon, Descartes, sondern auch Galilei als ein maßgeblicher Vorposten der modernen, von der Aufklärungsbewegung getragenen Entwicklung betrachtet werden müsse. Paolo Frisi veröffentlichte 1765 in II Caffè einen hierfür charakteristischen Aufsatz Elogio del Galileo (Lobrede auf Galilei), in dem er Bacon und Galilei als entscheidende Wegbereiter der neuen Zeit herausstellte. Frisi skizzierte in diesem Zusammenhang grundlegende Etappen der Wissenschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts und hob die Aspekte hervor, bei denen Galilei über Bacon hinausging: „Da der englische Philosoph gar kein Geometer war, mußte er sich auf eine allgemeine Ebene begeben. Der Italiener hingegen, der die antiken Geometer gründlich studiert hatte, ist der erste gewesen, der glücklich die Geometrie auf die Physik anwandte." 42 Das sicherlich bedeutendste Werk des aufklärerischen Kreises der „Akademie der Fäuste" verfaßte Cesare Beccaria. Es erschien 1764, wurde in zweiundzwanzig Sprachen übersetzt und erregte in vielen Ländern gewaltiges Aufsehen. Sein Titel lautete: Dei Delitti e delle pene (Von Verbrechen und Strafen). Beccaria gab darin dem Straf recht eine vom humanitären Geist der Aufklärung getragene Grundlegung und kritisierte scharf das feudale Strafrecht. Er orientierte auf die Erneue45
rung der strafrechtlichen Praxis, indem er von gesellschaftspolitischen Prinzipien der französischen Spätaufklärung, vor allem von Rousseau und Helvetius ausging, ohne jedoch näher auf deren generelle Konsequenzen einzugehen. Nicht nur ein menschlicher Strafvollzug sollte erreicht werden. Ein noch wichtigeres Ziel erblickte Beccaria darin, die Gesellschaft und ihre Gesetze, die klar und einfach sein müßten, so einzurichten, daß Verbrechen vorgebeugt werden könnte. Ein weiteres, typisch aufklärerisches Anliegen seiner Bestrebungen war, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz zu sichern. Er formulierte: „Jeglicher Unterschied, er bestehe in der Ehre oder im Reichtume, wenn er rechtmäßig sein soll, setzt eine vorgängige Gleichheit unter den Bürgern voraus und gründet sich auf Gesetze, welche alle Untertanen von sich in gleicher Abhängigkeit betrachten."43 Zugleich war es für Beccarias Vorgehen bezeichnend, daß er sich nicht auf eine grundsätzliche Diskussion über die Unrechtmäßigkeit ständischer Privilegien schlechthin einließ, wie dies in der französischen Spätaufklärung bei diesen Themen üblich war. Ob ein Unterschied zwischen Adel und Bürgerstand nützlich und notwendig sei, wäre nicht Gegenstand seiner Erörterungen, stellte er am Anfang des betreffenden Kapitels fest. Ebenso setzte er im Gegensatz zu vielen französischen Spätaufklärern noch Hoffnungen in einen „aufgeklärten Absolutismus". So schrieb er: „Glücklich wäre das menschliche Geschlecht, wenn es jetzt erst Gesetze bekäme; jetzt, da wohltätige Fürsten Tugend, Wissenschaften und Künste lieben; da Fürsten, welche Väter ihrer Völker und gekrönte Bürger sind, auf den europäischen Thronen glänzen; Fürsten, welche die Vermehrung ihrer Macht in dem Wachstume der Glückseligkeit ihrer Untertanen suchen."44 Die Idee des „aufgeklärten Absolutismus" griff Giuseppe Gorani (1740 bis 1819) in seinem 1770 publizierten Werk 11 vero Dispotismo (Der wahre Despotismus) auf und entwickelte sie im Sinne der Mailänder Aufklärer, die seinen Ausführungen Beifall zollten und darin einen philanthropischen und freiheitlichen Geist zu spüren meinten. Der noch junge Gorani war insbesondere von Beccaria angeregt und unterstützt worden und D'Alembert bezeichnete ihn gar als Beccarias Schüler. Nach Gorani sollte der aufgeklärte Herrscher mit aller Konsequenz 46
die ständische Gesellschaftsstruktur verändern, speziell die feudalen Privilegien und die intermediären staatlichen Gewalten beseitigen und so die Voraussetzungen für die Herbeiführung des öffentlichen Wohls schaffen. Auch die Macht des Klerus sollte weitgehend ausgeschaltet werden. Zu diesem Zwecke wäre die Gewährleistung von Denk- und Pressefreiheit unbedingt erforderlich. 45 Nicht zufällig unterstützten die bedeutendsten lombardischen Aufklärer die von Maria Theresia und Josef II. eingeleiteten Reformen, liefen diese doch auf Verwaltungs-, Justizund Steuerreformen hinaus, die eine Beschneidung patrizischer, feudaler und klerikaler Machtbefugnisse bedeuteten. Viele dieser oberitalienischen Aufklärer entstammten zwar dem Adel, d. h. altem städtischem Patriziertum, doch von den Ideen der Aufklärung erfüllt und in Opposition zu den erstarrten Überlieferungen und Institutionen, die kein Mitgehen mit der sich in anderen Ländern abzeichnenden wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklung gestatteten, engagierten sie sich für einen entsprechenden reformfreudigen Absolutismus und hatten teilweise wichtige Posten in Wirtschaft und Verwaltung inne, so auch Pietro Verri. Unter der Regentschaft Maria Theresias gab es zwischen diesen aufklärerisch gesinnten Lombarden - vielfach waren sie Beamte der Krone - und den absolutistischen Bestrebungen die meisten übereinstimmenden Momente. Nachdem Josef II. alleiniger Herrscher war, änderte sich dies. Franco Valsecchi, ein bekannter bürgerlicher Historiker, schrieb hierzu: „Nicht so Josef II., der wie eine Dampfwalze auftritt, die alles auf ihrem Weg nivelliert und alles Handeln, das nicht von der Zentralgewalt ausgeht, im Keime erstickt. Verri und mit ihm die lombardischen Aufklärer, denen der abstrakte Doktrinarismus des Kaisers fernsteht, fühlen sich in der neuen Atmosphäre nicht wohl. Sie wechseln von der Mitarbeit zur Opposition über. Mit Josef II. beginnt der Gegensatz zwischen der Lombardei und dem österreichischen Beherrscher." 46 Es war aber keineswegs so, wie suggeriert wird, daß die Politik Josefs II. einen radikaleren Zuschnitt hatte als die Erwartungen der Aufklärer. Die beanstandete rationale Konsequenz dieser josefinischen Politik sollte ja zu einer Stärkung der absolutistischen Macht führen, bedeutete 47
also keine Strukturveränderung im Sinne der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung, wie sie viele Aufklärer anvisierten. Wenn daher Verri und andere lombardische Aufklärer kein Vertrauen mehr zur absolutistischen Politik hatten, dann erfolgte dies nicht nur deshalb, weil auf partikulare lombardische Gegebenheiten von der Krone überhaupt keine Rücksicht genommen wurde, sondern weil sich letztlich die Unvereinbarkeit eines Bündnisses von Absolutismus und Aufklärung herausstellte, als beide Seiten mit ihren Prinzipien ernst machen wollten. 47 Auch in der Toskana war der Absolutismus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um weitreichende Reformen bemüht. Er wurde darin von einer aufklärerisch orientierten Intelligenz, die meist in der Verwaltung tätig war, aktiv unterstützt. Eine führende Rolle spielten in dieser Hinsicht vor allem Pompeo Neri (1706-1776) und Francesco Maria Gianni (1728-1821). Die Reformen des Großherzogs Peter Leopold erstreckten sich meistens auf den wirtschaftlichen und administrativen Bereich. „Denn auf der Toskana lastete noch immer das schwere Erbe ihres ursprünglichen Stadtstaatcharakters. Die Oberhoheit der Hauptstadt, der Dualismus Stadt-Land, das exklusive Verhalten des Patriziats und der Zünfte, all dies war sowohl in politischer als auch in sozialer Hinsicht ein nunmehr anachronistischer Zustand." 48 1770 erfolgte die Auflösung der alten Handwerkerzünfte. Damit ging die Toskana allen übrigen italienischen Staaten voran. Ein von Gianni im Auftrage Leopolds ausgearbeiteter Verfassungsentwurf kam durch Widerstände von verschiedenen Seiten nicht zur Anwendung. Diese Verfassung tendierte zur konstitutionellen Monarchie. In Piemont hingegen reagierte der Absolutismus gegenüber aufklärerischen Bestrebungen schon früh sehr allergisch. Giannone wurde in diesem Land das Opfer absolutistisch-klerikaler Unterdrückung. Alberto Radicati (1698-1737), der über seine aufklärerische Gesinnung keinen Zweifel ließ, konnte sich nur durch Flucht seinen Häschern entziehen. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zogen es die aufklärerischen Intellektuellen Piemonts vor, ihre Heimat zu verlassen. Einer der bedeutendsten Aufklärer Piemonts war zweifellos Dalmazzo 48
Francesco Vasco (1732-1794), der mit der „Akademie der Fäuste" in Verbindung stand und Schriften Pietro Verris öffentlich verteidigte. Vasco war ein guter Kenner der französischen Spätaufklärung und verfaßte selbst eine Reihe von gesellschaftspolitischen Traktaten, u. a. schrieb er einige beachtliche Kommentare zu Rousseaus Du Contrat social und zu Montesquieus De l'Esprit des lois (Vom Geist der Gesetze). Er suchte aktiv in das politische Leben einzugreifen und sah sich immer wieder Verfolgungen ausgesetzt. Auf Grund von Denunziation wurde er 1791 in den Kerker geworfen, wo er drei Jahre später an den Folgen inhumaner Haftbedingungen verstarb. 49 Sicherlich war auch nicht zufällig, daß der bekannte Tragödiendichter Vittorio Alfieri (1749-1803) ebenfalls aus Piemont stammte. Früh rebellierte er gegen die herrschende muffige und bornierte Atmosphäre, indem er die Republik pries, die Tyrannei offen bekämpfte und das fürstliche Mäzenatentum in der Literatur verwarf. Bei aller Auflehnung gegen den Absolutismus war indessen bei dem jungen Alfieri eine aristokratische Grundrichtung nicht zu übersehen, die in seiner weiteren Entwicklung, insbesondere nach Ausbruch der Französischen Revolution, deutlich hervortrat. Das nach Mailand bedeutendste Zentrum aufklärerischer Bestrebungen in Italien war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ohne Zweifel Neapel. Nach der 1734 erfolgten Thronbesteigung Karls von Bourbon setzten auf verschiedenen gesellschaftspolitischen Ebenen Bestrebungen ein, die monarchische Autorität gegenüber den Partikulargewalten neu zu festigen, ohne daß dabei schon aufklärerische Momente ins Spiel gebracht wurden. Doch das Reformwerk ging nur sehr schleppend voran, da Adel und Klerus sich mächtig dagegen stemmten und über die größten Reichtümer des Landes verfügten. „Die Bemühungen von seiten der Regierung, dem wirtschaftlichen Leben neuen Auftrieb zu geben, Handel und Gewerbe zu aktivieren, trafen ins Leere, weil alle alten und der wirtschaftlichen Erneuerung hinderlichen Einrichtungen bestehen blieben: so das veraltete Steuersystem, das sich ganz zugunsten des Grundbesitzes auswirkte; oder die alte Zunftordnung, die jeder Initiative hinderlich sein mußte; das alte Zollsystem, das den Warenaustausch hemmte; schließlich die 4
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Mißbräuche und Willkürakte in der Herrschaft des Adels und der Geistlichkeit." 50 Nach 1750 bildete sich in Neapel allmählich eine aufklärerisch gesinnte Intelligenz heraus, die diese absolutistischen Bestrebungen unterstützte und darüber weit hinausreichende gesellschaftspolitische Grundsätze entwickelte. Der führende Kopf dieser Schicht war Antonio Genovesi (1713-1769), der an der Universität von Neapel Vorlesungen über Fragen der Volkswirtschaft hielt und zahlreiche Schüler hatte. Genovesi war mit den Schriften der französischen Aufklärung vertraut, kannte eingehend Montesquieus De l'Esprit des lois, polemisierte gegen Rousseaus ersten Discours sur les sciences et les arts und bezog sich sogar auf Morellys Code de la nature (Gesetzbuch der natürlichen Gesellschaft). Er setzte sich für eine allgemeine Volksbildung ein und wies auf die Notwendigkeit von Agrarreformen hin. Eingehend beschäftigte er sich mit wirtschaftlichen Fragen, wobei er von neomerkantilistischen Vorstellungen, wie sie in Spanien und Frankreich entwickelt worden waren, ausging und nicht zuletzt unter dem Eindruck englischer Schriften und Verhältnisse verschiedentlich frühliberale Schlüsse zog. In Deutschland und Osteuropa fanden Genovesis ökonomische Ansichten bezeichnenderweise nachhaltiges Echo. 1776 erschienen in Leipzig, übersetzt von August Witzmann, seine Grundsätze der bürgerlichen Ökonomie. Genovesi hoffte, mit seinen Darlegungen die Regierung zu überzeugen und bemühte sich, zukünftige Verwaltungskräfte heranzubilden, die allein die notwendigen Schritte einzuleiten vermöchten. 51 Ihm wurde beim Vergleich zu anderen italienischen Gebieten ein Problem erstmals besonders bewußt, 32 das bis heute aktuell geblieben ist: die spezifische sozialökonomische Situation Süditaliens, des „Mezzogiorno", d. h. die besondere soziale Rückständigkeit dieser Gebiete, welche u. a. die frühbürgerlich-kommunale Entwicklung im späten Mittelalter und der Renaissance im Gegensatz zu Mittel- und Norditalien nicht durchgemacht hatten und am wenigsten reale Ansatzpunkte für die moderne Entwicklung zeigten. Auch der reformfreudige Minister Tannuci war nicht in der Lage, diffizile ökonomische Situationen auch nur einigermaßen in den Griff zu bekommen, wie beispielsweise die 1764 ausgebrochene Hungersnot, als Tausende Menschen vom Lande in Neapel Zuflucht 50
suchten und durch Hunger und Krankheit elendiglich umkamen. Die zahlreichen Schüler und Anhänger Genovesis teilten sich infolge ihrer mit der sozialökonomischen Entwicklung Süditaliens gemachten Erfahrungen in einen linken und einen rechten Flügel.53 Zum ersten gehörten vor allem Francescantonio Grimaldi (1741-1784), Gaetano Filangieri (1753-1788) und Francesco Mario Pagano (1748-1799). Sie richteten ihre Angriffe unmittelbar gegen die feudale Struktur des Landes und stützten sich hierbei auf die französische Spätaufklärung. Freiheit und gesellschaftliche Gleichheit bildeten Eckpfeiler ihrer gesellschaftspolitischen Überlegungen. F. Grimaldi veröffentlichte zwischen 1775 und 1780 in drei Bänden seine Riflessiorti sopra l'ineguaglianza tra gli uornini (Überlegungen über die Ungleichheit unter den Menschen), wonach nur eine größere Gerechtigkeit die gegebenen Ungleichheiten zu überwinden vermöge.54 Bei ihren Bemühungen, die Ursprünge der feudalen Tyrannei zu erkunden, Licht auf die Anfänge der Menschheit zu werfen, entdeckten sie auch wieder die Schriften ihres Landsmannes Giambattista Vico und begannen, diese zu würdigen (Pagano). Sie unterhielten enge Beziehungen zur Freimaurerbewegung und traten sogar mit dem Orden der bayrischen Illuminaten in Kontakt (Filangieri, Pagano). Die bedeutendste Abhandlung aus dieser Gruppe stammte von Filangieri: La Scienza della legislazione (Die Wissenschaft von der Gesetzgebung), deren erste zwei Bände 1780 erschienen und von der Geistlichkeit 1783 auf die Liste der verbotenen Bücher gesetzt wurden. Dieses Werk stieß in vielen europäischen Ländern auf eine beträchtliche Resonanz und wurde in mehrere Sprachen, so auch ins Deutsche übersetzt. Zwar lehnt sich Filangieri in der Thematik an Montesquieu an, doch im bewußten Gegensatz zu dem französischen Autor kam es ihm darauf an, nicht das Bestehende zu erklären, sondern durch generelle seinsollende Prinzipien in die Zukunft zu wirken.55 Pagano hingegen war derjenige unter den neapolitanischen Aufklärern, dessen Tätigkeit unmittelbar in den süditalienischen Jakobinismus einmündete. Er sah immer deutlicher, daß der Absolutismus nicht in der Lage war, tiefgehende gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, die so vordringlich geworden 4*
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waren. Ebenso wuchs sein Verständnis für die soziale Not der unteren Volksschichten, wie es u. a. seine Schrift Ragionamento sulla libertà del commercio del pesce in Napoli (Überlegungen über die Handelsfreiheit der Fischerei in Neapel) von 1789 zeigte.56 Als 1794 junge jakobinische Verschwörer in Neapel vor Gericht standen, verteidigte sie Pagano. Er konnte nicht verhindern, daß drei von ihnen zum Tode verurteilt wurden und sah sich durch dieses Auftreten nun selbst verfolgt. 1796 wurde er seiner Posten enthoben und in den Kerker geworfen, aus dem er erst 1798 wieder befreit werden konnte. Als am 23. Januar 1799 die französische Revolutionsarmee einrückte und die Republik ausgerufen wurde, berief man Pagano in das republikanische Führungsgremium. Pagano gehörte zu den führenden Kräften dieser drei Monate währenden neapolitanischen Republik. Als sich die süditalienische Konterrevolution Neapels bemächtigte, geriet er in ihre Fänge und wurde als Revolutionär am 29. Oktober 1799 öffentlich hingerichtet. 1783 formulierte Pagano in seinen Saggi politici (Politische Essays) unmißverständlich, daß im Königreich Neapel Adel und Klerus die Reichtümer des Landes an sich gerafft hatten, das Bürgertum wenig Entfaltungsmöglichkeiten besaß und diese drei Stände auf dem Rücken der unteren Volksschichten wie ein Koloß lasteten.57 Er hatte allerdings noch die Hoffnung, daß der Absolutismus durch die eingeleiteten Reformen eine Veränderung dieser Lage herbeiführen könnte, daß der Aufklärung (lumi della sapienza), die durch aufklärerisch gesinnte Minister (filosofi ministri) bis zum Thron vorgedrungen sei, in aller Breite zum Erfolg verholfen würde. In der zweiten Auflage seiner Saggi politici, zwischen 1791 und 1792, ließ er diesen Abschnitt weg. Seine Illusionen über den Absolutismus waren verflogen. Es war deutlich sichtbar geworden, daß der Absolutismus keine einschneidenden Reformen durchzuführen vermochte. Die feudale Struktur des Landes war intakt geblieben. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es keinen italienischen Staat, in dem nicht aufklärerisch gesinnte Männer auftraten. Die jeweiligen gesellschaftspolitischen Verhältnisse allerdings entschieden darüber, in welchem Maße diese in der Öffentlichkeit wirksam werden konnten. In der oligarchischen 52
Republik Venedig beispielsweise, in der bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Frühaufklärer wie Maffei oder Algarotti zu finden waren und in der um die Mitte ein so berühmter Komödiendichter wie Goldoni das Theater auf die im 18. Jahrhundert sich abzeichnende bürgerliche Emanzipationsbewegung mit auszurichten bemüht war, kam die Aufklärungsbewegung in der zweiten Hälfte nicht zu größerer Entfaltung. Einem gewandten Journalisten wie Francesco Griselini (1717-1787) gelang es nicht, um die von ihm herausgegebene Zeitschrift Giornale d'ltalia ein aufklärerisches Zentrum zu schaffen. Der wohl bedeutendste venezianische Aufklärer Alberto Fortis (1741-1803) nahm zwar Verbindung zu den neapolitanischen Aufklärern auf, doch eine aufklärerische Gruppe vermochte er in Venedig nicht zu formieren. 58 Insgesamt gesehen weist die Aufklärung in Italien folgende spezifische Züge gegenüber anderen romanischen Ländern auf: 1. Die Aufklärung diente infolge der Kleinstaaterei nicht nationaler politischer Bewußtseinsbildung. Es gab noch keine nationale Bourgeoisie, die die Basis dafür hätte bilden können. Die politische und ökonomische Macht der Bourgeoisie war außerdem in den einzelnen Staaten recht unterschiedlich. 2. Bei fast allen italienischen Aufklärern herrschte ein praktisches Wollen vor. Sie waren bestrebt, ganz bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu reformieren, entwickelten insbesondere neue, auf der Aufklärung basierende Grundsätze für die verschiedenen Gebiete des Rechts, der Wirtschaft und der Verwaltung und unterbreiteten hierbei konkrete Vorschläge. Dieses praktisch-utilitaristische Moment allerdings, wie dies vielfach geschah, aus dem italienischen Volkscharakter herzuleiten, ist abwegig. Diese Tendenz war vielmehr die Frucht der politischen Zerrissenheit des Landes und hing zugleich mit dem zeitweiligen Einvernehmen zwischen Aufklärung und Absolutismus zusammen, das sich in einzelnen Ländern abzuzeichnen schien. Ein nicht zu übersehender Umstand war schließlich auch die Macht der Geistlichkeit im öffentlichen Leben, die keine prinzipiellen philosophischen Auseinandersetzungen gestattete und scharf auf deistische und atheistische Implikationen reagierte. 3. Für die italienische Aufklärung war typisch, daß sid sich 53
einerseits nicht direkt gegen die offiziöse kirchliche Lehre zu wenden wagte, zum anderen aber im Anschluß an antipäpstliche italienische Traditionen die weltlichen Machtgelüste der katholischen Kirche und die Habsucht des Klerus an den Pranger stellte, manchmal durch den Absolutismus ermuntert oder gestützt. Die unglückselige Rolle des Papsttums gerade in der italienischen Geschichte rückte ebenfalls wieder in den Blickpunkt der Diskussion. Außer Pietro Verri, der in Decadenza del papato (Niedergang des Papsttums) gegen die Privilegien der Geistlichkeit und das Klosterwesen polemisierte, erregte in dieser Hinsicht besondere Aufmerksamkeit Carlo Antonio Pilati (1739-1802) mit seinen 1767 und 1768 anonym erschienenen Schriften Di una Riforma d'Italia ossia dei mezzi di riformare i più cattivi costumi e le più perniciose leggi d'Italia (Von einer Reform in Italien oder über die Mittel, die schlechtesten Sitten und schädlichsten Gesetze Italiens zu reformieren) und Riflessioni di un Italiano sopra la Chiesa in generale, sopra il Clero si regolare che secolare, sopra i Vescovi ed i Pontefici romani e sopra i diritti ecclesiastici de'Principi (Betrachtungen eines Italieners über die Kirche, den Klerus und die kirchlichen Rechte der weltlichen Herrscher). Voltaire war begeistert von der erstgenannten Schrift und bezeichnete sie als kühn. Ein aggressiver antiklerikaler Ton war in Pilatis Pamphlet deutlich spürbar. Das Mönchswesen mit seinen Folgen wurde sehr kritisch beleuchtet. Die Verdorbenheit der Geistlichkeit war für .ihn neben dem Aberglauben des Volkes, der verlotterten Verwaltung der Justiz sowie der Vernachlässigung von Landwirtschaft, Handel und Gewerbe eine wesentliche Ursache für den Niedergang und Rückstand Italiens. 59 4. Die führenden italienischen Aufklärer waren ausgezeichnet vertraut mit allen Schriften und Diskussionen der französischen und - meist durch französische Vermittlung - englischen Aufklärungsbewegung und nahmen darauf in ihren recht eigenständigen aufklärerischen Beiträgen Bezug. Kein anderes romanisches Land hatte so enge Bindungen und Kontakte zur französischen Spätaufklärung wie Italien, wenn dies auch in den einzelnen italienischen Staaten unterschiedlich war. Außer Montesquieu, Rousseau, Voltaire, Boulanger, Diderot, D'Alembert und der Französischen Enzyklopädie, die in zwei italieni54
sehen Ausgaben (Lucca; Livorno) in entschärfter Form erschien60, fand besonderes Helvetius mit seinem 1758 erschienenen Werk De l'Esprit (Vom Geist) große Aufmerksamkeit. Rumänien6i Die rumänische Aufklärungsbewegung setzte um 1780 in Siebenbürgen und bald danach auch im Banat ein. Diese Gebiete gehörten damals zur Habsburger Monarchie, in der sich die Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts recht deutlich und vielfältig artikulierte. In den beiden unter osmanischer Oberhoheit stehenden Donaufürstentümern Moldau und Walachei hingegen begann sich eine Aufklärungsbewegung erst nach dem 1821 erfolgten Aufstand Vladimirescus markant abzuzeichnen, der wohl scheiterte, aber wesentlich zur Beendigung der Phanariotenherrschaft beitrug. Aufklärerische Töne erklangen zwar ab und zu in der Moldau und der Walachei seit ungefähr 1770, und manches Werk der französischen Aufklärung, meistens über griechische Vermittlung, fand einige Leser und Übersetzer, doch die sozialökonomischen Grundlagen für eine aufklärerische Bewegung, für den Kampf gegen ständische Strukturen, Verhältnisse und Institutionen sowie zur Durchsetzung eines auf Förderung und Verbesserung der Lebensbedingungen gerichteten diesseitsbetonten Weltbildes fehlten zunächst noch. Die Aufklärung als markanter Abschnitt im geistigen Werdeprozeß der bürgerlichen Nation gegen Ende der Übergangsepoche vom Feudalismus zum Kapitalismus konturierte sich so im rumänischen Raum infolge spezifischer historisch-gesellschaftlicher Gegebenheiten zuerst in Siebenbürgen. Diese aufklärerischen Bestrebungen standen in unmittelbarem Zusammenhang mit den Anstrengungen, welche die Rumänen in der Habsburger Monarchie im Sinne politischer und kultureller Selbstbehauptung unternahmen. Obgleich sie Ende des 18. Jahrhunderts mehr als sechzig Prozent der Gesamtbevölkerung Siebenbürgens ausmachten, galten sie im Gegensatz zu den Ungarn, Sachsen und Szeklern nur als geduldete Nationalität, nicht als „konstitutionelle Nation" der ständischfeudalen siebenbürgischen Verfassung. Sie forderten die recht55
liehe Gleichstellung mit den genannten Nationalitäten und legten ein entsprechendes Programm in dem 1791 abgefaßten Supplex Libellus Valacborutn Transsilvaniae (Petition der Rumänen Siebenbürgens) nieder, dessen Realisierung die ungarischen Magnaten verhinderten. Die Anfänge dieser politischen Emanzipationsbestrebungen reichten in die Jahre zwischen 1730 und 1750 zurück, als Inochentie Micu, der Bischof der Unierten, die politische Gleichstellung seiner rumänischen Landsleute in Siebenbürgen mit den anderen Nationalitäten verlangte. Er wurde nicht müde, zur Verstärkung dieses Anspruchs rechtliche, historische, ethnische, bevölkerungs- und kirchenpolitische Gesichtspunkte vorzubringen. Besonderes Gewicht maß er der Kontinuität der Rumänen als römische Nachkommen in Siebenbürgen bei, denn diese Kontinuität schloß zugleich die historische Priorität vor den Ungarn und Sachsen ein. Micus Bemühungen jedoch scheiterten. Der Hof in Wien und die ungarischen Magnaten in Siebenbürgen hatten für die Forderungen des rumänischen Bischofs entweder taube Ohren oder wiesen sie als Anmaßung zurück. Das Vorgehen von Inochentie Micu wurde nur dann von der Krone geduldet, ja sogar angeregt, wenn dies der kaiserlichen Politik bei dem Bemühen zugute kommen konnte, ständisch-adlige Interessen der bevorrechteten Nationalitäten zurückzudrängen. Sobald aber Interessen der Monarchie, vor allem die Katholisierungsbestrebungen in Frage gestellt wurden, reagierte der Hof in Wien äußerst abweisend.62 Inochentie Micu wurde gezwungen, auf sein geistliches Amt zu verzichten. Weitab von seiner Heimat mußte er in Rom seine letzten Lebensjahre verbringen. Noch zu seinen Lebzeiten fanden sich zwar Männer in Siebenbürgen, die seine Forderungen übernahmen und den offiziellen Stellen unterbreiteten, doch auch sie hatten nicht den geringsten Erfolg. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren günstigere Voraussetzungen und eine breitere Basis hierfür gegeben. Die umfassende ideologische Instrumentierung dieser Aspirationen erfolgte nun in den historischen und philologischen Abhandlungen der rumänischen Aufklärer S. Micu, $incai, Maior, Budai-Deleanu und anderer. In der Forschung bezeichnet man diese Richtung als Siebenbürgische Schule. 56
Die Latinitätsidee war in der rumänischen Literatur bereits von moldauischen und muntenischen Chronisten vorgebracht worden, ohne daß sie jedoch wie in der Siebenbürgischen Schule zu einem entscheidenden Angelpunkt der theoretischen. Beschäftigung mit der rumänischen Sprache und Kultur gemacht wurde. Maßgebliche Vorarbeit in dieser Hinsicht hatte der moldauische Fürst und Gelehrte Dimitrie Cantemir (1673 bis 1723) geleistet, dessen diesbezügliche Ideen den Vertretern der Siebenbürgischen Schule bekannt waren. Gewisse Impulse zur Erneuerung der Latinitätsidee in Siebenbürgen brachte auch der Umstand, daß sich um 1700 durch die Politik der Krone Teile der Siebenbürger Rumänen griechisch-orthodoxen Bekenntnisses der katholischen Kirche unter Beibehaltung althergebrachter liturgischer Formen als „Unierte" angeschlossen hatten. Viele unierte Priester erhielten fortan ihre Ausbildung und Erziehung in Wien und Rom. Die katholische Kirche ließ es dabei nicht an Versuchen fehlen, mit historischen und sprachlichen Argumenten das Band zwischen Rom und dem Rumänentum neu zu knüpfen. Bei allen Ansätzen und Anregungen dieser Art war es indessen bezeichnend, daß erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Latinitätsidee von den Rumänen zu einem umfassenden nationalen Geschichtsbild entwickelt und mit aufklärerischvolksbildnerischen Bestrebungen eng verwoben wurde. Konfessionelle Schranken traten hierbei kaum zutage. Zwar waren viele der geistigen Repräsentanten der Siebenbürgischen Schule Unierte, doch fehlte es in Siebenbürgen und im Banat keineswegs an Männern griechisch-orthodoxer Konfession, die gleiche Ideen vertraten und gleiche Intentionen damit verfolgten. Eine gemeinsame aufklärerisch-nationale Sicht bildete hierfür die Basis. Die historisch-gesellschaftliche Lage der Habsburger Monarchie und damit auch Siebenbürgens gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeitigte durch das Aufkommen kapitalistischer Elemente einen Zerfall der feudalen Verhältnisse. In dieser Situation wollte die Krone die einzelnen Länder des Reiches, die in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, ethnischer und kultureller Beziehung recht verschieden waren, zu einer zentralisierten Monarchie verschmelzen. Es sollte mit der modernen ökonomischen und geistigen Entwicklung Schritt gehalten 57
•werden, ohne die bestehende ständische Gesellschaftsstruktur zu beseitigen. Bei allem reformerischen Bemühen jedoch bewies der aufgeklärte Absolutismus Josephs II. in der Endkonsequenz: „Die Reformen des Absolutismus, die Modernisierung des Staatsorganismus, die Ausweitung seines Machtbereichs dienten dazu, das Wesen des Alten hinüberzuretten." 63 Bei alledem war nicht zu übersehen, daß die josefinische Politik bessere Möglichkeiten brachte für die Durchsetzung bestimmter bürgerlicher Interessen, für den gesellschaftlichen Aufstieg der Mittelschichten. Der wachsende Staatsapparat brauchte Fachleute, die meistens aus dem Bürgertum kamen. Handel, Gewerbe, Manufakturen wurden gefördert, insbesondere einige Hindernisse für die wirtschaftliche Entwicklung (Binnenzölle; Verkehrswesen) beseitigt. Da innerhalb der habsburgischen Monarchie viele Nationalitäten existierten, vermehrten sich durch die josefinische Politik vielfach die bereits bestehenden Widersprüche. Einerseits wurden Maßnahmen eingeleitet, die eine generelle Aufwärtsentwicklung auf verschiedenen Gebieten verhießen und den einzelnen Nationalitäten, besonders auf kulturellem Gebiet, ein größeres Betätigungsfeld gestatteten. Zum anderen machte sich ein bürgerliches Nationwerden in Österreich 64 bemerkbar, das teilweise mit der heranreifenden Emanzipation der anderen Nationalitäten, vornehmlich auf wirtschaftlichem Gebiet zusammenstoßen mußte. 65 Joseph II. erklärte, daß Nationalität und Religion bei der Einstellung und Einschätzung eines Beamten keine Rolle spielen dürften. Die Hauptsache war, dieser Beamte erwies sich als nützliches Glied im feudalabsolutistischen Staatsapparat. Zugleich war dieser Herrscher bestrebt, überall in der Monarchie Deutsch als Amtssprache durchzusetzen. Durch die schon von Maria Theresia 1777 erlassene Ratio educationis kam es zwar bei den einzelnen Nationalitäten zu wichtigen Volksbildungsreformen, und in den Landschulen erfolgte der Unterricht in der jeweiligen Muttersprache, doch in den höheren Schulen wurde ausschließlich Deutsch gelehrt. 66 Auch unter den Rumänen Siebenbürgens war auf dem Gebiet der Volksbildung ein mächtiger Aufschwung zu verzeichnen. Von den geistigen Repräsentanten der Siebenbürgischen Schule wurden allgemein58
volksbildende aufklärerische Traktate und praktische Lehrbücher für verschiedene Erwerbszweige verfaßt, sollten doch „aufgeklärte" Untertanen und tüchtige Nachwuchskräfte für die gewerblichen Berufe herangebildet werden. Neben Einführungen in die Logik, Ethik und Naturlehre gab es Anleitungen zur Bodenbestellung, zur Obstbaumzucht, zum Hanfanbau, zur Kartoffel- und Baumkultur usw.67 Alle führenden Vertreter der Siebenbürgischen Schule waren mit der durch den Josephinismus geprägten Aufklärungsbewegung unmittelbar verbunden. Durch ihre Werke trugen sie zur Volksbildung unter den Rumänen bei, oder sie engagierten sich für den Josephinismus, der bei aller Beschränktheit zumindest formal die Gleichberechtigung der Rumänen mit den Ungarn, den Szeklern und den Sachsen in Siebenbürgen versprach. So wirkte Samuil Micu für die Verbreitung der Wölfischen Philosophie,68 der nahezu offiziellen Philosophie des aufgeklärten Absolutismus in der Donaumonarchie. Gheorghe Sincai schrieb eine Abhandlung gegen den Aberglauben hinsichtlich der Naturereignisse.69 Im Jahre 1783 verfaßte Petru Maior die Abhandlung Procanon, die in ihrer Argumentation auf das erstmals 1763 in Frankfurt a. M. erschienene Werk De statu ecclesiae et legitima potestate Pontificis (Über den Zustand der Kirche und die legitime Macht des Papstes) von Justinus Febronius zurückging. Unter diesem Namen verbarg sich als Verfasser der Weihbischof Johann Nikolaus von Hontheim. Die hierin dargelegten Ideen entsprachen der von Joseph II. als Ziel gesetzten Aufgabe, eine im Geiste der christlichen, jansenistisch beeinflußten Aufklärung reformierte katholische Kirche zu schaffen, „die in weitgehender Unabhängigkeit von der Kurie ein geeignetes Instrument des Staatskirchenregiments sein sollte, ein Instrument, das dem zeitlichen und ewigen Wohl der Untertanen des Habsburgerstaates zu dienen vorgab, um einer revolutionären Entwicklung vorzubeugen"70. Maior, der in seinem an Febronius orientierten Procanon die Unfehlbarkeit des Papstes angriff und aus seinem Mönchsorden austrat, setzte großes Vertrauen in die Politik Josephs II., da er von ihr eine Förderung der nationalen Emanzipation seiner siebenbürgischen Landsleute erwartete. 71 Von den Vertretern der Siebenbürgischen Schule war es zu59
nächst Samuil Micu, der sich der als dringlich und notwendig erachteten Aufgabe unterzog, seinen rumänischen Landsleuten in der Muttersprache einen Überblick über die Geschichte des eigenen Volkes zu bieten. Zutiefst war er davon überzeugt, daß der Geschichtsschreibung eine große nationalerzieherische Bedeutung zukomme. Kenntnisse über Herkunft und Entwicklung des eigenen Volkes dienten dazu, das Nationalbewußtsein zu wecken und zu festigen. Und gerade die Rumänen bedurften in ihrer bedrückten Lage eines nationalen Geschichtsbewußtsein, galt es doch, sich zum gemeinsamen entschlossenen Handeln durchzuringen. Im Vorwort zu seiner Scurtä cuno$tinfä a istorii rommilor (Kurzer Überblick über die Geschichte der Rumänen), in dem sich Micu an die Rumänen schlechthin wandte, manifestiert sich deutlich der Wille, hier einen Rückstand aufzuholen: „Für den Rumänen ist es sehr mißlich, daß er die Geschichte seines Volkes nicht kennt, denn wie wir sehen, haben alle Völker über die Begebenheiten ihrer Vorfahren geschrieben." 72 Seines Erachtens vermag die Geschichte durch reale Beispiele zu belehren und zum Selbstverständnis des eigenen Volkes beizutragen. In seinen geschichtlichen Darlegungen war es Micu hauptsächlich darum zu tun, im Anschluß an Cantemir und die rumänische siebenbürgische Tradition des 18. Jahrhunderts die beiden folgenden Momente gebührend herauszuarbeiten: Erstens würden die Rumänen in direkter Linie von den römischen Siedlern und Soldaten abstammen, die Kaiser Trajan nach Dazien gesandt hatte. Zweitens käme den Rumänen in Siebenbürgen die Priorität zu, da alle übrigen Nationalitäten später zugewandert seien. Micus Geschichtswerke zeigten in der Grundkonzeption gegenüber den Chronisten der Moldau und Walachei und gegenüber Cantemir eine neue Betrachtungsweise. Gemäß seinem aufklärerisch-josefinischen Weltbild spielte in seinen' Darlegungen die göttliche Providenz keine Rolle mehr. Er war bemüht, die historischen Zusammenhänge mit Vernunftsgründen zu erklären und räumte hierbei herausragenden Persönlichkeiten eine maßgebliche Rolle ein. 73 Den von der Kaiserin Maria Theresia und Joseph II. eingeleiteten Reformen zollte Micu Beifall. Beiden Herrschern rühmte er nach, ein Herz für
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die unterdrückten Rumänen gehabt und ihnen geholfen zu haben. 74 Micus weltanschaulich und sozial bedingte Grenzen wurden jedoch sichtbar bei der Beurteilung der im Jahre 1784 erfolgten mächtigen Erhebung rumänischer Bauern unter Horia, Clo$ca und Cri?an in Siebenbürgen. Als Anhänger eines gemäßigten Reformismus lehnte er den revolutionären Aufstand der unterdrückten rumänischen Bauernschaft ab und verfluchte deren Anführer. Micu hoffte durch die Entwicklung eines breiten nationalen Bewußtseins die Lage seiner rumänischen Landsleute in Siebenbürgen zu verbessern. Dabei trat er durchaus militant gegen jene Umstände und Kreise- innerhalb und außerhalb des Rumänentums auf, die der nationalen Wiedergeburt entgegenstanden. Seine Reformen waren vorwiegend darauf ausgerichtet, den Rumänen zum Bewußtsein ihrer nationalen Würde zu verhelfen und sie auf einen modernen Bildungsstand zu heben. Durch den Hinweis auf den Glanz und die Macht Roms versuchte er, den Ehrgeiz seiner Landsleute zu wecken. Obgleich die Rumänen sich mit Recht auf das römische Erbe berufen können, scheuten sich viele, sich als Rumänen zu bekennen. Einige schämten sich sogar, sagt Micu, „rumänisch zu sprechen, und unterhalten sich untereinander lieber griechisch oder ungarisch oder in einer anderen Sprache statt in ihrer eigenen. Sie sind zu träge, ihre Sprache zu bearbeiten und zu pflegen, in ihr zu schreiben und zu lehren." 75 In diesen Unterlassungen erblickte Micu wesentliche Gründe für die bestehende untragbare Situation. Vor allem den rumänischen Klerus und die Bojaren machte er dafür mitverantwortlich. Er mahnte, sie sollten endlich ihren Beitrag leisten zur Vermittlung von Wissen und Bildung in der Muttersprache an alle Schichten des Volkes. Die Besinnung auf das römische Erbe müßte als Ansporn dienen, um durch Wissen und Bildung wieder zu altem Ansehen zu gelangen. Nach den Grundsätzen eines gemäßigten Josephinismus erhoffte sich Micu in dieser Hinsicht durch Reformen von oben, bei denen vornehmlich aufgeklärte, kluge und für das Allgemeinwohl sich aufopfernde Männer eine zentrale Position einnehmen sollten, einen entscheidenden Wandel. Adel und Klerus sollten sich mit großer Energie um eine allgemeine Volksbildung kümmern und dabei selbst nachahmenswerte Beispiele schaffen. 76 So sei er verfehlt, wenn die 61
Angehörigen des Klerus ihre Aufgaben darauf beschränkten, den Gottesdienst zu verrichten und gut zu singen. Micu meinte, in den Klöstern müßten Bücher für die Volksbildung verfaßt werden. Ähnliche Ideen wie Micu in bezug auf die Herkunft und Geschichte des rumänischen Volkes vertrat auch Gheorghe §incai (1754-1816).77 Beide waren miteinander befreundet und wußten sich in ihren nationalen Bestrebungen einig. Petru Maior (1760-1821), dessen Hauptwerke zu Lebzeiten des Autors publiziert wurden und ziemlich große Verbreitung in den rumänischen Gebieten fanden, war der Hauptvertreter der Siebenbürgischen Schule. Temperamentvoll, polemisch und mit großem patriotischem Eifer legte Maior die seines Erachtens bedeutungsvollsten Abschnitte der rumänischen Frühgeschichte in lstoria pentru inceputul Tomänilor in Uacia (Geschichte von den Anfängen der Rumänen in Dacien. Buda 1812) dar: die Eroberung Daziens durch die Römer, die römische Herkunft der Rumänen und ihre Kontinuität in den Gebieten nördlich der Donau, speziell in Siebenbürgen. Im Gegensatz zu Micu leitete er das Rumänische nicht mehr vom klassischen Latein, sondern vom Volkslatein, der römischen Volkssprache, ab. Für die Aufklärungsbewegung in der Habsburgischen Monarchie unter Maria Theresia, besonders aber unter Joseph II. war es charakteristisch, daß sich mit den gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums die Ansprüche der einzelnen Nationalitäten auf geistig-kulturellem Gebiet deutlich kundtaten. Insbesondere Probleme der eigenen Volkssprache und ihrer Literatur erlangten vorrangige Bedeutung. Die aufklärerisch gesinnten Intellektuellen der einzelnen Nationalitäten waren sich bewußt, daß Sprachpflege und öffentliches Wirken sich gegenseitig bedingten. Da es mit den neuen Ideen breite Kreise zu erreichen galt, tat es not, nicht nur in verständlicher Weise zu schreiben, sondern auch in der eigenen Sprache. Die Volkssprache mußte für alle Lebensbereiche ausdrucksfähig gestaltet werden, um voll als Bildungsfaktor wirken zu können. Das nationale Schrifttum im weitesten Sinne des Wortes war für die Aufklärer zugleich Mittel und Zweck der Bildung, betrachteten es doch die Aufklärer in Ostmittel62
und Südosteuropa als eine ihrer wesentlichen Aufgaben, das. eigene Volk durch die Förderung des nationalen Schrifttums geistig zu wecken und es so in den Kreis der gebildeten Nationen einzuführen.78 Der Unterricht in der betreffenden Volkssprache, die Errichtung entsprechender Bildungsstätten von der Elementar- bis zur Hochschule wiederum ergab sich als Forderung aus dieser Zielsetzung und wurde zum politischen Programm. Auch die Repräsentanten der Siebenbürgischen Schule waren sich bewußt, daß die Volksbildung zu den brennendsten Problemen ihrer Zeit gehörte. Der Erfolg der aufklärerischen Bestrebungen war in hohem Grade mit davon abhängig, inwieweit es gelang, die eigene Volkssprache ausdrucksfähig genug zu gestalten. Außerdem verknüpfte sich damit die Frage des internationalen Prestiges. Die siebenbürgischen Gelehrten waren davon überzeugt, daß die Rumänen von anderen Völkern danach eingeschätzt würden, ob sie über eine normierte, gepflegte und ausdrucksreiche Literatursprache verfügten. Die Formung einer modernen rumänischen Literatursprache warf insbesondere das Problem der Neologismen auf. Die Lehnübersetzung, wie sie Christian Wolff für die deutsche Sprache auf philosophischem Gebiet praktiziert hatte und wie sie bei den Ungarn beliebt war, bot sich an. Auch die direkte Entlehnung aus dem Lateinischen und den romanischen Schwestersprachen hatte vieles für sich. Die Ansichten hierüber wie auch über eine erforderliche Sprachreinigung, die Eliminierung nichtromanischer Elemente, waren bei den einzelnen Vertretern der Siebenbürgischen Schule geteilt. Eine typisch aufklärerische Konzeption entwickelte zu diesem Problemkomplex der im Banat wirkende Paul Iorgovici in seinem 1799 in Buda erschienenen Traktat Observafii de limba rumäneascä (Bemerkungen zur rumänischen Sprache). Iorgovicis sprachreformerisches Wollen basierte auf der Einsicht, daß Sprache und Nation unmittelbar zusammengehören und daß die Entfaltung der Wissenschaften bei einer Nation auch dem Entwicklungsstand einer Sprache entspräche. Mit dem Niedergang der Wissenschaften und der Kultur bei der romanischen Bevölkerung sei notwendigerweise der sprachliche Verfall verbunden gewesen. Beredten Ausdruck finde dies in der Tat63
sache, daß neuauftauchende, zum wissenschaftlichen Bereich gehörende Wörter lateinischer Herkunft dem Rumänen heute fremd vorkommen. Er schlug deshalb vor, für die notwendig gewordenen Neologismen, den Ableitungsformen des Rumänischen gemäß, überlieferte lateinische Wortstämme zugrunde zu legen. Sie sollten das Gerüst für die erforderlich gewordene Bereicherung des wissenschaftlichen, geistig-abstrakten rumänischen Wortschatzes abgeben. Iorgovici ging hierbei von folgen-den Überlegungen aus: Wenn die einfachen Menschen aus •dem Volk bei diesen Neologismen schon bekanntes Sprachgut vorfinden, werde auch die Aufnahme und allgemeine Verbreitung dieser gelehrten Wörter auf günstigere Bedingungen stoßen als bei Entlehnungen aus fremden Sprachen. Einen ahistorischen Purismus hingegen lehnte er ab, da er •die sprachliche Entwicklung grundsätzlich mit den wachsenden menschlichen Erfahrungen und Erkenntnissen verband. So spielte es für ihn keine Rolle, ob eine Sprache auf Grund der geschichtlichen Entwicklung eine starke Vermischung mit anderen Sprachen erfuhr oder nicht. Entscheidend war für ihn, daß diese Sprache für alle Lebensgebiete ausdrucksfähig war. Doch hierfür war seines Erachtens eine breite Kultur- und Wissenschaftsentwicklung bei dem Volk, das diese Sprache spricht, erforderlich. Am Beispiel der englischen Sprache erläuterte es Iorgovici näher. Nachdem er hervorgehoben hatte, daß die Engländer im Gegensatz zu den Rumänen ein politisch selbständiges, kein unterjochtes Volk seien, kam er zu dem Schluß: „Da bei ihnen die Wissenschaften in Blüte stehen, befindet sich auch ihre Sprache auf einer hohen Stufe. Sie haben gelehrte Männer in den höchsten Wissenschaften, und durch diese Wissenschaften haben sie ihre Sprache von ihrer Wurzel her bereichert." 79 Iorgovicis Versuch, die rumänische Sprache -angesichts der wachsenden Bedürfnisse durch eigene, in der Sprache selbst aufzuspürende Bildungsmittel zu bereichern, dürfte außerdem mit der Condillacschen Konzeption von der Rolle der Analogie in Verbindung zu bringen sein. Der auf dichterischem wie politischem Gebiet bedeutendste Repräsentant der Siebenbürgischen Schule war zweifelsohne Ion Budai-Deleanu (1760-1820), der auch in sprachformerischer Hinsicht bemerkenswerte Ideen entwickelte. 80 In seinem
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1812 abgeschlossenen heroisch-komischen Epos "Tiganiadasi (Ziganiade) stieß er im Anschluß an Prinzipien der französischen Aufklärung zu naturrechtlich fundierten politischen Auffassungen vor. Im 10. und 11. Gesang dieses Werkes erörterte er die verschiedenen Regierungsformen, wobei auf die Vertragstheorie Bezug genommen und die Notwendigkeit betont wurde, die jeweiligen natürlichen und psychischen Eigenheiten zu berücksichtigen. Besonders auffällig war ferner eine antiklerikale Note, wie sie bei Vertretern der Siebenbürgischen Schule sonst nicht vorkam. Er richtete seine Angriffe vor allem gegen die Intoleranz der herrschenden Geistlichkeit und gegen Dogmen, die den Lebenserfahrungen gegenüber absurd erscheinen mußten. In soziologischer Hinsicht war es bezeichnend, daß die rumänischen Aufklärer Siebenbürgens fast ohne Ausnahme eine theologische Ausbildung genossen hatten. Weitaus die meisten waren Söhne rumänischer Popen. Zugleich war es aber charakteristisch, daß viele von ihnen aus dem geistlichen Dienst ausschieden oder nach ihrem Theologiestudium in der kaiserlichen Verwaltung und Justiz tätig waren. In den beiden Donaufürstentümern hingegen stammten die Aufklärer aus reformwilligen Bojarenkreisen und bürgerlichen Schichten. In der Walachei und in der Moldau waren zwar die Türken mit dem Frieden von Kücük-Kainardzi (1774) durch das russische Zarenreich zu einigen Zugeständnissen gezwungen worden, doch beherrschten sie durch die von ihnen eingesetzten phanariotischen Fürsten weiterhin eindeutig diese beiden Donaufürstentümer. Griechische Bildung und Kultur erlangten hier wachsende Bedeutung, insbesondere bei der Ausbildung junger Bojarensöhne. Werke und Ideen der griechischen Aufklärung, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf bürgerlicher Basis in direktem Kontakt mit der französischen Aufklärung herausbildete, wurden in diesem Rahmen rezipiert, und man begann auch, Schriften französischer Aufklärer zu übersetzen. Der Bischof Chesarie Rimnic beispielsweise übersetzte Texte über Fragen der Chronologie und römischen Geschichte aus der französischen Enzyklopädie, die er sich aus Sibiu verschaffen ließ, und fügte sie in Vorreden zu Kultbüchern der griechisch-orthodoxen Religion ein. 82 Zum 5
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anderen wuchs die Opposition der einheimischen Bojaren gegen die eingesetzten griechischen Fürsten und die osmanische Bevormundung. Diese Bojaren strebten nach nationaler Unabhängigkeit und bekundeten dies bei verschiedenen Gelegenheiten unmißverständlich. Von innenpolitischen Veränderungen jedoch, die die bestehende Feudalstruktur berührten, wollten sie nichts wissen. Reformerischen Bestrebungen der griechischen Fürsten begegneten sie mit Ablehnung. Nach 1821 wuchsen die gesellschaftlichen Spannungen in beiden Fürstentümern, indem ein stärkerer Differenzierungsprozeß einsetzte. Die Großbojaren trachteten krampfhaft danach, ihre Privilegien zu behalten und die Machtbefugnis des nunmehr wieder einheimischen Fürsten einzuschränken. Angehörige des mittleren und niederen Bojarenstandes beanspruchten gegenüber den Großbojaren größere Rechte in der politischen Führung des Landes und drängten auf Reformen. Das sich noch zaghaft herausbildende Bürgertum war wie verschiedene Bojaren daran interessiert, den Getreidehandel auszubauen, und verlangte entsprechende Maßnahmen.83 Immer stärker bildete sich auf der Basis dieser Auseinandersetzungen das Bewußtsein heraus, daß es das Erbe der Vergangenheit zugunsten moderner Lebensformen zu überwinden gelte, und das westeuropäische Beispiel rückte verstärkt in den Blickpunkt, so besonders plastisch in tnsemnare a c&latoriei mele (Aufzeichnungen meiner Reise. Buda 1826) des Bojaren Dinu Golescu (1777-1830). Die Notwendigkeit einer Erneuerung des Landes durch eine breite Nationalerziehung wurde deutlich zum Ausdruck gebracht. Für die Entstehung einer Aufklärungsbewegung bot sich nun eine reale gesellschaftliche Basis. „Die Aufklärung bildete nicht mehr wie einst die Beschäftigung einiger weniger Privilegierter, die Voltaire und Rousseau wie eine entfernte Kuriosität lasen, als handle es sich hier um Schriftsteller von einem anderen Planeten, ohne jeden Bezug zur gesellschaftlichen Realität der rumänischen Gebiete. Jetzt werden die Aufklärungsideen organisch aufgenommen, weil die Geschichte selbst sie als eine plausible Antwort auf die Probleme auferlegt, die mit dem Übergang des rumänischen Volkes in eine neue Entwicklungsetappe aufgeworfen wurden."84 Teilweise setzte heftige Kritik ein an den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnis66
sen, ohne daß es dabei jedoch zu einer völligen Negierung der Feudalstruktur kam. Zugleich erscholl von verschiedenen Seiten immer stärker der Ruf nach Bildung, nach Schulen, Büchern, moderner Wissenschaft und Technik. Gesellschaftlicher Fortschritt und Aufklärung wurden als synonym betrachtet. Die Pflege der Muttersprache erlangte unter diesem Blickpunkt, wie schon in Siebenbürgen, höchste Aufmerksamkeit. Ein Nationalbewußtsein trat hervor, das nunmehr die umfassende Erneuerung des moralisch-geistigen Lebens einschloß und die Anfänge des Prozesses bürgerlicher Nationalbildung ankündigte. Während der Phanariotenherrschaft war in der Walachei das Neugriechische zur allgemeinen Sprache der Kultur und zum Teil auch der Administration avanciert. Gegen diese Vorrangstellung mußten jetzt die legitimen Ansprüche der eigenen Volkssprache durchgesetzt werden. Zu diesem Zweck war das eingewurzelte Vorurteil auszuräumen, nach dem in einer grammatisch nicht festgelegten und für wissenschaftliche Darstellungen nicht erprobten Sprache wie dem Rumänischen keine über den Alltag hinausgehenden Themen behandelt werden könnten. Außerdem galt es, den bestehenden Schwierigkeiten durch eine Neuregelung des Schulwesens, ja der Volksbildung überhaupt zu begegnen. Die Muttersprache hatte den ihr gebührenden Platz im Unterricht einzunehmen. Ein entscheidendes Zurückdrängen jener griechischen Kultursuprematie erfolgte in der Walachei allerdings erst nach 1828, als das bis 1834 währende russische Protektorat einsetzte. Hierfür waren mehrere Gründe maßgebend. 85 Durch die Aufhebung des von der osmanischen Herrschaft einst behaupteten ökonomischen Monopols über die beiden rumänischen Fürstentümer konnten sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse innerhalb der auseinanderbrechenden Feudalstruktur ungehinderter entwickeln. In Ausführung des „Regulamentul Organic" wurden Maßnahmen eingeleitet, die diese Entwicklung durch eine gestrafftere Verwaltungsstruktur sowie durch die Beseitigung von Hindernissen förderten, die einem inneren und äußeren Markt entgegenstanden. Unmittelbar einher damit ging die Verbreiterung und Stärkung bürgerlicher Schichten. Die angehende bürgerliche Intelligenz orientierte sich auf Frankreich. Ebenso ließen viele Bojaren ihren Söhnen eine französi5*
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sehe Bildung geben, begünstigten doch die Verhältnisse unter dem russischen Protektorat die Ausrichtung auf die französische Sprache und Kultur auf Kosten des Griechischen. Der erste Schriftsteller bürgerlicher Herkunft, der sich in der Walachei um die nationale Sprachenproblematik bemühte, war Barbu Paris Mumuleanu (1794-1837). In einem sehr ausführlichen Vorwort zu seinem 1825 in Bukarest erschienenen Werk Caracteruri (Charaktere) setzte sich Mumuleanu eingehend mit der geistig-moralischen Situation seines Landes auseinander. Es war die Bilanz eines Patrioten, in der es bei allen festzustellenden Mißständen darum ging, Grundlagen für eine neue nationale Gesinnung zu legen. Für Mumuleanu hieß das, mit Hilfe der Muttersprache den nationalen Kräften zum Selbstbewußtsein zu verhelfen, die eigene Literatursprache voll zu entwickeln, sie in den Rang einer Nationalsprache zu erheben. Als einer der ersten in der Walachei verfolgte er auch recht intensiv die nationalen Emanzipationsbestrebungen der Rumänen in der Habsburger Monarchie, die er als wichtigen Beitrag zur rumänischen Gesamtkultur würdigte. Gheorghe Lazär (1779-1823), der aus Siebenbürgen nach der Walachei gekommen war, setzte sich als erster leidenschaftlich für die Realisierung des muttersprachlichen Unterrichts an einer höheren Lehranstalt ein und gab damit seinen Landsleuten ein leuchtendes Beispiel, während sein Schüler Petrache Poenaru (1799-1875) hervorragenden Anteil an der Begründung und dem Ausbau rumänischer Elementarschulen hatte. Im Jahre 1832 erklärte Poenaru, daß die Erziehung und Bildung der Jugend aus den einfachen Schichten die erste Sorge eines Volkes und die heilige Pflicht der Regierung zu sein habe. 86 Der bedeutendste und vielseitigste Vertreter der Aufklärungsbewegung in der Walachei war zwischen 1828 und 1840 Ion Heliade Rädulescu (1802-1872). Als Dichter, Sprachreformer, Publizist und Kulturpolitiker verstand er es, die vordringlichen Probleme der rumänischen Volksbildung, Kultur und Sprachenfrage ins öffentliche Bewußtsein zu tragen. Hierbei griff er auf ästhetischem Gebiet vielfach auf Marmontel und in sprachtheoretischer Hinsicht auf Condillac zurück. 87 In der Moldau wirkte ähnlich wie Lazär und später Heliade 68
Rädulescu der Dichter, Publizist und Pädagoge Gheorghe Asachi (1788-1869). Ein entscheidendes Verdienst Asachis war u. a. 1828 in Jassy die Eröffnung des ersten moldauischen Gymnasiums, in dem alle Fächer in der Muttersprache unterrichtet wurden. Auch eine Reihe von aufgeschlossenen Bojaren setzten sich hier für eine breite Volksbildung und eine systematische Sprachpflege ein. Als sich in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts abzeichnete, daß durch Bildung und Kultur allein keine entscheidenden gesellschaftlichen Veränderungen erfolgten, vielmehr politische Umwälzungen erforderlich waren, wurden die Grenzen der rumänischen Aufklärungsbewegung deutlich sichtbar. Eine revolutionär-demokratische Richtung, deren hervorragendster Vertreter Nicolae Bälescu war, kam auf und setzte sich die gewaltsame Veränderung der verbliebenen Feudalstrukturen zum Ziel. Für die rumänische Aufklärung lassen sich vor allem folgende Besonderheiten feststellen: 1. Die Aufklärungsbewegung war unmittelbar mit dem Kampf um politische und kulturelle Selbstbehauptung in den habsburgischen Gebieten (Siebenbürgen; Banat) und um staatliche Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich in der Moldau und Walachei verknüpft. 2. Die Aufklärung reicht weit über den Zeitpunkt der Französischen Revolution hinaus. Bis 1830 dominierte sie ausschließlich als progressive Strömung. Von 1830 bis 1848 erschien sie mit anderen Strömungen (Romantik; revolutionäre Demokraten; utopische Sozialisten) synchronisiert. 88 3. Die Volksbildung und in diesem Zusammenhang die Formung einer einheitlichen, verbindlichen und modernen Anforderungen gewachsenen Literatursprache besaßen für die rumänische Aufklärung eine herausragende Bedeutung. Den Fragen des nationalen Sprach- und Geschichtsbewußtseins widmete man ganz besondere Aufmerksamkeit. 4. Da nur eine äußerst schwache Bourgeoisie vorhanden war, wurden von wenigen Ausnahmen abgesehen (Budai-Deleanu) keine radikaleren politischen Konsequenzen entwickelt. Es gab keine materialistische bzw. atheistische Richtung. Antiklerikale Tendenzen waren höchst selten; am stärksten ausge69
prägt begegnen sie bei Budai-Deleanu. Vielfach war die orthodoxe Kirche ein nationaler Faktor im Kampf gegen fremde Unterdrückung gewesen, so daß es nicht zu heftigen Konfrontationen zwischen Aufklärung und orthodoxer Kirche kam. Walter Markov hob für Südosteuropa hervor: „Säkularisierung des Kirchengutes, Ersetzung der Sakral- durch die Umgangssprache, weltliche Volkserziehung anstelle des theologischen Bildungsmonopols schlössen kein ,ecrasez l'Infäme!' ein. Im Gegenteil: im Ringen um Nationwerdung gegen Türken wie Habsburgerschaft mühten sich die Aufklärer im Sog des Deismus um philosophische Durchdringung einer geläuterten Volkskirche und erzielten auch einen gewissen Einbruch." 59 5. Die rumänische Aufklärung ¡in Siebenbürgen besaß josefinisches Gepräge, so daß insbesondere die Philosophie von Christian Wolff eine große Rolle spielte. In der Moldau und Walachei wurden Schriften französischer Aufklärer meist über das Neugriechische vermittelt. In den Bildungsbestrebungen fand hier vor allem Condillac großen Anklang.
Spanien90 und Portugal Zu einer Aufklärungsbewegung kam es in Spanien erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie stand in enger Verbindung mit der Reformpolitik Karls III. (1759-1788), ohne mit ihr jedoch identisch zu sein. Diese Periode ging als „aufgeklärter Absolutismus" in die Annalen der spanischen Geschichte ein, obgleich Karl III. im Gegensatz zu einigen anderen gekrönten Häuptern jenes Jahrhunderts nicht den Anspruch erhob, als „aufgeklärter" Monarch zu gelten. Im Zuge wirtschaftlicher Aufwärtsentwicklung formierte sich in jenem Zeitraum in Spanien die Bourgeoisie, die Anschluß an die allgemeine, durch den aufkommenden Kapitalismus geprägte westeuropäische Entwicklung suchte, politisch und ökonomisch aber noch recht schwach war. Zur Durchsetzung ihrer Interessen bedurfte sie eines reformfreudigen Absolutismus, der - aus ganz anderen Gründen - ebenfalls um eine Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens bemüht war. Ihm war es in erster Linie darum zu tun, seine Macht auszubauen und Rückständigkeiten
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gegenüber fortgeschritteneren Ländern aufzuholen. „Für die Bourgeoisie ging es letztlich weniger um die Emanzipation vom Absolutismus als vielmehr um den Aufstieg innerhalb des absolutistischen Systems. Daraus resultierte notwendigerweise ein erheblich vergrößerter Radius für aufgeklärte Reformen im Sinne systemstabilisierender Initiativen durch die Nutzung der aufkommenden bürgerlichen Potenzen (und nicht als Anstoß zur Ö f f n u n g für eine ungehemmte kapitalistische Entwicklung). In überspitzter Weise ließe sich formulieren, daß das Gewicht der A u f g e k l ä r t h e i t absolutistischer Politik im proportionalen Verhältnis zur Schwäche eines eigenständigen antifeudal-bürgerlichen Korrektivs stand, womit die Bedingungen für einen fast k l a s s i s c h e n aufgeklärten Despotismus gegeben waren." 91 Als von beträchtlicher Bedeutung war in diesem Zusammenhang, daß Karls III. Regierungszeit mit der zweiten großen Konjunkturphase der amerikanischen Silberproduktion zusammenfiel, was eine intensive Förderung bürgerlicher Elemente ermöglichte, ohne die ständische Ordnung der Privilegierten in Frage zu stellen. Außerdem war es typisch für Karls III. staatliche Reformen, daß er eine Reihe neuer Institutionen schuf, ohne bereits bestehende zu beseitigen. 92 Bestimmte institutionelle und ideologische Grundlagen für die Herausbildung der spanischen Aufklärungsbewegung wurden bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelegt. Mit der 1700 auf den Thron gelangten bourbonischen Dynastie erhielt der königliche Absolutismus in mancherlei Hinsicht ein anderes Gepräge. Nach französischem Vorbild kümmerte er sich vor allem stärker um wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der Entwicklung des Landes. Eine am Beispiel Colberts orientierte merkantilistische Politik und die Errichtung kultureller und wissenschaftlicher Institutionen (1711 Eröffnung der Nationalbibliothek; 1714 Gründung der Spanischen Akademie, 1738 der Historischen Akademie und 1752 der Akademie der Bildenden Künste) legten u. a. davon Zeugnis ab. Zugleich wurde in verschiedenen Bereichen wesentlich entschiedener Wert auf das Primat der Krone gegenüber Befugnissen der katholischen Kirche gelegt. Ein prononcierter Regalismus bildete sich heraus. Für die Propagierung frühauf71
klärerischer Ideen war dadurch das geistige Klima günstiger geworden. Dennoch wagten sich zunächst nur einzelne Intellektuelle auf dieses Neuland vor. Der bedeutendste Vertreter der spanischen Frühaufklärung war ohne Zweifel der Benediktinermönch Benito Jerónimo Feijoo (1676-1764), 93 der mit zahlreichen Werken der französischen Frühaufklärung (Fontenelle; Bayle) eingehend vertraut war, Descartes und Bacon studiert hatte und von den spanischen Aufklärern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als maßgeblicher Wegbereiter ihrer Bestrebungen geschätzt wurde. Feijoo wandte sich gegen Ignoranz, Aberglauben, Vorurteile und veraltete Traditionen und setzte sich zugleich für die Verbreitung moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse ein. In aufgelockerter essayistischer Form, mit der er den Leser anzusprechen suchte, beschäftigte er sich mit den vielfältigsten Problemen des geistigen, wissenschaftlichen, kulturellen, moralischen, politischen und wirtschaftlichen Lebens und behandelte sie in rationalistischer Weise. Der spanische Spätaufklärer Juan Sempere y Guarinos beurteilte 1786 Feijoos Wirksamkeit wie folgt: „Wer ist mit größerer Kraft gegen falsche Frömmigkeit, volkstümliche Ansichten über Hexen, Kobolde und Besessene, Mißbräuche der Autorität und Mängel im Unterricht an unseren Universitäten losgezogen als der Pater Feijoo? Die Werke dieses klugen Mannes erzeugten eine nützliche Gärung, ließen beginnen, Zweifel zu hegen, machten mit anderen Büchern bekannt, die von denen im eigenen Lande sehr verschieden waren; sie erregten die Neugier und öffneten schließlich das Tor zur Vernunft, das vorher Gleichgültigkeit und falsche Weisheit verschlossen hielten." 94 Feijoo stellte mit Nachdruck die Bedeutung des Experiments und der genauen Beobachtung für den wissenschaftlichen Fortschritt heraus. Bacon und Newton lobte er deshalb in höchsten Tönen. Über den Wissenschaftsbetrieb und das Niveau an den spanischen Universitäten schrieb er eine vernichtende Kritik und plädierte für die grundlegende Neugestaltung des spanischen Unterrichtswesens. Immer wieder äußerte er, daß gesellschaftlicher Fortschritt in Spanien nicht ohne ein grundlegend neues Verhältnis zur Wissenschaft und die umfassende Pflege moderner Naturwissenschaften erreicht werden könne. 95 Seine 72
oft aufgelegten Schriften riefen zahlreiche Kritiker, insbesondere aus reaktionären Kreisen auf den Plan. Es kam zu polemischen Auseinandersetzungen, die in der Öffentlichkeit damals ziemliche Beachtung fanden. Feijoo bedurfte der Protektion des Monarchen, um sich hierbei ohne Schaden zu behaupten. Die Grenzen seiner aufklärerischen Aspirationen zeigten sich in seinem Verhältnis zur christlichen Religion. Für seine Haltung war charakteristisch, daß er für eine strenge Trennung zwischen Wissen und Glauben eintrat, sich hütete, mit christlichen Dogmen in Konflikt zu kommen und alles vermied, was zu einer deistischen Konzeption führte. Die wesentlichen Themen der spanischen Aufklärungsbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bezogen sich auf die Reformierung der staatlichen Verwaltung, der Wirtschaft des Landes und des gesamten Unterrichtswesens. Der Gedanke der Nationalerziehung brach sich in vielfältigen Formen Bahn. Nicht zufällig waren viele aufklärerisch gesinnte Männer als hohe Beamte der Krone tätig. Diese Bemühungen um Zentralisation und Rationalisierung auf den verschiedensten Gebieten mußten auf einen besonders fruchtbaren Boden fallen, da die spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert im Gegensatz zur französischen nicht konsequent die innere wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Einheit angestrebt hatte, diese aber für die weitere kapitalistische Entwicklung ebenfalls eine wichtige Voraussetzung bildete. Karl Marx hob diesen Aspekt mit den damit verbundenen Konsequenzen in seinen Betrachtungen über Das revolutionäre Spanien plastisch hervor: „Überall bildeten sich im sechzehnten Jahrhundert die großen Monarchien auf den Trümmern der kämpfenden feudalen Klassen: der Aristokratie und der Städte. In den anderen großen Staaten Europas tritt jedoch die absolute Monarchie als ein zivilisierendes Zentrum, als der Urheber gesellschaftlicher Einheit auf. Dort war sie das Laboratorium, in dem die verschiedenen Elemente der Gesellschaft so gemischt und bearbeitet wurden, daß es den Städten möglich wurde, ihre lokale Unabhängigkeit und Selbständigkeit des Mittelalters gegen die allgemeine Herrschaft der Bourgeoisie und gegen die gemeinsame Herrschaft der bürgerlichen Gesellschaft einzutauschen. Im Gegensatz dazu versank jedoch in Spanien die Aristokratie 73
in die tiefste Erniedrigung, ohne ihre schlimmsten Privilegien zu verlieren, während die Städte ihre mittelalterliche Macht einbüßten, ohne moderne Bedeutung zu gewinnen."9® Ein einheitliches Verwaltungssystem und eine allgemeine Gesetzgebung, organisierte Verkehrsverhältnisse und ein wachsender Austausch zwischen den einzelnen Provinzen wurden daher im 18. Jahrhundert mit der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Entwicklung als besonders dringliches Anliegen empfunden. Viele spanische Aufklärer engagierten sich dafür und entwickelten entsprechende Vorstellungen und Pläne. Die vom Absolutismus in diesem Zusammenhang eingeleiteten Maßnahmen (Einführung der Intendantur; Gemeindereform usw.) schafften alte Mißbräuche wie auch zahlreiche lokale Vorrechte ab. Sie gaben der monarchischen Zentralgewalt damit zugleich die Möglichkeit, die Provinzverwaltungen nicht nur rationaler zu gestalten, sondern auch strenger zu kontrollieren.97 Großen Raum nahmen in den Darlegungen der spanischen Aufklärer Fragen der Nationalökonomie und der Landwirtschaft ein, wobei sowohl auf merkantilistische Konzeptionen wie auch auf physiokratische Vorstellungen zurückgegriffen wurde. In verschiedenen Städten entstanden Ökonomische Gesellschaften, deren Mitglieder unter dem Eindruck der westeuropäischen kapitalistischen Entwicklung über eine Ankurbelung der eigenen Wirtschaft und dafür erforderliche Reformen nachdachten, Anregungen für die Praxis vermittelten und insbesondere über Fragen der Ausbildung, der Volksbildung generell, und über neue Produktionsverfahren debattierten. Die erste Gesellschaft dieser Art war die 1764 gegründete Sociedad Vascongada de Amigos del País (Baskische Gesellschaft der Freunde des Landes). Von der Regierung hierzu ermuntert, folgte die Gründung solcher Gesellschaften u. a. 1775 in Madrid, 1776 in Zaragoza, 1777 in Valencia und Sevilla, 1780 in Segovia und 1781 in Oviedo. In diesen Gesellschaften faßte die Aufklärung schnell Fuß, ging es hier doch darum, durch wirtschaftliche und pädagogische Reformen den Rückstand gegenüber fortgeschritteneren Ländern aufzuholen. „Die Entwicklung der Produktivkräfte im Interesse der Nation sollte in erster Linie durch die Einbeziehung der unproduktiven 74
Schichten des spanischen Adels und der großen Masse der Landbevölkerung sowie der über der ganzen Nation lastenden Bettlerarmeen erfolgen."98 Für die Gründung solcher Gesellschaften setzte sich besonders der Graf Campomanes (1723 bis 1802) ein, ein aufklärerisch gesinnter hoher Beamter und angesehener Historiker. Seine Schriften Discurso sobre el fomento de la industria popular (Rede über die Förderung des Volksfleißes; 1774) und Discurso sobre la educación popular de los artesanos y su fomento (Rede über die Volksbildung der Handwerker und ihre Förderung; 1775-1777) fanden bei seinen spanischen Zeitgenossen beachtlichen Widerhall. Als ein vordringlich zu lösendes Problem tauchte in den Debatten der Ökonomischen Gesellschaften immer wieder die Agrarfrage auf. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatte die Bevölkerung Spaniens um 50 Prozent zugenommen. Vor allem in den Städten stieg die Einwohnerzahl mächtig an. Landwirtschaftliche Produkte waren dadurch mehr denn je gefragt, und ihre Preise erhöhten sich. Die Steigerung der Bodenerträge erwies sich nun als grundsätzliches Erfordernis. Die Anwendung moderner Verfahren und wissenschaftlicher Erkenntnisse mußten, wie dies mit der kapitalistischen Entwicklung in anderen Ländern der Fall war, große Aufmerksamkeit erlangen. In diesem Zusammenhang wurde zugleich sichtbar, daß gerade auf dem Gebiet der Landwirtschaft die vorhandenen ständischen Vorrechte und Traditionen entscheidende Hemmnisse für die weitere ökonomische Entwicklung des ganzen Landes bedeuteten. Die für den Ackerbau unheilvolle Rolle der privilegierten Weidewirtschaft (Mesta), die Auswirkungen des Majoratserbes und der Toten Hand erfuhren deshalb in zahlreichen Schriften eine heftige Kritik. Das in dieser Hinsicht bekannteste Werk Informe sobre la l e y agraricß® (Bericht über das Agrargesetz) schrieb Caspar Melchor de Jovellanos (1744 bis 1810), einer der führenden spanischen Aufklärer. Dieses 1795 veröffentlichte Memorandum, dem umfangreiche Diskussionen in der Ökonomischen Gesellschaft Madrids vorausgegangen waren und das Jovellanos im Namen dieses Gremiums abgefaßt hatte, war an den Rat von Kastilien, das höchste politischadministrative Organ Spaniens, gerichtet. Die Krone, vornehmlich die Reformpolitik Karls III., hatte zwar Versuche 75
unternommen, den erwähnten Hemmnissen Einhalt zu gebieten, sie in ihrer Wirkung zu beschränken, doch die eingeleiteten Maßnahmen erwiesen sich als ungenügend. Die Agrarfrage wurde damit keiner Lösung zugeführt, denn an den Fundamenten der bestehenden Ordnung wurde nicht gerüttelt. Der Großgrundbesitz, in den sich vorwiegend Hochadel und katholische Kirche teilten, blieb unangetastet. Bis heute vermochte das Agrarproblem in Spanien nicht gelöst zu werden. 100 Es gab einige Ansätze hierzu, so die Agrarreform der spanischen Republik von 1932, doch eine entscheidende Entmachtung der Großgrundbesitzer erfolgte auch hier nicht. Bei der Verbreitung von Schriften französischer Aufklärer, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend die Listen der von der Inquisition verbotenen Bücher füllten, spielten die ökonomischen Gesellschaften ebenfalls eine bemerkenswerte Rolle. Um die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse, technischen Verfahren und Methoden rasch kennenzulernen, war ihnen als Institution der Bezug dieser Literatur von der Krone, vielfach gegen den Widerstand der Inquisition gestattet worden. Die französische Enzyklopädie beispielsweise, die das Heilige Offizium 1759 verbot, erfreute sich in diesen patriotischen Gesellschaften besonderer Beachtung, da sie eine vorzügliche Zusammenfassung des erreichten Wissensstandes und der bewährten Methoden in den verschiedenen gewerblichen Bereichen bot. Campomanes riet 1775, einige dieser Artikel ins Spanische zu übersetzen und dabei die gegen die Religion gerichteten Partien zu entfernen. 101 Daneben öffneten sich andere Wege, um zu Werken der französischen Aufklärung zu gelangen, wenn diese auch recht gefahrvoll waren. Die spanische Aufklärungsbewegung dokumentierte nämlich in nicht zu übersehender Weise: „Trotz des systematisch aufgebauten Schutzes der Grenze und trotz der im Inneren durch ein raffiniertes Spitzelsystem verdichteten Kontrolle konnte sich die französische Aufklärung auf spanischem Boden immer mehr befestigen."102 Zwischen 1747 und 1807 verbot die Inquisition zirka 500 Titel der französischen Literatur. Darüber hinaus war gegen Autoren wie Voltaire und Rousseau ein generelles Verdammungsurteil ausgesprochen worden. 103 Dennoch zeigten alle spanischen Aufklärer in ihren Darle76
gungen eine mehr oder minder ausgeprägte Vertrautheit mit Fragestellungen, Themen, Forderungen und Argumentationen der französischen „philosophes" des 18. Jahrhunderts, auch wenn sie diese ihren nationalen Bedingungen und Bedürfnissen gemäß schöpferasch verarbeiteten und zuweilen in eine ganz andere Richtung entwickelten. Die Inquisition wußte sehr wohl, daß sich hohe, in königlicher Gunst stehende Verwaltungsbeamte der Krone die von ihr verbotenen Bücher verschafft hatten und als Lektüre benutzten. Sie ließ diese zwar bespitzeln, doch wagte sie es meistens wegen eventueller Händel mit dem Monarchen nicht, direkt einzugreifen. Als sie jedoch nach der Abdankung Grimaldis einen günstigen Augenblick gefunden zu haben meinte, schlug sie zu und versuchte ein warnendes Beispiel zu schaffen. Sie ließ den Intendanten von Andalusien, Pablo de Olavide, verhaften und ins Untersuchungsgefängnis werfen. 1 0 4 Mit seinen freien Äußerungen und seinen Reformen bei der Ansiedlung von 6000 deutschen Kolonisten in der Sierra Morena hatte er sich den Schnüfflern des Heiligen Offiziums schon lange verdächtig gemacht. Als die aufklärerisch gesinnte Fraktion ihre Position beim Monarchen wieder befestigt hatte, hütete sich die Inquisition, ähnliche Exempel zu statuieren. Zugleich war aber auch den Aufklärern durch den Fall Olavide klar geworden, wie sehr stets die Inquisition im Hintergrunde lauerte. Schließlich war es charakteristisch, daß es 1792 zu einem engen Bündnis zwischen Inquisition und Krone kam. Die revolutionären Ereignisse in Frankreich hatten die Krone und Teile der „aufgeklärten" hohen Beamten aufgeschreckt. Der Buchimport aus Frankreich erschien ihnen unter diesen Gegebenheiten höchst suspekt. In Spanien bildete sich im 18. Jahrhundert ein beachtliches Zeitschriftenwesen heraus, das mit einem aufklärerisch eingestellten, wenn auch nicht zahlreichen Publikum rechnen konnte. Doch selbst wirklich kühne Journalisten vermochten es unter dem Druck der Inquisition nicht, die von ihnen herausgegebenen Zeitschriften jahrelang ungestört zu veröffentlichen. Das typische Beispiel hierfür bot Canuelo mit seinem Censor (1781-1787). 1 0 5 Die Inquisition zwang ihn, seine Ideen zu widerrufen und verurteilte ihn. 1787 schrieb der Aufklärer Sempere y Guarinos über Canuelos Journalismus, daß die 77
Zeitschriften, einschließlich des von Clavijo herausgegebenen Pensador (Der Denker), sich nun vornahmen, Moden und gewisse Laster in der Lebensführung lächerlich zu machen. Der Censor hingegen spreche von Gebrechen der Gesetzgebung, wende sich gegen unter religiösen Vorwänden eingeführte Mißbräuche und handele über politische Fehler.106 Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die Ausarbeitung eines kritischen nationalen Geschichtsbildes in der spanischen Aufklärungsbewegung einen breiten Raum einnahm.107 Werner Krauss hebt hervor, wie sehr im damaligen Spanien das Selbstverständnis der Aufklärung durch „das Verständnis der geschichtlichen Quelle aller spanischen Übel begleitet" wurde.108 Im Vergleich zur insbesondere wirtschaftlichen Entwicklung anderer europäischer Länder wurde die Frage aufgeworfen, wann der Niedergang des Landes einsetzte und welche Faktoren dafür verantwortlich zu machen waren. Die Politik der Habsburger Könige wurde vielfach einer vernichtenden Kritik unterzogen. Die vielgerühmte Blütezeit entpuppte sich als katastrophal für die ökonomische Entwicklung des Landes. Statt Maßnahmen zur inneren Prosperität einzuleiten, wurde das Vermögen in zahllosen Kriegen vergeudet und der Entvölkerung Vorschub geleistet. Dennoch war man nicht gewillt, in den Chor derjepigen einzustimmen, die außerhalb der Grenzen, besonders in Frankreich, die spanische Entwicklung als ein Musterbeispiel für eine Entwicklung zur Dekadenz kennzeichneten. Montesquieu hatte im 78. Brief seiner Lettres persanes (Persische Briefe) ein satirisches Bild spanischer Verhältnisse gezeichnet und hierbei kurz auf die Inquisition und den wirtschaftlichen Tiefstand Bezug genommen. In De l'Esprit des lois kam er etwas ausführlicher auf Spaniens Dekadenz zu sprechen. Doch die meiste Empörung löste der Artikel Spanien in der Novelle Encyclopédie Méthodique (1782) aus, den Nicolas Masson de Morvilliers verfaßt hatte. Er wurde als freche Herausforderung empfunden. Sowohl traditionalistische Kräfte wie der bedeutende Prosaschriftsteller Juan Pablo Forner (1756-1797) als auch Aufklärer antworteten darauf sehr bestimmt. Zwar waren sich beide Flügel einig in der Ablehnung solcher diffamierender Ansichten, doch die Argumentation war recht unter78
schiedlich. Aufklärer wie Sempere y Guarinos oder Cañuelo ließen keinen Zweifel daran, daß eine kritiklose Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse, wie sie Forner mit viel Polemik brachte, nicht vertretbar sei. Sempere wies die traditionalistische Ansicht als ebenso lächerlich wie schädlich zurück, daß. man keine Bücher aus dem Ausland brauche und im Lande selbst genügend wisse. Ebenso sei die Annahme grundfalsch,, daß kein weiterer gesellschaftlicher Fortschritt vonnöten wäre. 109 Cañuelo wies scharf Forners aufklärungsfeindliche Apologie der spanischen Zustände zurück. Er machte auf die erreichten Fortschritte aufmerksam und hob hervor, wieviel noch für den Fortschritt in Spanien getan werden müßte. Ignoranz und Armut als wahrhaftes Glück hinzustellen, wie er aus Forners Argumentation hervorgehe, verdiene nur Hohn und Verachtung. Äußerst scharf wurde gegen die traditionalistische Apologie Spaniens polemisiert in der 1820 erschienenen, aber bereits um 1792 abgefaßten Streitschrift Pan y TOTOS (Brot und Stiergefechte), die man früher vielfach Jovellanos zuschrieb. Ihr Autor war höchstwahrscheinlich León de Arroyal, der in Cartas político-económicas al Conde de Lerena (Politisch-ökonomische Briefe an Graf Lerena) heftige Kritik an der geistlichen und weltlichen Despotie in Spanien geübt hatte. 110 Die spanischen Aufklärer versuchten durch umfassende historische Werke über verschiedene kulturelle, geistige und politisch-institutionelle Bereiche zur nationalen Selbstverständigung beizutragen, eigene Traditionslinien im Zusammenhang mit modernem Denken zu entwickeln. Das spanische Mittelalter erfuhr in diesem Sinne eine Neuerschließung, und zwar sowohl in politischer als auch in kultureller Hinsicht. 111 Mittelalterlich-demokratische Züge in der Verfassungsgeschichte z. B. wurden aufgespürt und mit den neuen Erfordernissen verknüpft, wobei sich historische und naturrechtliche Argumente ergänzten (Jovellanos). Die Ereignisse der Französischen Revolution und die 180& erfolgte Invasion der napoleonischen Heere in Spanien klärten in beträchtlichem Maße die Fronten in der spanischen Aufklärung. Der Absolutismus, dessen altes Einvernehmen mit der Aufklärungsbewegung bereits unmittelbar vor der Französischen Revolution manche Trübung erfahren hatte, 79
zeigte nun keine Reformwilligkeit mehr und bekundete gegenüber aufklärerischen Bestrebungen eine ablehnende Haltung. Der spanische Unabhängigkeitskrieg zeigte nach Karl Marx mehr als die antinapoleonische Befreiungsbewegung in anderen Ländern ein Ineinander von Regeneration und Reaktion: „Wenn nun aber auch die Bauernschaft, die Bewohner der Kleinstädte im Innern des Landes und die zahlreiche Armee der Bettlermönche mit und ohne Mönchskutten, die alle von religiösen und politischen Vorurteilen tief durchdrungen waren, die große Mehrheit der nationalen Partei bildeten, so enthielt sie doch auf der anderen Seite eine rührige und einflußreiche Minderheit, die die Volkserhebung gegen die französische Invasion als das Signal zur politischen und sozialen Erneuerung Spaniens betrachtete. Diese Minderheit setzte sich aus den Bewohnern der Hafen- und Handelsstädte und einem Teil der Provinzhauptstädte zusammen, wo sich unter der Regierung Karls V. die materiellen Bedingungen der modernen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade entwickelt hatten. Sie wurd e verstärkt durch den gebildeten Teil der oberen Klassen und der Bourgeoisie, Schriftsteller, Ärzte, Rechtsanwälte und sogar Priester, für die die Pyrenäen keine genügende Barriere gegen das Eindringen der Philosophie des 18. Jahrhunderts gebildet hatten." 112 Mehrere bekannte spanische Aufklärer stellten sich in den Dienst von Joseph Bonaparte, weil sie darin die einzige Möglichkeit erblickten, längst fällige Gesellschaftsreformen durchzusetzen. Als „afrancesados" (Franzosenfreunde) sind sie seither in der konservativ-nationalistischen Geschichtsschreibung beständig diffamiert worden. Sie gehörten vielfach zum linken Flügel der spanischen Aufklärung, so Francisco Cabarrüs (1752-1810), der Rousseaus Schriften sehr schätzte, die Freihandelslehre vertrat, das spanische Bankwesen wesentlich entwickeln half und durch Denunziation bei der Inquisition von 1790-1792 ins Gefängnis geworfen worden war. 1 1 3 Auch der bekannte neoklassizistische Dichter Juan Meléndez Valdés (1754-1817), der eine Reihe von aufklärerischen Themen besang und in seinen Prosaschriften Discursos forenses (Gerichtsreden) wesentliche Fragen des Reformprogramms der spanischen Aufklärung unter Bezug auf nationale Traditionen und 80
auf Ideen französischer Aufklärer behandelte, gilt als „afrancesado". 114 Im Verlauf der Französischen Revolution stießen dann einige junge Spanier, die selbst mit an den revolutionären Ereignissen des Nachbarlandes beteiligt waren, sogar auf revolutionäre Positionen vor. Das bekannteste Beispiel hierfür war der Abbé José Marchena (1768-1821). Er machte aus seinen irreligiösen Anschauungen kein Hehl und suchte sie sogar zu propagieren. Mit Mühe entkam er dem Zugriff der Inquisition, indem er 1792 über Gibraltar nach Frankreich floh, wo er sich bald in den revolutionären Klubs betätigte, zunächst an Marats Blatt L'Ami du Peuple (Der Volksfreund) mitarbeitete und dann zu den Girondins überwechselte. 1808 kehrte er nach Spanien zurück und übte verschiedene Ämter unter Joseph Bonaparte aus. 115 Andere Aufklärer erteilten den Angeboten von Napoleons Bruder, wichtige Regierungsämter zu übernehmen, eine Absage, vor allem Jovellanos, der entschieden das Verhalten seiner ehemaligen Freunde Meléndez Valdés und Cabarrús verurteilte und rigoros mit ihnen brach. Jovellanos spielte in der Zentraljunta, die im Zusammenhang mit dem Befreiungskampf des spanischen Volkes eine neue gesellschaftliche Alternative suchte, eine maßgebliche Rolle. E r war der typische aufklärerische Reformer, der eine allmähliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse anstrebte und „aus lauter Bedenklichkeit in der Wahl seiner Mittel nie gewagt hätte, seinen Endzweck zu erreichen". Karl Marx schrieb über ihn, daß er im aufrührerischen Spanien die strebsame Jugend mit Ideen zu erfüllen vermochte, nicht ganz frei von aristokratischen Vorurteilen war und stark zur Anglomanie eines Montesquieu neigte. 116 In der Verfassung von Cádiz (1812) schlugen sich dann eindeutig die bürgerlich-aufklärerischen Bestrebungen nieder. Diese Konstitution zeigte ein spezifisch spanisches Gepräge, indem sie in origineller Weise an alte spanische Traditionen anknüpfte und zugleich infolge bürgerlicher Schwäche einen Kompromiß mit den klerikalen Kräften des Landes schloß, der insbesondere in Fragen der Religion deutlich hervortrat. 117 Als besonders markante Merkmale der spanischen Aufklärung schälen sich heraus: 6
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1. Die Bourgeoisie war ökonomisch wie politisch noch ziemlich schwach. Nur in einigen Provinzen (u. a. Asturien, Katalonien) vermochte sie sich stärker zu profilieren, was sich u. a. in den betreffenden Ökonomischen Gesellschaften recht deutlich ausdrückte. Eine einheitliche national-bürgerliche Plattform kristallisierte sich nicht heraus. Vielmehr wurde bereits im 18. Jahrhundert der Grund zu dem seit dem 19. Jahrhundert typischen spanischen Partikularismus gelegt. 118 2. D a darüber hinaus die katholische Kirche, trotz 1767 erfolgter Ausweisung der Jesuiten und einzelnen absolutistischen Eingriffen weiterhin eine gewaltige Macht besaß, und dies auch im geistigen Leben nachdrücklich demonstrierte (Inquisition), kam es in der spanischen Aufklärung nicht zu explizit vorgetragenen deistischen, geschweige denn materialistischen und atheistischen Anschauungen. Ebenso fehlten prononciert antiklerikale Stimmen. 3. Die Aufklärung brachte in Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und mit ausländischen Äußerungen über die spanische Rückständigkeit (Montesquieu ; Novelle Encyclopédie méthodique) eine neue Phase nationaler Bewußtseinsbildung, die, verbunden mit dem Aufkommen der Publizistik, in der Tendenz auf die Herausbildung der bürgerlichen Nation in Spanien zielte. Nationale Selbstkritik ging einher mit der Verteidigung eigener Traditionen und Leistungen gegenüber ausländischen Verächtern. Besonders plastisch drückte sich dies beispielsweise im Schaffen von José Cadalso (1741 bis 1782) aus. In seinen Carlas Marruecas (Marokkanische Briefe) nahm er eine kritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse Spaniens vor und verfaßte zugleich eine Verteidigungsschrift gegen Montesquieus antispanische Äußerungen in den Lettres persanes^19 4. Die spanische Aufklärung legte sehr großes Gewicht auf eine umfassende Neustrukturierung der Volksbildung, auf eine weltliche Ausbildung, die mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen bekannt machte und auf gesellschaftliche Nützlichkeit orientiert war, sowie auf wirtschaftliche Reformen. Hierbei spielten die Ökonomischen Gesellschaften als aufklärerische Zentren eine wesentliche Rolle. In Portugal 120 herrschten ähnliche sozialökonomische Be82
dingungen wie in Spanien. Die Frühaufklärung hatte hier ihren bedeutendsten Vertreter in Luis Antonio Verney (1713-1792), dessen Verdadeiro metodo de estudar (Wahrhafte Methode zu studieren, 1746) einen Durchbruch gegenüber den scholastischen Methoden bedeutete. Er bezog sich vielfach auf Locke und verdankte Muratori manche Anregung. Etwas breitere Dimension erhielt die Aufklärungsbewegung in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, als der mächtige Minister Pombai konsequent eine absolutistische Politik gegen den Einfluß des alten Adels und der Jesuiten betrieb (1750-1777). Ein geplantes Attentat auf den König benutzte er geschickt, um diese Kräfte auszuschalten. 1759 erzwang er die Ausweisung der Jesuiten. Auch die Inquisition machte er zum Instrument einer weltlichen Politik. Die absolutistisch-reformerische Politik wurde von Aufklärern wie Ribeiro Sanches und Oliveira unterstützt. D a Pombai keine breiteren sozialen Schichten fand, auf die er sich hätte stützen können, konnte er sich nicht länger an der Macht halten. Die konservativen klerikalen Kräfte erlangten in den letzten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wieder die Oberhand. Doch bei allen wieder auftauchenden regressiven Momenten war das Einströmen von Ideen der französischen Aufklärung nicht zu verhindern.
Die Friedensideen der französischen Aufklärung
Zur Einführung Der Wunsch und die Sehnsucht der Völker nach einer Welt des Friedens fanden in der Literatur schon sehr früh in vielfältigen Formen beredten Ausdruck. In den ältesten literarischen Zeugnissen der Perser, Chinesen und Inder wurden ebenso wie im Alten Testament und in den Werken zahlreicher griechischer und römischer Autoren das Unglück und die Verwerflichkeit des Krieges angeprangert wie auch der Segen des Friedens gepriesen.1 Niemals konnte sich in den genannten Literaturen unangefochten die Auffassung behaupten, daß Kriege schicksalhaft und überdies Gelegenheit zu besonderer menschlicher Bewährung seien. „Die größten Geister der Vergangenheit, die führenden Denker der Menschheit haben den Krieg gehaßt, von einer Zukunft im Frieden geträumt und sind sich ihrer Verantwortung für die Geschicke der Weltkultur zutiefst bewußt gewesen."2 Auch in der Geschichte des französischen Volkes finden wir zahlreiche Schriftsteller und Denker, die den Fragen von Krieg und Frieden größte Aufmerksamkeit schenkten, im Krieg eine auszumerzende Geißel der Menschheit erblickten, die Grundzüge einer friedliebenden Gesellschaft entwarfen und das Engagement für gesellschaftlichen Fortschritt mit dem Kampf um Weltfrieden verbanden. Ihre Ideen über Krieg und Frieden waren zwar von den Bedürfnissen und Vorstellungen ihrer Zeit abhängig und trugen vielfach utopische Züge, doch bildeten sie zugleich wichtige Bausteine für die jahrhundertelange Herausbildung unserer gegenwärtigen, auf dem realen Geschichtsprozeß fußenden Anschauungen über diese Problematik. Die kriegerisch-feudale Welt der selbstbewußten Recken 85
geriet in der französischen Literatur des Mittelalters früh schon in eine witzig-ironische Beleuchtung, so in Pèlerinage de Charlemagne (Karlsreise) oder in Aucassin et Nicolette. Rabelais setzte in der Renaissance diese Linie fort und brandmarkte insbesondere den ungerechten Krieg der Aggressoren. Im 17. Jahrhundert entstanden Pläne für einen europäischen Staatenbund zum Schutze des Fliedens, die dann im Zeitalter der Aufklärung eine Vertiefung erfuhren und teilweise mit dem Kampf gegen die feudalabsolutistische Ordnung verknüpft wurden. Der utopische Sozialist Charles Fourier erwartete von der den Kapitalismus ablösenden Gesellschaftsordnung das Ende der Kriege sowie auch der Armut und Ungerechtigkeit. Victor Hugo vertraute auf eine durch menschliche Schöpferkraft und Vernunft gekennzeichnete Zukunft. Gegen Ende seines Lebens schrieb er: „An die Stelle der Schlachten werden wissenschaftliche Entdeckungen treten; die Völker werden nicht mehr erobern, sondern wachsen und sich zunehmender Bildung erfreuen; es wird keine Krieger mehr geben, sondern rastlos Schaffende, und kommen wird die Stunde wissenschaftlicher Forschungen, Lehren und Erfindungen; die Menschen werden davon ablassen, ihre gegenseitige Vernichtung zu verherrlichen." 3 Anatole France erkannte die wachsende, auf neue Absatzmärkte ausgerichtete räuberische Aggressivität des sich herausbildenden Imperialismus und entlarvte sie in seinem Roman L'Ile des Pingouins (Die Insel der Pinguine, 4. Buch, 3. Kapitel). Jean Jaurès wandte sich vor Ausbruch des ersten Weltkriegs mutig gegen die kriegslüsternen Kräfte und wurde deshalb von einem Chauvinisten erschossen. Der imperialistische Krieg von 1914-1918 fand in Romain Rolland, der in seinem Jean-Cbristopbe die Ideale der Völkerverständigung und menschlichen Brüderlichkeit in beeindruckender Weise literarisch nahezubringen verstand, von der ersten Stunde an einen konsequenten Gegner und Kritiker. In seiner Aufsatzsammlung Au-dessus de la mêlée (Über dem Getümmel) prangerte Romain Rolland den Völkerhaß und das Völkermorden an. Besonders wandte er sich gegen die Intellektuellen, die dies mit ihrer Feder unterstützten, statt die Wahrheit zu verbreiten. Auch in der grotesken Komödie Liluli (1919), in der 86
Novelle Pierre et Luce (1920) und im Roman Clerambault legte er leidenschaftlich den Wahnwitz des Krieges bloß und entlarvte die Feigheit jener Intellektuellen, die trotz der gewonnenen Einsicht in die wahren Hintergründe dieses Völkermordens schwiegen, sich opportunistisch anpaßten oder gar in das Kniegsgeheul einstimmten. Eine herausragende Rolle im Kampf gegen den Krieg spielte der 1916 veröffentlichte Roman Le Feu (Das Feuer) von Henri Barbusse, der ein gewaltiges internationales Echo fand und zum Antikriegsroman schlechthin wurde. Darin wird das grausige Elend des Krieges aus der Perspektive des einfachen Frontsoldaten wahrheitsgetreu geschildert, und aus den leidvollen Erfahrungen erwächst mit innerer Konsequenz die Überzeugung: Das darf nicht wieder geschehen! Barbusse zeigte dann in dem 1919 erschienenen Roman Clarté (Klarheit), wie sich ein indifferenter Kleinbürger durch die Kriegserlebnisse zu einem verantwortungsbewußten Sozialisten entwickelte und damit den Kampf gegen den Krieg mit dem Eintreten für eine neue und gerechte Gesellschaftsordnung verband. Lenin maß beiden Romanen größte Bedeutung bei, fand er doch darin eine Bestätigung für das wachsende revolutionäre Bewußtsein in den Massen. Während der folgenden Jahre setzten sich Henri Barbusse und Romain Rolland stets kämpferisch für die Aufrechterhaltung des Friedens ein und zeigten sich als treue Freunde der jungen Sowjetrepublik. Als sich 1932 in Frankreich, nicht zuletzt durch die Aktionen der Französischen Kommunistischen Partei, breite Massen zum Kampf gegen Krieg und Faschismus zusammenschlössen, standen die beiden Schriftsteller mit an der Spitze dieser Bewegung und engagierten sich dafür als wirkungsvolle Publizisten.4 Die in der Vergangenheit entwickelten Projekte und Gedanken über den Frieden, die meist unmittelbar mit Idealen sozialer Gerechtigkeit, der Menschenwürde und des ökonomischen wie kulturellen Fortschritts verknüpft waren, können heute nicht als irrelevant abgetan werden, da die Herstellung eines dauerhaften Friedens epochale Bedeutung besitzt und mit der dynamischen Veränderung des internationalen Kräfteverhältnisses zugunsten des Sozialismus erstmals reale Möglichkeiten bestehen, den Krieg aus dem Leben der Völker und 87
Staaten zu verbannen. 5 Obwohl diese Friedensideen angesichts der jeweils vorhandenen historisch-gesellschaftlichen Realitäten Wunschträume bleiben mußten und höchstens in Ansätzen zur Erkenntnis der hauptsächlichen gesellschaftlichen Triebkräfte bei der Entfesselung von Kriegen vorstoßen konnten, vermitteln sie wertvolle Einsichten in die um die Friedensproblematik kreisenden Denkanstrengungen in der bisherigen Menschheitsgeschichte und damit für die Genese unserer eigenen Welterkenntnis in dieser Hinsicht. Ihre Kenntnis hilft zweifellos unser Geschichtsbewußtsein fundieren. Dank der durch den historischen Materialismus gewonnenen Einsichten wurde nachgewiesen, daß „das Privateigentum an den Produktionsmitteln in der Klassengesellschaft und die aus ihm entspringenden Triebkräfte der Ausbeutung und Unterdrückung, der Expansion und Eroberung, der Ausplünderung fremder Völker die allgemeine Ursache der Kriege zwischen Staaten und Nationen" 6 bilden. Für die Beurteilung der Friedensideen in Vergangenheit und Gegenwart ist diese Einsicht von grundlegender Bedeutung. Mit ihr in unmittelbarem Zusammenhang steht die gleichfalls von den Klassikern des Marxismus-Leninismus herausgestellte Tatsache, daß der Krieg die Fortsetzung einer bestimmten Politik mit gewaltsamen Mitteln ist und es deshalb unbedingt zwischen einem gerechten und einem ungerechten Krieg zu unterscheiden gilt. Während Raub- und Eroberungskriege eindeutig den Stempel der Ungerechtigkeit tragen, stellen Befreiungskriege, in denen ein Volk sich gegen Aggression von außen wehrt oder durch die es sich von Ausbeutung und sozialer Unterdrückung befreit, eine gerechte Sache dar. 7 Die bloße Erörterung von Friedensideen an sich führt nicht weiter; sie muß stets in Verbindung mit dem jeweils sich darin manifestierenden sozialen Inhalt erfolgen. Von einer Postulierung abstrakter, idealer Wertvorstellungen aus, wie dies vielfach in der bürgerlichen Friedensforschung geschieht, ergibt sich keine solide Basis für eine allseitige Beurteilung der betreffenden Vorstellungen von der Aufrechterhaltung des Friedens zwischen den Völkern. 8 Ohne gesellschaftlichen Gesamtbezug ist es nicht möglich, die jeweiligen Friedensideen in den realen Geschichtsprozeß einzuordnen und vom fortge-
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schrittensten Standpunkt gesellschaftlicher Entwicklung her zu werten. Der Friede ist, philosophisch gesehen, eine „historisch veränderliche Kategorie mit sozialökonomischen, sozialpolitischen, völkerrechtlichen, ethischen und anderen Aspekten" 9 . Der Inhalt der einzelnen Friedensprogramme und -projekte erhält letztlich durch die Dialektik des Klassenkampfes sein entscheidendes Gepräge. Dabei wird zugleich immer wieder sichtbar, wie der Krieg dem Wesen des Sozialismus widerspricht.10 Lenin hob hervor, daß die Sozialisten die Kriege zwischen den Völkern stets als barbarische und bestialische Sache verurteilt haben. 11 Und Karl Marx verkündete, daß das internationale Prinzip in der neuentstehenden Gesellschaft des Sozialismus „der F r i e d e sein wird, weil bei jeder Nation dasselbe Prinzip herrscht - die A r b e i t ! " 1 2 Eine der großen historischen Aufgaben der Arbeiterklasse besteht darin, nach den Gesellschaftsformationen antagonistischer Klassenwidersprüche auch den Krieg für immer aus der Menschheitsentwicklung auszuschalten. Da der Aufbau einer menschenwürdigen, klassenlosen Gesellschaft erst unter friedlichen Bedingungen voll zur Entfaltung zu gelangen vermag, gehört die Sicherung des Friedens für die Arbeiterklasse zum ureigensten Anliegen, ist sie mit ihren Klasseninteressen identisch. „Das Streben zum Frieden resultiert aus ihrer objektiven Klassenlage, aus ihrem internationalistischen Wesen, aus ihren Zielen, ihrem Charakter und ihren Interessen."13
Stimmen des Friedens im 16. und 17.
Jahrhundert
Im Gegensatz zu der Welt des Feudalismus und der Scholastik wurde durch die humanistische Bewegung eine diesseitsbetonte Weltsicht entwickelt, die bei all ihren Widersprüchen optimistisch gestimmt war und von der Größe und Würde des Menschen kündete. Mit dem Vordringen der Geldwirtschaft und des Kapitals war die miittelalterlich-ständische Ordnung immer stärker unterminiert worden und in einem Auflösungsprozeß begriffen. Ein neues, nicht mehr durch Mythologie oder Theologie vermitteltes Wirklichkeitsverhältnis begann 89
sich herauszubilden und förderte wesentlich den Blick für die Realitäten des Lebens. Mit der Entdeckung neuer Erdteile, dem Aufkommen neuer Techniken wie dem Buchdruck und der Gewinnung neuer Erkenntnisse in Anatomie, Mathematik, Mechanik, Architektur usw. erweiterte sich der Gesichtskreis in bemerkenswerter Weise. Für die weitere Entfaltung der Menschheit taten sich gewaltige Perspektiven auf. Die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis erschienen nahezu unbegrenzt. „Die Erde hörte auf, ein Jammertal zu sein, und das menschliche Leben war nicht länger eine Zeit der Vorbereitung auf das Jenseits; Welt und Leben waren ein Schatz, der genutzt und genossen werden konnte. Die Zeit wurde kostbar, das Lebenstempo beschleunigte sich, und der sich von der Macht der mittelalterlichen Weltanschauung befreiende Mensch hatte das Gefühl, er sei zu Leistungen ohnegleichen fähig. Der große Traum der Renaissance, das Endziel der in ihr zum Ausdruck kommenden Bestrebungen waren die allumfassende Harmonie der Welt, der Natur und des Menschen auf Erden." 14 In engem Zusammenhang mit diesen diesseitsbetonten Auffassungen und Idealen entstanden auch neue Vorstellungen über die Beziehungen zwischen den Völkern und die Notwendigkeit des Friedens für die weitere wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung. Sie fanden in der französischen Literatur des 16. Jahrhunderts vor allem im Werke von François Rabelais (1494-1553) umfassenden Ausdruck. Von seinen Zeitgenossen ein moderner Lukian genannt, gestaltete Rabelais in seinen Büchern über die Riesen Gargantua und Pantagruel in künstlerisch origineller Weise Themen, die von den Humanisten immer wieder zur Durchsetzung eines neuen diesseitsbetonten Weltbildes in den Mittelpunkt gerückt wurden. Daß er hierbei auch die Problematik von Krieg und Frieden anschnitt, war nicht zufällig, denn bedeutende Humanisten, die den Blick ihrer Zeitgenossen auf die für die weitere Menschheitsentwicklung ernsthaften Hemmnisse lenkten, sahen sich immer wieder mit den verheerenden Folgen der häufigen Kriege konfrontiert. Rabelais' Ideal friedlicher Politik erhielt erzählerische Gestalt vornehmlich in dem 1534 erschienenen Buch La Vie très 90
horrificque du Grand Gargantua, père de Pantagruel (Das höchst erstaunliche Leben des großen Gargantua, Vater des Pantagruel). Von den 58 Kapiteln dieses Werkes, das an die Tradition der Volksbücher über die Riesen anschloß und die Ritterromane parodierte, bilden nicht weniger als 26 (Kapitel 25-51) den durch Picrocholes kriegerischen Überfall bestimmten Romanabschnitt. Die bisherige Forschung bemühte sich nachzuweisen, daß die durch Picrocholes Einfall in Gargantuas Land heraufbeschworene Lage und deren Klärung ebenso wie viele andere Begebenheiten und Züge teilweise bis ins Detail den mittelalterlichen Ritterromanen nachgebildet seien. Davon ausgehend, folgert Jürgen von Stackelberg: „Zuerst versammelt der König seine Vasallen um sich und bricht ins Nachbarland ein (Rabelais I, 26), ein Bote bringt dem König des letzteren die Nachricht vom Einmarsch der Feinde (Rabelais I, 28), dieser erobert im Gegenzug das Land des Eindringlings (I, 48), besiegt ihn, nimmt dessen Hauptstadt ein, ihn selbst gefangen (I, 48) usw. Vor diesem Hintergrundgeschehen spielen sich dann die Heldentaten der einzelnen Rekken ab. Daß Rabelais hier wie immer viele Einzelheiten antiken Vorbildern entnimmt (Plutarch vor allem), ändert an dieser Imitatio ebensowenig wie die von Abel Lefranc und den Seinen ermittelte Lokalisierung des Pikrochollerkrieges in der Touraine und dessen Analogien zu Streitigkeiten, die sich zur Jugendzeit dort abgespielt haben. Die Tatsache des Einbaus solcher geographischen und zeitgeschichtlichen Fakten kann gegenüber der literarhistorischen Imitatio doch nur von sekundärer Bedeutung sein: diese bestimmt das Ganze, jene die Details." 15 Mit der Beachtung der literarischen Imitatio werden zwar grundlegende Probleme der Struktur des Werkes berührt, doch viel zu ungenügend die zur geistigen Welt der Vorlagen entwickelte inhaltliche Alternative mit berücksichtigt, deren Gehalt sich gerade hier nicht in einer Parodie grotesker Art auf das Nachgeahmte erschöpft. Wie in „Fürstenspiegeln" werden ja in diesem Abschnitt Grandgousier und Picrochole als zwei völlig entgegengesetzte Herrschertypen vorgestellt, die gerade durch ihr Verhältnis zum Krieg ihren Charakter zeigen: Grandgousier, der friedliebende, vorbildliche Landesvater, wie ihn 91
sich die meisten Humanisten des 16. Jahrhunderts als Herrscher wünschten, und Picrochole, der das Wohl seines Landes mißachtende kriegswütige Aggressor, dessen Politik symbolisch das verkörperte, was zahlreiche Humanisten der Renaissance bei den Königen und Fürsten ihrer Zeit heftig kritisierten und als Verbrechen brandmarkten. Grandgousier, Gargantuas Vater, unternimmt alles, um den Krieg zu vermeiden, den er dann doch als gerechten Verteidigungskrieg führen muß. Einem gefangenen Heerführer gibt er zu verstehen, wie schändlich Angriffskriege sind: „Die Zeit ist vorbei, da man solchergestalt die Länder zum Schaden seines Nächsten und Christenbruders erobern konnte. Es so den Alten, einem Herkules, Alexander, Hannibal, Scipio, Cäsar und anderen ihresgleichen nachzutun, ist wider den Geist des Evangelismus, das uns vorschreibt, daß wir ein jeglicher unsere Länder und Reiche wahren, schützen, regieren und verwalten und nicht feindselig in andere einfallen sollen. Was die Sarazenen und Barbaren vorzeiten Heldentum nannten, heißen wir heutzutage Räuberei und Gewalttaten." 16 Als der Aggressor besiegt war, ließen Grandgousier und Gargantua Großmut gegenüber dem besiegten Volk walten und schufen so die günstigsten Voraussetzungen für ein ungestörtes friedliches Nebeneinander, für einen dauerhaften Frieden. Die Kriegstreiber mußten nun produktive Arbeit verrichten, und zwar die Pressen in den Druckereien bedienen. Rabelais kommt in der Geschichte der Friedensideen deshalb besondere Bedeutung zu, weil er seit der Antike als einer der ersten die Problematik von Krieg und Frieden in der Volkssprache behandelte und sie darüber hinaus im Rahmen eines literarischen Werkes gestaltete. Er entwarf damit für die weitere literarische Entwicklung Muster satirisch-grotesker Darstellung, auf die in der Folgezeit Bezug genommen wurde. Selbst wenn sie zum Widerspruch herausforderten, zum Andersmachen anspornten, so verfehlten sie nicht ihre Wirkung. Voltaire beispielsweise hat bei seiner Satire auf den Krieg diese entsprechenden Partien ohne Zweifel mit beachtet. Seine von Bewunderung wie von Abneigung bestimmten Äußerungen über Rabelais' literarische Kunst lassen ebenfalls darauf schließen. 92
Die Verurteilung des Angriffskrieges durch Rabelais, sein Hinweis auf den innigen Zusammenhang zwischen wohlgeordneten, gerechten innenpolitischen Verhältnissen und friedliebender Politik gegenüber anderen Staaten bezeugten ebenso wie seine Kritik am Mönchstum, am scholastischen Bildungsbetrieb und an rein äußerlich christlichen Lebensformen eine Geistesverwandtschaft mit Erasmus von Rotterdam. Rabelais nannte ihn in einem Brief aus dem Jahre 1532 seinen geistigen Vater, pries ihn als Protektor und Verteidiger der Wissenschaften, als unbesiegbaren Streiter für die Wahrheit. 17 Die Rabelais-Forschung hat in zahlreichen Studien nachgewiesen, welche Impulse von Erasmus in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf den französischen Humanismus, speziell auf das literarische Schaffen Rabelais', ausgingen. Hinsichtlich der Friedensideen nahm Erasmus von Rotterdam mit am intensivsten wahr, was der Humanismus der Renaissance an neuen Einsichten gestattete. 18 Auch wenn Erasmus keine Friedensprojekte, wie sie dann im 17. und 18. Jahrhundert aufkamen, entwarf, so brachte er doch Argumente gegen den Krieg vor, die auf eine Überwindung mittelalterlicher Vorstellungen hinausliefen und der Säkularisierung dienten. Entgegen mittelalterlicher Auffassung erblickte er im Krieg vor allem nicht mehr die Folge menschlicher Sünde, sondern das Ergebnis zu überwindender menschlicher Unvernunft und Verblendung. Für Erasmus war die Verknüpfung von antikem Denken und christlicher Haltung im Sinne des Evangeliums charakteristisch. Der Frieden galt ihm als teuerstes menschliches Gut und als Prüfstein bei der Beurteilung christlichen Handelns. Frieden als grundlegende Forderung im Sinne der Vernunft wie auch christlicher „pietas" und „caritas" durchsetzen zu helfen, betrachtete er als hohe Verpflichtung. Von der Antike, besonders von der stoischen Überlieferung, übernahm er den Gedanken von der Harmonie des Kosmos, das Argument, daß sich Tiere derselben Gattung nicht im Kampfe töten, und die Idee, daß nach menschlicher Vernunft der Krieg widersinnig und dem Gemeinwohl schädlich sei. Erasmus' gesamtes Lebenswerk wird leitmotivartig durchzogen von der Anklage gegen den Krieg und dem Lob des Friedens. Seine bekanntesten Schriften waren in dieser Hin93
sieht die Querela Pacis (Klage des Friedens; 1517) und der Artikel Dulce bellum inexpertis (Süß ist der Krieg den Unerfahrenen), der erstmals in der erweiterten Ausgabe seiner Adagia 1515 erschien. Einzelne bemerkenswerte pazifistische Ideen brachte er ferner vor in seiner sehr lebendig geschriebenen satirischen Schrift Morias enkomion (Lob der Torheit; 1511), in der Abhandlung über die Erziehung des vorbildlichen christlichen Herrschers Institutio prineipis christiani (1516) und in seinen Colloquia familiaria (Vertraute Gespräche; 1518). Als Erasmus seine Querela Pacis verfaßte, dachte er an den geplanten Friedenskongreß von Cambrai, der den Kaiser, die Könige von Frankreich und England sowie das weltliche Oberhaupt von Burgund zur Herbeiführung eines dauerhaften Friedens an einem Tisch vereinigen sollte. Mit seinen Argumenten wollte er diese Herrscher davon überzeugen, wie sehr die Sicherung eines allgemeinen Friedens am besten ihren Interessen und denen ihrer Völker entspräche. Auch wenn Erasmus diese Hoffnungen zerschellen sah und sein anfänglicher Optimismus, was die Einsicht der herrschenden Mächte seiner Zeit anging, sich immer mehr in Pessimismus verwandelte, wurde er dennoch nicht müde, die Vorteile des Friedens zu propagieren und den Widersinn des Krieges zu geißeln. In Erasmus' Querela Pacis tritt der Friede in personifizierter Gestalt auf und bringt leidenschaftlich seine Argumente für das Wohl der Menschheit vor. Es ist ein Plädoyer, bei dem der Autor auf antike Friedensideen zurückgriff und zugleich, von neueren geschichtlichen Erfahrungen ausgehend, überprüfte, ob die Grundsätze des Evangeliums in seiner Zeit Beachtung fänden. Das Ergebnis seiner Untersuchungen ist vernichtend. Obgleich das Alte und das Neue Testament Eintracht und Frieden predigen, folgerte Erasmus, ist das Leben der Christen von Kriegen erfüllt. Wie aber reimen sich Heerlager und christliche Kirche zusammen? läßt Erasmus von der personifizierten Gestalt des Friedens die Frage zuspitzen. Besonders entrüstet wird festgestellt, wie häufig und wie brutal Christen einander bekriegen. Dabei schüren christliche Würdenträger noch den Krieg statt zum Frieden zu mahnen. Der Frieden klagt dies mit den Worten an: „Bei den Christen 94
entflammen die Gott geweihten Priester und die sich noch heiliger dünkenden Mönche die Gemüter der Fürsten und des Volkes zu Mord und Vernichtung. Und sie machen die Posaune des Evangeliums zur Posaune des Mars. Ihrer Würde vergessend, rennen sie auf und ab, und nichts gibt es, was sie nicht tun oder in Kauf nehmen, wenn sie nur Krieg anstiften können; und durch sie werden Fürsten, die sonst vielleicht zur Erhaltung des Friedens geneigt wären, zum Kampfe aufgestachelt, wiewohl ihr Ansehen die Aufrührer hätte beschwichtigen können."19 Erasmus hebt in der Querela Pacis hervor, daß die Volksmassen am meisten unter dem Krieg zu leiden haben, obgleich sie selbst keinen Anlaß zum Krieg geben. Dynastische Interessen, Habsucht, Ruhmsucht und Ehrgeiz der Fürsten führten zum Krieg, der selbst im Fall eines Sieges das Land schwäche. Nur ein Herrscher, der sein Amt in erster Linie im Dienste seines Volkes ausübe, vermöchte auch als friedliebender Fürst zum Wohle seiner Untertanen zu wirken. Symptomatisch für Erasmus' pazifistisch-humanistische Einstellung war auch seine Stellungnahme zum Projekt des gemeinsamen Kampfes der christlichen Völker gegen die Türken» die nach der 1453 erfolgten Eroberung Konstantinopels mit ihren Heeren nach Europa vorrückten und 1529 sogar vor Wien standen. Seit dem späten Mittelalter fehlte es nicht an Plänen, statt des Kampfes der Christen gegeneinander, gemeinsam gegen die Osmanen im Vorderen Orient zu kämpfen. Zu diesem Zweck sollte eine Konföderation christlicher Staaten gebildet werden, die dem kriegerischen Geschehen in Europa Einhalt gebietet und die gemeinsame militärische Macht gegen die andersgläubigen Völker richtet. In Frankreich war in dieser Hinsicht vor allem Pierre Dubois zu Beginn des 14. Jahrhunderts hervorgetreten. Vom 15. bis weit ins 17. Jahrhundert hinein spielte dann die Idee des nunmehr gegen das Osmanische Imperium gerichteten Kreuzzuges immer wieder eine wichtige Rolle in den pazifistisch verbrämten Überlegungen, die trotz des Gedankens der Befriedung keine echt pazifistische Lösung in Europa ansteuerten und überdies vielfach für machtpolitische Konzeptionen herhalten mußten. Erasmus war nicht geneigt, diesen Plänen seine Reverenz 95
zu erweisen. Die darin enthaltene machtpolitische Komponente spürte er sofort als seiner humanistischen Grundgesinnung widersprechend auf. Der Friede unter den christlichen Völkern sollte seines Erachtens nicht mit einem als „heiligen Krieg" deklarierten Feldzug gegen die Türken kompensiert werden. Statt mit Waffengewalt sollten die Türken durch Belehrung, Wohltaten und lauteren Lebenswandel für den christlichen Glauben gewonnen werden. Schon zwei Jahre früher hatte Erasmus in Dulce bellum inexpertis vermerkt, daß es um die christliche Religion schlecht bestellt sei, wenn für ihren Bestand zu diesem Mittel gegriffen werden müsse. Auf solchem Wege seien keine guten Christen zu gewinnen. Nur das eigene Beispiel könne Andersdenkende überzeugen. Erasmus folgerte daher: „Willst du Türken zu Christen machen, so laß uns doch nicht mit unseren Geldmitteln, unserer Kriegsmannschaft, unseren Streitkräften anrücken. Sie sollen bei uns nicht nur den Namen, sondern die Kennzeichen des wahren Christen schauen."20 Obgleich Erasmus die Notwendigkeit betonte, sich gegen die einbrechenden Türkenheere tatkräftig zur Wehr zu setzen, sah er sich zunehmend wegen seiner Ablehnung des christlichen Angriffskrieges gegen die Osmanen heftigen Angriffen von verschiedensten Seiten ausgesetzt. So schrieb er u. a. am 14. August 1518 an Paul Volz: „Wenn jemand daran erinnert, es sei wahrhaft apostolisch, die Türken lieber auf christlichem Wege als mit Waffengewalt fromm zu machen, so kommt ei sofort in den Verdacht, er lehre, man dürfe die Türken in keiner Weise in Schranken halten, wenn sie die Christen angreifen." 21 Seine 1530 verfaßte XJtilissima adbortatio de bello Turcis inferendo (Sehr nützliche Ermahnung betreffs des Krieges gegen die Türken) bestätigte noch einmal, daß er sehr wohl für den Verteidigungskrieg gegen die osmanischen Truppen plädierte, nicht aber bereit war, die von vielen Zeitgenossen vorgebrachten Parolen eines heiligen Feldzuges gegen sie nachzubeten. Die im Mittelalter immer wieder mit chiliastischen Heilserwartungen verknüpfte Idee einer den Völkerfrieden verheissenden Universalmonarchie, mit der verschiedene Humanisten auf dem Höhepunkt der Machtentfaltung Karls V. kurze Zeit 96
sympathisiert hatten, wurde im 16. Jahrhundert mit dem Aufkommen der jungen Nationalstaaten immer mehr verworfen. Sie erschien nur noch als eine überholte Vorstellung, der sich nach Weltmacht strebende Herrscher ungerechtfertigt zu bemächtigen suchten. Auch Erasmus kam schließlich zu der Erkenntnis, daß der Weg zum Frieden über die Universalmonarchie nicht gangbar war. Zahlreiche Humanisten Frankreichs und Spaniens betonten, wie sehr der in Form der zentralisierten Monarchie sich herausbildende Nationalstaat eine Beendigung der feudalen Wirren und damit eine innenpolitische Befriedung erreichte, die eine wesentliche Voraussetzung für die Entfaltung von Wirtschaft, Recht, Kultur und Wissenschaften brachte. In den Wirren der Religions- und Bürgerkriege in Frankreich während der letzten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts waren viele Humanisten weiterhin bemüht, die nationalen Belange der Monarchie gegenüber feudalen Streugewalten beider Konfessionen ins öffentliche Bewußtsein zu rücken. Die meisten dieser Männer gehörten zur Gruppierung der „politiques" und setzten sich für religiöse Toleranz und Stärkung der monarchischen Gewalt ein. Jean Bodin, der bedeutendste Vertreter dieser von breiten Schichten des Bürgertums und vornehmlich vom Amtsadel, der „noblesse de robe", unterstützen Fraktion der Mitte, trug mit der in seinem Werk Les six Livres de la République (Die sechs Bücher vom Staat; 1576) entwikkelten Theorie von der staatlichen Souveränität wesentlich zur Rechtfertigung der monarchischen Zentralgewalt bei, ohne in „machiavellistische" Bahnen zu gelangen. Pazifistische internationalistische Gedankengänge wurden dabei von Bodin allerdings nicht vorgebracht. Sie lagen viel zu sehr außerhalb seines Gesichtskreises. Generelle Schlüsse im Hinblick auf das Erfordernis des Friedens unter den Völkern wurden hingegen gezogen in einem 1585 in Paris anonym erschienenen Traktat mit dem Titel Apologie de la Paix, représentant tant les profficts et commodités que la Paix nous produict que les malheurs, confusions, et désordres qui naissent durant la guerre (Apologie des Friedens, wobei sowohl die Vorteile und Annehmlichkeiten gezeigt werden, die der Frieden uns bringt, als auch das Unglück, die Wirrnisse und Zerrüttungen, die während des Krieges 7
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entstehen). Der offensichtlich auch den „politiques" nahestehende Autor rühmte die zivilisatorische Kraft des Friedens und bezog sich in seiner Argumentation auf die Bibel, die Kirchenväter und die antike Literatur sowie auf biologische Vorstellungen von der Harmonie der Elemente. Mit Nachdruck wies er die Behauptung zurück, daß der Friede die Menschen verweichliche und unterstrich die produktive Arbeit, die sich in Zeiten des Friedens voll zum Segen der Menschheit auszuwirken vermag und hohen erzieherischen Wert besitzt.22 Michel de Montaigne (1533-1592), der sich als Angehöriger des Amtsadels in den innerpolitischen Auseinandersetzungen ebenfalls den „politiques" verbunden fühlte, dachte in seinen Essais (1580 ff.) auch über das Wesen zwischenstaatlicher Verhältnisse und über die Verschiedenartigkeit der Völker nach. In seinen Überlegungen spielte die aus der Entdeckung anderer Kontinente und Völker resultierende Erweiterung des Blickfeldes eine maßgebliche Rolle. Die neuentdeckten Völker mit ihren vielfältigen Lebensformen, Sitten und Gebräuchen, wie sie in der umfangreichen Reiseliteratur des 16. Jahrhunderts geschildert wurden, bestärkten Montaigne in seiner skeptizistischen Weltsicht. Die teilweise religiös verbrämten naturrechtlichen Normen einer universalen Sittlichkeit, wie sie vor Montaigne verkündet worden waren, ließen sich nicht mit diesen Berichten in Übereinstimmung bringen. In der Relativität der Erscheinungen sah er ein Grundprinzip, das weitreichende Konsequenzen nach sich zog. Unter diesem Blickpunkt wurden nicht nur tradierte Anschauungen und Normen der mittelalterlich-scholastischen Welt völlig in Frage gestellt, sondern zugleich auch die dominierende europazentristische Perspektive beträchtlich in Zweifel gezogen. Die üblichen Wertungsmaßstäbe versagten nunmehr. Auf dem Wege der Durchsetzung eines modernen, universal orientierten säkularisierten Weltbildes wurden damit notwendige Schritte vollzogen, wenn auch diese im wesentlichen zunächst eine destruktive Funktion besaßen. Als Montaigne im 31. Kapitel des 1. Buches der Essais im Zusammenhang mit der eingeborenen Bevölkerung Amerikas der Frage nachging, was als Barbarei zu betrachten sei, wies er nach, in welchem Maße hierbei Vorurteile maßgebend 98
waren. Da gewöhnlich alles das als Barbarei bezeichnet werde, was ungewohnt sei, herrsche meistens die Ansicht vor, daß nur die Anschauungen und Bräuche des eigenen Landes richtig und vernünftig seien. Doch diese Meinung, entgegnete Montaigne, sei völlig unbegründet. Er wandte sich deshalb gegen das Überlegenheitsgefühl seiner Landsleute und argumentierte, daß ja die sogenannten barbarischen Völker der Natur viel näher ständen als das eigene Volk. Bei diesen amerikanischen Stämmen meinte Montaigne eine einfache Natürlichkeit vorzufinden, wie sie sich nicht einmal die Dichter und Philosophen in ihren Vorstellungen vom „Goldenen Zeitalter" auszumalen vermochten. Ein Vergleich mit den Europäern fiele zu ihren Gunsten aus. Selbst wenn viele ihrer Handlungen, Sitten und Gebräuche barbarisch, d. h. vernunftwidrig erschienen, wiesen sie noch nicht den hohen Grad der in Europa herrschenden Barbarei auf. Anlaß, Zweck und Mittel ihrer Kriegsführung erachtete er hierfür als charakteristisch: „Was sie zum Kampf treibt, ist eine hohe und edle Gesinnung; wenn am Kriege, dieser Pest der Menschheit, irgend etwas schön und entschuldbar ist, so findet sich das bei ihnen. Bei ihnen bedeutet der Kampf nur eine Kraftprobe. Sie streiten nicht, um neue Gebiete zu erobern; denn die Natur ist bei ihnen noch so reich, daß sie ihnen ohne Mühe und Arbeit alles liefert, was sie brauchen, und zwar so reichlich, daß es für sie zwecklos wäre, ihr Gebiet zu erweitern. Sind sie doch noch in der glücklichen Verfassung, daß sie keine weitergehenden Wünsche haben als solche, die auf die Befriedigung ihrer natürlichen Bedürfnisse hinausgehen."23 Die Habsucht als wesentliches Motiv der von europäischen Staaten geführten Kriege wurde von Montaigne immer wieder betont. Vor allem stellte er heraus, wie in den neuentdeckten amerikanischen Ländern aus reiner Habgier gegen die Eingeborenen Krieg geführt wurde. Die Gier nach Gold führte zu brutaler Unterdrückung der eingesessenen Stämme, und das war seines Erachtens die schmutzigste Form des verwerflichen Angriffskrieges. Im 6. Kapitel des 3. Buches seiner Essais zog Montaigne die Bilanz dieser räuberischen Kolonialpolitik: „Zerstörte Städte, ausgerottete Völker, Millionen erschlagener Menschen, völliger Umsturz im reichsten und schönsten Welt7*
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teil, nur weil man Perlen und Pfeffer einheimsen wollte! Es waren Siege ohne höheren Sinn."24 Wie schon Las Casas nahm Montaigne in erster Linie die spanische Kolonialpolitik aufs Korn. Bis ins 18. Jahrhundert hinein verurteilte kaum ein Schriftsteller die kolonialen Eroberungskriege so heftig als räuberisch und verbrecherisch wie Montaigne. Karl Marx hat im Kapital gezeigt, wie die brutale Ausbeutung der Eingeborenen in den neuentdeckten Ländern mit der ursprünglichen Akkumulation, den kapitalistischen Anfängen, zusammenhing: „Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute, bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation. Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem Erdrund als Schauplatz."25 In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als in Frankreich eine politische Literatur entstand, die im Sinne des sich formierenden feudalabsolutistischen Staates dem Begriff der Staatsräson besondere Aufmerksamkeit widmete, erschienen zwei bemerkenswerte Abhandlungen über die Friedensproblematik: Le 'Nouveau Cynee ou Discours d'Es tat représentant les occasions & moyens d'establir une paix generaUe & la liberté du commerce par tout le monde (Der neue Kineas Oder Staatsreden über die Gelegenheiten und Mittel, einen allgemeinen Frieden und die Handelsfreiheit auf der ganzen Welt zu errichten; Paris 1623) von Émeric Crucé und der dem französischen König Heinrich IV. zugeschriebene Grand Dessein (Große Plan), den Sully selbst entworfen und in seine Memoiren Oeconomies Royales (Königliche Wirtschaft) eingefügt hatte. Der erste Teil dieses Großen Planes wurde 1638 veröffentlicht. Nach den schmerzvollen Erfahrungen der blutigen inneren Wirren in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts und angesichts der neuen feindseligen Unternehmungen Richelieus gegen Spanien war das Verlangen nach Verwirklichung eines allgemeinen Friedens unüberhörbar geworden. Gegenüber der 100
laut werdenden Kritik an den kriegerischen Aktionen beteuerten Richelieu und die seine Interessen vertretenden Publizisten, daß diese Politik kein anderes Ziel als den Frieden habe. Zur Herstellung des europäischen Gleichgewichts, das damals als entscheidender Faktor für die Aufrechterhaltung eines allgemeinen Friedens hingestellt wurde, gelte es, Spanien mit seinen Ansprüchen auf Vorherrschaft zurechtzuweisen, lautete Richelieus machtpolitische Argumentation.26 Der in der Geschichte der französischen Literatur wenig bekannte Émeric Crucé (1590-1648) entwickelte in seinem Nouveau Cynee hinsichtlich der Friedensproblematik einige vorwärtsweisende Ideen, die entscheidend neue Akzente brachten und besonders in der Aufklärung Bedeutung erlangten. Christliche oder konfessionelle Kriterien spielten bei ihm keine Rolle mehr. In seinen Überlegungen zeichnete sich ein völlig säkularisierter Standpunkt ab. Schon im Vorwort entgegnete er den Theologen seiner Zeit, die bei ihren Zeitgenossen allzu leicht Häresie witterten, daß der Kampf gegen Unmenschlichkeit und damit gegen den Krieg absoluten Vorrang habe: „Vornehmlich aber gilt es, das allgemeinste Laster auszurotten, das die Quelle aller anderen ist, nämlich die Inhumanität. Denn Häresie besteht nicht in jedem Zeitalter, noch bei allen Völkern, und der Atheismus ist noch seltener."27 Crucé ließ sich von universellen Maßstäben leiten. E r wollte alle Völker in die zu errichtende Friedensgemeinschaft einbezogen wissen, insbesondere auch die Türken, gegen die noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mehrere Kreuzzugspläne geschmiedet wurden. Die Einheit der Menschheit bildete für ihn ein unumstößliches Prinzip. In den vorhandenen Gegensätzen zwischen den Völkern erblickte er keine unüberbrückbaren, antagonistischen Widersprüche. In beiderseitigem Interesse wären stets Lösungen möglich. Davon ausgehend, unterbreitete er Vorstellungen, die hauptsächlich auf wirtschafts- und handelspolitischen Überlegungen basierten. Der Gedanke einer internationalen Interessenharmonie war zwar schon in der Antike vorgebracht worden, doch erst Crucé baute ahn nach rein ökonomischen Erwägungen in verschiedene Richtungen hin aus.28 Sein Grundsatz war, daß sich selbst im Falle eines Sieges kein Krieg lohnte, da die daraus für die 101
wirtschaftliche Entwicklung des eigenen Landes erwachsenden Nachteile stets größer wären als jeder mit Waffengewalt erreichte Gewinn. Die Handelsfreiheit erachtete er als wesentliche Voraussetzung dafür, die Interessen der Völker in Übereinstimmung zu bringen und so Kriege zu vermeiden. Wenn Konflikte zwischen Staaten auftauchten, dann sollten diese auf einer Gesandtenkonferenz der souveränen Herrscher in Venedig geschlichtet werden. Und Crucé ließ keinen Zweifel daran, daß derartige Konflikte aus der Welt zu schaffen wären. Diese Konferenz sollte bindende Beschlüsse fassen. Würde ihnen nicht Folge geleistet, könnten Sanktionen gegen den betreffenden Staat eingeleitet werden. Entscheidende Bedeutung maß Crucé den innenpolitischen Verhältnissen bei. Sein Ideal verkörperte in dieser Hinsicht die absolute Monarchie, welche die Entwicklung der Wirtschaft maßgeblich zu fördern und konsequent die Handelsfreiheit durchzusetzen verstände. Er hob die nützliche Rolle der Bauern, der Handwerker und der Kaufleute im Staatswesen hervor, plädierte zur weiteren Entwicklung des Handels für die Schiffbarmachung der Flüsse und für den Bau von Kanälen und forderte gleiche Bedingungen für alle diejenigen, die sich dem Handel widmen, einschließlich der ausländischen Bürger. Alles, was den internationalen Handel behindere oder beeinträchtige, müsse vermieden werden. In Crucés Überlegungen zur Erreichung eines allgemeinen Weltfriedens spielten Grundsätze der Freihandelslehre eine wesentliche Rolle. Dies widersprach der damaligen politischen Praxis, denn der feudalabsolutistische französische Staat begann, sich auf eine merkantilistische Politik zu orientieren und damit gegenüber dem ausländischen Handel die Funktion einer Protektionsmacht für die nationalen wirtschaftlichen Belange auszuüben. Allerdings schloß sich Crucé seinen Zeitgenossen an, was die Kolonialpolitik betraf. In seinem Traicté de l'oeconomie politique (Traktat über politische Ökonomie; 1615) hatte Montchrétien darauf hingewiesen, daß besonders hoher Gewinn für die nationale Wirtschaft durch die Eroberung und Ausbeutung von Kolonien in den überseeischen Gebieten zu erlangen sei. Crucé kritisierte diese Angriffskriege der europäischen Länder bezeichnenderweise nicht als zu vermeidende Kriege. 102
Seine Ausführungen darüber zeugten nicht von humanistischem Geist und bildeten einen völligen Gegensatz zu Montaignes Einstellung gegenüber den Eingeborenen der neuentdeckten Gebiete: „Die wilden Völker, die von ihrer Vernunft keinen Gebrauch machen, stelle ich auf die Stufe der Tiere. Sie werden ebenso einen gerechten Anlaß zum Krieg ergeben wie die Piraten und Diebe, die nur auf Raub aus sind." 29 Bei seinem Friedensplan rechnete Crucé mit der Einsicht der souveränen Herrscher, die er von ihren Interessen her anzusprechen versuchte. Er wandte sich von vornherein gegen den Vorwurf, daß seine Vorschläge chimärischen Charakter besäßen und wiie Piatons Staat nur Wunschgebilde seien. Sein Hauptargument war, daß schon einmal in der Antike, zur Zeit des Kaisers Augustus, ein solcher anzubahnender Zustand des Weltfriedens geherrscht habe. Damit wollte Crucé nur seinem hauptsächlichen Anliegen mehr Nachdruck verleihen, nicht aber einer neuen Universalmonarchie das Wort reden; denn viel zu stark war er von dem Gedanken des aufstrebenden Nationalstaates feudalabsolutistischen Gepräges erfüllt. Der wohl namhafteste Verfechter von Friedensideen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war zweifellos der Herzog von Sully. 30 Mit Bitterkeit stellte er fest, daß immer wieder Kriege ausbrechen, obwohl ganz Europa am Frieden interessiert sei. Offensichtlich würde nur Frieden geschlossen, damit ein Krieg begonnen werden kann, bemerkte er sarkastisch. Zwischen 1617 und 1638 entwickelte er deshalb den Grand Dessein31 (Großen Plan) zur Befriedung Europas. Dieses Projekt lief auf eine territoriale Neuordnung hinaus, wobei das europäische Gleichgewicht und das gleichberechtigte Nebeneinander der drei führenden christlichen Konfessionen sowie der souveränen Einzelstaaten die Leitideen darstellten. Europa sollte aus fünfzehn ungefähr gleich starken Staaten bestehen, die zusammen einen Bund, eine „république chrétienne" bilden und auf kriegerische Auseinandersetzungen untereinander verzichten. Zur Schlichtung aufkommender Zwistigkeiten zwischen diesen Staaten schlug er einen Bundesrat vor, in den jeder der fünfzehn Staaten vier bzw. zwei Vertreter zu entsenden hätte. Nach der inneren Befriedung Europas sollte dann die vereinte und geballte Kraft dieser Länder gegen das 103
Osmanische Reich gerichtet werden. Dies zeigt, daß die damals in Frankreich besonders von dem einflußreichen Pater Joseph inszenierte Kampagne eines Kreuzzuges gegen die Türken auch Sully beschäftigte. Über den Charakter dieses Friedensplanes gibt es recht widersprüchliche Auffassungen. Nach einigen Forschern verbarg sich hinter diesem Projekt nur die Machtpolitik der französischen Krone. Dieser Plan hätte zwar im Sinne des europäischen Gleichgewichts die habsburgische Machtposition wesentlich gemindert, doch lief die vorgeschlagene territoriale Neuordnung keineswegs auf eine machtpolitische Suprematie der französischen Monarchie hinaus. Sully meinte, daß selbst ein Krieg in Kauf genommen werden müßte, wenn sich das habsburgische Herrscherhaus gegen die vorgesehene territoriale Neuordnung sträuben würde. Dies wäre dann allerdings eine Art notwendiger Endkrieg zur Herbeiführung des sehnlich erhofften allgemeinen Friedens. Die geschichtliche Bedeutung des Grand Dessein erstreckt sich in erster Linie auf seine publizistische Nachwirkung, die im wesentlichen in zwei Richtungen verlief. Erstens lenkte sie den Blick auf die Notwendigkeit völkerrechtlicher Abmachungen. Der berühmte holländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius (1583-1645) hatte hierzu in seinem Werk De jure belli ac pacis (Vom Recht des Krieges und des Friedens; Paris 1625) grundlegende Hinweise gebracht, insbesondere die Schiedssprechung zur Beilegung internationaler Streitigkeiten empfohlen. Auch Crucé, den Grotius wahrscheinlich kannte, schenkte ja diesem Aspekt große Aufmerksamkeit. Zweitens zeitigte Sullys Insinuation, wonach der französische König Heinrich IV. der eigentliche Autor des Großen Plans gewesen sei, beträchtliche Konsequenzen. D a ß sich ein bekannter Herrscher selbst dieser so schwierigen Problematik annahm und eine Lösung vorschlug, mußte aufhorchen lassen. Das Bild Heinrichs IV. als eines vorbildlichen, gerechten, friedliebenden und sich für die Interessen seines Volkes einsetzenden Herrschers, wie es später die Aufklärer zeichneten, wurde dadurch maßgeblich ergänzt. Als in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts das Regime Ludwigs XIV. in der sich formierenden öffentlichen Meinung als völlig abgewirtschaftet galt, wurde Heinrich IV. immer mehr 104
als Gegenpol herausgestellt. In Voltaires Epos La Henriade fand dies seinen poetischen Ausdruck. Auch der Abbé de Saint-Pierre bezog sich iin seinen Friedensbemühungen ganz bewußt auf den Heinrich IV. zugeschriebenen Grand Dessein. Voltaire allerdings hegte große Zweifel, ob Heinrich IV. wirklich dieses Friedensprojekt entworfen habe.
Die Kritik an der absolutistischen Kriegspolitik Ludwigs
XIV.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts stieß das feudalabsolutistische Regime Ludwigs XIV. mehr denn je auf die Grenzen, seiner Machtentfaltung. In vielen gesellschaftlichen Bereichen wurde sichtbar, daßauchder „Sonnenkönig" seineMachtnichtins unermeßliche steigern konnte. Seine so verheißungsvoll begonnene Regierung hatte nach wenigen Jahrzehnten großen Teilen des französischen Volkes, besonders in den Provinzen, wachsendes Elend gebracht. Durch die fortgesetzten Kriege und die damit verbundene Steigerung der finanziellen Ausbeutung gelangte das Land an den Rand des Ruins. Daher war es nicht verwunderlich, daß der Tod Ludwigs XIV. im Jahre 1715 vielfach Jubel auslöste; denn das Volk konnte endlich neue Hoffnung auf Besserung der unerträglich gewordenen Lage schöpfen. Für die damalige Stimmung charakteristisch waren die folgenden, dem Dichter Jean-Baptiste Rousseau zugeschriebenen Verse einer Grabschrift: „Hier ruht der König der Steuererpresser, Der Parteigänger der Wucherer, Der Sklave einer unwürdigen Frau, Der geschworene Feind des Friedens. Betet ja nicht zu Gott für seine Seele, Ein solches Ungeheuer hat gar keine."32 Hier werden zwei Merkmale hervorgehoben, die zu jener Zeit im Mittelpunkt der Kritik am Feudalabsolutismus standen: Steuererpressung und unheilvolle Kriegspolitik. Ohne Zweifel führten die ständigen Kriege Ludwigs XIV., die mit dem Streben nach Hegemonie in Europa und der forcierten Kolo105
nialpolitik unmittelbar verknüpft waren, zum wirtschaftlichen Niedergang des Landes und zum Staatsbankrott. Die Angehörigen des dritten Standes, hauptsächlich die bäuerlichen Schichten, waren ärgstem Steuerdruck ausgesetzt. Verwerflichste Methoden der Geldbeschaffung wurden nicht gescheut, wenn es um die Finanzierung von Kriegen ging. Während die Hofhaltung immer glänzender wurde, nahm die Ausbeutung des Volkes mehr und mehr zu, und vor allem in den Provinzen herrschte bitterste Not. Die bis auf den letzten Blutstropfen ausgesaugten Bauern, die sich teilweise gegen diese brutale Ausbeutung erhoben hatten und blutig unterdrückt worden waren, vermochten die für den Krieg benötigten Unsummen nicht länger aufzubringen, so daß die Schuldenlast ständig stieg. 1715 betrug sie das achtzehn- bis zwanzigfache der jährlichen Staatseinnahmen. 33 Die merkantilistische Steuer- und Gewerbepolitik unter Ludwig XIV. war auf die Finanzierung ständiger Kriege ausgerichtet, die der Machtvergrößerung dienen sollten. „Der Handel ist die Quelle der Finanzen, und die Finanzen sind der Lebensnerv des Krieges" 34 , bemerkte Colbert. Dieses in Frankreich bereits von Richelieu vertretene Prinzip, wonach die Geldmittel für die Expansionspolitik eines Staates der „archimedische Punkt" 35 wären, wurde allerdings erst nach der 1683 erfolgten Entlassung Colberts mit aller Konsequenz in der Praxis verfochten. Unter Colberts Nachfolger Louvois zerstörte man die finanziellen Quellen der Machtentfaltung immer mehr dadurch, „daß man sie vorzeitig für militärische Abenteuer in Anspruch nahm, statt sie erst zu voller Stärke sich auswachsen zu lassen" 36 . In dieser Situation wurden viele Stimmen laut, die zur Abschaffung der größten Mißbräuche und zur Reform drängten. Seit der Niederschlagung der Fronde (1648-1652) wesentlich zurückgedrängt, trat die Kritik an der Praxis des feudalabsolutistischen Regimes gegen Ende des 17. Jahrhunderts von neuem an die Oberfläche. Oppositionelle Stimmen kamen in erster Linie aus den Kreisen der den Repressalien unterliegenden französischen Protestanten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685) ihr Land verlassen mußten, und aus dem französischen Hochadel, der dem König die Be106
schneidung seiner politischen Machtbefugnisse nicht verzieh. 37 Die Schädlichkeit der absolutistischen Kriegspolitik für die sozialökonomische Entwicklung Frankreichs bildete dabei eines der von der Opposition behandelten Themen. Unter den im holländischen Exil lebenden französischen Protestanten 38 führte insbesondere Pierre Jurieu (1637-1713) einen unerbittlichen ideologischen Kampf gegen das Regime Ludwigs XIV. Er brandmarkte es als Tyrannei und bezog sich in der von ihm ausgearbeiteten Gegenposition auf die rechtshistorische Tradition des Herrschaftsvertrages, die er in Annäherung an die „bill of rights", eine Errungenschaft der bürgerlichen Revolution in England, durch die Unveräußerlichkeit bestimmter Individualrechte gegenüber staatlicher Gewalt modifizierte. Er engagierte sich für den Krieg gegen Ludwig XIV., den die zu Verteidigungszwecken gegründete Augsburger Liga unter Wilhelm III. von Oranien zu führen hatte. Andere Hugenotten hingegen sahen in diesem Krieg ein Verhängnis, hatten sie doch den Gedanken einer friedlichen Rückkehr nach Frankreich niemals aufgegeben. Sie entwickelten vereinzelt pazifistische Gedankengänge, beklagten die Eroberungs- und Ruhmsucht der Herrscher und die Sinnlosigkeit der Kriege. Elie Saurin schrieb: „Ich bin überzeugt, d a ß von 1000 Kriegen 999, die Verteidigungskriege eingeschlossen, völlig überflüssig waren." 39 Pierre Bayle (1647-1706), die wohl bedeutendste Persönlichkeit des Refuge in Holland, trug zur Klärung der in seiner Zeit aufgeworfenen Friedensprobleme insofern entscheidend bei, als er im Hinblick auf den Begriff der Toleranz eine grundlegend neue Blickrichtung eröffnete. 40 Er klammerte kompromißlos die Religion aus dem Bereich von Politik und Moral aus. Streng unterschied er zwischen Kirche und Staat. Der religiöse Glaube wurde in die Sphäre des Privaten verwiesen und die Sicherung der Gewissensfreiheit zu einer Grundforderung innerhalb der staatlichen Ordnung erhoben. Damit unterstützte er wirkungsvoll den weiteren • Säkularisierungsprozeß. 41 Religiösen Motiven zur Führung von Kriegen, u. a. der sich zählebig haltenden Forderung des gemeinsamen Kampfes der christlichen Völker Europas gegen die Macht der Osmanen, wurde durch seine tiefdringende Argumentation jede Grundlage entzogen. 107
Innerhalb der feudalaristokratischen Opposition war Fénelon (1651-1715) ohne Zweifel der bedeutendste Kopf. Er schloß an Vorstellungen an, die wenige Jahre vor ihm schon einige, meist mit ihm befreundete Geistesverwandte entwickelt hatten. Diese gehörten zum antimerkantilistisch eingestellten Kreis um den Parlamentspräsidenten Lamoignon, so vor allem Claude Fleury (1640-1723) und Géraud de Cordemoy (1626-1684). In seinem 1668 veröffentlichten Traktat De la Réformation d'un état (Von der Reformierung eines Staates), in dem Cordemoy nach Piatons Art das Ideal eines monarchisch regierten Ständestaates entwarf, wurde auch das Porträt eines friedliebenden Herrschers geboten. Da Eroberungen immer nur auf Gewalt und Rechtsanmaßung zurückzuführen seien, kaufte dieser König zur Sicherung der Grenzen die Gebiete, die er hätte besetzen können. In einer später verfaßten Schrift formulierte Cordemoy: „Den Raub einer Provinz nennt man Anständigkeit und die abscheulichste Tyrannei Eroberung. So verändert man in der Geschichte gewöhnlich den Namen gewisser Verbrechen."42 Fleury vermerkte, daß sogar gerechte Eroberungen nicht wünschenswert wären. Ebenso sei der Krieg, selbst der gerechte, immer ein Übel. 43 Aus den Reihen der Adelsopposition kam indessen die wirkungsvollste Kritik am Regime des Sonnenkönigs von Fénelon. Insbesondere sein Erziehungsroman Les Aventures de Télémaque (Telemachs Abenteuer; 1699) erlangte in diesem Sinne beträchtliche Relevanz. Er sollte zur Belehrung des Thronfolgers dienen und war in seinem Kern eine einzige Widerlegung der absolutistischen Politik Ludwigs XIV. Die Eroberungssucht der Herrscher wurde immer wieder angeprangert. Im 5. Buch erklärt Fénelon, daß es dem Volk überhaupt nichts nützt, wenn ein König um des Ruhmes willen stets neue Eroberungen macht. Sie bedeuteten im Gegenteil nur den Ruin des Volkes. Länger dauernde Kriege zögen im Innern des Landes stets Elend nach sich. Das gelte nicht nur für die Besiegten, sondern auch für die Sieger. Über den eroberungstüchtigen Herrscher schrieb er: „Ein solcher Mensch scheint geboren zu sein, um die Welt zu zerstören, zu verwüsten und umzustürzen."44 Ihm stellte Fénelon den Friedensfürsten gegenüber, der nicht auf gewaltsamen Machterwerb ausgeht, sondern die 108
Hauptaufgabe in der Beglückung seines Volkes sieht. Zu anderen Völkern unterhält dieser Herrscher ein friedliches Verhältnis und erwirbt ihr Vertrauen durch eine offene, von Ehrlichkeit getragene Außenpolitik; nur gegen feindliche Angriffe setzt er sich zur Wehr. Immer wieder betonte Fenelon, wie zweifelhaft der Ruhm eines Eroberers sei. D a wahrhafter Ruhm in Maßhalten und Güte bestehe, sollte es das Bestreben der Könige sein, ihr Land zum Wohle der Untertanen weise und gerecht zu regieren und andere Völker nicht zu unterjochen. Die Tatsache, daß Kriege bisher, wie die Geschichte es deutlich zeigt, unvermeidlich waren, folgerte Fenelon, gereiche der Menschheit zur Schande. 45 Er ging von dem Grundsatz aus, daß alle Völker der Erde nur verschiedene Familien desselben Staates wären und Gott ihr gemeinsamer Vater. Daher sollten auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen die Prinzipien der Brüderlichkeit gelten. Mit Nachdruck unterstrich er hierbei die innere Einheit der christlichen Staaten Europas. In der Politik des europäischen Gleichgewichts sah er eine entscheidende Grundlage für die Erhaltung des Friedens; denn dadurch würde verhindert, daß eine Großmacht die kleinen Staaten unterjocht.46 Fenelons Kritik an der Kriegspolitik wie überhaupt am gesamten absolutistischen Staatswesen Ludwigs des XIV. war für die politischen Bestrebungen der Feudalkräfte jener Zeit charakteristisch. Diese hatten damals ein großes Bedürfnis nach Frieden und vermochten sich so zum Anwalt breiter öffentlicher Interessen zu machen. Das zeigte sich deutlich in den von Fenelon und dem Herzog von Chevreuse ausgearbeiteten Regierungsplänen, 47 die 1711 dem Herzog von Burgund vorgeschlagen wurden, als der Spanische Erbfolgekrieg Frankreich an den Rand des Abgrunds gebracht hatte und die vereinigten österreichischen, englischen und holländischen Truppen bereits auf französischem Boden standen. Die Feudalkreise verspürten keine Lust, sich der absolutistischen Kriegspolitik zu verschreiben, denn die absolute Monarchie beschnitt immer mehr ihre Einflußsphären und Rechte. Je länger der Krieg dauerte, um so offenkundiger wurde dies. 48 Außerdem wirkten sich die ständigen Kriege sehr schädlich auf die Landwirtschaft aus und 109
verringerten die Einkünfte der feudalen Grundherren fast um die Hälfte. 49 Während der Feudaladel politisch wie ökonomisch durch die Kriege Ludwigs XIV. an Einfluß verlor, wuchs die Macht eines Teiles der Großbourgeoisie. Die Bankiers und Rüstungslieferanten verdienten an diesen Kriegen unermeßliche Summen, und inmitten des allgemeinen Niedergangs hoben sich ihr Reichtum und ihre Prunksucht von dem Elend der übrigen Bevölkerungsschichten, besonders der breiten Masse des Volkes ab. Vergeblich verlangten Fenelon, Boulainvilliers und der Herzog von Chevreuse als Sprecher der Feudalen die Unterdrückung der „financiers". Fenelon stützte sich nicht wie die Naturrechtler des 17. Jahrhunderts oder die späteren Aufklärer auf naturrechtliche Prinzipien, sondern versuchte mit dem christlichen Argument der Brüderlichkeit den Frieden als den eigentlichen Menschheitszustand zu verteidigen. Überhaupt war es für sein Denken charakteristisch, daß er das auf den antiken Denktraditionen der Stoa und der Epikureer fußende profane Naturrecht der Neuzeit konsequent ablehnte. Diese Lehre mit ihren konstitutiven Elementen des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages stellte für ihn ein absurdes Phantasiegebilde dar. 50 Er vertrat eine feudalistische, organische Staatsauffassung, die von patriarchalischen Zügen geprägt war. Für den Durchbruch zum neuen bürgerlichen Denken, das in der Staatslehre vom Individuum ausging, brachte er kein Verständnis auf. Trotz aller feudalen Prämissen fand Fenelons Kritik an der absolutistischen Kriegspolitik jedoch lebhaften Widerhall, da sie den größten Teil des französischen Volkes unmittelbar ansprechen mußte. Fenelon griff hierbei Themen auf, die von beträchtlicher, allgemein gesellschaftlicher Relevanz waren und dann in der Aufklärung vielfach in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt wurden: die erforderliche Übereinstimmung von Sonder- und Allgemeininteresse, das Glück der Menschen als Ziel und Aufgabe der Politik, das Verhältnis von Moral und Politik und der Zusammenhang zwischen dem eigenen Volk und der Menschheit insgesamt. Indem Fenelon in Telemachs Abenteuern mit Salente das Bild eines idealen menschlichen Gemeinwesens bot, gab er nicht nur der weiteren Entwicklung der utopischen staatspolitischen Literatur wichtige 110
Impulse, sondern vermittelte auch der allgemeinen Diskussion über politische Grundfragen ständig Anregungen. Noch Robespierre bezog sich darauf, als er erklärte, daß es Salente zu gründen gelte, d. h. ein vorbildliches Staatswesen zu errichten. 51 Als die Misere in den französischen Provinzen immer drastischere Formen annahm, traten der Festungsbaumeister Marschall Vauban (1633-1707) und der Parlamentsrat Boisguillebert (1646-1714) mit bemerkenswerten Reformvorschlägen auf den Plan, die eine Fundierung und Erneuerung des feudalabsolutistischen Regimes bewirken sollten.52 Vauban, für den eine hohe Bevölkerungszahl den Reichtum eines Landes ausmachte, konstatierte mit Entsetzen die zunehmende Entvölkerung Frankreichs und sann nach Auswegen aus diesem Dilemma. Er ging zunächst den Gründen hierfür nach und erkannte sie in maßloser Kriegspolitik und erpresserischem Steuerdruck. Zugleich wies er darauf hin, welche katastrophalen wirtschaftlichen und außenpolitischen Folgen die Aufhebung des Ediktes von Nantes für die französische Monarchie hatte. Vauban hielt die Sicherung des Friedens für eine ganz entscheidende Aufgabe, da dringend erforderliche Reformen nur in Zeiten des Friedens erfolgreich durchgeführt werden könnten. In ähnliche Richtung zielte Boisguillebert, der wesentlich tiefer als Vauban in volkswirtschaftliche Zusammenhänge eindrang und als ein Vorläufer der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden Nationalökonomie gilt. Beide hoben hervor, welche Schlüsselstellung die werktätigen Massen für die nationale Wirtschaft besaßen und wie sie infolge der bestehenden elenden Lebensbedingungen ihre Arbeitskraft nicht zum Wohl des Landes zu entfalten vermochten. Da diese Reformer noch in den Vorstellungen einer ständischen Ordnung verhaftet waren und mit dem traditionellen Vergleich von Staat und menschlichem Körper operierten, lag es ihnen fern, revolutionäre Folgerungen zu entwickeln. Aus ihren Analysen ging allerdings hervor, daß eine verhältnismäßig geringe Zahl privilegierter und begüterter Schichten einer in Not und Elend lebenden breiten Masse gegenüberstand. Auch Jean de La Bruyère (1645-1696) deutete in seinem berühmten menschenkundlichen Werk Les Caractères (Die Charaktere; 1688) sehr plastisch, geistvoll und satirisch an, 111
•daß die breiten Schichten des Volkes eine gesellschaftlich nützliche Arbeit verrichteten, während durch Geburt und Reichtum begünstigte Standespersonen deren Nutznießer sind und ein Parasitendasein führen. Doch bei aller Schärfe seiner Gesellschaftskritik kam ihm der Gedanke einer erforderlichen Veränderung der sozialen Gegebenheiten niemals in den Sinn. Er besaß eine jansenistisch gefärbte pessimistische Weltsicht, •die für zahlreiche Angehörige des französischen Bürgertums im 17. Jahrhundert charakteristisch war. Dieser Pessimismus hing mit dem Dilemma großer Teile des Bürgertums zusammen, das zu seiner Selbstbehauptung noch des Feudalabsolutismus bedurfte, sich zugleich aber immer wieder Übergriffen der Krone in seine unmittelbare Lebenssphäre ausgesetzt sah. In dieser frustrierten Situation fanden sich zwar verschiedene bürgerliche Schriftsteller der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wie La Bruyère mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen ab, doch begegneten sie ihnen zugleich mit unverhohlener Verachtung. Gegenüber den maßlosen Ansprüchen •des absolutistischen Regimes bezogen sie teilweise eine Haltung des passiven Widerstands. Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts erlangte das Bürgertum die Macht und das Selbstbewußtsein, mit den ideologischen Waffen des Naturrechts die -ständische Ordnung offen in Frage zu stellen, sie als widernatürlich anzuprangern. In der Beurteilung von Krieg und Frieden zeigte sich bei La Bruyère, daß er zum einen unerbittlich den Krieg verurteilte, zum andern keine echte Möglichkeit sah, hier Abhilfe zu schaffen. Er stellte in seinen Charakteren heraus, wie die Menschen ihre Vernunft dazu verwandt haben, immer gefährlichere Waffen zu entwickeln. Sie wären so tief unter die Tiere herabgesunken: „Nun, als vernunftbegabte Tiere habt ihr euch ja, um euch vor jenen auszuzeichnen, die sich nur ihrer Zähne und Krallen bedienen, Lanzen, Piken, Spieße, Schwerter und Säbel erdacht, und wie mir scheint, mit großem Scharfsinn . . . Da eure Vernunft aber von Jahr zu Jahr wächst, so seid ihr über diese veraltete Art, euch umzubringen, längst hinausgediehen: ihr habt kleine Kugeln, die euch im Nu töten, falls sie euch Kopf oder Brust treffen; ihr habt noch andre, schwerere und dickere, die euch in Stücke reißen, die ungerechnet, 112
welche Dächer und Decken durchbrechen, vom Speicher bis zum Keller fahren, das Fundament zertrümmern und samt den Häusern eure Weiber, die im Wochenbett liegen, Kind und Amme in die Luft sprengen." 53 La Bruyère betrachtete den Krieg stets vom Blickpunkt seiner verheerenden Auswirkungen und als Zeichen menschlicher Schwäche, die er, wie schon Biaise Pascal (1623-1662) in Übereinstimmung mit patristischen Traditionen religiös erklärte und auf die „Ungerechtigkeit" der ersten Menschen zurückführte. Die folgenden Äußerungen illustrieren dies und zeigen, daß La Bruyère zwar ein Ankläger des Krieges war, doch durch seine pessimistische Weltsicht keine Hoffnung auf Veränderung der bestehenden Verhältnisse besaß: „Krieg gab es zu allen Zeiten: immer hat er die Welt mit Witwen und Waisen erfüllt, die Familien der Erben beraubt und Brüder in einer Schlacht umkommen lassen . . . Zu allen Zeiten sind Menschen übereingekommen, um ein Fleckchen Erde mehr oder weniger einander zu berauben, zu verbrennen, zu töten und umzubringen; und um dabei geschickter und sicherer zu verfahren, haben sie treffliche Regeln ausgesonnen, die man Kriegskunst nennt." 54 Eine andere bürgerliche Position jener Zeit im Hinblick auf die Friedensthematik bekundete sich bei dem Dichter Houdar de La Motte (1672-1731). Er war ein eifriger Vertreter des Fortschrittsgedankens und ein Repräsentant jener bürgerlichen, vielfach merkantilistisch eingestellten Schichten, die unter der Protektion des Königs Kultur, Wissenschaften und Künste entschieden über die Antike hinaus weiterentwickelt wissen wollten. Die Hauptaufgabe der Monarchie bestände vornehmlich darin, die friedlichen Kräfte der Wissenschaften, der Künste und des Handels zu fördern. Dieses Thema wird von La Motte besonders in der Ode La Paix (Der Frieden) behandelt. 55 Darin wies Houdar de La Motte auch darauf hin, wie sehr der Frieden dem Parnaß teuer sei, wie der Frieden erst die Möglichkeit zur vollen Entfaltung der schönen Künste schaffe. Niemals ¿rfüllt die Poesie ihre Aufgabe, betonte der Dichter, wenn sie trunkene Eroberer besingt. 56 Damit schloß er sich einer antiken Tradition an, die besonders in der stoischeA Lehre zu belegen war 5 7 und in der Renaissance wieder auflebte. Houdar de La Motte war einer der ersten, die in 8
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der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts diesen Gedanken aufnahmen, der für die folgende Zeit der französischen Aufklärung zentrale Bedeutung erhalten sollte. Er möchte von den schönen Künsten den Fürsten gefeiert wissen, der gerecht ist und nur für den Frieden kämpft, der die Kriegszeiten beklagt, weil er dann die Förderung der Künste unterbrechen muß. 58 In dieser Ode brachte La Motte ferner den bereits von der Stoa entwickelten Gedanken vor, daß die Menschheit eine Einheit bilde und der Name „humanité" verpflichtend sei. Daran anknüpfend, ging er auf die völkerverbindende Aufgabe des Handels ein, die sich aus den verschiedenen Bedürfnissen der Menschen ergebe.59 Diese Auffassung war zwar bereits am Anfang des 17. Jahrhunderts von Crucé im Sinne der Notwendigkeit eines universalen Friedens entwickelt worden, doch erst im 18. Jahrhundert gewann sie zentrale Bedeutung und wurde von den Physiokraten unter universal ökonomischen Gesichtspunkten den absolutistisch-merkantilistischen Handelsprinzipien gegenübergestellt. Als 1715 Ludwig XIV. starb, waren in der französischen Literatur schon wesentliche Einwände gegen seine für das Land so unheilvolle Eroberungspolitik vorgebracht worden. Während der Régence wurde diese Kritik noch umfassender und verdichtete sich. Dafür war auch außenpolitisch ein günstiger Boden vorhanden; denn der Regent Philipp von Orléans suchte seine Position zu festigen und wehrte sich vor allem gegen die Thronansprüche Philipps V. von Spanien, welcher, von den ultramontanen Kreisen des alten französischen Hofes unterstützt, seine Sache mit Waffengewalt zu entscheiden suchte.60 In dieser Situation bemühte sich der Regent, unbedingt Rückhalt durch Sicherung des Friedens mit England zu erlangen.61 Sein Staatssekretär Dubois, dem es um die Fundierung der Herrschaft dés Regenten zu tun wat, bemühte sich zu dieser Zeit eifrig darum, Frankreich Kriege zu ersparen. Er prägte die Maxime: „Die auswärtigen Angelegenheiten sind die Seele des Staates."62 Ùer Pariser Advokat Barbier vermerkte in seinem Journal, daß Dubois darauf aus sei, durch Verhandlungen Kriege zu vermeiden. 63 Im Gegensatz zur Politik des „Sonnenkönigs" versuchte Dubois, auf jeden Fall mit England 114
Frieden zu halten. Er zeigte bei diesen Bemühungen großen Eifer und viel Energie, so daß ihm seine Gegner vorwarfen, er sei von England gekauft. 64 Da die französische Außenpolitik der Régencezeit entschieden bemüht war, Kriegen unbedingt auszuweichen, fanden pazifistische Tendenzen in der Öffentlichkeit mehr denn je Resonanz und in der Literatur einen fruchtbaren Boden. Die Kritik an der absolutistischen Kriegspolitik Ludwigs XIV. kam in der Retrospektive zu breiter Entfaltung. Treffende Bemerkungen bot in dieser Hinsicht insbesondere die 1721 erschienene kecke Schrift Lettres persanes (Persische Briefe) von Montesquieu (1689-1755). Im 95. Brief behandelte der Verfasser ausschließlich das Problem von Krieg und Frieden sowie die Frage der internationalen Beziehungen schlechthin. 65 Dabei stellte er verschiedene Maximen auf, die in der folgenden Aufklärungsliteratur bei der Erörterung des Friedens vielfach in den Mittelpunkt gerückt wurden : Auf Gerechtigkeit sollte seiner Ansicht nach nicht nur im Innern, sondern auch in den Beziehungen zwischen den Völkern geachtet werden. Für ihn existierten zwei Arten von gerechten Kriegen. Entweder gelte es, einen feindlichen Aggressor zurückzuschlagen oder einem angegriffenen Verbündeten Hilfe zu leisten. Auch die Ansicht, wonach Eroberung noch kein Recht auf Unterjochung gibt, verfocht er und nahm sie der Spätaufklärung vorweg, die diesen Gedanken besonders unter Verwerfung der Konzeptionen von Grotius und Pufendorf im Sinne nationaler Selbstbestimmung erweiterte. Ein Friedensvertrag vermochte nach Montesquieu nur dann Bestand zu haben, wenn er auch dem Unterlegenen normale Lebensbedingungen sicherte, da andernfalls bereits der Keim zu einem neuen Krieg gelegt wäre. Diese Maximen erweiterte Montesquieu in De l'Esprit des lois (Vom Geist der Gesetze), wobei sich ein Trend zum Konformismus abzeichnete. In diesem 1748 erschienenen Spätwerk vertrat er zum Beispiel den Präventivkrieg 66 und setzte sich damit einer heftigen Kritik Voltaires aus. In seinem 1734 publizierten Geschichtswerk Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (Betrachtungen über die Ursachen der Größe und des Niedergangs der Römer) bemühte sich Montesquieu um den Nachweis, daß die Kaiserherrschaft nicht nur 8«
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das Ende der republikanischen Freiheit bedeutete, sondern durch ihre Expansions- und Eroberungspolitik zugleich den Grund für den Untergang des Römischen Reiches legte.
Der Abbé de Saint-Pierre und sein Friedensplan In jener Zeit, als Ludwig XIV. durch seine ständigen Kriege Frankreich in großes Elend brachte, als La Bruyère, Fénelon und andere Schriftsteller den Krieg als menschliche Unvernunft anprangerten, beschäftigte sich auch der Abbé de Saint-Pierre eingehend mit dem politischen System des Absolutismus und der damit verbundenen Kriegspolitik. 67 Er verwarf nicht nur den Krieg als größtes Übel der Menschheit, sondern befaßte sich auch mit der Frage, wie hier Abhilfe zu schaffen sei. Er versuchte, die theoretischen Voraussetzungen für die Herbeiführung eines beständigen Friedens zu entwickeln, indem er von den bestehenden politischen Machtverhältnissen ausging. Unter den Kritikern der absolutistischen Kriegspolitik Ludwigs XIV. war Saint-Pierre zweifellos der große konstruktive Denker im Hinblick auf die Friedensthematik. Immer wieder bemühte er sich, das Problem zu lösen, wie Kriege vermieden und Grundlagen für ein friedliches Nebeneinander der Völker - zumindest in Europa - gelegt werden könnten. Seine Friedensbestrebungen und -pläne wurden im 18. Jahrhundert mehr oder minder eingehend geprüft. Viele Aufklärer, die der Sicherung des Friedens eine grundlegende Bedeutung beimaßen, beschäftigten sich mit ihnen. Selbst diejenigen Männer, die über Saint-Pierres Plan eines ewigen Friedens spöttische Bemerkungen machten, sahen in ihm zumindest ein Programm von genereller Relevanz. Der am 18. Februar 1658 geborene Charles Irénée de SaintPierre entstammte einem nicht allzu begüterten normannischen Adelsgeschlecht. Wie für die meisten jungen Leute seines Standes ergab sich auch für ihn die Frage, ob er sein Glück in der kirchlichen oder in der militärischen Laufbahn versuchen sollte. Wegen seiner schwachen körperlichen Konstitution entschied er sich für den geistlichen Stand. Er bezog das Jesuitenkolleg in Rouen und anschließend das von Caën, wo er vor allem 116
Naturwissenschaften und Moralphilosophie studierte und Descartes' Lehre ihn stark beeindruckte. Diese Studien vertiefte Saint-Pierre, als er sich 1680 nach dem Tode seines Vaters in Paris niederließ und dort bei verschiedenen Gelehrten und gesellschaftlich hochstehenden Persönlichkeiten verkehrte. In jener Zeit begann er, sich mehr mit politischen Fragen zu befassen. Für Saint-Pierres weitere Entwicklung war von Bedeutung, daß er in Paris mit Fontenelle, seinem ehemaligen Kameraden aus dem Collège de Rouen, zusammentraf, und beide ihre Freundschaft erneuerten. In der Gelehrtenwelt wie auch in den Salons der Hauptstadt hatte Fontenelles Name bereits einen guten Klang. Durch Fontenelle, der inzwischen zum Mitglied der Französischen Akademie gewählt worden war, wurde Saint-Pierre in den bekannten Salon der Madame de Lambert eingeführt, wo die Vertreter der „Modernen" verkehrten. Madame de Lambert und Fontenelle verhalfen Saint-Pierre im Jahre 1695 zu einem Sitz in der Akademie, obwohl er in der „Gelehrtenrepublik" noch nicht weiter bekannt war. Man wußte jedoch sehr wohl, daß die „Modernen" mit ihm einen Parteigänger mehr in dieser Institution besitzen würden. Der Streit zwischen den „Anciens" und den „Modernes" um das Problem, ob ein Fortschritt über die Antike hinaus möglich sei oder nicht, war im Kern nicht nur ein Literaturstreit; denn letzten Endes ging es darum, ob die Kulturpolitik des königlichen Absolutismus den Fortschritt über die Antike hinaus möglich gemacht hat. Dahinter standen gesellschaftliche Kräfte: einerseits die durch den Merkantilismus und den zentralistischen Verwaltungsapparat mit dem Absolutismus verbundenen bürgerlichen Schichten als „Moderne", andererseits Teile des Amtsadels und das Rentenbürgertum als „Alte", deren Grundhaltung Werner Krauss wie folgt charakterisiert: „Boileau, La Bruyère, La Fontaine, lauter typische Pariser Bürger, verteidigten mit dem Vorbild der Antike eine letzte Zuflucht vor dem alles fordernden Anspruch des Absolutismus. Der gesunde Instinkt dieser Männer fand keinen Grund, an den unbegrenzten Fortschritt der geschichtlich herrschenden Institutionen zu glauben." 68 Zur gleichen Zeit, als Saint-Pierre in die Französische Akademie aufgenommen wurde, kaufte er sich die Stelle des 117
ersten Geistlichen bei der Herzogin von Orléans, der Schwägerin Ludwigs XIV. Er wollte seinen Gesichtskreis und seine gesellschaftlichen Beziehungen erweitern und hoffte, das Hofleben in Versailles eingehend beobachten zu können. 1712 wurde für ihn ein erfahrungsreiches Jahr. Als der französische Gesandte Abbé de Polignac nach Utrecht zu der Friedenskonferenz reiste, die den Spanischen Erbfolgekrieg beenden sollte, war unter seinen Begleitpersonen höchstwahrscheinlich Saint-Pierre, der hier reichlich Gelegenheit fand, die damalige Praxis der europäischen Diplomatie zu studieren. „Der Frieden von Utrecht mit seinem alles beherrschenden Dogma vom europäischen Gleichgewicht, mit seinen ungemein schwierigen Fragen der Machtverteilung, der Erbfolge und des Erbverzichts mußte konstruktiven Geistern Anlaß geben, Völkergemeinschaftspläne moderner rationaler Art und Völkerbundsentwürfe zu schaffen."69 Der Abbé de Saint-Pierre wurde jedoch nicht erst durch die Erfahrungen von Utrecht dazu veranlaßt, Friedenspläne zu entwerfen. Diese Konferenz bestärkte ihn vielmehr darin, seine entsprechenden Projekte unbedingt weiter zu verfolgen, sie noch zu vervollkommnen. Den Gedanken eines europäischen Völkerbundes zur Herbeiführung und Sicherung eines ewigen Friedens hatte er schon einige Jahre früher gefaßt. In einer kleineren, 1708 veröffentlichten Schrift Mémoire SUT la réparation des chemins (Denkschrift über die Ausbesserung der Wege) erwähnte er zum erstenmal seinen Friedensplan. Und in einem Brief vom 28. Juni 1711 schrieb die Herzogin von Orléans ihrer Tante, der Kurfürstin Sophie von Hannover, daß der Abbé de SaintPierre an einem Projekt zur Herbeiführung eines ewigen Friedens arbeite. Sie übersandte ihr das erste Heft dieser Abhandlung und erwähnte, daß Saint-Pierre damit schon viel Spott geerntet habe.70 Doch dies sollte den Abbé nicht entmutigen. Immer beständiger und beharrlicher wurde er in seinen Anschauungen. 1712 veröffentlichte er anonym seinen Friedensplan mit dem Titel Mémoire pour rendre la paix perpétuelle en Europe (Denkschrift zur Erreichung eines ständigen Friedens in Europa). Dieses Werk erregte ziemliches Aufsehen und wurde je nach Einstellung und Gesinnung mit Lob oder Spott bedacht. Dar118
aufhin arbeitete der Abbé diesen Traktat um und nahm zu den vorgebrachten Einwänden Stellung. Das Ergebnis war seine Schrift Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe (Plan zur Erreichung eines ständigen Friedens in Europa), die er nun mit seinem Namen versah. Die beiden ersten Bände erschienen 1713 in Utrecht und der dritte Band 1717 in Lyon. Allerdings war auch hier als Erscheinungsort Utrecht angegeben. 71 Doch die vorgebrachten Einwände verstummten noch immer nicht, und der Autor blieb weiterhin dem Spott vieler Zeitgenossen ausgesetzt, denen die Lektüre dieses umfangreichen Planes mit seinem Für und Wider, mit seinen Vorschlägen und Einwänden schon durch ihre neue Schreibart verleidet wurde. Saint-Pierres Werk bot nicht nur eine trockene und schwerfällige Prosa, es war auch noch wie ein geometrisches Lehrbuch angelegt. Außerdem gebrauchte er eine neue, stärker der Lautung angepaßte Orthographie. Trotz aller Mißerfolge wurde der Abbé nicht müde, seine Friedenspläne immer wieder der Öffentlichkeit zu unterbreiten. 1729 erschien ein Abriß seines großen Friedensplanes von 1713, in dem er seine Hauptgedanken zusammenfaßte. Eine Neuauflage dieses Abrisses wurde nochmals 1738 herausgegeben. Auch in vielen kleineren Schriften kam der Verfasser immer wieder auf die Hauptpunkte seines Friedensplanes zu sprechen. Aufschlußreich war Saint-Pierres Stellung in der Zeit der Régence. Wie zwei seiner Brüder stand er im Dienste des Hauses von Orléans und nahm schon deshalb keine feindliche Position gegenüber dem Regenten Philipp von Orléans ein. Als Dubois, der spätere Premierminister und Kardinal, 1717 nach England reiste, um unbedingt die Sicherung des Friedens mit diesem Land zu erreichen, unterhielt der Abbé de SaintPierre einen regelmäßigen Briefwechsel mit ihm. 72 Beide kannten sich persönlich durch die Herzogin von Orléans. Regelmäßig teilte der Abbé seinem Briefpartner die neuesten Vorkommnisse mit und machte Dubois auf die gegen ihn gesponnenen Komplotte der alten Hofkreise aufmerksam. In der späteren Aufklärungsliteratur wurde im Zusammenhang mit dem Abbé de Saint-Pierre vielfach erwähnt, daß Dubois die Friedenspläne des Abbé als Träume eines „homme de bien" bezeichnet hätte. 73 119
Am 5. Mai 1718 wurde Saint-Pierre aus der Französischen Akademie ausgeschlossen. Ihm wurde vorgeworfen, in seiner soeben erschienenen Schrift La Polysynodie heftige Angriffe gegen den verstorbenen König Ludwig XIV. vorgebracht zu haben. Dieser einzigartige Vorfall erregte beträchtliches Aufsehen und hatte besondere Hintergründe. Durch seine eingehenden gesellschaftspolitischen Studien war dem Abbé immer deutlicher bewußt geworden, daß die ständigen Kriege Ludwigs XIV. katastrophale Folgen für das Land gezeitigt hatten. Er machte sich intensiver mit dem feudalabsolutistischen Regierungssystem vertraut, entdeckte viele Schwächen und stellte sie in mehreren Schriften bloß. In einer Abhandlung über die Einführung einer proportionalen Steuer (taille) beispielsweise schilderte er die drückenden Lasten und die Misere der unteren Volksschichten und sparte dabei nicht mit Bemerkungen, die für den verstorbenen König wenig schmeichelhaft waren. Dafür hatte er sich in der Akademiesitzung vom 14. Juni 1717 zu verantworten. Saint-Pierre übte Selbstkritik, und seine Akademiekollegen entschuldigten ihn damit, daß er aus „Übereifer für das öffentliche Wohl gesündigt habe" 74 . Als aber ein Jahr darauf seine Schrift La Polysynodie erschien, in der er an die Stelle mächtiger Minister mehrgliedrige Räte gesetzt haben wollte und dabei vor allem die absolutistische Politik Ludwigs XIV. heftig kritisierte, fanden die Mitglieder der Akademie keine Entschuldigung mehr für ihn. Ludwig XIV. war für sie nicht nur irgendein französischer König, sondern der Protektor ihrer Institution. Richelieu hatte zwar die Akademiegründung veranlaßt, aber erst Ludwig XIV. ihr im königlichen Haus, im Louvre, einen festen Sitz gegeben. Zudem war er um ihre Förderung sehr bemüht gewesen. Bei dem Akademieausschluß des Abbé de Saint-Pierre spielte aber noch ein anderer Umstand eine Rolle, der für die politische Situation der Régencezeit sehr charakteristisch war. Als 1718 die erwähnte Schrift erschien, waren besonders die Kreise des alten Hofes um Madame de Maintenon aufs äußerste empört.75 Der ebenfalls der Akademie angehörende Kardinal Polignac76 war mit diesem Kreis sehr liiert und bemühte sich, den Abbé schnell aus den Reihen der Akademie auszuschließen. Wie Dudos berichtete, wollten diese Kreise, die 120
sich Philipp von Spanien als Regenten wünschten, damit Philipp von Orléans demütigen; denn der Abbé war ja Almosenier bei dessen Mutter, der Herzogin von Orléans. 77 Aber auch der Regent fühlte sich durch dieses Werk des Abbé getroffen und sah darin einen Angriff auf die Monarchie schlechthin, obwohl er selbst mehrgliedrige Räte an Stelle mächtiger Ministerien gesetzt, sie jedoch auf Anraten Dubois' noch 1718, einige Monate nach dem Erscheinen der Polysynodie, wieder abgeschafft hatte. Da indessen der Regent veranlaßte, daß Abbé de Saint-Pierres Sitz in der Akademie erst nach dessen Tode wieder zu besetzen sei,78 blieb den Bestrebungen der ultramontanen Kreise des alten Hofes ein völliger Triumph versagt. Diesem Ereignis folgte eine Zeit, in der Saint-Pierre schriftstellerisch außerordentlich aktiv war und mit vielen Reformvorschlägen für das gesellschaftliche und politische Leben seiner Zeit aufwartete. Er wurde zum bedeutendsten Mitglied des „Club de l'Entresol", 79 wo bekannte Persönlichkeiten der Frühaufklärung, wie der Marquis d'Argenson, Ramsay, der Abbé Alaric und andere, zusammentrafen. Man diskutierte über die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Zeit und zog dazu auch ausländische, insbesondere englische und holländische Zeitungen heran. 1731 erklärte die Regierung Fleury, daß ihr diese Vereinigung suspekt erscheine und bezichtigte sie, eine geheime und staatsgefährliche Politik zu betreiben. Daraufhin löste sich der „Club de l'Entresol" auf. In diesem Club stießen neue philosophische und politische Ideen, wie sie hauptsächlich in England entwickelt worden waren, auf reges Interesse.80 Der englische Politiker Bolingbroke verkehrte dort während seiner französischen Emigrationszeit mehrere Jahre. 1726 hielt sogar der damalige Botschafter Englands in Frankreich, Horace Walpole, vor diesem Kreis eine Rede über die Notwendigkeit einer englisch-französischen Allianz. 81 Die Auflösung des „Club de l'Entresol" zeigte, daß zwischen der französischen Regierung und den Vertretern der Frühaufklärung eine wachsende Entfremdung eingetreten war und das einst mit der Regentschaft erreichte Einvernehmen kein Gewicht mehr besaß. „Die französische Intelligenz hatte damit das Forum verloren, auf dem die ermunternden Kon121
takte mit den berufenen Vertretern der freiheitlichen englischen Geisteswelt das Selbstvertrauen der philosophischen Fraktion in jeder Weise gefestigt hatten." 82 In seinen letzten Lebensjahren verkehrte Saint-Pierre vor allem im Salon der Madame Dupin de Chenonceaux, wo sich viele Schriftsteller trafen, so Fontenelle, Voltaire, Mably und andere. Madame Dupin begeisterte sich für die Ideen und Pläne des Abbé und beauftragte nach dessen Tode Jean-Jacques Rousseau damit, einen Auszug aus der Polysynodie und dem Projet de Paix perpétuelle anzufertigen. Bis zu seinem Tode am 29. April 1743 fand Saint-Pierre in Madame Dupin eine um ihn besorgte Gönnerin. Die Bestrebungen und Pläne des Abbé de Saint-Pierre zur Erreichung des ewigen Friedens standen mit seinen philosophischen und politischen Ansichten, die in mancher Hinsicht Descartes und Hobbes verpflichtet waren, 83 in enger Verbindung. Der Abbé de Saint-Pierre blieb dem Fortschrittsdenken bis an sein Lebensende treu, nahm es doch in seinem Weltbild eine Schlüsselposition ein. Seine Grundüberzeugung war, daß sich die Menschheit in einer konsequenten Fortschrittsentwicklung befände. Vornehmlich die Künste und Wissenschaften hätten die von den Parteigängern der „Alten" erbittert verteidigte Vorrangstellung der Antike weit übertroffen. Auf dem Gebiet der Politik und Moral hingegen wären wesentlich weniger Fortschritte erzielt worden, wenn auch Montaigne, Charron und Bodin höher als die betreffenden Autoren der Antike zu bewerten seien, denn die „Modernen" vermochten ja von den Erfahrungen und Erkenntnissen der Antike zu profitieren und diese weiterzuentwickeln.84 Ohne Zweifel erhielt der Abbé de Saint-Pierre hierbei wertvolle Anregungen von seinem Freund Fontenelle, der in seiner 1687 erschienenen Digression des Anciens et des Modernes (Abhandlung über die Alten und die Modernen) den Fortschritt der Menschheit nicht mehr mit dem stufenweisen Wachstum des einzelnen Menschen verglich, sondern von dem unbegrenzten Anwachsen der menschlichen Erkenntnisse ausging. „Die Erkenntnis, daß die Geschichte der Menschheit einer anderen Gesetzlichkeit gehorcht als die Geschichte des Menschen, war von fundamentaler Bedeutung. An die Stelle der zyklischen Geschichtstheorie drängt sich die 122
Vorstellung eines linearen, mechanisch konzipierten Wachstums der Erkenntnisse und der Erfahrungen." 85 Der Entwicklung der Wissenschaft maßen Fontenelle und Saint-Pierre unter diesem Blickpunkt eine entscheidende Bedeutung bei. Wie Fontenelle selbst berichtete, 86 diskutierte er ganze Tage mit dem Mathematiker Varignon und dem Abbé, die beide 1686 eine gemeinsame Wohnung bezogen hatten. Einen rascheren Fortschritt in den Bereichen der Politik und der Moral zu erzielen, betrachtete Saint-Pierre als sein Hauptanliegen. Ihm kam es insbesondere darauf an, daß an Politik und Moral wissenschaftliche Maßstäbe angelegt werden, damit gegenüber den recht offensichtlichen Fortschritten in Naturwissenschaft und Technik nicht mehr solch eine große Kluft bestände. Erst wenn Politik wissenschaftlich betrieben würde, könnten auch reale Grundlagen für die Verbesserung dér gesellschaftlichen Verhältnisse geschaffen werden. Die von ihm vorgeschlagene Bildung einer Akademie für Moral und Politik zielte in die gleiche Richtung. Die bestehenden französischen Akademien waren seines Erachtens viel zu wenig darauf ausgerichtet, zum allgemeinen gesellschaftlichen Wohl beizutragen. 87 Den grundlegenden Maßstab für die Beurteilung der einzelnen Wissenschaften und der schönen Künste meinte der Abbé in der gesellschaftlichen Nützlichkeit gefunden zu haben. Alle Wissenschaften und Künste, betonte er, wären in ihrem ständigen, aber entwicklungsmäßig unterschiedlichen Fortschritt der Gesellschaft nützlich, da sie zur Verringerung der menschlichen Übel und zur Vermehrung des menschlichen Wohls beitrügen, was wiederum zu einer Erhöhung des menschlichen Glücks führe. Der Moralphilosophie und der Politik, die sich mit der unmittelbaren Praxis zwischenmenschlicher Beziehungen beschäftigen, räumte Saint-Pierre hierbei den ersten Platz ein. Den sogenannten spekulativen Wissenschaften gestand er zwar auch zu, sich der Menschheit im Sinne des ständigen Fortschritts als nützlich zu erweisen, doch erfolge dies in viel geringerem Maße. Nach und nach führe die Verbreitung der gewonnenen Erkenntnisse auch zu einer veränderten Paxis in den zwischenmenschlichen Beziehungen. 88 Diese Gedanken brachte Saint-Pierre immer wieder vor und 123
legte sie im Sinne eines allmählichen Fortschritts der Menschheit aus. Bei der Verfolgung dieses Prozesses glaubte er drei Haupthindernisse herausgefunden zu haben, die ständig als störende Momente wirkten und die volle Entfaltung der „menschlichen Weisheit" und „universellen Vernunft" verhinderten: erstens die inneren und äußeren Kriege, zweitens der Aberglaube und die Ansicht, daß es in der menschlichen Gesellschaft keinen stetigen Fortschritt der Erkenntnis gebe, und drittens die Angst der Herrschenden, daß andere Menschen Fortschritte in den Staatswissenschaften machten. 89 Der Abbé de Saint-Pierre gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der französischen Frühaufklärung. E r bemühte sich um die Herausbildung politischer Wissenschaften, indem er ohne jedes Moralisieren darüber nachdachte, was zum öffentlichen Wohl beitragen und wodurch eine größere gesellschaftliche Nützlichkeit erreicht werden könnte. Sein Bestreben lief darauf hinaus, auf den verschiedenen Gebieten zwischenmenschlicher Beziehungen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, damit diese dann für den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt zielgerichtet genutzt werden. Dabei dominierte eine völlig säkulare Weltsicht. Religiöse oder gar konfessionelle Gesichtspunkte spielten keine Rolle. Mit Hilfe der Vernunft hoffte er, die einzelnen Phänomene zu analysieren und die jeweiligen Triebkräfte zu entdecken. Sein hauptsächliches Verdienst bestand darin, daß er besonders die Schädlichkeit der Kriege für die Menschheitsentwicklung unterstrich und Vorschläge zur Erreichung eines allgemeinen Friedens zwischen den Völkern unterbreitete. Daß er generell auch sozialen Fortschritt bewirkende Bürgerkriege unterbunden wissen wollte, zeugte nicht nur von seiner mechanischen Auffassung des Fortschritts, sondern auch von den Grenzen seiner gesellschaftspolitischen Konzeption. Kriege jeder Art bildeten für ihn das Haupthemmnis in der bisherigen und in der weiteren Entwicklung der Menschheit. Hierbei argumentierte er wie folgt: Die Kriege erzeugten große Armut, so daß die meisten Menschen gezwungen waren, in erster Linie für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie zu sorgen. Dadurch wurden sie daran gehindert, sich den Wissenschaften zu widmen. Armut war so notwendigerweise mit Ignoranz verbunden. 124
Daraus ergab sich weiterhin, daß unduldsamer Aberglaube herrschte. Das hielt die Menschen ab, Zweifel anzumelden, über gemachte Erfahrungen nachzudenken und Erkenntnisse zu gewinnen. Die Menschheit wäre in ihrer Entwicklung, in ihrem Wissen und damit in ihrem irdischen Glück Jahrhunderte weiter, wenn es die drei erwähnten Hindernisse, besonders Kriege, das hauptsächliche Hemmnis für die fortschreitende Entfaltung „menschlicher Weisheit", nicht gegeben hätte. Als die menschheitliche Entwicklung fördernde Faktoren, die trotz der erwähnten Hindernisse den bisherigen Fortschritt ermöglichten, betrachtete Saint-Pierre: erstens die zunehmende Entfaltung des Seehandels, zweitens das vertiefte Studium von Mathematik und Naturwissenschaften, drittens die Errichtung von Akademien und anderen wissenschaftlichen Institutionen, viertens die ständige Verbreitung des Buchdruckes, fünftens in den Nationalsprachen geschriebene Werke und sechstens die Lehre Descartes', die eine entscheidende Trennung zwischen der Welt des Geistes und der des Körpers vornahm.90 Aus diesen negativen wie positiven Aspekten in der Menschheitsentwicklung leitete Saint-Pierre die Notwendigkeit ab, Voraussetzungen für einen ständigen Frieden unter den Völkern und optimale Entwicklungsmöglichkeiten für den weiteren Fortschritt zum Wohle der Menschheit zu schaffen. Er folgerte: „Der Krieg wirft die bestverwalteten Staaten in die Barbarei zurück. Man hat schon lange gesagt, das Gesetz,verstumme im Kriege. Man kann sagen, wenn überall die Methoden für die geistige Bildung und die sitdiche Erziehung vervollkommnet würden, so würden die großen Männer unseres Zeitalters nur Schulbuben im Vergleich zu denen künftiger Zeiten sein. Was kann aber Europa diese große Vervollkommnung bescheren, wenn nicht ein ungestörter Friede?" 91 Der Abbé de Saint-Pierre propagierte seine Friedenspläne nicht nur in seinem Traktat vom ewigen Frieden und dessen Abriß sowie in kleineren Schriften, sondern nutzte auch alle sich ihm bietenden Möglichkeiten, auf Fürsten, Könige und Minister einzuwirken. In Gedenkschriften, in Briefen und Unterredungen suchte er sie von seinen Plänen zu überzeugen. Beißender Hohn konnte ihn nicht davon abbringen, immer wieder sein Friedensprojekt vorzutragen. Nicht unrecht hatte 125
Jean-Jacques Rousseau, wenn er schrieb, daß der Abbé de Saint-Pierre für seinen Friedensplan einen wahren Missionseifer entfaltete und dabei trotz aller offensichtlichen Mißerfolge, trotz des zu ertragenden Spottes eine bewundernswerte Beharrlichkeit an den Tag legte.92 Wie kein anderer vor ihm in der Geschichte der Friedensideen bemühte sich der Abbé, eine Bewegung für die Durchsetzung eines allgemeinen Friedens ins Leben zu rufen. Im Vorwort zu seinem Traktat vom ewigen Frieden berichtete Saint-Pierre, was ihn zu diesem Plan veranlaßt habe und welche Ziele er dabei verfolgte. Zunächst führte er an, daß er sich schon seit dreiundzwanzig Jahren gründlich mit politischen Fragen beschäftigt hätte - also seit ungefähr 1690 - und daß ihm das durch die Kriege hervorgerufene Elend tief zu Herzen gegangen wäre. Dem Ursprung dieses Übels wollte er auf die Spur kommen, insbesondere dem Problem nachgehen, ob der Krieg unlösbar mit der Natur der Völker und Herrscher verknüpft wäre oder nicht. Daraus entstand sein Friedensplan, den er dem Leser mit folgenden Worten vorlegte: „Er soll dieses System als ein ernstes und ausführbares Projekt ansehen, wie ich selbst es nur in der Hoffnung vorlege, daß es eines Tages zur Ausführung kommt." 93 Der Abbé erkannte, daß es unter den gegebenen Umständen nicht möglich war, einen ständigen Frieden in Europa aufrechtzuerhalten; denn die zwischen den einzelnen Staaten abgeschlossenen Verträge garantierten keinen dauerhaften Frieden, und die Friedensverträge bedeuteten in Wirklichkeit nichts anderes als Waffenstillstandsverträge. Er wies auf das Fehlen einer Oberhoheit hin, die durch höhere Gewalt die einzelnen Staaten zwänge, ihre gegenseitigen Verträge und Verpflichtungen einzuhalten, und leitete daraus die Notwendigkeit ab, einen Völkerbund auf der Grundlage souveräner Staaten zu bilden. Der seit dem Mittelalter immer wieder vorgebrachte Gedanke einer Universalmonarchie konnte seines Erachtens keine Lösung bringen und widersprach völlig den Interessen der sich formierenden Nationalstaaten. Er galt von vornherein als suspekt. Auch die Theorie vom europäischen Gleichgewicht war alles andere als ein Mittel zur Sicherung des Friedens in Europa: „Das Gleichgewicht der Macht 126
zwischen Frankreich und dem Haus Österreich bietet keine hinreichende Sicherheit für die Erhaltung der Staaten und die Fortdauer des Handels." 9,4 Die zwischenstaatlichen Beziehungen in Europa müßten neu geregelt werden. Um kriegerischen Auseinandersetzungen zuvorzukommen, sei der Zusammenschluß der europäischen Staaten zu einem Völkerbund erforderlich. Saint-Pierre lenkte in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auf schon vorhandene Anfänge einer Staatengemeinschaft in Europa und führte als Beispiel dafür die Niederlande, die Schweiz und das Deutsche Reich an. E r schrieb: „Die gleichen Beweggründe und Mittel, die damals ausgereicht haben, um einen dauernden Bund aller deutschen Staaten herbeizuführen, sind auch für uns vorhanden und genügen zur Bildung eines dauernden Bundes aller christlichen Staaten." 95 Nach seinem Vorschlag sollte der zu bildende europäische Völkerbund die nach dem Frieden von Utrecht gegebenen territorialen Verhältnisse der einzelnen Staaten zur Grundlage haben. Die Souveränität jedes Staates war dabei unbedingt zu beachten. Der Völkerbund durfte sich nicht in die inneren Angelegenheiten der einzelnen Staaten einmischen, außer im Falle einer Revolution; denn die Hauptaufgabe dieser internationalen Organisation besteht nach Saint-Pierre darin, Völker- wie auch Bürgerkriege zu verhindern. Es ist nicht nötig, alle Punkte dieses umfangreichen, oft sehr weitschweifigen Werkes zu erwähnen. Dies würde für unsere Zwecke zu weit führen. Überdies formulierte der Abbé sehr bündig die Hauptgedanken seines Programmes zur Herbeiführung eines ewigen Friedens in Europa in mehreren kleineren Schriften. Sein Friedensplan stützte sich danach vor allem auf fünf Fundamentalsätze. 96 Der erste sagte aus, daß die Souveräne Europas nach der Unterzeichnung der fünf Fundamentalsätze eine allgemeine und ewige Allianz bilden würden. Diese hätte die Aufgabe, allen Herrschern volle Sicherheit zu verschaffen, sie vor Bürger- und Völkerkriegen zu schützen. Der Herrscher genösse volle persönliche Sicherheit, und bei seinem Tod bliebe der Thron seinen Nachkommen vorbehalten. Die Militärkosten würden vermindert, und der Handel würde gefördert. Gegenseitige Versprechungen - dies gälte für die Vergangenheit wie für die Zukunft - wären unbedingt einzuhalten. 127
Im zweiten Fundamentalsatz ging Saint-Pierre nicht vom Zweck der europäischen Allianz aus, sondern von den inneren Beziehungen der Staaten des Bundes zueinander. Die Verbündeten verzichteten darauf, zwischen ihnen bestehende oder in Zukunft entstehende Streitigkeiten mit Waffengewalt zu entscheiden. Diese sollten durch Vermittlung von Bevollmächtigten der anderen verbündeten Staaten beigelegt werden. Hätte auch das keinen Erfolg, so müßten sich die beiden streitenden Staaten dem Urteil unterwerfen, das die übrigen Staaten des Bundes auf einem Kongreß fällten. Über den Streitfall würde zuerst provisorisch mit Stimmenmehrheit entschieden, bis dann nach weiteren fünf Jahren mit einer Mehrheit von drei Viertel aller Stimmen ein endgültiger Beschluß zu fassen wäre. Der dritte Fundamentalsatz lautete: „Die neunzehn mächtigsten Souveräne Europas sollen aufgefordert werden, die fünf Fundamentalsätze für die Bildung des europäischen Bundes zu unterschreiben . . . Jeder von ihnen soll eine Stimme haben und entsprechend seinen Einkünften und Lasten zu den gemeinsamen Aufwendungen für die Unterhaltung der Bundestruppen an den Grenzen beitragen. Dieser Beitrag soll auf dem Kongreß geregelt werden, zunächst provisorisch mit einfacher Stimmenmehrheit der Verbündeten und fünf Jahre später endgültig mit der Mehrheit von drei Viertel der Stimmen." Im vierten Fundamentalsatz wurde die Autorität des europäischen Staatenbundes gegenüber jedem Mitglied herausgestellt. Fügte sich ein Mitglied nicht den Anordnungen des Bundes, so würde es gewaltsam zum Gehorsam gezwungen. Der letzte Fundamentalsatz brachte die Bedingungen, unter denen eine solche Völkerverbindung ermöglicht werden sollte. Die Souveräne schickten zu dem ständigen Kongreß ihre Bevollmächtigten, die dort provisorisch mit einfacher Stimmenmehrheit alle erforderlichen Bestimmungen für die Schaffung des Bundes beschließen. Die endgültige Annahme erfolgte dann fünf Jahre später mit einer Mehrheit von drei Viertel aller Stimmen. Diese fünf Fundamentalsätze hätten so lange Gültigkeit, bis alle Mitglieder des Bundes einstimmig Abänderungen beschlössen. Zwei wesentliche Merkmale dieses Friedensprogramms wer128
den im Verlauf der französischen Aufklärung mißbilligt werden oder eine andere Interpretation finden. Zunächst fällt auf, daß sich der Abbé de Saint-Pierre auch gegen den Bürgerkrieg wandte. Die gegebenen innenpolitischen Verhältnisse in den einzelnen europäischen Staaten anerkannte er so in ihrem Kern als legitim. Eng damit zusammen hing ferner, daß er den jeweiligen Herrscher als Souverän betrachtete, ganz im Gegensatz zu den meisten Vertretern der Spätaufklärung, die in der Nation den Inbegriff unveräußerlicher Souveränität erblickten. So kritisierte Saint-Pierre zwar die politische Praxis des absolutistischen Königtums, die Fundamente der Herrschaftsverhältnisse selbst wurden jedoch nicht von ihm angegriffen. Der König galt als Repräsentant der Nation. König und Souverän bildeten in jener Sicht eine innere Einheit. Als dann Jahrzehnte später das französische Bürgertum selbstbewußt seine gesellschaftspolitischen Ziele und Ideale formulierte und propagierte, wurde diese Gleichsetzung von Souverän und Herrscher überwunden. Weiterhin fällt im Friedensprogramm des Abbé besonders auf, daß nur von einem ewigen Frieden innerhalb der christlichen Staaten von Europa die Rede war. In seinem Traktat vom ewigen Frieden gab er den Grund hierfür an: Wegen der außerordentlich großen Schwierigkeiten, einen Weltfrieden herbeizuführen, habe er sich mit seinem Plan zunächst auf Europa beschränkt. Die Erreichung eines Weltfriedens liege zwar noch in weiter Ferne, bleibe jedoch als Endziel bestehen. Dem Abbé ging es in erster Linie um die Sicherung des Friedens in Europa. Der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft sollte sich uneingeschränkt entwickeln können und nicht durch ein solch großes Hemmnis wie den Krieg beeinträchtigt werden. Die ständigen Kriege würden überdies für die Fürsten wie für die Völker immer unerträglicher. Saint-Pierre meinte, daß es nun vor allem auf die Fürsten ankomme, diese Vorschläge zu verwirklichen und damit Kriegen vorzubeugen. Daher wandte er sich auch besonders an sie und suchte sie mit seinen Plänen zu überzeugen. Charakteristisch war, wie er hierbei vorging. Er appellierte nicht so sehr an die Gerechtigkeitsliebe und Tugend, als vielmehr an den Verstand und die Einsicht der Fürsten.97 Immer wieder gab Saint-Pierre zu versteV Bahner, Bd. 2
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hen, welchen Nutzen die Fürsten selbst von der Verwirklichung seiner Pläne hätten. Dabei war er überzeugt, daß entscheidende Dinge nicht in einem pathetischen Stil dargelegt werden sollten, da dieser die Phänomene nicht scharf genug trennte und vielfach falsche Argumente verdeckte, richtete er sich doch seinem Wesen nach an die Empfindung, nicht an den Verstand. Um aber den Verstand zu überzeugen, müsse das Für und Wider gegeneinander abgewogen werden. Und dies geschehe am besten durch die „geometrische Methode". 98 Viele Zeitgenossen Saint-Pierres allerdings waren nicht dieser Ansicht und wurden deshalb von der Lektüre seiner Schriften mehr abgestoßen denn angezogen. Wenn auch die Vertreter des Fortschrittsgedankens in der französischen Frühaufklärung die von Saint-Pierre angewandte und vorgeschlagene „méthode géométrique" besser als er zu nutzen verstanden oder auf sie verzichteten, so lag doch ihren Darlegungen die gemeinsame Auffassung zugrunde, daß ein entscheidender Beitrag zur Verwirklichung des Friedens durch die Macht der Überzeugung zu leisten war. In diesem Sinne bedurfte die Propagierung der Friedensidee besonderer Anstrengungen. Ohne Übertreibung kann festgestellt werden, daß der Abbé de Saint-Pierre nichts unversucht ließ, unablässig in dieser Richtung zu wirken.
Der Friedensplan des Abbé de Saint-Pierre im Urteil französischer Aufklärer Der Name des Abbé de Saint-Pierre war im 18. Jahrhundert unmittelbar mit dem Projekt der Herbeiführung eines ewigen Friedens und dem Gedanken einer europäischen Konföderation verknüpft. Kaum ein Plan für die Befriedung Europas wurde im Zeitalter der Aufklärung entwickelt oder erörtert, bei dem nicht der Abbé zumindest erwähnt oder auf seine Friedensvorstellungen Bezug genommen wurde. In fast allen europäischen Ländern erregte Saint-Pierre mit seinem Friedensplan Aufsehen. Seine Vorschläge veranlaßten zum tieferen Nachdenken über diese Problematik. Vielfach erfuhren sie aber auch heftige Kritik und spöttische Ablehnung." Johann 130
Gottfried Herder stellte, auf den Erfahrungen der Aufklärungsbewegung und der revolutionären französischen Ereignisse fußend, in Briefe zu Beförderung der Humanität fest: „St. Pierre hat durch seine Schriften, die, als sie erschienen, wenige lasen, mehrere ungelesen verlachten, andre auf eine schale Art widerlegten, ja, deren offenbarste Wahrheit ihm sogar Verdruß zuzog, in der Folge mehr Gutes gewirkt als manche blendende Schriftsteller seines Zeitalters, die ihn aus der Akademie verwiesen. Seine Träume von einem ewigen Frieden, von einer besseren Verwaltung der Staaten, von einer größeren Nutzbarkeit des geistlichen Standes, von einer gewissenhaften Pflege der Menschheit, selbst seine politischen Weissagungen können nicht immer T r ä u m e e i n e s h o n e t t e n M a n n e s bleiben, wie sie damals ein duldender Minister nannte. Wenn St. Pierre wieder aufstünde und gewahr würde, daß nicht bloß (wie d'Alembert meint) das Wort .bienfaisance' und .gloriole' von ihm in der Sprache seiner Nation geblieben, sondern daß seine Grundsätze, seine Wünsche und Hoffnungen gewissermaßen der Geist aller Guten und Würdigen in Europa worden sind: der kalte, trockene Mann würde dabei nicht gleichgültig bleiben."100 In Deutschland hatte sich Gottfried Wilhelm Leibniz als einer der ersten mit Saint-Pierres Friedensplan auseinandergesetzt. Bereits am 4. Juni 1712 schrieb der deutsche Philosoph an Grimarest, daß der Abbé die Haltung der Fürsten zu diesen Fragen viel zu positiv einschätze. Müßten die Herrscher eine beträchtliche finanzielle Bürgschaft bei einem internationalen Gerichtshof hinterlegen, die im Falle eines Angriffskrieges eingezogen würde, dann ergäbe sich schon eine wesentlich günstigere Ausgangsposition für die Aufrechterhaltung des Friedens. Leibniz folgerte schließlich: „Da es aber erlaubt ist, Romane zu verfassen, weshalb sollten wir die literarische Fiktion schlecht finden, die uns das Goldene Zeitalter wiedergewinnen lassen würde?" 101 Leibniz stand mit Saint-Pierre im Briefwechsel. Auch ihm war es darum zu tun, Geißeln der Menschheit wie Krieg, Pest und Hunger auszumerzen. Er teilte jedoch nicht Saint-Pierres Optimismus, dies in absehbarer Zeit erreichen zu können. Auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen sollte eine weltumspannende Harmonie erreicht wer9'
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den, wobei Leibniz in der Lehre vom Gleichgewicht ein wichtiges Mittel für die Aufrechterhaltung des Friedens erblickte.«» In Frankreich nahmen fast alle bedeutenden Aufklärer auf Saint-Pierres Projekte des ewigen Friedens Bezug. Der Marquis René Louis d'Argenson (1694-1757), ein typischer Vertreter der Frühphase der französischen Aufklärung, bezeichnete sich selbst als Schüler des Abbé. 103 Wesentliche Grundsätze seiner Anschauungen hatte er in den Zusammenkünften des „Club de l'Entresol" erhalten, wo Saint-Pierre als einer der bedeutendsten Wortführer galt. 1744 wurde der damals fünfzigjährige Marquis für einige Jahre Minister für auswärtige Angelegenheiten. Doch es zeigte sich bald, daß er in diesem Amtsbereich nicht gewandt genug war. Wie sein von ihm verehrter Lehrer verlegte er sich nach dem Urteil der Zeitgenossen aufs Projektemachen. Es wird erzählt, daß Ludwig XV. bei einer Angelegenheit verwundert, aber ironisch gefragt haben soll, ob es darüber nicht irgendein „mémoire" d'Argensons geben würde, und der Marschall Richelieu nannte ihn spöttisch den Staatssekretär von Piatons Staat. D'Argenson spottete nicht über die Friedenspläne seines Meisters. Viel zu sehr war er von dessen pazifistischen Gedanken durchdrungen. Allerdings gab er zu verstehen, daß Saint-Pierre zu direkt gegen die gängigen Vorstellungen Sturm gelaufen sei und nicht genügend beachtet habe, wie wenig die Mitwelt bereits für seine Ideen aufnahmebereit war. 104 E r versuchte, den Friedensplan des Abbé noch zu erweitern, obwohl er eingestand, daß schöne Projekte im praktischen Leben selten etwas ausrichten können und sein Lehrer sich hierin oft getäuscht habe. Zur Herbeiführung eines allgemeinen Friedens sollte Frankreich die Rolle eines bewaffneten Schiedsrichters in Europa spielen. Doch Saint-Pierre wandte sich in einem Brief an ihn gegen diesen Vorschlag und meinte, daß dieser niemals Aussicht hätte, von den europäischen Herrschern angenommen zu werden. 105 Ganz anders schätzte Voltaire die Friedenspläne Saint-Pierres ein. Obwohl er im Grunde den Krieg haßte und ihn mehrfach als eine Geißel der Menschheit anprangerte,106 erschienen ihm Saint-Pierres Pläne zu weltfremd. E r nannte ihn„SaintPierre von Utopien" 107 und behandelte ihn vielfach mit bei132
ßendem Spott und bitterer Ironie. 1 0 8 Voltaire betrachtete die damals bestehenden Verhältnisse viel zu realistisch und erkannte, daß die ständigen Kriege in Europa mit Hilfe der Friedenspläne des Abbé nicht abzuschaffen waren. Immer wieder beschäftigte ihn das Problem, ob Kriege nicht als Zeichen der menschlichen Unvernunft überhaupt zu verhindern wären. War der Krieg ein für alle Lebewesen geltendes Naturgesetz oder ein Übel, das nach längeren Kämpfen, in fortgeschritteneren Epochen der Menschheitsgeschichte ausgelöscht werden konnte? Indem Voltaire den Menschen über die Natur stellte, versuchte er, diesen augenscheinlichen Widerspruch zu lösen. „An sich ist der Krieg, will sagen der Kampf, ein Naturgesetz und ergo auch eine Tatsache der Geschichte, aber die menschliche Vernunft, welche die Natur meistert, muß das Kriegsübel überwinden können. Der Krieg, wenn er von Menschen gegen Menschen gemacht wird, ist ein Verbrechen, er diskreditiert die Majestät der menschlichen Vernunft. Und im Namen der menschlichen Vernunft und der Menschlichkeit, da uns die Vernunft die Einheit des Menschengeschlechts lehrt, erklärt Voltaire dem Krieg den Krieg." 1 0 9 Wenn Voltaire auch die Friedenspläne des Abbé de SaintPierre verspottete, so lag doch seiner Auffassung der Gedanke zugrunde, daß im weiteren Verlauf der menschlichen Geschichte, mit der zunehmenden Durchsetzung der Vernunft, die Zeit kommt, wo Kriege überhaupt verworfen und verhindert werden. 110 In diesem Sinne wollte er für die Durchsetzung der Vernunft wirken und prangerte deshalb den Krieg als Zeichen menschlicher Unvernunft an. Die bestehenden Friedenspläne verwarf er als Hirngespinste, als undurchführbare Projekte, da die Menschheit hierfür noch nicht reif sei. Der Fortschritt der natürlichen Prinzipien im Sinne der sich durchsetzenden menschlichen Vernunft zeichne sich jedoch, wie es die Ausbreitung der religiösen Toleranz bekunde, bereits ab. Der Gedanke des ewigen Friedens könne daher unter den gegebenen Umständen zunächst nur auf die Sicherung der religiösen Toleranz abzielen. Voltaire formulierte: „Der einzige ewige Friede, der bei den Menschen erreicht werden könnte, ist die Toleranz." 1 1 1 Daraus resultiere wenigstens eine Verminderung der bestehenden Kriege, wenn auch der endgültige, d. h. ewige 133
Frieden unter den Völkern noch in sehr weiter Zukunft liege und unmittelbar mit dem Fortschritt der menschlichen Vernunft zusammenhänge. Auch D'Alembert nahm in einer kleineren Studie zum Friedensprojekt des Abbé de Saint-Pierre Stellung. Er verfaßte diese Schrift nicht aus besonderer Neigung zu Saint-Pierre, sondern in seiner Eigenschaft als Sekretär der Akademie und trug sie 1775 in einer öffentlichen Sitzung als verspätete Eloge (Lobrede) auf den Abbé vor. 112 Saint-Pierres Andenken war bis dahin durch den Akademieausschluß mit einem Makel behaftet gewesen. Bei seinem Tod hatte sein Nachfolger Maupertuis nicht einmal die zur Ehrung des Vorgängers traditionelle Lobrede halten dürfen. D'Alembert holte dies nun dreißig Jahre später bei Malesherbes Aufnahme in die Französische Akademie nach. In dieser Eloge ging D'Alembert weniger auf die einzelnen Werke des Abbé ein; er gab vielmehr ein Gesamtbild, brachte Einzelheiten aus dessen Leben und hob die Vorzüge von SaintPierres Charakter hervor. D'Alembert wies immer wieder darauf hin, wie sehr der Abbé stets den größten Nutzen für die Allgemeinheit zu erreichen suchte, sich niemals um seinen Ruf kümmerte und keine Eigenliebe kannte. Seinen Friedensplan allerdings lehnte D'Alembert ab, da er ihn für unrealisierbar hielt. Er wandte hauptsächlich ein, daß Saint-Pierre nicht mit den Leidenschaften der Herrscher rechne. Zum Schlüsse unterstrich D'Alembert, wie sehr Saint-Pierre, vom ständigen Fortschritt der Menschheit überzeugt, der Zukunft voller Hoffnung entgegengesehen habe. Nach D'Alemberts Ansicht würden Ausländer nicht so sehr von den stilistischen Mängeln in SaintPierres Schriften abgestoßen wie die Franzosen. Deshalb verständen sie es auch besser, den Abbé als Bürger und Weisen zu schätzen.113 Als 1752 postum Saint-Pierres Annales politiques erschienen, vermerkte Melchior Grimm in seiner Literarischen Korrespondenz, daß die politischen Vorstellungen dieses Autors zwar meistens phantastisch und undurchführbar wären, doch zu ihrer Zeitg roße Berühmtheit erlangten. Hätte der Abbé nicht eine kaum zu entziffernde Orthographie gebraucht, fuhr er fort, wäre er zweifelsohne ein klassischer Autor geworden.114 134
Während D'Argenson Saint-Pierres Friedensplan weiterzuentwickeln suchte und Voltaire ihn als utopisch ablehnte, nahm Jean-Jacques Rousseau eine umfangreiche kritische Analyse der Friedensvorstellungen des Abbé vor. Im Salon der Madame Dupin hatte er noch den damals achtzigjährigen Abbé de Saint-Pierre persönlich kennengelernt. Einige Jahre nach Saint-Pierres Tod schlug Madame Dupin, bei der er als Sekretär tätig war, ihm vor, Auszüge aus Saint-Pierres nachgelassenem Werk herauszubringen. Die ursprüngliche Anregung dazu kam indessen, wie Rousseau in seinen Confessions (Bekenntnissen) selbst mitteilte, vom Abbé de Mably. 115 Rousseau berichtete, daß es für ihn eine sehr mühselige Arbeit sei, SaintPierres Manuskripte durchzuarbeiten. Sie enthielten zwar viele nützliche Gedanken, doch stelle der schwerfällige Stil recht hohe Anforderungen an die Ausdauer des Lesers. Rousseau verfaßte sowohl einen Auszug aus dem Traktat vom ewigen Frieden als auch einen aus der Polysynodie. Über beide Werke schrieb er ferner noch jeweils ein jugement (Gutachten), um seine eigene Position zu Saint-Pierres Ansichten deutlich zu dokumentieren. Der Extrait du Projet de paix perpétuelle erschien 1761, also ein Jahr vor Rousseaus grundlegendem staatstheoretischem Werk Du Contrat social (Vom Gesellschaf tsvertrag). Darin faßte er mit der ihm eigenen Sprachgewalt Saint-Pierres Hauptgedanken zusammen, nicht ohne zuweilen, wie er selbst bekannte, eigene Ideen einfließen zu lassen.116 Damit trug er wesentlich mit dazu bei, die Friedenspläne des Abbé de Saint-Pierre in Europa zu propagieren und den Namen des Abbé mit der damals häufig erörterten pazifistischen Thematik unlöslich zu verknüpfen. Zu Beginn seiner Ausführungen hob Rousseau hervor, wie sehr der Plan eines ewigen Friedens jeden Menschen begeistern müsse. Wenn die äußeren Schwierigkeiten zur Durchführung dieses Planes beseitigt wären, dann könnten die Völker eine Konföderation bilden. Eine solche Konföderation brächte den großen ebenso wie den kleinen Staaten Vorteile, nach außen Macht und Stärke und im Innern gerechte Gesetze. Rousseau machte auf die zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Staaten aufmerksam und nannte hierbei in erster Linie die Religion, das Völkerrecht, die Sitten, die Wis135
senschaften und den Handel. Diese Gemeinsamkeiten bestanden nicht von Anfang an, sondern bildeten sich erst im Laufe der Zeit heraus. Zu ihnen im Widerspruch standen jedoch immer wieder die ständigen Streitigkeiten, Kriege, Revolten und Usurpationen. Unter den europäischen Mächten herrsche ein dauernder Kriegszustand; denn alle Verträge erschienen nur als befristeter Waffenstillstand. Für die Einhaltung dieser Verträge beständen keine Garantien. Das zeigte sich schon in der Tatsache, daß das öffentliche Recht in Europa keine allgemeinen Prinzipien aufweise, stets Schwankungen unterworfen und unterschiedlich nach Zeit und Ort sei. Seine widersprechenden Regeln würden immer durch das Recht des Stärkeren bestimmt. Um Europa aus diesem unheilvollen Zustand zu befreien, sollten die Gedanken von Saint-Pierres Friedensplan verwirklicht werden. Rousseau gibt dann den Inhalt der fünf Fundamentalsätze des Abbé de Saint-Pierre wieder und unterstreicht mit Nachdruck, daß jeder Krieg, auch der siegreich geführte, dem Staat große Verluste zufügt. Diese sah er weniger in den Menschen, die im Kampf fallen, als vielmehr in denjenigen, die nicht geboren werden. Außerdem erfordere die Finanzierung des Krieges eine Erhöhung der Steuern. Schließlich werde im Kriege der Handel unterbrochen und die Felder und Ländereien verödeten, da die Äcker nicht bestellt werden können. Die sich daraus ergebenden Schäden würden zunächst nicht voll wahrgenommen, doch um so grausamer seien sie dann in der Folgezeit spürbar. Rousseau schließt mit der Bemerkung, daß die Souveräne Saint-Pierres Plan annehmen müßten, wenn sie nach ihren wahren Interessen handelten. Dabei setze er durchaus nicht ideale Menschen voraus, sondern solche, wie sie gewöhnlich anzutreffen sind, nämlich ungerechte, gierige und eigennützige. Sie brauchten letztlich nur Verstand und Mut genug, ihr eigenes Glück zu machen. Wenn Saint-Pierres Friedensplan trotzdem nicht ausgeführt werde, bedeute das keinesfalls, daß es sich dabei um ein Hirngespinst handele. Die Menschen seien eben töricht, und unter Narren weise sein zu wollen, sei eine Art Narrheit. In dieser Schlußfolgerung war eine Kritik an Saint-Pierres Friedensplan nicht zu überhören. Eine systematische Ausein136
andersetzung mit der Grundkonzeption des Abbé nahm Rousseau jedoch erst in seinem Gutachten über den Plan vom ewigen Frieden117 vor, das erstmals postum 1782 in Genf innerhalb einer Gesamtausgabe seiner Werke erschien. Darin untersuchte Rousseau vornehmlich, ob Saint-Pierres Projekt wirklich utopisch sei, da es doch offensichtlich von großer Nützlichkeit für die Interessen der Herrscher und ihrer Völker sein könnte. Er stellte fest, daß sich die Fürsten vor allem deshalb diesem Friedensplan widersetzten, weil sie sich das Recht, nach ihrem Gutdünken Kriege zu führen, nicht nehmen lassen wollten. Krieg und Despotismus gehörten eng zusammen. Das eine bedinge das andere. Die Politik der Herrscher sei im wesentlichen auf zwei Ziele gerichtet, nach außen die Besitzungen auszudehnen und im Innern selbstherrlicher zu regieren. Schlagwörter wie „öffentliches Wohl", „Glück der Untertanen" und „Ruhm der Nation" dienten nur als fadenscheiniger Vorwand. Die Herrscher, an die sich Saint-Pierre mit seinem Friedensplan vor allem wandte und von deren Einsicht er die Ausführung seines Projektes abhängig machte, waren für J.-J. Rousseau gerade die Kräfte, die sich bei der Verwirklichung als größtes Hindernis erwiesen. Rousseaus Kritik lief daher in folgende Richtung: Der Abbé de Saint-Pierre sah sehr wohl, welche Wirkung von seinen Friedensplänen ausgehen würde, falls sie verwirklicht werden könnten, doch er urteilte wie ein Kind über die Mittel, mit denen diese Projekte realisiert werden sollten.118 In diesem Urteil bekundete sich ein grundlegender Unterschied zwischen J.-J. Rousseau und dem Abbé de Saint-Pierre. Bei dem Abbé stand das Ziel der Verwirklichung eines ewigen Friedens im Vordergrund, ohne daß er bei aller Kritik an der politischen Praxis die Berechtigung der bestehenden Herrschaftssysteme in Europa bezweifelte. Er war überzeugt, daß die Fürsten nach erfolgter Sicherung des Friedens in Europa immer mehr durch Reformen das Wohl ihrer Untertanen zu fördern suchen würden. Jean-Jacques Rousseau hingegen erblickte die eigentliche Wurzel des bestehenden Elends im fürstlichen Absolutismus selbst. Erst wenn im Innern des Landes die Voraussetzungen für ein nur den Gesetzen gehor137
chendes Staatswesen geschaffen wären, lägen wichtige Grundlagen auf dem Wege zum ewigen Frieden vor. Der Abbé de Saint-Pierre lebte in einer Zeit, wo man das absolutistische Staatswesen durch Reformen zu verbessern hoffte. Die Identität von König und staatlicher Souveränität wurde noch nicht so entscheidend in Frage gestellt wie in der zweiten Hälfte •des 18. Jahrhunderts. J.-J. Rousseau hingegen, der auf dem Gebiet der Staatstheorie zu den revolutionärsten Aufklärern gehörte, wußte nicht nur, daß es um die Einsicht der Herrscher schlecht bestellt war, sondern zugleich auch, wie sehr eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse vor allem auch eine Frage der Macht war. Rousseau folgerte: „Übel und Mißbrauch, von denen so viele Leute profitieren, haben sich von selber eingestellt; das aber, was der Allgemeinheit nützt, wird kaum anders als durch Gewalt eingeführt, da ja die Sonderinteressen dem fast immer entgegenstehen." 119
Kritik an den bestehenden internationalen
Beziehungen
Pazifistische Ideen unterschiedlicher Herkunft und Tragweite fanden im 18. Jahrhundert breite Resonanz. Politik und Praxis des Krieges wurden unter philosophischen, moralischen, kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Gesichtspunkten einer scharfen Kritik unterzogen. Von einer organisierten pazifistischen Strömung konnte in jenem Zeitalter allerdings noch keine Rede sein. Albert Mathiez, einer der bedeutendsten Erforscher der Großen Französischen Revolution meinte, aus den Werken der französischen Aufklärer ließe sich ein ganzes Buch kosmopolitischer und pazifistischer Maximen zusammenstellen. 120 Energisch wandte er sich gegen den bekannten konservativen Kultur- und Literaturkritiker Emile Faguet (1847-1916), der den recht undifferenziert gefaßten Pazifismus der progressiven Autoren des 18. Jahrhunderts als antipatriotisch zu diskriminieren suchte. 121 Für die französische Aufklärungsliteratur war es charakteristisch, daß sie sowohl die bestehenden internationalen Beziehungen, einschließlich der damit verbundenen Kriegspolitik, als auch die Praktiken und die Institutionen des feudalabsolu138
tistischen Staates scharf aufs Korn nahm. Innen- wie außenpolitische Erscheinungen wurden von naturrechtlicher Basis aus als den Prinzipien der Gerechtigkeit widersprechend gebrandmarkt. Zwischen Patriotismus und Weltbürgertum bestand für die meisten französischen Aufklärer kein antagonistischer Widerspruch, wenn es sich darum handelte, die Grundsätze einer neuen Gesellschaftsordnung zu konzipieren. Nur innerhalb der feudalabsolutistischen Verhältnisse selbst vermißten sie für das Aufkommen von Patriotismus und Humanitätsdenken jede Grundlage. Wie sehr sich die öffentliche Meinung für die Problematik von Krieg und Frieden interessierte, ging auch aus der Tatsache hervor, daß die Französische Akademie 1766 für die beste Arbeit über die Thematik des Friedens einen Preis aussetzte. Die Aufgabe lautete: „Die Vorteile des Friedens herausstellen, Abscheu gegen die Verwüstungen des Krieges einflößen, alle Nationen auffordern, sich zu vereinigen, um die allgemeine Ruhe zu sichern." Den Preis erlangte der Voltaire nahestehende Literaturkritiker Jean-François de La Harpe mit seiner Schrift Des Malheurs de la guerre, et des avantages de la paix (Uber das Unglück des Krieges und die Vorteile des Friedens; 1767).122 Darin schilderte er allgemein die Leiden des Krieges, appellierte an die menschliche Vernunft und gab der Hoffnung Ausdruck, daß einmal die Zeit kommen werde, in der man in den zwischenstaatlichen Beziehungen die Grundsätze der Moral beachte. Wenn die Kriege einmal unterbunden sein werden, würde das Tempo des menschlichen Fortschritts in starkem Maße zunehmen ; zahlreiche innere Reformen könnten dann zur Hebung des Allgemeinwohls in Angriff genommen werden. Der Philosophie, und das hieß damals der Aufklärungsbewegung, komme es nach La Harpe in besonderem Maße zu, eine glückliche Epoche vorzubereiten und rascher herbeizuführen. Noch aber erwiesen sich Despotismus und Aberglauben als große Hindernisse. Sie gelte es, systematisch zu überwinden, um Glück und Frieden zu erlangen. Gaillard, der sich ebenfalls an diesem Wettbewerb beteiligt hatte und zunächst ohne Preis blieb, erhielt für seine Abhandlung123 kurze Zeit später doch noch eine Auszeichnung. Auch 139
er trug in seiner bei der Französischen Akademie eingereichten Schrift eine Apologetik des Friedens vor und verurteilte den Krieg als Geißel der Menschheit. Obwohl sich die Bemühungen um einen allgemeinen Frieden von Jahrhundert zu Jahrhundert verstärkten, erklärte er, seien die bisherigen Mittel, um dieses hohe Ziel zu erreichen, völlig unzulänglich. Insbesondere das System des europäischen Gleichgewichts löse eher Kriege aus, als daß es den Frieden fördere. Eine unbedingt notwendige Voraussetzung für die Herstellung des allgemeinen Friedens erblickte er in einem mit Zwangsgewalt ausgestatteten internationalen Gerichtshof, dem sich die Fürsten in ihrem eigenen Interesse unterwerfen müßten. Frankreich sollte hier die Initiative ergreifen und im Geiste Heinrichs IV. und des Abbé de Saint-Pierre für den Frieden wirken. Erst durch die Sicherung des Friedens in Europa könnten die Könige zeigen, daß sie sich die wahren Interessen ihrer Völker angelegen sein lassen. Auch Louis-Sébastien Mercier verfaßte aus erwähntem Anlaß eine Abhandlung über das Thema Des Malheurs de la guerre et des avantages de la paix (Über das Unglück des Krieges und die Vorteile des Friedens), erhielt dafür aber keinen Preis. Seine Grundthese lautete, daß der Krieg keinesfalls ein notwendiges Übel sei. Wie seine Mitbewerber verurteilte er die Politik des europäischen Gleichgewichts. Scharf wandte er sich gegen das Argument, wonach Kriege fürsorglich eine zu starke Zunahme der Bevölkerung verhinderten. Alle Geistesschaffenden, Schriftsteller, Künstler, Philosophen, Historiker usw. sollten sich zum Kampf gegen den Krieg vereinigen. Er folgerte: „Nein, dieses Jahrhundert der Philosophie wird keinesfalls voranschreiten, bevor nicht dieses Projekt (des Friedens - W. B.) zugunsten der Menschheit durchgeführt sein wird."12,4 In seinem 1771 erschienenen, vielbeachteten utopischen Roman L'An deux mille quatre cent quarante (Das Jahr 2440) nahm Mercier im 20. Kapitel das Thema des Friedens erneut auf. Er führte seinen Lesern nun eine Gesellschaft vor, in der das Fortschrittsdenken und die naturrechtlichen Prinzipien der Aufklärung konkrete Gestalt angenommen hatten, bürgerliche Ideale des 18. Jahrhunderts bereits in die Praxis umgesetzt worden waren: Die Flammen 140
des Krieges waren endgültig erloschen. Zwischen den Völkern herrschte friedliche Eintracht. Ein von den klügsten und erfahrensten Männern entworfener allgemeiner Vertrag war einstimmig beschlossen worden. Und unter Anspielung auf die Friedenspläne des Abbé de Saint-Pierre hieß es weiter: „Was ein eisernes und schmutziges Jahrhundert, ein tugendloser Mann Träume eines Biedermannes nannte, wurde unter aufgeklärten und empfindenden Menschen verwirklicht. Ebenso sind die alten, nicht weniger gefährlichen Vorurteile, welche die Menschen hinsichtlich ihres Glaubens uneins machten, entfallen. Wir betrachten uns alle als Brüder."125 Voltaire beleuchtete in der philosophischen Erzählung Candide sehr wirkungsvoll die katastrophalen Auswirkungen des Krieges. Mit hintergründiger Ironie und bitterem Sarkasmus geißelte er im 3. Kapitel das Geschehen einer Schlacht. Lakonisch wird berichtet: „Zunächst mähten die Geschütze auf jeder Seite etwa sechstausend Mann nieder; dann befreite das Musketenfeuer die beste aller Welten von neun- bis zehntausend Schurken, die sie bisher verpestet hatten, und endlich waren die Bajonette der zureichende Grund des Todes von einigen tausend Mann."126 Bis zur Groteske gesteigert erscheint das Bild eines vom Feinde niedergebrannten Ortes: „Hier mußten aus tausend Wunden blutende Greise mit ansehen, wie ihre erwürgten Frauen noch im Sterben ihre Kinder an die blutenden Brüste preßten. Dort hauchten Mädchen mit aufgeschlitzten Bäuchen ihre letzten Seufzer aus, nachdem einige Helden ihre natürlichen Bedürfnisse an ihnen befriedigt hatten. Andere, die halb verbrannt waren, flehten schreiend um den Gnadenstoß - und ringsum bedeckten Gehirne und abgehauene Arme und Beine den Boden."127 Obgleich Voltaire von den Friedensplänen des Abbé de Saint-Pierre nichts hielt und alle Hoffnung auf den allmählichen Durchbruch der menschlichen Vernunft setzte, wurde er nicht müde, die einzelnen Erscheinungen des Krieges mit bemerkenswerter literarischer Meisterschaft anzuprangern. Er wußte, daß die Aufklärung der Menschen ein langwieriger Prozeß ist und die Veränderung des Bewußtseins ständiger ideologischer Einwirkung bedarf. Sein eigenes schriftstellerisches Tun wollte er als Beitrag hierzu verstanden wissen. Davon zeugt auch sein 141
Dictionnaire philosophique (Philosophisches Wörterbuch). Im Artikel guerre (Krieg) brachte er auf wenigen Seiten eine ebenso geistvolle wie geharnischte Kritik an jeder Art kriegerischen Treibens. Vor allem den Mißbrauch der Religion klagte er an und übte Kritik an Geistlichen und Intellektuellen, die sich dafür engagierten: „Das erstaunliche an diesem höllischen Unternehmen ist, daß jeder einzelne Führer der Mörder seine Fahnen segnen läßt und sich feierlich auf Gott beruft, bevor er auszieht, um seine Mitmenschen umzubringen . . . Man bezahlt überall eine gewisse Zahl von Rednern, um diese Mordtage feierlich zu begehen . . . Moralphilosophen, verbrennt all eure Bücher! Solange die Laune einiger Männer Tausende unserer Brüder mit gutem Gewissen abzuschlachten vermag, wird der Teil des Menschengeschlechts, der sich dem Heldentum weiht, die abscheulichste Erscheinung in der ganzen Natur sein." 128 Als Beispiel einer despotischen Katastrophenpolitik diente in der französischen Aufklärungsliteratur häufig Ludwig XIV. Ein charakterisches Zeugnis dafür finden wir bei D'Argenson. Nachdem er darauf hinwies, daß die Regierungszeit Ludwigs XIV. mit derjenigen von Augustus verglichen worden sei und die schönen Künste plötzlich von der Barbarei zur höchsten Vollendung gelangt wären, fuhr er fort: „Die Politik, der Krieg und das Justizwesen wurden unter dieser Regierung wie Künste behandelt und nicht wie Mittel, einen wahrhaft glückvollen Staat zu schaffen, indem man seine wirklichen Interessen befragte. Glänzende Meisterwerke wollte man und keine dauerhaften Einrichtungen. Man veröffentlichte Gesetzbücher, welche die Rechts Verdrehung vergrößerten, statt sie zu unterbinden. Schließlich hat Ludwig der Große alle Hilfsquellen des Staates durch seine Ausgaben und Anleihen ruiniert. Das Andenken an ihn und sein Ruhm nehmen täglich mehr ab und verwandeln sich in Vorwürfe." 129 Diese Auffassung wurde in der weiteren Aufklärung vorherrschend. Schon der Abbé de Saint-Pierre fand es unpassend, Ludwig XIV. als Großen zu bezeichnen. 130 Auch brachte er den in der Aufklärung wiederholt auftauchenden Gedanken vor, daß Ludwig XIV. vielfach von seinem Minister Louvois zu Kriegen verleitet worden sei. 131 142
Nach 1715 lebte Frankreich zunächst mehrere Jahrzehnte, lang in Frieden. Handel und Manufakturen begannen wieder aufzublühen. D i e Staatskasse erholte sich etwas, wenn auch durch Maßnahmen wie Rentenverkürzung und Münzverschlechterung. Als Ludwig X V . 1726 sein Herrscheramt antrat,, übergab er die Regierungsgeschäfte seinem ehemaligen E r zieher, dem Kardinal Fleury. Dieser versuchte, internationale Streitigkeiten in erster Linie durch Verhandlungen beizulegen,, da Frankreich wirtschaftlich und finanziell noch recht schwach war. Auch die anderen am europäischen Gleichgewicht interessierten Staaten verspürten auf Grund ihrer finanziellen Situation nicht allzu große Lust, Kriege zu führen. Fleury galt zu jener Zeit als der friedlichste Staatsmann Europas. D e r bedeutende englische Dichter Pope schrieb damals : „ A m Frieden hängt mein Herz. Nicht Fleury kann ihn tiefer lieben." 1 3 2 Gaillard meinte in seiner 1767 verfaßten Schrift über den Frieden, daß Fleury und Walpole als dem Kriege feindlich gesonnene Minister mehr öffentliche Achtung verdienten. 1 3 3 Auf dem Kongreß zu Soissons 1728 erklärte Fleury, daß es alle gegensätzlichen Interessen auszugleichen und alles zu vermeiden gelte, was zu einem Bruche führen könne. 1 3 4 D a zu jener Zeit die pazifistischen Ideen des Abbé de SaintPierre auf das europäische Publikum wirkten, wäre es nach Friedrich Meinecke schon denkbar, „daß die Diplomaten der Großmächte, wenn sie die Weltfriedenstendenz ihrer Kongresse und Interventionen beteuerten, auch den Modeideen des A b b é de Saint-Pierre ein Kompliment machen wollten" 1 3 5 . Hierbei konnte natürlich nicht nur von einer Geste der Diplomaten gegenüber den aufkommenden Friedensideen die Rede sein. Der Friedenswille war damals auf Grund der vorangegangenen ständigen Kriege unter breiten Schichten der Bevölkerung besonders groß. D i e Geldmittel der Herrscher waren zu erschöpft, um ihnen neue Kriege zu erlauben. D i e wirtschaftlichen Kräfte, der Handel und besonders die Landwirtschaft hatten in den verschiedenen Ländern durch die zahlreichen Kriege schwer gelitten. Eine Ruhepause war unbedingt geboten. Bald sollte es sich indessen zeigen, daß die Machtkämpfe um das europäische Gleichgewicht und die Handelskriege wieder einsetzten. War die Zeit von 1730 bis 1740 reich an Kongres143
sen, um die einzelnen Streitigkeiten und Differenzen beizulegen, so bestimmten in den folgenden Jahrzehnten wieder kriegerische Auseinandersetzungen das Bild. Erneut suchte man, die eigenen Interessen und Machtansprüche mit Waffengewalt durchzusetzen. Auch Fleury, der als friedlicher Staatsmann gelobt wurde, zeigte sich noch kurz vor seinem Tode 1743 von der anderen Seite. 1741 begann nämlich Frankreich wegen der sogenannten Sicherung des europäischen Gleichgewichts Krieg mit Österreich. Für die Friedenspläne des Abbé de Saint-Pierre hatte Fleury nur Spott übrig. Trotz aller Abneigung, die Fleury den Abbé spüren ließ, versuchte dieser immer wieder, ihn für seine Pläne zu gewinnen. Als Fontenelle 1740 dem Kardinal zum Jahreswechsel gratulierte und für den Frieden dankte, den er .zwischen den beiden Kaiserreichen und der Türkei bewirkt habe, bat er ihn „als ausgezeichneten Arzt, das kranke Europa von dem Fieber zu heilen, das unter den Engländern und Spaniern auszubrechen drohe". 136 Der Minister antwortete dem Frühaufklärer, daß die Fürsten dazu einer Dosis Friedenselexier des Abbé de Saint-Pierre bedürften. Fontenelle zeigte dieses Schreiben seinem Freund Saint-Pierre, der den bitteren Spott jedoch nicht bemerkte und naiv daraus schloß, Fleury wäre seinen Friedensplänen wohlgesonnen. Daraufhin schickte er dem Kardinal die fünf Fundamentalsätze seines Friedensplanes mit einem entsprechenden Begleitschreiben, worauf Fleury nur ironisch antwortete. Später konstatierte der Abbé: „Obgleich der Kardinal Fleury einen sehr friedlichen Charakter besitzt, hat er stets die Bildung einer Europäischen Union als unmöglich erachtet; also hat er mein Werk nicht gelesen." 1 3 7 Die im 18. Jahrhundert geführten Kriege wurden von den französischen Aufklärern als Kabinetts- oder Handelskriege verurteilt. Man empfand sie nicht als nationales Anliegen und führte sie auf die Interessen, Leidenschaften und Launen der Herrscher zurück. Ebenso brachte man kein Verständnis mehr dafür auf, daß die Könige der mächtigsten Länder ihre Kriege unter dem Vorwand begannen, damit die Politik des europäischen Gleichgewichts absichern zu helfen. Diese Lehre vom politischen Gleichgewicht der europäischen Völker spielte im 144
17. und 18. Jahrhundert eine große Rolle, sollte doch durch eine ausgeglichene Kräfteverteilung zwischen den europäischen Großmächten verhindert werden, daß sich irgendeine europäische Großmacht zur europäischen Universalmonarchie aufschwang und die übrigen Staaten beherrschte. Während sich im 17. Jahrhundert Frankreich und das habsburgische Österreich den Vorrang streitig machten, rückte im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer stärker die französisch-englische Rivalität in den Vordergrund. Der Utrechter Friedensvertrag von 1713 war in seinen Formulierungen noch ganz von dem Gedanken des europäischen Gleichgewichts im Sinne einer Friedenssicherung getragen. 138 Die Aufklärer merkten indessen sehr bald, daß diese Politik eher ein Grund zum Krieg als zum Frieden war. Sie bekämpften sie, da sie den Prinzipien des Naturrechts widerspreche und in der Praxis verhängnisvolle Folgen gezeitigt habe. Der Physiokrat Mercier de la Rivière schrieb: „Die Politik . . . hat auf unserem Kontinent das System des europäischen Gleichgewichts erfunden, ein rätselhafter Begriff, dessen wahren Sinn zu definieren mir unmöglich scheint . . . Die Wirkungen dieses Systems beweisen offensichtlich dessen Inkonsequenz: Gewiß ist es wenig geeignet, Kriegen unter den europäischen Mächten zuvorzukommen; es scheint ihnen vielmehr als Gelegenheit oder Vorwand zu dienen ; denn alle Tage führen sie gegeneinander Krieg, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten; die Völker bringen sich so mit Waffengewalt durch ein System um, das gedacht war, zu verhindern, daß sie sich umbringen." 139 Die damaligen Kabinettskriege waren ihrem Wesen nach Handelskriege, 140 die im Zeichen der wachsenden englischfranzösischen Rivalität oftmals zu Kolonialkriegen ausgeweitet wurden. Trotz aller Berufung auf die erforderliche Sicherung des europäischen Gleichgewichts und trotz allen Hervorhebens vordergründiger dynastischer Interessen wurden jene Kriege letztlich aus ökonomischen Gründen geführt. Gustav Schmoller, der als „Kathedersozialist" bekannte Nationalökonom des 19. Jahrhunderts, kam zu dem Schluß: „Der Spanische Erbfolgekrieg war, wie der große Koalitionskrieg von 1689 bis 1697, in erster Linie ein Kampf Englands und Hollands zusammen gegen die beginnende industrielle und Handels10
Bahner, Bd. 2
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Übermacht Frankreichs, gegen die Gefahr der Vereinigung des französischen Handels mit der spanischen Kolonialmacht. Es war ein Kampf um den gewinnbringenden spanisch-amerikanischen Handel, der bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts in erster Linie den Gegensatz von England und Frankreich bestimmte."141 Karl Marx und Friedrich Engels hatten bereits in ihrem 1845/46 entstandenen Werk Die deutsche Ideologie die ökonomische Entwicklung von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch umfassender und tiefgründiger gekennzeichnet und die dabei wirksamen Faktoren und Gesetzmäßigkeiten herausgestellt: „Der Handel und die Schiffahrt hatten sich rascher ausgedehnt als die Manufaktur, die eine sekundäre Rolle spielte; die Kolonien fingen an, starke Konsumenten zu werden, die einzelnen Nationen teilten sich durch lange Kämpfe in den sich öffnenden Weltmarkt. Diese Periode beginnt mit den Navigationsgesetzen und Kolonialmonopolen. Die Konkurrenz der Nationen untereinander wurde durch Tarife, Prohibitionen, Traktate möglichst ausgeschlossen ; und in letzter Instanz wurde der Konkurrenzkampf durch Kriege (besonders Seekriege) geführt und entschieden."142 England, das durch den Spanischen Erbfolgekrieg einen großen Sieg errungen hatte, festigte im 18. Jahrhundert seine Stellung als See- und Handelsmacht und drängte die französische Konkurrenz immer mehr zurück. Im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) schließlich bemächtigte sich England großer französischer Kolonialgebiete in Nordamerika. Schon der Abbé François-Gabriel Coyer (1707-1782), ein für die breiten Massen sich engagierender Aufklärer,143 wies auf die immer häufiger werdenden Seekriege hin.144 Der Abbé Gabriel Bonnot de Mably145 und Guillaume Raynal146 konstatierten mit großer Besorgnis, daß die Kolonialinteressen zu einem Unruheherd unter den europäischen Völkern wurden. 1756 erschien in Amsterdam folgende Broschüre: Le Roman politique SUT l'état présent des affaires de VAmérique, ou Lettres de M. ... à M. ... sur les moyens d'établir une paix solide et durable dans les colonies, et la liberté générale du commerce (Politischer Roman über den gegenwärtigen Stand der Angelegenheiten Amerikas, oder Briefe von Herrn . . . an Herrn . . . über die Mittel, einen wahrhaft dauerhaften 146
Frieden in den Kolonien und die allgemeine Handelsfreiheit zu errichten).147 Der Verfasser war ein gewisser Saintard, Sohn eines französischen Siedlers in St. Domingo. Er warb für den Frieden in Nordamerika, als die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich erneut begannen. Saintard schlug vor, die umstrittenen Territorien zwischen den beiden kriegführenden Mächten gerecht zu verteilen. Eine allgemeine Freiheit des Handels und der Meere sollte auch für die notwendige Befriedung Europas die Grundlage bilden. Auch Gaillard verwies in seiner preisgekrönten Schrift über den Frieden auf die zunehmenden Kolonialkriege und den hierbei sich abzeichnenden wechselseitigen Zusammenhang zwischen den machtpolitischen Auseinandersetzungen in Europa und in den Kolonialgebieten. Sein Fazit lautete: „Die Teilung der Neuen Welt bringt mehr denn je die Alte Welt durcheinander... DieUniversalmonarchie sucht sich von neuem unter Namen wie Herrschaft der Meere oder Handelsmonopol zu verwirklichen. Diese neue Ordnung der Dinge beschleunigt noch den Niedergang der Staaten, erweitert das Reich des Krieges und vervielfacht die Köpfe dieser Hydra." 148 Auf die ökonomischen Ursachen von Kriegen wies auch Ange Goudar hin, „der mit aller Bestimmtheit die Interessen der plebejischen Massen des vorrevolutionären Frankreichs zum Ausdruck brachte."149 1757 veröffentlichte er die Schrift: La Paix de l'Europe ne peut s'établir qu'à la suite d'une longue trêve ou Projet de pacification générale (Der Frieden in Europa kann nur durch einen langen Waffenstillstand errichtet werden oder Projekt allgemeiner Befriedung). Darin entwickelte er den Gedanken, daß es zunächst darauf ankomme, für zwanzig Jahre die Waffen ruhen zu lassen. Da Frieden ebenso wie Krieg eine Sache der Gewohnheit sei, müßten die einzelnen Staaten unbedingt Gelegenheit erhalten, sich an den Frieden zu gewöhnen. Der erste Schritt dazu wäre die Einberufung eines Kongresses, zu dem alle Souveräne ihre Gesandten schickten, um einen allgemeinen zwanzigjährigen Waffenstillstand zu unterzeichnen. Die einzelnen Herrscher sollten sich gleichzeitig zu Garanten dieses Vertrages erklären. Bräche ein Staat diesen Vertrag, würden alle übrigen Staaten gegen diesen vorgehen, ihn zur Aufgabe seiner kriegerischen 10*
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Handlungen zwingen. Alle dabei entstandenen Kosten hätte der Friedensbrecher zu tragen. Wenn dann nach zwanzig Jahren dieser allgemeine Waffenstillstandsvertrag abgelaufen wäre, hätte sich die Vorstellung des Friedens, nicht zuletzt durch die während der zwanzig Jahre Waffenruhe sichtbar gewordenen Vorteile so gefestigt, daß nunmehr alles für die praktische Sicherung des Friedens getan würde. Ange Goudar übte in dieser Schrift eine vernichtende Kritik an den ständigen kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa. Er hob die negativen wirtschaftlichen und politischen Folgen der Kriege hervor und wandte sich mit aller Entschiedenheit gegen die von vielen Zeitgenossen vertretene Auffassung, daß der Krieg ein notwendiges Übel sei. Diese Ansicht fuße auf der fälschlichen Annahme, daß sich die Menschen gegenseitig vernichten würden und ein Staat seine Macht nur auf dem Niedergang eines anderen errichten könnte. Eine wesentliche Ursache für die ständigen Kriege erblickte Goudar in dem mächtigen Aufschwung von Handel und Gewerbe. In dem Maße, wie die Zahl der neuen Manufakturen gewachsen sei, habe auch die der Schlachten zugenommen. Durch Colberts Gewerbepolitik wäre die Flamme des Krieges geschürt worden. Und Holland und England hätten sich einzig auf Grund des gewaltigen Aufschwungs der Gewerbe zu kriegerischen Mächten entwickelt. Goudar folgerte daraus: „Heute sind es nicht mehr die Armeen, die den Krieg führen, sondern die Gewerbe, weil sie die Reichtümer herbeischaffen, die die Triebfedern des Krieges sind." 150 Eine andere Ursache für das Entstehen von Kriegen bildete seines Erachtens das Vorhandensein stehender Heere in den einzelnen Ländern. Diese erforderten einen hohen finanziellen Aufwand, den die einzelnen Regierungen durch Kriege abzudecken suchten. Weitere Faktoren, die Kriege hervorrufen, erblickte Goudar in der Entdeckung der amerikanischen Gold- und Silberminen und im Ehrgeiz der Fürsten. Eingehend prüfte Ange Goudar ferner, ob es gerechte Kriege gebe.151 Unter diesem Blickpunkt setzte er sich mit den Verfechtern des profanen Naturrechts und denen des göttlichen Rechts auseinander und arbeitete die Widersprüche beider Richtungen heraus. Allein die natürliche Verteidigung 148
hielt er für gerecht. Daraus jedoch die Gerechtigkeit von Kriegen abzuleiten, sei verfehlt. Jedwede Angriffshandlung verwarf Goudar als ungerecht. Zahlreiche französische Aufklärer unterschieden ebenfalls zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg und sahen nur den Verteidigungskrieg als gerechtfertigt an. Eine Unterscheidung zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg war zwar bereits von Cicero, Augustin und verschiedenen Vertretern der Scholastik152 entwickelt worden, doch konnte die Problematik der modernen Staatsverhältnisse bei diesen noch keine Berücksichtigung finden. Von den Aufklärern wurde mit aller Konsequenz jegliche Aggression und Eroberung verurteilt. Mehr denn je wurde im Anschluß an entsprechende Traditionen der Antike und der Renaissance der Ruhm der großen Eroberer in Frage gestellt. Voltaire prägte den Satz, daß Eroberer berühmte Mörder sind und rügte Montesquieu, der in seinem Werk Vom Geist der Gesetze die Auffassung vertrat, daß es auch gerechte Kriege : mit Offensivcharakter geben könnte. Holbach schrieb, daß nur Kriege, die einen Angreifer zurückschlagen, legitim seien. Holbach deutete an, wie eng Despotismus mit ungerechten Kriegen zusammenhing und wie notwendig es sei, Tyrannen zu stürzen, statt sie in ihrem kriegerischen Treiben noch zu unterstützen.153 Wie der Verteidigungskrieg gegen fremde Invasoren geriet dabei auch der Bürgerkrieg ins Blickfeld, besonders wenn es um die Freiheit eines unterjochten Volkes ging. Der Abbé de Mably nahm hierzu in seinem Werk Des Droits et des devoirs du citoyen (Von den Rechten und Pflichten des Staatsbürgers; 1758) wie folgt Stellung: „Der Bürgerkrieg ist ein Übel, insofern er der Sichèrheit und dem Glück zuwiderläuft, die sich die Menschen vorgenommen haben, als sie Gesellschaften bildeten, und insofern er sehr viele Staatsbürger umkommen läßt; ebenso wie die Amputation eines Armes oder Beines ein Übel für mich ist, da sie der Konstitution meines Körpers zuwiderläuft und mir brennenden Schmerz verursacht. Wenn ich jedoch ein Geschwür am Arm oder Bein habe, ist diese Amputation eine Wohltat. So ist auch der Bürgerkrieg eine Wohltat, da ja die Gesellschaft ohne die Hilfe dieser Operation . . . Gefahr laufen würde, am Despotismus zu sterben."154 Als lobenswertes 149
Beispiel führte Mably in diesem Zusammenhang die Unabhängigkeitskriege der Niederländer gegen die spanische Herrschaft Philipps II. an. In mehreren, damals vielbeachteten Werken erörterte der Abbé de Mably (1709-1785) ebenso ausführlich wie kritisch die zwischenstaatlichen Beziehungen im 17. und 18. Jahrhundert: 1748 erschienen sein Droit public de l'Europe (Das europäische öffentliche Recht) und 1757 die Principes de négociations (Prinzipien für Verhandlungen). In der erstgenannten Abhandlung gab er einen geschichtlichen Abriß der. internationalen Beziehungen in Europa von 1648 bis 1748, wobei er die zwischen den Völkern geschlossenen Verträge zugrunde legte. Die zweite Schrift, eigentlich als Einführung zum Droit public de l'Europe gedacht, enthielt Grundsätze, wie sie sich für ihn aus der Geschichte der zwischenstaatlichen Beziehungen seit 1648 ergaben. Sein hauptsächliches Anliegen war es, Richtlinien für eine auf Erhaltung des Friedens ausgerichtete Außenpolitik aufzustellen. Die Normen für das Verhalten der Staaten untereinander wollte er nicht allein auf naturrechtliche, aus der Vernunft abzuleitende Grundsätze stützen, sondern ebenso auch aus bestehenden Verträgen, geführten Verhandlungen und eingegangenen Bündnissen entwickeln. Im Vorwort zum Droit public de l'Europe schrieb er: „Jedermann weiß, daß Verträge die Archive der Nation sind, daß sie bei allen Völkern die Ansprüche, die gegenseitig bindenden Verpflichtungen, die auferlegten Gesetze, die erworbenen oder verlorenen Rechte enthalten." 155 Es komme deshalb darauf an zu zeigen, welche Artikel zur endgültigen Schlichtung von Streitigkeiten, zu Bündnissen und zur Autorität von Gesetzen führten. Auf diesem Wege sollten feste Regeln und Nonnen ergründet werden, die zur Sicherung des Friedens beitragen. Im Verlauf seiner Untersuchung mußte der Autor indessen erkennen, daß dies unter den bestehenden Herrschaftsverhältnissen letztlich nicht möglich war. In seiner Kritik an den internationalen Beziehungen arbeitete Mably systematisch mehrere Punkte heraus, die auch anderwärts immer wieder, wenn auch oft nur als Hinweis, in der französischen Aufklärungsliteratur auftauchten. Erst seit dem 16. Jahrhundert, konstatierte Mably, bestehen intensivere 150
Beziehungen zwischen den Völkern auf der Grundlage von Verträgen. Ihre Basis sei jedoch ungesund, da sich die Völker aus Ehrgeiz, Habsucht und Angst veranlaßt sahen, einander zu suchen, Hilfe zu leisten oder abzulehnen. Die Kunst der Verträge wurde so zu einer Kunst der Intrige. Außerdem schloß man die Verträge nicht auf der Grundlage allgemeiner Prinzipien ab, sondern gehorchte zufälligen Gelegenheiten und Launen. Ansätze zu einer Wissenschaft der Vertragskunst konnten damit nicht gefunden werden. Da Mably aber gerade diese Wissenschaft begründen wollte, sah er sich dem Dilemma gegenüber, daß sich in dieser Hinsicht keine Fortschritte abzeichneten. „Nach zwei Jahrhunderten Erfahrung sind wir heute nicht geschickter. Doch das möge uns nicht überraschen, widersetzt sich doch die Konstitution unserer Regierungen den Fortschritten der Wissenschaft von den Verhandlungen." 156 Damit hatte Mably eine entscheidende Erkenntnis gewonnen, die in der Spätaufklärung immer größere Relevanz erhielt: Neue außenpolitische Prinzipien erfordern ein anderes Staatsgefüge. Die Außenpolitik muß unter dem Blickpunkt des Gesamtwohls der Nation stehen. Sie darf nicht von Launen, Ehrgeiz und besonderen dynastischen Interessen der jeweiligen Herrscher bestimmt sein. In der Spätaufklärung fanden diese Gedanken, mit der Forderung der Volkssouveränität verknüpft, beredten Ausdruck. In diesem Sinne wollte Mably auch eine Wissenschaft der Verträge und Verhandlungen verstanden wissen. Es galt, nach allgemeinen Grundsätzen vorzugehen, das Wohl der Nation im Auge zu haben. „Wenn man aber Verhandlungen als ein allgemeines Mittel betrachtet, das der Staat anwendet, um sein Glück zu vergrößern oder zu bewahren; wenn man prüft, wie die Politik Gebrauch von diesen Verhandlungen machen muß, um ihre sämtlichen Angelegenheiten zu regeln und mit fremden Staaten so zu verhandeln, daß sich daraus ein allgemeiner, dauerhafter und bleibender Vorteil ergibt, beginnt man Prinzipien zu entdecken, die als sichere Führer für alle Zeiten und Gelegenheiten zu betrachten sind . . . Erfolglos wird man verhandeln, wenn man nicht zwischen diesem anzustrebenden Ziel und den Prinzipien seiner Regierung ein richtiges Verhältnis findet . . . Jeder Staat hat auf Grund seiner Gesetze, seiner Sitten und seiner 151
topographischen Lage eine ihm eigene Seinsweise, die allein über seine wahren Interessen entscheidet."157 Mably übte in den erwähnten Werken auch heftige Kritik an der Diplomatie seines Jahrhunderts. Vor allem hob er hervor, daß Verschlagenheit und List niemals Mittel sind, echte Erfolge zu erzielen. Er trat deshalb für Offenheit und Aufrichtigkeit bei Verhandlungen ein. Insbesondere komme es darauf an, daß die Angelegenheiten und Streitigkeiten eine vollständige Klärung erfahren, nicht aber zum Nachteil anderer nur vorübergehend beigelegt werden. In diesem Zusammenhang wandte er sich speziell gegen die übliche Praxis der Geheimverträge, die er verabscheute. Aufrichtigkeit war für ihn das einigende Band der Gesellschaft, und es sollte auch die Grundlage der internationalen Beziehungen bilden. 158 Ähnlich äußerte sich auch Holbach in seinem Système social (Gsellschaftssystem) : „Es gibt für alle Menschen nur eine Moral; es ist dieselbe für die Nationen wie für die Individuen, für die Souveräne wie für die Untertanen, für den Minister wie für den letzten Bürger. Die aufrichtigste Politik ist immer die sicherste. Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit, Offenheit sind ihre Grundlage."159 In immer stärkerem Maße wurde im 18. Jahrhundert von den Aufklärern die Forderung erhoben, auch auf dem Gebiet des noch jungen Völkerrechts naturrechtliche Prinzipien zur Geltung zu bringen, die humanistische Perspektive weltbürgerlicher Gesinnung in den zwischenstaatlichen Beziehungen gesetzlich zu verankern. Hugo Grotius hatte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zuweilen noch Naturrecht und Völkerrecht einander gegenübergestellt. Ihm war es in erster Linie darum zu tun, bestimmte Spielregeln für zwischenstaatliche Beziehungen aufzustellen und durchsetzen zu helfen.160 Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes, der bestrebt war, mit naturrechtlichen Argumenten die absolutistische Herrschaftsform zu rechtfertigen, sprach dem Völkerrecht den Charakter eines Rechts überhaupt ab. Namhafte Rechtslehrer des 18. Jahrhunderts bezogen hier allerdings eine andere Position: Christian Wolff bemühte sich, die für die Konstitution eines Staates entwickelten naturrechtlichen Prinzipien auf die internationale Ebene zu übertragen und hierbei von einer Gemein152
schaft der Völker (civitas maxima) auszugehen.161 Burlamaqui lehnte eine Unterscheidung zwischen Naturrecht und Völkerrecht ab, da es sich um ein und dieselbe Sache handele. 162 Schon Pufendorf hatte im 17. Jahrhundert geäußert, daß beide Rechte ihrem Wesen nach zusammengehörten. Vattel hingegen fand sich nicht aus dem Dilemma heraus, daß einerseits die Staaten als souverän galten, sich andererseits aber im Verkehr der Völker untereinander bestimmte Rechte und Pflichten abzeichneten, obgleich eine über den Staaten stehende richterliche und exekutive Gewalt nicht existierte. Er unterschied daher zwischen vollkommenen und unvollkommenen Rechten. 163 Diese hier nur kurz umrissene Problematik spielte auch in der französischen Aufklärungsliteratur eine Rolle. Wenn die bestehenden zwischenstaatlichen Beziehungen kritisch unter die Lupe genommen und neue, an den aufkommenden bürgerlichen Idealen orientierte Grundsätze für das internationale Leben entworfen wurden, tauchte nämlich immer wieder die Frage auf, ob das Naturrecht und die in diesem Zusammenhang entwickelte Lehre vom Gesellschaftsvertrag auf die Beziehungen der Völker untereinander anwendbar seien. Da die Probleme der internationalen Beziehungen in den Schriften verschiedener französischer Autoren des 18. Jahrhunderts einen relativ breiten Raum einnahmen, brachte ein kompetenter französischer Rechtshistoriker sogar die Ansicht vor, daß die wahren Fortsetzer der Schule des Natur- und Völkerrechts von Grotius, Hobbes und Pufendorf nicht Spezialisten der Diplomatie und des Rechts gewesen seien, sondern die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts. 164 Wenn auch keiner von ihnen das Völkerrecht als besonderen Gegenstand in speziellen Werken behandelte, so erregten doch zentrale völkerrechtliche Probleme und Aspekte ihre Aufmerksamkeit und erfuhren in ihren Darlegungen teilweise eine prinzipielle Behandlung, vor allem im Hinblick auf die Problematik von Krieg und Frieden. Holbach vertrat die Auffassung, daß das Naturrecht auch die Grundlage des Völkerrechts bilde. Die Nationen seien in Wirklichkeit nur Individuen einer universellen Gesellschaft, d. h. der menschlichen Gattung. Was ein Mensch dem anderen schulde, das schulde auch ein Volk dem anderen. Er argumen153
tierte: „Die Menschlichkeit ist ein Knoten, um unsichtbar den Bürger von Paris mit dem von Peking zu verbinden. Sie ist ein Vertrag, der in gleicher Weise alle Glieder der großen Familie verpflichtet, in welcher die verschiedenen Völker der Welt nur einzelne Individuen sind. Dieser Vertrag ist der Schutzbrief unseres Geschlechtes; er gibt jedem von uns das Recht, Gerechtigkeit, Mitleid und Wohltaten eines jeden empfindenden Wesens in Anspruch zu nehmen, von welchem Land, welcher Religion und welchem Stand es auch sei. Krieg, Grausamkeit, Eroberungen, Intoleranz und Härte sind der Menschlichkeit entgegengesetzt." 165 In ähnlicher Weise äußerte sich auch D'Alembert. 1 6 6 E r hob hervor, daß jeder Staat nicht nur seine eigenen Gesetze zu beachten habe, sondern auch diejenigen, welche sich aus den Beziehungen zu anderen Staaten ergeben. Zwischen diesen Gesetzen bestehe kein Unterschied. Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Mäßigung und gegenseitige Rücksichtnahme sollten in den völkerrechtlichen Beziehungen die maßgeblichen Prinzipien sein. Generell herrschte bei den meisten Aufklärern die Überzeugung vor, daß der Frieden unter den Völkern in dem Maße eine solidere Grundlage erhalte, in dem es gelänge, ein auf naturrechtlichen Prinzipien fußendes Völkerrecht durchzusetzen. Das aber wiederum, dessen war man sich bewußt, konnte erst auf breiter Basis erfolgen, wenn in den einzelnen Ländern die Grundsätze des Naturrechts auf innenpolitischer Ebene verwirklicht waren. Verschiedene Aufklärer warfen dessenungeachtet die Frage auf, inwieweit bereits bei der Errichtung eines neuen Staatswesens eine organische Einheit von Patriotismus und Weltbürgertum garantiert sein müsse. D'Alembert, Holbach und Condorcet wollten in diesem Falle die Durchsetzung der naturrechtlichen Prinzipien innerhalb eines Staates und die entsprechende Erziehung zum Partriotismus unbedingt unter konsequenter Wahrung der naturrechtlichen Beziehungen, wie sie das Völkerrecht vorschrieb, verstanden wissen. Condorcet machte darauf aufmerksam, daß das wahrhafte Interesse eines Volkes niemals von dem allgemeinen Interesse des Menschengeschlechts zu trennen sei, denn es verstoße gegen •die Natur, das Glück eines Volkes auf dem Elend seiner Nachbarn zu errichten 167 und zwei große Tugenden wie Vater154
landsliebe und Menschheitsliebe einander entgegenzusetzen, statt sie zu vereinen. Holbach führte als Beispiel falsch verstandener Vaterlandsliebe die Römer und die Spartaner an: „In der Antike schließlich hat man, wie bereits bemerkt, fälschlich eine zügellose Leidenschaft für das Vaterland als Tugend bezeichnet, einen Fanatismus, der oft aus griechischen und römischen Helden sehr schlechte Weltbürger machte, das heißt sehr grausame, ungerechte, unmenschliche Menschen gegenüber anderen Völkern und infolgedessen Schuldige in den Augen der redlichen Vernunft." 168 Jean-Jacques Rousseau schloß sich dieser Verachtung des „fanatischen" Patriotismus der Antike nicht an. Er zollte dieser Gesinnung vielmehr gewisse Anerkennung, da er in der Vaterlandsliebe eine der höchsten Tugenden erblickte. In seinem Erziehungsroman Emile warnte er vor den Gefahren des Kosmopolitismus und meinte, daß mancher Philosoph die Tataren liebe, um nicht seine Nachbarn lieben zu müssen.169 Für ihn stand die Erziehung zum Staatsbürger im Vordergrund. Während Holbach, Condorcet und andere Vertreter des enzyklopädistischen Flügels der Aufklärungsbewegung bei der anvisierten Durchsetzung der neuen Staatsprinzipien den nötigen Spielraum für eine weltbürgerliche Gesinnung garantiert sehen wollten, d. h., naturrechtliche Prinzipien gleichzeitig im Innern des Landes wie auch in den internationalen Beziehungen Geltung erlangen sollten, war für J.-J. Rousseau und Helvetius170 die Durchsetzung der naturrechtlichen Prinzipien innerhalb der Nation, die Erziehung zum Patriotismus im Sinne der Überwindung von Eigennutz und Sonderinteresse am vordringlichsten. Erst wenn dieses Ziel erreicht sei, bestünden die Voraussetzungen für die Anwendung des Naturrechts im internationalen Bereich, bahne sich damit die Möglichkeit an, einen ewigen Frieden unter den Völkern zu erreichen. Dann hat, wie Helvetius schrieb, der „Staatsroman Saint-Pierres" Aussicht auf Verwirklichung.171 J.-J. Rousseau betrachtete die zwischenstaatlichen Beziehungen als noch im Naturzustand befindlich, dessen Ablösung durch den sogenannten Gesellschaftszustand der Zukunft vorbehalten bliebe. Durch das Fehlen eines Gesellschaftsvertrages sei in den zwischenstaatlichen Beziehungen keine bindende Kraft wirksam.172 155
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurden auch in der schöngeistigen Literatur in verstärktem Maße pazifistische Töne angeschlagen. Die von den Aufklärern geübte heftige Kritik an den bestehenden internationalen Beziehungen fand Eingang in manche Dichtung. Zwischen 1758 und 1764 entstanden beispielsweise einige Oden über die unheilvollen Folgen von Kriegen und die verwerfliche Kriegspolitik der Fürsten, die teilweise eine beachtliche Resonanz fanden. Dies traf vor allem auf eine von Charles Bordes, einem Aufklärer aus Lyon, verfaßte Ode zu, die erstmals 1758 in der von Jacob Vernes herausgegebenen Genfer Zeitschrift Choix littéraire (Literarische Auswahl; Vol. 15, S. 209-218) erschienen war und allein bis 1764 noch zehnmal in anderen Zeitschriften und Ländern publiziert wurde, so auch 1760 in der von dem Leipziger Aufklärer Johann Christoph Gottsched herausgegebenen Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (Bd. 10, S. 686-692). Voltaire schrieb an den Herausgeber der Choix littéraire, daß diese Ode voller Schönheiten sei und er die Absicht habe, sie dem preußischen König Friedrich II. zuzuschicken. In dieser ursprünglich 58 Strophen umfassenden Dichtung wurden keine neuen Gedanken über Krieg und Frieden entwickelt, sondern die bereits in der Frühaufklärung vorgebrachten Klagen über den Schrecken und die katastrophalen Folgen des Krieges sowie kritische Einwände gegen die unheilvolle Eroberungspolitik der Fürsten, gegen perfide Kabinettspolitik und doppelzünglerische Diplomatie wiederholt. Doch die poetische Form verlieh ihnen in der Öffentlichkeit eine nicht zu übersehende Wirkung. Da zudem verschiedene Publizisten des 18. Jahrhunderts mutmaßten, daß Voltaire oder der Preußenkönig Friedrich II. der Verfasser dieser anonym erschienenen Ode Bordes' sei, erhöhte sich noch das allgemeine Interesse für diese Dichtung.173 Zweifellos war für die günstige Aufnahme dieser pazifistischen Verse auch von Belang, daß im Verlauf des Siebenjährigen Krieges die durch die Aufklärungsbewegung sich stärker profilierende öffentliche Meinung konsequenter gegen die kriegerische Politik der Fürsten Stellung bezog.174 Ein beredtes Zeugnis hierfür war, wie Friedrich II., der sich als „aufgeklärter" Monarch auszugeben bemüht war, darauf reagierte. 156
Mancher Aufklärer hatte zunächst gehofft, Friedrich II. werde das Beispiel eines aufgeklärten Herrschers bieten, zeigte •er sich doch als Kronprinz den Ideen der Frühaufklärung gegenüber recht aufgeschlossen, wie es unter anderem sein mit Voltaire geführter, reger Briefwechsel dokumentierte. Voltaire meinte, daß mit Friedrich II. das Bündnis zwischen Aufklärung und weltlicher Macht reale Gestalt annehmen könnte. D'Argenson stellte Friedrich II. bei dessen Thronbesteigung den eigenen König Ludwig XV. als Vorbild hin. 175 Viel Beachtung schenkte man dem Anti-Macbiavel (1740), den Friedrich II. noch als Kronprinz verfaßt hatte. Bot dieses Werk auch keine originelle Leistung, so erregte es doch beträchtliches Aufsehen. Immerhin bekannte sich hier ein Herrscher öffentlich zur Politik des aufgeklärten Fürsten, was eine Verpflichtung bedeutete, wie der alte Premierminister Ludwigs XV., Kardinal Fleury, betonte.176 In seinem Anti-Macbiavel umriß Friedrich II. die außen- wie innenpolitischen Grundsätze eines Monarchen. Gleich der französischen Frühaufklärung verdammte er den Typ des Eroberers und sprach ihm wahren Ruhm ab. Die Macht eines Staates, so formulierte er, beruhe nicht auf der Größe des Territoriums, sondern auf der Zahl der Bewohner und auf deren Reichtum.177 Wie aber sah die politische Praxis aus, nachdem Friedrich II. den Thron bestiegen hatte? Bereits ein Jahr später, 1741, fiel er unter Mißachtung seiner im Anti-Machiavel entwickelten Prinzipien in Schlesien ein. Zahlreiche französische Aufklärer waren darüber bestürzt, und Voltaires Freundin Madame Châtelet äußerte dazu: „Ich glaube nicht, daß es einen größeren Widerspruch gibt als die Invasion in Schlesien und den AntiMachiavel,,"178 Über diesen Widerspruch war der Abbé de Saint-Pierre ebenso entsetzt und veröffentlichte dazu in der Schrift Énigme politique (Politisches Rätsel) seine Gedanken. Nach ihm hätte Friedrich II. seinen Streit mit Maria Theresia vor den Reichstag bringen sollen. Er schlug Friedrich II. vor, sich nun an England und Holland als Schiedsrichter zu wenden. Von seinem literarischen Freunde Formey ließ Friedrich II. diese Schrift beantworten. Die Anti-St. Pierre ou Réfutation de l'Énigme politique de l'Abbé de St. Pierre (Anti-St. Pierre oder Widerlegung des von dem Abt St. Pierre vorge157
legten politischen Rätsels) betitelte Entgegnung enthält heftige Angriffe auf den Abbé, dem es nicht gelungen sei, „die Ungerechtigkeit des Krieges gegen Maria Theresia zu beweisen"1*». Nach diesem Ersten Schlesischen Krieg ebbte die Enttäuschung über die Politik Friedrichs II. etwas ab. Doch der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges 1756 bestimmte dann letztlich die Einschätzung der Politik des Preußenkönigs in der „aufgeklärten" Öffentlichkeit. Entschieden wurde der Einfall der preußischen Armee in Sachsen verurteilt, der ohne Kriegserklärung erfolgt war. Barbier schrieb dazu in seinem journal, daß der Preußenkönig das Völkerrecht verletzt hätte, und nannte ihn einen gekrönten Dieb. 180 Auch Voltaire wandte sich von ihm ab und begrüßte die österreichisch-französische Allianz. 181 In mehreren Gedichten richtete er heftige Anklagen gegen Friedrich II. 182 „Erst die Veröffentlichung der geheimen Papiere aus dem sächsischen Staatsarchiv dämpfte die allgemeine Entrüstung." 183 Friedrich II. hatte durch den Verrat österreichischer und sächsischer Beamten laufend Einblick in die zwischen Österreich, Sachsen und Rußland geführten Verhandlungen, „die dahin abzielten, ihn zu überfallen und die aufstrebende Macht des preußischen Staates zu brechen"184. Aufschlußreich war ferner, daß zu jener Zeit verschiedene französische Aufklärer wie D'Alembert und D'Argenson das französisch-österreichische Bündnis konsequent ablehnten, weil die österreichische Regierung der Aufklärung äußerst feindlich gegenüberstände und Preußen viel besser als Verbündeter geeignet wäre. D'Alembert äußerte: „Diese Österreicher sind unverschämte Kapuziner, die uns hassen und verachten und die ich vernichtet sehen möchte samt dem Aberglauben, den sie beschützen."185 Je länger Friedrich II. regierte, desto weniger erfüllte er die in ihn gesetzten Hoffnungen der französischen Aufklärer, deren gesellschaftspolitische Einsichten und Folgerungen überdies radikaler wurden. Die Außenpolitik des Preußenkönigs verstieß gegen die von den Aufklärern entwickelten Prinzipien des Völkerrechts. Ebenso ließen die innenpolitischen Maßnahmen die Konsequenz eines „aufgeklärten" Monarchen vermissen. Friedrich II. selbst brachte für die zunehmende Radikali158
sierung der französischen Aufklärung immer weniger Verständnis auf, insbesondere für die revolutionären Forderungen eines Rousseau oder Diderot. 186 1766 erschien anonym die Schrift Matinées de Frédéric II, roi de Prusse (Vormittagsstunden Friedrichs II., des Königs von Preußen). Sie erregte ziemliches Aufsehen, wurde mehrmals neu aufgelegt, in andere Sprachen übersetzt und stellte eine heftige Satire auf die Politik Friedrichs II. dar: Der Preußenkönig setzt hier seinem Neffen „alle Prinzipien seines privaten, bürgerlichen, militärischen und politischen Verhaltens mit zynischer Aufrichtigkeit auseinander und gibt ihm rein machiavellistische Grundsätze mit ins Leben" 187 . In ähnlicher Form zeichnete auch Diderot (1713-1784) in seinen Principes de politique des souverains (Politische Prinzipien der Herrscher) 188 einen Despoten. Damit hatte er, wie allgemein angenommen wird, Friedrich II. von Preußen gemeint, dessen aggressive Politik er auch in anderen Werken rügte.189 In dem Artikel paix (Frieden) der von ihm herausgegebenen Encyclopédie beklagte Diderot, daß sich die Herrscher viel zu wenig von der Vernunft leiten ließen und deshalb unbesonnen Kriege führten. Diese Fürsten bemerkten nicht, daß die mit dem Blut ihrer Untertanen bezahlten Eroberungen niemals das wert sind, was für sie geopfert wird. Friedrichs II. Verhalten gegenüber den gesellschaftspolitischen Ideen der französischen Spätaufklärung fand seinen wohl charakteristischsten Ausdruck in der Schrift Examen de „l'Essai sur les préjugés" (Prüfung des Essays über die Vorurteile), die der Preußenkönig 1770 anonym veröffentlichen ließ. Darin polemisierte er massiv gegen Anschauungen, die in dem 1769 veröffentlichten Buch Essai sur les préjugés (Essay über die Vorurteile) entwickelt worden waren. Als Autor dieses Werkes wurde zwar Du Marsais angegeben, doch schreiben es verschiedene Forscher dem Materialisten Holbach zu. Ohne Zweifel fühlte sich Friedrich II. durch dieses Werk besonders getroffen. „Die Deklamationen der französischen Philosophen gegen die Kriege, die stehenden Heere und den Ehrgeiz der Fürsten hatten ihn schon immer verdrossen."190 Im Examen de „l'Essat sur les préjugés" schrieb Friedrich II., daß es kein Mittel gäbe, Kriege überhaupt zu verhindern. 159
Diese seien zwar verhängnisvoll und furchtbar, doch ebenso notwendig wie die Unwetter in der Ordnung des Universums, da beide periodisch einträten und bisher kein Jahrhundert verschont hätten. 191 Eine solche fatalistische Anschauung widerstrebte den französischen Aufklärern. Obwohl die meisten von ihnen nicht an eine unmittelbare Lösung im Sinne eines ewigen Friedens glaubten, lag ihren Anschauungen doch die Überzeugung zugrunde, daß mit der zunehmenden Durchsetzung •der Vernunft auch ein ewiger Frieden unter den Völkern erreichbar sei. Diderot erteilte den Argumenten Friedrichs II. gegen den Essay über die Vorurteile eine vernichtende Abfuhr. Sarkastisch bemerkte er: „Und dann, nachdem unser Kritiker •die Wahrheit gelästert, den Irrtum gepriesen, die menschliche Natur verleumdet, den Hochmut der Leute von hoher Geburt verteidigt und Priester und Aberglauben gerechtfertigt hat, beeilt er sich, das Loblied der Krieger zu singen."192 Am Schluß stellte sich Diderot dann die Frage, was er aus der Streitschrift Friedrichs II. gelernt habe. Seine von bitterer Ironie erfüllte Anwort lautete: „ . . . daß der Mensch nicht für die Wahrheit und die Wahrheit nicht für den Menschen geschaffen ist; daß wir zum Irrtum verdammt sind; daß der Aberglaube sein Gutes hat; daß die Kriege eine schöne Sache sind usw., usw. und daß Gott uns vor einem Herrscher bewahren möge, der einem solchen Philosophen gleicht."193 Die französische Spätaufklärung fällte damit ein vernichtendes Urteil über die gesellschaftspolitischen Anschauungen Friedrichts II. - ein Urteil, das nichts mehr von den Erwartungen ahnen ließ, •die einst die Aufklärer mit diesem Preußenkönig verbunden hatten.
Die Interessenharmonie In der Entwicklung der Friedensideen tauchten mit der Lehre von der Interessenharmonie194 neue Gesichtspunkte auf. Die Physiokraten, die in der französischen Aufklärung erstmals diese Auffassung konsequent vertraten, legten sie im Sinne friedlicher Wechselbeziehungen zwischen den Völkern aus. Wie die Verfechter der naturrechtlichen Orientierung des Völ160
kerrechts gingen sie davon aus, daß die einzelnen Staaten und Völker in Wirklichkeit nur verschiedene Zweige ein und desselben Stammes seien. In diesem Zusammenhang betonten sie nachdrücklich die wirtschaftliche Abhängigkeit der einzelnen Länder voneinander und sprachen dem Handel eine völkerverbindende Aufgabe zu. 1 9 5 Ihre Auffassung vom Handel stand zur merkantilistisch orientierten Handelspolitik des Feudalabsolutismus in völligem Gegensatz. Den merkantilistischen Auffassungen hielten die Physiokraten entgegen, daß es nicht der Zweck des Handels sei, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Dadurch würden die Interessen anderer Völker verletzt und ständiger Anlaß zum Kriege gegeben. 196 Der Handel müßte allen daran beteiligten Ländern Vorteile verschaffen. 197 „Nach merkantilistischer Auffassung bedeutet Austausch von Ware Eintausch von Geld und Austausch von Geld Eintausch von Ware - auch im Verkehr zwischen Nationen - und aus diesem wechselseitigen Austausch ergibt sich Gewinn oder Verlust, so daß wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staates möglich und notwendig sind, eine positive Bilanz im wechselseitigen Austausch zu erzielen. Nach Auffassung der Physiokraten und Adam Smith' dagegen gleichen sich im wechselseitigen Austausch die Werte aus - auch im Verkehr zwischen Nationen so daß Interventionen des Staates nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich sind." 1 9 8 Aus der von den Physiokraten und dann vor allem von Adam Smith und Jeremy Bentham entwickelten Freihandelslehre entstand die Losung vom Weltfrieden durch Welthandel. 1 9 9 Vom Freihandel erhoffte man sich im Laufe der Entwicklung einen Machtausgleich, der schließlich zur Unabhängigkeit und zum Wohl aller Staaten führe. Bereits im 19. Jahrhundert zeigte sich indessen, daß diese liberalen Wirtschaftsvorstellungen nur den vom Profitstreben bestimmten kapitalistischen Konkurrenzkampf verdeckten und einen illusionären Charakter besaßen. Die physiokratische Lehre beruhte auf der Vorstellung von einem „ordre naturel", den es freizusetzen gelte und dessen Grundlage das bürgerliche Eigentum bilde. 200 „Natürliche Ordnung" bedeutete für diese Richtung nichts anderes als die kapitalistische Wirtschaftsordnung, das Spiel der freien Kon11
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kurrenz. Der den Physiokraten vorschwebende, als „aufgeklärter Despotismus" gekennzeichnete Staat hätte im wesentlichen nur die Aufgabe, alle der kapitalistischen Entwicklung noch entgegenstehenden Hemmnisse zu beseitigen. Jede Einmischung in diesen Prozeß verurteilten die Physiokraten als anmaßende polizeistaatliche Protektion. In ihrer Doktrin wurde erstmals in zusammenhängender Weise die ökonomische Struktur der im Werden begriffenen kapitalistischen Gesellschaft aufgezeigt, wenn auch infolge der in Frankreich vorhandenen gesellschaftlichen Bedingungen des Feudalabsolutismus noch die Landwirtschaft im Vordergrund stand, die nach physiokratischer Ansicht allein den Reichtum schaffe. Karl Marx hob hervor: „In der Tat aber ist das physiokratische System die erste systematische Fassung der kapitalistischen Produktion. Der Repräsentant des industriellen Kapitals - die Pächterklasse - leitet die ganze ökonomische Bewegung. Der Ackerbau wird kapitalistisch betrieben, d. h. als Unternehmung des kapitalistischen Pächters auf großer Stufenleiter; der unmittelbare Bebauer des Bodens ist Lohnarbeiter. Die Produktion erzeugt nicht nur die Gebrauchsartikel, sondern auch ihren Wert; ihr treibendes Motiv aber ist die Gewinnung von Mehrwert, dessen Geburtsstätte die Produktions-, nicht die Zirkulationssphäre."201 Diese „natürliche Ordnung" sollte nicht nur innerhalb eines Landes Geltung haben, sondern auch für die Beziehungen der Völker untereinander. Wenn die freie Konkurrenz in den internationalen Handelsbeziehungen nicht mehr gehemmt werde, so glaubten die Physiokraten, dann entstehe zwischen den einzelnen Völkern auf Grund der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen und des Angewiesenseins aufeinander ein freies und zugleich friedliches Spiel der Kräfte, bei dem der Vorteil des einzelnen niemals vom Vorteil aller getrennt werden könnte. 202 Um dem eigenen Volk und der Welt den Frieden zu sichern, kommt es also nur darauf an, daß sich dieser „ordre naturel" durchsetze und alle Völker nach den damit verbundenen Gesetzen regiert würden. In diesem Falle wäre dann auch nicht wie bei dem Friedensplan des Abbé de Saint-Pierre eine über den Völkern stehende Oberhoheit notwendig, da ja die Garantie für die Verwirklichung des ewigen Friedens dem „ordre naturel" immanent sei. Die Physiokraten vertraten die Auffassung, daß 162
sich die Menschheit trotz aller Unterschiede im Entwicklungstempo der einzelnen Länder auf dem Wege zu diesem allerdings erst nach und nach sich durchsetzenden „ordre naturel" befände.203 Die Realisierung des ewigen Friedens war daher für die Physiokraten keine bloße Phantasterei. Sie hing ihres Erachtens von der Durchsetzung des „ordre naturel" bei allen Völkern ab. Geschichtlich gesprochen hieß dies für sie: Erst mit der völligen Durchsetzung des Kapitalismus in der Welt bestände Aussicht auf Verwirklichung eines beständigen Friedens. Mehr als jede andere aufklärerische Richtung entwickelten die Physiokraten im 18. Jahrhundert in heftiger Auseinandersetzung mit der merkantilistischen Protektions- und Reglementierungspoliüik des Ancien régime den Gedanken einer allgemeinen Interessengemeinschaft und Interessenharmonie der Völker. Wenn auch die kapitalistische Praxis der folgenden Jahrhunderte ihre Auffassung Lügen strafte und hinter den Idealen des Freihandels brutales Profitstreben zum Vorschein kam, so trugen die Physiokraten mit ihren Vorstellungen dennoch in eigenständiger Weise zu den Friedensideen der französischen Aufklärung bei. Nach ihrer Überzeugung lag zwar die Herbeiführung des ewigen Friedens noch in ferner Zukunft, doch ließen sie keinen Zweifel daran aufkommen, daß der Weltfrieden realisierbar sei und daß der Handel nicht die Ursache kriegerischer Auseinandersetzungen zu sein brauche, sondern völkerverbindend wirken könne. Die
Konföderation
Mit den in der französischen Aufklärung entwickelten Friedensideen war der Gedanke der Konföderation, des Staatenbundes, eng verknüpft. Wie wir sahen, legte der Abbé de Saint-Pierre seinem Projet de la paix perpétuelle eine Konföderation der bestehenden europäischen Staaten zugrunde. In der Spätaufklärung stieß diese Konzeption insofern auf Widerstand, als sie die jeweils existierenden Herrschaftsverhältnisse anerkannte und so legitimierte. J.-J. Rousseau, Mably und Turgot orientierten deshalb auf eine Konföderation, die sich u»
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aus Staaten zusammensetzte, in denen naturrechtliche Prinzipien im Sinne der Aufklärung Geltung erlangt hätten. Außerdem dachten sie dabei nur an wenige Staaten mit gemeinsamen Charaktermerkmalen. Schon Montesquieu wies in seiner Abhandlung Vom Geist der Gesetze auf den besonderen Zweck und Charakter einer Konföderation hin. Eine solche „république fédérative" vereine in vorteilhafter Weise die innere politische Struktur einer Republik mit einer wirkungsvollen Sicherung der Macht nach außen.204 Als Beispiele führte er die Schweiz und die Niederlande an. Das Deutsche Reich erschien ihm zu unvollkommen auf Grund der kleinen Monarchien, die sich seiner Ansicht nach nicht zur Konföderation eigneten. Er unterstrich vornehmlich den friedlichen Charakter dieses Staatenbundes, der sich nur auf Defensivkriege beschränke und im Gegensatz zu den Bestrebungen einer Monarchie stehe, die auf Kriege und territoriale Vergrößerungen ausgehe. In den staatspolitischen Anschauungen von J.-J. Rousseau besaß der Gedanke einer Konföderation keinen geringen Stellenwert. Rousseau stand keinesfalls, wie der bekannte bürgerliche Rechtshistoriker Otto von Gierke205 behauptete, als extremer Verfechter des „zentralistisch-atomistischen" Gedankens der Idee einer Konföderation fremd gegenüber. Neuere Forschungen haben bewiesen, daß der Verfasser des Gesellschaftsvertrages sich eingehend mit dieser Problematik beschäftigte. Die Ausgangsbasis hierfür bildete aber nicht das föderative Gebilde eines Großstaates, dessen Wesen deutsche Rechtshistoriker des 17. und 18. Jahrhunderts verfassungsmäßig zu klären bemüht waren, sondern der Föderalismus im Sinne eines Staatenbundes. Ging es deutschen Rechtsgelehrten wie Althusius, Hoenonius und anderen um den einzelnen Staat, so befaßte sich J.-J. Rousseau hierbei mit den Beziehungen zwischen den Völkern. Der Graf d'Antraigues206 bemerkte in einer Notiz zu seiner Broschüre Quelle est la situation de l'Assemblée nationale? (Wie ist die Lage der Nationalversammlung? Lausanne 1790), daß er von J.-J. Rousseau ein eigenhändig verfaßtes Manuskript erhalten habe, worin dieser auf zweiunddreißig Seiten einen in sechzehn Kapitel unterteilten Plan über die Konföde164
ration aufgestellt habe. Um Mißdeutungen vorzubeugen, habe er aber von der Publikation abgesehen. Zum Schluß erklärte dann Antraigues, daß dieses Manuskript vernichtet worden sei. Vereinzelte Bemerkungen in Rousseaus Werken deuten ebenfalls darauf hin, daß er dieser Problematik seine Aufmerksamkeit schenkte. Offenbar hatte er die Absicht, als Fortsetzung seines Gesellschaftsvertrages eine Arbeit über die Konföderation zu verfassen. Darauf Bezug nehmend schrieb Rousseau 1762 in einer Anmerkung zum Gesellschaf tsvertrag: „Dies hatte ich mir vorgenommen in der Fortsetzung dieses Werkes zu tun, wo ich von den äußeren Beziehungen gesprochen hätte und damit zu den Konföderationen gekommen wäre. Das ist ein ganz neuer Gegenstand, dessen Prinzipien erst aufgestellt werden müssen." 207 Da sich für Rousseau die zwischenstaatlichen Beziehungen noch in einer Art Naturzustand befanden, müßten also erst einmal deren Prinzipien, somit eine entsprechende Ergänzung des Contrat social, geschaffen werden. Verschiedene Hinweise in seinen Werken lassen darauf schließen, welche Vorstellungen Rousseau im wesentlichen mit dem Begriff der Konföderation verband. Im Gesellschaftsvertrag heißt es : „Wie kann man aber die kleinen Staaten so stärken, daß sie den großen zu widerstehen vermögen? Dies geschieht so, wie einst die griechischen Städte dem Großkönig und noch jüngst Holland und die Schweiz dem Hause Österreich widerstanden haben." 208 Auch im Êmile behandelte er kurz das Problem der Konföderation. Um den größten Geißeln der Menschheit, der Tyrannei und dem Krieg, beizukommen, sollte man seines Erachtens zu Völkerbünden und Konföderationen übergeben. Diese überstaatlichen Vereinigungen dürften jedoch niemals in die inneren Angelegenheiten eingreifen. Ein solcher Bund habe vor allem den Zweck, sich gemeinsam gegen ungerechte Angriffe zu verteidigen. Rousseau folgerte: „Wir werden nachforschen, wie man einen guten föderativen Bund errichten kann, was ihn dauerhaft macht und bis zu welchem Punkt man das Recht der Konföderation auszudehnen vermag, ohne das der Souveränität zu schädigen." 209 Er schloß mit der Bemerkung, daß in dieser Hinsicht auch die Vorschläge des Abbé de Saint-Pierre zur Herbeiführung des 165
ewigen Friedens durch die Schaffung eines europäischen Staatenbundes zu prüfen seien. Es erhebe sich dabei allerdings die Frage, ob ein solcher Staatenbund praktisch und, falls überhaupt möglich, von Dauer sein werde. Bei dem Gedanken einer Konföderation verfolgte Rousseau hauptsächlich das Ziel, Kriege einzuschränken, sie immer mehr unmöglich zu machen. Die Grundlage hierfür erblickte er in geordneten, nach den „Prinzipien der Gerechtigkeit" konstituierten Gemeinwesen, wofür er vor allem in kleineren Staaten, vornehmlich in Republiken, die Voraussetzungen sah, da in ihnen am besten die Volkssouveränität, die Anteilnahme aller Bürger am öffentlichen Geschehen, im Gegensatz zum Repräsentativsystem, zur Geltung kommen könnte. Bei allen Vorteilen, die sich durch eine entsprechende innere Konstitution für die kleineren Staaten ergeben, sei natürlich nicht die große Gefahr der militärischen Unterlegenheit gegenüber größeren zu verkennen. Der Zusammenschluß zur Konföderation könnte hier allerdings Abhilfe schaffen. Das hauptsächliche Ziel der Konföderation sei die gemeinsame Verteidigung gegen etwaige Angreifer, wodurch die sich zusammenschließenden Republiken mächtig und unbesiegbar würden. Durch die Beachtung der vollen Souveränität bliebe das jeweilige Staatswesen in seiner inneren Entscheidungsgewalt unangetastet, und zugleich werde es durch die gemeinsame Verteidigung der Verbündeten nach außen hin gesichert. Von anderen Voraussetzungen her befaßte sich auch Turgot mit dem Problem der Konföderation. Über seine Auffassung von den „républiques fédératives" berichtete Condorcet in der Vie de Turgot (Turgots Leben). 210 Wie schon Montesquieu und Rousseau vertrat auch Turgot die Ansicht, daß der besondere Vorteil einer föderativen Republik in folgendem bestehe: Unabhängigkeit und Macht nach außen verbinden sich mit Ruhe und Freiheit im Innern. „Er meinte, daß alle benachbarten Völker, die dieselbe Sprache, dieselbe Lebensart und die gleichen Bräuche haben, natürlicherweise solche Vereinigungen bilden sollten; er hatte lange über die Mittel nachgedacht, wie diesen Bünden ein dauerhafter und sicherer Bestand zu geben sei und wie sie auf festen Grundsätzen zu errichten wären. Diejenigen, die in Europa bestehen, seien 166
zufällig nach den jeweiligen Umständen gebildet worden; doch dank dem aufgeklärten Geist dieses Jahrhunderts könnte sich Amerika ein regelmäßigeres, einfacheres und besser aufgebautes Verfassungssystem schaffen ; und diese Hoffnung hatte Turgot veranlaßt, sich mit noch größerem Interesse diesem in der Politik nahezu neuen Gegenstande zuzuwenden." 2J1 Jeder Staat der Konföderation müsse nach Turgot auf das Recht verzichten, Krieg zu führen und Frieden oder Verträge zu schließen. Dieses Recht werde nur dem Zentralorgan der Konföderation zugestanden, das den Krieg jedoch nur mit Zustimmung der großen Mehrheit und nur im Falle einer feindlichen Aggression erklären dürfe. 212 Auch bei Turgot ist ersichtlich, daß mit Hilfe der Konföderation Kriege soweit wie möglich vermieden werden sollen. Turgots Auffassung von der Konföderation beruhte jedoch in gesellschaftspolitischer Hinsicht auf anderen Grundsätzen als Rousseaus Konzeption. Letzterer ging von einem Kleinstaat aus, in dem jeder Bürger unmittelbar an der Regierung teilnahm und in dem die staatsbürgerliche Tugend, das Eintreten für das Allgemeinwohl, als Prinzip vorherrschte. Dieser Kleinstaat war nicht unbedingt auf Handel mit anderen Ländern angewiesen. Rousseau wollte den Handel sogar als schädlich unterbunden wissen, wenn er auf eine ständige Steigerung der Bedürfnisse hinauslief und dadurch das Prinzip der Gleichheit in Frage stellte. 213 Turgot hingegen vertrat folgende Ansicht: „Wenn jeder Staat eine den Grundsätzen des Naturrechts entsprechende Gesetzgebung annehmen würde und folglich die Freiheit des Handels und der Industrie weder durch Verbote noch durch Privilegien und Steuerrechte behindert sei, hätte man schon einen großen Teil der Hindernisse beseitigt und die gefährlichsten Quellen der Entzweiung zum Versiegen gebracht." 214 Für den Abbé de Mably trug ebenfalls die Konföderation zu einer Politik des Friedens bei, da sie den kleinen Staaten die Möglichkeit gebe, sich gemeinsam erfolgreich den Angriffen mächtiger Staaten zu widersetzen und bei den Bürgern Patriotismus mit der Achtung anderer Völker verbinde: „Eure Gesetze werden mehr oder weniger weise sein, je nachdem sie mehr oder weniger geeignet sind, euch mit euren Nach167
barn zu verbinden, so daß ihr nur eine einzige föderative Republik bildet: Das wäre der höchste Grad der Vervollkommnung, den die Politik erreichen könnte." 215 Nach Mablys Meinung hatte die föderative Republik in der Vergangenheit eine vorbildliche Form im griechischen Amphiktyonenbund erlangt. 216 Dieser habe gezeigt, daß nicht allein die Ausdehnung des Territoriums und die Anzahl der Bewohner die Macht eines Staates ausmachten, sondern daß es in erster Linie auf die Weisheit der Gesetze ankomme. Das Muster einer Konföderation sah Mably zu seiner Zeit in der Schweiz, deren innere politische Struktur er als vorbildlich herausstellte: „In der Schweiz gibt es sicherlich mehr glückliche Menschen als im ganzen übrigen Europa. Weshalb wohl? Weil die Gesetze unparteiischer als anderwärts sind und so die Menschen näher an ihre natürliche Gleichheit heranführen. Ein Staatsbürger ist dort keineswegs mehr als ein anderer. Man fürchtet nur die Gesetze und liebt sie zugleich, weil sie den Bürger schützen . . . Besitz, der weder zu groß noch zu klein ist, erzeugt weder den Geist der Tyrannei noch den der Knechtschaft. Weise Luxusgesetze, die große Reichtümer nutzlos machen, verhindern, solche zu wünschen, und mäßigen alle Leidenschaften." 217 Dank dieser politischen Grundsätze, betonte Mably, vermögen die dreizehn schweizerischen Kantone trotz unterschiedlicher Regierungsform und ungleicher Macht in friedlicher Nachbarschaft zu leben. „Sie sind Nachbarn, und doch sind sie ohne Eifersucht, Rivalität und Haß." 2 1 8 Für ihn besaß die Schweiz deshalb eine in die Zukunft weisende Form des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Völker. Als sich die Vereinigten Staaten von Nordamerika 1776 die Unabhängigkeit gegenüber England erkämpften, eine bürgerliche Verfassung durchsetzten und eine Konföderation bildeten, fand dies den ungeteilten Beifall der Aufklärer, die dies als ein untrügliches Zeichen für den Fortschritt der Vernunft betrachteten und hierbei auch neue völkerrechtliche Möglichkeiten zu erkennen glaubten. Die Schweiz war nun nicht mehr das einzige Vorbild einer Konföderation. Mably nahm hierzu Stellung in seiner letzten Schrift Observations sur le gouvernement et les loix des États Unis d'Amérique (Bemerkungen über die 168
Regierung und die Gesetze der Vereinigten Staaten von Amerika; 1783).219 Wie zahlreiche andere französische Aufklärer begrüßte er die von den Vereinigten Staaten erkämpfte Unabhängigkeit und die naturrechtlichen Grundsätze ihrer Verfassung. Doch meldete er zugleich ernste Zweifel an, ob sich in diesem Land ein auf naturrechtlichen Prinzipien beruhendes Staatswesen entwickeln könne. Mit Besorgnis verwies er auf zunehmende Gegensätze in der Gesellschaft, die durch den großen Reichtum einzelner bedingt waren. Er erblickte darin den Keim einer durch die Macht des Geldes verfallenden Gesellschaftsordnung.220 Unter diesen Gegebenheiten erwachse auch eine große Gefahr für die zur Konföderation zusammengeschlossenen Staaten. Der mit der Durchsetzung der Geldmächte aufkommende skrupellose Egoismus werde auf die Dauer ein friedliches Nebeneinander der noch verbundenen Staaten unmöglich machen. Für Mably bildete deshalb die Schweiz mit ihren Kantonen weiterhin das Vorbild einer Konföderation. Hier sah er sowohl eine gerechte innere Ordnung als auch eine unverbrüchliche Freundschaft zwischen den Verbündeten gewährleistet. Den Vereinigten Staaten von Amerika stellte er die Schweiz sogar als nachahmenswertes Beispiel hin. 22 ! Während J.-J. Rousseau und Mably die Frage der Konföderation von kleinbürgerlichem Gesichtspunkt aus behandelten, nahm Turgot eine konsequent kapitalistische Position ein. Er erachtete die Vereinigten Staaten von Amerika als vorbildliche Konföderation, da sich dort die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft frei zu entwickeln vermochte. Ein solcher Gegensatz war in der französischen Aufklärungsliteratur vielfach anzutreffen. Wie ein roter Faden durchzog er das vielfältige aufklärerische Denken. Trotz des gemeinsamen Kampfes gegen das Ancden régime, der im Namen des Naturrechts geführt wurde, offenbarten sich in Grundfragen der zukünftigen Entwicklung recht unterschiedliche Positionen. Sie spiegelten verschiedenartige gesellschaftliche Bedürfnisse und Forderungen innerhalb des dritten Standes wider. Die reiche Handelsbourgeoisie zum Beispiel hatte eben andere Interessen, Gesichtspunkte und Forderungen als die kleinbürgerlichen Schichten der Handwerker. 169
Das Heroische und die Antike im Blickpunkt der Friedensideen Die französische Frühaufklärung knüpfte an die Auffassungen der Stoa und des Erasmus von Rotterdam an, daß kriegerische Erfolge der Angreifer und Eroberer keine besondere Wertschätzung verdienten und Aggressoren als Feinde ' der Menschheit zu bezeichnen seien. Die noch in der Literatur des 17. Jahrhunderts gängigen Vorstellungen vom Heldenruhm wurden in diesem Zusammenhang gründlich korrigiert. Immer wieder gab man den Fürsten zu verstehen, daß es ihre Hauptaufgabe sei, die innere Entwicklung und das allgemeine Wohl des Landes zu fördern. Nicht als Eroberer, sondern nur als wahrer „Landesvater" hatten sie Aussicht, Ruhm zu erwerben. Die Souveräne sollten die Welt nicht in ständige Unruhe versetzen, sondern ihre Untertanen glücklich machen, dichtete Houdar de La Motte in seiner Ode Der Frieden.222 Jahrzehnte später wiederholte der Abbé Coyer dies in etwas anderer Form: „Wie, immer nur Blut, Schrecken, Erschöpfung und Tränen! Es ruhe der Ruhm, wenn er nur unserem Unglück dient."223 Während die französische Frühaufklärung ihre pazifistischen Vorstellungen entwickelte, trat Luc de Ciapiers de Vauvenargues (1715-1747) für die Berechtigung des Krieges ein. In seine Verteidigung des Krieges wollte er allerdings nicht die im 18. Jahrhundert geführten Kriege einbezogen wissen. Diese verachtete er vielmehr. Ebenso verwarf er das Söldnerheer, da er darin nicht das wahrhaft Heroische verkörpert fand. Vauvenargues benutzte Argumente, die auch andere Verfechter des Krieges im 18. Jahrhundert immer wieder vorbrachten: der Krieg sei ein natürliches Gesetz, und der Stärkere nehme sich stets das Recht, den Schwächeren zu unterjochen; der Frieden beschränke die Entfaltung der Talente und verweichliche die Völker, so daß er weder der Politik noch der Moral zum Wohle gereiche.224 Nach Vauvenargues' Ansicht könnte Ruhm allein im Krieg gedeihen, was dann auch die Künste zu voller Blüte bringe und aus dem Zustand der Barbarei herausführe. Aus diesem Grund sei auch in der Menschheitsgeschichte die Antike zum Vorbild avanciert. Besonders rühmte er in 170
dieser Hinsicht Alexander den Großen, 2 2 5 den die pazifistischen Traditionslinien stets als negatives Beispiel hinstellten. Mit seiner reaktionären Apologie des Krieges wandte sich Vauvenargues gegen die Frühaufklärung, die gerade zur Sicherung des Handels, zur Steigerung der Produktion und zur Entfaltung der Kultur sehr um die Sicherung des Friedens besorgt war und das Heroische nicht mehr im kriegerischen Sinne verstanden wissen wollte. Gerade das von Vauvenargues gelobte kriegerische Treiben in der Antike wurde von vielen Vertretern der französischen Frühaufklärung verworfen und dabei der spartanische Staat als besonderer Schandfleck angeprangert. Ramsay schrieb in seinem Erziehungsroman La nouvelle Cyropedie ou les voyages de Cyrus (Die neue Fürstenerziehung oder die Reisen des Kyrus): „Es scheint mir, daß die Republik Sparta ein ständiges Heerlager, eine Versammlung immer unter Waffen stehender Krieger ist. Wieviel Achtung ich auch für Lykurg habe, ich kann diese Regierungsform nicht bewundern. Männer, die einzig für den Krieg erzogen, keine andere Arbeit, kein anderes Streben, keinen anderen Beruf haben als sich geschickt zu machen, andere Menschen zu vernichten, müssen als Feinde der Gesellschaft betrachtet werden." 226 Auch in der Spätaufklärung teilten verschiedene Schriftsteller diese Auffassung, so beispielsweise Holbach, der meinte: „Die Gesetze Kretas und Spartas bezogen sich nur auf den Krieg und schienen vorauszusetzen, daß der Friede nicht für die Menschen geschaffen wäre." 227 Mably hingegen lobte den Spartanerstaat, der in seiner Blütezeit nur Verteidigungskriege geführt habe, als ein vorbildliches Staatswesen und Lykurg als größten Staatsmann. 228 Dennoch konnte er nicht umhin festzustellen, daß in der Antike noch keine naturrechtlicheri Grundsätze auf völkerrechtlichem Gebiet zur Anwendung gelangt waren. 229 Wie