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German Pages 101 [108] Year 1992
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les littératures romanes depuis la Renaissance
Herausgegeben von / Dirigées par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel
14
Jürgen von Stackelberg
Senecas Tod und andere Rezeptionsfolgen in den romanischen Literaturen der frühen Neuzeit
Max Niemeyer Verlag Tübingen
1992
Erstellung der Druckvorlage: Romanisches Seminar der Universität Hannover
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Stackelberg, Jürgen von: Senecas Tod und andere Rezeptionsfolgen in den romanischen Literaturen der frühen Neuzeit / Jürgen von Stackelberg. - Tübingen : Niemeyer 1992 (Mimesis ; 14) NE: GT ISBN 3-484-55014-7
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nadele, Nehren
Inhaltsübersicht
Vorbemerkung
1
I. Senecas Tod (Tacitus, Montaigne, Mascaron, Tristan PHermite, Diderot)
3
II. Der Wind der Leidenschaften (Seneca, Montaigne, Nicole, Fontenelle, Pope, Foscolo)
18
III. Caesar, Kleopatra und die bösen Ratgeber (Lucan, Corneille, Brébeuf)
23
IV. Der Klagemonolog des Geizigen (Plautus, Lorenzino Medici, Pierre de Larivey, Molière)
37
V. Die Fabeln vom Holzfäller und vom Bettelsack (Aesop, Phaedrus, Avian, Rabelais, La Rochefoucauld, La Fontaine)
45
VI. Liebesschüsse aus dem Hinterhalt (Vergil, Petrarca, Ba'if, Ronsard)
55
VII. Dieser Roman ist kein Roman (Scarron, Furetière, Challe, Marivaux)
61
VIII. Der Verzicht auf Liebe (Mme de Villedieu, Mme de Lafayette, Marivaux, Rousseau)
77
IX. Der Sekretär Gottes (Die Bibel, Bossuet, Voltaire)
87
X. Die Treueprobe (Ovid, Ariost, Cervantes, Marivaux, Schmidt, Da Ponte)
93
Diversité c'est ma devise La Fontaine
Vorbemerkung Wie nennt man literarische Übernahmen und Neugestaltungen, die nicht auf die erste Fassung eines Gegenstandes, sondern auf bereits vorliegende zweite oder dritte Fassungen desselben zurückgehen? Die Literaturwissenschaft stellt uns keinen Begriff für diese doch gewiß nicht seltene Erscheinung zur Verfügung. Ich spreche von Rezeptionsfolgen und spiele dabei zugleich mit einer denkbaren Nebenbedeutung dieses Wortes: zunächst und vor allem meine ich damit eine Reihe von Übernahmen und Neuformungen, aber wenn jemand als Konsequenz auffaßt, habe ich auch nichts dagegen, denn natürlich geht es mir um die Konsequenzen, die sich aus solchen Mehrfach-Übernahmen ergeben. Sie zu beschreiben und zu analysieren ist das Ziel dieser Studien. Sie fuhren thematisch Untersuchungen fort, die ich in meinem Band Übersetzungen aus zweiter Hand 1984 angestellt habe. Auch in diesem Buch geht es gelegentlich um Übersetzungen. In den romanischen Literaturen der frühen Neuzeit lassen diese sich von anderen Rezeptionsformen oft gar nicht unterscheiden. Das wird aus mehreren der hier untersuchten Beispiele deutlich. Öfters gebrauche ich auch den Begriff der literarischen Replik. Darunter verstehe ich eine Neugestaltung, die das Übernommene in einer ganz anderen Richtung als der ursprünglichen weiterentwickelt, also neue Sinngebungen überlieferter Stoffe oder Motive, auch wohl ganzer Werke, die im Rückblick zu der Vermutung Anlaß geben, der nachfolgende Autor habe seinem Vorgänger zeigen wollen, wie man's besser hätte machen können. Da aber kaum je ein kreativer Autor einen Gegenstand übernimmt und neugestaltet, wenn er nicht eine solche Absicht hat, erübrigt sich vielleicht deren Betonung. In jeder künstlerischen imitatio, die diesen Namen verdient, ist die aemulatio mitenthalten. Daher ziehe ich den neutraleren Begriff Rezeptionsfolge vor. Nicht festlegen lasse ich mich auf die Art oder den Umfang der Vorlagen. Es können, wie gesagt, ganze Werke sein oder Abschnitte aus solchen, aber auch Bilder, Vergleiche, Topoi oder Stoffe und Motive im Sinne von Elisabeth Frenzel. Bedingung ist nur, daß die Vorlage von mindestens zwei, lieber von mehreren Autoren übernommen und neugestaltet worden ist. Wenn ich der Arbeit La Fontaines Devise der vorangestellt habe, soll das nicht nur auf die Verschiedenartigkeit und Variationsbreite der Neugestaltungen hinweisen, die den Reiz der Sache ausmachen, sondern auch auf die Vielfalt der literarischen Gattungen, denen ich meine Rezeptionsfolgen entnehme: Geschichtsschreibung, Traktat, Tragödie und Komödie, Lyrik, Epos, Fabel und Libretto sind vertreten. Absichtlich ausgeklammert habe ich lediglich die Bühnen-Modernisierungen antiker mythologischer Stoffe, über die schon soviel geschrieben worden ist. Im übrigen spiegelt die Auswahl des Behandelten zugegebenermaßen persönliche Vorlieben aus älterer und neuerer Zeit. Nicht zufällig kommen Rabelais und Montaigne, La Fontaine, Molière und die Moralisten, die großen Romanciers des 17. und 18. Jahrhunderts, Diderot und Voltaire hier zu Wort. Bei zwei Studien (I und V) stehen mir bildliche Darstellungen vor Augen, so daß ich an die Kunstgeschichte angrenze; bei einer ist eigentlich Mozart der 1
Auslöser gewesen, an den ich mich über Da Pontes Libretto herantastete (X). Das erklärt, warum ich die literarische Rezeptionsfolge, um die es hier geht, verhältnismäßig knapp behandle. Das Programm - oder Rezept -, das ich mir vorgenommen habe, ist klar umrissen. Daraus folgt freilich noch nicht, welches Erkenntnisziel mir vorschwebt. Ich kann es ohne vergröbernde Verallgemeinerung nicht sagen. Einige Rezeptionsfolgen lassen sich in ihrer jeweiligen Neuakzentuierung historisch-soziologisch erklären, andere nicht. Bei einigen ist die erste Übernahme die interessanteste, bei anderen die zweite, dritte oder letzte. Werturteile scheue ich jedenfalls nicht, ja, durch den Vergleich mit der vorherigen hinter die jeweils neue Qualität der nachfolgenden Gestaltungen zu kommen, ist eines meiner Hauptanliegen. Natürlich münden in meine Rezeptionsfolgen immer wieder auch neue Traditionen ein, an die es bei der Gelegenheit zu erinnern gilt. Da geht es um Kontaminationen. Und schließlich greift der Nachfolgende nicht selten auf mehrere Stufen der jeweiligen Rezeptionsfolge zurück, nicht nur auf die letzte. Wie bei den Übersetzungen, die teils aus erster, teils aus zweiter Hand gemacht sind (wie das im achtzehnten Jahrhundert häufig der Fall war), könnte man hier von eklektischen Übernahmen sprechen. Aber auf die Begriffe kommt es nicht an. «Es liegt in der Natur unseres Gegenstandes, daß unsere allgemeinen Begriffe schlecht abgrenzbar und undefinierbar sind», schreibt Erich Auerbach in den Epilegomena zurMimesis 1954: «Ihr Wert besteht darin, daß sie im Leser eine Reihe von Vorstellungen hervorrufen, die es ihm erleichtern zu verstehen, was im jeweiligen Zusammenhang gemeint ist. Exakt sind sie nicht.» Ich teile die Begriffsskepsis des großen Textinterpreten, dessen Mimesis sich ja auch nicht nur der einen großen Fragestellung wegen zu lesen lohnt. Wenn mir an der nachzeichnenden Beschreibung der einzelnen Fälle mehr gelegen ist als an deren begrifflicher Festlegung, folge ich, denke ich, dem Autor der Mimesis. Ich tue das hier ebenso, wie ich es in meinen Untersuchungen zur französischen Romangeschichte und zur Funktion der Parodie versucht habe.
J.v.St.
2
I. Senecas Tod (Tacitus, Montaigne, Mascaron, Tristan l'Hermite, Diderot) Im fünfzehnten Buch seiner Annalen schildert Tacitus, wie Kaiser Nero, sein ehemaliger Zögling, Seneca zwingt, sich selbst den Tod zu geben. Nachdem er Britannicus und seine Mutter beseitigt hatte, konnte Nero den alternden Philosophen nur noch als einen lebenden Vorwurf empfinden. So nahm der zügellos gewordene Kaiser die Gelegenheit der pisonischen Verschwörung wahr, Seneca durch einen seiner Boten die wissen zu lassen. Zwar ließ sich eine Beteiligung Senecas an der Verschwörung nicht nachweisen, aber Nero reichte die Verdächtigung aus. Schon einmal hatte er den Versuch gemacht, den lästigen Morallehrer aus der Welt zu schaffen, doch Seneca hatte eine Krankheit vorgeschützt und das Gift, das Nero ihm zugedacht hatte, entweder nicht genommen oder durch seine Altersenthaltsamkeit um seine Wirksamkeit gebracht. Tacitus berichtet einem Gerücht folgend in aller Kürze darüber (Abschnitt 45). Nun aber - Abschnitt 60sqq.- berichtet er ausführlich über Senecas Tod. Seneca, der sich vom Hofe zurückgezogen hatte, seitdem seine Mahnungen nichts mehr fruchteten, weilte in einem seiner Landhäuser, vier Meilen von Rom entfernt. Dort speiste er mit zwei Freunden und seiner jungen Frau Pompeia Paulina zu Abend, als ein Tribun in Neros Auftrag das Haus mit Soldaten umzingelt und ihn zur Rede stellt. Seneca erklärt, er habe in letzter Zeit keine Verbindung mehr mit Piso gehabt. Trotzdem befiehlt Nero dem Tribunen, nachdem er ihm Bericht erstattet hat, zu Seneca zurückzukehren und ihm zu sagen, daß er sterben müsse. Der - von Tacitus mit Namen genannte - Offizier scheut sich, den Befehl selber auszuführen, schickt aber einen Centurionen ins Haus und dieser entledigt sich des Auftrags. Seneca zeigt sich ungerührt und bittet um die Tafeln, auf denen er sein offenbar schon geschriebenes Testament endgültig festlegen möchte. Der Soldat verweigert ihm das. Da wendet Seneca sich an seine Freunde und erklärt, wenn er ihnen denn sonst nichts vermachen dürfe, so hinterlasse er ihnen wenigstens - als das Schönste, was er besitze - «imaginem vitae suae», . Sie sollten es sich allezeit vor Augen halten, es werde ihnen als Belohnung für ihre Freundschaft zu einem guten Ansehen verhelfen. Als die Freunde dabei in Tränen ausbrechen, redet Seneca ihnen zuerst gut zu, dann ermahnt er sie in strengerem Tone zur Festigkeit und fragt sie, wozu sie denn seine Lehren gehört und sich jahrelang gegen alle Widrigkeiten gerüstet hätten. Als ob Neros Grausamkeit nicht bekannt wäre, als ob man nicht wüßte, daß auf den Bruder- und Muttermord der Mord am ehemaligen Lehrer folgen werde! Dann wendet der Philosoph sich seiner jungen Frau zu, umarmt sie und bittet sie - obwohl er selbst gerührt ist - ihren Schmerz zu bändigen und sich mit der Erinnerung an ihr tugendhaftes Leben über seinen Tod hinwegzuhelfen. Paulina aber erklärt, sie wolle ebenfalls sterben. Seneca widersetzt sich dem Entschluß seiner Frau nicht lange: er billigt ihn nicht zuletzt auch aus Furcht 3
vor dem, was Paulina nach seinem Tod widerfahren könnte. Dann erklärt er (bei Tacitus in direkter Rede), er wolle ihrem Ruhm nicht im Wege stehen, denn wenn sie gemeinsam stürben, bewiesen sie zwar die gleiche Festigkeit, aber ihr Tod überstrahle den seinen an Glanz. Darauf öffnen sich beide zugleich die Venen. Da Senecas Blut nur langsam fließt, läßt er sich obendrein auch noch die Adern an den Kniekehlen und Füßen aufschneiden. Unter heftigen Schmerzen bittet er Paulina, in ein Nachbarzimmer zu gehen, damit sein Leiden sie nicht beide schwach werden lasse. Bis in seine letzten Augenblicke verliert er seine Redegabe nicht; er ruft seine Schreiber herbei und diktiert ihnen mehreres, das unverfälscht veröffentlicht wurde, sagt Tacitus, und das er infolgedessen nicht wiederzugeben brauche. - Soweit die Abschnitte 62 und 63 des fünfzehnten Annalenbuches. Im folgenden Abschnitt berichtet Tacitus über Paulina weiter. Auf Neros Geheiß werden ihre Wunden verbunden, schreibt er, und sie überlebt - wozu böse Zungen behaupteten, sie hätte sich nicht dagegen gewehrt, sobald sie gemerkt habe, daß Neros Zorn nicht ihr, sondern nur ihrem Manne galt. Paulina habe jedoch ihre letzten Lebensjahre in würdiger Erinnerung an Seneca verbracht und bis ans Ende in Gestalt äußerster Blässe die Spuren des versuchten Selbstmords getragen. - Jetzt erst kommt der Schluß des Berichts über Senecas Tod. Da wegen seines Alters und seiner Hagerkeit auch die Beinwunden das Blut nicht recht fließen lassen, nimmt er das Gift, das er parat hatte - es ist dasselbe, mit dem sich in Athen die zum Tode Verurteilten das Leben nehmen - und läßt sich schließlich, da auch das nicht wirkt, ein heißes Bad richten, in das er steigt, um den Geist aufzugeben. Zuvor verspritzt er noch etwas von dem Wasser auf die ihm zunächst stehenden Sklaven und erklärt, er weihe diesen Gruß Jupiter dem Befreier». So schildert Tacitus, Punkt für Punkt, den Tod des Philosophen Seneca. Die Schilderung kann realistisch genannt werden, insofern sie eine Folge von Einzelumständen erwähnt, die nur ein Augenzeuge beobachtet haben konnte. Seneca bleibt sich selbst treu, aber wir erfahren mehr über seine Haltung als über seine letzten Worte, die Tacitus seinen Lesern aus dem erwähnten Grunde vorenthält. Paulina scheint ihrem Manne ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen zu sein, aber das wird dann auch wieder ein wenig in Zweifel gezogen, wie es für den Skeptiker Tacitus typisch ist. Während der erste Teil der Taciteischen Annalen erst in der Hochrenaissance wiederentdeckt wurde, waren der zweite Teil der Annalen und die Historien spätestens seit der Mitte des 14. Jahrhunderts bekannt. Boccaccio ist der erste, der ausführlicher aus diesem Teil des Taciteischen Werks zitiert. Er kannte auch den Bericht über Senecas Tod schon. 1 Einige italienische Humanisten benutzten den Text ebenfalls, und von Sicco Polenton ist eine Darstellung von Senecas Leben und Sterben erhalten, die um 1420 entstanden sein dürfte. Sie ist jedoch nicht identisch mit einer Vita Senecae, die in den ersten Drucken der Werke Senecas wiedergegeben zu werden pflegt und deren Verfasser wir nicht
1
4
Vgl. J. v. Stackelberg: Tacitus in der Romania, Tübingen I960, S. 46sqq. - Über Senecas Tod berichtet Boccaccio in seinem «Commento di Dante». In: Scrittori d'Italia, 1918, II, S. 83.
kennen. (In Erasmus' Baseler Ausgabe von 1529 wird die Vita Senecae noch Polenton zugeschrieben, in der Leidener Ausgabe von 1555, die ebenfalls von Erasmus stammt, liest man, diese Vita sei von unbekannter Hand niedergeschrieben.) Montaigne - zu dem wir übergehen - besaß eine Senecaausgabe von 1557. Auch sie enthielt die anonyme Seneca-Vita. Auf diese stützt sich der Bericht Montaignes sogar zuerst. Interessiert war der Moralist allerdings mehr am Sterben der Paulina als an demjenigen Senecas, denn sein Essay (II, 35) ist De trois bonnes femmes betitelt und schildert das Sterben dreier römischer Frauen, einer ungenannten, der Frau des Thrasea Paetus namens Arria - und eben das der Pompeia Paulina. Montaigne imponierte die Haltung dieser Frauen noch mehr als diejenige ihrer Männer. Ihm schwebte vor, eine Folge solcher Todesberichte zusammenzustellen und sie mit Kommentaren zu versehen, ungefähr so, wie Ovid es mit seinen Metamorphosen getan habe (sagt er). Montaignes Bericht über Paulinas Sterben ist aber natürlich verquickt mit demjenigen über Senecas Tod, der hier unser Gegenstand ist. - Vorgeschaltet ist dem Bericht eine kurze Information über die Gepflogenheit der römischen Kaiser, Personen von Stand, die ihnen im Wege standen, nicht hinrichten zu lassen, sondern sie zum Selbstmord aufcufordern. So sei es auch im Falle Senecas geschehen. Montaigne hält sich nicht lange bei der Vorgeschichte auf und beginnt seinen Bericht damit, wie der Philosoph auf die Mitteilung des Soldaten, er müsse sterben, reagierte. Da heißt es: [...] Seneque ouit leur charge d'un visage paisible et assuré, et après demanda du papier pour Élire son testament; ce que luy ayant esté refusé par le capitaine, se tournant vers ses amis: Puisque je ne puis, leur dit-il, vous laisser autre chose en reconnaissance de ce q u e je vous doy, je vous laisse au moins ce que j'ay de plus beau, à sçavoir l'image de mes meurs et de ma vie, laquelle je vous prie conserver en vostre memoire, affin qu'en ce faisant vous acqueriez la gloire de sinceres et véritables amis. 2
Das «friedliche und selbstsichere Gesicht» Senecas dürfte noch der Vita Senecae entnommen sein, denn dort hört der Philosoph die Aufforderung des Centurionen «vultu et corde immobili», während bei Tacitus nur das Wort steht, die Folge ist dann schon nach Tacitus (Kap. 62) wiedergegeben. Da der Essay De trois bonnes femmes von 1580 stammt, Montaigne aber Tacitus' Gesamtwerk erst Jahre später gelesen hat, kann diese Wiedergabe als sein erster Zugriff zu diesem Autor bezeichnet werden, was von nicht geringem Interesse ist, insofern er den Beginn der Tacitusrezeption in der französischen Literatur markiert.3 In Erasmus' Leidener Ausgabe von Senecas Werken findet sich die Erklärung dafür: dort steht nämlich an entsprechender Stelle die Marginalie: «verum it centurio fieri vetuit, lege Tacitum libro 15». In der Vita Senecae war nicht die Rede davon gewesen, daß Neros Bote dem Philosophen verbot sein Testament zu schreiben. Dementsprechend fehlt dort auch die Motivation für Senecas Erklärung, er könne seinen Freunden daher nur vermachen. Erasmus hatte das scharfsinnig erkannt und den Vermerk am Rande angebracht, der Montaigne veranlassen sollte, hier nun tatsächlich auf Tacitus zurückzugreifen. (Insofern ist der Beginn der französischen Tacitusrezeption indirekt auf Erasmus von Rotterdam zurückzuführen.) Daß Montaigne von nun an Tacitus selbst vor Augen hat, ist gleich dem nächsten Passus «se tournant vers ses amis» zu entnehmen, der dem Taciteischen «conversus ad amicos» entspricht. Er folgt Tacitus, aber er klebt nicht am Worte: einmal modernisiert er die Tafeln für das Testament zu «papier», ein andermal erweitert er das schlichte «imaginem vitae» zu «l'image de mes meurs et de ma vie» und «famam constantis amicitiae» zu «la gloire de sincères et véritables amis». «Meurs» ist ein Kernbegriff für das Interessenfeld des Moralisten, die Freundschaft eines seiner Lieblingsthemen. Die auf unser Zitat folgenden Sätze geben dann in der selben, stilistisch etwas erweiterten Form, insgesamt aber akkurat Tacitus' Schilderung wieder bis zu dem Moment, wo Seneca sich Paulina zuwendet und sie auffordert sich zu fassen. Montaigne schien der Appell an die tugendhafte Lebensführung - «contemplatio vitae per virtutem actae» - nicht zu genügen, er holte sich aus der Vita Senecae die Anregung (oder Rechtfertigung) dazu, hier nun auch die Lehren des Philosophen zu erwähnen und schrieb: [...] que l'heure étoit venue où il [sc.Seneque] avoit à montrer non plus par discours et par disputes, mais par effect, le firuict qu'il avoit tiré de ses estudes, et que sans doute il embrassoit la mort non seulement sans douleur, mais avecque allegresse.
Diese Pointe wollte der Moralist sich offensichtlich nicht entgehen lassen. Daß Senecas Verhalten seiner Lehre entsprach und er den Tod nicht nur furchtlos, sondern sogar erhielt) zu JacquesLouis Davids Gemälde von 1787 (im Metropolitan Museum, New York), dessen
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in mancher Hinsicht an den «sterbenden Seneca> erinnert. 1 1 Der Hinweis auf diese bildlichen Darstellungen kann uns zur Betrachtung der nächsten Schilderung von Senecas Tod in der französischen Literatur weiterführen. Es ist La mort de Seneque von Tristan l'Hermite, eine Tragödie aus dem Jahre 1645. Überliefert ist, daß das Stück Ende 1643 oder Anfang 1644 von Molières Illustre Théâtre aufgeführt wurde. Madeleine Béjart spielte die Sklavin Epicharis, die darin weit wichtiger ist als Seneca. Denn das Stück bringt die Verschwörung des Piso bzw. dessen Aufdeckung auf die Bühne; über Senecas Tod wird nur in Form eines Botenberichts am Schluß berichtet. Daß Tristan von Mascaron zu seinem Stück angeregt worden sei, läßt sich nicht beweisen. Tacitus hat er wahrscheinlich in der Übersetzung von Achille de Harlay, sieur de Chanvallon, gelesen. Denn dort erscheinen die römischen Titel und Dienstgrade in derselben französisierten Form wie bei Tristan. Harlays Tacitusübersetzung erschien 1634. Zu Beginn des Stückes gibt Nero seiner Freude über den Tod Octavias, seiner ersten Frau, Ausdruck. Sabina Poppaea, Neros zweite Frau, triumphiert. Dann erfahren wir, wie Seneca Nero seine Reichtümer anbietet und seinen Rücktritt erklärt, was der Kaiser ablehnt, um nicht in den Ruf eines undankbaren und habgierigen Charakters zu geraten. Tristan ergeht sich hier schon in prunkvollen Schilderungen von Senecas Reichtum, die weit über Tacitus hinausgehen. Ohne Gold und Diamanten geht es bei ihm nicht ab: das ist barocker Stil, hier nun optisch-visuell gewendet. Seneca lehnt die Fortführung seiner Regentschaft ab. Nero sei nun alt genug, selbst zu herrschen. Bei Tacitus liest sich das so: Superest tibi robur et tot per annos visum summi festigii regimen: possumus seniores amici quietem reposcere. (Ann. XIV, 54, 6).
Daraus wird bei Tristan: Tu n'as plus besoin de mes enseignemens, Ton Throne est affermy de clouds de diamans, Nul autre plus que toy n'a d'esprit ny d'adresse, Il faut que ta bonté laisse en paix ma vieillesse, (v. 235-39) 1 2
Die «puissance affermie de si longtemps», wie es bei Harlay de Chanvallon hieß, verwandelt sich bei Tristan in die den Thron befestigen. Das ist der Ton. Neben solch prunkvoller Stilisierung finden sich aber auch hier ganz erhebliche Derbheiten. Im Prinzip kennen wir den Kontrast schon von Mascaron her, aber hier klafft er eher noch weiter auseinander. Tacitus' «ultima necessitas» wird geradezu salopp zu «mon dernier compliment» (v. 1766). Und Epicharis, die tapfere Sklavin, die Piso nicht einmal unter Foltern verrät, nimmt erst recht kein Blatt vor den Mund, so wenn sie auf Poppaeas Bemerkung, man müsse der
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Vgl. A. Pigler: Barocktbemen,
Budapest 2 1974.
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Zitate aus La mort de Seneque nach der Ausgabe von J. Madeleine, STFM, Paris 1919.
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frechen Sklavin die Zunge abschneiden, entgegnet: Que devra-t-on coupper à Sabine Poppée? (v. 1720)
Doch zurück zu Seneca. Der Centurio berichtet, wie er sich die Pulsadern durchschneiden läßt. Weit stärker als die stoische Ruhe des Sterbenden beeindruckt den Boten jedoch hier der Prunk der Ausstattung: Nous sommes avec luy passez dans une Chambre Où l'air qu'on respirait n'estoit rien qu'esprit d'ambre; Dont l'éclat magnifique esblouissoit les yeux, Que meubles d'orient, chefc-d'ceuvres d'une adresse Ou l'art débat le prix avecque la richesse. [...]
Und so geht es weiter: Un vaste Bassin d'or, où des eaux odorantes Ornoient de leur parfum mille pierres brillantes, N'y faisoit éclater une valeur sans prix Que pour y recevoir son sang et ses esprits. Un de ses Affranchis, Ministre de l'Estuve, L'a fait asseoir en suite à my corps dans la Cuve; Et retroussant ses bras au grand éclat du jour, A passé promtement le rasoir à l'entour.
Die Szene ist denkbar plastisch. Sie bietet mehr Augenschmaus als Gedankennahrung. Denn Senecas letzte Worte werden ziemlich kurz wiedergegeben: was Nero befehle, müsse man ohnehin der Natur als , er füge sich dem Fatum, erwarte den Tod wie einer, der sich zum Schlafe niederlegt, usw. Schließlich fehlt auch die Weihgabe nicht, die Tristan wieder verchristlicht. Der Bote berichtet: Il a dit en poussant sa voix foible et tremblante, Dans le creux de sa main prenant de l'eau sanglante, Qu'il a peine à jeter en l'air à sa hauteur: Voicy ce que ie t'offre, ô Dieu libérateur, Dieu, dont le nouveau bruit a mon ame ravie, Dieu de l'homme de Tharse, où ie mets mon espoir, Mon ame vient de toy, veuille la recevoir.
Mit dem ist natürlich der Apostel Paulus gemeint. Es ist klar, worauf Tristan anspielt. Nero vernimmt die seltsamen Worte, er versteht sie zwar nicht, verliert aber trotzdem den Verstand; das Stück endet mit einem Wahnsinnsanfall des Despoten, der dem barocken Dramatiker eine schöne Schlußsteigerung zu bilden schien. Es braucht nicht betont zu werden, daß La mort de Seneque alsbald von den Bühnen verschwand und bis heute nicht wieder dort aufgetaucht ist. Barocke Seneca-Visionen wie die des redseligen Mascaron oder die des prunksüchtigen Tristan l'Hermite lassen die Reaktionen der klassischen Moralisten verstehen, die in der römischen Stoa eine Schimäre und in ihrem Spre-
Hingewiesen werden könnte allerdings auf das Theaterstück von Peter Hacks (1978), das den selben Titel trägt: Senecas Tod.
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cher einen Falschmünzer erblickten. Als junger Mann, noch ohne Seneca wirklich gelesen zu haben, sprach sich Diderot - auf dessen Essai sur la vie de Sénèque wir nun zu sprechen kommen - im selben Sinne aus: er beschuldigte den Philosophen auf «beschämende Weise» über die Verbrechen Kaiser Neros geschwiegen zu haben. 14 Am Ende seines Lebens korrigierte Diderot jedoch dieses Urteil nicht nur, er verfaßte (mit 65 Jahren) im unkonventionell-ungenierten Stil seiner Spätzeit eine Schrift, die schließlich, in der zweiten Auflage ums anderthalbfache erweitert, an die vierhundert Seiten umfaßte. Ursprünglich sollte sie nur dem Philosophen Seneca, seinem Leben (erster Teil) und seinem Werk (zweiter Teil) gewidmet sein. Angeregt hatte den Essay der Baron Holbach, in dessen Zirkel atheistischer Aufklärer Diderot verkehrte; erstmals erschienen war er 1778 als letzter Band einer Neuübersetzung der Werke Senecas von Lagrange. Neben einigen positiven Kritiken aufklärungsfreundlicher Organe erschienen alsbald mehrere negative, teilweise überaus heftig ablehnende Rezensionen aus der Feder anti-aufklärerischer Publizisten, vor allem jesuitischer Provenienz. Diderot reagierte seinerseits nicht minder heftig und fügte seine Repliken in die erweiterte Neufassung ein, die 1782 unter verändertem Titel als Essai sur les règnes de Claude et Néron et sur les mœurs et les écrits de Sénèque angeblich in London, in Wahrheit mit stillschweigender Duldung der Zensur in Frankreich erschien. Diese Zweitfassung liest sich nicht nur wie eine bisweilen überaus temperamentvolle Verteidigung Senecas, der übrigens keineswegs als echter Stoiker dargestellt wird, sondern wie eine Selbstverteidigung des aufklärerischen Philosophen und eine gegenoffensiv-vorgetragene Apologie seiner Position. Jean Ehrard, der der Neuausgabe des Essay ein informatives Vorwort vorangestellt hat, nennt die Schrift Diderots «geistiges Testament: «son véritable testament intellectuel» 15 . In der Tat finden sich in der Auseinandersetzung mit Seneca, den Diderot zwar bewundert aber dessen Ideen er nicht selten widerspricht, die Positionen des alternden, und im Alter immer engagierter denkenden Philosophen zu großen Teilen wiedergegeben. Die zahlreichen Querverweise der neuen Herausgeber reichen bei weitem nicht aus, all die Referenzen und Widerspiegelungen nachzuweisen, die sich darin auf Diderots andere Werke finden. Dazu gehören auch die Selbstwidersprüche und die offen-gelassenen Fragen, die für die geistige Ehrlichkeit und für die Denkenergie des Alternden sprechen. Die Kritiker des Werkes haben sehr bald erkannt, was sie da vor sich hatten. Man kann daher (was hier natürlich nur zu skizzieren ist) von ihnen ausgehen, um es zu charakterisieren. Der oberflächlichste Vorwurf betraf die Form. So sprunghaft zu argumentieren, so ungescheut seinen Einfallen nachzugehen, das schien den Verfechtern der Tradition ungehörig. Diderots Schrift gehört in der Tat in die Linie der Essays von Montaigne, mit denen sie in gewisser Weise
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Zitiert nach J. Ehrard: «Pourquoi Sénèque?», Vorwort zur Neuausgabe des «Essai sur les règnes de Claude et de Néron» in den Œuvres complètes Diderots, XXV, 1986, S. 3.
» Ib., S. 6.
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konkurriert; sie gleicht einem Spaziergang (wie der Verfasser selbst sagt), und enthält teilweise recht abwegige Exkurse. Die bekanntesten gelten Jean-Jacques Rousseau, über den Diderot hier in einer unglaublich-heftigen Diatribe herzieht, sowie den Aufständischen Nordamerikas, an die der Verfasser einen freiheitlich-patriotischen Appell richtet. Beides hat herzlich wenig mit Seneca zu tun. Aus welchem Grunde der Enzyklopädist wenige Jahre vor seinem Tode sich ausgerechnet Seneca zum Objekt seiner (wenn auch nicht unkritischen) Anteilnahme auserkoren hat, haben seine Gegner dann freilich auch alsbald erkannt: Der römische Philosoph sollte zum Beleg dafür dienen, daß eine nicht-christliche Moral möglich ist, daß man nicht an Gott glauben muß, um zu sein. Indem Diderot Seneca in dieser Weise zu seinem Gewährsmann machte (und ihn eben deswegen vehement gegen seine Ankläger verteidigte), suchte er den Aufklärungsgegnern ihr Hauptargument zu entwinden, das darin bestand, die Ablehnung der christlichen Religion führe zwangsläufig zur Unmoral. Diderots Rehabilitierung des heidnischen Philosophen war in Wahrheit eine , das man sich gegenseitig einflößt, die «feux mutuels», denen sich ihre Seelen hingeben - sind sämtlich Brébeufe Zutaten. Man kann sich fragen, ob sie nicht mehr als nur äußerliche Erweiterungen, mehr als Ornamente sind. Zwar läßt sich nicht beweisen, daß Corneille mit seiner Galantisierung Caesars dahintersteht, es mag auch wohl ein bloßes Zugeständnis des Überset30
zers an den Zeitgeschmack sein, aber mit dem zupackenden Tatmenschen, dem rauhen Krieger und bestenfalls harthörigen Liebhaber des Originals (an dessen «duras aures» Kleopatra appellieren mußte) hat Br6beufc Galan doch nichts mehr gemein. Die Motive für seine Siege mußte der Übersetzer von Lucan übernehmen: sie waren und blieben politisch. Aber das Verhalten am ägyptischen Königshof konnte er verändern - und das hat er unter Ausnutzung aller denkbaren Freiheiten des Konzepts von den getan. Damit rückt der Übersetzer denn doch zumindest in die Nähe Corneilles. Von hier können wir zum letzten Punkt unseres Vergleiches übergehen. Er betrifft die Rolle der höfischen Ratgeber. Bei Lucan treten deren zwei auf, ein guter und ein schlechter. Bei Corneille sind es drei - und sie unterscheiden sich nur graduell in ihrer Schlechtigkeit. Ein guter Ratgeber ist nicht mehr darunter. Die Änderung fallt umso mehr auf, als das Stück gleich mit der Beratungsszene einsetzt, die Lucan im achten Buch der Pharsalia schildert. Kaum hat die Meldung, Pompeius nähere sich der Nilmündung, den Hof erreicht, da beruft der Ägypterkönig eine Ratsversammlung ein: Consilii vix tempus erat; tarnen omnia monstra Pellaeae coiere domus [...] seine oberste Maxime ist. Nimmt man noch die Worte hinzu, die Kleopatra später zu Caesar sprechen wird: 31
[...] remove funesta satellitis arma Et regem regnare iube,
(wie die szenische Anmerkung lautet) auf die Bühne gerannt kommt, der wird sich schwerlich einen anderen Anfang des berühmten Klagemonologs vorstellen können. Daß der Bestohlene als erstes «haltet den Dieb!> ausruft, scheint die natürlichste Sache der Welt: danach kann er dann in die Klage ausbrechen ... Die Umstellung, die Molière, von Plautus her gesehen, am Anfang des hier erneut bedachten Textes vornimmt, sieht aus wie ein «realistischer Zug>, wie eine Anpassung an die normale Wirklichkeit. Der Menschenbeobachter, so möchte man meinen, hat hier den Leser korrigiert. Die Überlieferungsgeschichte unseres Klagemonologs läßt die Sache jedoch in einem etwas anderen Lichte erscheinen. Sie belehrt einen darüber, daß bereits Lorenzino Medici den Ruf, den Plautus mit seinem «tene, tene» ja kaum mehr als angedeutet hatte, in den Text eingebracht hat. Der Titelheld seiner Komödie L'Aridosio von 1536 ruft nur kurz «ohimè ch'io son morto» aus, als er entdeckt, daß man ihm sein Geld gestohlen hat, dann bricht das «al ladro, al ladro!» aus ihm heraus, das Molière übernommen hat. Vermittelt hat es ihm Pierre de Larivey, der Lorenzinos Komödie 1579 unter dem Titel Les Esprits französisiert hatte. Nichts spricht dagegen, in Molières Korrektur eine Annäherung ans «normale Wirkliche^ mit der er dem Gebot der gehorchte, zu erblikken - zugleich aber haben wir es mit einem Kontaminationsindiz zu tun. Daß Molière wenn nicht Lorenzino Medicis, so doch Pierre de Lariveys Text vor Augen oder im Ohr gehabt haben muß, als er seinen berühmten Monolog schrieb, geben andere Anklänge auch zu erkennen. So kommt das «je suis perdu» Harpagons ebenso schon bei Larivey vor wie die liebevolle Apostrophierung des Geldes als «meine Stütze, mein Trost und meine Freude>. Bei Larivey ist es zwar «mon âme, ma vie» und «mon cœur», bei Molière «mon support, ma consolation, ma joie», aber die Unterschiede in der Wortwahl fallen nicht ins Gewicht gegenüber der Tatsache, daß derlei bei Plautus überhaupt nicht vor-
1
Zitate nach Plautus «with translation by Paul Nixon» (Loeb's Classics), London 1956, Bd. I; Teatro italiano antico, riveduto e corretto da Jarro, I, Firenze 1888; P. de Larivey: Les Esprits, publiés avec une introduction et des notes par M. J. Freeman (TLF), Genf 1987, und Molière: Théâtre complet, texte établi [...] par R. Jouanny (Classiques Garnier), Paris I960, Bd. I.
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kam. Und schließlich erinnert auch der Wunsch Harpagons, sich selbst aufzuhängen, wenn er sein Geld nicht wiederbekomme, an den , den Larivey in den Monolog eingebracht, vielmehr von Lorenzino Medici übernommen hat: «un licol pour me pendre» steht da für «un capestro da impiccarmi». Beides, die liebevoll-vertrauliche Anrede an das Geld, als wäre es ein Mensch, und der Wunsch, nach den anderen auch sich selbst aufzuhängen, sind derart wesentliche Züge von Molières Text, daß von einer Bereicherung der Plautinischen Vorlage durch die Zwischenträger aus dem 16. Jahrhundert gesprochen werden kann oder muß. Eine neuerliche Untersuchung des berühmten Falles mit dieser Feststellung zu beginnen, erscheint umso eher angebracht, als das Gegenteil weit auffalliger ist: Wenn Molière Larivey gekannt hat, was unleugbar sein dürfte, so fällt als erstes vielmehr ins Auge, was er nicht von ihm übernommen hat. Da wäre der Appell «prenez-le, arrestez tous ceux qui passent, fermez les portes, les huys, les fenestres!» zu nennen, den Larivey der italienischen Vorlage entnommen hat, denn bei Lorenzino las man: «tenete ognuno che fugge, serrate le porte, gli usci, le finestre!». Dieser Appell paßte schon bei dem Italiener nicht recht zur Sache, denn Aridosio hatte seinen Geldbeutel im offenen Feld vergraben. Und dann ließ Molière auch die Erinnerung wegfallen, die den Schluß des Monologs bei Lorenzino und Larivey ausmachte und in der der betont, wie viel Mühe ihn das Ansammeln, das Horten und Hüten seines Geldes gekostet habe, eine Mühe, die sich nun als umsonst erweise: Aquoy veux-je plus vivre, puisque j'ay perdu mesescus, que j'avois sisoigneusement amassez (...) mes escus, que j'avois espargnez retirant le pain de ma bouche, n'osant manger mon saoul. E che ho io più bisogno di vivere, che ho perduto tutti i miei denari, quelli che si diligentemente aveva adunati (...) quelli che io aveva accumulati fin col cavarmi pan di bocca.
Eine solche Überlegung, die den eben noch Wutschnaubenden und Verzweifelten in eine Art Selbstlob zurückfallen und voller Neid auf andere blicken läßt, die nun das von ihm Ersparte verprassen, hatte auch Plautus' Monolog schon enthalten. Lorenzino und Larivey haben nur ausgemalt, was Euclio in die Worte gefaßt hatte: nam quid me opust vita, qui tantum auri perdidi, quod custodivi sedulo (...) nunc eo alii laetificantur.
Daß ein anderer sich mit seinem Geld lustige Tage machen könnte, bekümmert Harpagon dagegen nicht: er ist viel zu sehr mit sich selbst, mit seiner Klage und seinem Rachedurst beschäftigt. Molières weiß so wenig aus noch ein wie alle seine Vorgänger; der Diebstahl hat ihn um seinen Verstand gebracht und er konstatiert das, aber auch die Irrsinns-Pointe «quo non curram?» hat erst Molière wieder in den Text gebracht: bei Lorenzino und Larivey fehlt sie. Hier griff Molière über seine Vermittler hinaus auf die antike Quelle direkt zurück. Er tat das insbesondere auch, indem er seinen Harpagon über die Rampe hinweg das Publikum ansprechen ließ. Bei Plautus ist das einer der Höhepunkte des Klagemonologs. Euclio fleht das Publikum zuerst allgemein an, es möge ihm helfen und verraten, wo
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der Dieb sich versteckt hält; dann lacht das Publikum (offenbar) und Euclio beschwert sich darüber («quid ridetis?»); er erklärt, vom Betteln zum Vorwurf übergehend, die Leute, die da sitzen, hätten sich gegen ihn verschworen, sie gäben sich nur so, als wären sie lauter brave und biedere Menschen («sedent quasi sint frugi»); dann wendet er sich an einen Einzelnen im Publikum, der gutwillig aussieht («nam esse bonum ex vulto cognosco»), verzweifelt aber erst recht, als er von ihm auch nichts erfahrt. Von dieser ganzen, die Theaterwelt durchbrechenden Zuschaueranrede ist bei Pierre de Larivey nur die knappe Bitte übriggeblieben: «Mes amis, je me recommande à vous, secourez-moi je vous prie.» Molière aber hat hier erneut auf Plautus zurückgegriffen und die Rede über die Rampe erst recht zu einem Zentrum des Monologs gemacht. Es lohnt sich umso mehr, darauf noch einmal einzugehen, als sie H.R. Jauß zu seiner These von der Christlichkeit von Molières Avare veranlaßt hat. Spricht Harpagon: «N'y a-t-il personne qui veuille me ressusciter en me rendant mon eher argent [...]», so klingt das in der Tat christlich. Jauß schreibt im Anschluß hieran: «Dieser zweite Gipfel des Grotesk-Unwirklichen ist schwerlich noch dazu angetan, die Zuschauer zum Lachen zu bringen. Sieht man ihn im Licht der Frage nach der veränderten Auffassung der Charaktere, so schimmert hinter dem Selbstwiderspruch des Geizigen der christliche Zwiespalt der gefallenen menschlichen Natur hindurch." 2 Hinter der Angst Harpagons, meint Jauß, verberge sich ein Schuldgefühl, das an die Erbsünde denken lasse. Im Text spricht jedoch nichts für diese weit-hergeholte These. Wenn die Rede von der , die Harpagon in seiner Bedrängnis im Munde führt, nicht überhaupt nur eine Floskel ist, die nichts weiter bedeutet, so könnte man allenfalls einen heimlichen Seitenhieb Molières auf das Christentum aus ihr herauslesen, insofern Harpagons Denaturierung auch noch christlich gefärbt erscheint. Harpagon ist jedenfalls jeder Nächstenliebe bar. Anstatt der Menschen liebt er das Geld, das ihm das Leben einzig als lebenswert erscheinen läßt. Ohne es wähnt er sich nicht nur dem Tode nah, sondern, wie er in seiner wahnhaften Hyperbolik sagt, schon tot und begraben. Das «enterré», das ja auch schon auf eine christliche Gepflogenheit anspielt, löst dann das «ressusciter» aus. Wer ihm sein wiedergäbe, würde ihn zu neuem Leben erwecken, sagt Harpagon. Die Äußerung wäre sakrilegisch, wenn sie ernst genommen werden könnte, aber das kann sie nicht. Indem Molière seinen Geizigen von Auferstehung reden läßt, situiert er ihn in der Welt des Christentums, aber er macht ihn doch nicht zu einem Christen. Daß seine Habgier, sein Verfallensein an das Geld schuldhaft sein könnte, kommt Harpagon überhaupt nicht in den Sinn. Eher schon hält er seine Umwelt für schuldhaft, zumindest für kriminell. Harpagons Verblendung impliziert auch ein Blindsein gegenüber christlichen Wertvorstellungen. Die beiden verbalen Anklänge an Christliches machen das erst recht deutlich, denn sie sind ja (wollte man sie ernst nehmen) in jeder Hinsicht fehl am Platze. Jaußens Interpretation müßte in diese Rich-
2
«Molière: L'Avare». In: Das französische Theater, hg. v. J. v. Stackelberg, Düsseldorf 1968,1, S. 300.
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tung umgelenkt werden, um sinnvoll zu werden. Aber sie gilt ohnehin nur einem Nebenaspekt, nicht der Hauptsache. Hauptsächlich kennzeichnen läßt sich Harpagons Klagemonolog, wenn man ihn mit seinen Vorlagen vergleicht, durch seine stärkere Dramatisierung, durch die komplexere psychologische Gestaltung und durch seine : Molteres Text ist ein Sprechtext, der schauspielerisch vorgetragen und von entsprechender Gestik und Mimik begleitet vorgestellt sein will (auch wenn man ihn liest); er zeichnet sich durch eine extreme Spannweite rasch wechselnder Gemütslagen aus, und er ist zugleich von der Vorstellungswelt eines Pariser Bürgers geprägt, die sich von der Welt der römischen Antike unterscheidet. Das soll nun der Reihe nach weiter verdeutlicht werden. Plautus war ein Bühnenautor, kein Schreibtischliterat. Das kann man auch unserem Klagemonolog entnehmen. In seinem ersten Teil überwiegen affektische Ausbrüche von der Art des «tene, tene» oder der flehentlichen Anrede an das Publikum, dessen Reaktion so in die Rede eingebaut wird, wie das nur bei einem aufgeführten Schauspiel denkbar ist. Wir haben es also sicher nicht nur mit einem Lesetext zu tun. Auffällig ist dennoch, wie oft die affektische Sprache von einer mehr konstatierenden, analysierenden Rede durchbrochen wird. So wenn Euclio feststellt, er tappe im Dunkeln («caecus eo [...]»), er könne nichts deutlich erkennen («nequeo cum animo certum investigare») und dennoch meint, im Publikum müsse ein Dieb versteckt sein. Das klingt schon ziemlich spitzfindig. In der zweiten Hälfte des Monologs - von «heu me miserum [...]» an überwiegt dann die Selbstanalyse, die trotz allen Klagens schließlich in fast sachliche Feststellungen mündet: Dieser Tag, sagt Euclio, bringe ihm nur Kummer und Sorgen, er mache ihn zu einem Unglücklichen, umsonst habe er sich die Bissen vom Munde abgespart, jetzt könnten die, die ihm das Gold gestohlen haben, in Saus und Braus leben usw. «Der zweite Teil der Monodie», schreibt W. Salzmann zutreffend, «kommt einer breiteren Ausgestaltung ihres ersten Verses gleich. Ein Unterschied liegt allerdings darin, daß sich die Situation vorher unmittelbar in der affektischen Zuständigkeit spiegelte, während Euclio sie nun bewußt betrachten kann.»' Stilistisch wechseln dreigliedrige und zweigliedrige Konstruktionen: auf das «perii, interii, occidi» folgt das «quo curram, quo non curram», das «tene, tene» und das «quem, quis?» Plautus' Formung ist unübersehbar. Der Text wirkt wie gemeißelt, kunstvoll gefügt, wie ein wohlabgerundetes Ganzes. Lorenzino Medici gibt dagegen - vor allem zu Beginn - seinen Text eher als einen Begleittext zu einer schauspielerischen Handlung zu erkennen. Aridosio geht auf das Loch zu, wo er seine Dukaten versteckt hat, er hebt den Beutel auf und merkt, daß er leer ist: da bricht er in seine Klage aus. Das Verlangen, Türen und Tore zu schließen, damit der Dieb nicht entkomme, spricht nicht nur für Geistesverwirrung (das wurde schon gesagt), es ist auf jeden Fall eine typische Affektrede. Ebenso die Anrede an das Publikum: «Mi raccomando, mi raccomando». Der Schluß, der fast wörtlich aus Plautus übertragen wurde, klingt dagegen
3 W. Salzmann: Molière und die lateinische Komödie, Heidelberg 1969, S. 162.
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eher nach einer Folge rhetorischer Fragen und wirkt prosaisch-intellektuell. Der Komödientext des Italieners fälle somit etwas auseinander: im selbstgestalteten Teil wirkt er lebendig wie ein Bühnentext, im übernommenen wie ein Kommentar. Lorenzino hat den Monolog insgesamt gekürzt, aber es müßte gesagt werden, daß er eine Dialogszene hinzugefügt hat, die sich anschließt, und in der Aridosio sich mit dem Diener Lucido unterhält: sie setzt den Monolog thematisch fort. (Aridosio beschimpft den Diener, den er für den Dieb hält usw.) Da wird der Text wieder zu einem durchaus sprechbaren, überwiegend direkten und affektbeladenen Bühnentext. Der später als durch Mussets Drama bekannt gewordene Medici-Sprößling wollte mit L'Aridosio seine humanistische Belesenheit unter Beweis stellen. Er kontaminierte zwei Plautinische Komödien, die Aulularia und die Mostellaria, mit einer Komödie von Terenz, den Adelphoe. Die Geizthematik hat er in die Geschichte von der Heimkehr des Theopropides (aus Plautus' Mostellaria) eingeschmuggelt. Von einer Reise zurückkehrend findet Theopropides seinen Sohn mit Kurtisane und lustigen Kumpanen zechend im Hause vor, an dessen Betreten ein Diener ihn mit der Behauptung hindert, das Haus sei von bösen Geistern besetzt. Lorenzino macht aus den Geistern Teufel und nimmt sie zum Anlaß, bei einer Teufelsaustreibung einen Priester auf die Bühne zu bringen, der an den Frate Timoteo aus Machiavellis Mandragola erinnert. - Pierre de Larivey hat das alles getreulich übernommen, der Neuherausgeber der Komödie Les Esprits, M.J. Freeman 4 , macht sich unnötig viele Gedanken darüber, wie die französische Wiedergabe der italienischen Renaissancekomödie genannt werden solle: er spricht einmal von «libre adaption», ein andernmal von «traduction créatrice». Die Begriffcunklarheit läßt sich beheben, wenn man von den Gepflogenheiten der Übersetzer zu jener Zeit ausgeht. Larivey übersetzt nicht wesentlich anders als Amyot vor ihm, Perrot D'Ablancourt nach ihm. Seine Wiedergabe ist eine , blendet uns, schärft aber unseren Blick für die Fehler der anderen. Es erübrigt sich, hierzu einzelne Aphorismen La Rouchefoucaulds anzuführen, denn der Gedanke durchzieht die ganze Sammlung seiner Maximen. Nicht zufällig wird La Fontaine wenig später - in der 11. Fabel des ersten Buches -, La Rochefoucauld das Denkmal einer eigens für ihn ersonnenen Fabel errichten. Daß der Fabeldichter ganz ähnlich über die Menschen dachte wie der klassische Moralist, versteht sich somit nachgerade von selbst. Aber er hätte seine Fabel nicht zu einem ausgestaltet, wenn er sich von seinem skeptischen Menschenbild hätte verbittern lassen. Seine Fabulierlust hat La Fontaine sich weder von der Einsicht in die Schlechtigkeit der Menschen, noch gar von einem pädagogischen Besserungseifer ä la Lessing nehmen lassen.
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VI. Liebesschüsse aus d e m Hinterhalt (Vergil, Petrarca, Bembo, Baif, Ronsard) «Unser Vergnügen an einem literarischen Werk» liest man in Wellek-Warrens Theorie der Literatur^, «setzt sich aus dem Empfinden der Neuheit und dem des Wiedererkennens zusammen». Mag der Satz in dieser Verallgemeinerung wohl nicht jedermanns Zustimmung finden, mögen manche Dichtungen uns auch auf andere Weise , die Lyrik der Renaissance scheint jedenfalls wie geschaffen ihn zu bestätigen. Zumal wenn es sich um petrarkistische Sonette handelt - wie im folgenden -, ist mit Händen zu greifen, wie unser daran ohne den vergleichenden Rückblick auf gewisse Vorlagen nicht zu denken ist. Die Form war vorgegeben und die Thematik im wesentlichen festgelegt. Wer in der Renaissance Sonette schrieb, schrieb Liebesgedichte (von wenigen Ausnahmen abgesehen). Er faßte sein Gedicht in die beiden Gruppen der zwei Quartette und zwei Terzette, schrieb isometrische, also gleichlange Verse mit möglichst wenigen Enjambements und reimte nach genauen Vorschriften, bei den Quartetten in gleicher Abfolge, variabler in den Terzetten. «Das Sonett ist sowohl eine Einheit wie eine Doppelheit» schreibt Hugo Friedrich in den Epochen der italienischen Lyrik2, «eine Einheit, die nicht auseinanderbricht, eine Doppelheit, aus der die Einheit erst entsteht.» Meist enthalten die Quartette Aussagen über ein Thema «aus dem in den Terzetten die Folgerung hervorgeht», insofern erinnert der Sonettaufbau an das Argumentationsschema des Syllogismus. Auf jeden Fall geht es um , die nicht selten auf eine mit Spannung erwartete Pointe hinausläuft. «Im Unterschied zur iterativen Canzone», schreibt Friedrich, «bringt das Sonett einen artikulierten Fortgang. Eine Strophe drängt formal wie inhaltlich auf die nächste hin, und die letzte löst dann diese creszendierende Spannung auf.»3 Hatten die Dichter der Scuola siciliana unter Kaiser Friedrich II. das Sonett erfunden, so wurde Petrarca zum unumstrittenen Meister der Gattung. Ihm fügte sich die antagonistisch-einheitliche Gedichtform aufs beste, weil er seine Liebe als etwas Widersprüchliches empfand, das vom Band der Kunst umschnürt zu werden verlangte. Das Gesetz seiner Lyrik ist die concordia discors>, der zum Einklang gebrachte Zwiespalt. - Eines der Gedichte, das diesem paradoxen Sachverhalt besonders eindrucksvoll Ausdruck gibt, ist Sonett 209. Der Kommentator der am weitesten verbreiteten Originalausgabe, Dino Provenzal, findet es zwar weniger schön als das vorausgehende, und er scheut sich nicht, es zu nennen.4 Aber das ist Geschmackssache. Die Fluchtbewegung,
1
Darmstadt 1959, S. 267.
2
Frankfurt am Main 1964, S. 30.
3
Ib.
4
Vgl. Il Canzoniere,
Biblioteca Rizzoli 1954, S. 248.
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die den Liebenden doch nicht von der Stelle zu bringen vermag, das Wegstreben von Laura, das den Dichter ihre Nähe erst recht zu spüren gibt, kann einen modernen Leser sogar lebhafter ansprechen als zum Beispiel die Metaphorik vom Eis und vom Feuer, von der Kälte und der Glut, die den Liebenden abwechselnd ergreift und die von Petrarca sonst so gern aufgegriffen wird. Man kann die Fluchtversuche, die zu keiner Entfernung von der Geliebten fuhren wie einen Alptraum empfinden. Das Sonett lautet: I dolci colli ov'io lasciai me stesso, partendo, onde partir gii mai non posso, mi vanno innanzi; et èmmi ogni or a dosso quel caro peso, ch'Amor m'ha commesso. Meco di me mi meraviglio spesso, ch'i' pur vo sempre, e non son ancor mosso dal bel giogo più volte indarno scosso, ma com' più me n'allungo, e più m'appresso. E qual cervo ferito di saetta, col ferro avelenato dentr'al fianco, fugge, e più duolsi quanto più s'affretta, tal io, con quel strai dal lato manco, che mi consuma, e parte mi diletta, di duol mi strugge, e di fuggir mi stanco.^
Zu deutsch: Die trauten Hügel, wo ich mich selbst verlor als ich fortging, und von denen ich mich nie trennen kann, stehen mir vor Augen, und zu jeder Stunde lastet die teure Last auf mir: sie hat mir Amor aufgebürdet. Ich wundere mich oft selbst darüber wie ich immer gehe, und bewege mich nicht fort vom holden Joch, das oft schon ich abzuwerfen getrachtet, doch je mehr ich mich von ihr entferne, desto näher bin ich ihr. Und wie ein Hirsch, den ein vergiftetes Geschoß in seiner Flanke traf: je mehr er flüchtet, desto stärker schmerzt die Wunde, so haftet mir der Pfeil im Herzen, der mich verzehrt und zugleich labt. Der Schmerz zerstört mich und ich bin das Flüchten leid.
Hier kommt es uns freilich nicht auf das ganze Gedicht (und schon gar nicht auf dessen Übersetzung) an, sondern lediglich auf den Vergleich des Liebenden mit dem verwundeten Hirsch in den Terzetten. Der vergiftete Pfeil stammt natürlich von Amor. Kein Gebildeter - und für Gebildete schrieb Petrarca! - konnte die Anlehnung an Vergil übersehen: Petrarca übernimmt das Bild und seine Bedeutung aus dem vierten Buch der Aetieis. Dort war es Dido, die sich mit einer Hindin verglich, die von einem Liebespfeil getroffen wurde:
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Ib.
Uritur infelix Dido totaque vagatur urbe furens, qualis coniecta cerva sagitta, quam procul incautam nemora inter Cresia fixit pastor agens telis liquitque volatile ferrum nescius: illa fuga silvas saltusque peragrat Dictaeos; haeret lateri letalis harundo. (Vers 69-73)
Zu deutsch (nach der Version von Emil Staiger 6 ): Dido, die unglückselige, glüht. Benommen durchirrt sie Rings die Stadt, wie, vom Pfeile durchbohrt, die Hindin - ein Hirte Setzte von ferne der Arglosen nach in kretischen Wäldern, Traf sie und wußte es nicht und ließ das geflügelte Eisen Haften. Doch sie entflieht. Durch Dictes Wälder und Schluchten Schweift sie dahin. Ihr steckt in der Flanke die tödliche Spitze.
Aeneas hat in Karthago Rast gemacht. Von Troja kommend, hat er Dido über den Untergang Trojas berichtet, und die Karthagerin hat sich, nicht ohne göttliches Dazutun, in den stattlichen Fremden verliebt. Noch versucht sie, ihrem Gelübde getreu, dem lange schon verstorbenen Gatten die Treue zu halten, doch in Wahrheit ist's bereits um sie geschehen ... So die (bekannte) Lage. Vergils geschichtsklitternde Erfindung hat vor allem in romanischen Ländern unermeßlich viel Anklang gefunden 7 ; man kann sie eine der beliebtesten Liebesgeschichten römischer Provenienz nennen. Aber worum geht es? Um eine glühende, bald zu sinnlicher Lust hochauflodernde Liebe! Daß Petrarca sich nicht scheute, die keusche, wenn auch nicht nur platonische Liebe zu seiner Laura mit dieser zudem tragisch endenden Liebe zu vergleichen, muß eigentlich verwundern. Man darf den Rückbezug nicht allzu wörtlich nehmen. Er war wohl eher als eine Huldigung an den großen Dichter gemeint, nicht als eine thematische Analogie. Petrarcas Liebe ist paradox. Das läßt sich wie an vielen anderen Gedichten, so auch an Sonett 209 ablesen. Was kennzeichnet es vor allem? Man könnte sagen: die fast durchgehende Rede vom . Ist es dasjenige Petrarcas - oder ein lyrisches Ich>, das sich deutlich von der Person des Dichters unterscheidet? Sicher müssen wir mit Hugo Friedrich sagen, dieses Ich dürfe nicht biographisch aufgefaßt werden. 8 Es ist zumindest eine starke Stilisierung mit im Spiel. Zugleich wissen wir aber aus Petrarcas lateinischen Schriften, vor allem dem Secretum, wie existentiell der Dichter seine Liebeskonflikte sah und empfand. Petrarcas Dichtung, schreibt Friedrich, sei das Medium «eines grüblerischen, konfliktreichen und vor der Lösung der Konflikte ausweichenden Geistes»? Als Christ empfand Petrarca Reue über seine Liebe, die nicht sündenfrei war, als Dichter aber brauchte er diese Reue, die wie ein poetisches Stimulans auf ihn wirkte. Wie wollte man diese beiden, den Christen und den Dichter, voneinan-
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München 1981.
7
S. den Artikel «Dido» in E. Frentzels Stoffe[n] der WeltUtertur\
8
S. Epochen, S. 163.
9
Ib.
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der trennen? Man kann doch wohl sagen, daß die Spannung zwischen den beiden Polen, dem christlichen und dem poetischen, als eine ganz persönliche empfunden und von Petrarca als eine ebensolche hingestellt wurde. Wenn er denn nicht wirklich selbst sein dichterisches Ich» war, so stellte Petrarca es doch mit Nachdruck als das seine hin. In diesem Sinne ist Petrarcas Lyrik ganz und gar individuell geprägt - und eben dadurch überzeugt sie. Auf jeden Fall ist es eine psychologische Dichtung: Es geht um komplexe und widersprüchliche seelische Vorgänge, die Bilder untermalen sie nur, sie wollen nicht für sich selbst sprechen. Unterscheidet sich Petrarcas Gedicht einerseits von Vergil durch seine sparsamer verwendete Bildlichkeit, so unterscheiden sich Petrarcas Nachfolger ihrerseits von ihm durch erheblich mehr bildliche Anschauung. Der erste dieser Nachfolger war Bembo. Bei ihm lautet das entsprechende Gedicht so: Si come suol, poiche'l verno aspro e rio Parte e dä loco a le stagion migliori, Gioven cervo uscir col giorno fuori Del solingo suo bosco almo natio, E or sü per un colle, or lungo un rio Gir lontan da case e da pastori Erbe pascendo rugiadose e fiori, Ovunque piü nel porta il suo desio; N£ teme di saetta o d'altro inganno Se non quand'egli £ colto in mezzo'I Sanco Da buon arcier, che di nascosto scocchi; Tal io senza temer vicino affanno Moss'il piede, quel di, che i be' vostr'occhi N'empiagar, Donna, tutto'l lato manco. (Gli Asolani, III)
Da verläßt also ein junger Hirsch, nachdem der rauhe Winter vergangen ist, frühmorgens seinen vertrauten Hain (1. Quartett); er ergeht sich über Hügel und Flußufer hin, äst, weit von den Häusern und Hirten entfernt, nach Lust und Laune taufeuchtes Gras und Blumen (2. Quartett); er fürchtet keine List und keinen Pfeil, bis ein Schütze ihm aus dem Hinterhalt einen solchen in die Flanke schießt (1. Terzett); und so erging es dem Dichter, als er eines Tages unvermutet von den schönen Augen seiner Herrin im Herzen verwundet wurde: So hat der erste große Petrarkist aus den Terzetten Petrarcas ein eigenes Gedicht gemacht. Der Bogenschütze mag Vergils Hirten entsprechen, die Wälder und Schluchten Vergils kehren als Hügel und Flüsse wieder, die Arglosigkeit Didos klingt sogar mehrfach an - nur die Umschreibung des Herzens erinnert an Petrarca, ja, die Tatsache, daß «lato manco» den Schluß von Bembos Gedicht ausmacht, ist zweifellos als eine bewußte Erinnerung an Sonett 209 aufzufassen. Bembo kontaminiert also Vergil und Petrarca. Aber was ist von der Seelenproblematik des letzteren geblieben? Man kann getrost sagen: nichts! Alles Gewicht liegt hier nun auf der Landschaftsbeschreibung, die mit der Bestimmung von Jahres- und Tageszeit beginnt und von großer Anschaulichkeit ist, man denke nur an das taufeuchte Gras. In den Terzetten kommt dann Dramatik in den Vorgang, und der letzte Vers bringt die gleichsam mit Spannung erwartete 58
Pointe, die Gleichsetzung des Blickes der geliebten Frau mit dem aus dem Hinterhalt geschossenen Pfeil. Jean-Antoine Baïf hat Bembos Gedicht ins Französische übertragen. Seine Übertragung findet sich in der Sonettsammlung Les amours de Francine von 1555. 10 Sie lautet so: Comme quand le Printemps de sa robe plus belle La terre parera, lors que l'hyver départ, La bische toute gaye à la lune s'en part Hors de son bois aimé qui son repos recele. De là va viander la verdure nouvelle, Seure loin des bergers, dans les champs à l'écart, Ou dessus la montagne ou dans le val: la part Que son libre désir la conduit et l'appelle. Ny n'a crainte du trait, ny d'autre tromperie, Quand à coup elle sent dans son flanc le boulet, Qu'un bon harquebouzier caché d'aguet luy tire: Tel, comme un qui sans peur, de rien ne se defie, Dame, j'aloy le soir que vos yeux d'un beau trait Firent en tout mon cœur une playe bien pire.
Im Frühling, liest man da also, wenn die Erde sich mit ihrem schönsten Kleid ziert und der Winter vorüber ist, verläßt die Hirschkuh, noch bei Mondenschein, ihr Versteck im geliebten Wald (erstes Quartett), sie geht in Berg und Tal, fern von den Hirten, nach Lust und Laune frisches Gras äsen (zweites Quartett), fürchtet weder Pfeil noch List - bis sie mit einmal das Geschoß in der Flanke spürt, das ein geschickter Schütze aus dem Hinterhalt auf sie geschossen hat (erstes Terzett): Eben so - lautet auch hier die Moral von der Geschieht' erging es dem Liebenden (oder Dichter), der nichts arwöhnend eines Abends von einem noch im Herzen verwundet wurde. Baif hat hie und da ein bißchen zusätzlichen Schmuck zu Bembos Gedicht hinzugefügt, so die «robe nouvelle» des Frühlings, anderes fehlt, so der Tau, so die Häuser im zweiten Quartett; dafür bringt er mit Wendungen wie «viander la verdure» einen hübschen Klangeffekt hinein. Insgesamt folgt er seiner Vorlage recht genau - nur daß er Bembos Hirsch in eine Hindin verwandelt, ist unverständlich (sollte Vergil über die Logik gesiegt haben?), und die Anspielung auf Petrarca am Schluß fehlt. Aber es erinnert ja auch thematisch nichts mehr an ihn: Bai'is Sonett ist wie dasjenige Bembos ein Landschaftsgedicht mit kurzer anschließender . Und diese fällt genauso klischeehaft aus wie bei Bembo. Wir befinden uns poetisch etwa auf demselben Niveau. Höher hinauf begeben wir uns mit Ronsard, der im 49- Sonett der Sammlung Les amours de Cassandre Baifs Gedicht zum Anlaß für eine Neugestaltung nimmt, die ganz so aussieht, als hätte der Meister damit seinem jüngeren Kollegen zeigen wollen, , also als eine aufgefaßt werden kann. Das Sonett lautet:
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Zitiert nach H. Weber: La création poétique au /6® siècle en France, 1956, S. 238.
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Comme un Chevreuil, quand le printemps destruit L'oyseux crystal de la morne gelée, Pour mieulx brouster l'herbette emmiellée Hors de son boys avec l'Aube s'en fuit, Et seul, et seur, loing de chiens et de bruit, Or sur un mont, or dans une vallée, Or près d'une onde à l'escart recelée, Libre follastre où son pied le conduit: De retz ne d'arc sa liberté n'a crainte, Sinon alors que sa vie est atteinte, D'un trait meurtrier empourpré de son sang: Ainsi j'alloy sans espoyr de dommage, Le jour qu'un oeil sur l'avril de mon âge Tira d'un coup mille traits dans mon flanc.
«La supériorité de Ronsard s'affirme par le rythme et par l'art de la suggestion pittoresque» schreibt dazu Henri Weber, dem wir die Anregung zur Behandlung dieser Rezeptionsfolge verdanken. 11 In der Tat kommt hier gleich zu Beginn der Frühling nicht nur vor, es wird gesagt, wie er wirkt, indem er die des Rauhreifs auflöst; zur weiteren Veranschaulichung wird das Gras genannt, es kommen die Hunde und deren Gebell ins Spiel, hinter Berg und Tal verbirgt sich ein klarer Quell, und als dann schließlich das Geschoß das Reh getroffen hat, sieht man es vom Blute purpurrot gefärbt. So spricht Ronsard alle Sinne an. Auch hier fehlen die Klangfiguren nicht, wie das «seul et seur» zu Beginn des zweiten Quartetts beweist. Den muntren Leichtsinn des Rehs (nicht der Hirschkuh!) kennzeichnet das Wort , eine typische Pléiade-Vokabel. Schließlich endet das Sonett wieder mit dem Wort «flanc», was vielleicht als eine ferne Erinnerung an Petrarca aufgefaßt werden kann. - Ronsard wollte aber nicht zu der psychologischen Dichtung des Italieners zurückkehren: Er präsentiert ebenfalls ein Landschaftsgedicht und steht insofern in der Tradition Bembos. Aber er verlebendigt eben doch die Bilder und gestaltet das ganze Gedicht in freier Nachahmung neu. So bekommt es wieder eine persönliche Note und schlägt insofern eine Brücke zu Petrarca zurück - und das, obwohl es keine Eigenerfindung, sondern eine Nachgestaltung seiner Vorlage war.
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Weber, S. 239.
VII. Dieser Roman ist kein Roman (Scarron, Fureti£re, Challe, Marivaux) Am 21. Mai 1934 notiert sich Thomas Mann in seinem Reisejournal, das später unter dem Titel Meerfahrt mit Don Quijote erschienen ist: «Den ganzen Tag amüsiert mich der epische Witz des Cervantes, die Abenteuer des zweiten Teiles oder doch einige davon aus Don Quijotes literarischem Ruhm erwachsen zu lassen [...]». Besonders angetan hat es dem Autor des Joseph-Romans, wie Sancho Pansa sich der Herzogin - in Kapitel 30 des zweiten Teils - vorstellt als der dem berühmten Buche entsprungene Stallmeister «falls er nicht in der Wiege, das heißt in der Druckerei umgetauscht worden ist». «Don Quijote und sein Knappe», schreibt Thomas Mann, «treten in diesem zweiten Teil aus der Wirklichkeitsphäre, der sie angehörten, dem Romanbuch, in dem sie lebten, heraus und wandeln, von den Lesern ihrer Geschichte froh begrüßt, leibhaftig als potenzierte Wirklichkeiten, in einer Welt, die gleich ihnen, im Verhältnis zur vorigen, zur gedruckten Welt, eine höhere Stufe der Realität darstellt, obgleich auch sie wieder erzählte Welt, die illusionäre Herausrufung fiktiver Vergangenheit ist f...].»1 Thomas Mann ist fasziniert von den «Spiegel-Unergründlichkeiten der Kunst und des Illusionären», die sich da vor ihm auftun, aber er weiß auch, wie leicht solche «kunsthumoristische Verwirklichungstechnik» zu einer Auflösung der Form führen kann: «Von der Scherzhaftigkeit gewisser epischer Ver-Wirklichungsmittel ist zum Witz- und Trickhaften, zur nicht mehr formfesten, formgläubigen Eulenspiegelei nur ein Schritt.» (S. 26) Die französische Erzählliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts enthält nächst Cervantes das denkbar lohnendste Anschauungsmaterial zu diesen Überlegungen. Mit Recht hat Bodo Morave in seinem Aufsatz über den Erzähler in den Romans comiques betont, «daß Wolfgang Kaysers grundlegende Bestimmungen über die Interdependenz von fiktivem Erzähler und fiktivem Leser, die auf den Roman des 18. Jahrhunderts zielten [...] bereits für den ihre volle Gültigkeit haben»2. Aber es geht um mehr. Nämlich darum, wie Cervantes' «Spiegel-Unergründlichkeiten» von einem französischen Erzähler des 17. Jahrhunderts übernommen wurden, die «kunst-humoristische Verwirklichungstechnik» bei einem zweiten bereits zur Formauflösung geführt hat, ein dritter Autor aber - auf demselben Wege weiter fortschreitend - den Schritt zum ernsten Realismus getan und dabei sogar der Lebenswirklichkeit mehr Gewicht gegeben hat, als der Kunst guttut, ein vierter schließlich der Kunst in diesem Vexierspiel mit der Wirklichkeit wieder zu ihrem eigenen Recht verholfen hat.
1 Insel-Ausgabe 1956, S. 25. - Die Studie über den Topos «dieser Roman ist kein Roman> ist ein •Ableger» meines Buches Von Rabelais bis Voltaire. Zur Geschichte des französischen Romans, München 1970. Die Fragestellung wird in dem Buch auch berührt, die Beispiele ebenfalls aufgegriffen, aber andere Ausführungen und Erkenntnisse verwischen sozusagen den Zusammenhang, der in dieser Studie dargestellt wird. 2
Neophilologus 1963, S. 190.
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Diese vier Autoren sind Scarron, Furetidre, Challe und Marivaux. Sie alle haben mit dem Cervantinischen Trick ihre Leser an der Nase herumzuführen versucht, sie haben alle den Topos der Tarnung eines Romans als Nicht-Roman zu ihren besonderen Zwecken benutzt und mit ihm Experimente angestellt, von denen die Späteren lernen konnten. Es lohnt sich, diese Experimente nachzuzeichnen - auch dort, wo sie, wie im Falle Fureti6res, nicht gelungen sind. Als fünften müßte man Diderot ins Auge fassen, der das Experiment mit der Gattung Roman am weitesten getrieben hat. Aber das soll in dieser Studie außer Betracht bleiben. Heinrich Körting schrieb in seiner Geschichte des französischen Romans 1885 noch ungescheut über die der Erzählweise Paul Scarrons: «[...] gerügt muß auch werden, daß der Dichter gar so oft, das böse Beispiel des Cervantes und anderer Spanier nachahmend, mit subjektiven, den ruhigen Gang der Erzählung unterbrechenden Bemerkungen die eigene Persönlichkeit in den Vordergrund drängte» (II, S. 224). Was Körting meinte zu müssen, empfinden wir heute als einen besonderen Reiz des «Roman comique>. Ohne die witzigen und immer wieder überraschend anders gewendeten Interventionen des Erzählers - zum Beispiel an den Kapitelenden -, ohne die persönlichen Anreden an den Leser, der damit ebenso wie der Schreibende selbst zu einem Teil der Dichtung wird, bedeutete Scarrons Roman uns heute nicht halb soviel. Und fern davon, in diesen Interventionen die Eitelkeit der Persönlichkeit des Autors, «die sich in den Vordergrund drängt>, als störend zu empfinden, fasziniert uns, nicht anders als das Thomas Mann bei Cervantes erging, das verwirrende Spiel mit den verschiedenen Wirklichkeitsebenen. Scarron hat ja auch Cervantes nicht nur gekannt, sondern ausdrücklich den französischen Romanautoren vorgezogen. (Sein Plädoyer für den Don Quijote und für die Cervantinischen Novellen findet sich im Roman comique, Buch I, Kapitel 21.) Obwohl ihm die Technik der illusionsstörenden Erzählerintervention auch von der italienischen Burleskdichtung her vertraut war, dürfte das Beispiel des Cervantes ihn in seiner Rolle als «self-conscious-narrator> erst recht bestärkt haben. 5 Die Einmischungen des «seiner selbst bewußten» Erzählers beantworten nicht nur die Frage Wolfgang Kaysers: «Wer erzählt den Roman?», sie führen weiter zu der (von Kayser nicht gestellten) Frage: «Woher weiß der Erzähler das, was er erzählt?». Und diese zweite Frage, mit der das Vexierspiel der «Spiegel-Unergründlichkeiten» erst recht beginnt, hat Scarron sich in seinem Roman comique gestellt. Vielmehr, er hat sie beantwortet, ohne sie eigentlich gestellt zu haben. Ragotin ist, wie man weiß, der Prügelknabe des Romans. Ihm widerfahrt ein Mißgeschick nach dem anderen. Kapitel 16 des zweiten Teils enthält wohl die längste und für den Betroffenen strapaziöseste Folge von Mißgeschicken. Er fällt, des süßen Weines voll, von seinem Maulesel, bleibt auf einem Ackerweg liegen, schläft dort ein, wird von einem herumirrenden Verrückten seiner Kleider beraubt, von ein paar des Weges kommenden Bauern gefesselt und ein Stück weiter fortgeschleppt; schließlich bringt die Nässe einer Pfütze, in der er
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S.W.C. Booth: «The self-conscious narrator in comic fiction». In: PMLA 1952.
gelandet ist, den Bedauernswerten wieder zu sich - aber vor Staunen vermag der sonst so redselige Winkeladvokat aus Le Mans kein Wort zu äußern. An dieser Stelle nun gibt der Erzähler eine umständliche Erklärung darüber ab, warum die Bauern den nackt und schnarchend daliegenden Ragotin gefesselt und fortgeschleppt, dann aber in einer Lache liegen gelassen haben. Ein Priester aus der Gegend, erzählt der Erzähler, habe bei dem Drucker des vorliegenden Textes einen Kommentar zur Apokalypse drucken lassen, er habe dabei das Manuskript des Roman comique herumliegen sehen, die Stelle gelesen - und sich, da er die Hintergründe der erzählten Begebenheit kannte, an den Autor gewandt, um sie ihm mitzuteilen. Auf diese Weise habe dieser erfahren, daß die Bauern Verwandte des umherirrenden Verrückten gewesen seien, daß sie den nackten Ragotin zunächst für diesen Verrückten gehalten, ihn deshalb gefesselt und fortgeschleppt hätten usw. Der Drucker, heißt es in dem Zusammenhang, sei als erster erstaunt gewesen, zu erfahren, daß der Roman, den er zu drucken im Begriffe war, gar kein Roman sei: «mon Imprimeur [...] en fut fort estonné car il avait creu, comme beaucoup d'autres, que mon Roman estoit un livre fait à plaisir [...]»4 Hatte Cervantes die Druckerei als eine an den Anfang der Existenz seines Sancho Pansa gestellt, so macht Scarron hiermit seinen Drucker post festum zum Zeugen für die Wahrheit und läßt ihn - eine Figur aus der Lebenswirklichkeit - stellvertretend für seine Leser («beaucoup d'autres») die Meinung korrigieren, es handele sich um eine erfundene Geschichte («un livre fait à plaisir»), So beiläufig die Bemerkung lallt, so unmißverständlich ist die Absicht des Erzählers, seine Leser hiermit über den wahren Sachverhalt aufzuklären: «Quelqu'un m'accusera peut-estre d'avoir conté icy une particularité fort inutile, quelque autre m'en loüera de beaucoup de sincérité.» (S. 763) Wer es wissen will, erfahrt es also hiermit: Dieser Roman ist kein Roman! Die Tatsache, daß Ragotin in dem Buche immerzu Mißgeschicke der Art widerfahren, wie sie hier geschildert wurden, und daß der Autor sich bisher nie veranlaßt gefühlt hatte, den Wahrheitscharakter dieser Mißgeschicke zu bezeugen, diese Tatsache beweist nur das Raffinement von Scarrons «kunsthumoristischer Verwirklichungstechnik>, sie nimmt der Behauptung nichts von ihrer Allgemeingültigkeit. Es genügt vollkommen, ein einziges Mal zu behaupten, , es genügt das eine Mal vor allem dann, wenn es auf so überzeugend-umständliche Weise dargetan wird, wie hier. Scarrons Drucker, und sein Priester mit dem Apokalypsenkommentar erinnern gewiß an das Verfahren, das man in der Romanliteratur «Beglaubigung» zu nennen pflegt. Aber wenn im älteren Roman historische Figuren auftreten oder bekannte Geographica erwähnt werden, um die Authentizität des Erzählten zu belegen, so geschieht das doch immer nur, um den Wahrheitsanteil zu stärken, den jeder Romanautor seiner Kunstlüge hinzuzufügen pflegt - getreu dem Prinzip, das Georges de Scudéry einmal so formuliert hat: «[...] lors que le mensonge et la vérité sont confondu par une main adroite, l'esprit a peine à les démesler et ne se porte pas
4 Pléiade-Ausgabe der Romanciers du 17e siècle, 1958, S. 762 (daraus auch die folgenden Zitate).
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aisément à détruire ce qui luy piaist».5 Solche «Beglaubigungen in der Gestalt historischer Fakten und Namen oder geographischer Angaben sollen nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, sie dienen der , nicht der . Hier aber wird nun allen Ernstes - vielmehr mit all der Schalkhaftigkeit, die diesem Autor eigen ist - behauptet, was er erzähle, sei die pure Wahrheit. Man kann auch verstehen, warum ausgerechnet an dieser Stelle die scheinbar so beweiskräftige und allgemeingültige Beteuerung erfolgt, es sei dies alles authentisch: Die Fülle der aufgezählten Einzelheiten unwahrscheinlicher Art war so groß, die Detailfreude so unbändig geworden, daß es dem Erzähler wohl angebracht erschienen sein mochte, die voraussichtliche Skepsis seiner Leser zu beschwichtigen. Je unglaublicher die Geschichte klingt, desto dringender wird deren Beglaubigung. Das kann als eine Regel gelten: « [...] une rencontre si extraordinaire, et qui semblait tenir quelque chose du Roman, alarma Ethelwood» liest man in einem Trivialroman aus dem Jahre 1678 (Alfrede, Reyne d'Angleterre, anonym, S. 94). Das Beispiel kann für viele stehen. Das Wort ist wie ein Stichwort, das die Beteuerung auslöst: dies klingt zwar wie ein Roman - ist aber in Wirklichkeit keiner. Aber ist denn nicht wahr, was der Autor (oder Erzähler) des Roman comique sagt? Weiß man nicht, daß er tatsächlich in Le Mans gelebt hat? Weiß man nicht sogar, daß er dort im Hause des Bischofs einen Tischgenossen namens Denisot gehabt hat, den er zur Strafe für seine Unerträglichkeit als Monsieur Ragotin portraitiert und in seinem Roman comique dem Gelächter der Mitwelt preisgegeben hat? Warum sollte sich also nicht auch die Geschichte mit dem herumstreunenden Irren so zugetragen haben, wie Scarron sie erzählt? Nun, das mag alles sein: Es genügt jedoch, sich zu fragen, für wen der Autor seinen Roman geschrieben haben mag, um sich über die Irrelevanz dieser Fragestellung klar zu werden. Nur wenn Scarron seinen Roman comique ausschließlich für seine Bekannten geschrieben hätte, für jene also, die das zu Ragotin gekannt haben, wäre die Frage nach dem Verhältnis von «Dichtung und Wahrheit> in der Weise relevant, wie es uns die französische Literaturwissenschaft mit ihrer Methode «L'homme et l'oeuvre> suggeriert. Indem sie uns die Lebensumstände des Autors zu vergegenwärtigen versucht, drängt die französische Literaturwissenschaft dieser Observanz uns in der Tat in die Rolle der «Bekannten des Autors», die das Werk mit der dahinterstehenden Lebenswirklichkeit vergleichen. Aber wer wollte den Leserkreis eines Autors von Rang derart reduziert wissen? Selbst wenn Scarron bei den «beaucoup d'autres» unseres Textes in erster Linie an Menschen seines Bekanntenkreises gedacht haben mag, selbst wenn ihm ursprünglich als Leser vor allem seine Freunde vor Augen gestanden haben mögen, ist ja doch sein Werk längst über diese Leserschaft hinausgewachsen. Die Leser, für die ein Werk der Weltliteratur bestimmt ist (und ein solches Werk ist auch der Roman comique), sind die Gebildeten aller Länder und Zeiten. Keine Literatursoziologie sollte uns das vergessen lassen. Mit anderen Worten: Nicht die Frage, wo der Autor seinen Erzählstoff wirklich
5 Vorwort zu «Ibrahim», zit. nach H. Coulet: Le roman jusqu'à la Révolution,
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1968, II, S. 46.
her hat, ist für uns interessant, sondern lediglich die Fragestellung, woher er sein Wissen herzuhaben v o r g i b t . Diese Feststellung zielt auf ein literarisches Faktum, wogegen jene Frage aus der Literatur hinausführt. Ein zweites Beispiel aus dem Roman comique mag übrigens verdeutlichen, daß der biographistische Vergleich zwischen Erzählwiedergabe und Lebenswirklichkeit bei Beteuerungen der Art, wie wir sie hier registrieren, nicht einmal Scarrons eigenen Intentionen gerecht zu werden vermag. Es handelt sich um die , die in Kapitel IX des ersten Teils erzählt wird. Zwar kommt die Wendung «dieser Roman ist kein Roman> darin nicht expressis verbis vor, aber die des Erzählers geht in dieselbe Richtung. Wieder ist Ragotin im Spiel. Er läßt sich nicht davon abbringen, den Schauspielern, die auf Tournée nach Le Mans gekommen sind, eine Geschichte erzählen zu wollen. Er habe sie aus einem spanischen Buche, das man ihm aus Paris geschickt habe, erklärt er - und obwohl Ragotin verspricht, sie nach allen Regeln der Kunst vorzutragen («je veux faire une piece dans les reigles», sagt er), läßt der Autor des Roman comique nicht ihn sprechen, sondern er gibt sich selbst als Erzähler das Wort und erzählt die Geschichte «non telle que la conta Ragotin, mais comme je la pourray conter d'après un des auditeurs qui me l'a aprise.» Ausdrücklich heißt es: «Ce n'est donc pas Ragotin qui parle, c'est moy» (S. 552). Die Geschichte, die nun folgt, entstammt tatsächlich einem «panischen Buch>, den Alivios de Casandra des Don Castillo de Solórzano. Sie beginnt in guter Novellenmanier mit einer «Begegnung im Tempel> (um den Titel von Bernhard Königs Studie zu gebrauchen). Der ist diesmal eine Kirche in Neapel; dortselbst begegnet Dom Carlos, wie der Name sagt: ein edler Spanier, einer verschleierten Schönen - eben der «unsichtbaren Dame». Sie spricht ihn an, macht ihm Komplimente wegen seiner jüngst beim Turnier bewiesenen Tüchtigkeit und überreicht ihm kurzerhand als Zeichen ihrer Gunst einen diamantengeschmückten Ring. Im spanischen Original wird das alles sehr ernsthaft, sehr feierlich und mit entsprechender rhetorischer Ausschmückung erzählt. (Als die Dame ihre behandschuhte Rechte entblößt - mehr entblößt sie nicht! - da erblickt Dom Carlos, heißt es dort: «un pedazo de cristal animado», so blendend weiß dünkt ihn die Haut der Dame. Und ähnlich barock ist die Ausdrucksweise auch fürderhin.) Scarrons Wiedergabe - angeblich die Nacherzählung einer Nacherzählung! - ist dagegen von Anfang bis Ende parodistisch gefärbt. Ob die Begegnung in der Kirche anläßlich der Hochzeitsfeierlichkeiten von Philipp dem Zweiten, dem Dritten oder dem Vierten stattgefunden habe, sagt der Erzähler gleich zu Beginn, wisse er nicht. (Im spanischen Original heißt es eindeutig, daß es um die Feiern zu Ehren von Philipps IV. Thronbesteigung ging.) Und wie hier, so gehört es auch im weiteren Verlauf der Erzählung zu den Lieblingswendungen des Erzählers, zu sagen, genaueres habe er über dieses und jenes nicht erfahren, also könne er auch leider nichts Genaueres darüber sagen. Mit diesen Beteuerungen seines Nicht-Wissens gibt der Erzähler ja aber erst recht zu verstehen, daß es um eine wahre Begebenheit gehe (über die er sich nur unvollständig habe informieren können). Es sind «Beglaubigungen» ex negativo. Schon sie sind verwirrend, insofern der Nacherzähler sich mit ihnen das Air des Ersterzählers gibt - der Ersterzähler in unserem Falle aber ja 65
selbst zugegeben hatte, daß er seine Geschichte einem Buche entnommen, also aus zweiter Hand habe. Aber es kommt noch verwirrender. Dom Carlos und die «unsichtbare Dame> begegnen einander nicht nur, sondern sie sprechen auch miteinander. In Scarrons Fassung wird der Anfang dieses Gesprächs in direkter Rede wiedergegeben. Dann jedoch heißt es wie folgt: Iis se dirent encore cent belies choses, que je ne vous diray point, parce que je ne les s^ay pas et que je n'ay garde de vous en composer d'autres, de peur de faire ton ä Dom Carlos et i la Dame Inconnue, qui avoient bien plus d'esprit que je n'en ay, comme j'ay s. Hier aber laufen Pancrace und Javotte buchstäblich aus der Fiktion heraus; sie verlassen den Roman in Richtung auf die Wirklichkeit, um nicht wieder in die Dichtung zurückzukehren. Der Autor entläßt sie aus der Literatur. Seine Begründung: er wisse nichts über den weiteren Verbleib dieser Personen! Indem er aber so das Wissen zur Basis seiner Erzählung macht, spricht er ihr eigentlich den Charakter des Fiktiven ab. Was - für jeden Leser ersichtlich - eine Hervorbringung der Phantasie war, wird als reine Wirklichkeitswiedergabe hingestellt, Dichtung wird als Reportage deklariert. gibt auch Furetière uns zu verstehen - aber wenn auch die Mittel, mit denen er dies zu verstehen gibt, drastischer sind als alle bisherigen, wir glauben es ihm dennoch nicht. Das einzige, was der Leser des Roman bourgeois konstatieren muß - und was sich ihm im weiteren Verlauf des Romans noch deutlicher aufdrängt -, ist, daß das Authentizitätsstreben des Autors hier zu weit geht. Wenn Geschichten abgebrochen werden, ehe sie zu rechten Geschichten geworden sind, wenn schließlich nur noch Materialien und Dokumente zu Geschichten, anstelle von Geschichten geboten werden, dann geschieht das auf Kosten der Kunst. Furetières ist das erste Opfer des in der französischen Erzählliteratur - wonicht in der modernen Literatur überhaupt. Der Schritt vom «Witz- und Trickhaften [,] zur nicht mehr formfesten, formgläubigen Eulenspiegelei», vor dem Thomas Mann warnte, ist hier getan, und er ist dem Autor zum Verhängnis geworden. Das Experiment des ist mißlungen. Die Ära der (wie die Werke der Gomberville, La Calprenède und Scudéry zur Zeit der Klassik hießen) war, als der erschien, bereits vorüber. Die Antiromane Scarrons und Furetières mögen ihren Teil zur Liquidierung dieser Romane beigetragen haben, vor allem aber sind sie an ihrer eigenen Dickleibigkeit zugrunde gegangen. Das machte es der Novelle umso leichter, ihr Erbe anzutreten. Allerdings war diese einst (in Frankreich jedenfalls) ganz kurze Erzählform inzwischen soweit angewachsen, daß sie dem Roman auch ernsthaft Konkurrenz machen und ihn schließlich ablösen konnte. Frédéric Deloffre hat festgestellt, daß die Novelle in Frankreich, die anfanglich oft nur zwei bis drei Seiten lang war, Ende des 16. Jahrhunderts zehn bis zwanzig Seiten Umfang zu haben pflegte und in Gestalt der gegen Ende des 17. Jahrhunderts drei bis vierhundert, ja, v e r e i t e l t sogar siebenhundert Seiten umfassen konnte. 7 Zum relativ geringeren Umfang kam freilich der der Gattung hinzu, der sie erst recht für das Erbe des höfisch-galanten Romans prädestiniert sein ließ. Denn deren Phantastik war inzwischen das Ziel allen Spotts geworden. Man kennt die Definition von Madame de Lafayettes Freund und Lehrer Segrais: (...) il me semble que c'est la différence qu'il y a entre le roman et la nouvelle, que le roman écrit ces choses comme la bienséance le veut et à la manière du poète; mais que la nouvelle doit un peu davantage tenir de l'histoire et s'attacher plutôt à donner les images des choses comme d'ordinaire nous les voyons arriver que comme notre imagination se les figure.®
So die Theorie. Segrais' eigene Novellenpraxis erfüllt dieses Programm freilich nicht. Die Nouvelles françaises sind durchsetzt mit Klischees aus der literarischen Überlieferung; nicht wenige davon entstammen sogar dem Roman. Man findet immer wieder Entführungen, Wiedererkennungsszenen, Schiffbrüche und dergleichen darin. Zwei von den sechs Novellen der Sammlung zwar in der Gegenwart, aber auch darin herrscht durchweg der abenteuerlichste Zufall. Weder wirken die Personen lebensecht, noch ist das Milieu wirklichkeitsgetreu geschildert. Einige Verfasser von («Faits certains») gegründet seien. Alle Geschehnisse, heißt es wenig später, seien neu und direkt aus der Quelle geschöpft («nouveau de source»); hätte er etwas erfunden, so hätte es ihm freigestanden, den Geschehnisverlauf anders zu wenden: «Mais ce sont des vérités, qui ont leurs règles toutes contraires à celles des romans.» In der Tat: «On ne verra point ici de brave à toute épreuve, ni d'incidens surprenants; et cela parce que tout, en étant vrai, ne peut être que naturel». Daher entspräche denn auch die Ausdrucksweise ganz allgemein der natürlichen Umgangssprache, dem Konversationston der Gesellschaft, daher würden die Damen auch schlicht Babet und Manon genannt: Das heiße nicht, daß dies die Namen der wirklichen Personen seien; auch einige Zeitangaben habe er anachronistisch verfälscht: «J'ai fait exprès des fautes d'anachronisme [...]». Soweit die Beteuerungen des Autors in der Vorrede zu Les Illustres Françaises. 71
Mehrere dieser Beteuerungen kennen wir schon. Einige können als typische Antiromanwendungen gelten. So die, die auf die Unwahrscheinlichkeit der Romanhandlungen oder auf die übertriebene Bravour der Romanhelden zielen. Auch die moralische Begründung von Chalies' «Realismus» ist nicht neu. Schon Chapelain hatte das Gebot der damit begründet, die Wahrscheinlichkeit erhöhe die moralische Wirkung der Dichtung. Einige der Wendungen Chalies' hingegen sind, wenn nicht im Prinzip, so doch in der Ausführung neu. So die verschiedenen Tarnmanöver, die Verlegung des Schauplatzes von der Provinz in die Hauptstadt, die falschen Namen (die doch den echten ähnlich sehen) und die künstlichen Anachronismen. Alles in allem hat wohl doch noch nie ein französischer Autor mit einem derart massierten Aufgebot an Wahrscheinlichkeitsbeteuerungen aufgewartet wie Challe. Fragt man sich nach den Gründen dieses , so könnte man versucht sein zu sagen: Challe hat es offenbar nötig, die Authentizität seiner Geschichten so stark zu betonen. Die Skepsis würde dadurch nur noch größer. Kehrt man aber nach der Lektüre der Novellen zu den Erklärungen des Vorworts zurück, so stellt sich heraus, daß das Vorwort kaum zuviel verspricht. Im Gegensatz zu allen bisherigen Deklarationen der Art, die nur spielerische Kunstmittel waren, entsprechen die Erklärungen dieses Autors offenbar wirklich weitgehend der Wahrheit. Chalies' Illustres Françaises sind allem Anschein nach Erzählungen, die tatsächlich vom Autor irgendwann gehört und aus der Erinnerung - nur wenig verändert und zu einem Zyklus arrangiert - niedergeschrieben worden sind. Die Veränderungen und das Arrangement dieses Autors sind freilich überaus raffiniert. Wie die sieben Erzählungen ineinander verflochten sind, wie die selben Personen in mehreren Erzählungen wiederkehren, wie gewisse Vorgänge zuerst von einer, dann von einer anderen Seite gesehen und dargestellt werden, wie schließlich die Zuhörer (und gelegentlich Kommentatoren) das Erzählte hier bestätigen, dort anzweifeln - das alles ist von Frédéric Deloffre, dem modernen Herausgeber und Apologeten der Illustres Françaises im Einzelnen dargetan worden. 12 Deloffre unterschlägt nicht, daß das fast völlige Schweigen über diesen Autor in Deutschland von Max Frhr. von Waldberg 1906 schon einmal durchbrochen worden ist. Waldberg äußert sich in geradezu enthusiastischen Tönen über Challe (der bei ihm Des Chalies heißt). Er preist die Natürlichkeit seiner Sprache, nennt ihn «einen Autor von absoluter Unmittelbarkeit», dessen Menschen «nicht aus der künstlerischen Intuition» sondern aus der «unmittelbaren Erfahrung» stammten (S. 368); er hebt hervor, daß diese Menschen «ohne den üblichen Aufputz» wiedergegeben werden und von den älteren Schablonen abweichen, er spricht von den «gemischten Charakteren» und schließlich von der «Farbe der Wirklichkeit» und dem «Schein echtesten Lebens» in seinem Werk (S. 389). Einer 1965 im Amadis-Verlag in Karlsruhe erschienenen, etwas gekürzten neuen deutschen Übersetzung hat sodann Hans Hinterhäuser eine leider viel zu kurze Einleitung vorausgeschickt, die auf dem
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S. die Einleitung seiner Ausgabe sowie La nouvelle
en France
[...], S. 83sqq.
Wege des literarhistorischen Vergleichs das überraschend Neue von Challes Realismus zu verdeutlichen sucht. Eben dieses Neue möge das folgende Beispiel noch ein wenig anschaulicher machen. Challe verwendet darin unseren Topos mit einer in der Tat ganz neuen, der bisher festgestellten entgegengesetzten Wirkung. Während Scarron und alle anderen Nachgestalter des Cervantinischen Tricks mit ihren Wahrheitsbeteuerungen doch an der Fiktion gleichsam nur herumgezerrt hatten, begibt Challe sich mit ihm entschieden aus der Fiktion heraus: Es war bisher stets ein Mittel der Fiktion geblieben, wenn man den Wahrheitscharakter des Erzählten behauptet hatte - Challe dagegen dreht den Spieß um und kleidet in seinen Illustres Françaises wahre Begebenheiten in das Gewand der Fiktion. Er erklärt (den Passus haben wir oben untergeschlagen), wahr sei insbesondere auch jene romanhafteste aller Begebenheiten in der letzten seiner Geschichten, in der der junge Dupuis sich im Zimmer seiner Geliebten mit dem Degen die Brust durchbohrt (Vorwort, S. LXI unten). Es geht um folgendes: Dupuis junior, der Erzähler der letzten Geschichte, hat eine recht bewegte Jugend hinter sich, er hat zuletzt eine fünfjährige Liaison mit einer emanzipierten Witwe gehabt. Diese ist nun zu Ende (der Erzähler bittet, den Grund des Auseinandergehens für sich behalten zu dürfen), der junge Mann ist frei und ergeht sich eines Tages mit einem Buch in der Hand, seinen Gedanken nachhängend, in einem Park, eine . Der Ort wird noch präziser dadurch lokalisiert, daß der Eigentümer des Besitztums genannt wird. Dupuis setzt sich auf eine Bank «à l'entrée d'une grande allée qui donnoit d'un côté sur Paris, et de l'autre sur une campagne à perte de vue» (Bd. II, S. 552). Wir brauchen uns nicht einmal an die Begegnung zwischen dem Herzog von Nemours und der Prinzessin von Clèves - gegen Ende des Romans von Madame Lafayette - zu erinnern, die auch in einem Park stattfand und wo es auch heißt, daß Nemours im Roman der französischen Klassik». In: GSM 1966, S. 350sqq.
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zu einer Aussprache zwischen der Prinzessin und Nemours kommt, erklärt sie ihm - in der vornehm-zurückhaltenden Sprache ihrer Schicht -, daß sie ihn liebe: [...] je vous avoue que vous m'avez inspiré des sentiments qui m'étaient inconnus devant que de vous avoir vu, et dont j'avais même si peu d'idée qu'ils me donnèrent d'abord une surprise qui augmentait encore te trouble qui les suit toujours. (Ed. Magne, Classiques Garnier, S. 384)
Das späte Liebesgeständnis spielt sich unter vier Augen, in einem am entlegenen Ende der Wohnung von Nemours' Freund ab. Nemours fallt, auf die Stichworte «surprise» und «trouble» hin, die für ihn deutlich genug sind, prompt auf die Kniee und sagt: Croyez-vous, madame, (...) que je n'expire pas à vos pieds de joie et de transport? (ib.)
Verständlicherweise macht der Herzog sich Hoffnungen: Die Prinzessin sei frei, keine Verpflichtungen hielten sie von einer Ehe mit ihm ab, im Gegenteil, es sei doch eigentlich ihre Pflicht, die empfundene und zugegebene Liebe durch eine Ehe zu legalisieren: [... ] il dépend de vous de faire en sorte que votre devoir vous oblige un jour à conserver les sentiments que vous avez pour moi. (S. 385)
Daß man verpflichtet sei, wenn man jemanden liebt, diesen auch zu heiraten (wenn's möglich ist), ist nun aber ganz und gar nicht die Meinung der Princesse de Clèves. Sie sagt ihrem Geliebten vielmehr ins Gesicht, sie befürchte, seine Liebe werde einer Ehe nicht Stand halten: Daß er sie so beständig umworben habe, habe eben daran gelegen, daß seine Liebe nicht erfüllt werden konnte «les obstacles ont fait votre constance» -, erfülle sie sich, könnte leicht die alte Unbeständigkeit wieder über ihn kommen, zumal viele Frauen ihn liebenswert fanden, aber den Schmerz einer Eifersucht, die Aussicht auf einen möglichen Liebesverlust, vermöge sie nicht zu ertragen. Insofern kann man, was diesen, den zweiten Grund gegen die Ehe betrifft, (der erste war der Tod des Mannes gewesen) sagen, die Princesse de Clèves verzichte um der Liebe willen auf die Liebe. Der Gedanke ist natürlich nicht neu. Zu vermuten, daß er platonischen Ursprungs sei, insofern es um den Erhalt einer idealen Liebe geht, den die reale zerstören würde, liegt auf der Hand. Man kann dabei auch an Heloise denken, die ebenfalls auf eine Ehe mit Abaelard verzichten wollte: Die Geschichte Heloisens war Mme de Lafayette sicher bekannt, auch wenn deren neuerliche Verbreitung durch Bussy-Rabutin erst neun Jahre nach der Veröffentlichung ihres Romans erfolgte.3 Schließlich aber lag in Gestalt der Désordres de l'amour erst recht eine Warnung vor den gefährlichen Folgen der Ehe für die Liebe vor, die Madame de Lafayette zu ihrer veranlassen konnte. Im Gegensatz zur Princesse de Clèves hatte die Heldin von Madame de Villedieus Roman nach dem Tode ihres Gatten nämlich den Geliebten (den sie
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Bussys Lettres d'Hélotse
et d'Abélard
erschienen 1687.
von früher her kannte) geheiratet - und diese Ehe war ein Fiasko geworden. Bellegarde, so heißt der Nemours der Villedieu, vor dem Geburtsadel. Liest man in Marivaux' Roman auch nur ein paar Seiten weiter, so wundert es einen denn auch nicht, daß Marianne drauf und dran ist, ihren Valville zu bekommen. Mme de Miran unterstützt die Liebenden nun erst recht. Es steht nur noch eine ansehnliche Stellung bei Hofe aus, die Valville bekommen soll, dann könnte die Heirat stattfinden. Der Posten läßt jedoch auf sich warten, und leider kommt es unterdessen zu einer Begegnung Valvilles mit einer anderen Schönen, der perfiden Miss Varthon, die ihn Marianne untreu werden läßt. Deswegen kann aus dem nichts werden. Man kann sich darüber streiten, ob Marivaux die männliche Wankelmütigkeit aus oder aus in seinen Roman eingeführt hat. Aber diesen Streit brauchen wir hier nicht zu entscheiden. Was unser Thema angeht; ist vielmehr entscheidend, daß auch Marianne, wie weiland die Princesse de Clèves, nur in einem etwas anderen Sinne, aus Liebe auf die Liebe zu verzichten bereit ist. Sie will Valville und seiner Mutter (vor allem letzterer) keine Ungelegenheiten machen. Deshalb macht sie sich ostentativ, wenn auch in Wahrheit nur scheinbar, die Auffassung der weiteren Verwandtschaft, die diejenige der Gesellschaft ist, zu eigen und erklärt, sie werde Valville nicht heiraten. Für diese Verzichtserklärung wird sie mit der Aussicht auf eben diese Heirat belohnt. Daß es der Umstände halber nicht dazu kommt, ist zwar keine quantité négligeable, denn es zeigt, daß Valville Mariannens eigentlich gar nicht würdig ist, es ändert aber nichts an der Funktion, die hier der «Verzicht auf Liebe> bekommen hat, nämlich diejenige einer Anpassungsstrategie, die zum Erfolg führen kann. Das wiederum ist kennzeichnend für den «sanften Revolutionär», als der Marivaux bezeichnet worden ist, das heißt als ein Autor, der mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden ist, aber meint, es sei besser, sie mit List zu umgehen, als sie umzustürzen. Vom pessimistischen Menschenbild der Mme de Lafayette sind wir auf jeden Fall weit entfernt. Mariannes Verzicht war im Grunde gar keiner, ihre Resignation war nur vorgetäuscht, es war Koketterie. 82
Wir übergehen erneut ein Stadium der Rezeptionsgeschichte unseres Motivs, indem wir die Lettres d'une péruvienne von Mme de Graffigny 11 links liegen lassen, die ebenfalls auf einen Liebesverzicht der Heldin hinauslaufen. Mit Rousseaus Nouvelle Héloïse von 1761 aber müssen wir uns ausführlicher beschäftigen, weil das Verzichtsthema in diesem Roman die denkbar größte Rolle spielt. Der zum gängigen Titel avancierte Hinweis auf Heloise, der ursprünglich nur im Untertitel enthalten war, weist bereits daraufhin. Kommt man (wie wir) von Marivaux her, liegt es nahe, in der sozialen Differenz zwischen Julie, der Tochter des Baron d'Etanges, und Saint-Preux, ihrem Hauslehrer aus niederem Stand, den Hauptgrund für das Nicht-Zustandekommen einer Ehe der Liebenden erblicken zu wollen: Damit knüpfte Rousseau an La vie de Marianne an. Nun ist es zwar kaum denkbar, daß Rousseau den Erfolgsroman Marivaux' nicht gekannt haben könnte - aber belegbar sind in seinem Roman (was das Verzichtsmotiv angeht) doch nur die Beziehungen zur Princesse de Clèves. Sie sind so deutlich, daß manJulie ou la nouvelle Héloïse in einem wesentlichen Punkt eine Replik auf La Princesse de Clèves nennen kann. Er betrifft das Geständnis der verheirateten Frau, daß sie einen anderen Mann liebe. Julie macht dieses Geständnis ihrem Manne zunächst nicht. Saint-Preux bittet sie, es nicht zu tun. Sein Hauptargument läuft darauf hinaus, nur eine Frau, die sich schwach fühle, dürfe den Versuch machen, in ihrem eigenen Mann eine Stütze zu suchen, Julie aber sei und wisse sich stark in ihrem Entschluß zur ehelichen Treue. Das leuchtet Julie zwar ein, aber sie fügt noch einen anderen Grund hinzu, der sie noch edler erscheinen läßt. Ein Geständnis von der Art, wie es die Princesse de Clèves ihrem Mann ablegte, würde sie zwar beruhigen, ihrem Manne aber möglicherweise die Ruhe nehmen. Sie wolle sich nicht von einer Last befreien, die Monsieur de Wolmar beschweren könnte, das wäre eigennützig ... Später freilich, nach sechs Ehejahren, gesteht Julie dann ihrem Manne doch, daß sie Saint-Preux geliebt hat und wie es um sie nun steht. Der altersweise Ehemann zeigt sich davon jedoch weder überrascht, noch sonderlich bewegt. Offenbar weiß er mehr, als seine Frau meinte. Und nun lädt er den ehemaligen Geliebten erst recht in sein Haus ein, um ihn durch die gegenwärtige Erfahrung von seiner vergangenen zu befreien: Die Präsenz Julies soll ihn von seiner Nostalgie heilen. Die Behandlung des Geständnisses in der Nouvelle Héloïse trägt in der Tat alle Züge einer : Rousseau greift das Thema auf und führt vor, wie es neu und ganz anders gestaltet werden konnte. Wie er es gestaltet, hängt freilich von der nun auch ganz neu und anders gesehenen Rolle von Liebe und Ehe in seinem Roman zusammen. Um diese geht es uns. Wir greifen, um an sie zu erinnern, vor allem auf den 18. Brief des dritten Teiles (und die darauffolgenden Briefe 19 und 20) zurück, worin Julie über ihre Eheschließung berichtet. Der Brief beginnt mit einem Rückblick auf das Vergangene. Julie ruft SaintPreux die Geschichte ihrer Liebe in Erinnerung. Sie gedenkt der ersten Zeit
11 Vgl. J. v. Stackelberg: «Die Kritik an der Zivilisationsgesellschaft aus der Sicht einer [...]». In: H. Zeman (Hg ): Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19 Jahrhundert, I, 1979 (Graz), S. 355-377. H Splitt, S. 55 (dort wird Mozarts Brief an seinen Vater v. 7. Mai 1783 ausführlich zitiert).
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te Aufklärung: Cosifan tutte oder die Umkehrung der Moral), der 1988 in den Freiburger Universitätsblättern erschienen ist. Splitt hat vor allem die Position des «vecchio filosofo», Don Alfönsos, und die der Despina untersucht, die nicht weit davon entfernt ist. Er erklärt sie als «moralistisch» in dem Sinne, wie die romanistische Literaturwissenschaft den Begriff gebraucht: als skeptisch und illusionslos im Hinblick auf menschliche Ideale wie die Beständigkeit oder Treue in der Liebe. Alfbnso denkt in der Tat ganz ähnlich wie die französischen Moralisten Joubert oder La Rochefoucauld, die Splitt mit mehreren Aphorismen anführt. Er hätte noch ein wenig weiter zurückgehen und Montaigne anführen können, dessen Moralistik Hugo Friedrich als einen Weg analysiert hat, der von einem überhöhten, stoischen Menschenbild über den «erniedrigten Menschen» zum «bejahten Menschen» führte. 1 2 Dazu passen die tröstenden Worte Alfonsos am Schluß der Oper ganz genau. Wenn er vom «inganno» (also seinem Betrug) spricht, der den Liebenden «disinganno» (also: Desillusionierung) verschafft habe, gebraucht er die der spanischen Moralistik entstammenden Begriffe vom und . Schon das spricht gegen ein oder Konzept des Librettos. Wenn Splitt allerdings dieses «disinganno» aufklärerisch nennt und meint, die ganze Oper sei eigentlich «gespielte Aufklärung», müssen hier doch gewisse Einschränkungen gemacht werden. Natürlich war mit der Aufklärung die Skepsis nicht aus der Welt, die die Moralisten kennzeichnete - aber im Gegensatz zu dem Materialisten La Mettrie, den Splitt anführt, und dem Zyniker Laclos, den er auch zitiert, stehen die größeren Vertreter der Ära auf einem anderen, positiveren Standpunkt. Zumindest an die Erziehbarkeit des Menschen glaubten die meisten - und wenn die Schlechtigkeit der Frauen beklagt wird, pflegt von den fortschrittlicheren Geistern der Zeit auch der Hinweis darauf nicht unterlassen zu werden, daß das eben an deren mangelnder Erziehung liege. Fiordiligi und Dorabella haben aber eine gute Erziehung genossen. Nein, Don Alfonso ist zwar ohne Einschränkung ein Moralist (im Sinne der Romanistik) zu nennen, ein richtiger Aufklärer ist er aber nicht. Die große Zahl der Auslassungen des 18. Jahrhunderts, die wir heute kennen, stempelt ihn denn doch als einen Reaktionär, einen ab. Vielleicht mochte die Überspanntheit beider Partnerpaare (auf die wir noch zurückkommen werden) im vorliegenden Fall seine Desillusionierungsstrategie noch rechtfertigen, die verallgemeinernden Äußerungen über die Frauen, die er von sich gibt, rechtfertigen es durchaus, daß Mozart ihn so verhältnismäßig