Das Paradigma der Interkulturalität: Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften 9783839434703

This volume collects a range of sophisticated contributions on the research approach of interculturality in various Euro

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German Pages 200 Year 2017

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Vorwort
Kulturdifferenz und sprachliche Vielfalt
Inszenierung kultureller Alterität als Vielstimmigkeit
Komparatistische Ansätze für eine interkulturelle Literaturgeschichte Luxemburgs
Une écriture transfrontalière
Muttersprachliche Mehrsprachigkeit
Chinese chives in London
Patrick Chamoiseau quadrillé
La question de l’hospitalité
Interdisziplinäre Perspektiven der Interkulturalitätsforschung
Interkulturalität und germanistische Mediävistik
Autorinnen und Autoren
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Das Paradigma der Interkulturalität: Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften
 9783839434703

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Jeanne E. Glesener, Nathalie Roelens, Heinz Sieburg (Hg.) Das Paradigma der Interkulturalität

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft hrsg. v. Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg | Band 11

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Jeanne E. Glesener, Nathalie Roelens, Heinz Sieburg (Hg.)

Das Paradigma der Interkulturalität Themen und Positionen in europäischen Literaturwissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Wolfgang Delseit, Köln Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3470-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3470-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort  | 7

Kulturdifferenz und sprachliche Vielfalt Philologische Perspektiven Till Dembeck | 9

Inszenierung kultureller Alterität als Vielstimmigkeit Vladimir Vertlibs Letzter Wunsch und Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf Silke Pasewalck | 21

Komparatistische Ansätze für eine interkulturelle Literaturgeschichte Luxemburgs Jeanne E. Glesener  |  41

Une écriture transfrontalière Le cas Gilles Ortlieb Ian De Toffoli  |  69

Muttersprachliche Mehrsprachigkeit Batty Weber (1860–1940) und die Mischkultur in Luxemburg Anne-Marie Milim | 85

Chinese chives in London Interkulturalität in der zeitgenössischen englischsprachigen Migrationsliteratur in Texten von Monica Ali, Xiaolu Guo, Eva Hoffman, Timothy Mo und Caryl Phillips Sandra Vlasta | 105

Patrick Chamoiseau quadrillé 4 vérités sur l’écrivain emblématique de l’Outre-Mer Kathleen Gyssels | 127

La question de l’hospitalité Nathalie Roelens | 143

Interdisziplinäre Perspektiven der Interkulturalitätsforschung Internationaler Wissenstransfer am Beispiel von Innovationsdiskursen Gesine Lenore Schiewer  |  165

Interkulturalität und germanistische Mediävistik Literarische Figurenkonzepte und kulturelle Prägungen des Helden und des Ritters Heinz Sieburg | 181

Autorinnen und Autoren  | 195

Vorwort Der vorliegende Band basiert auf einer interdisziplinären und mehrsprachigen Vorlesungsreihe an der Universität Luxemburg – veranstaltet 2015 in Zusammenarbeit von Germanistik, Luxemburgistik und Romanistik – unter dem Titel Themenbereiche und Positionen der Interkulturalität / Domaines thématiques et positions de l’interculturalité. Die hier versammelten Beiträge sind Ausarbeitungen einer Auswahl der dort präsentierten Vorträge. Ziel ist dabei, Interkulturalität als ein fächerübergreifendes Fragekonzept (Paradigma) zu erweisen, dessen Relevanz gleichermaßen für Forschung und Lehre behauptet werden kann. Interkulturalität wird dabei grundsätzlich als offener Begriffsrahmen insofern verstanden, als der vermeintliche Gegenbegriff der Transkulturalität hier mit umfasst sein soll. Mit anderen Worten: Ausgangspunkt der einzelnen Beiträge ist weder ein als abgeschlossen gedachter Kulturbegriff noch ein solcher, der Kulturdifferenzen prinzipiell negiert, vielmehr soll das Zusammentreffen unterschiedlicher Kultur(-ausprägung)en im Lichte literaturwissenschaftlicher Analysen – aber auch darüber hinaus – exemplarisch untersucht und für die weitere kritische Auseinandersetzung in Forschung und Lehre produktiv gemacht werden. Die Gliederung des Bandes stellt diejenigen Artikel voran, die sich dem Phänomen der Interkulturalität verstärkt von theoretischer Seite her nähern. Dem folgen Beiträge, die Luxemburg als Literatur- und Kulturraum in den Mittelpunkt stellen, was weniger dem Veranstaltungsort der zugrunde liegenden Vorlesungsreihe geschuldet ist, als vielmehr dem Umstand, dass Luxemburg schon aufgrund seiner spezifischen Mehrsprachigkeit, der Multinationalität seiner Bevölkerung und seiner bewegten Geschichte als ›interkulturelles Labor‹ bezeichnet werden kann. Die sich daran anschließenden Beiträge öffnen den Horizont in Bereiche, die – im spezifischen Sinne – unter dem Begriff »Weltliteratur« zusammengefasst werden können. Den Abschluss bilden zwei Beiträge, die das herkömmliche Feld der Interkulturalitätsforschung in Richtung diskursanalytischer bzw. mediävistischer Untersuchungen erweitern – und damit auch das innovative Potenzial einer philologisch orientierten Interkulturalitätsforschung unterstreichen sollen.

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Weit mehr als nur Höflichkeit gebietet es, denjenigen zu danken, die das Zustandekommen des Sammelbandes erst ermöglicht haben. Das sind zunächst natürlich die Beiträgerinnen und Beiträger, sodann auch die von Lektorats- und Verlagsseite her Verantwortlichen. Zu danken ist nicht zuletzt den Herausgebern der Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft, die uns einen sicherlich geeigneten Platz zur Veröffentlichung bereitgestellt haben. Luxemburg im November 2016 Das Herausgeberteam Jeanne E. Glesener (Luxemburgistik), Nathalie Roelens (Romanistik) und Heinz Sieburg (Germanistik)

Kulturdifferenz und sprachliche Vielfalt Philologische Perspektiven Till Dembeck In der Literaturwissenschaft der vergangenen zehn bis 15 Jahre gibt es ein rapide wachsendes Interesse an Mehrsprachigkeit. Damit eilen die Philologien einerseits einer Forschungsbewegung nach, die vor allem in der Linguistik und in den Erziehungswissenschaften längst etabliert ist. Andererseits vertiefen sie ein Interesse, das sie schon länger umtreibt, nämlich das Interesse für Interkulturalität. Den überwiegenden Teil der literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung kennzeichnet daher ein mehr oder weniger ausgeprägtes Interesse an der Frage, was der literarische Umgang mit Sprachenvielfalt über Kultur und kulturelle Vielfalt aussagt. Oft gesellt sich hierzu auch ein (auch in Linguistik und Erziehungswissenschaften verbreiteter) kulturpolitischer Einsatz für Mehrsprachigkeit. Die folgenden Ausführungen gehen von der These aus, dass es bislang vor allem extrinsische Interessenlagen sind, die literaturwissenschaftliche Forschung in diesem Bereich motivieren. Sie möchten demgegenüber den philologischen Umgang mit dem Kultur- wie dem Sprachbegriff – ausgehend von den ureigensten Interessen und Methoden des Fachs – neu justieren. Überspitzt formuliert, lautet meine These, dass ›wir Philologen‹ besser daran täten, von Kultur- und Sprachdifferenzen zu sprechen anstatt von Interkulturalität und Mehrsprachigkeit – und dass wir auf diese Weise auch deutlicher machen können, warum Philologie für die Gesellschaft wichtig ist. Um dies zu zeigen, wende ich mich zunächst den Begriffen Interkulturalität und Mehrsprachigkeit zu, präsentiere alternative Konzepte und versuche abschließend zu illustrieren, welches Potenzial sie dies- und jenseits der Grenzen der Philologie haben.1 *** 1 | Mein Text ist in Vortragsform belassen und mit Absicht angreifbar formuliert. Ich verzichte auf ausführliche Verweise auf die Forschung, die ich an anderer Stelle gegeben habe.

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Die Kulturwissenschaften verwenden viel Zeit und Energie auf die Beantwortung der Frage, inwiefern und wie man Kulturen beschreiben und voneinander abgrenzen kann. Man hantiert mit Begriffen wie ›Othering‹ oder ›dritter Raum‹, kritisiert den Begriff der Interkulturalität und nutzt andere Präfixe zur Spezifizierung dessen, was man meint – beispielsweise wenn das Konzept der Transkulturalität der Einsicht Rechnung tragen soll, dass Kulturen nicht als geschlossene Einheiten vorzustellen sind. Angesichts der verworrenen Diskussionslage ist es förderlich, einen operativen Kulturbegriff zu etablieren, der auf die Frage antwortet, was Kultur macht oder leistet.2 Dieser Kulturbegriff ist strikt zu unterscheiden von (komplexitätsreduzierenden) Selbstbeschreibungen von Gesellschaft als oder qua Kultur. Auf der operativen Ebene, so meine These, ist die Idee, dass sich Kulturen durch Abgrenzung von anderen Kulturen konstituieren, grundsätzlich verfehlt. Damit soll nicht gesagt sein, dass nicht pausenlos versucht werde, im Namen von Kultur eben dies zu tun: Man behauptet Eigenheit, nimmt Exklusionen vor, rechnet Dinge, die man beobachtet, fremden, anderen, eigenen Kulturen zu usw. Hierbei handelt es sich aber um Phänomene, die auf der Ebene der Selbstbeschreibung ihren Ursprung haben – selbst wenn sie auf die operative Ebene zurückwirken. Der Kulturbegriff, wie er in den Kulturwissenschaften heute meist verwendet wird, tendiert dazu, diese Ebenenunterscheidung – auf die es aber gerade ankommt – zu verwischen. Auf der operativen Ebene ist Kultur, so mein Vorschlag, zunächst einmal nichts weiter als ein Bündel von Mechanismen, die uns Bedeutsamkeit bereitstellen und zu verarbeiten helfen – Bedeutsamkeit, wohlbemerkt, nicht bereits Bedeutung. Kulturdifferenzen sind dementsprechend Unterschiede in der Art und Weise, Bedeutsamkeit zu bestimmen und zu verarbeiten. Zur Erläuterung einige Beispiele, die allesamt aus Lehrbüchern für ›interkulturelle Kommunikation‹ stammen könnten. Wenn ein Manager einem Kollegen aus einem fernen Land ein aufwendig, nach einem bestimmten Kodex eingepacktes Geschenk mitbringt, der Geschäftsfreund diese Hülle aber nur als solche behandelt, sorglos wegwirft und sich überschwänglich für den Inhalt bedankt, liegt eine Differenz mit Blick auf dasjenige vor, was die beiden jeweils für bedeutsam halten. Wenn ich in ein fernes Land fahre und man mir vorab beibringt, dass man dort niemals sofort bejahen darf, wenn man etwas zu trinken angeboten bekommt, habe ich eine Lehre darin erhalten, dass Dinge auch anders bedeutsam werden können, als ich das vermutete: Offenbar ist in dem fremden Land auch bedeutsam, wie oft etwas gesagt wird. Wenn umgekehrt mein Gastgeber in dem fernen Land seinerseits schon davon gehört hat, dass Menschen, die dorther kommen, wo ich herkomme, immer sofort Ja sagen, wenn sie etwas angeboten bekommen, so 2 | Die folgenden Argumente verdanken sich der Auseinandersetzung mit Baecker 2003, Luhmann 1995, Stanitzek 1996 u. a.

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hat er gelernt, dass ein ihm vertrauter Mechanismus zur Herstellung von Bedeutsamkeit anderswo keine Relevanz hat. Kulturdifferenzen, so meine These, haben immer, auch wenn sie natürlich in sehr viel komplexeren Formen vorkommen können denn in den hier vorgestellten, damit zu tun, dass Uneinigkeit darüber besteht, was bedeutsam ist oder sein soll. Damit Kulturdifferenzen sichtbar werden können, muss zumindest klar sein, dass es überhaupt um Bedeutsamkeit geht. Diese Voraussetzung ist immer schon gemacht, wenn ›Kulturkontakt‹ stattfindet, und aus dieser Voraussetzung folgt wiederum, dass die Mechanismen zur Verarbeitung von Bedeutsamkeit zugleich immer auch potenzielle Verbindungen erzeugen. Die Außenseite von Kultur ist niemals irgendeine ›andere‹ Kultur, sondern das tiefste Schweigen – ein Schweigen nämlich, dass schlicht auf den Mangel an jeglichem Bedeutsamen zurückgeht. Tatsächlich betreibt Kultur auf der operativen Ebene immer schon ein ›Othering‹, indem sie nämlich vielen Strukturen und Phänomenen in der Welt die Fähigkeit abspricht, Bedeutungsunterscheidendes zu prozessieren – Bäumen und Steinen beispielsweise, generell also der schweigenden Natur. Dennoch ist es auf dieser Ebene schlicht unsinnig zu behaupten, dass sich kulturelle ›Identität‹ oder einzelne Kulturen durch Abgrenzung von anderen Identitäten und Kulturen konstituieren. Selbst wenn man Angehörige einer anderen Gruppe als ›Barbaren‹ oder ›Stumme‹ bezeichnet, wird man zugleich operativ fast immer implizit eingestehen, dass auch die Stummen erkennen, dass Dinge bedeutsam sein können – und wenn es um die Signifikanz von Kampfandrohungen geht. Natürlich sind hier Kulturdifferenzen im Spiel: Man erkennt beispielsweise, dass es keinen Sinn macht, sophistisch einen Kriegsgrund vorzuschieben, und belässt es bei physischen Gesten. Dennoch ist zugleich vorausgesetzt, dass die Bedeutsamkeit dieser Gesten als solche erkannt wird – was der Anwendung der Differenz zivilisiert versus barbarisch/stumm im Rahmen der Selbstbeschreibung klar widerspricht. Auf der Grundlage eines operativen Kulturbegriffs wäre dasjenige, was in den Kulturwissenschaften oft als kulturelle Identität beschrieben (und dekonstruiert) wird, daher eher zu beschreiben als ein mehr oder weniger diffuses Bündel von Fähigkeiten, Bedeutsamkeit zu erkennen – Fähigkeiten, die nicht nur individuell sind, auch wenn sich natürlich Individuen, die viel miteinander zu tun haben, mit Blick auf diese Fähigkeiten aneinander angleichen; sondern die sich vor allem ständig verändern. Beispiele dafür habe ich oben gegeben: Ich habe vor meinem Aufbruch in das ferne Land, in dem man jedes erste Angebot aus Höflichkeit ablehnt, meine Fähigkeit, Bedeutsamkeit zu konstituieren, ebenso erweitert wie der mich erwartende Gastgeber. Die daraus resultierende Situation ist zwar nicht unmittelbar erfreulich – denn auf meine Ablehnung des ersten Angebots einer Erfrischung erfolgt kein zweites; doch ist sie immerhin dazu angetan, dass wir beide wahrscheinlich noch mehr hinzulernen werden.

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Dennoch bleibt die Wahrnehmung von kulturellen Differenzen ein zweischneidiges Schwert, denn Kulturdifferenzen erzeugen zugleich ein Mehr an Bedeutung und Intransparenz. Mein Beispiel macht dies deutlich: Die zusätzlich gewonnenen Möglichkeiten, Sachverhalten Bedeutung zu verleihen, führt, vor allem, wenn die doppelte Kontingenz des Zusammenhangs erkannt wird, zu mehr Unsicherheit, denn man weiß nicht mehr genau, nach welchen der erlernten Schemata beispielsweise das Verhalten des Gegenübers zu erklären ist. Ja, noch grundsätzlicher wird man sagen können, dass Kultur selbst zugleich ein Mehr an Bedeutung und Intransparenz erzeugt, denn die Markierung von Bedeutsamkeit schließt immer schon andere Möglichkeiten, Bedeutsamkeit zu markieren, aus: Wäre alles bedeutsam, wäre nichts mehr bedeutsam. Das heißt: Mit Kultur ist immer auch Kulturdifferenz gegeben, und daher weiß man nie ganz genau, welche bedeutsamen Details man selbst eventuell übersieht. Diese Intransparenz ist unvermeidlich, auch wenn sie nie absolut ist und immer, wenn auch um den Preis der Erzeugung neuer Intransparenz, in Transparenz verwandelt werden kann. Sie ist es letztlich, die den Eindruck erweckt, es gäbe so etwas wie eine unhintergehbare kulturelle Prägung von Individuen – ein Eindruck, der entscheidend zur Wirksamkeit einer Argumentationsfigur beiträgt, die ich als ›Identitätsfalle‹ bezeichnen möchte. In diese Falle geht man, wenn man davon ausgeht, man könne aufgrund der eigenen kulturellen Prägung (Identität) anderskulturellen Positionen nicht gerecht werden, zumal dann, wenn Kulturdifferenzen einhergehen mit einem hegemonialen Gefälle (Ost/West, Nord/Süd): Wir können andere, insbesondere nichtwestliche Kulturen nie verstehen, heißt es dann, und jeder Versuch dazu ist zwangsläufig der Versuch einer Aneignung. Aneignung aber ist notwendig mit Gewalt verbunden, die gerade zerstört, was sie sich aneignen will. Eine ausweglose Situation, wie man sieht – eine Falle, in der Teile der postkolonialen Kulturwissenschaften seit Langem stecken. Ich will nun keinesfalls bestreiten, dass jede noch so wohlwollende hegemoniale Position einen blinden Fleck hat für die jeweils andere Position. Aber das hat zumindest nicht in erster Linie mit Kultur im operativen Sinne zu tun, sondern mit Selbstbeschreibungen und mit politischen Strukturen – also mit der Art und Weise, wie in den entsprechenden gesellschaftlichen Zusammenhängen bindende Entscheidungen getroffen werden. In die Identitätsfalle geht man, wenn man Kultur und Politik in einen schicksalhaften Zusammenhang bringt: Politisch produzierte Gruppenidentitäten werden als kulturell bedingte ausgegeben – und weil man bei Kultur (anders als meistens bei Politik!) davon ausgeht, dass sie mit unhintergehbaren Prägungen zu tun hat, verfestigen sich Identitäten zu Schicksal. Die Intransparenz, die Kulturdifferenzen immer auch erzeugt, hat es mit sich gebracht, dass man immer schon viele Argumente gegen kulturelle Sensibilität, ja, gegen ›Kulturkontakt‹ selbst gefunden hat, gerne auch unter Nutzung »asymmetrischer Gegenbegriffe« (Koselleck 1989) wie Barbar, Heide und Un-

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termensch. Gerade diese Gegenbegriffe machen aber unmittelbar deutlich, dass sie nicht nur auf Versuche einer komplexitätsreduzierenden Selbstbeschreibung zurückgehen, sondern genuin politisch motiviert sind – geht es doch darum zu entscheiden, wer politisch, also mit Blick auf die künftigen »kollektiv bindende[n] Entscheidungen« (Luhmann 1986: 169), relevant ist. Man kann hier einwenden, dass dieser Ebenenwechsel schon immer in Kultur angelegt ist: Man kann immer darüber streiten, was kollektiv signifikant sein soll oder nicht. Wenn es Kultur gibt, gibt es daher immer auch Kulturpolitik. Kulturpolitik ist eine Reaktion auf die Unsicherheit, die die Wahrnehmung von Kulturdifferenzen erzeugt. Mit Kulturpolitik sind allerdings nicht ausschließlich kulturell begründete Exklusionsmechanismen gemeint, sondern allgemein alle Versuche, auf kollektive Entscheidungen darüber einzuwirken, was wie als bedeutsam behandelt werden soll. Kulturpolitik war es daher nicht nur, wenn die Griechen denjenigen, deren Sprache sie nicht verstanden, als Barbaren die Zugehörigkeit zur kultivierten Menschheit absprachen, sondern auch, wenn sie eine ausgesprochen große Toleranz gegenüber dialektalen Abweichungen walten ließen. Kulturpolitik ist es dann auch, wenn ein Lyriker sein Publikum davon zu überzeugen versucht, das von ihm erschaffene neue Versmaß sei bedeutsam für gemeinsame literarische Anstrengungen, wenn ein Koch seinen Gästen mit einer neuartigen Zubereitungsart eine neue Geschmacksnuance von Kohlrabi erschließen möchte, oder wenn man trotz vieler Enttäuschungen auf der Bedeutsamkeit der Geschenkverpackung besteht und darauf hofft, dass die Beschenkten das irgendwann auch merken werden. Die ›humanistische‹ Variante von Kulturpolitik schließlich besteht darin, die Aufklärung über und die Anerkennung von Kulturdifferenzen ihrerseits zum Selbstzweck zu erheben. Sie ist einerseits der Gegenpol zur exklusiven, sich auf die eigene vermeintlich unhintergehbare Identität zurückziehende Kulturpolitik, lässt sich aber andererseits durchaus mit dieser vereinbaren: Man behauptet dann, aufgrund der eigenen kulturellen Prägung zur Verwirklichung einer humanistischen Kulturpolitik imstande zu sein, während man eben diese Fähigkeit aufgrund ihrer kulturellen Prägung abspricht. Diese besonders obszöne Variante von Chauvinismus ist übrigens strukturell nichts weiter als das Negativbild einer Kulturpolitik, die sich an der Identitätsfalle ausrichtet. Was wäre also, ausgehend von der hier vorgeschlagenen Bestimmung von Kultur, der Ausweg aus dieser Falle? Zum einen darf man die grundsätzlich vorauszusetzende Perspektivität von Kultur, die Tatsache, dass sie grundsätzlich Alternativen in den Arten und Weisen, Bedeutsamkeit zu erzeugen, ausschließen muss, nicht als ›Prägung‹ nachgerade substanzialisieren – auch wenn es für Gruppen und Individuen oft ganz und gar nicht einfach ist, die Grenzen dessen, was man für das Eigene hält, zu überschreiten. Alle kulturellen Gegebenheiten sind kontingent, also veränderbar, wenn

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es auch mächtige Mechanismen gibt, die aus guten Gründen, nämlich um der schieren Fortsetzung der Kommunikation willen, für ihre Erhaltung sorgen. Zum zweiten aber ist darauf hinzuweisen, dass Kultur als Mechanismus zur Stiftung von Bedeutsamkeit, auch wenn sie kulturpolitisch immer wieder mit Strategien der Grenzziehung verquickt wird, ein genuin grenzüberschreitendes Potenzial innewohnt. Denn wo die Grenzen zwischen dem Bedeutsamen und dem Nichtbedeutsamen zu ziehen sind, versteht sich niemals von selbst; vielmehr stellt diese Grenzziehung, trotz aller Redundanz, die sich einstellt und auch einstellen muss, immer wieder einen kreativen Akt da: Bedeutsamkeit wird von Kultur fortlaufend erzeugt, d. h., sie verändert sich auch potenziell ständig und legt niemanden unhintergehbar auf etwas fest. Zum dritten wird man genau zu beschreiben haben, wie auf der Basis von Kultur, verstanden nicht als ›Prägung‹, sondern als fortgesetzte Erzeugung von Bedeutsamkeit, politische, wirtschaftliche und andere Grenzziehungen vorgenommen werden. Dass Kultur politischen und wirtschaftlichen Interessen dienstbar gemacht wird, ist nicht weiter verwunderlich, insofern sie einen Grundmechanismus von Kommunikation darstellt. Man muss aber unterscheiden zwischen Kulturpolitik im engeren Sinne, also der Auseinandersetzung darüber, was bedeutsam sein soll, und der Indienstnahme von Kultur durch Politik – die ihrerseits in spezifischen Kulturpolitiken mündet. Die Verquickung kultureller Differenz mit einem hegemonialen Gefälle ist eine solche Indienstnahme der Kultur durch Politik (und Wirtschaft): Sie versucht, Exklusion auf der Grundlage angeblich unhintergehbarer kultureller Prägung festzuschreiben – und darin folgt ihr, aufgrund eines Missverständnisses des Kulturbegriffs, die Kulturpolitik der Identitätsfalle. Dennoch führt die Tatsache, dass die westliche Welt lange Zeit kulturelle Differenzen und Hegemonialansprüche wechselseitig aus einander abgeleitet hat und dies noch immer ungebrochen tut, nicht in die Aporie unmöglicher Verständigung; sie lässt sich überwinden. Das kostet nur sehr, sehr viel kulturpolitische Mühe und, ja, auch guten Willen (vgl. Derrida 1984). *** Es ist auf die Frage zurückzukommen, inwiefern der hier vorgestellte Kulturbegriff etwas mit Philologie zu tun hat – meine These ist, dass er sich nachgerade aus Grundhypothesen der Philologie ableitet, allen Gegenüberstellungen von Philologie und Kulturwissenschaften zum Trotz. Für den zweiten hier interessierenden Begriff, Mehrsprachigkeit, ist demgegenüber unmittelbar klar, dass man ihn aus philologischer Perspektive betrachten kann, denn auf ihre Weise ist die Philologie ja durchaus für Sprache zuständig. Auf ihre Weise – denn der Zugang der Philologie zur Sprache ist durchaus eigentümlich. Sie interessiert

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sich nicht – oder allenfalls mittelbar – für Sprache als System; ihr Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Ergründung sprachlicher Zeugnisse in ihrer jeweiligen historischen Singularität.3 Diese spezifische Perspektive der Philologie auf das Einzelne führt in ihrer historischen Ausrichtung keinesfalls dazu, dass beispielsweise literarische Texte klar auf ihre historische Herkunft zurückgeführt werden – denn dies würde sie im wahrsten Sinne des Wortes in ihrem Wesen reduzieren. Genauer gesagt: Es gibt einen – nicht immer einfach zu erfüllenden – philologischen Imperativ, der besagt, dass jeder einzelne Text vor dem Hintergrund seines historischen Hintergrunds so betrachtet werden muss, dass dabei seine Spezifik, d. h. seine potenzielle historische Einzigartigkeit sichtbar wird. Diese Perspektive führt unter anderem dazu, dass in der Philologie das Gesetz der großen Zahl nicht gilt – denn es kommt gerade auf einzelne Befunde an. Methodisch gesehen könnte man sagen, dass die Philologie an Sprache nicht langue interessiert, sondern parole – und vor allem dasjenige an parole, das sich der Einordnung in langue widersetzt. Das hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie Philologie Texte und Sprachen zueinander in Bezug setzt – oder es zumindest sollte. Denn wenn der Text als singulär behandelt wird, dann ist vorderhand nichts an ihm auf den sogenannten Kontext zurückzuführen. Alle Strukturen, die man am Text vorfindet, sind vielmehr als Ergebnis einer kontingenten Selektion zu verstehen – die »Sprachigkeit« des Textes, also den Grad, zu dem er sich mit einer (oder mehreren) langue(s) zurückführen lässt (vgl. Arndt/Naguschewski/ Stockhammer 2007), eingeschlossen. Das heißt, dass die philologische Beschreibung von Text grundsätzlich alle mit den Mitteln der Sprachwissenschaft zu erfassenden Strukturen, die sie vorfindet, so behandeln muss, als gingen sie auf eine bewusste Entscheidung für sie und gegen andere zurück – unabhängig davon, ob es sich dabei nun um Elemente und Strukturen aus standardisierten Nationalsprachen, Dialekten und Soziolekten, aus Pidgins oder Kreolsprachen, um Effekte von Code-Switching oder Plurilanguaging oder um noch etwas anderes handelt. Diese Annahme hat, wohlbemerkt, heuristischen Status und ist auch ein Stück weit kontrafaktisch. Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass viele Autoren vergleichsweise wenige unterschiedliche Idiome ›beherrschen‹ und in ihren Texten verwenden können, macht es die philologische Methode gerade aus, die Wahlmöglichkeiten zu akzentuieren und nicht die Abhängigkeiten. Darin liegt gerade die Differenz zur Sprachwissenschaft, der es auch in ihren langue-feindlichsten Ausprägungen darum geht herauszufinden, für welche allgemeineren Regelmäßigkeiten einzelne Äußerungen inwiefern Beleg sind. Daraus folgt letztlich, dass die Philologie die Einsprachigkeit von Texten nicht voraussetzen darf – wie sie es aller3 | Die folgenden Argumente verdanken sich der Auseinandersetzung mit Szondi 1967, Derrida 1997, Coulmas 1996, Lecercle 1990 u. a.

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dings bis heute zumeist tut. Denn jede sprachig klar gebundene Struktur, die ein Text nutzt, hat er trotz allem selektiert, d. h., sie ist vor dem Hintergrund anderer Alternativen zu sehen. Potenziell ist sprachliche Vielfalt also in jedem Text zu finden. Aus dem philologischen Fokus auf die Singularität von Text ergibt sich allerdings noch eine weitere Perspektive. Denn aus philologischer Sicht erweisen sich Sprachdifferenzen, wie sie mit Begrifflichkeiten der Sprachwissenschaft beschrieben werden können, funktional äquivalent zu im weitesten Sinne rhetorischen Strategien, die den Einsatz rhetorischer Figuren, Tropen und Dispositionsmuster, also rhetorische Werkzeuge im engeren Sinne, umfasst, aber auch den Einsatz von metrischen Schemata, von Gattungskonventionen und schließlich auch von mehr oder weniger ›künstlich‹ wirkenden Selbsteinschränkungen wie denjenigen, mit denen die Autoren von Oulipo arbeiten. Das heißt natürlich nicht, dass die Differenz zwischen zwei standardisierten Nationalsprachen, deren Sprecher einander nicht ohne Weiteres wechselseitig verstehen, mit der Differenz zwischen zwei unterschiedlichen Versmaßen über einen Kamm geschoren werden könnte. Aber insofern beide Differenzen dem Text aus philologischer Perspektive als Möglichkeiten der Strukturbildung, d. h. der SelbstEinschränkung zur Verfügung stehen, erfüllen sie doch dieselbe Funktion. Das macht sie vergleichbar – und erklärt auch, warum in literarischen Texten die Differenz zwischen zwei rhetorischen Strategien für die Differenz zwischen unterschiedlichen Idiomen einstehen kann: In Shakespeares Komödien ist die Differenz zwischen Blankvers und Prosa als Differenz zwischen zwei Soziolekten aufzufassen. In einigen Wild-West-Romanen von Karl May signalisiert der Gebrauch von Standarddeutsch in der Figurenrede, dass die Unterhaltung auf Englisch geführt wird – wohingegen die Nutzung eines stilisierten sächsischen Dialekts darauf schließen lässt, dass nun Deutsch gesprochen wird. Und noch die Setzung ganz kontingenter rhetorischer Selbsteinschränkungen kann zur Etablierung einer Art neuen Idioms führen: So ähnelt die Abfassung eines Romans auf Französisch, der auf den Gebrauch des Buchstabens »e« (den im Französischen mit Abstand am häufigsten vorkommenden Buchstaben) verzichtet, dem Schreiben in einer Fremdsprache oder eher noch der Erfindung einer neuen Sprache, auch wenn der so entstandene Text ausschließlich französische Wörter enthalten wird. Eine Philologie, die sich ernsthaft des Themas der Sprachvielfalt annehmen will, wird nicht umhinkommen, die funktionale Äquivalenz zwischen ›rhetorischer‹ und ›linguistischer‹ Sprachvielfalt zu berücksichtigen. Dabei muss es natürlich insbesondere darum gehen, die unterschiedlichen Ebenen, auf denen sich Sprachdifferenzen ergeben können, möglichst sauber auseinanderzuhalten – um dann in einem zweiten Schritt klären zu können, welche Wechselwirkungen zwischen den Ebenen festzustellen sind. Eine Mehrsprachigkeitsphilologie wird es sich nicht leisten können, literarische Mehrsprachigkeit weiterhin

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schlicht als die Gegebenheit mehrerer ›Sprachen‹, und das heißt im Zweifel: standardisierter Nationalsprachen, im Text zu bestimmen. Präziser ist hier die Rede von Sprachdifferenzen als den Unterschieden in der Art und Weise, wie Sprachproduktion Regeln und Einschränkungen unterworfen wird. Die Beischreibung des Stellenwerts solcher Sprachdifferenzen und ihrer Interferenzen im literarischen Text sollte Ziel der Mehrsprachigkeitsphilologie sein. *** Es bleibt zu klären, wie sich das Verhältnis zwischen Kultur- und Sprachdifferenzen fassen lässt. Dass sie etwas miteinander zu tun haben, ja, dass Sprachdifferenzen oft für Kulturdifferenzen einstehen, ist ziemlich offenkundig. Abweichungen von sprachlichen Standards gelten wohl immer schon als Ausweis fremder kultureller ›Zugehörigkeit‹ – das belegt schon die Geschichte um das Wort ›Schibboleth‹ aus dem Buch der Richter. Auch aus systematischer Hinsicht verwundert die Verbundenheit der beiden Dinge kaum, denn dass Sprache mit der Erzeugung von Bedeutsamkeit befasst ist, dürfte kaum bestritten werden können. Die kleinsten Einheiten von Sprache, Phoneme bzw. Grapheme, sind ja auch definiert als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten, also als Elemente zur Stiftung von Bedeutsamkeit. Im Grunde liegt hier auch der Einsatzpunkt jeder Philologie, die sich daher zu Recht für den Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur zuständig halten darf. Denn die Grundaufgabe von Philologie ist die Konstitution von Text, also die Arbeit am Buchstaben, an der Abgrenzung dessen, was am historischen Textzeugnis als bedeutsam gelten soll und was (als Fehler, Korruption etc.) ausgeschieden wird. Die Skepsis gegenüber jeder etablierten Konstitution von Text, welche die Philologie mit Blick auf die Edition antreibt, greift dabei auch auf andere Ebenen der philologischen Tätigkeiten über. Noch das Geschäft der Interpretation, und zwar bis hin zur kulturwissenschaftlichen Relektüre und Wiederentdeckung unterprivilegierter Perspektiven, lebt von der Konstitution neuer Strukturen von Bedeutsamkeit. Eine neue Lektüre noch des klassischsten Textes muss in diesem eine Struktur entdecken, die bislang unbeachtet geblieben ist, und jede Erschließung neuer Kontexte und Materialien läuft auf den Verweis auf vormals nicht beachtete Bedeutsamkeit hinaus. In diesem Sinne ist Philologie immer schon auch zuständig für die Vielfalt der sprachlichen Erzeugung von Bedeutsamkeit im literarischen Text. Der Umgang mit Sprachdifferenzen liegt historisch am Ursprung der Philologie – denn es ging um die Erschließung sprachlich fremd gewordener Texte; er ist aber auch in systematischer Hinsicht der Kern der Philologie. Das heißt: Philologie ist Mehrsprachigkeitsphilologie – oder sollte es zumindest sein. Und Mehrsprachigkeitsphilologie ist Kulturwissenschaft, denn auch die Einschätzung der kulturpolitischen Strategien, die im Text und um den Text herum wirken, gehört zu ihrem Kerngeschäft. So kann und muss die

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Beschreibung der linguistischen wie rhetorischen Sprachdifferenzen, die noch im scheinbar ›einsprachigsten‹ Text, in Goethes Faust zum Beispiel, anzutreffen sind, auch die kulturpolitischen Strategien beleuchten, die hinter ihrem Einsatz stecken. Der Faust ist mit Blick auf rhetorische Sprachvielfalt nachgerade überreich – wie kein anderer Text seiner Epoche macht er Gebrauch von unterschiedlichsten metrischen Formen und Anleihen an Gattungskonventionen aus den unterschiedlichsten Kontexten. Auch linguistische Sprachenvielfalt gibt es durchaus, einmal in einigen wenigen anderssprachigen Wörtern, die vorkommen, dann aber auch auf der Ebene der Darstellung dadurch, dass zum Beispiel die Anderssprachigkeit der antiken Griechen explizit dadurch gekennzeichnet wird, dass sie keinen Reim kennen. Eine Interpretation des Textes im Sinne einer Mehrsprachigkeitsphilologie müsste fragen, worum es hier geht: um die Integration der gesamteuropäischen Literaturtradition ins Deutsche, um die Aufwertung des Deutschen als Literatursprache, gar um seine Erhebung über andere Literatursprachen – oder umgekehrt um die einsprachige Vorwegnahme eines mehrsprachigen Kosmopolitismus, wie ihn zeitgleich Wilhelm von Humboldts Sprachforschung proklamiert? Mit diesen Fragen wird eine Verbindung hergestellt zwischen der Beschreibung der je konkreten Sprachvielfalt im Text einerseits und seinem kulturpolitischen Umfeld andererseits – und in dieser Verbindung liegt zweifelsohne nicht zuletzt auch das kulturpolitische Interesse der Mehrprachigkeitsphilologie selbst. Die Tatsache, dass Sprachdifferenzen (auch) Kulturdifferenzen sind, belastet allerdings auch die Mehrsprachigkeitsphilologie mit den Unbestimmtheiten, die den Umgang mit Kulturdifferenz belasten. Denn auch Sprachdifferenzen erzeugen sowohl ein Mehr an Bedeutung als auch an Intransparenz. Kommen Sprachdifferenzen ins Spiel, stellt man also fest, dass es ganz unterschiedliche Arten und Weisen gibt, die Sprachproduktion zu regulieren. Man man daraus einerseits lernen; neue Bedeutsamkeit erschließt sich, und mit ihr letztlich neue Bedeutung. Andererseits wird die Tatsache unübersehbar, dass Unterschiede in der sprachlichen Konstitution von Bedeutsamkeit nicht allesamt überwunden werden können. Es entsteht Unübersetzbarkeit. Philologie arbeitet immer schon im Wissen um diese Unübersetzbarkeit, denn dank ihres genuinen Interesses an Singularität weiß sie immer schon, dass sich ihre Gegenstände dem allgemeinen Zugriff letztlich entziehen. So ist es nicht zuletzt eine Leistung von Philologie, und zumal von Mehrsprachigkeitsphilologie, dass sie das Bewusstsein für Singularität als solche schärft. Singularität ist ein hohes Gut – sie darf als Antriebsmoment einer Gesellschaft gelten, die sich gerne als ›individualistisch‹ beschreibt und die Würde des Menschen ins Zentrum stellt. Es gibt allerdings kaum eine wissenschaftliche Disziplin, die sich ihrer – auf wie prekären Grundlagen auch immer – annimmt. Außer der Philologie natürlich.

K ulturdifferenz und sprachliche V ielfalt

Bibliografie Arndt, Susan/Dirk Naguschewski/Robert Stockhammer (2007): Einleitung. Die Unselbstverständlichkeit der Sprache. In: Dies. (Hg.): Exophonie. AndersSprachigkeit (in) der Literatur. Berlin, S. 7–27. Baecker, Dirk (2003): Wozu Kultur? [2000] Berlin. Coulmas, Florian (1996): Gewählte Worte. Über Sprache als Wille und Bekenntnis. Frankfurt am Main. Derrida, Jacques (1984): Guter Wille zur Macht. Drei Fragen an Hans-Georg Gadamer. In: Philippe Forget (Hg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte. München, S. 56–58. Derrida, Jacques (1997): Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs [1996]. In: Anselm Haverkamp (Hg.): Die Sprache der Anderen. Übersetzungspolitik zwischen den Kulturen. Frankfurt am Main, S. 15–42. Koselleck, Reinhart (1989): Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe [1975]. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main, S. 211–259. Lecercle, Jean-Jacques (1990): The Violence of Language. London u. a. Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen. Ders. (1995): Kultur als historischer Begriff. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik IV. Frankfurt am Main, S. 31–54. Stanitzek, Georg (1996): Was ist Kommunikation. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München, S. 21–55. Szondi, Peter (1967): Über philologische Erkenntnis. In: Ders.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis. Frankfurt am Mai, S. 9–30.

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Inszenierung kultureller Alterität als Vielstimmigkeit Vladimir Vertlibs Letzter Wunsch und Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf Silke Pasewalck Wie gehen literarische Texte mit kulturellen Unterschieden um? Wie wird kulturelle Alterität literarisch inszeniert? Welche Erzählverfahren und -techniken lassen sich hierfür in der Gegenwartsliteratur beobachten? Diesen Fragen geht der folgende Beitrag anhand von zwei Romanen exemplarisch nach: Vladimir Vertlibs Letzter Wunsch aus dem Jahr 2003 und Melinda Nadj Abonijs Tauben fliegen auf aus dem Jahr 2010. Dem interpretativen Teil ist ein fachgeschichtlicher Abriss zum Verständnis des Begriffs ›kulturelle Alterität‹ innerhalb der (interkulturellen) Literaturwissenschaft vorangestellt. Daran zeigt sich zum einen, wie unterschiedlich der Begriff selbst verstanden wurde, zum anderen werden zentrale methodologische Ansätze, die mit dem Paradigma der Interkulturalität zusammenhängen, am Alteritätsbegriff aufgezeigt.

1. Zum Begriff der (kulturellen) Alterität in der interkulturellen Literaturwissenschaft Hans Robert Jauß diagnostizierte in seinem Buch Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur (1977) die Andersheit der mittelalterlichen Welt als die einer abgeschlossenen Vergangenheit. Zugleich plädierte er dafür, dass die Bewusstmachung dieser Andersheit eine spezifische hermeneutische Aneignung der fremden Stoffwelten ermögliche. Alterität ist hier nicht synchron gedacht, sondern diachron, als zeitlich bedingte andere Identität. Die andere Identität lässt sich, so Jauß, hermeneutisch auf unsere heutige Identität beziehen. Alois Wierlacher sah hierin eine hermeneutische Vereinnahmung und setzte seine

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spezifische hermeneutische Alterität als einen Wahrnehmungsbegriff dagegen.1 Ging es Jauß darum, Texte einer früheren und uns vermeintlich fremdgewordenen Zeit zu verstehen, also die Alterität im Akt des Verstehens und der Aktualisierung aufzuheben, so ging es Wierlacher nun darum, vermeintlich vertraute Texte mittels einer fremden Optik anders zu verstehen und also die Alterität zu evozieren. Obwohl beiden der Zugriff auf literarische Texte sowie ein hermeneutisches Grundverständnis und Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik gemeinsam sind, sind die Unterschiede im Verständnis von Alterität frappierend. Literatur wird beidesmal verstanden als Brücke, über die die Leser zu gehen haben, aber einmal mit fremdem Blick, das andere Mal mit Blick für das Fremde. Im einen Falle, um Alterität in die eigene Identität zu integrieren, im anderen Falle, um die Identität um die Alterität zu bereichern.2 Zugespitzt formuliert, um die unterschiedlichen Denkmöglichkeiten zu illustrieren: Alterität als Leitbegriff über kulturell-historische Distanz und Alterität als Leitbegriff für einen interkulturell-horizontalen Raum. Im einen Falle Erkenntnis, Akzeptanz und Integration der Alterität in die eigene Identität anhand von Textlektüren und im anderen Falle Erweiterung der eigenen Identität durch die Alterität in der interkulturellen Kommunikation über Textlektüren. Die beiden Fälle sind exemplarisch gewählt. Sie zeigen einerseits, wie divers Alterität schon in der Entstehungszeit der interkulturellen Literaturwissenschaft gedacht wurde, andererseits verdeutlichen sie die Prägung durch hermeneutische Grundannahmen sowie die Prämisse der Dichotomie von Alterität und Identität.3 Vor dem Hintergrund dieser Prämisse erklärt sich, dass in der sich formierenden interkulturellen Germanistik kulturelle Alterität vornehmlich über den Begriff Fremdverstehen läuft und eine Fremdheitsforschung4 als

1 | Damit begründete er die Denkfigur, Texte über das Verhältnis von Eigenem und Fremdem zu betrachten. Grundlegend hierfür Wierlacher 1985. 2 | Neben der Alterität taucht hier der Begriff »Identität« auf. Die klassische Dichotomie lautet Identität und Differenz. Im Unterschied zum Term Differenz ist der Gegenbegriff »Alterität« perspektiviert. Das Attribut kulturell erklärt zudem die perspektivische Differenz als kulturbedingt, wobei diese heutzutage weitestgehend als Konstrukt und also antiessenzialistisch gedacht wird. 3 | Neben dieser Dichotomie Alterität/Identität wird zudem ein eigener Diskurs über das Konzept der Identität geführt, bei welchem etwa Unterscheidungen wie kollektive und personale Identität relevant werden. Vgl. beispielsweise Staub 1998. 4 | Einen sehr luziden Einblick gewährt hierfür der Artikel Fremdheit von Corinna Albrecht: Albrecht 2003. Des Weiteren sei auf Michael Hofmanns und Iulia-Karin Patruts Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft verwiesen (2015: 12–14).

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wissenschaftlichen Zweig hervorbringt. Kulturelle Alterität wird also vorwiegend als subjektive Fremdheit begriffen.5 Doch auch antihermeneutische Diskurse nutzen die Dichotomie Alterität/ Identität, auch wenn der Verstehensbegriff hier überformt oder abgelöst wurde durch den Machtbegriff. Alterität und Identität werden durch Machtmechanismen der Exklusion und Inklusion hergestellt. Das Andere ist dabei zugleich die Bedingung der Konstruktion von Identität sowie Teil derselben. So erkennt Edward Said in seiner Studie zum Orientalismus in der vermeintlichen Beschreibung des Anderen das Konstrukt der eurozentristischen Identität.6 Unabhängig davon, wie oder wo Alterität (bzw. die Dichotomie von Alterität und Identität oder das Verhältnis von Fremdem und Eigenem) gedacht wird, geht mit der Betrachtung der Textlektüren als Ort kognitiver und konstruierter Andersheit7 die Entdeckung textinterner (kultureller) Alterität einher. Der Text wird dabei nicht als Brücke oder Bühne einer interkulturellen Begegnung in der Rezeption verstanden, sondern ist selbst Ausdruck konstruierter Fremdheit und kultureller Differenz. In der Konsequenz sieht man in Texten die Möglichkeit, dass darin nicht nur eine andere Kultur oder Perspektive, sondern auch Differenzmarkierungen zum Ausdruck kommen oder reflektiert werden, dass dort Alterität inszeniert oder möglicherweise auch subvertiert wird. Die Potenziale, die man literarischen Texten beimisst, werden durch die Probleme literarischer Texte ergänzt. Hatte man literarische Texte zunächst zu schnell mit dem Prädikat wertvoll versehen und ihre Potenziale hinsichtlich kultureller Alterität betont, so musste man eingestehen, dass (literarische) Texte 5 | Es gibt hier die extreme Position, Alterität als das radikal von uns getrennte Andere, als das Fremde der eigenen Identität zu verstehen. Neben der Verortung stellt sich auch die Frage der Zugänglichkeit. Auch hier gibt es zwei radikale Positionen: Alterität als das Unzugängliche oder Alterität als das stets nur Konstruierte zu betrachten. Die Positionen schließen sich nicht aus; insbesondere dann nicht, wenn die Dichotomie verschränkt gedacht wird. Zudem sind graduelle Abstufungen denkbar, und schließlich lassen sich Fragen bzw. Anworten aufeinander beziehen. 6 | Vgl. Said 1978. Innerhalb der interkulturellen Literaturwissenschaft formulierte Ortrud Gutjahr (2003: 15) diesen Gedanken, etwa indem sie betonte, dass »jede Selbstbeschreibung Alterität, von der sich das Selbst abgrenzend profiliert, in Anspruch nehmen muss.« 7 | Auch wenn es nicht leicht ist, kognitive Fremdheit von konstruierter bzw. normativer abzugrenzen, ist die Unterscheidung sinnvoll (vgl. Mecklenburg 2009: 215 f.). Ebenso nützlich ist die Unterscheidung im Verhältnis zum Anderen, die Tzvetan Todorov vornimmt. Danach können wir unser Verhältnis zum Anderen auf drei Ebenen betrachten: Die axiologische Ebene betrifft die Wertung; die Verhältnisse sind selten wertneutral. Die praxologische Ebene betrachtet die reale Machtstruktur im Spektrum von Austausch und Assimilation. Die epistemologische Ebene fokussiert die oben erwähnte kognitive Fremdheit. Vgl. Todorov 1985: 221–239.

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kulturelle Alterität auch affirmieren oder sogar allererst konstruieren können. An Texten, wie etwa Goethes Iphigenie, deren interkulturelles Potenzial belegt schien, nachzuweisen, dass sie aus postkolonialer und feministischer Perspektive gleichwohl Inklusions- und Exklusionsmechanismen folgen, ist etwa ein Verdienst Herbert Uerlings (vgl. Uerlings 2006). Gleichwohl gibt es die Potenziale in literarischen Texten. Die Iphigenie besitzt diese weiterhin, ebenso wie Lessings Nathan. Diese der Literatur nicht per se zuzuschreiben, sondern in philologischer Analyse nachzuweisen und in ihrer Funktion zu beschreiben, ist ebenso wichtig, wie auf ihre mögliche Problematik hinzuweisen. Ziel einer interkulturellen Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik ist es mithin, prinzipiell jeden Text in Hinsicht auf eingeschriebene Perspektiven, Konstruktionen und Inszenierungen kultureller Alterität zu analysieren (vgl. hierzu auch Pasewalck/Neidlinger/Loogus 2014: 13 f.) Bevor dies an zwei Texten aus der Gegenwartsliteratur aufgezeigt sei, noch zwei Anmerkungen zu umstrittenen Positionen. Die erste betrifft das Verhältnis von Begriffspaaren wie Identität und Alterität, Exklusion und Inklusion, eigen und fremd. Diese Binarismen verleiten uns zu Zuschreibungen und Subsumptionen und gelten deshalb manchen als verdächtig. Die begrifflichen Vorschläge und konzeptuellen Versuche, etwa Interkulturalität durch Transkulturalität (vgl. Welsch 1994), Alterität durch Hybridität (vgl. Bhabha 1994) oder kulturelle Differenz durch Transdifferenz (vgl. Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke 2005) zu ersetzen, zielen zu Recht gegen eine starre Dichotomie. Die Erkenntnis des Schematismus von Binäroppositionen darf meines Erachtens jedoch nicht dazu verführen, Kategorien wie Identität und Alterität zu ersetzen und stattdessen Diversität, Hybridität oder Third Space absolut zu setzen, wie dies leider häufig zu beobachten ist. Norbert Mecklenburg hat umgekehrt zu Recht darauf hingewiesen, dass Differenzbildung unser basales Erkenntnisinstrumentarium ist und es keinen Sinn ergibt, jede Differenz zu kassieren (vgl. Mecklenburg 2009: 99). Der zweite Streitpunkt betrifft hermeneutische bzw. antihermeneutische Hintergrundannahmen ebenso wie alle jene Positionen, die auf ein grundsätzliches Problem verweisen, wie Relativismus versus Universalismus oder Realismus versus Konstruktivismus. Der Theoriedisput ist in der Praxis reichlich unproduktiv geworden. Eine Beschränkung etwa auf eine hermeneutische Fragestellung in einer Einzeluntersuchung oder besonders hinsichtlich einer spezifischen Nutzanwendung (z. B. im Bereich Deutsch als Fremdsprache oder Deutsch als Zweitsprache) muss möglich sein, selbst wenn sie grundsätzlich als fragwürdig betrachtet werden kann. Im selben Sinne warnt Andrea Leskovec in ihrer Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft zu Recht davor, Alterität auf eine »Beschreibungskategorie« (Leskovec 2011: 9) zu reduzieren, und plädiert erneut dafür, die Verstehenskategorie ins Zentrum zu rücken. Sensibilisierung für kulturelle Unterschiede und Steigerung der Lesekompetenz bekommen bei ihr großes Gewicht. Umgekehrt gilt dies allerdings ebenfalls. Alterität

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sollte auch nicht auf eine Wahrnehmungs- oder Verstehenskategorie reduziert werden. Noch kritischer gegenüber der Beobachterperspektive ist etwa Michael Hofmann, wenn er provokativ schreibt, dass kulturelle Differenz […] in erkenntnistheoretischer Perspektive nicht eine Unterscheidung objektiver Eigenschaften sei, sondern gerade das Ergebnis einer Erkundung, die sich in der interkulturellen Begegnung vollzieht und mit der Differenz überhaupt erst erzeugt (Hofmann 2006: 12)

wird. Den erkenntnistheoretischen Vorbehalt und kritischen Impetus teile ich grundsätzlich, aber innerhalb der Literatur- und insbesondere der Kulturwissenschaften werden konstruktivistische ebenso wie (anti-)hermeneutische Argumente zu wenig auf ihre Reichweite und Tragfähigkeit geprüft. So möchte ich nicht darauf verzichten, die objektive Wirksamkeit kultureller Alterität zu benennen, ihre Bedingungen und Mechanismen kritisieren zu dürfen, ohne mich per se in den Verdacht zu bringen, diese Alterität womöglich selbst erst zu erzeugen. Bisher wurde die – laut Norbert Mecklenburg zentrale – Frage vermieden, welche Bedeutung literarische Texte hinsichtlich kultureller Alterität haben. Man kann diese Frage in einem funktionalen Sinne verstehen und etwa mit Ansgar Nünning beantworten, dass literarische Texte sich aufgrund ihres Identifikationsangebots sowie ihres spezifischen ontologischen Status (Fiktionalitätsvertrag) eignen, kulturelle Alterität verständlich und akzeptabel zu machen (vgl. Nünning 2000); mit Leskovec könnte man sagen, dass diese unsere interkulturelle und symbolische Kompetenz erhöhen (vgl. Leskovec 2011: 35 ff.), aber man kann die Frage auch so wie Mecklenburg verstehen: Welches Verhältnis hat die kulturelle Alterität zur sogenannten poetischen Alterität (vgl. Mecklenburg 2009: 223–231)? Das heißt zu fragen, ob es eine ästhetische Differenz gibt, wie sie etwa Simmel diagnostiziert oder Adorno propagiert hat. Beide Fragen sind ungeklärte Fragen. Im ersten Falle sind meines Erachtens empirische Forschungen zur Rezeption nötig, etwa die Frage, ob wir Texte anders lesen, je nachdem ob wir sie als fiktional oder nichtfiktional wahrnehmen. Bei der zweiten Frage bin ich überzeugt, dass das Theorieangebot der Literatur bzw. auch der anderen Künste noch nicht annähernd ausgeschöpft ist. Stattdessen möchte ich zwei Texte der Gegenwartsliteratur vorstellen und danach fragen, wie kulturelle Alterität darin inszeniert wird. Beide verhandeln die Frage nach kultureller Identität und Alterität, fokussieren diese jedoch ganz unterschiedlich. Vertlib stellt auf den ersten Blick einen Fall, eine unerhörte Begebenheit dar, in der Identität durch Inklusions- und Exklusionsmechanismen verweigert wird; Abonji thematisiert die vermeintlich scheiternden Integrationsversuche einer doppelten Identität. Beide zeigen, bei Anwendung unterschiedlicher literarischer Verfahren, wie kulturelle Alterität in literarischen Texten subversiv und alternativ verhandelt wird.

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2. Inszenierung kultureller Alterität als Vielstimmigkeit bei Vladimir Vertlib und Melinda Nadj Abonji Im Zentrum des interpretativen Teils stehen zwei Romane: Vladimir Vertlibs Letzter Wunsch aus dem Jahr 2003 und Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf aus dem Jahr 2010. Beide Romane werden in der Forschung insbesondere auf die Kategorie der Identität hin gelesen, bei Vertlib in Hinblick auf die jüdische Identität (vgl. etwa Lorenz 2010; Drynda 2012) und bei Melinda Nadj Abonji in Bezug auf die Identitätssuche der Protagonistin Ildiko (vgl. etwa Decock 2012). Hingegen möchte ich beide Texte unter dem Blickwinkel der Alterität interpretieren und damit das Paradigma der Differenz stärker betonen – wobei die Frage nach der Identität damit gleichwohl relevant bleibt. Kulturelle Alterität wird, so die These, in beiden Texten auf komplexe Weise literarisch inszeniert, und zwar, wie zu zeigen sein wird, als Vielstimmigkeit. Das Augenmerk der Analyse liegt auf den spezifisch literarischen Verfahren, insbesondere auf der Erzähltechnik und den poetischen Bildern bzw. Motiven. Beide Texte sind durch das Genre des Familien- und Erinnerungsromans sowie das Motiv der Migration verbunden.8 Zudem ist in beiden Texten das Motiv des Totengedenkens bedeutsam, die Frage, wo und wie die Toten beerdigt werden bzw. wie ihrer gedacht werden kann und soll. Während in Vertlibs Roman die Frage nach der Bestattung zum Schreibanlass wird, bildet das Totengedenken in Melinda Nadj Abonjis Roman die Klammer, da der Roman mit diesem Motiv sowohl einsetzt als auch endet.

2.1 Vladimir Vertlib: Letzter Wunsch (2003) Vladimir Vertlib hat bisher sechs Romane,9 zahlreiche Erzählungen, einen Band mit Poetik-Vorlesungen und einen mit Essays veröffentlicht.10 Der Untertitel seines Erzählungsbandes Mein erster Mörder (2006), »Lebensgeschichten«, bringt einen Grundzug seines narrativen Verfahrens auf den Punkt: Vertlibs 8 | Dem Nexus von Familien- und Migrationsmotiv sind unlängst Holdenried/Willms 2014 nachgegangen. 9 | Er debütierte mit dem Roman Zwischenstationen (1999), dem sein bekanntester und meist untersuchter Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur (2001) folgte. Daraufhin erschien Letzter Wunsch (2003), gefolgt von Am Morgen des zwölften Tages (2009), Schimons Schweigen (2012) und unlängst Lucia Binar und die russische Seele (2015). 10 | Hervorgehoben sei seine Poetik-Vorlesung Spiegel im fremden Wort. Die Erfindung des Lebens als Literatur. die in der Reihe Dresdner Chamisso-Poetikvorlesungen erschienen ist: Vertlib 2007.

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Texte erzählen Lebensgeschichten im Plural, Geschichten, die sich gegenseitig ergänzen oder konterkarieren, oft sogar zueinander im Widerspruch stehen und doch nebeneinander stehengelassen werden. Man könnte auch sagen, dass Vertlibs Texte mit unterschiedlichen Stimmen erzählen. In der Forschung findet Vertlib inzwischen stärkere Aufmerksamkeit; so fehlt zwar noch eine monografische Studie, doch liegt eine Reihe von ausführlicheren Einzelstudien zu seinen Romanen vor, insbesondere zu seinem zweiten Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur. Ein Autor wie Vertlib, der einer ironischen Selbstbeschreibung nach ein »deutsch schreibender jüdischer Russe [ist], der zur Zeit in Österreich lebt« (Vertlib 2007: 139), lässt sich weder kulturell einordnen noch eindeutig topografisch lokalisieren. Seine eigene Migrationserfahrung resümiert der 1966 geborene Vertlib wie folgt: Die Emigration meiner Eltern, die 1971 ihr Heimatland verlassen mussten, hatte mehrere Stationen: Israel – Österreich – Italien – Österreich – Niederlande – wieder Israel – wieder Italien – wieder Österreich – USA – und schließlich endgültig Österreich. Der Einwanderungsversuch in die USA endete mit Schubhaft und Abschiebung. Was ursprünglich nur als Übersiedlung aus der UdSSR nach Israel geplant gewesen war, entwickelte sich in der Folge zu einer Anzahl weiterer Emigrationen und Remigrationen, einer mehr als zehn Jahre dauernden Pendelroute zwischen verschiedenen Exilstationen. (Vertlib 2007: 13)

Obwohl Vertlib, nicht zuletzt aufgrund dieser Exilroute, zumeist der Migrations- bzw. Chamissoliteratur zugerechnet wird (er hat 2001 den ChamissoLiteraturpreis erhalten), sei im Folgenden der Nexus zur Erinnerungsliteratur betont, da seine Texte den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gelten und Biografien konstruieren, die mit der »Monstrosität des Geschehens« (Vertlib 2004: 59) konfrontiert werden. Bemerkenswert ist dabei, dass Vertlib ein Schreiben aus zweiter Hand realisiert, das Wahrheit und Erfindung aneinanderkoppelt (vgl. hierzu ausführlicher Neidlinger/Pasewalck 2013). Die Sprach- und Imaginationskraft seiner Texte dient einer Irritation unserer vertrauten Denk- und Gedenkmuster. Die Erfahrung muss sich erst fremd werden, indem sie erfunden wird, um durch die Entfremdung – durch die Irritation der eigenen Identität – verständlich zu werden. Die meisten meiner Geschichten sind auf diese Weise entstanden – aus Erfahrung und Anschauung und aus kreativer Ergänzung. Nur so hatte ich das Gefühl, die Welt als stimmiges Ganzes zu erleben. Manchmal frage ich mich, ob Kreativität nicht bedeutet, eigene Vorstellungen so lange zu hinterfragen und zu variieren, bis sie den scheinbar fremden Gegebenheiten oder irritierenden Eindrücken eine Dimension des Vertrauten und somit Greifbaren geben. Oder wird nicht umgekehrt das scheinbar Vertraute zum

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S ilke P asewalck irritierend Fremden und gerade dadurch umso greifbarer und verständlicher? (Vertlib 2007: 25)

Diese grundlegende poetologische Forderung aus seiner Poetik-Vorlesung Die Erfindung des Lebens als Literatur durchzieht sein gesamtes Werk und ist auch für seinen dritten Roman Letzter Wunsch kennzeichnend. Im Zentrum der tragikomischen Geschichte, bei deren Lektüre einem das Lachen im Halse stecken bleibt, steht eine unerhörte Begebenheit:11 ein abgebrochenes Begräbnis, an dem sich die Frage nach der jüdischen Identität entzündet. Die Geschichte beginnt in der fiktiven Stadt Gigricht, in der Vertlib auch andere seiner Romane ansiedelt. Der Vater des Protagonisten Gabriel Salzinger stirbt unerwartet an Herzversagen und kann seinem Sohn gerade noch zuflüstern, dass er auf dem jüdischen Friedhof der Stadt, »in Mutters Grab« (Vertlib 2003: 38), beerdigt werden will. So sucht Gabriel also die jüdische Gemeinde des Ortes auf, zu der er bisher keinen Kontakt hatte. Das Begräbis wird angesetzt, die Trauerfeier nimmt ihren vorschriftsmäßigen Verlauf, der Sohn spricht den Kaddisch für den Verstorbenen, der Sarg wird eben in die Grube gesenkt – da kommt die Gemeindesekretärin angelaufen, die gerade gefundene Übertrittsurkunde von Gabriels Großmutter in der Hand. Der Übertritt von Großmutter und Vater zum Judentum war von einem Reformrabbiner vorgenommen worden – und diese Konversion erkennt die hiesige thoragläubige Gemeinde nicht an; Gabriels Vater ist für sie ein »Nichtjude« (ebd.: 133).12 Die Beerdigung wird abgebrochen. Gabriel versucht, die Gemeinde umzustimmen, aber der Gemeindepräsident bietet ihm lediglich einen Kompromiss an: den Vater in dem »christlichjüdischen Zwischenland« (ebd.: 68) zu beerdigen, wo während der Nazizeit getaufte Juden bestattet wurden – damit also nicht »in geweihte[r] Erde« (ebd.: 379), aber dennoch in der Nähe des mütterlichen Grabes, das sich direkt am Zaun befindet, der den jüdischen Friedhof von dieser Parzelle trennt. Gabriel will auf diesen Kompromiss nicht eingehen, er stimmt nur zum Schein zu, lässt den Vater zwar dort beerdigen, aber entscheidet sich schon zuvor für einen 11 | Hier ist nicht ohne Absicht die bekannte Formel einer Novelle angespielt, obwohl es sich um einen Roman handelt. Doch dieser ist nicht durch ein breit angelegtes Erzählen einer Geschichte und die Beschreibung einer Welt gekennzeichnet, sondern aus der ›unerhörten Begebenheit‹ entfalten sich unterschiedliche Geschichten, die nicht mehr auf eine Ordnung bzw. eine kohärente Welt zurückzuführen sind. Entsprechend klingt die Handlung am Ende mit einer offenen Zukunft der Figuren aus. 12 | Das vollständige Zitat lautet: »Ihre Großmutter ist für uns offiziell immer noch Nicht-Jüdin, und somit ist auch Ihr Vater kein Jude. Wir können leider keinen Nichtjuden auf einem jüdischen Friedhof eine letzte Ruhestätte zur Verfügung stellen. So sind die Regeln.« (Vertlib 2003: 133)

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anderen, durchaus ungewöhnlichen Weg: Mit zwei Freunden entwendet er des Nachts heimlich den Körper des Vaters und bringt den Leichnam mit dem Auto an die holländische Nordseeküste, wo er ihn auf offenem Meer bestattet, und dies mit den folgenden Worten: Verzeih mir, dass ich deinen letzten Wunsch nicht erfüllen konnte. Ich habe es versucht, leider vergeblich. Aber ich weiß, wie sehr du das Meer geliebt hast. Wie oft hast du mir von der Überfahrt nach Palästina berichtet und davon, wie glücklich du damals warst. Die Erde hat dir kein Glück gebracht. Nicht die deines Geburtslandes, nicht jene von Erez Israel oder die geweihte Erde, in der Mutter liegt. Ich hoffe, ich handle in deinem Sinne, wenn ich das Meer zu deinem Friedhof mache, zu deinem Haus des Lebens. (Ebd.: 379)

Auf der Ebene des zentralen Handlungsstrangs ist der Roman intradiegetisch und – den Romananfang ausgenommen – chronologisch sowie ohne markante zeitliche Leerstellen aus Sicht Gabriel Salzingers in Ich-Erzählsituation erzählt. In diesen Erzählstrang schieben sich jedoch zahlreiche weitere Geschichten und Vorgeschichten hinein, und zwar insbesondere nach dem unvermittelten Abbruch des Begräbnisses. Zum einen werden in Form eingelagerter Erzählungen aus der Familiengeschichte der Salzingers die Lebensgeschichten der Großeltern und des Vaters eingeholt; zum anderen kommen in Dialogsituationen zahlreiche andere Lebensgeschichten zu Wort, etwa die des Gemeindemitgliedes Siegfried Rabinowitsch, der bei dem Begräbnis anwesend ist, oder die eines US-amerikanischen Rabbiners, den Gabriel bei einer Israelreise in Tel Aviv kennengelernt hatte, oder die des Rabbiners der Gigrichter jüdischen Gemeinde, der Gabriel nach dem Vorfall zum Essen einlädt. Die Lebensgeschichten der Großeltern und des Vaters stehen in starkem Kontrast zu dem Begräbnisabbruch: Denn die Eltern dieses ›Nichtjuden‹ wurden als Juden von den Nazionalsozialisten denunziert, verfolgt, enteignet und ermordet; der Reformrabbiner, der die Konversion der Großmutter und des Vaters vorgenommen hat, wurde in einem Konzentrationslager ermordet, nachdem er nicht nur den beiden, sondern auch anderen Juden zur Flucht nach Palästina verholfen hat, und der Vater hat sich bewusst nach seinen Erfahrungen in Israel für ein Leben als Jude in Deutschland entschieden und ist ins Land der Täter zurückgekehrt. Während diese Lebensgeschichten das Schicksal der Großeltern und Eltern Gabriel Salzingers als Juden erzählen, entzieht der Begräbnisabbruch dem Vater post mortem die jüdische Identität. Romana Weiershausen betont zu Recht, dass der Roman die »›Doppelidentität‹ als Jude aus nichtjüdischer und als Nichtjude, Goj, aus jüdischer Sicht im Bild des Gefangenseins zwischen zwei sich gegenüberstehenden Spiegeln« (Weiershausen 2011: 147) fasst und »das Erzählen Vertlibs« damit »an der Differenz selbst« ansetzt: »im Sinne einer fortgesetzten Oppositionsbildung wohlgemerkt, die gerade dadurch, dass das Hin und Her zwischen

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den Seiten keinen Abschluss finden kann, das Konzept der kulturellen Identität (im Rahmen einer homogen gedachten Kultur) untergräbt« (ebd.). Der Text verweist Interkulturalität und Intrakulturalität aufeinander und irritiert somit auch unsere begriffliche Ordnung. Während die Lebensgeschichten aus Salzingers Familie die unerhörte Begebenheit kontrastieren, irritieren die zahlreichen anderen jüdischen Lebensgeschichten diesen Eindruck wiederum, drehen das Licht so, dass eine andere Perspektive deutlich wird, und erzeugen insgesamt ein komplexes und kompliziertes Bild, das auf die zentrale Frage des Romans »Was heißt es, ein Jude zu sein?« eine einfache Antwort verbietet. Durch die Ausbreitung diverser und unterschiedlicher jüdischer bzw. jüdisch-deutscher Lebensschicksale, die keiner Hierarchisierung unterworfen werden, macht der Text vielmehr Heterogenität und Diversität sichtbar, ja lässt diese zu. Vertlib hat dieses Verfahren in seiner Poetik-Vorlesung auf die Metapher des ›Schattenbildes mit klaren Konturen‹ gebracht: Das Bild ist real, weil aus der Summe der Einzelbilder ein Schattenbild mit klaren Konturen entsteht. Das Schattenbild ist leicht veränderbar. Man braucht nur das Licht zu drehen, also den Blickwinkel zu ändern. […] [ich] lernte […] mit der Zeit den Perspektivwechsel, also das Licht zu drehen, und der Schatten dreht sich mit, er veränderte seine Form, ohne je sein Wesen zu verleugnen. (Vertlib 2007: 59 f.)

Wie dieses ›Schattenbild‹ aus einer Summe unterschiedlicher Lebensgeschichten, die sich gegenseitig bespiegeln, erzähltechnisch erzeugt wird, sei an einer Romanpassage nachgezeichnet: Nach dem unvermittelten Abbruch des Begräbnisses werden verstärkt, wie oben bereits gesagt, andere Geschichten in den Haupterzählstrang eingeschoben. Die Familiengeschichte der Salzingers (Kap. 5) unterbricht die Erzählung der Begräbnisfeier (Kap. 4 u. 6), die wieder damit einsetzt, dass sich die Trauergäste im Café Baum versammeln. Unter diesen Trauergästen ist auch ein Mitglied der jüdischen Gemeinde, Siegfried Rabinowitsch, der auf die wiederholten Ausrufe von Verwunderung und Bestürzung seitens der Freunde und Bekannten Gabriels das Wort ergreift und die Handlung aus seiner Sicht erklärt. Er berichtet von den grausamen Verbrechen der SS, der seine Familie zum Opfer fiel und deren unfreiwilliger Augenzeuge er war. Und er erzählt von den Konsequenzen dieser Geschehnisse für ihn als Überlebenden: Ich dachte an Gott, als derselbe SS-Mann daraufhin meine Schwester erschoss. Auch später, in den grauenhaften Momenten und Jahren danach, dachte ich an Gott. Ich wusste, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt, um nicht verrückt zu werden oder Selbstmord zu begehen: Entweder Gott für immer zu verfluchen oder sich bedingungslos seiner Macht unterzuordnen. […] wir haben die Gigrichter Gemeinde als eine orthodoxe, thora-

I nszenierung kultureller A lterität als V ielstimmigkeit gläubige Gemeinde neu gegründet und aufgebaut. Entweder ist man Jude und hält die Gebote, wie es Juden schon seit ewigen Zeiten getan haben, oder man beschließt, kein Jude mehr zu sein. (Vertlib 2003: 154 f.)

Diese Geschichte ändert den Blickwinkel, gewährt eine andere Perspektive, die den Begräbnisabbruch in einem anderen Licht erscheinen lässt – ohne diesen zu rechtfertigen, aber doch die einhellige Entrüstung zumindest zu irritieren. Alterität wird in diesem Roman folglich zum einen über das Erzählen unterschiedlicher und sich gegenseitig irritierender Lebensgeschichten als Vielstimmigkeit inszeniert. Zum anderen findet der Roman Bilder bzw. Metaphern, um Alterität literarisch zu realisieren: das Bild des Vorraums der Synagoge, in dem Gabriel Salzinger die russische Jüdin Rosa Masur trifft (eine intertextuelle Anspielung und Verkettung mit Vertlibs vorherigem Roman Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur), und das Bild des offenen Meeres, in dem Gabriel seinen Vater schließlich bestattet. Doch sind diese Bilder nicht mit einer Utopie verbunden, weshalb sich diese auch nicht als Metaphern für einen dritten Raum begreifen lassen. Die Ortlosigkeit des Meeres wird nicht als Utopie beschworen, wie dies etwa noch in Ingeborg Bachmanns berühmtem Gedicht Böhmen liegt am Meer geschieht, wo die Ortlosigkeit poetisch realisiert wird. Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land, ich grenz, wie wenig auch an alles immer mehr, ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält, begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen. (Bachmann 1993: 1, 168)

Bei Vertlib indes werden die Zwischenorte durchaus als prekäre Orte dargestellt, nicht mehr als Utopie jenseits kultureller Zuschreibung. Die Frage, wer ein Jude ist, wird nicht stillgestellt, weder indem sie in einen transkulturellen oder hybriden Raum versetzt wird noch durch die vielstimmigen Antworten mit ihren Exklusions- und Inklusionsmechanismen. Hierzu fügt sich, dass Gabriel Salzinger sich bei seinem toten Vater entschuldigt, bevor er ihn im Meer bestattet: »›Verzeih mir!‹ sage ich, ›verzeih mir, dass ich deinen letzten Wunsch nicht erfüllen konnte. Ich habe es versucht, leider vergeblich. […] Ich hoffe, ich handle in deinem Sinne, wenn ich das Meer zu deinem Friedhof mache, zu deinem Haus des Lebens.‹« (Vertlib 2003: 379) Und hierzu fügt sich, dass die Suchbewegung durch die Meeresbestattung nicht zu einem Ende kommt – der Roman wird mit einem Alptraum Gabriel Salzingers eröffnet, der erst vom Ende des Roman aus lesbar wird: In diesem Traum, der an der Küste spielt, kommt der Vater aus dem Wasser und lässt seinen Sohn nicht in Ruhe. Als Therapie gegen diesen nächtlich wiederkehrenden Alptraum entschließt sich Salzinger, seine

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Erfahrungen niederzuschreiben. Er ist insofern nicht nur der Protagonist des Textes, sondern auch dessen fiktiver Autor. Vielstimmigkeit und Dialogizität, Perspektivvielfalt und Perspektivwechsel sind entscheidende Effekte von Vertlibs Erzählverfahren, das Geschichte in Lebensgeschichten zerlegt und Interkulturalität auf Intrakulturalität hin durchsichtig macht; die kulturellen Differenzen treten nicht nur zwischen Kulturen auf, sondern werden von intrakulturellen, in diesem Fall innerjüdischen, Differenzen eingeholt, und zwar gerade dort, wo die Distinktion die kulturellen Identitäten garantieren soll. Es ist insofern bezeichnend, dass der Protagonist während der Radiosendung, in der er seinen Fall mit Hörern diskutiert, auf die Frage des Moderators »Wer ist ein Jude?« keine Antwort findet und stattdessen schweigt bzw. diese Frage vor die Antworten stellt. »Ihnen, Herr Salzinger, möchte ich zum Abschluss nun selbst die entscheidende Frage stellen: »Wer ist, Ihrer Meinung nach, ein Jude?« »Das beantworte ich Ihnen gerne«, beginne ich, hole tief Luft und … verstumme. Ich möchte über das Judentum als Schicksalsgemeinschaft sprechen, über Konzepte jüdischer Zugehörigkeit, die liberale Religionsphilosophen in Amerika entwickelt haben, über den Gesinnungsterror ultraorthodoxer Gruppen. Doch plötzlich bringe ich kein Wort heraus. Es vergehen zehn endlos lange Sekunden. »Herr Salzinger?!« Der Moderator schaut mich erstaunt an und zupft mit wachsender Ungeduld wieder an seinem Bart. »Es ist nämlich so«, stammle ich. »Niemand von den Anrufern wollte diese Frage stellen, aber …« »Aber!« Bald, scheint es mir, wird Muxeneder keinen Bart mehr haben. »Aber ich denke, dass sich jeder, der heute zugehört hat, ein eigenes Bild wird machen können.« (Vertlib 2003: 316 f.)

Diese Antwort könnte man auch unter den gesamten Roman stellen; auch hier wird zwar explizit die Frage gestellt, aber eine eindeutige Antwort verweigert, und gleichwohl darauf insistiert, dass man sich ein Bild machen kann. Der Roman Letzter Wunsch inszeniert also kulturelle Alterität, indem er Differenzen nicht kassiert, sondern deren kulturübergreifende Wirklichkeit in den vielen Stimmen und Geschichten, die er erzählt, offenlegt, ohne sie in ihrer Vielstimmigkeit zu verkennen und kulturalistisch zu polarisieren oder zu hierarchisieren. Dem fügen sich auch die poetischen Bilder, die keinen hybriden Raum konstruieren, sondern prekäre Zwischenräume jenseits utopischer Entlastung. Bei Vertlib wird Geschichte von Eindeutigkeit und Kausalität befreit. Ja, es ist ein Grundzug seines Erzählens, dass Eindeutigkeiten und eigene Vorstellungsmuster evoziert und sogleich ihrer Absurdität überführt werden, um Ambivalenz und Ambiguität der Wirklichkeit in den Geschichten (Situationen und Perspektiven) zur Sprache zu bringen. Wir lernen immer, dass die Welt

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viel komplizierter ist und dass die Konflikte und Dilemmas nicht aufzulösen sind. Die Wahrheit steckt in Wahrheiten, Geschichte in Geschichten. Deshalb kann es nur Verständnis, kein Urteil geben, wie es eben Vergangenheiten und nicht die eine Vergangenheit gibt (vgl. hierzu auch Neidlinger/Pasewalck 2013). Deshalb stellt bei Vertlib die Montage unterschiedlicher, nicht geradliniger und dabei sowohl intra- als auch interkultureller Geschichten keine Identität her, sondern bezeugt deren Brüchigkeit.

2.2 Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf (2010) Für ihren Roman Tauben fliegen auf hat Melinda Nadj Abonji im gleichen Jahr sowohl den Schweizer als auch den Deutschen Buchpreis erhalten; zu dem Roman sind bereits zahlreiche Aufsätze erschienen. Neben der Thematik wurde dabei insbesondere auch die Sprache und Erzählweise untersucht.13 Melinda Nadj Abonji wurde im serbischen Becej, wo ihre Familie zur ungarischen Minderheit gehörte, geboren und kam als Fünfjährige in die Schweiz, wo sie noch heute lebt. Diese Eckdaten teilt sie mit der Protagonistin. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit tritt sie überdies als Musikerin und Performerin auf; die eigene Musikalität ihrer Sprache sei gleich zu Beginn betont. Ihre Texte möchte ich – trotz des Migrationshintergrunds der Autorin und trotz der Thematik des Buches – nicht als Migrationsliteratur bezeichnen; Melinda Nadj Abonji hat nach den erhaltenen Preisen in Interviews wiederholt darauf hingewiesen, dass die Rezeption in bekannte Kategorien verfällt und damit hinter ihrer Intention zurückbleibt: »Migration, Fremdsein, Anpassung, Integration – das sind alles Begriffe, die ich in meinem Text gar nicht oder nie unkommentiert gebraucht habe. In der Rezeption des Romans tauchen sie sehr häufig auf.« (Nadj Abonji 2011: 187) Das Problem sind zum einen die Begriffe bzw. die Konzepte und Unterscheidungen, die sich in ihrem Gebrauch zeigen. Zum anderen reduzieren diese Begriffe den Text auf die Thematik. Abonjis Roman könnte ebenso gut als Erinnerungsliteratur verhandelt oder als Familiengeschichte betrachtet werden. Im Folgenden soll es daher um die literarische Sprache gehen, die sich subversiv und alternativ zu den konventionellen Kategorien kultureller Zugehörigkeiten verhält. Hier ein einfaches Beispiel, das zugleich verdeutlichen soll, dass es sich bei literarischer Sprache nicht um literarische Texte handeln muss. 13 | Beispielhaft wären Kegelmann 2012 und Spoerri 2012 zu nennen. Wie wichtig Form, Struktur und Klang der Texte sind, hat auch Nadj Abonji selbst mehrfach betont. Ihr erster Roman Schaufenster im Frühling allerdings befremdete beispielsweise die Jury des Bachmann-Wettbewerbes besonders durch seine Form – etwa die Wechsel zwischen den erzählten Zeiten sowie die Wiederholungen im Text – Erzähltechniken, die erst in ihrem zweiten Roman in ihrer Bedeutung erkannt und angemessen gewürdigt wurden.

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S ilke P asewalck Die Frage nach meiner Herkunft habe ich in jüngster Vergangenheit mit »eine ungarische Serbin, die in der Schweiz lebt«, beantwortet. Diese Bezeichnung ist so präzise, dass sie in Bezug auf nationalstaatliche Einengungen unüberhörbar ironisch ist, sprachlich jedoch ist sie ein Bekenntnis zur Mehrsprachigkeit und, um noch ein bisschen weiter zu gehen, ein Bekenntnis zur Vielstimmigkeit, die ich in meinem letzten Roman herauszuarbeiten versucht habe. (Ebd.: 181)

Melinda Nadj Abonji benennt hier in ihrem Essay Zu Hause in der Fremde – Versuche zur Integration (2011) eines ihrer zahlreichen sprachlichen Mittel: die bewusste Inszenierung der Kategorien, sodass die Ironiesignale unüberhörbar werden. Und sie bekennt sich zu einer Poetik der Vielstimmigkeit, der ich im Folgenden nachgehen möchte. Dabei untersuche ich die Struktur des Romans Tauben fliegen auf auf der Makroebene. Der Diskurs erzeugt – so die These – keinen Gegendiskurs zu einem wie auch immer gearteten Kulturdiskurs – sei er nun nationalkulturell gefärbt oder im Sinne eines Clash of Civilizations –, sondern Nadj Abonjis Poetik unterläuft diesen und bildet einerseits kulturelle Diversität in ihrer Komplexität ab (Mimesis) und übersetzt diese andererseits gleichsam in Form der Vielstimmigkeit in eine poetische Alterität. Ich stelle zunächst den Plot dar, wie ihn der Roman gerade nicht erzählt, um in der Differenz von ›was‹ und ›wie‹ erzählt wird die ästhetische Alterität zu verdeutlichen. Die Familie Kocsis, die zur ungarischen Minderheit in Jugoslawien gehört, zieht Anfang der 1970er-Jahre aus der Vojvodina in die Schweiz, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Äußerlich betrachtet gelingt es ihnen, sich mehr und mehr in der Schweiz zu etablieren und – wie man so sagt – sich zu integrieren: Zunächst betreiben sie eine Wäscherei, werden 1986 eingebürgert, nach einem gescheiterten Caféteria-Projekt übernehmen sie 1993 das renommierte Café Mondial. Jeden Sommer besuchen sie die Mutter des Vaters in der Vojvodina. Als 1989 diese wichtigste Bezugsperson zur alten Heimat stirbt, hören die Besuche allerdings auf. Schließlich ist mit dem Krieg in den 1990er-Jahren eine Rückkehr in die alte Heimat gänzlich unmöglich geworden. Die hart erarbeitete Etablierung in der neuen Heimat koinzidiert also mit dem endgültigen Verlust der alten Heimat. Der Krieg zerstört die alte Heimat und erreicht auch die neue Heimat; zunächst nur in Fernsehbildern, dann kommen Flüchtlinge, so auch der Serbe Dalibor, mit dem Ildiko, die ältere der beiden Töchter, eine Liebesbeziehung beginnt. Die blutigen Fronten des Krieges führen auch bei den Exilanten in der Schweiz zu Konfrontationen. Selbst die Liebe zwischen Dalibor und Ildiko scheitert. Und auch die vermeintlich vorbildliche Integration der Familie Kocsis in dem kleinen Dorf bei Zürich erweist sich als fadenscheinig. Während die Eltern als erste Einwanderergeneration Anfeindung und Ausbeutung stets stillschweigend ertragen haben, weigert sich die Protagonistin als Vertreterin der

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zweiten Generation, nachdem ein Besucher des Cafés die Toilette absichtlich mit Kot vollgeschmiert hat, dies hinzunehmen. Sie beendet ihren Dienst im Familienbetrieb und zieht in eine eigene Wohnung. Doch nun zum Diskurs auf der Makroebene. Der Roman wird autodiegetisch aus Sicht der älteren Tochter Ildiko erzählt, wobei in einigen Binnenerzählungen die Perspektive wechselt. Der Standpunkt der Erzählerin liegt nach 1993. Zwar haben wir es mit einem erinnernden Erzählen zu tun, jedoch versetzt das historische Präsens, das nur an einigen Stellen durchbrochen wird, uns in die Erfahrungsgegenwart der erzählten Zeit. Entscheidend sind das episodische Erzählen und die zahlreichen Analepsen, die die Familiengeschichte ihrer vermeintlichen Stringenz und chronologischen Ordnung – wie sie soeben rekonstruiert wurde – entreißen. An die Stelle der Stringenz der Geschichte tritt die poetische Struktur der Erzählung. Die Histoire wird zum einen durch die Trennung in zwei Erzählstränge destruiert. Der erste Strang reicht von Januar bis November 1993, von der Neueröffnung der Cafés Mondial bis zum Entschluss Ildikos, dort nicht mehr als Serviertochter zu arbeiten. Der zweite Erzählstrang erzählt von den Sommerbesuchen in der Vojvodina in den 1980er-Jahren, ist damit zugleich bloß episodisch und zeichnet sich, obgleich selbst stets eine Rückwendung im Erzählfluss des Jahres 1993, durch weitere Analepsen und Binnenerzählungen aus, die zeitlich noch weiter zurückliegen. Diese beiden Erzählstränge, die den Orten ›Dorf in der Schweiz‹ und ›Dorf in der alten Heimat‹ zugeordnet sind, wechseln sich bis zur Mitte des Romans kapitelweise ab, sind in ihrer Diversität zugleich ineinander verschränkt und bleiben bei aller Vielschichtigkeit und sprachlichen Virtuosität14 gleichwohl von einer Stimme erzählt. Dem Orts- und Zeitwechsel zwischen den Kapiteln sowie dem Episodischen und nicht stringend Chronologischen des zweiten Erzählstranges ist das alternierende Muster als Ordnung gegenübergestellt. Bis zur Mitte des Romans wechseln wir zwischen zwei Welten und zwischen chronologischem und episodischem Erzählen, wobei die poetische Struktur zugleich eine chiastische Struktur aufzeigt – die alte Heimat droht fremd zu werden, während die neue Heimat damit droht, dass die Familie dort fremd bleibt. Diese Struktur, die die Ordnung kultureller Alterität repräsentiert bzw. in ihrer Komplexität abbildet, setzt be14 | Um einen kleinen Eindruck von dieser Virtuosität auf der Mikroebene zu vermitteln, sei auf den Anfang des Romans verwiesen. Die im Sommer immer wiederkehrende Ankunft in der alten Heimat wird hier nur einmal erzählt. Diese also iterativ erzählte Ankunft wird zugleich repetitiv erzählt. Denn bei der Ankunft, mit der der Roman beginnt, scheint man nicht anzukommen. Der erste Satz: »Als wir nun endlich […] einfahren« wird sukzessiv konterkariert. Eine Seite weiter lesen wir »bevor wir nun endgültig ankommen« und wieder eine Seite weiter: »Vater […] fährt so langsam, dass man meinen könnte, er werde unseren Wagen in wenigen Augenblicken zum Stillstand bringen«.

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zeichnenderweise in der Romanmitte mit dem Tod der Großmutter und dem Beginn des Jugoslawienkrieges aus. Doch sollte man denken, dass die beiden Welten durch die genannten Ereignisse stärker noch getrennt würden, so werden sie im Gegenteil nun noch stärker als zuvor durch die Erzählweise inein­ andergeführt und innerhalb der einzelnen Kapitel miteinander verzahnt: Zwar wird in der zweiten Romanhälfte scheinbar nur noch der erste Erzählstrang weitergeführt, zwar spielt das Buch also nur noch in der Schweiz, da die Besuche in der Vojvodina ja verwehrt sind, bricht auf der Ebene des Erzählten die andere Welt durch den Balkankrieg in die Schweiz ein, und auf der Ebene des Erzählens nehmen die Rückblenden in die Kindheit und damit ins ungarische Dorf in der Vojvodina in Form von Erinnerungen und Binnenerzählungen zu, die nun zuweilen von der Großmutter bzw. der Mutter erzählt werden. Diese Analepsen führen in der Zeit weit zurück: in die Vorgeschichten, die zur Ausreise der Eltern geführt haben, in die Kinderjahre der Protagonistin, zu ihrem Abschied von der Vojvodina, ihrer Ankunft und ihren ersten Erfahrungen im fremden Land. Die eingelagerten Erinnerungen und Binnenerzählungen durchbrechen die Chronologie und kausale Stringenz des Plots. Was ist der Effekt dieses Erzählens, dieser Makrostruktur? Die scheinbar so getrennten Welten und Zeiten werden ineinandergeblendet und enggeführt. Das Getrennte wird in eine polyphone Textstruktur überführt, in der es als unterschiedliche Stimmen erkennbar, aber zugleich in einer vielstimmigen Textur verbunden und aufeinander bezogen ist und letztlich von einer Stimme erzählt bleibt.15 Insofern ist in die Erzählstruktur auch eine Genese, eine Entwicklung des Erzählens eingeschrieben, die sich von der alternierenden Textstruktur zu einer vielstimmigen Textur entwickelt. Manifest wird diese Entwicklung auch am Motiv des Totengedenkens: Während zu Beginn des Romans geklagt wird, dass man die Gräber der Verstorbenen nicht besuchen könne – »nicht einmal an Allerheiligen« –, endet der Roman versöhnlich und Hoffnung vermittelnd: nicht einmal an Allerheiligen, sagt meine Mutter, wenn irgendeine Cousine anruft, ihr mit gepresster Stimme mitteilt, dass ausser ihr niemand auf dem Friedhof war, um ein Lämpchen für die Verstorbenen anzuzünden, wenigstens verwahrlosen die Gräber nicht, sagt meine Mutter dann, und in diesem Satz steckt die tiefe Trauer eines Lebens, das 15 | Die Vielstimmigkeit der Erzählerstimme müsste noch weiter ausbuchstabiert werden. Neben der Erzählstruktur auf der Makroebene und dem Wechsel der Erzählperspektive in den Binnenerzählungen und Erinnerungen ist hier vor allem auch die Erzählweise auf der Mikroebene zu nennen, etwa wenn Elemente des Dramas in inneren sowie in erzählten Dialogen genutzt werden oder wenn Elemente eines mehrsprachigen Erzählens einfließen, beispielsweise indem Idiomatik anderer Sprachen im Deutschen kunstvoll aktiviert wird.

I nszenierung kultureller A lterität als V ielstimmigkeit sich nicht einmal um die Toten kümmern kann, weil sie zu weit weg sind, um ihnen wenigstens einmal im Jahr, an Allerheiligen, Blumen hinzustellen. (Nadj Abonji 2010: 10)

Dagegen sucht die Erzählerin am Ende des Romans ein Gemeinschaftsgrab auf dem Zürcher Friedhof Sihlfeld auf, wo sie mit ihrer Schwester zusammen Blumen für die in der Heimat Verstorbenen niederlegt. Das, was zuvor durch die räumliche Trennung unmöglich erschien und durch den Krieg gänzlich unmöglich wurde, kann nun gedenkend realisiert werden: [A]n diesem blauen Novembertag dachten wir an unsere Verstorbenen, Großtanten und Großonkel, an unsere Großeltern, die wir nie kennengelernt haben, Mutters Mutter und Papuci, für Sie, Mamika, haben wir ein Lied gesungen, und in Ihrem Namen haben wir darum gebeten, dass die Lebenden nicht vor ihrer Zeit sterben. (Ebd.: 315)

Während der Plot die Geschichte einer vermeintlich gelungenen Integration, aber tatsächlich einer gescheiterten wiedergibt, bei der die alte Heimat verloren, die neue nicht gefunden wird, zeigen sich auf der Ebene der polyphonen Erzählstruktur die Verschränkungen kultureller Alteritäten sowohl in zeitlicher wie in räumlicher Hinsicht. Analog ließe sich auf der Mikroebene etwa die Mehrsprachigkeit nachweisen oder anhand der elaborierten Syntax aufzeigen, dass keine in sich geschlossenen und voneinander getrennten Welten dargestellt werden, sondern diese in eine poetische Alterität übersetzt werden.

3. Zusammenfassung Die Texte von Vertlib und Nadj Abonji behandeln beide die Identitätsproblematik auf der Folie intra- sowie interkultureller Alteritäten. Doch spielten in den beiden Analysen jene zentralen Fragen, die im ersten Teil zur fachgeschichtlichen Entwicklung aufgerufen worden sind, kaum eine Rolle. Wichtiger als etwa die Frage nach dem Konstruktionscharakter oder dem Verhältnis von Identität und Alterität erscheinen in den Inszenierungen von Alterität und Identität die Differenzmarkierungen und Subsumtionen, die in all ihrer Fragwürdigkeit dargestellt werden, ohne sie der Lächerlichkeit preiszugeben oder als bloße Illusion zu demaskieren. Dadurch werden Differenzen nicht einfach einkassiert oder als bloße kulturelle Konstruktion abgetan, sondern in ihrer Wirksamkeit, ihren Exklusions- und Inklusionsmechanismen sichtbar. Beide Autoren inszenieren kulturelle Alterität als Vielstimmigkeit. Bei Vertlib gelingt dies durch den Dialogcharakter seines Erzählens, das Lebensgeschichte in Lebensgeschichten auflöst, das Brüche und Perspektivwechsel ins Erzählen einbaut und dem Leser, anstatt mit Antworten, mit Fragen entlässt. Bei Nadj Abonji wird Vielstimmigkeit über die Sprache und Textstruktur realisiert, was hier lediglich auf der Makro­ebene gezeigt werden konnte.

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Komparatistische Ansätze für eine interkulturelle Literaturgeschichte Luxemburgs Jeanne E. Glesener Seit geraumer Zeit befasst sich die Komparatistik mit der Herausforderung interkultureller oder, je nach wissenschaftskulturellem Kontext, transkultureller Literaturgeschichtsschreibung. In den Bereichen der Weltliteraturforschung (vgl. Lindberg-Wada u. a. 2006) und der Erforschung geokulturell wie historisch stark vernetzter Literaturen und literarischer Kulturen (vgl. Cornis-Pope/Neubauer 2004; Cabo Aseguinolaza/Abuín Gonzalez/Dominguez 2010) konnte sie bislang wegweisende Erkenntnisse vorlegen. Dabei ist ihr daran gelegen, westlich geprägte Begriffe – und dies schließt den Literaturbegriff mit ein – sowie Analysekategorien, wie zum Beispiel die der Periodisierung, zu überdenken. Sie schlägt außerdem vor, den historischen Rahmen zu erweitern und Sozialund Kulturgeschichte in die Analyse miteinzubeziehen. Auch den Mechanismen und dem Beitrag der kreativen Rezeption wird hier mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Des ���������������������������������������������������������������� Weiteren untersucht diese aktuelle Forschungsrichtung »problems of intercultural comparison (centred around the concepts of literature and genre) and problems of understanding intercultural literary exchange (discussed in the form of studies of encounters between literary cultures […])« (LindbergWada 2006: 4). Wie es die History of the Literary Cultures of East-Central Europe (2004) von Marcel Cornis-Pope und John Neubauer und A Comparative History of Literatures in the Iberian Peninsula (2010) von Fernando Cabo Aseguinolaza, Anxo Abuín Gonzalez und César Dominguez belegen, wurde im Zuge dessen bisher größeren geografischen Regionen der Vorzug gegeben, die, ähnlich wie das Konzept der Nation, den Status einer ›imagined community‹ beanspruchen können (vgl. Valdés/Hutcheon 1995). Dabei bieten sich kleinere interkulturelle und mehrsprachige Literaturen für ebendiese Forschungsfragen geradezu an. Literaturen aus Luxemburg und aus anderen kleinen vielsprachigen Ländern stellen insofern ein spannendes Forschungsfeld dar, als sie Kernelemente teilen, die besonders aus der Perspektive von Interkulturalität und Mehrspra-

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chigkeit sichtbar werden (vgl. Strutz/Zima 1996; Le Rider/Rinner 1998; CornisPope/Neubauer 2004, II). Aspekte von Mehrsprachigkeit und Interkulturalität sind Teil ihrer Geschichte, entweder weil sie – ähnlich kulturellen Transiträumen – an der Kreuzung mehrerer Sprachen und Kulturen liegen oder aufgrund vergangener Zugehörigkeit zu fremden/benachbarten Staaten (vgl. Hroch 2000; Cornis-Pope/Neubauer 2004, IV). Ihr verhältnismäßig geringerer Umfang und ›junges‹ Alter (viele von ihnen entstehen erst nach 1815 oder noch später) erklärt, so das Argument vonseiten der Weltliteraturforschung (vgl. D’Haen 2012: 153), ihre maßgebliche Orientierung an benachbarten Literaturen, was wiederum zu einem Minorisierungsdiskurs führt, der sowohl von außen gepflegt als auch von den kleinen Literaturen selbst verinnerlicht wurde (vgl. Paré 2001; Glesener 2015). Die Koexistenz mehrerer literarischer Sprachen ist zudem oft mit einem in der Vergangenheit ausgetragenen Machtkampf der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit verbunden. Auf der Basis des wahrgenommenen Prestiges konkurrierender Sprachen ist, besonders im 19. Jahrhundert, die Anerkennung der ehemals als minderwertig aufgefassten Volkssprache als vollwertige Literatursprache ein langer und komplexer Prozess. Was einst als Hindernis für die Erlangung literarischer Reife und kultureller Gleichwertigkeit galt,1 nämlich sprachliche Vielfalt und kulturelle Métissage, gilt heute als fruchtbarer Boden, um interkulturelle Kontakte und interliterarische Transferprozesse hervorzuheben. Die epistemologische Verschiebung, die sich durch die zeitgenössische Perspektive auf die historische Dauerhaftigkeit der interkulturellen Beziehungen und der Mehrsprachigkeit ergibt, könnte man als Evolution von normwidrigen Mischlingen hin zu gefeierten Hybriden beschreiben. Diese Verschiebung hat den jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen über das Ineinandergreifen von Sprache, Kultur und geografischem Raum viel zu verdanken, ein Prozess, der angesichts ihrer Grenzlage am einfachsten in der Literatur und Kultur kleiner Länder zu beobachten ist, wie die slowenische Komparatistin Jola Škulj argumentiert: It appears that in the globalizing world […] borderland or peripheral countries, with their particular experience and the demanding task in their histories of inventing and instituting cultural identities on border crossing territories surely become well-equipped with views of dialogism [read interculturality, JEG][…]. Borderland cultures exhibit supplementary qualities of conceivably more sensitive and responsive approaches to otherness. Views on the heteronomy of cultural worlds are the more palpable, and in border regions the fact of the ›graspable other as a figured origin of our definitions‹ […] is much easier to apprehend. The metropolitan countries […] lived through less distressing experiences of inventing their identities and are – as a result of their own cultural 1 | Vgl. z. B. Batty Webers Reaktion auf das Vorurteil gegenüber Luxemburgs Mischkultur in seinem Essay Über Mischkultur in Luxemburg (Weber 1909).

K omparatistische A nsätze für eine interkulturelle L iteraturgeschichte L uxemburgs role in the past (as colonizers) – frequently less perceptive of the heteronomy of cultural worlds. (Škulj 2004)

Die zeitgenössische luxemburgische Literatur wird zurzeit vielfach als sprachheterogener Mikrokosmos beschrieben, der als Modell für Literatur in einer zunehmend nomadischen und globalisierten Welt dienen kann. Es wird allgemein angenommen, dass aufgrund der andauernden Migration von Personen, Kulturen und Sprachen nach Luxemburg interkulturelle Kommunikation und Inszenierung sprachlicher Grenzüberschreitungen der Literatur zugrunde liegen (vgl.  Weins 1999; Goetzinger 2000 u. 2004: 23; Honnef-Becker/Kühn 2004; Bail 2010: 164; Honnef-Becker 2010). Diese Eigenschaften gelten jedoch nicht nur für die zeitgenössische Literatur, sondern finden sich durchaus auch in früheren Perioden wieder. Die geokulturelle Lage des Landes zwischen Germania und Romania war seit jeher den engen Kulturkontakten mit Belgien, Frankreich und Deutschland förderlich, und diese haben einen dementsprechend starken Einfluss auf das literarische Schaffen ausgeübt. Die seit dem 19.  Jahrhundert andauernden Aus- und Einwanderungsbewegungen haben ebenso zur Hybridität der hiesigen Kultur beigetragen. Diese versteht sich demnach sowohl als eine grenzüberschreitende als auch eine intern vielfältige Mischkultur (vgl. Marti 2000). Dieser Beitrag untersucht die Trennung der Literaturen in der Literaturgeschichtsschreibung, ein Thema, das bisher kaum behandelt worden ist, das aber in Hinsicht auf eine zusammenhängende Geschichte der Literatur in Luxemburg erörtert werden muss. Wie kam es zu dieser Trennung, und in welchem Maße wurde sie von Einstellungen gegenüber Mehrsprachigkeit und Interkulturalität beeinflusst? Anhand eines kurzen Überblicks über die Praxis der Literaturgeschichtsschreibung werde ich zunächst erste Antworten geben.2 Die Behandlung des luxemburgischen Konzepts von Mischkultur sowie der Taxonomie der Sprachen und Kulturen, die es reflektiert, ermöglicht es mir, diese Frage zusätzlich zu beleuchten. In einem dritten Schritt werde ich dann eine vorläufige Roadmap für eine gemeinsame Betrachtung der luxemburgischen Literaturen in Hinblick auf eine interkulturelle Literaturgeschichte skizzieren.

2 | An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich mich in diesem kurzen Überblick vorwiegend dafür interessiere, wie die Literaturgeschichtsschreibung die gleichzeitige Koexistenz der drei Literaturen behandelt hat. Für eine Analyse der von Literaturhistorikern übernommenen Modelle der Literaturgeschichtsschreibung vgl. Conter 2008.

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Historisierung von Interkulturalität und Mehrsprachigkeit Da Interkulturalität und Mehrsprachigkeit in der luxemburgischen Kultur endemisch sind, bietet es sich an, die Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts auf diese Aspekte hin zu untersuchen. Ansätze aus der internationalen Forschung bezüglich ihrer Historisierung (vgl. Welsch 1999; Amselle 2004; Kimmich/ Schahadat 2012) liefern hierfür wertvolle Ausgangspunkte (vgl. Conter 2010 u. 2014; Glesener 2013). So argumentiert Gisèle Sapiro, dass »[a]cknowledging the original hybrid nature of national literatures should lead us to relativize the idea that cultural métissage is uniquely the result of globalization« (Sapiro 2011: 232). Sie revidiert somit das Verständnis kultureller Métissage als rein zeitgenössisches Phänomen infolge von Entkolonialisierungsprozessen und Migrationsbewegungen. Erkennt man Monokultur und Einsprachigkeit als diskursive und politische Konstrukte an, deren Funktion und Aufgabe in den Prozessen der europäischen Nationenbildung ab dem späten 18. Jahrhundert festgelegt wurden, kommt die Verbindung von Kulturen und Sprachüberlappungen, gegen die sich die Homogenisierungsprozesse in der Vergangenheit gezielt wendeten, zum Vorschein. Trotz des interkulturellen Kontextes finden sich solche monolingualen Ansätze auch im Umgang mit luxemburgischer Literatur wieder, wie im Folgenden anhand der diachronischen Perspektive gezeigt werden wird. Diese soll zudem ein gründlicheres Verständnis dafür liefern, wie mit Interkulturalität und Mehrsprachigkeit umgegangen wurde. Dies ist wichtig, denn während Studien über zeitgenössische Literatur dazu tendieren, den Ausdruck von Interkulturalität und Mehrsprachigkeit aus einer ausschließlich positiven Warte zu beschreiben und die so erzielten Resultate als allgemeingültig für die ganze luxemburgische Literatur anzunehmen, zeigt die Untersuchung früherer Perioden ein weitaus nuancierteres Bild, in dem auch die Schwierigkeiten, Einschränkungen und Ungewissheiten, die damit ebenfalls einhergehen, zum Vorschein kommen. Die folgende Auswahl von Metaphern illustriert, in welchem Ausmaß – z. B. während des gesamten 20. Jahrhunderts – Ideen kultureller Zwischenstellungen und Vermischung die luxemburgische Selbstwahrnehmung dominierten. Die Metaphern beziehen sich auf diverse Bereiche wie Geografie (»Zwischenland« [Gliedner 1967], »espace intercalaire« [Portante 2007: 206], »Insel der Entwurzelten« [Clément 1921: 1]), Verwandtschaft (»Stiefmuttersprache« [Hausemer 1984], »Kleinvaterland« [Klein 1981]), Volkszugehörigkeit (»Volk der Mitte« [Clément 2006: 71], »Abfall zweier Stämme« [Ketter 1988: 82]) und Kultur (»zusammengeflickte Kulturhaut« [Weber 1909: 124]). Obwohl diese Metaphern Liminalität, Wurzellosigkeit und Pluralität betonen und obwohl sie implizit gegen eine monolithische Sicht auf die Kultur, Identität und Sprache gerichtet sind, kommt in ihnen auch ein negativer Tenor zum Tragen. Ihre Rekurrenz im kulturellen Diskurs des 20. Jahrhunderts lässt darüber hinaus den von den

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Schriftstellern verspürten Druck erahnen, der kulturellen Sonderstellung einen Sinn zu geben, sie zu beschreiben und gleichzeitig zu legitimieren. Zudem konkretisieren die Metaphern auch eindringlich viele Schlüsselelemente des literarischen und kulturellen Diskurses wie etwa die komplexe Frage der literarischen Zugehörigkeit, der kulturell hybriden Zusammensetzung, der ausbleibenden internationalen Rezeption sowie des kulturellen Minderwertigkeitskomplexes, der sich auch in der Einstellung gegenüber der literarischen Produktion ausdrückt. Dies legt die Einschätzung nahe, mit Situationen, wie sie andernorts herrschen, nicht im Einklang zu sein, besonders mit dem kulturellen Selbstbewusstsein, das jenseits der Grenzen beobachtet werden konnte. Die Nähe zur Grenze und die offene Anerkennung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt haben eingangs des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der identitären Denkfigur der Mischkultur gespielt. Im wissenschaftlichen Diskurs wird das nur bedingt reflektiert, herrscht hier doch ein monolithisches Verständnis von Nationalliteratur vor. Dies gilt besonders für die Literaturhistoriografie und der in ihr tradierten Praxis, die luxemburgisch-, französisch- und deutschsprachige Literatur unabhängig voneinander zu behandeln und demnach die Sprach- und Kulturgrenzen aufrechtzuerhalten.

Trennung der Literaturen in der literarischen Geschichtsschreibung Ein Überblick Die Trennung der Literaturen in der Literaturhistoriografie Luxemburgs wird erstmals in den 1980er-Jahren infrage gestellt und dies im Kontext der zu dieser Zeit aufkommenden Debatte darüber, ob es sich bei der Luxemburger Literatur denn nun um drei Literaturen oder um eine Literatur in drei Sprachen handele. Hierzu schreibt der Autor und Essayist Mars Klein: Wie funktioniert das Zusammenspiel der drei Sprachen? Oder anders gefragt: Funktioniert es als Zusammenspiel, oder ist es, permanent oder wenigstens abschnittweise, ein reines Nebeneinander? Wie verkraftet der einzelne Schreibende, wie verarbeitet jede bestimmte Epoche das Problem der Mehrsprachigkeit? (Klein 1988: 1)

Die Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Rosemarie Kieffer greift in ihrem Beitrag Littératures luxembourgeoises? aus dem Jahr 1990 die Diskussion auf. In einem Kommentar über die Veröffentlichung der Poesiesammlung (vgl. Weber ������������������������������������������������������������������������� 1988)�������������������������������������������������������������� des sowjetischen Verlags Raduga in Moskau, in der die Literatur in den drei Sprachen erstmals zusammen präsentiert wird, schreibt Kieffer: Jusqu’ici aucun éditeur luxembourgeois, public ou privé, n’a fait paraître un volume représentant à la fois les écrivains de langue luxembourgeoise, ceux de langue allemande

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J eanne E. G lesener ainsi que ceux de langue française. Il n’existe que des travaux marquant la séparation linguistique (Kieffer 1990: 287).

Und tatsächlich wird dies durch die seit den 1850er-Jahren veröffentlichten literaturgeschichtlichen Studien und Untersuchungen bestätigt, die sich auf die eine oder andere der drei Literaturen konzentrieren. Kieffers Beobachtung steht die Aussage von Liliane Thorn-Petit in ihrer Einführung zum Band Littérature luxembourgeoise de langue française (1980) gegenüber. Thorn-Petit behauptet, dass die Originalität der linguistischen Situation nicht im Nebeneinander, sondern in der Überlappung der drei Sprachen liege, die weder zum Konflikt noch zu sprachlicher Segregation führe (vgl. Thorn-Petit 1980: 7). Was für die sprachliche Alltagspraxis gilt, gilt indes nicht für den Bereich der Literaturgeschichtsschreibung, in dem, wie gesagt, die Literaturen getrennt voneinander behandelt wurden. Etwa zur gleichen Zeit fragt die zweisprachige Dichterin Anise Koltz: »Faut-il déduire que ces trois tendances linguistiques et littéraires soient d’un esprit différent et qu’elles ne parviennent pas à trouver leur dénominateur commun?« (Koltz 1990: 50) Sie trifft eine entscheidende Aussage, wenn sie in ihren Überlegungen die Fähigkeit luxemburgischer Autoren betont, sich sowohl auf die deutsche als auch auf die französische Literatur zu beziehen, unabhängig davon, in welcher Sprache sie schreiben. Sie unterstreicht somit die literarische Mischkultur, die den Schaffenshintergrund luxemburgischer Schriftsteller ausmacht. Ihre Frage nach einem gemeinsamen Nenner führt indes zu einer bedeutenden Verschiebung, indem sie ein Verständnis der luxemburgischen Literatur als Einheit statt als drei voneinander getrennte Entitäten artikuliert. Diese Perspektive weicht eindeutig vom Standpunkt der Verfechter des Nebeneinanders ab, die, wie etwa Frank Wilhelm, fürchten, dass ein Verzicht auf die Trennung die Gefahr birgt, dass die Literaturen zu einem monolithischen Block werden, in dem ihre divergierenden kulturellen Bezüge aufgelöst würden (vgl. Wilhelm 2010: 110). Diese zwei Ansätze unterscheiden sich sowohl in den ihnen zugrundeliegenden Diskursen als auch in ihrer Ausrichtung: Während Wilhelm einen Differenzdiskurs mit einem genetischen Kontaktfokus auf die Beziehung mit einer benachbarten Literatur derselben Sprache verfolgt, schlägt Koltz implizit einen Einheitsdiskurs mit einem Fokus auf die strukturell-typologischen Affinitäten der luxemburgischen Literaturen untereinander vor. Meines Erachtens müssen sich beide Diskurse nicht unbedingt gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil, zusammengenommen zeigen sie gangbare neue Wege für die literarische Geschichtsschreibung auf. Zunächst aber will ich mich dem Aufkommen der Trennung, ihrer Methode und der zugrundeliegenden Ideologie zuwenden. Erste Texte der Literaturen in den drei Sprachen erscheinen fast gleichzeitig in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit einer ersten deutschsprachigen Ballade, Rudolph und Adelheide, veröffentlicht von Louis Marchand 1826, gefolgt 1829 von Antoine Meyers Gedicht- und Balladenband E Schréck op de Lëtzebu-

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erger Parnassus und schließlich von Félix Thyes’ Roman Marc Bruno – Portrait d’artiste von 1855. Aus diversen persönlichen und beruflichen Gründen hatten alle drei Autoren eine starke Verbindung zu den belgischen und holländischen Literatur- und Kulturräumen. Hier wirkt die Zeit 1815–1839 literarisch nach, als Luxemburg Teil des Vereinigten Königreichs der Niederlande war und sich dort für Luxemburger Intellektuelle Karrieren eröffneten (vgl. Klein 1988: 3). Diese Vernetzung der Literatursysteme Luxemburgs und Belgiens zeigt aber auch, wie Michael Werner und Michel Espagne argumentierten, dass: Il n’y a pas de littérature nationale sans contacts interculturels […]. Lorsqu’on aborde en effet les étapes historiques de constitution d’une littérature nationale, on ne peut manquer d’observer la présence obligatoire de références à l’étranger (Espagne/Werner 1994: 8).

Der literaturgeschichtliche Diskurs dieser Zeit stellt die luxemburgische Literatur jener Periode als entschieden einsprachig dar, wie es die Titel der Pionierstudien von Félix Thyes Essai sur la poésie luxembourgeoise (Brüssel 1854), Jules Keiffer La langue et la littérature du Grand-Duché de Luxembourg (Mâcon 1901) und La littérature du Grand-Duché du Luxembourg (Luxemburg 1903) belegen. Der rekurrente Gebrauch des definiten Artikels sticht bei beiden Autoren klar hervor, wenn sie über la poésie luxembourgeoise und la littérature du Grand-Duché de Luxembourg sprechen. In Bezug auf Thyes’ Text bemerkt Claude D. Conter: »In seinem für jene Zeit singulären Essai sur la poésie luxembourgeoise […] charakterisiert er [Thyes] auf der Grundlage eines romantischen Volkspoesiekonzeptes die Literatur in drei Sprachen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« (Conter 2008: 13). Eine nähere Prüfung zeigt jedoch, dass Thyes zwar deutschsprachige Texte erwähnt, er diese jedoch nicht in den analytischen Abschnitt des Essays einbezieht. Die Tatsache, dass Thyes unter luxemburgischer Literatur lediglich auf Lëtzebuergesch geschriebene Literatur versteht, wird deutlich, wenn er schreibt: La littérature du Grand-Duché de Luxembourg a cela de particulier qu’elle date à peine de vingt à vingt-cinq ans. Auparavant on ne s’était jamais douté que cette langue pût avoir quelque valeur, qu’elle pût être formulée, écrite, mesurée, assouplie aux exigences de la grammaire et du goût. Toutes ses richesses bibliographiques se composent à peine de deux ou trois minces volumes de vers, d’un certain nombre de morceaux de poésie publiés à différentes époques dans les journaux du pays, et de quelques pièces de circonstance imprimées sur des feuilles détachées; mais, avant de passer à leur examen, disons, en peu de mots, ce qu’était cette langue, et comment elle existait en quelque sorte déjà à l’état de langue littéraire avant qu’on eût songé à l’écrire. (Thyes 1996: 37 f.)

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Zweifelsohne ist für Thyes und auch für Keiffer luxemburgische Literatur Literatur auf Lëtzebuergesch, während die Benennung heute eher als Kollektivsingular fungiert und die Literaturen in allen Sprachen (auch in den nicht offiziellen wie Englisch, Portugiesisch und Spanisch) impliziert. Die monolithische Auffassung von Thyes und Keiffer macht sich auch darin bemerkbar, dass die einzigen in ihren Werken einbezogenen und analysierten Texte auf Lëtzebuergesch sind, stärker aber noch durch das auffällige Fehlen von Verweisen auf die Produktion in den anderen Sprachen, und sei es nur in der Einführung. Diese Pionierstudien präsentieren einen Überblick über die zu jener Zeit vorliegende Produktion.3 Da sie im Ausland veröffentlicht wurden und sich an eine Leserschaft wandten, die weder mit der Literatur noch der Sprache und dem Land vertraut war, gehen ihnen, mit Ausnahme von Keiffers Text von 1903, umfassende Einführungen voraus, die Geschichte, Politik, Bräuche und Traditionen abdecken. Hier sei bemerkt, dass die Beschreibung der Sprache – sei es aus linguistischer (Keiffer) oder soziolinguistischer und ästhetischer (Thyes) Sicht – fast so umfassend ist wie die Darstellung der literarischen Produktion. Keiffer, der ein halbes Jahrhundert nach Thyes schrieb, hatte eine ausreichende Menge an Material zur Verfügung, um eine Unterteilung nach Genres vorzulegen. Thyes dagegen verfasste seinen Essay zu einer Zeit, zu der er buchstäblich nur auf eine Handvoll Texte zurückgreifen konnte. Dies schmälert jedoch keineswegs die Bedeutung seines Beitrags, insbesondere in Bezug auf die ideologische Funktion, die der Literaturgeschichte im 19. Jahrhundert zugeschrieben wurde. Seine Arbeit veranschaulicht die philologischen, akademischen und literarischen Bemühungen, die das Entdecken, Erfinden und Entwickeln der Haupteigenschaften der ›nationalen‹ Gemeinschaft und ihrer Geschichte zum Ziel hatten (vgl. Juvan 2012: 30; Glesener [in Vorbereitung]). Die monolinguale Literaturauffassung dieser frühen Phase zeugt von der Anwendung der einsprachigen Norm in einem mehrsprachigen Kontext und ist konform mit der im 19. Jahrhundert postulierten Einsprachigkeit von Nationalliteraturen. Die zitierten Werke verfahren nach den Prinzipien der literaturgeschichtlichen Gattung im Sinne von Mathieu Richard Auguste Henrions Histoire littéraire de la France von 1827 und Georg Gottfried Gervinius‹ Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen (1835–1842), den ersten großen Literaturgeschichten in den Nachbarländern, mit denen Thyes und Keiffer, so können wir es zumindest annehmen, vertraut waren. Das Ausblenden der gleichzeitigen Koexistenz von Literaturen verschiedener Sprache im Diskurs und die Förderung der Muttersprache4 reflektieren die zu dieser Zeit vorherr3 | Martin Blums Literaturgeschichte wurde von dieser Liste ausgeschlossen, weil der Titel seines Werks weniger zweideutig ist (vgl. Blum 1899 u. 1913). 4 | Zum Thema Sprachpurismus und Nationenbildung in Luxemburg siehe Horner 2005 u. 2007.

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schende Annahme, dass, wie Yasemin Yildiz in ihrer wegweisenden Arbeit Beyond the Mother Tongue. The Postmonolingual Condition (2012) unterstreicht, »the writer can become the origin of creative work only with an origin in a mother tongue« (Yildiz 2012: 9). Diese Überzeugung führe schließlich zum »disavowal of the possibility of writing in nonnative languages or in multiple languages at the same time« (ebd.). Die ideologische Bedeutung, die in der Bevorzugung der Muttersprache mitwirkt, ist somit eindeutig sichtbar, und der Fokus auf das Luxemburgische ist eng mit der Konstruktion einer eigenen nationalen Identität verbunden (vgl. Péporté u. a. 2010: 237–244). Nationale Dichtung entbehrt auch hier nicht einer politischen Funktion (vgl. Thiesse 2001), soll sie doch dazu dienen, »to support the specificity and the political aspirations of the ›imagined community‹ that goes under the name of ›nation‹« (Juvan 2006: 25). Daneben kommt dem Kampf gegen den ›Anderen‹ eine entscheidende Rolle zu. Die Unabhängigkeitserklärung von 1839 und die daraus resultierende Befreiung von den Fremdherrschaften – um auf den im master narrative der Nation tradierten Diskurs zu verweisen – zieht, entsprechend der Situation in der Staatenbildung anderer Nationen, den Fokus auf die Muttersprache nach sich. Der akademische philologische Impuls und der ideologische Zweck sind in ihrer Förderung eng miteinander verflochten, wie Germaine Goetzinger unterstreicht: »So wird in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts der Literatur die Aufgabe zugeschrieben, das Luxemburgische abzusetzen und abzugrenzen gegen die übermächtigen Nachbarn« (Goetzinger 2004: 16). In Anklang an die Tradition der Romantik widmen sich Dichter, Dramatiker und Literaturhistoriker dem Auftrag, das literarische Potenzial des Lëtzebuergeschen zu beweisen und es zu einer literarischen Sprache auszubauen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verändert sich die Wahrnehmung der Literaturproduktion in den verschiedenen Sprachen insofern, als die luxemburgische Literatur von nun an als dreisprachig anerkannt wird.5 Während einerseits die zu Nationaldichtern ernannten Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts institutionell gefeiert werden (Michel Lentz, Edmond de la Fontaine und Michel Rodange), wenden sich andererseits führende Intellektuelle von der Muttersprache ab, wie Joseph Tockert bemerkt: »Der Wind wehte gegen den Gebrauch der Mundart in der Literatur. Die jüngeren Talente wandten sich dem Hochdeutschen und Französischen zu« (Tockert 1948: 251). Diese Umorientierung signalisiert eine stärkere Öffnung für sprachliche Vielfalt, die mit dem deutli5 | Was die Benennung der mehrsprachigen Situation betrifft, schwanken die linguistischen und literarischen Diskurse jener Zeit zwischen Zweisprachigkeit (Deutsch und Französisch, wobei das Luxemburgische nur als ein deutscher Dialekt eingestuft wird) und Dreisprachigkeit (mit einer aufgewerteten Stellung des Luxemburgischen). Der letztere Begriff ist seltener, wird aber durchaus von Batty Weber und Nicolas Ries verwendet. Für eine detaillierte Analyse dieses Themas vgl. Fehlen 2013.

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chen Streben nach einem engen literarischen Austausch und entsprechenden Kontakten mit den benachbarten Literaturen einherging (vgl. Goetzinger 1985: 56–63; 2004: 20 f.; Conter 2010: 120–124; Glesener 2015: 159–176). Nikolaus Welters Mundartliche und hochdeutsche Dichtung in Luxemburg (1929) gilt, obwohl sie sich lediglich auf die parallele Entwicklung der Literaturen auf Deutsch und Luxemburgisch konzentriert, durchaus als wichtiger Schritt im Anerkennungsprozess der dreisprachigen Literatur, auch wenn – wie es für die Periode charakteristisch ist – das Luxemburgische seinen Dialektstatus beibehält. So geht Welter in seiner Einleitung denn auch auf die französischsprachige Literatur ein und spricht von der Notwendigkeit, ihre Geschichte zu verfassen (vgl. Hoefler 1945: VIII). Allerdings kommt keiner seiner Zeitgenossen diesem Aufruf nach. Erst mit Rosemarie Kieffers Essayband Littérature luxembourgeoise de langue française (1980) und Frank Wilhelms Doktorarbeit Etudes sur la littérature luxembourgeoise de langue française (1991) werden umfassende Studien vorgelegt. Fernand Hoffmanns Die drei Literaturen Luxemburgs. Ihre Geschichte und Problematik, veröffentlicht im Memorial im Jahr 1989, dem 150. Jubiläumsjahr der Unabhängigkeit Luxemburgs, gilt als erster literaturwissenschaftlicher Versuch, die parallele Entwicklung der drei Literaturen darzustellen. Abhandlungen, die sich den drei Literaturen widmen, gibt es auch schon davor, sind in ihrer Ausrichtung aber eher anthologisch (vgl. Meder/Raus/Berger 1976; Delcourt 1992). Hoffmanns Ausführungen bleiben, rein ideologisch gesehen, den Prämissen der traditionellen Literaturhistoriografie treu, denn die literarische Entwicklung wird ausdrücklich aus der Perspektive der Entwicklung des Nationalbewusstseins betrachtet.6 In der Einleitung erörtert Hoffmann ausführlich die Schwierigkeit, seine Analyse methodologisch zu fundieren, und betont die Verbindung zwischen Sprache und nationaler Identität (vgl. Hoffmann 1989: 468). Hier ist interessant, dass er bei der Suche nach Modellen aus dem deutschsprachigen Raum die Schweizer Literatur zwar erwähnt, dies aber nicht tut, um etwa die Herausforderung der Vielsprachigkeit für die Literaturgeschichtsschreibung zu thematisieren. Die (deutschsprachige) Schweizer Literatur wird hier lediglich im Kontext der allgemeinen deutschen Literatur gesehen, die wiederum als Messlatte fungiert, an der die deutschsprachige luxemburgische Literatur gemessen wird. Diese Orientierung am deutschsprachigen Raum und dessen Literaturen ist zudem ein klarer Hinweis darauf, dass Hoffmanns Interesse vor allem der deutschsprachigen Literatur gilt. Folglich kommt es zu einem starken Ungleichgewicht in der Behandlung der beiden anderen Literaturen. Tatsäch6 | »Dem Autor ist […] daran gelegen, das Stück Luxemburger Kultur- und Geistesgeschichte seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1839 zu schreiben, das Literaturgeschichte ist. Und diese Luxemburgische Literatur ist zum Teil ein Stück Geschichte des erwachenden und erstarkenden Nationalgefühls der Luxemburger« (Hoffmann 1989: 467).

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lich ist im Vergleich zu den Teilen über Literatur auf Lëtzebuergesch und Französisch die Abhandlung über die deutschsprachige Literatur wesentlich länger und detaillierter. Die Produktion wird zuweilen in einer interliterarischen Perspektive betrachtet, wenn es darum geht, den Einfluss der deutschen auf die deutschsprachige Literatur in Luxemburg hervorzuheben. Dagegen sind die Kapitel zur Literatur auf Lëtzebuergesch und Französisch weder methodologisch reflektiert noch werden Überlegungen zum Korpus angestellt. Letztere wird darüber hinaus lediglich als »französische Provinzliteratur« gesehen (ebd.: 514), und somit wird ihr eine noch peripherere Existenz beschieden als der deutschsprachigen. Die Studie vermittelt damit den Eindruck einer parallelen Betrachtung pro forma, denn trotz der Gegenüberstellung handelt es sich hier um einen monolingualen Ansatz, eben deshalb, weil die Herausforderungen der Mehrsprachigkeit für die Literaturgeschichtsschreibung nicht erörtert und eine ineinandergreifende Untersuchung der drei Literaturen nicht angedacht wird. Die meisten der bisher zitierten Werke sind repräsentativ für die verschiedenen Ansätze und Methoden der literaturgeschichtlichen Gattung des 19. und 20. Jahrhunderts (vgl. Juvan 2006). Sie alle setzen einen allwissenden Erzähler ein, der die verschiedenen Fakten zu einer zusammenhängenden Erzählung kombiniert. Darüber hinaus bedienen sie sich, explizit oder implizit, der herderschen Organismusmetapher, welche die einzelnen Literaturen als in einem natürlichen Wachstumsprozess begriffen betrachtet, wobei sie einen Teil ihrer Substanz aus den benachbarten Literaturen beziehen. Würde man die organische Metapher weiterspinnen, und hier bietet sich das Bild des Rhizoms an, erschiene dieses immer nur als gestutzt, da seine einzelnen Stränge nicht in ihrer internen Verwachsung und wechselseitigen Verbindung gesehen werden. Anders ausgedrückt war die Suche nach einem gemeinsamen Nenner der Literaturen, um an Anise Koltz’ Überlegung anzuknüpfen, zu jener Zeit noch keine Priorität. Aus diesem Überblick hinsichtlich der literarischen Mehrsprachigkeit ergibt sich, dass diese während eines Großteils des 20. Jahrhunderts eher als ein Nebeneinander von Literaturen verstanden wurde denn als eine Mischung oder Vermischung verschiedener Sprachen auf der Ebene des literarischen Textes. Dies erklärt wiederum den zeitläufigen Gebrauch der Bezeichnung »dreisprachige Literatur« gegenüber dem erst am Ende des Jahrhunderts aufkommenden Begriff der mehrsprachigen Literatur. Obwohl das Thema des Schreibens zwischen den Sprachen seit Beginn des 20. Jahrhunderts fortlaufend diskutiert wird, wie in Batty Webers wegweisendem Artikel Über Mischkultur in Luxemburg aus dem Jahr 1909 und in Nicolas Ries’ Studie Le dualisme linguistique et psychologique du peuple luxembourgeois von 1911, dominiert eine getrennte Sprach- und Literaturauffassung (vgl. Glesener 2013). Der Sprachpurismus spielt hier natürlich eine nicht unwesentliche Rolle und er ist zudem aufschlussreich in Bezug auf die vorherrschenden Sprach-

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einstellungen sowie die sich wandelnde Wahrnehmung der Mehrsprachigkeit im Allgemeinen. Lokale Variationen des Deutschen und Französischen wurden damals tendenziell eher als sprachliche Fehlbildungen gesehen denn als literarischer Ausdruck einer linguistisch und kulturell hybriden Identität.7 Im Wesentlichen herrschte die Vorstellung vor, dass Mehrsprachigkeit ein Hindernis für literarisches Schaffen sei, und noch 1968 argumentiert Cornel Meder für die »Aufgabe [im Sinne von ›Aufgeben‹] des Bilinguismus’ [sic!], der unseren Besten jahrzehntelang geschadet hat« (Meder 1979: 8).

Triglossie, Mischkultur und thematische Taxonomie Claude D. Conter hat drei Probleme identifiziert, welche die Triglossie der Literaturgeschichtsschreibung auferlegt und die zugleich die Trennung der Literaturen begründen. Erstens ist die Wahl der Literatursprache mit hierarchischen Werturteilen konnotiert, was dazu führt, dass nicht alle Sprachen dasselbe symbolische Kapital besitzen, zweitens wird ihre Literaturfähigkeit als nicht äquivalent betrachtet, und drittens wird lange Zeit angenommen, dass die Mehrsprachigkeit ein Hindernis für das Hervorbringen anspruchsvoller Literatur sei (vgl. Conter 2008). Meines Erachtens tragen zusätzliche Faktoren zur Praxis der Trennung bei. Die Gegenüberstellung der Kulturen etwa, die das Konzept der Mischkultur impliziert und die zu der vermeintlichen Verbindung zwischen thematischer Taxonomie und Literatursprache führen, spielt hier eine wesentliche Rolle. Auch die Orientierung an Modellen und Zeitschienen aus der deutschen und französischen Literatur hat die Literaturhistoriografie nachträglich geprägt, wie ich später zeigen werde. Sozioliterarische Faktoren wie der akademische Hintergrund und die Spezialisierung auf deutsche oder französische Literatur des Literaturhistorikers ebenso wie die Organisation der Institutionen (getrennte Literaturpreise und getrennte Sektionen für jede Literatur am Institut grandducal) übten zweifellos einen großen Einfluss aus. An dieser Stelle werde ich aber nicht näher darauf eingehen. Es stellt sich die Frage, ob die Praxis der Trennung der Literaturen nicht auf die Taxonomie der Kulturen zurückgeht, die das Konzept der Mischkultur untermauert. Nach Conter war für Batty Weber, einen Befürworter des Konzeptes, 7 | Der folgende Auszug aus Mathias Treschs Rezension des Romans Folle jeunesse (1938) von Nicolas Konert ist ein gutes Beispiel für das damals häufige Tadeln sprachlicher Unvollkommenheiten: »C’est pourquoi je me permets de le [Nic Konert] mettre en garde contre l’entraînement guettant ceux qui écrivent dans les deux langues (›un vrac‹ pour ›une épave‹); puis, un certain abus de l’argot (›Tu charries, tu te montes le bourrichon!‹)« (Tresch 1938: 816).

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neben der Sprache die Nähe zur Grenze wichtig für die Definition der Kultur Luxemburgs. Indem Weber den Kulturkontakt als bestimmenden Faktor für Luxemburg postuliert, distanziert er sich vom herderschen Kulturverständnis (vgl. Conter 2007: 23). Das Mischkultur-Konzept war insofern innovativ, als es nicht an den Ideen der kulturellen Verwurzelung und Abgrenzung von dem Anderen festhielt, die damals die kulturellen Diskurse in Europa dominierten (vgl. Péporté u. a. 2010: 15). Es beinhaltet jedoch eine essenzialistische Komponente, da kulturelle Elemente auf ihre Herkunft zurückgeführt werden. Mischkultur lässt sich demnach als Zusammenleben und Koexistenz französischer und deutscher Elemente im kulturellen Raum Luxemburgs verstehen und nicht etwa als Hybridität, die z. B. im postkolonialen Diskurs als »the creation of new transcultural forms within the contact zone« (Ashcroft u. a. 2000: 108) definiert wird. Ähnlich wie in anderen Diskursen des öffentlichen Lebens in Luxemburg wurde auch im Mischkulturdiskurs der Symbolgehalt der Kulturen beider Länder unterschiedlich gewertet: Deutschland wurde vorwiegend mit der materiellen, Frankreich mit der hochgeistigen Kultur verbunden (vgl. Kmec 2014: 56–60). Auch den Sprachen wurden bestimmte Anwendungsbereiche zugeteilt. Deutsch galt als Sprache von Handel und Wirtschaft, Französisch als die Sprache der Kultur und des Rechtswesens. Diese überwiegend im 19. Jahrhundert etablierte Struktur, die auf wirtschaftlichen Faktoren und politischen Entscheidungen beruht, führte schließlich zur Kompartimentierung und Hierarchisierung, wie folgender Auszug aus Batty Webers grundlegendem Text über Mischkultur aus dem Jahr 1909 zeigt: So viel sich beobachten lässt, sind dieser zunehmend deutschen Einwirkung vornehmlich die Formen des materiellen Lebens zugänglich gewesen. Ästhetisch und literarisch zum Beispiel hat der Luxemburger seinen Geschmack unter französischem Einfluss gebildet und da zeigt er sich auch heute noch im allgemeinen misstrauisch und widerspenstig gegen jeden Versuch der Anpreisung neuer Kunstevangelien deutscher Herkunft. (Weber 1909: 122)

Die Zuordnung eines spezifischen Tätigkeitsbereichs zu einer bestimmten Kultur findet in den Romanen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag. Aus diesem Blickwinkel ist es bedeutsam, dass in Webers Roman Fenn Kass. Roman eines Erlösten (1912), der die Auseinandersetzung eines jungen Kaplans mit der kirchlichen Institution darstellt, der Protagonist Luxemburg verlässt, um in München Ingenieurswesen zu studieren. Ebenso sind in Romanen über die Stahlindustrie die Ingenieure meistens Deutsche, oder sie haben ihre Ausbildung in Deutschland absolviert8 – dies ist z. B. der Fall in Willy 8 | Dies liegt v.a. an der Heranziehung deutschen Kapitals und industrieller Expertise bei der Entwicklung der Stahlindustrie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dies ist ein

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Gilsons Le chevalier aux fleurs (1929) und Pier Ginds Nannten Sie es Glück Herr Direktor (1957). Gemäß dieser Logik ist es folglich nicht verwunderlich, dass die Hauptfigur in Joseph Leydenbachs Bildungsroman Les désirs de Jean Bachelin (1947) ihre Ausbildung in klassischer Musik eher in Paris als in Deutschland oder Österreich vollendet. Trotz der germanischen Muttersprache fühlten sich führende Intellektuelle Frankreich geistig näher als Deutschland. So betont etwa Frantz Clement, eine andere Schlüsselfigur des Mischkultur-Diskurses: Trotz unseres westgermanischen Dialekts wenden wir uns zur Belebung unseres Innenlebens, zur Eingliederung in den westlichen Kulturkreis an Frankreich. Nicht nur weil wir wissen, dass da alles schön gegliedert parat liegt, sondern auch weil die Anpassung uns auf Grund unserer nationalen Gegebenheiten so wenig schwer fällt. Deutschland hat diese Anziehungskraft nicht. Weshalb? Weil sie drüben alles zu sehr mit Dingen belastet haben, die uns innerlich fremd sind. (Clément 2006: 72)

Das Primat des Französischen ist gleich mehrfach bedingt: Sowohl die geistige Wahlverwandtschaft wie die Tatsache, dass das Französische immer noch die Sprache der Bourgeoisie war, als auch die frankophilen Neigungen liberaler Intellektueller aller Sprachrichtungen sind hier eng miteinander verwoben. Letztlich gründet es aber in der Strategie der Distanzierung von Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Verbindung der Sprache mit symbolischen, materiellen und kulturellen Bereichen konditioniert – so wurde zumindest lange Zeit angenommen  – die Taxonomie der drei Literaturen hinsichtlich spezifischer Themen, vom Lokalen und Nationalen in den deutsch- und luxemburgischsprachigen Literaturen zum Universalen in der französischsprachigen Literatur, wie Frank Wilhelm nahelegt: Globalement on peut dire que les littératures en langues allemande et luxembourgeoise induisent des œuvres proches du vécu de leur public, correspondant à la sensibilité générale, alors que la littérature de langue française, produite par et pour la bourgeoisie, donne des œuvres plus abstraites où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur, mais où l’écrivain peut davantage s’inscrire dans l’universel ou, au contraire, cultiver ses propres lubies. (Wilhelm 2001: 886)

In dieser Einteilung kommt das hierarchische Wertesystem zum Tragen. Wegen dessen offensichtlicher Einschränkung und obwohl es für einige Texte im frühen 20. Jahrhundert auch teilweise gelten mag, ist es für die Literatur ab den interessanter Punkt, denn er weist auf den Einfluss der industriellen und wirtschaftlichen auf die kulturelle Geschichte hin (vgl. Hoffmann 1989: 472; Knebler/Scuto 2010; Barthel 2012).

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70er-Jahren nicht mehr angebracht. Dies liegt zum Teil an den Änderungen im Status des Luxemburgischen und in der Wahrnehmung des Französischen, was Wilhelm anerkennt, wenn er sagt: »De nos jours, [les francophones grandducaux] n’utilisent plus la langue de Gide et de Sartre afin d’adhérer à la culture française, voire à l’humanisme à la française« (ebd.).

Komparatistische Ansätze und Literaturgeschichtsschreibung Komparatistische Ansätze und Perspektiven erlauben es, interliterarische Transferprozesse zwischen den luxemburgischen Literaturen und den Nachbarliteraturen aufzuzeigen. In der Literaturgeschichtsschreibung geht der interliterarische Vergleich auf das Verständnis der luxemburgischen Literaturen als Teil entweder der deutschen oder der französischen Literatur zurück. Dies erklärt, warum ihre strukturelle Entwicklung entsprechend den Zeitsträngen der beiden benachbarten Literaturen gemessen wurde. Während dieser Ansatz durchaus seinen Nutzen haben mag, wird er problematisch, sobald das Argument der Verspätung aufkommt, d. h., wenn die luxemburgischen Literaturen im Vergleich zur französischen und deutschen Literatur als Nachzügler betrachtet werden. In Hoffmanns Studie der deutschsprachigen Literatur sind Formulierungen wie »obligate Verspätung« (Hoffmann 1989: 475) oder »typische[r] Rückstand von ungefähr 30 Jahren zum literarischen Geschehen im Übrigen deutschen Sprachraum« (ebd.: 476) rekurrent. Hoffmanns Überzeugung von der vermeintlichen Verspätung der hiesigen Literaturen lässt deutlich das Zentrum-Peripherie-Denken erkennen, das seinem Ansatz zugrunde liegt. Die Konstruktion der deutschen Literatur als die angenommene Norm und als alleingültiger Rahmen literarischer Entwicklung veranlasst ihn, die deutschsprachige luxemburgische Literatur gemäß der ›literarischen Zeit‹ der dominanten deutschen Literatur zu beurteilen. Bezüglich des von ihr entwickelten Begriffs der ›literarischen Zeit‹ erklärt Pascale Casanova: La distance esthétique se mesure, aussi, en termes temporels: le méridien d’origine institue le présent, c’est-à-dire, dans l’ordre de la création littéraire, la modernité. On peut […] mesurer la distance au centre d’une œuvre ou d’un corpus d’œuvres, d’après leur écart temporel aux canons qui définissent, au moment précis de l’évaluation, le présent de la littérature (Casanova 1999: 127).

Und genau das geschieht hier. Die Betonung der Verspätung der luxemburgischen Produktion zeugt darüber hinaus von der Annahme der Gleichzeitigkeit des Auftretens literarischer Phänomene in verschiedenen Literaturen. Wie jedoch komparatistische The-

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orien und Methoden betonen, ist eher die Ungleichzeitigkeit die Regel, und Brunkhorst (1981: 32) spricht von »Phasenverschiebung im Auftreten literarischer Epochen« und anderer Phänomene. Die Gleichsetzung von Verschiebung mit Verspätung ist insofern einschränkend, als hierbei die Gleichzeitigkeit des Heterotemporalen nicht berücksichtigt wird, die, so John Neubauer, die zusammenhängenden Zeitschienen linguistisch und kulturell verbundener Literaturen definiert (vgl. Neubauer 2003: 66). Ebenso wie Zeitschienen nicht synchron sind, ist der Austausch zwischen Literaturen nicht symmetrisch. Dies lässt sich umso deutlicher in der Beziehung zwischen großen und kleinen Literaturen beobachten. Es ist deshalb wichtig, sich der generalized pattern of asymmetric intercultural relations between core areas of world literary creativity (i. e. those which were established, linguistically and culturally strong, and with developed institutions and media) and peripheral (new, weaker) ones (Juvan 2012: 28)

bewusst zu sein. Ebensolche Beziehungen bestehen zwischen nationalen Literaturen, die sich in einem System ungleichen Austauschs befinden und die z. B. anhand von Übersetzungen von einer in die andere Literatur oder durch die Rezeption von Texten eines Systems durch ein anderes gemessen werden können. Die Verschiebung im Auftreten literarischer Phänomene in der Literatur geht auf ein Wechselspiel diverser Komponenten in einem gegebenen literarischen Feld oder System zurück. Diese Komponenten sind nicht nur literarischer, sondern auch politischer und ideologischer Natur, und ihr Einfluss auf die Literatur zeigt sich besonders in der Entstehung literarischer Formen. Marxistische Theoretiker und Vertreter der Kulturwissenschaften haben bereits auf die »relations between literary forms and the social conditions of these forms’ coming into being« (Sapiro 2011: 226) hingewiesen. Was nun das Projekt einer Literaturgeschichte Luxemburgs betrifft, so zeigen diese Ausführungen deutlich, dass hier ein Modell nötig ist, das den spezifischen interkulturellen Rahmen berücksichtigt, in dem die Literaturen entstehen. Ein Rückgriff auf strukturelle Vorlagen aus anderen Literaturen mit einer ganz unterschiedlichen Zusammensetzung und Entwicklungsgeschichte ist hier nicht angebracht (vgl. Conter 2012: 85). Bei der Anlehnung an ein Modell wurde bisher der Sprach- und Kulturverwandtschaft Vorrang gegeben, und dies bleibt auch weiterhin, gerade wegen ihrer interkulturellen Natur, wichtig. Dieses Vorgehen sollte allerdings durch eine Orientierung an strukturell-typologischen Modellen erweitert werden, d. h. Modellen für solche Literaturen, die in ihrer Zusammensetzung der luxemburgischen ähneln. Kurzum, ein Blick hin zu anderen mehrsprachigen und/oder interkulturellen, kleinen Literaturen

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wie denen aus Belgien, Estland, Finnland, Malta, Slowenien sowie Literatur aus historisch gewachsenen interkulturellen Regionen wie dem Alpen-Adria-Raum oder Griechenland/Zypern/Türkei könnten hier wertvolle Muster und Anregungen zu analytischen Verfahrensweisen liefern. Die Rekonstruktion der Zeitschiene sollte den Kern dieses Rahmens bilden. Um eine umfassende Sicht auf die Entwicklung der Literatur im luxemburgischen Kontext zu erhalten, sollte zudem mit der Tradition gebrochen werden, die luxemburgischen Literaturen als abgeschlossene, sprachliche Einheiten zu sehen; stattdessen sollten sie als mehrsprachiges Cluster verstanden werden. Diese Herangehensweise stände zudem im Einklang mit dem aktuellen Verständnis luxemburgischer Literatur, das die Literaturen nicht in einem bloßen Nebeneinander sieht, sondern sie als gegenseitig komplementär und ineinandergreifend versteht. Dieser veränderte luxemburgische Literaturbegriff trägt auch der Tatsache Rechnung, dass die Literaturen im selben literarischen Feld entstehen, dessen Charakteristika reflektieren und auf Begebenheiten, Probleme oder sonstige Spezifika des Feldes reagieren. Demnach ist die gleichzeitige Betrachtung der Produktion in den verschiedenen Sprachen, und hierzu gehören im weitesten Sinne auch Werke auf Englisch, Italienisch und Portugiesisch, die Voraussetzung, um das Literaturfeld und die Literaturkultur Luxemburgs zumindest ansatzweise zu erfassen.

Literaturgeschichtsschreibung heute Spätestens seit dem postmodernen Zusammenbruch der Meistererzählungen und der anschließenden Dekonstruktion der narrativ-teleologischen Strukturen und Totalisierungen, die sie in der Vergangenheit bestimmten, ist die Literaturgeschichte ein umstrittenes Genre (vgl. Juvan 2006: 29). In der Folge dieser Entwicklungen kam es zu einer Distanzierung von nationalen Rahmen, die bislang die hauptsächliche Perspektive der Literaturgeschichte definierten, und zu einer Abwendung von monologischen Konzepten literarischer Entwicklung (das ›Nationale‹, Traditionen, vereinheitlichte Perioden und Trends, organische Geschichtsdarstellungen; vgl. Cornis-Pope 2003: 74). Dies bedeutet nicht, dass Literaturhistoriker nach Azade Seyhan (2001) ›outside the nation‹ schreiben müssen, sondern dass sie den nationalen Rahmen implizit und rigoros infrage stellen sollten, wie von Marcel Cornis-Pope betont wird: While not rejecting the national framework entirely, the literary historian needs to question the assumptions that ›nationalism invariably leads to the establishment of states – each with a single homogeneous culture‹ and that ›the creation of national cultures involves the imposition of a high national culture where before a medley of low folkcultures had coexisted‹. We need a more refined understanding of cultural development

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J eanne E. G lesener that will account for the emergence of ›multi-ethnic, multi-language and multicultural states‹ as well as the continued cross-fertilization between high and low forms of culture. (Cornis-Pope 2003: 74)

Die Einsicht, dass nicht nur das ideologische Raster, sondern auch die Ansätze und Methoden bis hin zum Material revidiert werden müssen, ist von großer Relevanz. Die meisten zeitgenössischen literaturgeschichtlichen Werke brechen daher mit dem traditionellen Fokus auf Meisterwerke. Stattdessen wird heute bevorzugt der literarische Kanon umgeschichtet, erweitert und pluralisiert, und unterdrückte oder marginalisierte Texte – von Frauen oder Auswanderern und Migrationsautoren – werden mit einbezogen. Auch gattungstheoretisch geht man neue Wege, indem leichte oder triviale Genres sowie bislang vernachlässigte Textformen – Reiseliteratur, Reportagen, Kritiken, Rezensionen, Essays usw. – berücksichtigt werden (vgl. Sapiro 2011: 229; Werberger 2012: 113 f.). Das Verständnis von der literarischen als einer sozialen Tätigkeit bewirkt entscheidende methodologische Änderungen, die dazu führen, die reine Interpretation von Texten und die Analyse der Entwicklung gemäß einem festen Raster ästhetischer und poetischer Werte aufzugeben. Stattdessen bevorzugt man »[a] broader perspective that views literature as a system and an integral whole in which literary texts have been integrated into the cultural, social, and historical contexts and communication systems by way of genetic and functional links« (Dolinar 2006: 11). Der Vorteil, den nationalen Rahmen durch einen kulturellen, sozialen und historischen zu ersetzen, wird so ersichtlich. ��������������������������� Letzterer bildet zudem das außerliterarische Fundament, das notwendig ist, um den Kontext einer gegebenen Literatur zu verstehen. Das heißt nicht, dass sämtliche lebensweltlichen Aspekte der sozialen und politischen Welt einzubeziehen sind; es reicht aus, sich auf jene Elemente in der sozialen und politischen Geschichte zu konzentrieren, die direkt für die Literatur relevant sind (vgl. Neubauer 2003: 69; Larsen 2010: 23–25). Wichtig ist auch, den Umfang der geplanten Literaturgeschichte zu definieren. Soll eine umfassende Geschichte erarbeitet werden, kann sie nicht eine Gesamtgeschichte anstreben, denn das ›totalisierende‹ Prinzip, das auf unumgänglichen Ausschlüssen (von Autorenuntergruppen, Teilgenres, Themen und Gegenständen usw.) und hierarchischen Strukturen beruht, wurde gemeinsam mit den traditionelleren Narrativen der Literaturgeschichte verworfen. Heute herrscht daher eher die Tendenz vor, ein zusammengesetztes Bild zu präsentieren. Prinzipien der Fragmentierung und multiperspektivisches Schreiben haben sich als höchst effizient dabei erwiesen, chronologisch-teleologische Entwicklungsnarrative und den eindimensionalen Erzählmodus des allwissenden Literaturhistorikers zu meiden. Literaturgeschichten, die diese Prinzipien anwenden, stellen im Allgemeinen eine festgesetzte Anzahl thematischer Stränge

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einer festgesetzten Anzahl historischer Perioden gegenüber. Die Idee ist, dass jeder Themenstrang – z. B. das Narrativ der Nation oder das transnationalere von Heimat & Ausland – für jede dieser Perioden bearbeitet wird (vgl. Neubauer 2003; Larsen 2010). Das Ergebnis ist ein zusammengesetztes Bild, das sich aus der Überlappung der verschiedenen thematischen Stränge ergibt. Hier sei noch erwähnt, dass die Betonung der interkulturellen Natur literarischer Kulturen einen großen Einfluss bei der Förderung transnationaler Perspektiven hat. Diese konzentrieren sich ebenso sehr auf Einflüsse und Kontakte wie auf Intertextualität, kreative Rezeption und literarische Transferprozesse. Dieser kurze Überblick zeitgenössischer Trends in der Literaturgeschichtsschreibung bietet eine Reihe interessanter Ansatzpunkte für das Projekt einer Literaturgeschichte in Luxemburg. Statt eines endgültigen Modells möchte ich zunächst einmal einige mögliche Routen auf einer vorläufigen Roadmap skizzieren. Thematischen Strängen und transnationalen Perspektiven wird hier Vorzug gegeben; die Frage der Periodisierung will ich jedoch vorerst offenlassen.

Vorläufige Roadmap Der Heimatdiskurs dominiert vorwiegend in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts und ist somit einer der wichtigeren thematischen Stränge, die berücksichtigt werden sollten. Eine kombinierte Lektüre der Romane von JeanPierre Erpelding (Anna, [1917]; Adelheid François [1936–1938]), Nicolas Ries (Le diable aux champs [1936]; Sens-Unique [1940]), Ferd Gremling (Dohêm. Roman aus dem E’sleck [1948]) und Nicolas Konert (Folle jeunesse [1938]), die sich mit dem Heimatbegriff auseinandersetzen, würde ein zusammengesetztes Bild des Heimatromans ergeben, in dem die konträren Diskurse über Heimat rekonstruiert werden könnten. Die Erforschung der Dichotomien Industrialisierung – Landwirtschaft, Stadtleben – Dorfleben, mentale, sexuelle, kulturelle Zwänge versus Freiheit und ihrer literaturästhetischen Ausgestaltung könnte wertvolle Einsichten hinsichtlich der Ausprägung des Genres liefern. Die transkulturelle Perspektive durch den Vergleich luxemburgischer Texte mit dem Heimatroman in der Großregion würde indes aufzeigen, wie Erstere auf die deutsche Heimatkunstbewegung und den französischen mouvement littéraire régionaliste reagierten oder davon abwichen (vgl. Thiesse 1994). Der komparatistische Ansatz ermöglicht die Beleuchtung einiger komplexer Fragen im Zusammenhang mit dem Diskurs und dem Genre. Laut Kai Kauffmann ist das Vorherrschen des Heimatromans in der luxemburgischen Literatur ein Zeichen ihrer Verspätung; die Romane erscheinen »provinziell und antiquiert« verglichen mit der ›modernen‹ deutschen Literatur derselben Periode (vgl. Kauffmann 2001: 81). Seine Aussage ist übrigens ein perfektes Beispiel,

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um Casanovas oben erwähntes Argument der Dominanz der größeren Nachbarliteratur gemäß dem Meridian der literarischen Moderne zu illustrieren. Angesichts der Tatsache, dass sowohl die deutsche als auch die französische regionalistische Bewegung bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs andauerten, müssen reduktive und oberflächliche Urteile wie diese durch breiter fundierte Vergleichsstudien revidiert werden (vgl. Thiesse 1988). Wie Anne-Marie Thiesse überzeugend dargelegt hat, stellten sowohl die deutsche als auch die französische regionalistische Bewegung die Hegemonie der literarischen Produktion aus der Hauptstadt in der nationalen Literatur infrage. Sie unterstreicht zudem, dass Spannungen zwischen der Hauptstadt und den Regionen die Triebkräfte der Entwicklung der Bewegung und des Heimatromans (vgl. Thiesse 1994: 339) waren. Wie, wenn überhaupt, wird diese Spannung im luxemburgischen Kontext artikuliert? Diese Frage ist keineswegs unwichtig, erlaubt sie uns doch die Umrisse der verschiedenen Romangenres aus der Zeit von 1900 bis 1950 genauer zu beschreiben und die literarisch-ästhetischen Profile der Autoren zu vervollständigen. Schließlich stellt der dem Genre zugrunde liegende kulturzentrierte Diskurs einen fruchtbaren Boden dar, um die Spannung zwischen der eigenen und fremden Kulturen zu beobachten. Diese Untersuchungsrichtung ist besonders relevant für die Arbeiten von Jean-Pierre Erpelding zum Beispiel. Die Zusammenstellung des ›Buchs der Heimat‹, die in den Romanen Anna und Adelheid François ausgeführt wird, ist in erster Linie nicht als Zurückweisung fremder Einflüsse (vgl. ebd.) zu verstehen, sondern, ganz im Gegenteil, als Schaffung eines Archivs des literarischen und interkulturellen Gedächtnisses der Nation. Nach Erpelding wurde dieses dem Land nämlich aus diversen Gründen verweigert. Dieser Blickwinkel verändert die Funktion und den Umfang des Genres maßgeblich und lässt sich am besten mittels solcher transnationalen Vergleichsuntersuchungen verdeutlichen. Angesichts der Geschichte Luxemburgs als einem Land der Emigration und Immigration bietet sich das Thema der Migration selbst als weiterer Themenstrang an. Die Migrationsliteratur, die sich laut Søren Frank auf Werke bezieht, die Migration thematisch reflektieren, und die von Autoren mit und ohne Migrationshintergrund geschrieben wird (vgl. Frank 2008: 2), kommt, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (vgl. Glesener 2008, 2009 u. 2010), in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf. Seit den 1970er-Jahren ist sie zudem ein rekurrierender Gegenstand in allen Genres. Eine Untersuchung ihrer Rolle beim Herbeiführen der literarischen Zäsur jener Periode steht noch aus. Die Schilderung von Migrationsschicksalen, die zunächst eine Reaktion auf das Bedürfnis nach einer sozial engagierten Literatur war, ist durchaus in Bezug auf die Ablehnung des konservativ-ästhetischen Programms der Nachkriegsliteratur zu sehen. Darüber hinaus gibt es auch eine direkte Verbindung zwischen der Migrationsthematik und sprachästhetischen Neuerungen, da Sprachgrenzen hier

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konsequent durchbrochen werden, was wiederum zu einem selbstbewussteren Ausdruck mehrsprachigen Schreibens führt (vgl. Glesener 2013). Letztlich bedingte die Migrationsthematik einen entscheidenden Wandel im kulturellen Diskurs, da das französisch-deutsche Paradigma der Mischkultur die anhaltende Internationalisierung der Kultur nicht mehr abdecken konnte, wie Germaine Goetzinger und Gast Mannes ausführen: Erst an der Wende des 21. Jahrhundert, als die europäischen Grenzen durchlässig geworden sind und sich die luxemburgische Gesellschaft durch Globalisierung und Interkulturalität grundlegend verändert hat, als innerhalb der Gesellschaft die Tendenzen zu Individualisierung und Nomadisierung zunehmen, verliert der Topos des Dazwischenstehens an Aktualität und mutiert in Richtung zunehmender Offenheit und Diversifizierung von Identifikationsangeboten. (Goetzinger/Mannes 2009: 366)

Eine Historisierung des Themas, das die Emigration von Bauern, Arbeitern und Bediensteten mit der Mobilität der Intellektuellen in ihren Studien und Reisen im Ausland verbindet, führt z. B. zu einer komplexen Kartierung von Wegen, die es uns ermöglicht, die Auswirkung der Bewegungen beider Gruppen auf die literarische Produktion und die Kulturgeschichte zurückzuverfolgen. Die Untersuchung der intertextuellen Beziehungen zwischen den Literaturen Luxemburgs erweist sich ebenfalls als innovativer methodologischer Ansatz, um die nationale und internationale kreative Rezeption aufzuzeigen. Außerdem lassen sich dadurch einige Annahmen über die angebliche Traditionslosigkeit der luxemburgischen Literaturen infrage stellen. Auch wenn eine starke Tradition vielleicht fehlt, bedeutet dies nicht, dass die Literaturen kein literarisches Material miteinander teilen, denn natürlich lesen luxemburgische Schriftsteller nicht nur ausländische Autoren, sondern sie lesen sich auch gegenseitig. Batty Webers Volksdrama Gottlieb Hurra – De Kanone’er (1933), eine Neufassung von Dicks’ berühmtem Vaudeville Mumm Séis oder de Geescht (1856), liefert eine interessante Neuschreibung dieses kanonischen Stückes, indem es die Lücken bzgl. der Geschichte von Dicks’ Hauptfigur Mumm Séis füllt. Während sie bei Dicks als ein einfältiges, tratschendes Waschweib dargestellt ist, das von ihren männlichen Kontrahenten Hexemeeschter und Sproochmates verhöhnt und missbraucht wird, macht Weber aus ihr eine tragische Figur, ein Opfer der Eifersucht auf der Ebene des Textes und symbolisch ein Opfer der Geschichte, da ihr persönliches Schicksal durch die Konkurrenz zwischen Habsburg und Frankreich um die Vorherrschaft über die Festung Luxemburg Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmt ist. Dieser Stoff ist auch in anderen Medien bearbeitet worden. Fautsch, Hausemer und Scheuers eklektische Neufassung in ihrem Film Mumm sweet Mumm von 1989 bildet ein weiteres wichtiges Stadium im Nachleben von Dicks’ Stück. Durch die Verbindung dieser ehemals leichten Komödie mit der Geschichte Luxemburger Auswanderer nach Ameri-

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ka im 20. Jahrhundert wird diese in dem fiktiven Rahmen des Films in einen transnationalen literarischen Erinnerungsort verwandelt. Ein ähnlicher intraliterarischer Ansatz böte sich beispielsweise für René Engelmanns Novellen (Auf heimatlichen Pfaden [1916]) – milieudeterministische Studien des Lebens in einer kleinen Provinzstadt – und für Jean-Pierre Erpeldings Roman Anna (1917) an, in dem die Novellen zum Teil reproduziert und kommentiert werden. Die Werke beider Autoren zeigen eine starke Verbindung zum Werk, der Ästhetik und der Philosophie von Henrik Ibsen. Die Analyse dieser Prosatexte, zusammen mit Joseph Hansens Essay Henrick Ibsen. La satire sociale dans son théâtre (1904), könnte so zu wertvollen Erkenntnissen hinsichtlich der kreativen Rezeption von Ibsens Werk in der luxemburgischen Literatur um die Zeit des Ersten Weltkriegs führen. Es war nicht das Anliegen dieses Beitrags, einen vollständig ausformulierten Rahmen für die Literaturgeschichtsschreibung in einem mehrsprachigen und interkulturellen Kontext vorzulegen. Ziel war es, einige relevante Fragen bezüglich der tradierten getrennten Behandlung der Literaturen Luxemburgs in der Literaturgeschichtsschreibung aufzuwerfen und in Hinsicht auf zukünftige Literaturprojekte zu erörtern. Und wenn, wie ich argumentiert habe, das Verständnis und die Wahrnehmung der Mischkultur – natürlich neben anderen Faktoren – die Praxis der Literaturgeschichtsschreibung substanziell beeinflusst hat, dann muss der zeitgenössische Diskurs über Luxemburgs hybride literarische Kultur ebenfalls erörtert werden. Dies bedeutet auch, dass wir unsere eigene Position gegenüber dem literaturgeschichtlichen Projekt/Objekt reflektieren und die Notwendigkeit unseres Unterfangens begründen, denn, in Margareta Pettersons Worten: »It is often said that the study of history is more or less guided by the concerns and needs of the present« (Pettersson 2006: 155). Damit ist auch deutlich geworden – besonders in Bezug auf die Zeitschiene und den interkulturellen Rahmen –, in welchem Ausmaß Literatur- und Kulturgeschichte miteinander verflochten sind, und auch das sollte bedacht werden. Schließlich zeigen uns vor allem aktuelle komparatistische Theorien zur Literaturgeschichtsschreibung in einer interkulturellen Perspektive mögliche Wege und methodologische Ansätze auf, mit denen wir die auf Nation und Kultur fixierten Fallen umgehen können, für die das Genre der Literaturgeschichte allzu anfällig ist. Somit wäre dann auch Fernand Hoffmanns Aussage, wonach die Komparatistik keine methodologische Hilfestellung für die Literaturgeschichtsschreibung in Luxemburg liefern kann, widerlegt (vgl. Hoffmann 1989: 468 f.).

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Une écriture transfrontalière Le cas Gilles Ortlieb Ian De Toffoli Le cas de l’écrivain français Gilles Ortlieb, ayant résidé pendant 26 ans au Luxembourg (il intègre, en 1986, le service de traduction du Parlement européen, avant de déménager à Paris en 2012) – et par cas nous parlons avant tout de son positionnement au sein du champ littéraire interculturel luxembourgeois – est quelque peu problématique. Gilles Ortlieb est un auteur français, de nationalité française. Né au Maroc, en 1953, il passe son enfance à Ksar Es Souk (aujourd’hui Errachidia) et à Casablanca. En 1961, le père, médecin, retourne à Paris avec sa famille. Ortlieb fait sa scolarité dans des pensionnats. Après son baccalauréat en 1970, il entreprend des études de lettres classiques à la Sorbonne avant de se tourner vers l’étude du grec moderne à l’Institut national des langues et civilisations orientales. Jusqu’en 1986, année où il s’installe finalement au Luxembourg, Ortlieb travaille comme enseignant de grec, comme rédacteur au Service d’information du Premier ministre français, comme gardien de nuit, comme marionnettiste, fait son service militaire en Allemagne, est, pendant un certain temps traducteur indépendant – il s’intéresse surtout aux livres d’auteurs grecs, aux contes grecs – et, surtout, il voyage énormément, d’Istanbul en Afrique, de l’Europe de l’Est aux pays méditerranéens, et parcourt plusieurs fois la Grèce. Depuis 2012, Ortlieb vit à Paris. Il publie la majorité de ses textes en France, aux éditions Le temps qu’il fait (où est publié son premier livre de prose, Soldats et autres récits, en 1991, repris en 2014 aux éditions Le Bruit du temps), Finitude et Gallimard (où ses livres sortent dans la collection »L’un et l’autre«). Mais Gilles Ortlieb a également beaucoup publié au Luxembourg, notamment dans les pages du Supplément littéraire du Tageblatt, où l’on retrouve, dans presque chacune des éditions de ce supplément qui sort tous les deux mois, un bref inédit de sa plume et où l’on lit une fois par an sa contribution à ce qui va ensuite devenir l’anthologie de la collection »aphinités« (Ortlieb 2007a; 2008b; 2008c; 2008d; 2013c), dirigée par Corina Ciocârlie, ce qui n’a pas changé depuis

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le retour en France de l’écrivain. Gilles Ortlieb a également signé quelques brefs textes dans d’autres anthologies, comme celle des Walfer Bicherdeeg (cf. Ortlieb 2007a), par exemple, ou chez Hydre Editions (cf. Ortlieb 2013d). De par sa participation au milieu littéraire luxembourgeois, Gilles Ortlieb fait régulièrement partie d’expositions organisées autour de thèmes littéraires ou d’auteurs, comme »Prendre le large«, sous la direction de Corina Ciocârlie, une exposition qui s’est tenue au Centre national de littérature du 14 mai au 24 octobre 2013 et au Centre culturel de rencontre Abbaye de Neumünster du 6 juin au 6 juillet 2014, évoquant le nomadisme et le désir de voyager de certains auteurs luxembourgeois comme Jean Portante, Guy Rewenig, Lambert Schlechter, Pierre Joris et… Ortlieb, ou encore l’exposition »Traces de correction«, qui dure du 15 octobre 2015 au 30 septembre 2016, où l’on peut admirer quelques tapuscrits annotés de Gilles Ortlieb dans les vitrines d’exposition de la Maison Servais à Mersch. Mais ce dernier a surtout beaucoup écrit sur le Luxembourg, ce qui constituait un des arguments, en 2012, de l’attribution du Prix Servais à son dernier livre, Tombeau des anges, paru chez Gallimard, en France, même si celui-ci se veut un portrait de la désolation des friches industrielles de ces villes en ange de la sidérurgie lorraine, et non pas luxembourgeoise, comme le remarque, en ne cachant pas une légère déception, Germaine Goetzinger, présidente de la Fondation Servais, dans son allocution lors de la remise du prix littéraire: Cependant, excusez-moi de le relever, j’étais un peu déçue que vous n’ayez pas mentionné Dudelange dans la litanie des anges au moment où à partir de Volmerange-lesMines vous jetez le regard au-delà de la frontière. D’autant plus que, dans le no man’s land entre Volmerange-les-Mines et Dudelange-Greisendall se trouvait dans le temps le Café chez Marie-Ange (cf. Goetzinger 2012: 12).

D’où, donc, tout un ensemble de carnets, de journaux, de quasi-récits (des livres qui sont à peine une narration, qui ont à peine un personnage, qui n’avancent que d’observation en observation, de description en description) de petits essais, de livres de poésie en prose qui ont comme sujet non pas le Luxembourg, mais des observations faites au Luxembourg et sur le Luxembourg. Cinq livres que nous allons commenter plus en détail sont à retenir parce qu’ils comptent parmi les textes les plus riches en menus détails exposés sur le Luxembourg, probablement parce qu’ils ont été écrits par quelqu’un qui, même s’il décrivait le pays depuis l’intérieur, se sentait toujours un peu à l’extérieur:

(1991) Petit Duché de Luxembourg. Cognac: Le temps qu’il fait, (1995) Gibraltar du Nord. Cognac: Le temps qu’il fait, (2008) Sous le crible. Bordeaux: Finitude,

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(2010) Le Train des jours. Bordeaux: Finitude, (2013) Vraquier. Bordeaux: Finitude.

Et nous touchons ainsi au cœur de la question, qui est double: premièrement, celle de l’appartenance problématique de Gilles Ortlieb au champ littéraire luxembourgeois, qui n’a pas toujours été accueillie favorablement par toutes les instances littéraires nationales – ni d’ailleurs tout à fait acceptée comme telle par l’auteur même –, alors que du côté de la recherche académique, la compréhension dudit champ se base sur d’autres critères que la simple nationalité de tel ou tel auteur domicilié ou actif au Luxembourg. Nous verrons donc à quel point Ortlieb peut être considéré comme un auteur qui vit et travaille dans deux champs littéraires à la fois, qui est, comme on dit, à cheval. Nous définirons cette double affectation par une appellation particulière, émise par l’auteur luimême, qui est celle d’auteur frontalier (ou transfrontalier). Deuxièmement, pour renforcer cette constatation, nous montrerons que la position singulière de celui qui se dit »étranger«, choisie délibérément pour atteindre une plus grande objectivité, traduit le phénomène interculturel par excellence de l’expérience de l’altérité, qui, dans le cas de Ortlieb, est comme une prémisse à l’écriture des cinq livres mentionnés.

L’interculturalité du champ littéraire luxembourgeois Lorsque Gilles Ortlieb s’est vu attribué le prix Servais, en 2012, sa première réaction était, voilà ce qu’il explique dans son discours prononcé à l’occasion de la remise du prix, celle de l’étonnement lié »à la spécificité du prix Servais, censé récompenser un auteur luxembourgeois. Je reviendrai plus loin sur les rapports particuliers qu’un résident peut en venir à entretenir avec son pays d’élection. Ce soir, tout se passe ici comme si une domiciliation avait fini par valoir naturalisation« (Ortlieb 2012: 29). L’auteur s’étonne donc d’être traité en luxembourgeois. Alors que l’attribution de ce prix littéraire à des auteurs qui n’ont pas la nationalité luxembourgeoise n’est pas du jamais vu, ni d’ailleurs celle de l’attribution de ce prix, qui récompense la meilleure publication littéraire de l’année, à un livre sorti chez un éditeur allemand ou français, comme le montrent les exemples de Margret Steckel, écrivaine d’origine allemande, résidant depuis de nombreuses années au Luxembourg, qui reçoit le prix Servais en 1997, pour son livre Der Letzte vom Bayrischen Platz, paru aux éditions Phi, ainsi que ceux de Lambert Schlechter (2006), Anise Koltz (2007), Pol Sax (2008) et Jean Krier (2010), qui ont chacun reçu le prix pour un livre paru au-delà des frontières luxembour-

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geoises.1 La différence étant que, en ce qui concerne Margret Steckel, le livre a été publié au Luxembourg, et en ce qui concerne les autres livres, dont le lieu de publication n’est pas le Luxembourg, leurs auteurs respectifs ont tous la nationalité luxembourgeoise. Dans ce sens, Gilles Ortlieb est le premier écrivain à recevoir ce prix en n’ayant ni la nationalité luxembourgeoise, ni publié le livre primé au Luxembourg. Il n’était donc qu’une question de temps avant que certaines voix un peu froissées ne se lèvent. On s’est demandé si le jury du prix Servais pensait que les écrivains luxembourgeois étaient tous tellement piètres qu’il fallait dorénavant récompenser les auteurs français par des prix de littérature luxembourgeois. Dans un commentaire anonyme et ironique publié dans la revue Blooks, éditée deux fois par an par la Fédération des éditeurs luxembourgeois (dont tous les éditeurs ne sont pas membres, refusant d’être représentés par une fédération commerciale qui assure la promotion du livre tous genres confondus), on pouvait, quelque temps après la remise du Prix Servais, lire ceci: Bereits am 27. Juni wurde der Prix Servais 2012 an den französischen Autor Gilles Ortlieb für sein bei Gallimard erschienenes Buch Tombeau des anges, eine Hommage an die einstigen Orte der lothringischen Schwerindustrie verliehen. Der seit 1992 von der Fondation Servais verliehene Servais-Preis würdigt alljährlich den Autor der wichtigsten luxemburgischen Neuerscheinung des Jahres, und dies unabhängig von der Sprache, in der das Werk verfasst wurde. Der 1953 in Marokko geborene Gilles Ortlieb, der seit den 1980er-Jahren in Luxemburg lebt, zeigte sich dann bei der Preisverleihung im Merscher Servais-Haus auch überrascht und gerührt über die Adoption durch die Luxemburger, wie er es formulierte. Nicht nur er selbst stellte sich nämlich die Frage, inwieweit es sich bei einem Werk eines französischen Autors, das ein französisches Thema hat und in einem französischen Verlag erschienen ist, noch um ein luxemburgisches Buch handelt. Wenn es also keine preisverdächtigen Luxemburger Autoren (mehr) geben sollte, bleibt für die Jury des Servais-Preises zu hoffen, dass sich in den kommenden Jahren vielleicht Herta Müller, Orhan Pamuk oder Günter Grass ein Domizil im Ländchen zulegen (Blooks 2012: 4).

Les conditions de production et de réception de la littérature luxembourgeoise (c’est-à-dire de la littérature produite sur le territoire luxembourgeois ou produite ailleurs par des auteurs d’origine luxembourgeoise) créent une situation problématique, difficilement qualifiable et classifiable par les habituels critères d’histoire littéraire (ou sociolinguistiques, mais ceci est un autre sujet2) appli1 | Notons que le Prix Servais s’obtient toujours pour l’année qui suit l’année de publication. Ainsi Tombeau des anges est sorti en 2011 chez Gallimard. 2 | Sur la question de la langue d’écriture dans un champ littéraire trilingue, voir par exemple Glesener 2013 et 2014.

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qués aux grandes littératures monolinguistiques. La littérature luxembourgeoise se définit en effet non seulement par son multilinguisme, mais également par son rapprochement et sa distance par rapport au système des grandes littératures voisines (avec qui elle peut partager plus que sa seule langue d’écriture). Son champ littéraire est donc, par essence, interculturel, comme le définit Claude D. Conter, chercheur et directeur actuel du Centre national de littérature du Luxembourg, non seulement par le rapport à l’autre (à l’étranger, au voisin, parfois envié), mais également parce qu’il intègre en son sein à la fois les auteurs qui publient au Luxembourg, de quelque nationalité qu’ils soient, et les auteurs luxembourgeois qui publient à l’étranger. L’interculturalité n’est donc pas à comprendre comme une littérature de la migration (quoique celle-ci existe), mais comme un réseau linguistique et culturel si intriqué, à l’intérieur d’un même champ littéraire, que la différence entre »même« et »autre« tend à s’effacer. Contrairement à celle des grands systèmes littéraires monolinguistes, qui considèrent une littérature soit comme nationale, soit comme appartenant à une minorité linguistique, ou sinon comme faisant partie d’une littérature étrangère, l’analyse scientifique du champ littéraire luxembourgeois, ayant à la fois lieu dans un microcosme polyglotte et dans un monde globalisé, ne pouvant être séparée du développement culturel du Luxembourg, ni de la pratique du transfert culturel avec ses voisins, présuppose ainsi une véritable dé-nationalisation dans la compréhension du champ littéraire: Ein solches Wissenschaftsverständnis setzt eine De-Nationalisierung bei der Beschreibung des literarischen Feldes voraus und orientiert sich konsequent an der Praxis interkulturellen Denkens und Handelns im Luxemburger Sozialsystem Literatur. So werden die Gedichte von Gilles Ortlieb oder Serge Basso de March ohne Zuweisung eines besonderen Status im Literatursystem besprochen – und zwar als Texte, die der Kategorie Luxemburgensia zugewiesen werden, weil sie in Luxemburger Verlagen erscheinen oder in Luxemburger Literaturorganen veröffentlicht werden oder weil die Autoren in Luxemburg mitwirk(t)en (Conter 2010: 126).

Et plus loin: All dies sind keine Besonderheiten, sondern Ausdruck eines Literaturverständnisses interkultureller Prägung. Interkulturalität […] bedeutet [hier], dass die sprachlichen und kulturellen Vernetzungen im literarischen Feld so eng sind, dass Unterscheidungen zwischen Eigenem und Fremdem wie selbstverständlich unterlaufen werden (ibid.: 126 f.).

Et en effet, Gilles Ortlieb n’est pas le seul écrivain participant à l’activité littéraire luxembourgeoise qu’on a du mal à classer. Plus encore que tous les écrivains nommés plus haut, lauréats du Prix Servais, un des écrivains luxembourgeois connaissant beaucoup de succès à l’étranger, Guy Helminger, publiant chez

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Suhrkamp et Eichborn et vivant et travaillant à Cologne, doit régulièrement insister sur son origine luxembourgeoise, lorsqu’on veut faire de lui un écrivain allemand, sous prétexte qu’il n’y a pas d’activité littéraire au Luxembourg: […] ob es außer mir denn noch jemanden in Luxemburg gebe, der schreibt, ob im Großherzogtum Rockband, Maler, Bildhauer existierten? Dann werde ich doch sehr luxemburgisch, weil es, gelinde gesagt, von extremer Arroganz zeugt, den Bewohnern eines Landes, nur weil dieses klein ist, jedwede intellektuellen und künstlerischen Bedürfnisse abzusprechen. Daß man diese Bands, die Maler und Schriftsteller nicht unbedingt kennt, ist durchaus verständlich, schließlich kennt man auch nicht unbedingt viele indonesische oder jemenitische Schriftsteller. Aber obwohl diese beiden Länder, im Gegensatz zu Luxemburg, nun nicht direkt vor der Haustür liegen, würde kaum jemand auf die Idee kommen, zu fragen, ob es im Jemen oder in Indonesien Menschen gibt, die schreiben oder Musik machen? (Helminger 2014: 69)

La question de l’affectation nationale est régulièrement posée à Guy Helminger, au cours de séances de lecture, depuis la publication de Neubrasilien (2010), parce qu’il s’agit de la première fois que le Luxembourg est aussi largement thématisé dans un roman allemand à succès. L’auteur répond alors: Ja, ich gehöre zur luxemburgischen Literatur, ja, ich gehöre zur deutschsprachigen Literatur, und ja, ich werde bestimmt noch einmal über Luxemburg schreiben, genau wie über alles andere, was sich auf den Fluren meines Ichs angesammelt hat. Ein bißchen fühle ich mich wie ein Nomade, der seinen Umhang nie wäscht, weil er an den einzelnen Staubpartikeln, die am Stoff kleben, erkennt, wer er ist (Helminger 2010: 69).

Il est donc clair, pour l’auteur, que, même si son passeport affichera toujours la nationalité luxembourgeoise, l’écrivain écrit dans une langue qui n’est pas sa langue maternelle et appartient à deux champs littéraires à la fois. Son activité d’écrivain se trouve ainsi dénationalisée. Claude D. Conter va encore plus loin en parlant, au sujet de Guy Helminger, d’une »doppelte Autorschaft« (»d’un double statut d’auteur«; voir Conter 2014), parce qu’il appartient à deux champs littéraires à la fois et que lesdits champs sont totalement distincts, à cause de différences linguistiques, commerciales, etc. Ce double statut permet, d’un côté, à l’écrivain d’élargir son cercle de lecteurs, de multiplier les offres de publication, d’avoir recours à plus de possibilités de subvention, mais d’un autre côté, cela peut créer une certaine confusion: au niveau pragmatique, une maison d’édition, un agent littéraire, un libraire, voire même un lecteur a besoin d’informations précises, de facilités de catégorisation. Le grand public, tout comme l’histoire littéraire traditionnelle, fonctionne toujours par des principes de division et de classification nationale, ou du moins linguistique. Un auteur qui écrit en langue allemande, alors que

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ce n’est pas sa langue maternelle, est rapidement classé parmi les auteurs de la migration, d’une minorité sociale ou ethnique, et par conséquent, ses livres ont tendance à être analysés d’un point de vue sociologique et non pas esthétique. L’on compte donc les écrivains »actifs« au Luxembourg, c’est-à-dire qui publient au Luxembourg, qui animent le milieu littéraire luxembourgeois, comme faisant partie de son champ et de son milieu littéraire, et ce indépendamment de leur nationalité. Mais contrairement à un Ionesco ou une Herta Müller, qui finissent par appartenir exclusivement au champ littéraire français et allemand, ces écrivains font partie de plusieurs champs à la fois. Cette observation se base sur la situation particulière du développement culturel au Luxembourg, qui est fortement liée au gain de conscience historico-culturelle du Grand-Duché et à la pratique du transfert d’idées et d’intellectuels germano-franco-belge. Cela signifie que la définition des limites du champ littéraire luxembourgeois s’oriente fortement au système social dudit pays et à ses pratiques interculturelles quotidiennes.3 Comme nous l’avons vu ci-dessus, Ortlieb s’est lui-même inventé un terme pour décrire cette double appartenance, un concept repris à la réalité socioculturelle du Luxembourg (ce pays où quotidiennement des centaines de milliers de frontaliers des trois pays limitrophes viennent exercer leur métier, qu’ils soient banquier, avocat ou serveur dans un bar): celui d’auteur frontalier. Celui d’un auteur qui vit et travaille donc dans différents endroits à la fois. Cependant, au moment oùil apprend qu’il est le lauréat du Prix Servais, Ortlieb avoue s’étonner et croit à quelque chose comme un malentendu. Mais le jury a fait son choix.4 Et l’auteur de répondre par un bout de discours frappant, le soir de la remise du prix, où il s’explique: Le second [étonnement que j’ai eu quand j’ai appris la nouvelle du prix] tient à la spécificité du prix Servais, censé récompenser un auteur luxembourgeois. […] Ce soir, tout se passe ici comme si une domiciliation avait fini par valoir naturalisation. De cette forme originale d’adoption, par prix interposé, je tiens à remercier la fondation Servais. 3 | Selon les chiffres de 2007, 42 % des habitants du Grand-Duché sont étrangers. Au quotidien, au minimum quatre langues sont utilisées couramment, les trois officielles, ainsi que l’anglais, auxquelles s’ajoutent très souvent le portugais (15 % de la population est portugaise), l’italien, et un certain nombre d’autres langues de diverses communautés, comme le polonais, le serbe, le bosniaque, et beaucoup d’autres. Cela se traduit également par la création, sur le territoire luxembourgeois, de revues culturelles en italien, en espagnol, etc. 4 | Le texte est récompensé parce qu’il dépasse »la simple pérégrination ou l’étude d’un microcosme. Gilles Ortlieb aborde de façon fondamentale les questions relatives à la condition humaine et à la disparition de tout être humain« (Remise du Prix Servais 2012 à Monsieur Gilles Ortlieb 2013: 8)

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I an D e T offoli Il est vrai qu’on ne passe pas impunément près d’un quart de siècle dans un pays sans y laisser des traces – cette cérémonie en est une preuve – ni, à l’inverse, sans que ce pays ne dépose ses sédiments en nous. Mais on ne passe pas non plus tant d’années dans un lieu sans vouloir lui échapper, fût-ce par une porte dérobée, l’espace de quelques heures ou de quelques journées. C’est un mouvement de balancier de cette nature, de va-et-vient entre ici et quelques ailleurs, qui est à l’origine de ce livre. Peut-être faudrait-il inventer une catégorie particulière, celle d’auteur frontalier (Ortlieb 2013a: 29).

Gilles Ortlieb est donc un auteur frontalier, c’est-à-dire qui fait éclater les frontières, non seulement parce que le Luxembourg est certainement un endroit qui a marqué ses écrits, mais surtout parce que son écriture est un lieu de réflexion, voire d’affrontement, où la séparation entre l’autre et le même est déstabilisée.

L’étrangéité comme attitude Ortlieb devient ainsi de plus en plus une figure de l’hybridité, une figure d’un écrivain qui ne peut plus être concrètement attribuée ni à une culture précise, ni à un endroit précis. Il faudrait le dire avec Doris Bachmann-Medick, qui reprend ainsi des concepts du third space de Homi K. Bhabha: Die nicht nur konzeptuell, sondern auch räumlich fundierte Vorstellung eines Kontaktraums, eines Vermischungsraums, eines Zwischen- und Überlappungsraums von Grenzzonen und Grenzsituationen. Gemeint ist ein Ort der Auseinandersetzung in und zwischen Kulturen, in dem Grenzziehungen (z. B. zwischen Eigenem und Fremdem) destabilisiert werden können. Denn ein solcher dritter Raum entsteht nicht etwa zwischen zwei reinen, unvermischten Zonen. Vielmehr kennzeichnet er eine kulturelle Verfassung, die überhaupt keine reinen, unvermischten Zonen enthält, sondern aus Überlagerungen in sich widersprüchlicher und differenter Schichten einer Kultur besteht. (BachmannMedick 2010: 205)

Cela fait de Gilles Ortlieb, plutôt qu’une simple figure du métissage culturel (c’est ainsi qu’on comprend avant tout l’hybridité), d’un état où les frontières sont abolies, une figure qui – peu importe où elle se trouve – garde toujours en elle des traces culturelles des endroits qu’elle a fréquentés, une figure qui entretient son altérité sans en assumer une quelconque hiérarchie: Hybridität gilt hier nicht einfach als Vermischungsverhältnis, sondern wird als Übersetzungssituation, als Überschreitung und In-between-space, als Zwischenraum, als »activity of displacement« genauer und anstößiger gefasst (ibid.: 200).

Car tout comme pourrait peut-être l’affirmer Guy Helminger, Gilles Ortlieb dit,

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lors de la remise du Prix Servais, qu’il n’aurait »jamais pu écrire ce livre [s’il n’avait] pu compter sur le duché comme base arrière, l’une des plus assurées qui soient« (Ortlieb 2012: 30). Cependant, l’écrivain est quelqu’un qui avoue souvent ne pas tenir pas en place, ou plutôt n’être jamais à la bonne place. Il refuse de s’installer, il veut toujours »se trouver là où on ne devrait pas être et […] fuir autant que possible, chaque fois que cela est possible, les lieux où la plupart jugent bon de se trouver« (Ortlieb 2010: 60). Un de ces lieux – et nous en venons ainsi au deuxième point de cette brève étude – est justement le Luxembourg. Gilles Ortlieb entretient donc avec le pays, dont il est un des plus fervents peintres de paysages, une relation très ambivalente. Petit détour biographique: en 1986, Ortlieb franchit l’entrée de la grande tour du parlement européen, où il occupera un bureau pendant vingt-six ans, jusqu’à sa retraite obtenue en 2012, en tant que traducteur, principalement, du grec, mais d’autres langues aussi. Le fonctionnaire au sein du service de traduction des Instituts européens qu’il est devenu gagne en confort ce qu’il perd en liberté. Mais quelque chose en lui ne réussit pas à se sédentariser, à prendre enfin un domicile fixe. Il n’arrête pas de se dire qu’il ne pourrait pas vivre au Luxembourg, comme il l’écrit dans une petite vignette pour Prendre le large, catalogue à son exposition et en même temps essai sur les auteurs en question de Corina Ciocârlie: Arpenté une première fois vers la fin des années soixante-dix, le temps d’un week-end de permissionnaire depuis la ville de garnison, voisine, de Trèves. Une nuit dans un hôtel du quartier de la gare, les silhouettes aperçues, depuis les remparts de l’église Saint-Michel, des prisonniers tournant dans la cour de Neumünster, entre les rives de l’Alzette et les façades d’opérette de la ville haute. L’odeur prégnante des cafés capitonnés, la neutralité morne, sans âge, de la plupart des quartiers sous une lumière qui m’avait paru, ce jour-là, quasiment anesthésiée: »je ne pourrais pas vivre ici« fut le constat remâché en sourdine pendant la longue déambulation. Et pourtant. La prescience, déjà, que des leçons pourraient être tirées de cet étranger-là, que l’inconnu gagnerait peut-être à l’être moins, ou que chaque gain est d’abord insoupçonné? Moralité, éviter de déclarer: Fontaine, je ne boirai pas de ton eau (Ortlieb 2014: 138).

Alors qu’il reste. Indéniablement, donc, une certaine attirance le retient. Comme le dit Corina Ciocârlie, une »aimantation inexplicable« (Ciocârlie 2014: 137). Cette incapacité à quitter le Luxembourg est tant de fois commentée dans ses livres: »Pour résumer, c’était d’abord et uniquement le travail qui me retenait dans ce pays« (Ortlieb 2013b: 116). L’assignation à une résidence qui se refuserait à devenir, malgré tous les efforts, domicile. Un exil sans cause apparente, et donc d’autant plus enracinée. Mais, puisque les circonstances ont décidé à notre place de l’endroit où vivre, s’efforcer de ne pas garder rancune à l’endroit et regarder au moins autour de soi. Encore et encore jusqu’à ce que

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I an D e T offoli l’autour-de-soi finisse par devenir, sinon transparent, du moins reconnaissable et familier. Affranchi, par imprégnation, de l’étranger (Ortlieb 1995: 86 f.).

Ainsi, par nécessité, par besoin, ou peut-être même par ennui, Ortlieb commence à observer, à explorer le pays qu’il habite. Quand il est au Luxembourg, ses heures libres, c’est-à-dire ces heures où il n’est pas rattrapé par la routine de son travail, il les passe à déambuler dans la ville de Luxembourg, où il a toujours habité, d’abord dans le Grund, ensuite boulevard d’Avranches (pas loin du Sofitel), ensuite place de Paris, dans le quartier de la Gare, ville pour laquelle il a une fascination apparemment sans limites. Et il note ce qu’il voit. Il devient un observateur du quotidien, des coins insoupçonnés, des paysages immobiles du Luxembourg, un observateur infiniment minutieux. Voici quelques exemples d’observations faites tout au long de ses livres: Oubliée, égarée à proximité des boutiques Hermès, Vuitton, Boss et consorts qui ont graduellement pris possession des ruelles du centre: la »pensions-snack« chez Mami, rue des Bains, où des rouquins bègues s’égosillent de bonne heure dans leur téléphone portable, où de vieux messieurs germanophones viennent se requinquer d’un grand verre de coca mélangé d’alcool de pomme (la fameuse goutte ou Drëpp, qui ferait déborder plus d’un dé à coudre), où le patron a les gestes ralentis d’un qui pourrait être cardiaque et un sourire d’ineffable douceur, où les Portugais fument comme des Portugais en feuilletant A Bola ou le Diario das Noticias. Tant qu’il subsistera des endroits comme celui-là. Il devrait être possible de survivre ici. (Ortlieb 2008a: 49 f.)

Décrivant régulièrement la ville de Luxembourg s’étendant en-dessous de lui ou d’un point de vue panoramique, des métaphores s’y glissent qui en font quelque chose comme un modèle miniature: La lune glissant sur les verrières, Les façades déroulées des faubourgs: Mais auront-ils jamais été habités? Un viaduc jeté par-dessus les voies Tient encore agrafées les deux moitiés de la ville (Ortlieb 1991: 10).

Gilles Ortlieb est sensible aux transformations de la ville. Dans la plupart des livres mentionnés, il parle de la destruction de vieux bâtiments (ceux qu’on nomme en luxembourgeois les Härenhaiser, c’est-à-dire les maisons de maître), de la destruction des cinémas dans le quartier de la gare, le Victory, le Marivaux, ces anciennes salles gigantesques remplacées soit par des résidences grises tout à fait interchangeables, par des complexes immobiliers laids, soit par des banques, des tours en verre de tel ou tel groupe d’investissement:

U ne écriture transfrontalière L’hôtel du théâtre a disparu comme le cinéma Eldorado, Place de la gare, ou la boutique de la rue de l’Eau Où l’on vendait des tissus aux couleurs rares. Les financiers ont maintenant appris le chemin de la ville basse, qu’ils arpentent le matin En petite troupe bien mise, les maisons voisines Se vident lentement de leurs familles d’émigrés Italiens et portugais, et je ne suis plus sûr Moi-même, en passant devant le café des Faubourgs Récemment condamné, de me reconnaître toujours (Ortlieb 1991: 26).

La disparition des bars de quartier, petits taudis où l’on retrouve toujours les mêmes têtes, est amplement commentée par l’auteur, comme dans ce passage où Gilles Ortlieb évoque la disparition du Nikloseck (traduit du luxembourgeois, cela signifie: le coin de Nicolas), au Limpertsberg, ce quartier qui s’est, au cours des 20 ans passés, lentement transformé en quartier de sociétés d’investissement et de cabinet d’avocats: Cet endroit qui a longtemps occupé, au coin de la place du Glacis et de la rue de Faïencerie, une position stratégique dans l’occupation des samedis soir, dans la vacance de certains après-midi d’été, dans l’avant-ou-après-séance-de-ciné à l’Utopia voisin. […] Une légère odeur de renfermé, des interpellations sonores de part et d’autre du comptoir, quelques morceaux increvables périodiquement ressuscités par les touches du juke-box, et puis un indémêlable brouhaha de voix aux intonations indigènes ou anglaises, de parfums et d’effluves divers venant se superposer à une indélogeable note de fond de tabac blond. […] Car, pour le reste, il ne s’agit pas d’imaginer, mais simplement d’aller voir l’immeuble d’angle édifié à la place: six étages vitrifiés, avec parking automatisé, caméras de vidéosurveillance, […] le tout représentant deux cents à trois cents fois le volume de feu Nikloseck et affichant cette raison sociale en façade: Caceis Investor Services. On est à Luxembourg ou on ne l’est pas. (Ortlieb 2013b: 42–44)

D’autres endroits qu’il décrit: Clausen avant et après sa transformation en Disneyland pour jeunes adultes, Neumünster avant sa transformation en centre culturel, quand c’était une prison désaffectée, la pizzeria della Mamma, au Limpertsberg, un peu plus haut que le Nikloseck, un restaurant de six tables, tenue par une Italienne au bon embonpoint et aux cheveux dressés comme une tour sur sa tête, la Schueberfouer et le Krëschtmaart (dont une partie s’installe tous les ans sur la Place de Paris, en-dessous du dernier appartement que Gilles Ortlieb a occupé au Luxembourg) dont il est un très grand fan, avec ses effluves de friture et de gaufres et ses pêches aux canards. L’auteur aime la vie de quartier, s’intéresse à ses habitants, à ses petites boutiques et restaurants, connaît le nom de l’épicier et du serveur du bar en dessous

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de son appartement, avec qui il s’est lié d’amitié et qui possède un double des clés de son appartement, d’ailleurs. Ortlieb est également ami avec son cordonnier: Hélé ce matin en chemin, depuis le trottoir opposé, par Bozidar le cordonnier, me demandant si, par hasard, je n’allais pas faire des courses au supermarché. Il a besoin de capsules de café pour sa machine, et un gros chantier en perspective: une demidouzaine de paires de chaussures lui ont été apportées par une dame du monde qui s’obstine à acheter des modèles trop justes, trop étroits. (Ortlieb 2013b: 99)

Quant au Tombeau des anges, le livre qui a reçu le Prix Servais, il ne traite du Luxembourg que marginalement, l’auteur, comme dans d’autres livres qu’il a écrits, par exemple Meuse Métal et Liquidation totale s’intéresse à un sujet auquel un bon nombre d’écrivains luxembourgeois, comme Jean Portante, Guy Rewenig, Nico Helminger se sont déjà intéressés, qui est celui de la sidérurgie, et surtout, de la faillite de la sidérurgie et des conséquences géopolitiques, psychologiques, financières, de cette faillite. Gilles Ortlieb y raconte son exploration des anciens lieux de la sidérurgie lorraine, les usines en ruine, les mines fermées, les villes et villages tout au long de la frontière franco-luxembourgeoise qui se sont lentement, depuis les derniers 30 à 40 années, effondrés, vidés, appauvris. Tombeau des anges est une longue description de la décrépitude et de la misère de ces lieux dont le nom se termine en -ange, Hayange, Nilvange, Knutange, Clouange, Hettange, Hagondange, etc. Ortlieb s’intéresse donc aux traces d’un passé certainement dur, mais qui à l’époque faisait la richesse de toute cette région, et auquel le standard de vie luxembourgeois, jalousé un peu partout en Europe, doit certainement quelque chose. À lire Ortlieb, on croirait comprendre qu’il voit tout simplement plus que les autres, que son sens de la vue est plus développé que celui du commun des mortels. Lui-même lie ce don d’observation à une certaine absence au monde, à la sensation de se sentir à tout moment extérieur: Pourquoi le sentiment d’absence au monde, ou d’étrangeté – il existe sûrement une belle et compacte expression allemande de sept syllabes au moins, pour désigner la chose – s’accompagne souvent d’une telle acuité de la perception à laquelle tous les sens participent (Ortlieb 1995: 75).

Gilles Ortlieb semble donc non seulement être un observateur-flâneur, mais plutôt un véritable chroniqueur qui décrit un endroit qu’il observe non seulement de la façon dont il le voit, au moment présent, mais diachroniquement, c’est-à-dire en le voyant dans ses différents états, à travers les différentes couches du temps. Il voit toutes les strates temporelles en même temps. Il a une véritable fascination pour la ville de Luxembourg et surtout pour ses transformations. À

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tel point que, lors de son discours de remerciement prononcé pour le Prix Servais, au lieu de parler longuement, il a fait une liste de choses qui lui manqueraient, de ce pays dont il retient un attachement parfois ambigu. Dans cette liste figuraient pêle-mêle l’avenue de la Liberté, les vaches (il y a partout des vaches, au Luxembourg), le Grund, Clausen et Pfaffenthal observé d’en haut, qui ont parfois l’air d’une maquette pour train électrique qu’on offre aux enfants, les soirs de fête, les champs de l’Oesling, la flamme du soldat inconnu devant ou derrière la cours de justice, le style démodé de l’Hôtel Cravat, le musée des Trois Glands, la Grande Braderie, les jours fériés où la ville de Luxembourg semble complètement morte, vide, faite d’un silence absolu où on a peur des propres pas, les chauves-souris autour du Bock, etc. [J]e le voyais ou l’observais passionnément – aussi passionnant que ce fût parfois – maladivement, sans fin. Mais le plus souvent comme derrière une vitre pare-balles, sans autre participation d’aucune sorte. À l’Est, à l’Ouest, au Sud, trois pays barrés mentalement, quoique dans des proportions inégales. Il ne me restait donc pour vivre que celui-là où je vivais, et qui en était à peine un. Une assignation à résidence qui n’a jamais su, comme on dirait en Belgique, devenir domicile. (Ortlieb 2013b: 116 f.)

L’expression à retenir ici, est celle d’une observation »comme derrière une vitre pare-balles«: malgré une résidence qui a duré 26 ans, Ortlieb ne s’est jamais senti autrement qu’en exil, au Luxembourg. Ce qui lui a permis ces infatigables observations, mais aussi ses innombrables voyages, ses escapades, ses excursions – proches, comme la Lorraine, Paris, mais aussi lointaines, comme la Grèce qu’il a visité régulièrement. Le Luxembourg restera toujours une base arrière, avec toute la sécurité qu’il offre, la gare de Luxembourg ayant une fonction d’»échappatoire unique« (Ortlieb 1991: 7), et exerçant donc une aimantation à laquelle l’auteur ne finit pas d’espérer de pouvoir échapper un jour: Comme si, pour l’avoir trop détaillée les premiers temps, j’avais perdu la faculté de la voir. L’occasion offerte, pour une fois, d’aller au-delà des apparences, ou le signe qu’il faudrait peut-être songer à la quitter (Ortlieb 1995: 108). 5

La ville de Luxembourg subit une véritable personnification dans ces remarques, avec laquelle l’auteur entretient une relation ambiguë, dans ce cas d’amour et de haine. Il veut sans cesse la quitter, mais n’y arrive jamais. Gilles Ortlieb vit au Luxembourg comme s’il n’y vivait donc pas vraiment, ce qui lui permet de 5 | D’ailleurs, sur le site internet de Le temps qu’il fait, un de ses éditeurs, il y a marqué, quand on clique sur la biographie de Gilles Ortlieb: »Entré dans les services de traduction de l’Union Européenne en 1986, il vit depuis lors à Luxembourg, sans désespérer tout à fait d’arriver à s’en échapper un jour« (http://www.letempsquilfait.com/Pages/ Pages auteurs/Page Ortlieb.html) [15.12.2015]

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l’observer depuis le dehors, alors qu’il est en plein milieu. Il se pose donc en observateur objectif, qui note et retient. Jamais accaparé par le Luxembourg, jamais assimilé à ses habitants, il l’observe tel un étranger en son sein. Le phénomène interculturel par excellence, celui de l’expérience de l’altérité, et plus particulièrement de l’étrangéité, est ici pleinement vécu par Ortlieb. L’étranger migre d’un endroit à l’autre, se défait de tout lien qui l’attache à un endroit en particulier et gagne ainsi en objectivité, une objectivité qui se veut à la fois proximité et distance, afin d’acquérir une neutralité qui, elle seule, permet une perception aigue. C’est ainsi que Christoph Barnmeyer l’explique: Zum anderen kann das Fremde bewusst als Zustand gewählt werden, um mehr Objektivität zu ermöglichen. Eben diese Objektivität, die grundlegend für die unvoreingenommene Beobachtung anderskultureller Verhaltensweisen ist, kann somit auch Interkulturalisten helfen, fremde Kulturen zu untersuchen und durch Perspektivwechsel andere Sichtweisen zu verstehen (Barnmeyer 2012: 61).

Gilles Ortlieb s’approche, par ses observations, du rôle de l’enquêteur, de celui qui veut comprendre, qui – selon le sens latin du verbe quaerere – demande, qui questionne, qui cherche. Il évite, dans ses descriptions et ses listes, les habituels stéréotypes et clichés réducteurs de la perception de l’altérité, ne tombant jamais dans une trop grande généralisation, connotation ou stigmatisation, s’attardant de préférence aux détails que d’autres pourraient trouver insignifiants ou futiles. Gilles Ortlieb est donc l’exemple d’un écrivain interculturel, à la fois pour des raisons sociolittéraires, c’est-à-dire biographiques – son nomadisme affiché, son refus du sédentarisme, ses affinités culturelles prononcées pour plusieurs pays à la fois, sa dénomination d’auteur frontalier – et artistiques, avec le choix du genre qu’il pratique, à savoir une écriture entièrement descriptive et non pas narrative, proche du journal intime, du carnet de notes, ainsi qu’avec les thématiques abordées, c’est-à-dire sa tentative de saisir, en se posant en tant qu’observateur venu de l’extérieur, les spécificités (ce qu’on appellerait un peu populairement l’âme) d’un endroit – dans le cas bien précis des cinq livres dont il a été ici question, du Grand-Duché du Luxembourg. L’écriture de Ortlieb se situe justement dans ce Vermischungsraum, dans ce Zwischen- und Überlappungsraum de deux pays qui sont à la fois proches et distants, au niveau culturel et linguistique.

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I an D e T offoli Idem (2013b): Vraquier. Bordeaux. Idem (2013c): L’ascenceur. In: En partage – Le luxembourg d’ici et d’ailleurs. Differdange, pp. 37–42. Idem (2013d): Maryland Ons Cigarette. In: Fragment 3793. Bridel, pp. 9–13. Idem (2014): Lëtzebuerg. In: Prendre le large. Mersch, p. 138. Sax, Pol (2008): U5. Berlin. Schlechter, Lambert (2006): Murmure du Monde. Bordeaux.

Muttersprachliche Mehrsprachigkeit Batty Weber (1860–1940) und die Mischkultur in Luxemburg Anne-Marie Millim In der Geschichte des heute offiziell dreisprachigen Luxemburgs sind Mehrsprachigkeit und Interkulturalität nicht nur Aspekte voneinander, sondern auch fundamentale Faktoren in der Entwicklung einer nationalen Identität. Der Unabhängigkeitsprozess des heutigen Großherzogtums, der sich in drei Stadien vollzog (Verträge von Wien 1815, London 1839 und London 1867), wurde von einem zunehmenden nationalen Bewusstsein begleitet. Wie Péporté u. a. erläutern, war das geografische Gebiet Luxemburgs von den aufeinanderfolgenden Herrschaften der Burgunder, Spanien, Frankreich und Österreich geprägt, die alle, mit der Ausnahme von Ludwig XIV., legitime Erben waren (vgl. Péporté u. a. 2010: 5). Während, Michel Margue zufolge, die Bevölkerung sich im ersten Stadium der Unabhängigkeit 1815 noch nicht durch ein Bewusstsein, »Luxemburger« zu sein, vereint sah, zeigen sich 1839 aktive Versuche die Strukturen eines unabhängigen Staates zu etablieren und ein kollektives Gefühl der nationalen Zugehörigkeit zu stärken (vgl. Margue 2007: 29 u. 37). Angesichts der 1867 durch die Großmächte gesicherten Neutralität Luxemburgs sowie der Thronbesteigung Adolphs von Nassau-Weilburg (1817–1905, reg. 1890–1905) festigten sich der politische Status des Großherzogtums und seine ideologische Untermauerung als Nation. Die tiefe Erschütterung und Empörung, die auf die Invasion Luxemburgs durch deutsche Armeen am 2. August 1914 folgten, bezeugen ein bereits relativ ausgereiftes nationales Identitätsbewusstsein.1 In der diskursiven Konstruktion der Nation war der Einfluss von Schriftstellern und Journalisten von großer Bedeutung. Landschaftsprosa und Journalistik

1 | Wie ich an anderer Stelle zu bedenken gegeben habe, waren, nach Péporté u. a., Entscheidungen der Regierung, wie etwa die Schulpflicht, ebenso wichtig für das nationale Bewusstsein, wie der Wunsch von Individuen und Gruppen sich einer luxemburgischen Kollektivität angehörig zu fühlen (vgl. Péporté u. a. 2010, S. 243; Millim [im Druck]).

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(vgl. Millim 2014 u. 2016), ebenso wie Volkstheater und Heimatliteratur, waren wesentlich in der Bewusstmachung und Anerkennung von Luxemburgs nationaler und kultureller Eigenständigkeit. Batty Weber (1860–1940), einer der bekanntesten und produktivsten Schriftsteller der Luxemburger Literaturgeschichte, hat durch seine fiktionalen Texte, seine Herausgebertätigkeit und seine Feuilletonserie Abreißkalender, die über 7 000 Texte umfasst, das Kulturbewusstsein der Luxemburger während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich geprägt. Insbesondere seine Antwort von 1909 auf die Verachtung der mehrsprachigen Kulturen eines Schweizer Journalistenkollegen, in der er das Konzept der »Mischkultur« als formatives und völlig positives Attribut der luxemburgischen kulturellen Identität etabliert, wirkt auch heute noch identitätsstiftend (vgl. Weber 1909 u. 1911). Ein Großteil der wissenschaftlichen Publikationen der letzten 20 Jahre zum Thema Mehrsprachigkeit in Luxemburg stellt Webers Konzept der Mischkultur zu Recht als Pfeiler von nationalen Kulturtheorien und Identitätsmodellen hin. Der vorliegende Beitrag möchte zu einer differenzierteren Betrachtung des Artikels von 1909 im Kontext von Webers Gesamtwerk anregen und anhand der Quelle der Feuilletonserie Abreißkalender (1913–1940) deutlich machen, dass für Weber die Mischkultur keine permanente Identität bedeutete, sondern einen andauernden Prozess des Negoziierens, der Zueigenmachung, der Ablehnung, der Assimilierung und der Emanzipation von interkulturellen Elementen. Weber tritt zwar in diesem Text für die Wertschätzung der luxemburgischen Kultur ein, stellt aber im Laufe seiner journalistischen und literarischen Laufbahn selbst sprachliche Qualitätsstandards auf, die durch interkulturellen Vergleich, die Bildung, Kompetenz und Ausdrucksfähigkeit seiner Leser infrage stellen. Wenn auch Weber seinen Identitätsbegriff nie an klar definierten binären Dichotomien von fremd und eigen festmacht, so fordert er doch wiederholt die einwandfreie Beherrschung mehrerer Standardsprachen, indem er klar zwischen Fehler und korrektem Gebrauch unterscheidet. Während die Mischung von französischen, deutschen und luxemburgischen Kulturelementen für Weber den verallgemeinerten Luxemburger ausmacht, stellt er sprachliche Interferenzen als Fehler dar. Diese Fehlerhaftigkeit ist stark kontextabhängig: Im Sprachgebrauch der Bevölkerung stellt Weber Vermischungen von Sprachsystemen oft als Zeichen von Inkompetenz und Anmaßung dar, aber im Bereich der Kunst zeugen sie, ihm zufolge, von Kreativität, Individualität und luxemburgischer Eigenart. Besonders in den ersten Jahren seines Feuilletons, ca. 1913 bis 1920, beschäftigt sich Weber mit linguistischen Notionen der Korrektheit, die in den 1930er-Jahren stark an Bedeutung verlieren. In diesem Jahrzehnt sind Feuilletons, in denen Weber versucht, das Kunstpotenzial der Luxemburger Literaten genau zu lokalisieren, häufig.

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Die Muttersprache als historisches Konstrukt Zu Batty Webers Lebzeiten hatten Alteritätstheorien grundlegende Bedeutung für das kulturelle Selbstverständnis verschiedener Nationen. Beginnend im 18. Jahrhundert, stützten sich Frankreich und später auch das heutige Deutschland auf klar definierte Fremdheitskonstruktionen. Ziel war es, die Zugehörigkeit der Bürger nicht nur nach außen hin zu unterstreichen, sondern sie auch nach innen hin unabänderlich zu machen. Werkzeug hier war unter anderem die Sprache. Wie Yasemin Yildiz 2012 hervorgehoben hat, war das Einsprachigkeitsparadigma, das zwischen Sprache und Fehler, Kompetenz und Inkompetenz sowie eigen und fremd unterscheidet, verantwortlich für das Verschwinden einer universellen Mehrsprachigkeit. Durch gezielte sprachpolitische Praktiken wurden Sprachvarianten standardisiert und marginalisiert. Yildiz unterstreicht, dass die Einsprachigkeit eindeutig als eine Erfindung und nicht als Urzustand einer präglobalisierten Welt anzusehen ist. Genauso widerlegt sie die Annahme, dass die Muttersprache die einzig natürliche und dafür einzig präzise Sprache eines Individuums darstellt: »According to [the monolingual] paradigm, individuals and social formations are imagined to possess one ›true‹ language only, their ›mother tongue‹, and through this possession to be organically linked to an exclusive, demarcated ethnicity, culture, and nation« (Yildiz 2012: 2). Nicht nur wird die Muttersprache zur Basis nationaler Zugehörigkeit, sie erlangt auch den Status der fehlerlosen, instinktiv exakten Sprache des geborenen Experten. Diese kategorische Aufwertung der standardisierten Muttersprache bedeutet eine gleichermaßen strategische Verdrängung von abweichenden linguistischen Varianten und darauf basierenden kulturellen Produkten.

Mischkultur und Dreisprachigkeit Wie Sonja Kmec jüngst bemerkt hat, ist Batty Webers »Skizze der Mischkultur kein ausformuliertes, soziologisch oder philosophisch ausgereiftes Konzept« (Kmec 2014: 55), sondern eine Stellungnahme zu fruchtlosen Differenzkonstruktionen. Weber hat diesen Begriff nicht selbst geprägt und reagiert in erster Linie auf zeitgenössische Kulturdiskussionen, die versuchen, die Nation verbal zu umreißen. Trotzdem bezeichnet Claude D. Conter die Idee der Mischkultur als ein »genuin luxemburgisches Konzept«, weil es sich »dezidiert von dem Identitätsentwurf und der Kulturvorstellung des 19.  Jahrhunderts abgrenzt« (Conter 2007: 23). Laut Weber und vielen seiner intellektuellen Zeitgenossen ist die geografische Lage Luxemburgs zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Welt Bedingung für eine multilaterale, kaleidoskopische und absolut heterogene Identität:

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A nne -M arie M illim Es ist ein tiefverwurzeltes Gefühl nationaler Abrundung, welches die Viertelmillion Einwohner dieser Neutralitätsinsel umspannt, und das hat auch der aus französischen, deutschen und belgischen Einflüssen zusammengesetzten Kultur ihren Charakter gegeben. (Weber 1909: 122)

Entgegen dem Einsprachigkeitsparadigma der allgemein als solche anerkannten Kulturnationen beweise die Mehrsprachigkeit Luxemburgs keinesfalls, wie vom Schweizer Journalisten vorgeworfen, eine »geistige Unfruchtbarkeit« (ebd.). Im Gegenteil, diese »Kreuzungskultur«, wie Weber sie unter anderem nennt, beweise den »ausgeprägten Individualismus« der Luxemburger, die sie sich »zu [ihrem] persönlichen Gebrauch nach Maß gefertigt« haben und die ihnen »wie angegossen« passt (ebd.). Die beiden Nachbarkulturen haben somit nicht den gleichen Stellenwert: Französisch gilt laut Weber als Amts- und Kunstsprache, während Deutsch im materiellen Leben vorherrscht. Kommunikationssprache ist das Luxemburgische, das Weber nachdrücklich als Muttersprache bezeichnet. Wie Péporté u. a. in Inventing Luxembourg (2010) gezeigt haben, wurde die luxemburgische Sprache erst nach und nach, beginnend Mitte des 19. Jahrhunderts, zu einem wichtigen Identitätsträger. Besonders die sogenannte Dialektliteratur von Dicks, Lentz und Rodange wird als instrumental in der Nationalisierung der Sprache angesehen. Zum Zeitpunkt der Erscheinung von Webers Schrift wird das Luxemburgische nicht selten als Muttersprache anerkannt, ist aber nicht Teil der allgemein als offiziell angenommenen Zweisprachigkeit, die das Französische und das Deutsche beinhaltet. Wegen seiner expliziten Anerkennung der Dreisprachigkeit wird Webers Artikel kruziale Bedeutung in der Aufwertung des Luxemburgischen beigemessen. Weber sieht die Muttersprache aber nicht als selbstständige Kultursprache, da ihre eingeschränkte Verständlichkeit einen translingualen literarischen Austausch nicht erlaubt. Obwohl die Luxemburger somit keinen »Schriftsprachencharakter« haben, ist ihnen »wohl in [ihrer] zusammengeflickten Kulturhaut« (Weber 1909: 124). In anderen Worten: weil die Luxemburger nicht durch die bloße nationale und linguistische Angehörigkeit an eine einsprachige Kulturnation als Individuen automatisch Wertschätzung erlangen, müssen sie ihr kulturelles Selbstbewusstsein aus der eigenen Pastiche-Identität ziehen. Gerade hierin, in der aktiven Konstruktion eines kulturellen Selbstbildes, liege Luxemburgs ›Eigene‹. Im Kontrast zur in Webers Augen instinktiven und daher passiven Naturhaftigkeit der Einsprachigkeit zelebriert er hier die aktive Kulturhaftigkeit der Identitätsfabrikation.

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Abreißkalender und Alltagsgeschichtsschreibung Webers Feuilletonserie Abreißkalender kann als Prozess der kulturellen Selbstsignifikation angesehen werden. Der Autor ist in diesen täglich erscheinenden Texten bestrebt, das gelebte Leben in Luxemburg zu dokumentieren und zu verarbeiten. So erzählt er vom Alltagstreiben um ihn herum, seinen Wald- und Stadtspaziergängen, dem Grauen des Krieges, der Modernisierung und Veränderung der Stadt Luxemburg sowie seinen Gedanken zur nationalen Kultur und Identität. Diese meist realitätsgetreue, oft stark autobiografische Wiedergabe seines eigenen Erlebens wie auch die erfundenen Erlebensstrukturen seiner Fiktion sind Versuche, »Erzählgemeinschaften« zu schaffen, die nach Wolfgang Müller-Funk (2008: 14) die Basis von Kulturen darstellen. Weber propagierte in seinem Feuilleton keine nationalistischen Ideen, sondern sah seine nationale Tat darin, es seinem Publikum durch das Lesen, Zuschauen und Mitfühlen zu erlauben, Identitäten zu erproben. Obwohl Weber nicht selten die politische Aktualität diskutiert, trennt er, soweit dies möglich ist, Politik von Kultur. Selbst nach der Invasion Luxemburgs durch deutsche Truppen am 2. August 1914 und nach der Machtergreifung Hitlers unterscheidet Weber zwischen der militaristischen Politik Deutschlands, seiner Kulturpolitik und seiner für ihn ›wahren‹ Kultur. Anders als die auf Französisch schreibenden Autoren Marcel Noppeney und Nicolas Ries, die ebenfalls versuchten, das luxemburgische Kulturbewusstsein zu stärken, spricht Weber seine Leser in Deutsch, einer in Luxemburg problemlos verstandenen Sprache, an und schafft Vertrautheit durch seinen ansprechenden, freundlichen Tonfall. Die für sein Feuilleton typische Verbalisierung von visuell erfassbarem natürlichem, künstlerischem und sozialem Allgemeingut lädt den Leser zur Identifikation ein. Durch die intensive Beschäftigung mit den »mißachteten Tonklumpen des Alltäglichen«, die laut Christian Jäger und Erhard Schütz (1999) den Feuilletonisten der 1920er-Jahre ausmacht, betreibt Weber durch seine »kleinen Texte« (1999: 258) ein demonstratives kulturelles Vordenken, um den Leser zum Nachdenken zu bewegen. Er setzt sich, wie seine deutsch-österreichischen Zeitgenossen, die Aufgabe, »eine Ethnologie der Alltagswirklichkeit und ihrer Dingwelt zu treiben« und so die »Unverbindlichkeit und Leichtigkeit« (ebd.:  264) des Selbstverständlichen in das kulturelle »Speichergedächtnis« (Assmann 2006: 140) der Gesellschaft aufzunehmen. Trotz der multiplen Themen- und Stilrichtungen, die das Feuilleton auszeichnen, ist ersichtlich, dass Weber es strategisch einsetzt, um das Bewusstmachen des Eigenen in den nationalen Alltag zu integrieren. Während sich Webers vielzitierter Artikel über Mischkultur primär an ein allgemein deutschsprachiges Publikum richtet, da er zuerst in einer Münchner Zeitung herauskam und erst 1911 in der Luxemburger Zeitung, ist das Feuilleton vorrangig an Luxemburger Leser adressiert. Diese kurzen Texte, die Tausende von Lesern erreichten, zei-

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gen, wie Weber die Mehrsprachigkeit lebte und erlebte und was er von seinen mehrsprachigen Lesern erwartete.

Mehrsprachigkeit als Muttersprache Webers Überlegungen zur Mehrsprachigkeit konzentrieren sich größtenteils auf die linguistische Kompetenz der verallgemeinerten »Luxemburger«. Trotz seines Lobes der dreisprachigen Mischkultur beurteilt er das Können der Sprecher anhand von Kriterien, die auf dem von Yildiz beschriebenen Einsprachigkeitsparadigma beruhen. Er besteht auf einer standardsprachlichen Korrektheit, wenn er die luxemburgischen Varianten des Deutschen und des Französischen als Fehlerquellen darstellt, was die Grammatik, die Orthografie und die Aussprache angeht. Wenn auch der Artikel von 1909 oft als Plädoyer für Toleranz, Akzeptanz und Selbstbewusstsein gesehen wird, zeigt die vorliegende Analyse des Abreißkalenders, dass Weber selbst das von ihm gepriesene Wohlsein in einer »zusammengeflickten Kulturhaut« (Weber 1909: 124) für seine Leser nur schwer möglich macht. So sind seine Beschreibungen der Sprachsituation oft kritisch, rügend oder spöttisch. Dadurch, dass Weber die Brückenfunktion der Luxemburger Kultur in den Vordergrund rückt, kann er, so Conter, den nationalistischen Akzent auf »Geburt, Sprache und Rasse« der einsprachigen Nachbarkulturen umgehen (vgl. Conter 2007: 23). Trotzdem wird im Feuilleton ersichtlich, dass Weber öfters zu einer strengen Überwachung des korrekten Ausdrucks tendiert und Interferenzen kontrollieren und zum Teil unterbinden möchte. Er erwägt zwar, dass Luxemburgs kulturelle Muttersprache eigentlich aus der Mehrsprachigkeit besteht, wenn er die Frage »ob wir Luxemburger in den Geist der deutschen und französischen Sprache soweit eingedrungen seien, daß wir französisch oder deutsch denken« 1918 folgendermaßen beantwortet: »Da will ich ihnen sagen, daß wir Luxemburger niemals rein französisch, deutsch oder luxemburgisch denken, sondern jeden Satz, jeden Satzteil, jedes Wort in der Sprache, in der sich der Ausdruck am nächsten und am klarsten darbietet« (Weber 1918). Da die Luxemburger sich ihr Vokabular aus drei Sprachen zusammensetzen, ist die Mehrsprachigkeit demnach fundamental in ihrer Ontologie verankert. In der Theorie wehrt sich Weber gegen das, was »das Einsprachigkeitsparadigma glauben macht, [nämlich] dass nicht die Sprache der Mutter, sondern die Standardsprache der Schule die Muttersprache sei« (Dembeck/Mein 2012: 135). Dennoch wird im Abreißkalender deutlich, dass ihm eine Reinheit in Sprache und Ausdruck vorschwebte, die die Mehrsprachigkeit als Nebeneinanderstellung von standardsprachlich beherrschten Sprachsystemen darstellt.

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Dreifache Einsprachigkeit Die in Luxemburg gesprochenen Sprachen interpenetrieren sich unablässig. Die Konsequenzen dieser Verwebung sind für Weber komplex: während die Integrierung von Fremdwörtern im Luxemburgischen oft als schwülstig empfunden wird, stellt das Eindringen des Luxemburgischen in den Gebrauch von Deutsch und Französisch oft die Bildung des Sprechers infrage. Auch wenn Weber diese Verschmelzung der Kulturen für ein Brückenland als natürlich einschätzt, so zeigt sein Feuilleton, dass er diese gegenseitige Infiltrierung zwar für unausweichlich, aber nicht unbedingt für wünschenswert hält. Die »interkulturelle Kompetenz« der Luxemburger, um Michael Byrams Begriff (2003) zu verwenden, die sich für Weber zwischen und in drei Kulturen situiert, wird hier im Vergleich mit der Perfektion muttersprachlicher Einsprachigkeit als leicht aber deutlich minderwertig dargestellt. Die regelmäßig auftretende Kritik am gesprochenen und geschriebenen Deutsch und Französisch der Luxemburger erweckt den Anschein, dass Weber eigentlich ein sprachliches Umfeld vorschwebte, in dem die drei Sprachen in einer standardisierten Form coexistierten. Seine Kritik ist sicherlich oft sanfte Persiflage, aber die Plaudereien bezüglich der Mehrsprachigkeit idealisieren tendenziell die einsprachige Perfektion und einen Zustand der dreifachen Einsprachigkeit.

Herausforderungen der Sprechsprache(n) Aussprache und Anmaßung Seit den Anfängen seines Feuilletons versucht Weber die kulturelle Atmosphäre des mehrsprachigen Alltags wiederzugeben. Sein Bericht seines Abendspazierganges von 1913, der ihn am Konvikt Internat vorbeiführt, veranschaulicht die Anwesenheit von Deutsch und Französisch im Luxemburger Alltag sowie die eigenwillige Aussprache der Luxemburger: »Il ettéd un petit navi-hirö […] Il entreprid un long voyja-hageö« (Weber 1913). Durch solch unsachgemäße Aussprache vergewaltigen, laut Weber, die Luxemburger die französische Sprache: »Wir [reißen] ihr sozusagen das zierliche Seidengewand ihrer Aussprache vom Leibe und [stecken] sie in das grobe Moltong unseres primitiven Zungenschlags« (ebd.) hinein. Dem Deutschen gebührt dasselbe Los, da sich die luxemburgische Aussprache durch »das bequeme Auf und Ab eines primitiv skandierten Rhythmus« (ebd.) auszeichnet. Eine weitere Charakteristik ist die übertriebene Elipsierung von Vokalen: »Heil’ge Marja Mutter Gotts Bitt fir ons Sinder jetzt und in der Stundseres Todsam« (ebd.). Webers Warnung, dass die Aussprache des Luxemburgischen nicht einfach für andere Sprachen übernommen werden kann, bezeugt, dass er den Luxemburgern eine gewisse Ignoranz vorwirft.

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In seiner Einschätzung des Luxemburger Standarddeutschen insistiert Weber, dass das luxemburgische »Platt« in allen kulturellen Gebieten dominiert: »Der Gebrauch des Deutschen im Verkehr der Luxemburger unter einander beschränkt sich auf einige wenige, ganz bestimmte Fälle« (7. November 1914). Weber vergleicht die Länder, in denen das Idiom als »négligé« neben der Standardsprache existiert, mit dem Luxemburger Kontext. Er beleuchtet, dass das Deutsche für die Luxemburger zwar eine leicht verständliche und leicht erlernte Sprache darstellt, es aber an die Selbstverständlichkeit einer Muttersprache nicht herankommen kann. In einem Feuilleton, das sich offensichtlich mit der Entwicklung des Telefons befasst, erfindet Weber 1914 einen Dialog zwischen zwei luxemburgischen Hausfrauen, um Interferenzen zu veranschaulichen: »A bonjour. Habt ihr euer Quetschengebeiß schon gekocht? Unseres hat es ein wenig lanscht die Leppen bekommen, das Mädchen hat zuviel gemaulafft […] Müßt ihr schon erim gehen! Dann je als, arwoar« (ebd.). Diese humoristische Illustration der Hybrididät des Luxemburger Standarddeutschen zeigt, dass es für die Einheimischen vor allem Schriftsprache ist. Im Hinblick auf den historischen Kontext des vorliegenden Feuilletons ist hervorzuheben, dass es als Kritik an der zeitlich begrenzten Verordnung des deutschen Militärs, die die Luxemburger zwang, miteinander deutsch zu sprechen, gelten könnte. Öfters mokiert Weber sich der vermeintlichen Schüchternheit, der Faulheit und des Perfektionismus der Luxemburger beim Deutschsprechen. Interferenzen des Luxemburgischen im Deutschen moralisiert er mehrmals als »Sprachuntugenden«, die seiner Meinung nach dem Mangel an muttersprachlicher Präzision und Sicherheit entspringen: Das deutsche Sprachgefühl ist mit uns nicht so, wie mit dem geborenen Deutschen, als etwas glasklares, als ein Instinkt von scharfer Deutlichkeit verwachsen. Wir empfinden dem Klang des Deutschen gegenüber nicht, dass es so und nicht anders sein muss, sondern vielmehr, daß es auch anders sein könnte. Wer das ›anders‹ wagt, kann Glück haben und als ein Neutöner gepriesen werden. Wer Pech hat, fällt einem Nörgler unter die Finger und wird liebenswürdig ironisch abgeschlachtet (Weber 1916a).

Weber legt hier die Situation für den luxemburgischen Journalisten dar, die sicherlich auf alle Sprecher und Schreiber zutrifft. Die einheimische Interpretation des Deutschen ist gefolgt von einer zweiten Interpretation durch einen luxemburgischen oder ausländischen Kritiker, der die linguistische Qualität der Äußerung prüft. Die Originalität der sprachlichen Entscheidungen wird entweder als charmante Kreativität, als Prätention oder als Unfähigkeit gedeutet. So ist sich der Einheimische nicht sicher, überhaupt »Sprachigkeit« (Dembeck 2014: 13) auszuüben. In diesem Feuilleton wird deutlich, wie hoch Weber die vermeintlich angeborene Kompetenz von Muttersprachlern einschätzt, da er sie als instinktive Sprecher der Standardsprache darstellt. Dass viele, wie in einem

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vorangehenden Feuilleton besprochen, zuerst ein Platt erlernen, zieht er hier nicht in Betracht. So vergleicht er die Sprachkompetenz der Luxemburger mit der eines idealisierten, nahezu utopischen Muttersprachlers, was die Ersteren diskreditiert und sicher viele seiner Leser verunsicherte. Ähnlich kritische Einschätzungen des Sprachgebrauchs, der unter anderem als »Nationalfehler« (Weber 1916c) gesehen wird, finden sich häufig im Abreisskalender. Weber, der als Feuilletonist den notwendigerweise hybriden Sprachgebrauch der Luxemburger öffentlich kommentiert, ist auch selbst der Kritik ausgesetzt und wird für seine Bewertungen angegriffen, wie dieses Feuilleton zeigt: »Gut, ich ergebe mich. Ich hatte Unrecht, blutiges Unrecht, als ich das phantastische Deutsch, das man in unsern Blättern antrifft, als einen Nationalfehler geißelte« (Weber 1916b). Die potenzielle und, für Weber, zu erwartende Fehlerhaftigkeit der Luxemburger Varianten von Deutsch und Französisch wird hier auf eine nationale Ebene extrapoliert. Während durch stellenweise Hybridität, Ungenauigkeit oder Unwissen der linguistische Hintergrund in einheimischen Texten oder Äußerungen durchzuscheinen vermag, erhebt Weber hier den gesamten Sprachgebrauch der Luxemburger als untragbar unsprachlich. Das in Luxemburg gesprochene und geschriebene Deutsch ist für Weber gänzlich verschieden vom Standarddeutschen, wie sein Feuilleton von 1916 über die Sprachen in der Kammer zeigt: Wir unter uns halten ja allgemein das, was diese Herren reden, für deutsch. Indes ein Deutscher, der zufällig einmal in unsere Kammertribüne gerät, horcht minutenlang auf, bis er sich klar darüber wird, dass diese fremdartigen Laute seiner Heimatsprache angehören (Weber 1916c).

Der »Nationalfehler« besteht hier in der exzessiven Elision von Vokalen, wie in »gudundbillig« (ebd.). Die Aussprache, genau wie der Stil, etablieren das Deutsch der Luxemburger für Weber als Parodie des Standarddeutschen. Obwohl sein Beitrag an dieser konstanten Beurteilung des allgemein gesprochenen Deutschen durch die Intellektuellen nicht zu leugnen ist, versucht Weber 1917, diese nationale Selbstkritik zu bremsen: »Warum sollten wir im Deutschen überhaupt nicht unsere berechtigten Eigentümlichkeiten geltend machen? Wir haben tatsächlich unzählige« (Weber 1917b). Neben der eben illustrierten Nörgelei setzt Weber sich auch manchmal gegen das linguistische Panoptikum und für die selbstbewusste Akzeptanz von heimischen Varianten ein.

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Herausforderungen der Schriftsprache(n) Korrektheit, Instinkt und Prätention Wie sein Zeitgenosse und Kollege Nicolas Ries empfindet Weber die Distanz der Luxemburger gegenüber dem Französischen noch größer als gegenüber dem Deutschen. Die totale Beherrschung der französischen Grammatik, die in der Schule gefordert wird, provoziert laut ihnen einen gewissen Ekel vor dieser komplizierten, theoretischen und ultimativ fremden Sprache. Als Liebhaber der französischen Kultur sieht Weber die Schule 1916 als Barriere, »damit unsere Kinder nicht lernen sollen«. Da das Schulsystem nicht einsieht, dass »[d]ie Sprache die Grammatik gemacht [hat], nicht die Grammatik die Sprache«, ist es der Grund dafür, dass das Französischbuch als »der Inbegriff alles Schwierigen« (Weber 1916d) gilt. Laut Weber transformiert die rein passive Sprachpraxis der Schule die Kultur in eine ermüdende intellektuelle Übung ohne erkennbares Ziel. Trotz dieser Kritik der Inflexibilität und Strenge der Schule besteht Weber selbst auf einem als korrekt angesehenen Gebrauch des Französischen. So weist er seine Leser auf Fehler hin, die für Luxemburger typisch sind. Ein phonetisch verfasster Brief eines Franzosen, von einem Freund weitergeleitet, dient ihm 1919 hierzu als Beispiel. Er will zeigen, »wie schwer die französische Rechtschreibung ist« (Weber 1919). Hier ein kurzer Ausschitt: »Moncher amit yeuvou sai crideumai nouvail pour an reseuvoir daivotre yeucroi qeuvousait an bonnesanté« [»Mon cher ami, Je vous écris de mes nouvelles pour en recevoir des vôtres, je crois que vous êtes en bonne santé«] (ebd.). Da Weber davon ausgeht, dass seine Leser die humoristische Seite dieser Sprachprobleme erkennen können, bestätigt er die Überlegenheit ihrer linguistischen Kompetenz. Trotzdem ermahnt er sie in einem lehrerhaften Ton: »Sie mögen über den Brief lachen so viel Sie wollen, ich behaupte, er enthält speziell für uns Luxemburger wertvolle Fingerzeige über die Aussprache einzelner Laute« (ebd.). Als pädagogisches Utensil zeigt der Brief den Lesern, dass eine instinktive Aussprache des Französischen unzureichend ist und öffentlich lächerlich gemacht werden kann. Auch wenn Weber sich meist selbst in das kollektive Subjekt »wir Luxemburger« einbezieht, so distanziert er sich doch merklich von jenen luxemburgischen Sprechern, die nicht die gleiche Leichtigkeit des Ausdrucks besitzen. Im Allgemeinen ist Weber recht tolerant, was ehrliche linguistische Imperfektion angeht. Seinen Argwohn und Hohn erzeugen aber wiederholt der Wunsch von Sprechern, sich in einer Fremdsprache durch affektierte gehobene Wortwahl sozial abzuheben, wie in diesem Text von 1920: »Wenn nun ein Luxemburger beim Deutschreden vornehm tun und gelehrt erscheinen will, hängt er zuweilen eine Deklinationsendung falsch an und blamiert sich. So sagt z. B. Herr Jacoby in der Kammer regelmäßig: Herrn Erpelding hat gesagt« (Weber 1920).

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Diese unnütze und ungrammatikalische Ornamentierung der Sprache scheint ihm unverzeihlich. Das Luxemburgische wird in den Blättern des Abreißkalender, die ja in Deutsch verfasst sind, als exotische, museale, aber trotzdem allbekannte Sprache dargestellt. Wie schon 1909 bemüht sich Weber 1917 um die Anerkennung des Luxemburgischen als eine der einheimischen Sprachen: »Wir bilden uns ein, wir seien ein zweisprachiges Land. Einige kommen der Wahrheit näher. Sie sagen: wir sind dreisprachig, indem sie dabei unsere Muttersprache mitrechnen, die die anderen merkwürdigerweise als nicht vorhanden anzusehen scheinen« (Weber 1917a). Eine der Missionen des Abreißkalenders als Spiegel und Überwacher der Luxemburger Sprache, Kultur und Gesellschaft ist es, die Letzteren zu studieren, zu erhalten und national und international durchzusetzen. Fern von ideologischen präservationistischen Predigten illustrieren die Feuilletons, was Weber die »Luxemburger Eigenart« nennt. Mit dem Ziel, die Leser in einer Wissensgemeinschaft zu vereinen, streut Weber luxemburgische Wörter und Phrasen in seine deutschsprachigen Texte. Oft hat diese gewollte Sprachvermischung den Zweck, die Härte, Offenheit und Mündlichkeit des Luxemburgischen hervorzuheben. Durch diese textinterne Mehrsprachigkeit möchte Weber seinen Lesern das »Eigene« als kennens- und wissenswert nahebringen und so ihr kulturelles Selbstbewusstsein wachrufen. Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts waren das Studium und die Musealisierung der Luxemburger Kultur noch in den Anfängen, was die Wichtigkeit von Batty Webers Identitätsarbeit noch verstärkt. Sein Feuilleton ist ein Forum für Alltagsgeschichtsschreibung, in dem er idiomatische Ausdrücke und Formulierungen, die am Verschwinden sind, diskutiert und festhält. So fragt er 1914: »Wissen Sie was eine ›Deckelsbox‹ ist?« und listet 1915 auf, »was man als Kind alles aß«, wie der »Bocksbart«, »Schuedi«, »Kuckusbrot« und die »Verwuerelten« (Weber 1915a). Mit dieser Einladung zur Erforschung des eigenen Kulturguts möchte Weber durch gemeinsames Wissen das Zugehörigkeitsgefühl der Leser zu ihrem Land stärken. Er praktiziert also in diesem Sinne konkretes nation-building. Als informeller Alltagshistoriker sieht er seine Rolle aber auch in der Wiedererweckung eines versteckten Gedächtnisses: Tausend Fragmente unserer Geschichte liegen in Redensarten, Namen von Häusern oder Stadtwinkeln, Flur- und Waldbenennungen begraben. Aber diese alten Zeugen vom Leben unserer Väter, Groß- und Urväter bleiben für uns stumm, wenn niemand versteht, was sie sagen wollen. (Weber 1915b)

Weber lokalisiert das kulturelle Gedächtnis unter anderem in der Sprache. In diesem Sinne stellen leere oder falsch zugeschriebene Referenzen einen Verlust von identitätstragender Vergangenheit dar, die er in seinem Feuilleton aufarbeitet und aufbewahrt. Oft veröffentlicht Weber auch Briefe, Anekdoten, Fragen

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zur Etymologie oder zur Entstehung von kulturellen Gebräuchen, die seine Leser ihm zusenden. Durch diese Praxis wird sein Feuilleton mehrstimmig und erweitert den Bewusstseinshorizont der Leser.

Mehrsprachigkeit und Luxemburger Literatur Batty Webers Feuilletons sind tendenziell kaum je einsprachig gehalten, da er überwiegend die textinterne Mehrsprachigkeit als Stilmittel einsetzt. Der Gebrauch von mehreren Sprachen ohne Übersetzung kann als Bestätigung der interkulturellen Kompetenz des Lesers gesehen werden und verleiht Text, Autor und Leser einen gewissen kosmopolitischen, allwissenden Flair. Diese Einwürfe rufen Überraschung hervor, indem sie das Bekannte in einem neuen Kontext erscheinen lassen. Sie können aber auch belehrend und besserwisserisch sein und die Bildung des Autors anpreisen. Im Abreißkalender zitiert Weber zum Beispiel oft lange Abschnitte auf Französisch, ohne eine Übersetzung hinzuzufügen. Er unterlässt es, auch manchmal lateinische Phrasen zu übersetzen, und 1938 erscheint sogar ein Auszug von 20 Zeilen auf Englisch (vgl. Weber 1938). So scheint er an der Verständnisfähigkeit seiner Leser wenig zu zweifeln oder aber er verlangt, dass sein Publikum ihn eigentlich verstehen müsste, und entzieht ihm deshalb seine Führung durch den mehrsprachigen Text. Als Luxemburger, der auf Deutsch, also in einer Zweitsprache, schreibt, ist Weber ein translingualer Autor. David Martyn gibt in seiner Untersuchung des »translingualen Ichs« das Beispiel der japanischen Schriftstellerin Yoko Tawada, die auf Japanisch und Deutsch schreibt und die die Diskrepanz von persönlichem Gefühl und den sprachlichen »Grenzen des Sagbaren« (Martyn 2008: 78) thematisiert. Von einem autobiografischen Standpunkt klagt Weber selbst nicht über die Problematik, die eigenen Gedanken und Gefühle sprachlich ausdrücken zu können, und bedient sich selbstbewusst des Deutschen. Er bezieht sich zwar selbst direkt in die Kritik des Sprachgebrauchs von »uns Luxemburgern« ein, aber da er selbst die genannten Fehler nicht macht, korrigiert er eher die Anderen als sich selbst. Webers Diskussionen der Werke der translingualen luxemburgischen Autoren zentrieren häufig und vorrangig auf der Ausdrucksfähigkeit ihrer Sprache und diskutieren die Diskrepanz zwischen Fehler und Kreativität. Das Gelingen eines literarischen Werkes hängt in ihrem Fall, so Weber, von der Qualität des »expressiven Fehlverhaltens« des Autors ab (in der Terminologie von David Martyn [ebd.: 80]). Die ›Qualität eines Fehlers‹ ist in diesem Falle kein Oxymoron, denn die Formulierung beschreibt Webers Auffassung, dass sich der translinguale Autor immer außerhalb der standardisierten Norm der gewählten Schriftsprache bewegt. Die Interferenzen seiner Erstsprache heben sich hierin als fremde Elemente ab. Diese sprachlichen Fremdkörper können für Weber, wie auch für Martyn, Zeichen einer »besonderen Individualität oder Eigenheit

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[sein], die das [vermeintliche] Unvermögen in sein Gegenteil, in sprachliches Können oder gar Überlegenheit wandeln« (ebd.: 81). Dieses Spannungsfeld sieht Weber in seinem kulturellen Umfeld verankert. So kontrastiert ein Feuilleton vom 10. April 1926 die zeitgenössischen Ansichten zur »Sprachkorruption« der Luxemburger des freidenkenden Autors Frantz Clément und die des Grammatikforschers René Engelmann von 1907: Was ist eine alte Kultursprache doch für ein reizvolles Objekt psychologischer und ästhetischer Betrachtung! Ich weiß es nicht, ob Ihr, meine Landsleute, meinen Enthusiasmus für alles, was die hochanständigen Menschen ›Sprachkorruption‹ nennen, würdigt oder verlästert. Grenznaturen wie wir Luxemburger haben immer einen riesigen Respekt vor der sprachlichen Norm, vor Feinheit und Würde. [Sie] sind schicksalsmässige Puristen, weil sie fürchten, in die Roheit [sic!] hineinzugeraten, sobald sie den sicheren Boden der akademischen Tradition verlassen. Ich fühle mich beinahe als Aussätziger, weil ich für die Verheerung der französischen Sprache durch das Volk eine verruchte Zuneigung empfinde. (Clément: Pariser Briefe vom 30. März 1926, zit. n. Weber 1926)

Clément befürwortet die Sprengung von Sprachgrenzen und die Aufwertung von verschiedenen Interpretationen der Kultur- oder Standardsprache. Wie Weber erwähnt auch Clément die Angst der Luxemburger, sie könnten sich durch vermeintliche Fehler als inkompetent und wertlos erweisen. Anders als Weber zelebriert Clément die Aneignung und Verwüstung der Standardsprache durch die translingualen Sprecher. Als Gegenbeispiel dieses Plädoyers für kreative und linguistische Freiheit führt Weber den Sprachforscher René Engelmann an: Durch bewusste oder unbewusste Verschleierung der Abstammung werden neue Wörter geschaffen, die dann natürlich nur im luxemburgischen Sprachschatz vorkommen und entweder etymologisch in der Luft hängen oder zu den abenteuerlichsten Deutungen Anlass geben. (Zit. n. Weber 1926)

Engelmann beschreibt den umgekehrten Fall – die Interferenz von Deutsch und Französisch im Luxemburgischen. Aber im Gegensatz zu Clément sieht er diese Neologismen nicht als »Bereicherung«, sondern als »Wortverstümmelung«. Für Weber sind soziale Klasse und intellektuelle Kompetenz eng verbunden. Auch wenn er Clément zugesteht, dass »die Bereicherung einer Sprache immer von unten« kommt, so ist es gerade die Sprachmacht des ungebildeten Volkes, die er mit Engelmann zähmen möchte: Der Volksmund hat sich zahllose Wörter zurechtgekaut, bei deren Umgestaltung kein Gesetz, sondern nur Unwissenheit und Bequemlichkeit maßgebend waren. […] Was kann es für einen Zweck haben, in ein luxemburgisches Wörterbuch allerhand Wortverrenkungen aufzunehmen und ihnen ein abenteuerliches Pedigree anzuhängen, wo es

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A nne -M arie M illim doch das einfachste wäre, den Kindern in der Schule die richtige Form mit auf den Weg zu geben! (Ebd.)

Hier zeigt sich die politische Komponente von Webers implizitem Glauben an die Trennung und Standardisierung der Sprachen. Die instinktive, nicht unbedingt intellektuell geplante Luxemburgisierung von anderen Sprachen gilt als wertloser Sprachabfall gerade wegen der muttersprachlichen Natürlichkeit, mit der sich die Einheimischen die Fremdsprache zu eigen machen. Würde die Fremdsprache mit System angeeignet, wie scheinbar von Intellektuellen, so würde aus Abenteuer legitime Wissenschaft oder auch Kunst.

Die Kunst der Interferenz Weber erstellt im Abreißkalender eine für einen Alltagshistoriker unerwartete Dichotomie zwischen gelebter Kultur und den Gefilden der Kunst auf. Während der ungeregelte oder unregelhafte Sprachgebrauch, den er vonseiten der verallgemeinerten Bevölkerung beobachtet, ihm kritikwürdig erscheint, applaudiert er eigenwilligem Schreibstil bei Schriftstellern. So zeigt sich ein bedeutender Kontrast: während Interferenzen im umgangssprachlichen Kontext ihm als sprachliche Inkompetenz und deshalb als nichtluxemburgisch vorkommen, sind sie in literarischen Texten Zeugnis der Luxemburger Eigenart. Einige von Webers literarischen Rezensionen der 1930er-Jahre thematisieren die Zueigenmachung der deutschen Sprache durch luxemburgische Autoren. In diesen Fällen wird die Abweichung vom standardsprachlichen Ausdruck dadurch legitimiert, dass sie sich explizit im Bereich der Kunst vollzieht. Ein erstes Beispiel ist Webers Kritik von Peter Fabers Novelle »Die große l’Amour« von 1932: Seine Form mag für deutsche Leser stellenweise befremdend wirken, weil sie dem Bedürfnis nach Unmittelbarkeit zuweilen durch Einflechtung mundartlicher Wendungen gehorcht. Aber es ist möglich, dass das als ein Mangel nur von denjenigen Deutschen empfunden wird, die sich des Anklangs grade aus dem Luxemburgischen bewusst sind und ihn nur deshalb als undeutsch empfinden (Weber 1932).

Weber hebt hier die intendierte Interferenz des Luxemburgischen als Stilmittel hervor. Als Kritiker nimmt er eine translinguale, fast zirkulare, Stellung ein, da er als Luxemburger das Deutsche eines Luxemburgers durch die Augen eines Deutschen zu sehen versucht. Obwohl Weber hier innerhalb von Standardsprachen operiert, gibt er implizit zu, dass diese Grenzen schwimmend und subjektiv geprägt sind. Luxemburgismen sind hier nur ein Mangel, wenn sie als solche von deutschen Muttersprachlern identifiziert werden.

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Anders als in seinen Beobachtungen der gesellschaftlichen Alltagssprache deutet Weber Luxemburgismen in literarischen Texten als künstlerische Eigenart. Bei Joseph Funck, dem Verfasser der Erzählung Kleines Schicksal von 1934, wie auch bei anderen Autoren, die er rezensiert, ist für Weber die Handhabung des Deutschen entscheidend in der Beurteilung seines Kunstfaktors: Joseph Funck schreibt eine Sprache mit ganz besonderer Musikalität. Sie mutet nicht immer an, wie ein in Deutschland gewachsenes Deutsch, aber sie malt reich und schwillt oft von Inhalt, wie der Stil von Thomas Mann (Weber 1935).

Funcks Kunstsprache hat hier den Status einer legitimen Parallelsprache der Standardsprache, die zwar nicht an deren Perfektion herankommt, aber gerade deshalb diese vielleicht überragt. Durch den interkulturellen Vergleich mit Thomas Mann, der für Funck außerordentlich schmeichelhaft ist, bestätigt Weber das literarische Können des Letzteren. Ein anderer Autor, dessen Luxemburgismen Weber als Zeichen nationaler Exzellenz deutet, ist Norbert Jacques (1880–1954), einer der wenigen Luxemburger Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, denen es gelungen war, sich in Deutschland zu etablieren, was in Luxemburg nicht immer sehr gut ankam. Der Autor von 55 Romanen ist heute noch bekannt für sein Werk Dr. Mabuse, das 1921 von Fritz Lang verfilmt wurde. Jacques problematische Stellung während der Weltkriege muss hier ausgeklammert bleiben und auch die Wandlungen von Webers Meinung bezüglich seiner politischen Handlungen können hier nicht behandelt werden. Als Jacques sich in den 1930er-Jahren Luxemburg verstärkt zukehrt, bezeichnet Weber ihn erfreut als »einer der Unseren« (Weber 1936a). Besonders in seiner Sprache zeige sich das typisch luxemburgische Temperament: Er schreibt ein Deutsch ganz eigenen Klanges. Es ringt der Sprache dynamische Wirkungen ab, die dem reinrassig deutschen Temperament eher fernliegen und doch eine Bereicherung bedeuten. Es ist wirklich als knete er auf der Sprache und ränge ihr gewaltsam ab, was sie freiwillig nicht hergäbe (ebd.).

Die Rasanz von Jacques’ Sprache sprengt die Grenzen der Standardsprache, weil er sie dazu zwingt, seinem eigenen Wesen Form zu geben. Dadurch, dass er sie in ihrer Ausdrucksfähigkeit herausfordert, strapaziert er sie gewissermaßen. Laut Weber erweitert Jacques’ Kreativität die deutsche Standardsprache und bewegt sich deshalb nicht wie das Deutsch des »Volkes« außerhalb der Grenzen des akzeptablen Ausdrucks. Norbert Jacques und nicht das allgemeine »Volk« dient Weber auch als Beweis, dass »wir luxemburgisch reden, auch wenn wir uns des Hochdeutschen bedienen« (Weber 1936b):

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A nne -M arie M illim In der Sprache eines Volkes drückt sich sein Charakter aus […]. Natürlich wirkt sich diese innere Melodie auch im Schreiben aus. Hat nicht ein deutscher Kritiker von Norbert Jacques gesagt, dass in seinem Styl luxemburgische Aliqottöne mitschwingen, und ist es nicht ergötzlich, wie manche Luxemburger Literaten, wenn sie deutsch schreiben, sich in jeder Zeile nur als Buchmenschen verraten, aus Mangel an der Gabe der Unmittelbarkeit? (Ebd.)

Das »echte« Luxemburgische Deutsch ist für Weber ironischerweise jenes, das ohne Rücksicht auf die Standardsprache geschrieben wird. Nur der Schriftsteller, der ›Luxemburgisch auf Deutsch‹ schreibt, anstatt zu versuchen, sich des Deutschen komplett zu ermächtigen, kann Kunst schaffen, die über Buchwissen hinausgeht. Weber sieht somit das Mitschwingen der luxemburgischen Interferenzen als positive und identitätsstiftende Charakteristik der Luxemburger Literatur. Jacques’ Erfolg im Ausland, der in Webers Logik auf seinem außerstandardlichen Sprachgebrauch basiert, bestätigt die Luxemburger Kultur und Eigenart.

Schlussfolgerung Webers Abreißkalender begleitet und präsentiert eine Entwicklung von literarischer Identität, die sich von der Selbstübersetzung zur Unmittelbarkeit zieht. In seinem Artikel über die Mischkultur von 1909 reagierte Weber auf den Vorwurf der nationalen »geistigen Unfruchtbarkeit«, worunter er einen »Mangel an literarischer Produktion« verstand. Damals fand er sich damit ab, dass wegen der Muttersprache des Luxemburgischen es dem Luxemburger, »der Deutsch schreiben will«, immer an »Unmittelbarkeit fehlt«, die es erlauben würde, dass Gedanken direkt »in das entsprechende Wortbild hinüberspringen« (Weber 1909: 128). Wegen dieser Hemmungen schrieben die Luxemburger »ein Buchdeutsch, dass Gott erbarm!« (Ebd.) Innerhalb von 30 Jahren scheint die Luxemburger Literaturlandschaft sich so stark gewandelt zu haben, dass Weber die translinguale Literatur nun als Grundpfeiler der nationalen Eigenart einsetzen kann. Während ursprünglich die Selbstübersetzung für ihn die Basis des literarischen Ausdrucks in einer Fremdsprache war, beginnt er nun, an die Möglichkeit unmittelbaren Schreibens zu glauben. Seine Forderung »[e]s muss möglich werden, dass einer auch luxemburgisch nur für Luxemburger schreibt und dennoch internationale Klasse ist« (Weber 1927), scheint in den 1930erJahren nach wie vor utopisch. Dennoch scheinen die Luxemburger Literaten das Ziel erreicht zu haben, dass sie nicht mehr »aus [ihrer] luxemburger Haut heraus- und in eine fremde Haut hineinschlüpfen« (ebd.) müssen, um authentische Texte zu verfassen. Deutsch bleibt für ihn Kultur- und Vehikularsprache und ist sozusagen Ersatz des Luxemburgischen, aber der Druck, muttersprach-

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liche Kompetenz im Deutschen zu demonstrieren, scheint gemindert. Der Gebrauch des Deutschen als Vehikel bedeutet aber eine signifikante ideologische Trennung von der deutschen Nation, da es gebraucht wird, um ›luxemburgische‹ Ideen auszudrücken und nicht unbedingt um sich in Traditionen der deutschen Nationalliteratur einzuschreiben oder darin zu partizipieren. Webers Forderungen nach allgemeiner standardsprachlicher Korrektheit in den respektiven Sprachen werden in den späten 1920er- und 30er-Jahren weniger, weil er verstärkt zur Würdigung der Eigenart als Waffe gegen Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus aufruft. Die Feuilletonserie Abreißkalender, mehr noch als der vielzitierte Artikel zur Mischkultur, oder das Gemeinschaftsmanifest der Zeitschrift Floréal, die von 1907 bis 1908 erschien, macht deutlich, dass in Webers Mehrsprachigkeitsdiskurs vor 1940 immer neue Alteritätskonstellationen geschaffen werden, die für ihn aber alle Teil des nationalen Eigenen sind, wenn sie auch nicht alle positiv bewertet werden. Die Serie bezeugt, dass die Mehrsprachigkeit für Weber zwar ein konstitutives Element der interkulturellen Identität darstellt, sie aber trotzdem nicht als muttersprachlich gelten kann, da er dazu tendiert, die Determinanten der Kompetenz in den Nationalstandardsprachen zu verorten und folglich typisch luxemburgische Variation als fehlerhaft charakterisiert.

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Chinese chives in London Interkulturalität in der zeitgenössischen englischsprachigen Migrationsliteratur in Texten von Monica Ali, Xiaolu Guo, Eva Hoffman, Timothy Mo und Caryl Phillips Sandra Vlasta

1. Einleitung Chinese chives, zu Deutsch chinesischer (Schnitt-)Lauch, Knoblauch-Schnittlauch, Knoblau oder Schnittknoblauch, ist eine aus China stammende Pflanze, die vor allem in der ostasiatischen Küche verwendet wird. Geschmacklich ist sie dem Knoblauch ähnlicher als dem Schnittlauch, schmeckt aber weniger intensiv (vgl. den Artikel »Allium tuberosum« in Wikipedia [Englisch]). Den Begriff habe ich Xiaolu Guos Roman A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (2007) entnommen, den ich später genauer vorstellen werde. Vorerst soviel dazu: Der Roman dreht sich um eine chinesische Protagonistin, die sich für ein Jahr in Großbritannien aufhält, um Englisch zu lernen. Chinese chives ist eine der Pflanzen, die sie gerne im Londoner Hinterhofgarten ihres englischen Partners pflanzen möchte. Letztlich entscheiden sich die beiden aber für chinese cabbage, Pak Choi, den ich ebenso gut in den Titel meines Aufsatzes hätte setzen können. Jedenfalls kann die fragliche Szene als typisch interkulturelle Situation bezeichnet werden, in der die Protagonisten, die unterschiedlicher kultureller und sprachlicher Herkunft sind, sich über ein Objekt, das ebenfalls von beiden Kulturen und Sprachen gekennzeichnet ist, unterhalten. Chinese chives wohnt ein interkultureller Aspekt inne, weil sie chinesischer Herkunft sind, es aber darum geht, sie in einem Londoner Hinterhof anzupflanzen (worauf sich auch das »in London« im Titel meines Beitrags bezieht). Mit diesem Beispiel bin ich auch schon mitten im Thema dieses Aufsatzes, in dem ich mich mit dem Phänomen der Interkulturalität bzw. deren literarischer Umsetzung in Texten der englischsprachigen Gegenwartsliteratur bzw. Migrationsliteratur auseinandersetze. Doch was meine ich, wenn ich Inter-

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kulturalität oder interkulturell – Begriffe, für die es unterschiedliche Definitionen gibt – sage? Zu einer ersten Definition des Konzepts der Interkulturalität gelangt man über das Konzept der Multikulturalität. Multikulturalität ist ein Kulturkonzept, das auf Johann Gottfried Herders sogenanntes Kugelmodell zurückgeht, das er in seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit anspricht (vgl. Herder 1774: 56–58 u. 2013: 7–13). Nach diesem Modell sind Kulturen wie Kugeln voneinander abgegrenzt und stoßen einander ab. Die einzelnen Kulturen, sprich Kugeln, sind nach Herder ethnisch fundiert (das, was gleichartig ist) und sozial homogenisiert (das, was assimiliert werden kann). Ein Kontakt der Kugeln oder gar eine Durchdringung oder Vermischung ist nicht möglich. Kultur wird in diesem Modell essenzialistisch definiert, das heißt, jeder Kultur werden bestimmte, unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben, und sie sind feststehende Größen, die keine Veränderung erfahren. Der Begriff multikulturell geht nun von der kulturellen Pluralität innerhalb einer Gesellschaft aus, d. h. die Diversität von Kulturen innerhalb einer Gesellschaft wird akzeptiert, und es gibt Toleranz gegenüber den Angehörigen verschiedener kultureller Gruppen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass innerhalb einer Gesellschaft von der Existenz einzelner kultureller Entitäten ausgegangen wird. Zwischen diesen Kulturen findet kein bzw. nur ein punktueller dialogischer Austausch statt; eher herrscht ein Nebeneinander von Kulturen, die sich nicht annähern oder gar vermischen können. Der Autor Feridun Zaimoglu hat Multikulturalität als »friedliche Koexistenz von Speisekarten« (Löffler 2003: o. S.) bezeichnet – Multikulti-Konzepten wird vorgeworfen, dass sie die Assoziation von folkloristischen Volksfesten aufkommen lassen, bei dem jede Kultur ihre eigenen Bräuche, Kleider und Speisen vorstellen kann.1 Im Unterschied dazu arbeitet das Konzept der Interkulturalität nach einer ersten Definition mit einem Modell, bei dem die Kugeln ihre klaren Formen und Grenzen verlieren. Das inter- zeigt an, dass hier etwas zwischen den Kulturen passiert und ein Kontakt stattfindet. Dieser Kontakt soll das Verständnis zwischen den Kulturen fördern. Damit rekurriert in dieser Definition interkulturell immer noch auf einen Kulturbegriff, der von einzelnen, homogenen Kulturen ausgeht, denen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden können. Die Grenzen zwischen den Kulturen sind nun zwar nicht mehr dicht oder unüberwindbar, jedoch können sie nicht komplett aufgelöst werden. In Abgrenzung zum Konzept der Multikulturalität kann man festhalten, dass dieses Verständ1 | Vgl. dazu auch Konrad Köstlins Beitrag in Carmine Chiellinos Handbuch Interkulturelle Literatur in Deutschland. Er hält fest, dass die »folkloristische Kultur der Migrant/ innen« es in Deutschland »leichter [habe] als die Migrant/innen selbst und die Kultur ihrer alltäglichen Lebenswelten«. Die »bunte Festkultur […] [fungiert] als liberales Aushängeschild für eine Gesellschaft, die sich mit ›Kultur‹ im Sinne einer fremden Lebenswelt sonst schwer« (Köstlin 2000: 366) tut.

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nis von Interkulturalität auf die Verhältnisse zwischen Gesellschaften und auf kulturelle Überschneidungssituationen und -kontexte blickt (vgl. Földes 2009), während multikulturelle Theorien an den Verhältnissen innerhalb einer Gesellschaft interessiert sind (vgl. Welsch 2010: 49). Ausgehend von diesen Definitionen der Multi- und Interkulturalität, hat Wolfgang Welsch den Begriff der Transkulturalität eingeführt.2 In seinem transkulturellen Modell werden die Kugeln zugunsten von Geflechten aufgelöst. Das bedeutet, dass es keine klaren Abgrenzungen mehr zwischen Kulturen gibt, diese sind vielmehr unauflöslich und undurchschaubar miteinander verflochten. Transkulturell wird definiert als »transcending the limitations or crossing the boundaries of cultures« (vgl. den Artikel »transcultural« im Oxford English Dictionary); Elemente aus verschiedenen kulturellen Räumen sind miteinander verbunden. Als transkulturell sind eigentlich alle Kulturen bzw. Individuen zu verstehen, da sie alle von verschiedenen kulturellen Einflüssen geprägt sind und kulturell vermischte Elemente in sich tragen. Rückschlüsse auf eine einzige, essenzialistisch zu definierende Kultur sind in diesem Konzept nicht möglich. Der Kulturbegriff an sich verliert auf diese Weise ebenfalls seine klaren Konturen, es sind keine Zuschreibungen von bestimmten Eigenschaften an einzelne Kulturen mehr möglich, vielmehr kann in diesem Modell kulturell Neues entstehen, das nicht mehr auf einen eindeutigen Ursprung zurückgeführt werden kann. Mit dem Konzept geht die Vorstellung einher, dass jeder Teil des Kollektivs resp. der Gesellschaft gleichzeitig mehreren Subkollektiven angehört, dass jedes Subjekt individuelle Multikollektivität ausbildet (man definiert sich z. B. zur selben Zeit als Frau, als Muslimin, als Londonerin, als Zeitungsleserin, als Rollschuhfahrerin etc.). Der Begriff transkulturell hängt also mit einem individuellen und veränderlichen Identitätsbegriff zusammen, der jedes Subjekt bereits als transkulturell definiert. Transkulturelle Theorien schreiben traditionelle Vorstellungen homogener Kulturen und kultureller Identitäten den nationalen Bestrebungen vor allem des 19. Jahrhunderts zu. Eine neue gemeinsame Kultur hingegen sei transkulturell zu denken, sie entstehe unter anderem durch Vermischung in der Welt durch Migration und Wanderung. Allerdings ist der Begriff der Interkulturalität mittlerweile auch »ein Forschungsparadigma, das die Interaktion von ›Kulturen‹ zum Gegenstand hat«, 2 | Vgl. z. B. Welsch 2010. Welsch hat sein Konzept erstmals 1992 vorgestellt: vgl. Welsch 1992. Vgl. dazu auch den von dem südamerikanischen Anthropologen und Politiker Fernando Ortiz ([1940] 1987) eingeführten Begriff der transculturación (Transkulturation), auf den sich Welsch bezieht (vgl. Welsch 2010: Fußnote 18). Ortiz geht davon aus, dass es beim Zusammentreffen verschiedener Bevölkerungsteile (in seinem Fall afrikanische Sklaven, spanische Eroberer und asiatische Vertragsarbeiter in Kuba) nicht nur zur Vermischung, sondern auch zur Bildung neuer sozialer und kultureller Formen kommt.

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geworden, wie es in der Beschreibung der Ringvorlesung Themenbereiche und Positionen der Interkulturalität heißt, die im Sommersemester 2015 an der Université du Luxembourg gehalten wurde und die Grundlage für den vorliegenden Band bildet. Dies gilt insbesondere für die interkulturelle Literaturwissenschaft, die, ebenso wie andere mit einem interkulturellen Zugang arbeitende Disziplinen (ich zitiere wiederum aus der Beschreibung der Ringvorlesung), »die Bedingungen und Folgen kultureller Kontakt- und Austauschsituationen zu ermitteln, zu beschreiben und zu bewerten« sucht. Die literaturwissenschaftliche Interkulturalitätsforschung, die vor allem im deutschsprachigen Raum entstanden ist, arbeitet mit einem Kulturbegriff, der ebenfalls hybrider Natur ist, d. h. veränderlich und prozesshaft anstatt homogen und stabil. Sie steht damit dem Konzept der Transkulturalität näher als der oben gegebenen Definition von Interkulturalität. Man geht davon aus, dass die kulturelle Identität einer Gemeinschaft bzw. eines Individuums »das jeweils nur provisorische und zeitweilige Ergebnis eines unabschließbaren Prozesses darstellt« (Hofmann 2006: 11). Kultur und kulturelle Identität sind demnach keine statischen Gebilde, die klar beschreibbar sind und denen bestimmte Eigenschaften zugewiesen werden können, sondern das Ergebnis einer Zuschreibung, die sich auf einen momentanen Zustand beziehen, d. h., es kommt ein prozesshafter und dialogischer Kulturbegriff zur Anwendung. Auch die Identität des Subjekts wird ähnlich definiert. Sie ist ebenfalls keine fixe, stabile Größe, sondern etwas, was ständig neu im Prozess des Aushandelns entsteht: »Das Subjekt ist Knoten- und Kreuzungspunkt der Sprachen, Ordnungen, Diskurse, Systeme wie auch der Wahrnehmungen, Begehren, Emotionen, Bewusstseinsprozesse, die es durchziehen. […] In der Praxis wird es sich wohl als vernünftig erweisen, auf eine Mehrfachcodierung von personaler wie kollektiver Identität umzustellen, je nach Kontext, Situation, Referenzrahmen« (Bronfen/Marcus 1997: 4). Das bedeutet nicht, dass wir keine Identität oder kein Bedürfnis nach Identitätsbildung haben, jedoch wird der prozessuale und prinzipiell unabschließbare Charakter derselben betont. Die interkulturelle Literaturwissenschaft interessiert sich für Phänomene kultureller Differenz, d. h. für das Ergebnis eines Interaktionsprozesses, der aber nicht den reinen Austausch zwischen klar definierbaren Kulturen meint, sondern gerade jenes intermediäre Feld, das sich mit diesem Austausch erst herausbildet. Die kulturelle Differenz ist damit nicht die Unterscheidung objektiver Eigenschaften bestimmter Gruppen, sondern das »Ergebnis einer Erkundung, die sich in der interkulturellen Begegnung vollzieht und mit der Differenzen überhaupt erst erzeugt werden« (Hofmann 2006: 12). Erfahrungen kultureller Differenz sind ein Grundelement interkultureller Situationen und Prozesse und liegen einer interkulturell motivierten Forschung zugrunde: »Interkulturalität bezieht sich demnach auf die Konstellation der Begegnung zweier (oder mehrerer) Subjekte, die im Austausch die Differenz konstituieren, die in der gegebenen Konstellation als relevant erfahren wird.« (Ebd.)

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Die interkulturelle Literaturwissenschaft hat verschiedene Arbeitsfelder für sich erschlossen und untersucht z. B. – interkulturelle Aspekte in zeitgenössischen und historischen literarischen Texten (wie in Goethes West-östlichem Divan oder in den Reiseberichten), – Bilder des Fremden in der Literatur, – Migrationsliteratur, Minderheitenliteratur (z. B. deutsch-türkische Literatur). Zudem versucht sie eine postkoloniale Perspektive auf die Literaturgeschichtsschreibung. Im vorliegenden Beitrag beschäftige ich mich aus interkultureller literaturwissenschaftlicher Perspektive mit zeitgenössischer englischsprachiger Migrationsliteratur; d. h. mit Texten, die zwischen 1985 und 2007 erschienen sind und auf Englisch verfasst wurden bzw. vor allem auf Englisch, denn wie wir gleich sehen werden, sind Texte, die Interkulturalität verhandeln, oft durch Mehrsprachigkeit gekennzeichnet. Ich bezeichne die fraglichen Werke als Migrationsliteratur, wobei ich diesen Begriff so definiere, dass die Texte Migrationserfahrungen beschreiben, also Veränderungen des Wohnortes über Ländergrenzen hinweg. Ich setze mich damit ab von biografisch-motivierten Definitionen von Migrationsliteratur als Texte, die von Autorinnen und Autoren verfasst wurden, die selbst Migrationshintergrund haben, und lege den Schwerpunkt stattdessen auf einen inhaltlichen Zugang, d. h., ich definiere Migrationsliteratur als Genre.3

2. Interkulturalität und ihre literarische Umsetzung bzw. Darstellung Bei meiner Analyse von Phänomenen der Interkulturalität bzw. deren literarischer Umsetzung gehe ich nach Motiven vor; dabei konzentriere ich mich auf ausgewählte Motive, die in Migrationsliteratur, also in Texten, die Migrationserfahrungen beschreiben, häufig vorkommen und in denen typischerweise kulturelle Überschneidungssituationen dargestellt werden bzw. interkulturelle Phänomene verhandelt werden. Diese Motive sind: 1. Sprache, 2. die Darstellung der neuen Heimat und 3. die Darstellung von Nahrungsmitteln, Kochen und Essen.

3 | Für eine ausführlichere Darstellung des Genres der Migrationsliteratur sowie repräsentative Analysen von englisch- und deutschsprachigen Beispielen siehe Vlasta 2016a.

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2.1 Das Motiv der Sprache Der Prozess der Migration bringt meist einen Sprachwechsel mit sich und somit werden das Erlernen einer neuen Sprache, Übersetzung und alle damit in Zusammenhang stehenden Aspekte ein wichtiger Teil des täglichen Lebens für Migrantinnen und Migranten und damit für die Protagonisten in Werken der Migrationsliteratur. Es müssen Strategien gefunden werden, um mit den verschiedenen Sprachen umzugehen; diese Strategien sind zudem einem ständigen Wandel ausgesetzt, sie müssen dauernd adaptiert und angepasst werden. Die Situation der Mehrsprachigkeit ist eine interkulturelle Situation per se und sie ist ein zentrales Motiv in Migrationsliteratur, in der sie auf verschiedene Weisen verhandelt wird. So wird die Mehrsprachigkeit zum Teil in der Form von mehrsprachigen Texten ausgedrückt. Sie wird aber auch zum Thema in den Familien, in denen die verschiedenen Generationen sich auf unterschiedliche Weise mit den sie umgebenden Sprachen identifizieren. Ein häufiges Motiv ist außerdem das der zweiten Generation als Übersetzer. Einige der Texte thematisieren die Mehrsprachigkeit der Protagonisten sowie die interkulturelle Situation, indem sie selbst Mehrsprachigkeit abbilden. So ist Xiaolu Guos A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers, wie bereits angedeutet, ein Roman in (mindestens) zwei Sprachen: Englisch und Chinesisch.4 Xiaolu Guo ist eine chinesisch-britische Autorin und Filmemacherin, die 1973 in einem kleinen Dorf im Südosten Chinas geboren wurde. In China studierte sie an der Filmhochschule in Peking und begann ab dem Ende der 1990erJahre, erste Texte auf Chinesisch (Essays, Romane) zu veröffentlichen. 2002 hat sie China erstmals verlassen, um nach London zu gehen, wo sie 2007 ihren ersten Roman auf Englisch, A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers, herausbrachte. Bereits davor wurde ihr auf Chinesisch verfasster Roman Village of Stone 2004 ins Englische übersetzt. Weitere Romane auf Englisch folgten. Auch als Filmemacherin ist sie weiterhin tätig. Ihre Filme sind auf internationalen Filmfestivals erfolgreich. Laut Verlagsauskunft lebt Guo sowohl in Großbritannien als auch in China, sowohl ihre Bücher als auch ihre Filme sind zuletzt im Original auf Englisch erschienen. A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers erzählt die Geschichte von Zhuang Xiao Qiao, die von den anderen Protagonisten Z genannt wird, da sich ihr Name für Nichtchinesen als zu schwierig erweist. Sie kommt für ein Jahr von China nach Großbritannien, genauer nach London, um dort Englisch zu lernen. Nach kurzer Zeit lernt sie einen Engländer kennen und beginnt eine Liebesbeziehung mit ihm, die, neben dem Erlernen der englischen Sprache sowie dem Kennenlernen der fremden Kultur, im Mittelpunkt des Romans steht. 4 | Für eine ausführlichere Darstellung der Mehrsprachigkeit sowie der Mehrschriftlichkeit in Guos Roman siehe Vlasta 2014.

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Das Buch weist einige formale Besonderheiten auf, die alle im Zusammenhang mit der beschriebenen Alteritätserfahrung stehen. Eine davon ist seine Mehrsprachigkeit, die bereits im Titel (Chinese-English) angedeutet wird: Wenngleich der Großteil des Textes auf Englisch verfasst ist (allerdings eine spezielle Form des Englischen, dazu sofort mehr), so gibt es immer wieder mehrsprachige Stellen, z. B. bei Auflistungen von Wörtern auf Englisch und Chinesisch (in Piktogrammen) mit deren wortwörtlicher Übersetzung (vgl. Guo 2008: 63 f.) oder an zwei Stellen, an denen Absätze komplett auf Chinesisch gedruckt sind und erst auf der jeweils nächsten Seite übersetzt wiedergegeben werden (vgl. ebd.: 179 f. u. 195 f.). Wenngleich die Leserinnen und Leser stets eine Übersetzung der chinesischen Wörter bzw. Textteile finden, so entstehen doch, zumindest für einen Augenblick, Verstehenslücken, wie sie für mehrsprachige, interkulturelle Situationen nicht unüblich sind. Die Verstehenslücken, mit denen Z während ihres Aufenthalts in London permanent konfrontiert ist, werden durch die Distanz zum Text, die kurzfristig durch das Nichtverstehen entsteht, für die Leserinnen und Leser selbst erlebbar. Außerdem wird der Sprachlernprozess der Protagonistin im Text abgebildet, was ebenfalls als eine Form der Mehrsprachigkeit bezeichnet werden kann. Die Hauptsprache des Textes ist nämlich kein korrektes Standardenglisch, sondern eine Sprache, die man gebrochenes Englisch nennen könnte. Es ist Zs Englisch, das ihren Lernprozess widerspiegelt. Der gesamte Text ist in diesem gebrochenen Englisch verfasst, das jedoch im Lauf der Kapitel immer besser wird. Dies wird ausgedrückt durch stets komplexere Sätze und Strukturen und durch erweitertes Vokabular. So verwendet Z z. B. zu Beginn nur Präsens, da dies das einzige verbale Tempus ist, das es im Chinesischen gibt. Erst ab ca. der Mitte des Romans kommen auch Vergangenheit und Zukunft dazu. Auch das -s, das im Englischen bei Verben in der dritten Person Singular im Präsens angehängt wird, fehlt in den ersten Kapiteln des Textes, wird von der Protagonistin später aber gesetzt. Schon auf der ersten Seite des Buches, noch vor dem Beginn des ersten Kapitels, entschuldigt sich die Protagonistin bei ihren Leserinnen und Lesern für ihr Englisch mit einer handschriftlichen Notiz, in der es heißt: »Sorry of my english« [sic!] (Guo 2008: 2). Somit werden die Leserinnen und Leser gleich zu Beginn nicht nur mit der grafischen, mehrschriftlichen Gestaltung des Romans, sondern auch mit dessen sprachlichen Besonderheiten konfrontiert. Bei dieser ersten Begegnung mit der Erzählerin und Hauptfigur wird zugleich ein weiteres Merkmal des Buches deutlich: die komischen Effekte, die durch die Situation der Mehrsprachigkeit entstehen. Andrea Albrecht bezeichnet diese als »ein[en] wesentliche[n] Faktor für die Attraktivität […] asiatisch-europäische[r] Texte« (Albrecht 2011: 283). In Eva Hoffmans Werk Lost in Translation (erstmals 1989 erschienen) wird die Mehrsprachigkeit durch die Protagonistin und Ich-Erzählerin Eva thematisiert. Hoffman ist eine polnisch-amerikanische Autorin, die kurz nach dem

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Zweiten Weltkrieg 1945 in Krakau in Polen geboren wurde. Ihre jüdischen Eltern haben den Holocaust in verschiedenen Verstecken überlebt. Im Alter von 13 Jahren emigrierte Hoffman 1959 mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Vancouver in Kanada. Sie studierte englische Literatur und Musik in den Vereinigten Staaten und machte ihr Doktorat in englischer und amerikanischer Literatur in Harvard. Sie war als Professorin an mehreren amerikanischen Universitäten tätig. Außerdem hat sie von 1979 bis 1990 bei der New York Times gearbeitet und war von 1987 bis 1990 Leiterin der Redaktion der The Book Review ebendieser Zeitung. Als Autorin hat sie zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien erhalten. Eva Hoffman lebt in London. Ihr Roman Lost in Translation: Life in a New Language ist ein autobiografischer Text, der von der traumatischen Erfahrung von Hoffmans Emigration und ihrem Aufwachsen in Kanada bis zum Ende ihres Studiums und der Tätigkeit bei der New York Times erzählt. Dabei steht vor allem die Sprache im Mittelpunkt – im Alter von 13 Jahren erlebt Eva Hoffman den Sprachwechsel sehr bewusst; die Tatsache, dass Englisch nicht ihre Muttersprache ist, begleitet sie bei ihrem Studium der englischsprachigen Literatur und ihrer Tätigkeit bei der Zeitung. Dementsprechend ist auch das Thema der Mehrsprachigkeit ständig präsent. Vor allem jedoch thematisiert Hoffman die Unübersetzbarkeit sowie die emotionale Verbundenheit mit Sprache, besonders mit der Erstsprache, der Muttersprache – beides geht oft Hand in Hand. So spricht Hoffman von dem Begriff tęsknota (Hoffman 1998: 4), der als nostalgia, also Nostalgie, Heimweh übersetzt wird und doch auch unübersetzbar bleibt, denn tęsknota ist »a word that adds to nostalgia the tonalities of sadness and longing« (ebd.: S. 4). Die Vielschichtigkeit der Erstsprache, die sich u. a. in einer größeren emotionalen Resonanz bei Eva auszeichnet, geht für sie in der Fremdsprache verloren. Wenngleich sie Englisch schließlich perfekt versteht und spricht, hat sie dazu kaum emotionalen Bezug. Diese Distanz ermöglicht es Eva allerdings, eine sehr hohe Präzision in der Textanalyse (z. B. im Rahmen ihres Englischstudiums) sowie in der Textkomposition (bei der Arbeit für die New York Times) zu erreichen. Wenngleich das Thema der Mehrsprachigkeit und der Übersetzung in Hoffmans autobiografischem Buch sehr präsent sind, so ist der Text nur an äußerst wenigen Stellen auch an der Oberfläche tatsächlich (explizit) mehrsprachig. Ein weiteres Beispiel dafür wäre das Wort dorozhkas, das die Pferdefuhrwerke, die das Straßenbild Krakaus in den 1950er-Jahren prägten, bezeichnet und als Eigenwort von der Erzählerin kein englisches Pendant erhält. Eine besondere Form der Mehrsprachigkeit wird schließlich durch die verschiedenen Sprachen, in denen sich die Protagonistin bewegt, hervorgerufen. So beginnt Eva eines Tages so zu erzählen: »›Bramaramaszerymery, rotumotu pulimuli‹, I say in a storytelling voice, as if I were starting out a long tale, even though I know perfectly well that what I am making up are nonsense syllables.« (11)

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Die Situation der Mehrsprachigkeit und die Frage des Sprachwechsels, mit der man im Zuge einer Migration konfrontiert ist, wird in den Texten auch in den Familien thematisiert. Hier kristallisiert sich oft ein unterschiedliches Verhältnis zu den Sprachen entlang der Generationen heraus. Während die erste Generation die neue Sprache meist mühsam erlernt, wächst die zweite Generation auf ganz andere Weise in sie hinein. So sind Lily und Mui, die Mutter bzw. Tante des kleinen Man Kee in Timothy Mos Roman Sour Sweet (erschienen 1982), erstaunt, als das Kind zuerst auf Englisch zu sprechen beginnt: Son spoke to me this morning, Mui. Yes, he’s getting quite talkative really. I was a bit worried for a while. He was such a silent little boy. Yes, but Mui, he spoke to me in English! Eiyah! In English! But where would he learn that? It’s as mysterious to me as it is to you. (Mo 2003: 118 f.)

Sour Sweet erzählt die Geschichte der chinesischen Einwandererfamilie Chen im London der 1960er-Jahre. Chen, seine Frau Lily, ihr kleiner Sohn Man Kee sowie Lilys Schwester, Mui, versuchen, abseits von China Town mit einem kleinen chinesischen takeaway-Imbiss in der Londoner Vorstadt ihre eigene Existenz aufzubauen. Der Autor Timothy Mo wurde 1950 in Hongkong geboren und ging sowohl in Hongkong als auch in England, wohin er mit zehn Jahren emigrierte, zur Schule. Mo hat als Journalist gearbeitet, bevor er mit dem Schreiben begann. Sein erster Roman, The Monkey King, erschien 1978 und wurde mit dem Geoffrey Faber Memorial Prize ausgezeichnet. Sour Sweet ist sein zweiter Roman, er erschien 1982 und war für den Booker Prize nominiert. 1988 wurde der Roman verfilmt, das Drehbuch dazu hat der Schriftsteller Ian McEwan verfasst. Mos vorläufig letzter Roman mit dem Titel Pure erschien 2012. Im Roman lernt Man Kee Englisch von den Kunden im takeaway, wo er den Alltag mit der Familie verbringt. Lily und Mui sind zwar ebenfalls in direktem Kontakt mit ihren Kunden, sie gehen aber davon aus, dass Man Kee dieselbe emotionale (und sprachliche) Distanz zu jenen einhält wie sie selbst. Der Gedanke, dass er von ihnen gar die englische Sprache lernen könnte, liegt ihnen deshalb, wie in der oben zitierten Stelle ersichtlich, fern. Später geht Man Kee in den Kindergarten und lernt dort Dinge kennen, mit denen seine Verwandten bislang noch gar nicht in Kontakt gekommen sind, auch weil sie eng mit kulturspezifischen Traditionen zusammenhängen, wie zum Beispiel Nahrungsmitteln. In dieser Situation wird Man Kee als Vertreter der zweiten Generation zum Übersetzer, sowohl auf sprachlicher als auch auf kultureller Ebene. Gefragt, was er im Kindergarten normalerweise zu essen bekomme, antwortete Man Kee regelmäßig: »Mince, jam tart, and custard« (Mo 2003: 178). Da Lily und Mui diese Begriffe nicht kennen, stellen sie Überlegungen an, was der Klei-

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ne damit meinen könnte. Lily denkt schließlich, dass damit vielleicht einfach der Überbegriff für Essen gemeint ist: »Maybe ›mince, jam tart, and custard‹ was simply a generic term for food – as one said ›eat rice‹ instead of simply ›eat‹ in the traditional evening greeting of the south?« (Ebd.: 179) Schließlich findet die Familie heraus, was tatsächlich damit gemeint ist, nämlich kleine gefüllte süße Törtchen, und serviert privaten englischen Gästen sogar selbst mince, jam tart, and custard. Dieser Übersetzungsprozess bringt allerdings auch eine gewisse Distanz zwischen den Generationen mit sich, wie Lily in Mos Roman formuliert: »There was something new happening; something which Lily realised was beyond her experience and from which she was forever excluded; something she could give no name to; something which separated her from Son. She didn’t like it at all.« (Ebd.: 178)5 Solch ein Unbehagen zwischen den Generationen aufgrund der sprachlichen Situation in der Migration wird auch in anderen Werken der Migrationsliteratur ausgedrückt. So erklärt Razia, eine Freundin der Hauptfigur Nazneen in Monica Alis Roman Brick Lane (der weiter unten genauer besprochen wird), warum sie Englisch lernt: »›Do you know why I’m going to learn English?‹, said Razia as she was leaving. ›So that when my children start telling dirty jokes behind my back, I’ll be able to whip their backsides.‹« (Ali 2003: 59) Wenngleich deutlicher bzw. ironischer wird hier dieselbe Furcht vor einer Distanz zwischen den Generationen ausgedrückt, der Razia zuvorkommen will.

2.2 Darstellung der neuen Heimat In Texten, die sich mit Migrationserfahrungen auseinandersetzen, wird häufig das Erleben der neuen Heimat thematisiert, d. h. des Landes, in das die Protagonisten einwandern. Die Migrantinnen und Migranten bringen Erfahrungen aus und Erinnerungen an die verlassene Heimat mit und stoßen auf Neues, Unbekanntes, aber auch Ähnliches. In den Texten wird dieses Erlebnis oft in vergleichender Form dargestellt oder es wird deutlich gemacht, was in der neuen Heimat anders ist oder fehlt oder was es in der alten Heimat nicht gegeben hat. Wir haben es hier also wiederum mit dem Aufeinandertreffen zweier (oder mehrerer) Welten zu tun und damit mit einer interkulturellen Situation, die entweder von den Protagonisten reflektiert wird oder auf der Ebene des Erzählers; oder aber, die Reflexionsarbeit wird den Leserinnen und Lesern überlassen. 5 | Neben der entstehenden Distanz zwischen Lily und Man Kee illustriert die zitierte Stelle außerdem Mos Strategie, einen (implizit) mehrsprachigen Text zu verfassen und das Chinesische ins Englische zu holen. Lily spricht von ihrem Sohn nicht als »Man Kee«, sondern sie bezeichnet ihn als »Son«; auch ihr Ehemann Chen wird von ihr als »Husband« angesprochen. Ihr Schwiegervater, der schließlich ebenfalls nach England nachkommt, wird als »Grandpa« angeredet.

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In Caryl Phillips’ Roman The Final Passage (erschienen 1985) wird die neue Heimat – England in den 1950er-Jahren – durch Beschreibungen der Landschaft, des Klimas bzw. Wetters, der Stadt sowie der (raren) Kontakte mit den Einheimischen dargestellt. Caryl Phillips wurde 1958 auf der karibischen Insel St. Kitts geboren und wuchs in Leeds in Großbritannien auf. Er studierte Englisch in Oxford und hat später an verschiedenen Universitäten in Europa, Afrika, Asien und Amerika unterrichtet, seit 2005 ist er Professor für Englisch an der Yale University in den USA. The Final Passage war nach einigen Theaterstücken Phillips’ erster Roman. Er hat mittlerweile neun Romane und einige Essaysammlungen sowie Sachbücher veröffentlicht und schreibt für Theater, Film, Fernsehen und Radio. In vielen seiner Werke setzt Phillips sich mit dem Erbe des kolonialen Sklavenhandels und dessen Auswirkungen auf die afrikanische Diaspora auseinander. The Final Passage erzählt die Geschichte Leilas, die mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn Calvin in den 1950er-Jahren von einer (unbenannten) karibischen Insel nach London emigriert. Großbritannien empfindet Leila als feindlich auf mehreren Ebenen: die Landschaft, das Klima, vor allem aber der Rassismus, der ihr entgegenschlägt, all das bewegt sie schließlich dazu, nach fünf Monaten wieder in die Karibik zurückzukehren, wo das Leben zwar sehr vorhersehbar ist, aber dafür kein täglicher Kampf. Der Roman ist nicht chronologisch erzählt, erst im vorletzten Kapitel wird die Ankunft Leilas, Michaels und Calvins in England erzählt. Wie so viele Einwanderer aus der Karibik zu jener Zeit kommt die kleine Familie mit dem Schiff an und erreicht Großbritannien nach zwei Wochen: On the fifteenth day the wind died and Leila saw land; the high and irregular cliffs of England through the cold grey mist of the English channel. She clasped together the collar of her light cotton dress and shivered. Overhead a thin fleet of clouds cast a bleak shadow across the deck, and the sluggish water swelled gently, then slackened. Leila stood at the front of the ship with six or seven more. Nobody spoke. It was still early and they waited, as if trapped in a glass case, while the other voyagers were still getting up, or feeling sick, or sleeping. (Phillips 2004: 137)

Diese Stelle ist eine, wo es den Leserinnen und Lesern überlassen wird, über die neue Heimat zu reflektieren, Leilas Gedanken bleiben verborgen. Auf der Ebene des auktorialen Erzählers wird hier die neue Heimat bzw. ein erster Eindruck davon dargestellt. Dies passiert mit einer Eingangsphrase, die an das biblische Motiv der Sintflut erinnert bzw. an deren Ende, an dem Noah und seine Familie das erste Mal nach Monaten der Reise wieder Land sehen. Doch was sieht Leila? Die Eindrücke werden durchwegs mit negativen Adjektiven beschrieben: Englands Konturen sind high und irregular und die Form der Landschaft – die Klippen – hat eher eine abweisende und gefährliche als einladende Wirkung

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auf den Betrachter. Das Wasser wird als sluggish beschrieben. Die Beschreibungen meteorologischer Phänomene sind ebenso negativ: Es handelt sich um eine thin fleet of clouds, deren Schatten bleak, also düster und freudlos, ist. Dieser erste, nach der anstrengenden Reise lang erwartete Blick auf Großbritannien hat nichts Positives. Dementsprechend geht es auch den Passagieren und damit auch Leila und Michael: Sie sind den Eindrücken der neuen Heimat hilflos ausgeliefert. Sie können nicht sprechen ob des Anblicks von England, sich nicht einmal bewegen, sondern erscheinen gefangen (trapped) und zum Warten verdammt. Der Sprachlosigkeit sind Leila und Michael auch später im Roman ausgeliefert. In Gesprächen mit Einheimischen sind die Antworten des karibischen Paares auf stummes Nicken, Gesten oder gar keine Reaktion reduziert. Dieses Motiv des Ausgeliefertseins beginnt mit der Ankunft der Immigranten in England und begleitet sie auch im Zentrum des ehemaligen kolonialen Mutterlandes. Der Glaskasten (glass case) lässt sie kaum jemals teilhaben am Leben der Großstadt, geschweige denn am Leben der Engländer. An anderer Stelle reflektiert Leila über die neue Heimat, wenn sie sich z. B. auf der Zugfahrt vom Ankunftshafen nach London Gedanken darüber macht, wie die Menschen in Großbritannien leben: Leila gazed through the cold window of the train. She watched as her warm breath misted up the glass. The fields had little in them save a few sheep here and there. Some cows stood silent and still, like statues. Where was the food they grew to feed themselves? As they plunged further inland, she wondered how it was that people managed to live so far away from the sea. (Phillips 2004: 143)

Auch diese Beschreibung ist gekennzeichnet von negativen Adjektiven (cold, little, few, silent, still), Vergleichen (like statues) und assoziativen Fragen. Leilas Überlegungen sind ein impliziter Vergleich der alten mit der neuen Heimat: Leila vergleicht die ihr bekannte Lebenssituation mit dem, was sie sieht: Wohingegen auf der heimatlichen Insel die Vegetation üppig ist, erscheint sie ihr hier karg. Leila sieht die Weidetiere, die einen traurigen Eindruck auf sie machen und die scheinbar nichts zu fressen finden auf den Feldern. – Woher sollten dann die Menschen ihre Nahrung nehmen? Weiter stellt sich Leila die Frage nach der Topografie der Insel und den gewählten Wohnorten im Landesinneren. Wo sie herkommt, lebte man in Meeresnähe und nicht in den inneren Regionen der Insel. Die alte wird auf diese Weise der neuen Heimat gegenübergestellt. In London wird sich Leila aufgrund des allgegenwärtigen Rassismus ihrer Hautfarbe bewusst, z. B. durch entsprechende Reaktionen und Schilder mit Aufschriften wie »No vacancies for coloureds« (Phillips 2004: 156), auf die sie und Michael bei ihrer Wohnungssuche treffen. Sie reflektiert aber auch ihre Beobachtungen über die Verteilung der Wohnbevölkerung sowie über die Klas-

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senunterschiede (die an der Kleidung, an Autos etc. festzumachen sind), die beide stark mit der Hautfarbe zusammenhängen:6 She sat in the front seat on the top deck of the bus, looking down at the people and the life in the street below. She noticed that in some areas there were many coloured people and in other areas there were very few. She noticed that coloured people did not drive big cars or wear suits or carry briefcases, that they seemed to look sad and cold. (Ebd.: 121)

In Guos A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers wird die Erfahrung der neuen Heimat ebenfalls auf mehreren Ebenen dargestellt. Sie ist von Anfang an als mittelfristig angelegt – die Protagonistin kommt für ein Jahr nach Großbritannien und wenngleich sie zwischendurch mit dem Gedanken spielt, zu bleiben, kehrt sie schließlich doch nach China zurück. Gleichzeitig steht mit dieser Konstellation die Fremderfahrung von Beginn an im Vordergrund: Z, also die Protagonistin, möchte vor allem die fremde Sprache und Kultur kennenlernen und ist daher ganz bewusst auf der Suche nach interkulturellen Erfahrungen. Dies spiegelt sich auch in der Struktur des Romans wider: Wie in einem dictionary, also einem Wörterbuch, steht jedem Kapitel ein Begriff auf Englisch vor. Diese Begriffe werden jeweils gleich einem Wörterbucheintrag erklärt und haben meist mit der Fremderfahrung zu tun, mit den Erlebnissen der Protagonistin in Großbritannien. So lautet der erste der Wörterbucheinträge gleich zu Beginn des Romans: »alien adj foreign; repugnant (to); from another world n foreigner; being from another world« (Guo 2008: 9; Hervorh. im Orig.). Der Terminus wird, wie auch alle späteren Wörterbucheinträge, im auf ihn folgenden Text inhaltlich aufgegriffen und so zum Schlüsselbegriff für das entsprechende Kapitel: Im Anschluss an die Begriffserklärung von alien wird Zs Ankunft am Flughafen in London beschrieben, bei der Passkontrolle muss sie sich in eine der beiden Schlangen einreihen: »Alien and non alien« (ebd.; Hervorh. im Orig.) – sie ist ein alien, wie im gleichnamigen Hollywoodfilm, den 6 | Auch Robert Winder erwähnt in seiner Arbeit, welche Wohnviertel Londons in den 1950er- und 60er-Jahren besonders von Migrantinnen und Migranten von den WestIndies bewohnt wurden: »South London, thanks to the Windrush voyagers, was the first port of call for subsequent migrants from Jamaica. The South London Daily Press was on sale in Kingston: would-be expats could scan the classifieds, marvelling at the wages on offer in this scintillating wonderland called Lambeth. Trinidadians and Barbadians drifted to Notting Hill and Paddington; Guyanese congregated in Tottenham and Wood Green; Montserratians plumped for Stoke Newington and Finsbury Park. The markets in these neighbourhoods acquired new accents and flavours: pineapples, bananas, yams, sweet potatoes, mangoes and chillies sat alongside apples and pears from the English countryside.« (Winder 2004: 268).

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sie erwähnt: »I am alien, like Hollywood film Alien, I live in another planet, with funny looking and strange language. I standing in most longly and slowly queue with all aliens waiting for visa checking« (ebd.). Gleich zu Beginn des Romans wird auf diese Weise das Fremdsein in den Mittelpunkt gestellt – Z tritt ihren Aufenthalt in Großbritannien als alien an. Gleichzeitig wird hier darauf verwiesen, dass der Protagonistin die fremde Sprache, Englisch, durch ihre globale Allgegenwärtigkeit gar nicht so fremd ist, dass diese Tatsache aber zu besonderen Zugängen zur Sprache führt: Z hat offensichtlich zuerst den Hollywoodfilm gekannt und die bestimmte Bedeutung, die der Ausdruck alien (als Außerirdischer) darin hat; erst danach erlernt sie die englische Sprache und erkennt, dass der Begriff eine (andere) Grundbedeutung (als Fremde/r oder Ausländer/in) hat. In jedem der kurzen Textabschnitte, die einem Wörterbucheintrag folgen, wird auf ähnliche Weise inhaltlich Bezug auf das voranstehende Konzept genommen. Guo hat dabei kulturelle Konzepte aus dem englischen bzw. westlich geprägten Raum ausgewählt;7 Konzepte, die die Differenzerfahrung der chinesischen Protagonistin unterstreichen und sich auf ihre Erfahrungen in Großbritannien beziehen, wie z. B., zu Beginn des Romans eher gegenständlich, »full english breakfast« (Guo 2008: 16), »fog« (ebd.: 21), »pub« (ebd.: 86) oder »chinese cabbage + english slug« (ebd.: 102), im weiteren Verlauf des Textes auch abstraktere Konzepte wie »free world« (ebd.: 112), »colony« (ebd.: 131), »humour« (ebd.: 159), »identity« (ebd.: 185) oder »freedom« (ebd.: 195). Auf diese Weise werden die Leserinnen und Leser in der Form eines Wörterbuchs durch die Fremdheitserfahrungen der Protagonistin in der neuen Heimat geführt.

2.3 Interkulturalität in der Darstellung von Nahrungsmitteln, dem Kochen und Essen Ich komme damit zum letzten Punkt meiner Analyse, und zwar zum Aspekt der Interkulturalität in der Darstellung von Nahrungsmitteln, vom Kochen und dem Essen. Diese Themen werden in den Texten oft verwendet, um die sich wandelnde Identität in der Migration, aber auch die Suche nach einer Identität in der Migration darzustellen.8 Wiederum sind es Themen, bei denen Kulturen aufeinandertreffen – die Kultur der verlassenen Heimat auf die Kultur der neuen Heimat – und neue Dinge entstehen können. Andererseits kann Essen aber auch abgrenzende Funktion haben und gerade nicht zu Vermischung führen.

7 | Vgl. dazu Guos Aussagen in einem Interview (vgl. Kleffel 2007). Auch Ulla Rahbek verweist darauf, dass es sich um »Western concepts« handelt, mit denen Z nicht vertraut ist (vgl. Rahbek 2012: Absatz 1). 8 | An anderer Stelle habe ich mich im Detail mit Identität und Identitätssuche beim Kochen und Essen in Migrationsliteratur auseinandergesetzt, vgl. Vlasta 2016b.

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Die Beziehungen zwischen Essen und Identität sind vielfältig: Essen ist Teil unserer Identität, Nahrung wird, indem wir sie aufnehmen, zu einem Teil unserer selbst und ist damit Inbegriff der Identität. In der Migration wird diese Identität aber infrage gestellt bzw. ändert sich, Migrantinnen und Migranten müssen einen neuen Platz finden – räumlich, sozial und zeitlich. Die Ernährung spielt in dieser Situation oft eine besondere Rolle: Sie kann Stabilität in einer sich verändernden Welt geben, wie Krishnendu Ray zur Situation bengalischer Einwanderer in den USA schreibt: »We do […][find a place] by hanging on to a myth of stability in a world that is perpetually changing. Food, and especially nostalgia about home cooking, plays a crucial role in anchoring us in a world that refuses to stay still« (Ray 2004: 12). Wie der Soziologe Pierre Bourdieu bemerkt, sind unsere, in frühester Kindheit erlernten, Essgewohnheiten eines der Dinge, an denen wir am stärksten und längsten festhalten: »Im Geschmack für bestimmte Speisen dürfte wohl das von klein auf Gelernte, das am längsten dem Fernsein oder gar Zerfall der angestammten Welt widersteht und die Sehnsucht an sie wachhält, den stärksten und nachhaltigsten Niederschlag finden« (Bourdieu 1998: 141). Und Alois Wierlacher greift diese Meinung auf, wenn er sagt, dass »die sozialen oder erlernten Aspekte des Ernährungsverhaltens eine größere Zähigkeit oder Konstanz [besitzen] […] als die biologisch-natürlichen Aspekte oder Körperfunktionen« (Wierlacher 2001: 379). Unsere Ernährungsweise und unser Geschmack sind etwas, das wir nur sehr schwer ändern bzw. aufgeben – besonders in der Situation der Migration, die Veränderung auf vielen Ebenen mit sich bringt. Essen kann Erinnerungen und Gefühle auslösen und Speisen können deshalb in der Migration eingesetzt werden, um eine Brücke zur verlassenen Heimat zu schlagen, um sich an die Heimat zu erinnern oder sie anderen näherzubringen, wie z. B. der zweiten Generation: »Food […] can provide a link to ›home‹, even for those characters who have never been in the country of their parents’ origin« (Reichl 2003: 192), stellt Susanne Reichl für die Funktion des Essens in von ihr als Black British Novels bezeichneten multikulturellen britischen Romanen fest. Der physische Kontakt mit den vertrauten Zutaten kann einen Kontakt zur Heimat bedeuten, die Zutaten sind, genau wie bestimmte Speisen, mit Symbolik aufgeladen, die sie erst durch die Migration erhalten haben. Neben diesem konstanten Aspekt der Nahrung kann Essen in Verbindung mit Migrationserfahrungen aber auch ein Bereich sein, in dem Neues angenommen und ausprobiert wird. Vermischungen sind möglich, Neues kann in der Situation der Migration entstehen; Neues, das fortan für sich steht und weder Teil des Alten (also der verlassenen Heimat) noch des Neuen ist. Beide Aspekte – das Vertraute, Verbindende sowie das Neue – werden in der folgenden Analyse illustriert. Ein Roman, bei dem das Kochen und Essen zentral ist, ist Timothy Mos Sour Sweet. Nach einigen Jahren in London gründet die Familie Chen einen eigenen

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kleinen takeaway in einem der Vororte der Stadt. Chen, der Vater, kann auf diese Weise seinen Job in einem Restaurant in China Town aufgeben, wo er einer von vielen eingewanderten Chinesen ist, und als Alternative sein eigenes Lokal eröffnen. Dies ist auch der lang gehegte Wunsch seiner Frau Lily, und sie übernimmt schließlich auch die Gestaltung des takeaways, der im Einfamilienhaus der Chens betrieben wird: Ideally, the front should have been all glass, an expanse of unimpeded visibility […]. But this would mean knocking down part of the wall between their two windows and then reglazing at prohibitive expense. […] They would have to have a counter, though. No take-away business worth the name could function without one of those. […] There was already a serving hatch in the wall between kitchen and front room and Chen took the little door off its hinges altogether. They put the flat’s gas stove in the kitchen, together with a ring which ran on a huge, dented bottle they had acquired secondhand. On this they would heat their wok. »Chairs,« Lily said suddenly. »Where will they sit?« And of course, that was what takeaways had too, chairs. As important as the counter, really. (Mo 2003: 99)

Hier sieht man bereits, worum es bei dem takeaway-Restaurant der Chens geht: Sie wollen nicht ein Restaurant nach ihrem Geschmack und ihren Vorstellungen einrichten, sondern gehen von einem Idealmodell des takeways aus, quasi einer platonischen Vorstellung davon, wie ein takeaway auszusehen hat. Dieses Muster setzt sich fort, als es um die Speisen geht, die in dem Lokal angeboten werden. Chen hat in anderen Lokalen recherchiert, um schließlich ein »stereotyped menu, similar to those outside countless other establishments in the UK« (ebd.: 111) in ihrem eigenen takeaway anzubieten. Und so kochen und servieren die Chens Speisen, die gut bei ihren Gästen ankommen, die sie selbst aber nie essen würden, denn »it bore no resemblance at all to Chinese cuisine« (ebd.). Einige der Gerichte werden genauer beschrieben: »Sweet and sour pork‹ was their staple, naturally: batter musket balls encasing a tiny core of meat, laced with a scarlet sauce […]«. »Spare-ribs« (whatever they were) also seemed popular. So were spring-rolls, basically a Northener’s snack, which Lily parsimoniously filled mostly with bean-sprouts. All to be packed in the rectangular silver boxes, food coffins, to be removed and consumed statutorily off-premises. (Ebd.)

Die Speisen sind den Chens unbekannt (»whatever they were«) und sie bleiben es, zumal sie in kleine Särge verpackt und damit nicht reizvoller werden. Diese interkulturelle Erfahrung der Chens knüpft an die Tradition der chinesischen Restaurants bzw. takeaways in Großbritannien an, die wenig mit der individuellen Identität der Chens zu tun hat. Statt Speisen aus der eigenen Tradition zu kochen oder Neues zu kreieren, entschließen sie sich, ein bereits erprobtes

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Modell zu übernehmen, das auf den Geschmack der Briten abgestimmt ist und schließlich auch für die Chens funktioniert. Wenngleich sich die Familie nicht mit den servierten Speisen identifiziert, so ermöglicht der takeaway eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, die die Chens (zumindest die Frauen) einen Platz in ihrer Situation der Migration finden lässt. Man Kee, der kleine Sohn, wächst schließlich durch das Aufeinandertreffen verschiedener Traditionen bzw. Kontexte (die chinesische Familie, der multikulturell geprägte takeaway und der ebenfalls multikulturell geprägte Alltag im Kindergarten) in eine viel stärker interkulturell geprägte Identität.9 In Monica Alis Roman Brick Lane gibt es eine Szene, in der das Essen bzw. zubereitete Nahrungsmittel ebenfalls die interkulturelle Situation der Familie in der Migration unterstreichen. Brick Lane ist der erste Roman der britischen Autorin. Sie wurde 1967 in Dhaka in Bangladesch als Tochter eines bengalischen Vaters und einer englischen Mutter geboren und emigrierte, als sie drei Jahre alt war mit ihrer Familie nach Großbritannien. Brick Lane erschien 2003; noch vor seiner Publikation wurde Ali auf die prestigeträchtige Granta list of best young British novelists gesetzt. 2003 erhielt sie den British Book Awards Newcomer of the Year sowie den WH Smith People’s Choice Award. Ihr Roman war im selben Jahr außerdem für den British Book Awards Literary Fiction Award, den Guardian First Book Award und den Man Booker Prize for Fiction nominiert. Bislang hat Ali noch drei weitere Romane geschrieben. Der Roman Brick Lane trägt den Namen einer Straße, die in London mitten in einem Viertel liegt, in dem sich viele bengalische Einwanderer niedergelassen haben. Erzählt wird die Geschichte von Nazneen, einer jungen Frau aus Bangladesch, die 1985 mit 18 Jahren nach London kommt und mit dem 20 Jahre älteren Chanu verheiratet wird, der schon länger in London lebt. Nazneen verlässt anfangs kaum die Wohnung, auch weil ihr Mann das nicht möchte. Sie fügt sich zuerst in ihre Rolle, beginnt dann aber langsam, kleine Räume für sich zu erobern: erst den Häuserblock, in dem die Familie wohnt, dann die umliegenden Straßen und schließlich fährt sie gegen Ende des Romans alleine bis ins Zentrum Londons. Ihre Emanzipation drückt sich auch auf anderen Ebenen aus: Sie verhandelt zwischen ihren Töchtern und ihrem Mann, wobei sie die zwei Mädchen unterstützt, und sie beginnt ein Verhältnis mit Karim, einem jungen Bangladescher. Als ihr Mann Chanu gegen Ende des Romans

9 | Neben diesem interkulturellen Aspekt haben das Essen und Kochen in Mos Roman die Funktion, die einzelnen Protagonisten zu charaktierisieren, so z. B. bevorzugen Lily und Mui leichte, einfach Speisen, die sie mit Lust essen, wohingegen Chen in Tischsituationen meist angespannt ist und mit Mühe isst. Auch machen die Chens Erfahrungen mit englischen Essen, genauer mit fish & chips, und sind davon positiv überrascht.

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beschließt, nach Bangladesch zurückzukehren, entschließt sich Nazneen, mit ihren Töchtern in London zu bleiben. Zurück zur erwähnten Szene des gemeinsamen Essens: Eines Tages unternimmt die Familie einen Ausflug ins Zentrum von London. Es ist nicht nur eines der wenigen Male, dass die Familie etwas gemeinsam unternimmt, sie sehen auch das erste Mal das Zentrum der Stadt, in der sie seit Jahren leben. Bei dem Ausflug macht die Familie ein Picknick im St. James Park. Nazneen, die Mutter und Hauptfigur, hat dafür traditionelle bengalische Speisen vorbereitet: chicken wings in a paste of yoghurt and spices baked in the oven, onions sliced to the thickness of a fingernail, mixed with chillies, dipped in gram flour and eggs and fried in bubbling oil, a dry concoction of chickpeas and tomatoes stewed with cumin and ginger, misshapen chapattis […], golden hard-boiled eggs glazed in a curry seal […]. (Ali 2003: 246)

Diese Aufzählung legt nahe, dass die Familie in ihren Essgewohnheiten noch traditionell verwurzelt ist. Allerdings wird in der Folge deutlich, dass eine der beiden Töchter beim Essen ihre eigene, interkulturell geprägte Identität auszudrücken versucht: Shahana isst nicht die genannten Speisen, sondern ein Schmelzkäse-Dreieck, das sie allerdings, quasi als kleines Zugeständnis, in einem chapatti, dem u. a. in Bangladesch üblichen, von Nazneen selbst zubereiteten Brot, verstreicht. Mit dieser Kreation schafft sie etwas Neues, sie ist eine Folge der kulturellen Austauschsituation, in der sie sich aufgrund der Migration ihrer Familie befindet. Zudem ist der Käse bei dem Picknick das einzige nicht von Nazneen Zubereitete und wird durch die ihn umgebende Alufolie sowie die Pappschachtel noch zusätzlich von den anderen Speisen abgegrenzt. Die Distanz, die Shahana ihrer Familie gegenüber empfindet und die stark mit der von ihr gefühlten Verbundenheit mit England bzw. London zu tun hat, wird in diesem Detail (wie auch an anderer Stelle im Roman) zum Ausdruck gebracht. In Guos Roman A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers schließlich sorgt der Bereich des Essens für Verwirrung – die Protagonistin kann sich nicht erklären, was whipped cream bedeuten soll – »How people whip cream?« (Guo 2008: 34), fragt sie sich. In derselben Szene verwirren Z auch die verschiedenen Arten der Kaffeezubereitung: I hearing somebody wanting »frothy coffee«. A lady with a young man. She say: »Can I have a frothy coffee, please? And my friend will have a black coffee, with skimmed milk.« It must be big work making something »skimmed«, and »frothy«, and »whipped«. Why drinking become so complicating and need so much work? (Guo 2008: 34)

Dieses Beispiel zeigt, wie sich die Protagonistin mit ihr unbekannten Konzepten auseinandersetzt, während sie den ihr bekannten Tee trinkt und sich fragt,

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warum das Trinken eine so komplizierte Angelegenheit geworden ist. Wie sie feststellen muss, gilt dies sogar für Wasser, denn auch hier muss sie sich entscheiden, ob sie es still oder mit Kohlensäure haben möchte. Z versucht, all diese Dinge zu verstehen, das Essen und Kochen ist ein Bereich, den sie dabei erkundet und der diesen (interkulturellen) Verstehensprozess auslöst.

3. Resümee In diesem Beitrag habe ich das Phänomen der Interkulturalität bzw. deren literarische Umsetzung in Texten der englischsprachigen Migrationsliteratur, d. h. in Texten, die Migrationserfahrungen verhandeln, erläutert. Interkulturalität wird in Migrationsliteratur auf vielen Ebenen verhandelt. Ich habe in meiner Analyse von insgesamt fünf Texten anhand von drei verschiedenen Motiven Beispiele dafür gegeben, wie Interkulturalität dargestellt wird. Die drei Aspekte waren die Sprache, die Darstellung der neuen Heimat und die Darstellung von Nahrungsmitteln, dem Kochen und Essen. Wenngleich sich die Motive in den Texten wiederholen, so zeigt jeder individuelle Strategien für deren formale und inhaltliche Gestaltung, wie ich in meinem Beitrag gezeigt habe. So z. B. beim Motiv der Sprache: Hier findet sich explizite, d. h. tatsächliche Mehrsprachigkeit versus implizite, d. h. lediglich thematisierte in den Texten. Sprachverlust sowie das Erlernen von Sprache werden thematisiert, zudem wird die Distanz (zwischen den Generationen) verhandelt, die sich durch die Mehrsprachigkeit ergibt. Schließlich werden Übersetzungsprozesse dargestellt, die sowohl sprachlicher als auch kultureller Natur sind. Bei der Darstellung der neuen Heimat finden wir Reflexionen der Protagonisten über die Ähnlichkeiten und die Unterschiede der alten und der neuen Heimat – die beiden werden verglichen. Außerdem gibt es Darstellungen, die diesen Reflexionsprozess bei den Leserinnen und Leser auslösen. Bei der Darstellung von Nahrungsmitteln, dem Kochen und Essen haben wir gesehen, dass dabei eigene Traditionen fortgeführt (wie beim Picknick in Brick Lane) oder unbekannte Traditionen übernommen werden können (wie in Mos Sour Sweet), dass Essen zur Abgrenzung eingesetzt wird (wie von der Tochter in Brick Lane) oder Verstehensprozesse auslösen kann (wie für Z im Concise Chinese-English Dictionary). Die beschriebenen interkulturellen Aspekte in den Texten sind nicht im Sinn einer Definition von Interkulturalität, die sich zwischen Kulturen abspielt, zu verstehen. Vielmehr gehen sie darüber hinaus, sie überwinden die Grenzen von Kulturen und hinterfragen einen homogenen, stabilen Kulturbegriff. Eher haben wir es mit einem Geflecht zu tun, in dem diese unauflöslich verflochten sind. Die Mehrsprachigkeit der besprochenen Texte sowie ihrer Protagonistinnen und Protagonisten bzw. deren Lebenswelten stellen eine solche

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Vermischung dar. Auch die Neukreationen in der Küche (wie die Küche der chinesischen takeaways, die verschiedene Ursprünge hat) sind ein sehr anschauliches Beispiel für solche inter- (bzw. trans-)kulturellen Prozesse. In solchen Vermischungen und Neukreationen ist eine Rückführung auf einen eindeutigen Ursprung nicht mehr möglich.

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Patrick Chamoiseau quadrillé1 4 vérités sur l’écrivain emblématique de l’Outre-Mer Kathleen Gyssels Discours élitaire: discours de représentation. Qui ne s’assouche dans aucune fonction. Il traîne sa propre angoisse, qui grossit de ce qu’il ne produit que représentation. A son horizon, l’obligation macoutique. Discours vide (Glissant 1981: 165).

Dans une émission de 2002, année-phare pour l’écrivain martiniquais Patrick Chamoiseau est assez sévère pour les Antillais. Il leur reproche une espèce de paralysie qu’il impute aussi à »la modernité coloniale« qui anesthésie la »majorité des Antillais«, »empêtrés dans leur monologue stérile avec la métropole«2 . Dans ce qui suit, je me propose de parcourir en quatre paramètres la position de Chamoiseau, auteur emblématique de l’Outre-Mer, par rapport à la littérature métropolitaine. Par le terme »quadrillé«, je joue sur la danse créole, le quadrille, qui est folklorique (et donc plutôt déclassé par les auteurs sérieux) et le caractrère »quadrillé«, c’est-à-dire en carreaux, de l’étoffe que portent aux Antilles les da et les domestiques. Le madras est effectivement l’étoffe ou la surface textyle, divisée en carreaux, jupe large avec son chiffon noué sur la tête pour les femmes. Alors que l’élite de couleur imitait le style vestimentaire du Blanc, les Afro-Caribéens ont souvent de sobres vêtemens dans des couleurs mornes. Enfin, le complet quadrillé est aussi étriqué, terme au sens figuré (borné). Contrairement aux diverses déclarations et manifestations, je me demande si tout cela n’est pas une posture; qu’en est-il réellement de l’écriture chamoisienne? En quoi consiste sa spécificité tant formelle, stylistique, thématique et finalement, philosophique?

1 |  Dans Ton beau capitaine (Schwarz-Bart 1987), Wilnor danse en solitaire un quadrille comme pour mieux compenser l’absence de Marie-Ange et sublimer le pressentiment de son adultère (voir Gyssels 2003: 227–251). 2 |  Emission du 2 juillet 2002: La Martinique: la question de l’Autonomie, documentaire d’Alexandre Héraud et Yvon Croizier (»Les Néo-colonies de vacances!«, lire communiqué sur Alter Presse du 2 juillet 2002.

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L’auteur, né en 1953 à la Martinique débuta dans les années quatre-vingt avec un premier roman, Chronique des sept misères (1986), après des tentatives dans le théâtre, la bande dessinée, la littérature pour enfants. Le premier roman est suivi par Texaco qui remporta le Prix Goncourt en 1992. Suivent L’esclave vieil homme et le molosse (1997), réécriture dans le genre du néo-slave narrative de Hemingway et de Carpentier, Un dimanche au cachot (2006), exploration de l’abysse esclavagiste en temps réel, soit dans la Martinique gangrenée par les nouveaux réseaux de communication, alternant avec des projets de films (malheureusement pas très réussis, dont il signe le scénario, avec Guy Deslauriers) et Biblique des derniers gestes (2002). Les romans s’épaississent et deviennent de plus en plus poétiques, allégoriques et baroques et alternent toutefois avec des »fables«, comme Les neuf consciences du Malfini (2009). L’auteur participe aussi activement à la politique par des »lettres ouvertes« aux ministres, des manifestes contre la politique de l’immigration (contre les Français »pas souche«3), pour Mélenchon4 , etc.

Interkulturalität  L’interculturel dans l’En-ville et la mangrove caribéenne C’est assurément par l’interculturel qu’il convient d’aborder l’œuvre de Patrick Chamoiseau. Puisque les Antilles sont le carrefour de plusieurs cultures, au nombre de quatre (l’Africaine, l’Européenne, l’Amérindienne et finalement l’Asiatique, par l’immigration d’Indiens), on y trouve une synthèse de traditions européennes et africaines, et dans une moindre proportion, asiatique et amérindienne, ainsi que des apports des autres composantes de la population bigarrée: indienne et syro-libanaise. Quant à la population indigène, leur influence est, on ne saurait s’étonner, peu visible dans ses romans. L’écriture de Chamoiseau est redevable à la tradition orale, celle que les descendants des esclaves ont transmise de génération en génération; c’est là une source et un moule cruciaux. Mais à vrai dire, à cette première source se joint une seconde, tout aussi, sinon plus importante: les Belles Lettres françaises et européennes, la »World Literature«. Lecteur boulimique, l’auteur se situe dans le sillage du fondateur de la Négritude, Aimé Césaire, d’abord, faisant peu de cas du Guyanais Léon-G. Damas,

3 |  Selon l’indignation de Tahar Ben Jelloun dans: Je ne parle pas le francophone. In: Le Monde diplomatique de mai 2007. 4 |   Sur le plateau de TV5-monde, il présente L’Empreinte à Crusoé (2012) en soutenant la campagne du communiste né à Tunis et pourfendeur de la politique de Sarkozy. Online http://rue89.nouvelobs.com/rue89-culture/2012/04/18/patrick-chamoiseaumelenchon-fonde-sa-radicalite-sur-lhumain-230666#! [31.10.2016]

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ensuite d’Edouard Glissant, mais ne se  »désenfranchit«5 pas des Prix Nobel et autres prosateurs et poètes illustres.

Les sirènes intertextuelles et la lyre orphique Chamoiseau a forgé une œuvre impressionnante qui n’est toutefois pas, me semble-t-il, totalement dénuée d’un »suivisme« par rapport aux modèles »exogènes«, soit les grands classiques littéraires: les auteurs canoniques, intra et extra muros. A côté de Saint-John Perse, poète né guadeloupéen qui remporta le Prix Nobel en 1911, il y a Faulkner, Hemingway, Garcia Marquez, Borges, les deux monstres sacrés du »réalisme merveilleux«, et beaucoup d’autres qu’il salue dans Ecrire en pays dominé (1997). S’il a été le cosignataire du manifeste Éloge de la créolité, Chamoiseau est malgré tout celui qui s’est rendu coupable d’une »décalcomanie«. L’assurance et la spécificité de l’auteur, l’inventivité et l’originalité risquent ainsi d’être sujettes à caution, si ce n’est que le narrateur dans ses différents volumes se réclame explicitement de ses maîtres à penser et à »styliser« le réel. Ce qui caractérise assurément son écriture est ce constant dialogue avec les auteurs qu’il vénère et dont les notes en bas de page, les exergues et les citations directes ou indirectes, les clins d’œil et les motifs livrent comme un deuxième texte dans le corps même, un palimpseste qui tend parfois à surplomber le tout. Sous chaque intrigue, qui se réduit parfois à une donnée assez simple, sous chaque »histoire«, une source assez impressionnante irrigue l’écrit chamoisien. Que ce soit Biblique des derniers gestes, dans lequel le protagoniste est calqué sur le personnage principal de Cent ans de solitude6, de Texaco sur Pluie et vent sur Télumée Miracle (de Simone Schwarz-Bart) ou encore d’Un dimanche au cachot, où Caroline me rappelle Solitude du roman éponyme d’André SchwarzBart.7 Comme le disait Julia Kristeva (1969: 52) dans »Le texte clos«, tout texte est un collage de textes, un assemblage de paroles puisées chez d’autres voix, consciemment ou inconsciemment: règle d’or pour notre »marqueur de paroles«. L’Empreinte à Crusoé ne fait pas exception. Robinson Crusoé de Defoe est encore une fois réinventé par une voix postcoloniale, après que George Lam5 |   Néologisme de ma main. J’entends par là l’intention de se démarquer de la Fran ce et de ses prestigieux prédécesseurs tout en prononçant en toute franchise la forte dépendance de ces mêmes modèles. Chamoiseau décline dans Ecrire en pays dominé (Paris 1997) sa vaste bibliothèque, appelée »Sentimenthèque«. 6 |   L’incipit du roman est une réécriture assez nette du début de celui qu’on surnom me affectueusement ›Gabo‹ (cf. Leoni 2012). 7 |   Auteur dont il a adapté le premier roman antillais, La Mulâtresse Solitude (Paris 1972) dans une pièce ensuite assez désavouée.

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ming et Aimé Césaire ont réécrit The Tempest (Shakespeare), que Caryl Phillips et Wilson Harris ont réécrit d’une perspective postcoloniale Heart of Darkness (1901) de Conrad, Chamoiseau à son tour se mesure aux grands de la »World Literature«. Non par complexe d’infériorité, mais pour prouver que le canon est constitué de »points blancs«, traversé d’oublis fâcheux. Comme l’Histoire est faite par les vainqueurs et non pas par les vaincus, ces derniers font entendre par la réécriture leur point de vue et rendent un visage et une voix à leurs »oubliés de l’Histoire« avec majuscule. L’interculturel est donc le premier champ de bataille du Martiniquais: conscient que les auteurs de cette région du monde sont moins connus en »métropole« que Racine, Zola ou Colette, il a cherché à faire rayonner les écrivains de la Caraïbe d’expression française. Comment le faire autrement que par des histoires littéraires et des anthologies? C’est ici qu’entre en ligne de compte le collaborateur de Chamoiseau, Raphaël Confiant. En effet, Chamoiseau est la moitié d’un duo d’anthologistes. Avec Confiant, Chamoiseau publie Lettres créoles. Tracées antillaises et continentales de la littérature. Haïti, Guadeloupe, Martinique, Guyane (1635–1975) (1991). L’ouvrage connut un succès certain puisqu’il a été réédité en 1999 dans la collection »Folio« sous le titre abrégé, Lettres créoles. Dans leur ›Avant-Dire‹, le duo martiniquais s’adresse au lecteur français et francophone: Donne congé ici aux docteurs de la loi. Laisse aller, qui aborde littérature avec seringue ou bien scalpel. Décommande ces pensées vivisectrices qui médusent les chairs pour deviner une âme (Chamoiseau/Confiant 1991: 11).

Sous l’image chirurgicale, ils désavouent l’approche européenne, alors même que leur»inventaire du réel« littéraire souffre de quelques fâcheux oublis, de quelques romanciers dont ils se sont pourtant bien inspirés (cf. Gyssels 2013b).

L’é-crire et l’é-lire ensemble L’écriture à deux se répète et se complique puisqu’un troisième membre se joint à eux deux pour lancer un texte qui inaugure, après la négritude de Césaire et l’antillanité de Glissant,8 la créolité.9 Le manifeste de la créolité prône le métis8 | Finalement une nébuleuse, l’antillanité tendait à ouvrir la négritude à la dimension caribéenne, au-delà du binarisme Europe versus Afrique. Or, Césaire, Damas et même Senghor l’entendaient déjà comme un élargissement à d’autres horizons, d’autres »mêlées« ethno-socioculturelles et géopolitiques. 9 | Eloge de la créolité (1989) porte trois signatures. L’intervention du sociolinguiste Jean Bernabé, connu pour ses travaux sur le basilecte créole, accrédite la »défense et

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sage dans chaque domaine (presque) de la société martiniquaise. Mais passée cette déclaration d’identité multiple, affirmation forte d’être des métis culturels, programme littéraire, Chamoiseau s’aligne surtout sur Glissant qu’il convoque dans quasiment chaque entretien. Son maître à penser lui a imposé sa double tâche à travers l’œuvre littéraire: l’expression de l’âme collective et préserver l’authenticité créole. Frayant sa voix et sa voie dans celles de son ›mentor‹, Chamoiseau répète son programme: Amorcé par le phénomène de la négritude, avec Aimé Césaire, puis […] précisé avec l’antillanité d’Édouard Glissant dans laquelle il fut clairement exprimé, entre autres exigences, la nécessité d’assumer la continuité entre l’oralité créole et notre écriture créole, entre le conteur créole et l’écrivain (Ludwig 1994: 153).

A vrai dire, la prétendue nouveauté a beau être »soulignée«, accentuée, amplifiée, elle n’est pas si innovante que ça. Depuis toujours, les Antillais ont cherché à renouveler et à se singulariser par cet aspect-là: le titre de la première anthologie, introduite par Jean-Paul Sartre, en témoigne. L’Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache (1948) atteste de l’impérieux besoin de renouveler le genre poétique par le »surréalisme noir«, par, entre autres, l’apport du »poème en prose« et du rythme jazzy, mais surtout par les revendications légitimes de l’égalité citoyenne des individus de couleur dans la République française. A bien y regarder, il faut reconnaître un certain mimétisme, une fois de plus, dans ces mouvements antillais. En effet, l’essai cosigné à trois, puis à deux (Glissant et Chamoiseau), fait penser aux différents Manifestes du surréalisme d’André Breton. Envieux de la stature on ne peut plus prestigieuse du chef de file du surréalisme, Glissant dit et redit que les Antilles sont des laboratoires de cultures »composites« (opposées aux »cultures ataviques«: l’Européenne ou l’Occidentale). L’univers caribéen, annoncerait en quelque sorte le modèle »planétaire« pour un monde multiculturel et multi-ethnique. Par l’esclavage et la colonisation une fusion d’au moins trois cultures a été mise en marche. L’Européenne (les maîtres et les »békés« comme on les appelle à la Martinique), l’Africaine (les esclaves, importés de la Côte des esclaves), et l’Amérindienne, soit les Indiens décimés sous l’effet de maladies et de travail dans les mines. D’autres »ethnies« sont arrivées après l’abolition de l’esclavage: les »indentured labourers« ou Indiens »coulis«, les Syro-Libanais fuyant les guerres civiles et enfin aussi des Guyanais et des Haïtiens. Le petit nombre de ces derniers constitue une migration interrégionale, comparée à l’émigration massive vers la France, surillustration« du créole. Confiant, plus que Chamoiseau, fait de son usage en littérature une condition sine qua non. Langue mineure, ils la hissent au rang de langue majeure et de tremplin vers d’autres sphères de la réalité insulaire, miroir en creux de l’échelle planétaire.

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nommée la »mère-trop-pôle«. En effet, s’installer en France reste pour beaucoup d’Antillais le rêve suprême et aussi grand nombre d’auteurs résident dans la métropole, bien que Chamoiseau soit l’exception qui confirme la règle. Un des rares à s’enraciner dans son île natale, lui et Confiant demeurent sur place. Glissant, Gisèle Pineau, Daniel Maximin, Maryse Condé ont préféré s’installer, tout en alternant les va-et-vient entre leur Département et le »Nombril-du-monde«, aux yeux du poète guyanais de la négritude, Léon-Gontran Damas (Damas 1956). Texte très étudié, traduit en plusieurs langues, Eloge de la créolité n’est toutefois qu’une étape dans le parcours de Chamoiseau: s’associant à Glissant qu’il élit et lit tant et si bien que tout ce qu’il écrit résonne fortement de son empreinte. Chamoiseau revendiquera à son instar la »créolisation« au lieu de la »créolité«, le suffixe indiquant un aboutissement, alors que l’identité rhizomatique (notion empruntée à Gilles Deleuze10) est en évolution permanente, jamais fixe, toujours changeante. Avec le recul, la créolité semble essouflée; le mouvement ne rime plus à grand-chose, en partie parce que Chamoiseau s’est davantage associé avec Glissant. De surcroît, le »vain combat« de la langue11 a cédé la place à d’autres »hautes missions«, toujours sous l’égide de Glissant. Bien qu’ils ne fassent pas l’objet de l’essai de référence sur les duos d’écrivains (cf.Lafon/Peeters 2006), Chamoiseau et Confiant par leur anthologie signée à deux, Lettres créoles, puis Chamoiseau et Glissant par leurs ›Lettres ouvertes‹ (à Sarkozy, lors du Ministère de l’Intérieur) et leurs trois manifestes (Manifeste pour refonder les DOMs; Manifeste pour les produits de haute nécessité,12 L’identité hors-la-loi. Contre les murs, puis L’intraitable beauté du monde), s’affichent comme un duo indissociable. Ils polémiquent d’une seule voix contre l’intolérance et l’indifférence au sein de la République et les autres démocraties européennes. Ils s’indignent contre l’érection des murs (à la frontière mexico-américaine, tout en passant sur le mur que fait construire Israël contre les Palestiniens). Enfin, ils prêchent l’avènement d’une ère où les Noirs seront présidents (»l’Intraitable beauté«), félicitant Barack Obama avec son élection, et rêvent d’un »brave new world« où les biens de ›première nécessité‹ seront non des denrées alimentaires, mais des œuvres d’art, de la poésie, de la littérature (cf. Glissant/Chamoiseau 2009). 10 | Le concept de »rhizome« et d’identité à racines multiples, ou rhizomatiques vient d’un duo de philosophes à qui ils doivent énormément: Deleuze et Guattari. On pourrait aussi penser à d’autres amitiés fidèles qui ont résulté dans des publications qui, quoique signées individuellement, doivent beaucoup à la réflexion en couple: Cixous et Derrida, notamment (Cixous 2001). 11 | Chamoiseau, puis Confiant annoncent la disparition de cette petite langue. 12 | Ed. Galaade, 2009. Avec E. Breleur, spécialiste des arts plastiques, et éditeur en chef de la revue Recherche en Esthétique, publiée à la Martinique.

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Osons deux constats: le silence est sauvegardé dans les nombreux entretiens de Glissant (surtout) et de Chamoiseau quant à qui a écrit quoi, comment ils ont conçu l’écriture à quatre mains. Dans quelle mesure la singularité et l’originalité ne risquent-elles pas de s’estomper lorsqu’on écrit avec l’autre? S’il règne une déférence autour d’une pratique qu’ils sont loin d’être les seuls à pratiquer, ils copient, là encore, des couples d’écrivains. Pensons à Simone de Beauvoir et Jean-Paul Sartre, ou plus près d’eux, André et Simone Schwarz-Bart. Quant à ces derniers, si Chamoiseau affiche explicitement ses prestigieux antécédents, il se tait souvent sur ce couple emblématique de l’entente transcommunautaire. [Gyssels 2013a].) Ensuite, forgerons pour la reconnaissance des pidgins et des patois »nègres« qu’a générés l’univers de Plantation, les Martiniquais oublient le néerlandais, langue européenne mineure, et par conséquent, les Antilles néerlandophones et le Surinam.

Vieux rhum dans de nouvelles dames-gabrielles13 L’urgence à inventer de nouveaux concepts qui, tout en prétendant à la nouveauté, rabâchent d’anciens principes, témoigne d’une forte volonté de ›faire école‹, au détriment d’un vécu livré dans des récits qui parlent aux publics de tous bords. De fait, les prémisses de la créolisation du monde ne sont pas totalement désavouées dans leur prolongement: la pensée du Tout-monde (cf. Glissant 1993 et 1997), puis, de Littérature-monde14 (2006) explore la planétarisation des contacts de culture et de civilisation et la nécessité d’accepter le Divers.15 Or, dans l’ouvrage publié l’année suivant le décès de Glissant, Chamoiseau semble prendre un nouveau tournant, qui consisterair à »tuer le père symbolique«. Dans ›l’Atelier de l’Empreinte‹, il proclame notamment:

13 | Récipient typiquement conçu pour faire macérer les rhums arrangés. La damegabrielle est en verre et peut contenir jusqu’à une dizaine de litres de rhum agricole ou ambré. Au temps des habitations, on enterrait la dame-gabrielle pour cacher le liquide précieux de la lumière du jour et faire mariner ainsi les bois et épices dans l’alcool. 14 | Intégrant toutes les branches d’une littérature aussi diverse que les régions et les expériences dont elle parle, l’expression s’est imposée comme synonyme d’une »Relation« intergénérique accueillant la littérature de voyage, de l’exil, les nombreux inclassables (dont les leurs propres?) de la littérature en français, à cheval entre divers univers culturels et plusieurs langues minoritaires et majoritaires. 15 | La boîte à outils glissantienne doit beaucoup à Segalen (pour le Divers), à Deleuze et Guattari (pour le »rhizome«), à Sartre pour ses sous-titres Poétiques I, II et III. Cette affiliation n’est pas toujours concédée facilement (cf. Gyssels 2013).

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K athleen G yssels [L]ittérature monde, c’est idiot … le monde est sans doute aujourd’hui un très haut et très juste objet de littérature comme le dit Glissant, mais nul ne peut décréter ce que littérature en fera (Chamoiseau 2012: 253).

Sprache: le français créolisé Dans l’émission Apostrophe, le lauréat du Prix Goncourt 1992 s’est exprimé au micro de Bernard Pivot en faveur des petites langues. Son Prix Goncourt, c’était en partie à cause de la ›défense et illustration‹ du créole, et avec lui, de toutes les petites langues en voie de disparition: le créole des Antilles est effectivement mis à l’épreuve par le français et l’anglais. Dans l’archipel caribéen, chaque île s’est forgé une langue minoritaire et mineure. Mais le romancier publiant chez Gallimard veut que le lecteur de France saisisse le »parler« des Martiniquais, qu’il goûte à sa parlure savoureuse. Or, comme l’ont montré de nombreux critiques, ce créole sous la plume du romancier n’est aucunement le reflet de l’idiolecte parlé à Fort-de-France. Qui plus est, la créolisation du français, autrefois si importante, ne semble plus être prépondérante. Chamoiseau s’éloigne du »chamoisien« dans L’Empreinte à Crusoé. Le dialecte créé pour la »couleur locale« y est plus pondéré tant et si bien que l’on a l’impression que Chamoiseau tourne la page. Son vieux ›aimant‹ l’attirant dans les quatre directions d’une Littératuremonde reprend le dessus: chaque écrivain d’origine coloniale s’efforçant de se montrer à la hauteur de grands romanciers et poètes européens et américains, modèles du Nord, comme du Sud, de l’Est comme de l’Ouest, qu’ils ont »intériorisés« dans leurs études souvent accomplies dans les capitales de l’ex-Empire, Chamoiseau récrira à présent des classiques. Comme l’a montré Roger Toumson (1981), la l règle de base de la création littéraire antillaise consiste à réécrire les grands du »canon«. Mais là où Chamoiseau dialoguait avec non pas une mais toute une chorale de voix de Prix Nobels ou avec d’autres »figures« incontournables des Belles Lettres (dont certains surprenants, pensons à Céline16), il réécrit Robinson Crusoé de Defoe. Ce faisant, il se mesure d’abord à l’auteur britannique (Defoe), puis à un premier pasticheur, Michel Tournier (dans Vendredi ou les limbes du Pacifique), romancier français, pour parsemer également son récit de références à Walcott (cf. Nobel 1992) et Glissant, et finalemetn à des philosophes antiques (Parménide, Héraclite). Quadrillé entre plusieurs pôles d’attraction, il risque toutefois de perdre de vue le vécu et l’authentique dans une 16 | Fusionnant personnages folkloriques et légendes créoles avec les chefs-d’œuvre de la littérature francophone et plus généralement mondiale, il noue à chaque fois une dense mosaïque. Voir Cornille 2008 et 2011 pour Chamoiseau et Glissant, parmi d’autres grands ›décalcomanes‹. Cf. Gyssels 204. Pour Hemingway The Old Man and the Sea, et Les fugitivos de Carpentier, lire mes articles: Gyssels 2002 et 2007.

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narration touffue, luxuriante. La robinsonnade chamoisienne finalement dérive loin de sa source. L’on pourrait arguer que de plus en plus Chamoiseau écrit, comme on a pu le dire de Césaire dans sa poésie et ses essais (Discours sur le colonialisme 1955, pour ne mentionner qu’un seul), pour un lecteur intellectuel. Sa dense intertextualité, son style exubérant qu’on a qualifié de »baroque«, ses thématiques, parfois redondantes, expliquent peut-être qu’après l’heure de gloire du Goncourt, l’auteur n’a pas remporté la plus haute distinction littéraire qu’il ambitionne tant? Contre toute attente, celle-ci allait en 2015 à Patrick Modiano, et en 2016 au chanteur Bob Dylan.

Gesellschaft: sciences humaines, écologie, ethnographie, eulogie Avec Texaco, Chamoiseau signe un premier roman de tournure historico-écologique. L’urbanisation et l’exode rural sont un effet deux phénomènes corrélés qui s’observent aux Antilles comme à l’échelle planétaire. Même ce roman porte la trace d’une réflexion sinon écriture à plusieurs: le maire foyolais, Serge Letchimy étant l’ami proche de Chamoiseau, s’est prononcé sur l’inquiétude quant à la disparition des dernières enclaves vertes foyolaises, due à la bétonisation et expansion d’immeubles en dur du chef-lieu de la Martinique et la dévastation et destruction irréversibles de quartiers populaires qui regorgent de traditions millénaires et de vestiges d’un »autre temps«. De sa propre main, il signe donc le volumineux Texaco, le roman qui illustre le mieux la créolisation avec la transformation de l’En-ville en nouvel espace urbain, avec l’eulogie de personnages morts (Esternome, Marie-Sophie Laborieux); de concert avec Raphaël Confiant (cf. Modenesi 2010; Couti 2015), l’évolution d’une Martinique rurale vers une Martinique fortement bétonnée, avec ses quartiers différents, donne à lire la transition d’une société esclavagiste et d’un univers de Plantation à un univers citadin engorgé par les fléaux de la ville postmoderne. Fort-deFrance fait l’impression d’une mangrove congestionnée.

Chlordécone et mercure (de France) La société antillaise est en crise écologique: les pollutions au chlordécone,17 la déforestation et la bétonisation, les eaux marines polluées, la biodiversité menacée, tout cela ressort dans les romans et leurs »accompagnements«, pétitions et textes souvent collaboratifs diffusés sur la Toile et publiés dans les réseaux locaux. La détérioration des ressources naturelles dans les Petites et Grandes 17 | Pesticide employé dans les bananeraies, cause de cancers de prostate et d’autres maux.

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Antilles (sous un afflux du secteur touristique aussi) a récemment fait l’objet de nombreux débats qui résonnent dans les écrits de Chamoiseau. Cependant, l’on s’étonne que le troisième département d’outre-mer, la Guyane, soit aussi peu présent dans la Poétique de la Relation de Glissant qu’il s’est fait sienne. Pourtant, l’autre département d’outre-mer dans cette même aire archipélique connaît les mêmes ravages forestiers et les mêmes pollutions au mercure dans les orpaillages. Dans Retour de Guyane (1938), Léon-G. Damas dressait déjà le bilan de la présence française dans ces régions, n’étant pas tendre avec l’industrialisation effrénée et le consumérisme débridé qui se sont intensifiés après la ›départementalisation‹ de 1946. D’autre part, la Guyane demeure fort derrière les Petites Antilles quand il s’agit de discuter littérature, arts, aménagement du territoire et réparation des sites mémoriels. Là encore, les Martiniquais sont parfois coresponsables de cette négligence. Ainsi, s’il s’est intéressé au bagne guyanais, Chamoiseau semble ne pas avoir pris la peine de lire le poète guyanais Damas. Et bien qu’il se soit évertué à faire un Guyane. Traces-mémoires du bagne (1994), il ignore l’essai du cofondateur de la négritude sur le Camp de la transportation qui donna mauvaise réputation à la France équinoxiale.18 De même, en sa fonction du membre du Prix Carbet, puis du Prix Carbet des lycéens (créé en 1999), Chamoiseau ne dit mot du compagnon de route d’Aimé Césaire. Que cet oubli se produise à la veille du Centenaire Damas (2012), confirme que le poète ›scandaleusement oublié‹ (cf. Gyssels 2016a) est quelque peu dédaigné par les auteurs emblématiques que sont Chamoiseau et Glissant. Cet oubli s’explique justement par le réflexe martiniquais de ne pas se remettre en cause, de ne pas décentraliser non plus la publication et l’édition. Tandis que le duo Glissant et Chamoiseau auraient pu débouter la dépendance éditoriale vu leur autorité et »capital symbolique«, le choix de l’éditeur confirme le centrisme, bien qu’il reste tout à fait compréhensible qu’il choisisse la plus prestigieuse »écurie« pour gravir les échelons. Fréquemment contacté pour donner son opinion sur des problèmes et phénomènes de société, Chamoiseau reste parfois aussi paradoxalement distant ou à dessein dans les coulisses médiatiques. Ainsi, lors de »l’Affaire Taubira«, l’ex-ministre ayant été traitée de »guenon«, un silence régnait dans un premier temps, côté antillo-guyanais. Patrick Chamoiseau prit sa défense, mais

18 | Sa visite au Bagne ou Camp de transportation à Saint-Laurent de Maroni: »[W]hile his report wanders through the now restored ruins of the camp, picturing Dreyfus’ cell as exactly ›the door of no return‹, no comment or ›connection‹ is made between the ›bagnard‹ and the Jewish prisoner in Devil’s Island. This is not to hint at some resentment, but just a missed opportunity: the ›reader’s expectations‹ more than once rest unsatisfied. With Bayard, I would like to suggest some links which would improve the dialogue between harmed communities« (Gyssels 2014b).

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tardivement, en novembre 2013, dans un texte de surcroît obtus.19 Contrairement à Marie Darrieussecq, qui dédie son Prix Médicis à Taubira, la défense de Chamoiseau sonne factice, comme si l’auteur doublait la voix peu naturelle de certains de ses personnages (cf. Richardson 2006), peu convaincant dans sa défense molle de l’ex-garde des Sceaux.20 L’ex-ministre de la justice injuriée par des citoyens immondes laissa-t-elle indifférente ses frères et sœurs de couleur? Suivant l’affaire de près, j’ai été consternée du mutisme des Antillais et des Guyanais, étrangement cois face à l’insulte raciste de leur »déléguée«, native de la ville de Cayenne.

Encenser versus censurer Certains concepts empruntent à la »philosophie« de l’identité rhizomatique le caractère volatile, évolutif. Élusivité du concept »guerrier de l’imaginaire«, comme le reconnaît aussi Dash dans une critique virulente de mon essai Passes et Impasses où je mets précisément le doigt sur le fait que le fils de Glissant semble se distancier de la prescription (pourtant auto-imposée) d’être défenseur des valeurs éthiques et donc humanitaires, d’être un »créoliste« à l’écoute du concert des voix du »tout-monde«: »It is precisely this need to justify the literary in terms of the ethical that is at the heart of the Martinican novelist Patrick Chamoiseau’s most recent description of himself as a warrior of the imaginary.« In what must now be the definitive introduction to Chamoiseau’s work, Wendy Knepper explains the novelist’s invention of identities in terms of a crucial but »ambivalent« strategy »to adopt and divest« himself of masks »in order to find new imagined countries without territories or borders«. His most recent »mask« as warrior of the imaginary is an attempt to put some distance between his earlier incarnation of the rebel, the militant political activist in the Cesairean mode, and a post-protest shift from the political to the poetic. Chamoiseau’s »warrior« is no longer a figure of resistance because of the shifting, elusive forms of domination in the contemporary world. He is alert but not aggressive. As is often the case, this particular formulation seems to have been inspired by Edouard Glissant’s call for an »insurrection of the imaginary«. Chamoiseau seems to want to combine an older idea of literary militancy with the idea of altering the imaginary. The questions arise whether the imaginary can be 19 | Online http://www.lemonde.fr/societe/article/2013/11/14/patrick-chamoiseaules-racistes-n-ont-plus-de-refuge_3514113_3224.html [31.10.2016]. 20 | Online http://www.lemonde.fr/idees/article/2013/11/15/pour-christiane-taubira _3514753_3232.html [31.10.2016].

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K athleen G yssels transformed in this way, whether it can be »weaponized« or even whether this might be Chamoiseau’s way of avoiding the complicated local politics of Martinique. Kathleen Gyssels and Benedicte Ledent have used Chamoiseau’s latest literary mask as a title for their uneven and wide-ranging bilingual collection of essays The Caribbean Writer as Warrior of the Imaginary. Gyssels seems to be aware of the oxymoronic aspect of Chamoiseau’s term but it is too tempting a »hook« to be questioned. Its value is apparently its vagueness. In any case her introduction is less a serious ref lection of Chamoiseau’s concoction than a virtuoso attempt to adorn her prose with almost every expression or title created by Caribbean writers. Benedicte Ledent’s afterword »Waging the War from the Outside« refreshingly applies Chamoiseau’s idea of militancy to writers in the diaspora … (cf. Dash 2012: 115–125)

Diversalité et versatilité, écrivain dé-masqué (Beida 2008) La négritude comme la créolité était un trio de membres fondateurs; il n’empêche que, en réalité, un duo prit le devant: Senghor et Césaire pour la négritude, puis Confiant et Chamoiseau pour la créolité. Quadrillé, au carrefour d’une trajectoire qui l’élit comme un des écrivains emblématiques de la littérature non-hexagonale, Chamoiseau et Glissant se profilent comme porte-paroles d’autres minorités de la République: les immigrés (Lettre à Sarkozy [2001]) et les afropéens21 (descendants d’Africains, dans leur Lettre contre le Décret Vanneste). Chamoiseau et Glissant seraient-ils des »intellectuels organiques«, au sens de Gramsci, soit des penseurs populaires à l’instar d’un Stéphane Hessel? Le mérite a toutefois une face cachée. L’intellectuel dans la cité, cela n’est pas sans risque, car pareille ascension peut se réaliser au détriment de leurs anciens chevaux de combat. Dans les dernières parutions en date, le »marqueur de paroles« devient de plus en plus allégorique et donc, par conséquent, moins référentiel … S’il s’éloigne de son coauteur Confiant en raison du »sérieux contentieux avec l’Afrique«22 , d’une part, et son antisémitisme virulent,23 de l’autre, Chamoiseau entame un tournant dans son parcours avec l’aveu dans Empreinte à Crusoë (cf. Gyssels 2014: 287–309), l’auteur trouve-t-il de nouvelles alliances?

21 | Terme suggéré par Mbembé 2010. 22 | Voir Africamaat, 26 décembre 2004. 23 | À quatre mains, Benoît Peeters et Michel Lafon ont écrit le livre de référence sur l’écriture en collaboration. Nous est un autre (2006) a marqué un tournant dans la réflexion sur la création littéraire, sur la notion d’auteur et plus amplement sur le fait littéraire (cf. Peeters 2015).

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(Lire Poiana 2008) Va-t-il pactiser avec d’autres artistes, tels les photographes et les plasticiens? Sans doute. Seulement, l’inventaire du Tout-monde risque de chavirer comme un bateau trop chargé; des utopies finalement très peu »envisageables«. Dans son essai percutant, Juliana Tauchniz soulève les nombreuses ambivalences comme les définitions réductrices de concepts comme hybridation.24 Au bout du compte, la bellettrie risque de lasser certains lecteurs. Quel est son message au monde? Engagé à l’instar de Glissant (Artières 2003; Nesbitt 2013), Chamoiseau se dépolitise, quoi qu’il puisse prétendre sur les ondes médiatiques. En l’espace de 70 ans de départementalisation, la Martinique ne s’autodéermine pas et ressemble encore beaucoup à la »vitrine de la Caraïbe«25 ainsi qu’à la société »krazé«; et l’écart entre le romanesque et le populaire, entre Chamoiseau et son »peuple« est un symptôme de l’inventaire incomplet du réel.26 Si la première génération, Françoise Ega et Mayotte Capécia avaient vu leurs autofictions systématiquement éditées avec en illustration de couverture, la belle Martiniquaise portant le madras à carreaux, l’œuvre chamoisienne risque d’être victime de l’iconologie exotisante qui barre le chemin à une sincère et authentique autopsie du »Nous« martiniquais.

Bibliographie Artières, Philippe (2003): »Solitaire et solidaire«. L’entretien avec Édouard Glissant. In: Terrain 41 (septembre), pp. 9–14 [repris dans: Pour une littérature-monde. Sous la direction des Michel Le Bris et Jean Rouault. Paris 2007, pp. 77–86]. Beida, Chiki (dir.; 2008): L’écrivain masqué. Entretien avec Patrick Chamoiseau. Paris. Chamoiseau, Patrick (2009a): L’Intraitable beauté du monde. Adresse à Barack Obama. Paris [avec Édouard Glissant]. Idem (2009b): Les Neuf Consciences du Malfini. Paris Idem (2012): L’Empreinte à Crusoé. Paris. Cixous, Hélène (2001): Portrait de Jacques Derrida en Jeune Saint Juif. Paris. Cornille, Jean-Louis (2011): Plagiat et créativité. Douze enquêtes sur l’auteur et son double. Tome II. Amsterdam. Couti, Jacqueline (2015): La Doudou contre-attaque:Féminisme noir, sexualisation et doudouisme en question dans l’entre-deux-guerres »Comment S’en Sor-

24 | La lecture de Tauchnitz 2014 va dans le même sens. 25 | Selon l’expression de Glissant 1981: 174 et sv. 26 | Frantz Fanon, psychiatre martiniquais, définit la tâche de l’écrivain comme suit: faire la tâche colossale de dresser l’inventaire du réel. Trop de phénomènes ont été évités sous la plume des créolistes (sexisme et stigmatisation des Haïtiens, ostracisme des LBGQ, etc.)

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K athleen G yssels tir?« [En ligne], N° 1 | 2015. En ligne depuis le 20 mai 2015. Online https://commentsensortir.files.wordpress [31.10.2016]. Darrieussecq, Marie (2013): Je dédie mon prix à Christiane Taubira. In: Le Monde de 15 novembre 2013; online: www.lemonde.fr/idees/article/2013/11/15/pourchristiane-taubira_3514753_3232.html [31.10.2016]. Damas, Léon-Gontran (1956): Black-Label. Paris. Dash, Michael (2012): Imaginary Insurrections: New Criticism on Caribbean Writers. In: Research in African Literatures 43, Issue 3 (Fall), pp. 115–125. Glissant, Édouard (1997): Traité du Tout-monde. Paris [= Poétique IV]. Idem (1981): Le Discours antillais. Paris. Gyssels, Kathleen (2002): Du paratexte pictural dans Un plat de porc  … à l’intertexte sériel dans Écrire en pays dominé. In: French Literature Series 29, pp. 197–213. Idem (2003): »I Walked with a Zombie«. In: Mary Gallagher (éd.): Ici/Là, Place and Displacement in French-Caribbean Writing. Amsterdam/New York. Idem  (2007): Histoires de femmes et de chien cannibales. Réécritures et intertextualités inaperçues ou inavouées. In: Lieven D’hulst et al. (éds.): Caribbean Interfaces. Amsterdam/ New York, pp. 297–321 Idem (2008): La dernière des races après les Crapauds Ladres: Confiant’s Citizens and Terroir in Mamzelle Libellule. In: Rivke Jaffke (éd.): The Caribbean City. Leiden, pp. 324–341. Idem (2013a): Du Black Atlantic de Paul Gilroy à La Cohée du Lamentin d’Édouard Glissant. Migration d’un concept et retour sur la pensée glissantienne. In: Postcolonial Studies: Modes d’emploi. Éd. par Collectif Write Back. Lyon 2013, pp. 469–504. Idem  (2013b): Entre poloniser et polliniser: l’œuvre schwarz-bartienne comme ›Fremdkörper‹ dans le canon antillais. In Perspectives européennes des études littéraires francophones. Sous la direction de Claude Coste et Daniel Lançon. Paris 2013 (Francophonies 3), pp. 199–215. Idem (2014): The Département Writes Back: L’Empreinte à Crusoé de P. Chamoiseau. In: Sabine Broeck/Carsten Juncker (éds.): Decoloniality – Postcoloniality – Black Critique. Joints and Fissures. Frankfurt am Main/New York 2014, pp. 287–309. Idem  (2015): Critical Glissantism? E. Glissant’s Views on Languages. In: Theo D’haen/Iannis Groenlandt/Roger D. Sell (éds.): Major versus Minor? Languages and Literatures in a Globalized World. Amsterdam (FILLM Studies in Languages and Literatures 1), pp. 103–124. Idem (2016a): Black-Label ou les déboires de Léon-G. Damas. Paris. Idem  (2016b) in: Pierre Soubias et al. (eds.): Patrick Chamoiseau ou la mer des récits. Toulouse. Jourde, Pierre (2002): La littérature sans estomac. Paris. Lafon, Michael/Peeters, Benoît (2006): Nous est un autre. Enquête sur les duos d’écrivains. Paris. LeBrun, Annie (2000): Du trop de réalité. Ecologie de l’imaginaire. Paris.

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La question de l’hospitalité Nathalie Roelens À tous les repas pris en commun, nous invitons la liberté à s’asseoir. La place demeure vide mais le couvert reste mis. René Char, Feuillets d’Hypnos (1944)

1. Préambule lexicographique Le Trésor de la langue française définit l’hospitalité comme »l’action de recevoir chez soi l’étranger qui se présente«. Mais les choses ne sont pas aussi simples. Le mot hôte en français est ambigu. Il désigne aussi bien l’accueillant que l’accueilli. La racine latine hospes, hospitem, qui a donné hôte ainsi que hospitalité, hôtesse, hôpital, hôtel, voire otage (le mot a été pris comme désignation de la personne, après avoir signifié »logement, demeure«), s’est scindée en anglais en host (littéralement l’hôte qui héberge, »seigneur d’étrangers« ou »animal ou plante qui a un parasite«), et en guest, celui qui est hébergé. L’allemand a trouvé une pirouette et distingue »Gastgeber« (»Wirt«) et »Gast«, d’où dérivent »Gastfreiheit«, »Gastrecht« et »entgästen«, »dés-hôter« dont nous aurons à reparler, mais est aussi apparenté à »Gabe« (don) qui a la même racine que »Gift« (poison). Or, une autre étymologie plus lointaine doit être prise en compte, où hospes serait formé sur hostis, d’une racine suffixée *ghos-ti- (hôte), et sur un élément *pet- supposé être une trace de *poti-, »pouvoir«, l’ensemble signifiant quelque chose comme »maître de l’hôte (c’est-à-dire de l’étranger, de l’ennemi)«. En anglais, un deuxième lexème host renvoie encore à ce hostis initial, et peut désigner une foule et notamment une armée »hostile«. On peut dire »a host of troubles«. Un troisième sens de host dérive d’un mot totalement indépendant: hostia, signifiant une victime ou un sacrifice qui persiste dans l’hostie de l’Eucharistie, comme transsubstantiation du corps du Christ. Notre investigation devra tenir compte de cette polysémie initiale.

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Dans L’Encyclopédie, la définition de l’hospitalité, de la plume du Chevalier de Jaucourt, insiste sur le perfectionnement d’âme de celui qui offre un gîte et sur la libéralité envers les étrangers au-delà des liens du sang ou à l’égard de ceux qui cherchent une retraite contre les persécutions. Le lieu est d’ailleurs indissociable de l’acte. Les établissements ou édifices publics à cet effet semblent engendrés par le besoin de voyager des hommes et servent à relayer les habitants assez charitables pour les héberger, leur donner asile, les mener aux bains publics, aux jeux, aux spectacles, aux fêtes:  »Les Romains établirent à l’imitation des Grecs des lieux exprès pour domicilier les étrangers; ils nommèrent ces lieux hospitalia ou hospitia, parce qu’ils donnoient aux étrangers le nom de hospites« (Jaucourt 1765: 324). Jaucourt évoque aussi les »dii viales, des dieux de l’hospitalité: dont Jupiter hopitalis, Jupiter hospitalier (on lui offre du pain, du vin et du sel)« (ibid.: 314). L’étranger est souvent davantage vénéré que le concitoyen. Les lois des Celtes punissent beaucoup plus rigoureusement le meurtre d’un étranger que celui d’un citoyen. Les Orientaux et les Juifs lavent les pieds de leurs hôtes ou leur offrent des libations. Les Perses mettent à leur disposition leurs femmes et leurs filles. De là on passe à l’idée de partager le lit de la fille de l’hôte. Mais le grec ξένος, xenos, étranger, a également imprégné l’hospitalité dans xenion, présent dont on gratifie les étrangers, selon l’institution de la xenia, hospitalité ritualisée entre États ou hospitium publicum: »On rompoit une piece de monnoie, ou plus communément l’on scioit en deux un morceau de bois ou d’ivoire, dont chacun des contractans gardoit la moitié; c’est ce qui est appellé par les anciens, tessera hospitalitatis, tessere d’hospitalité« ( Jaucourt 1765: 315). René Schérer, dans son essai Zeus hospitalier, détaille ce »symbole«: »objet composé de deux morceaux semblables qui s’emboîtent exactement: poissons, têtes de bélier en bronze, ou deux mains jointes« (Schérer 1993: 85). Xenos est aussi à l’origine du mot »proxène, ce citoyen ou magistrat qui, à l’âge classique de la Grèce, introduisait les étrangers« (ibid.: 37). Edmond Jabès évoque, pour sa part, la philoxénie, l’amour de l’étranger: »Celui qui inopinément se présente à vous a toujours sa place réservée sous la tente. Il est l’envoyé de Dieu« (Jabes 1991: 84). Et, enfin, ce qu’on appelle la théoxénie, ou test de l’hospitalité, est la visite d’un dieu incognito dans la maison de mortels pour mettre à l’épreuve leur hospitalité. Dans le mythe gréco-romain de Philémon et Baucis (Métamorphoses d’Ovide), Jupiter et Mercure sous forme humaine reçoivent l’asile chez un vieux couple qui leur offre un accueil cordial et un repas champêtre et fruste mais généreux dans leur humble demeure. Pour les récompenser de leur prodigalité, les dieux inondent toute la région inhospitalière hormis leur pauvre cabane qui se transforme en temple magnifique. À la fin de leur vie ils seront à leur tour transformés en un chêne et un tilleul, arbres de la »patrie« au sens de »Heimat«. Dans la Bible, deux anges arrivent à Sodome et demandent l’hospitalité qui leur est refusée, sauf par Lot (lui-même étranger d’origine logeant chez les So-

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domites) qui les presse de venir chez lui et leur prépare un festin. Il n’hésitera pas d’ailleurs à leur offrir ses propres filles vierges pour qu’ils échappent aux Sodomites lesquels proposent une »mauvaise hospitalité« (Schérer 1993: 202) et dont la traduction de Chouraqui véhicule toute la charge de débauche: »Faitesles sortir vers nous: pénétrons-les« par rapport à »Faites-les sortir vers nous pour que nous les connaissions« (traduction Pléiade). Les lois de l’hospitalité passent donc pour Lot au-dessus de l’obligation éthique qui le lie à sa famille. La ville sera détruite mais Lot sera épargné et sa femme, parce qu’elle se retourne, changée en statue de sel. Faire acte d’hospitalité, c’est en effet pour de nombreuses cultures honorer les dieux  et inversement: »Tout étranger de par son altérité inquiétante possède cette dimension numineuse « (ibid.: 53). On le voit, l’hospitalité n’est pas une sinécure. Elle a toujours été considérée comme un devoir moral depuis la nuit des temps jusqu’à Emmanuel Levinas qui invoquait »l’étranger, la veuve et l’orphelin envers qui je suis obligé« (Levinas  1961: 215). L’hospitalité fut de tout temps érigée en vertu, en injonction sacrée et inviolable. Avec l’expansion du commerce, la commodité des transports et la généralisation de l’hôtellerie, la bienfaisance des particuliers devient plus rare. Les trois conditions pour que l’hospitalité soit réussie ne sont plus remplies, à savoir: 1. que celui qui demande l’hospitalité soit hors de sa patrie pour des raisons innocentes, 2. qu’il soit honnête homme, 3. qu’on ne loge pas pour de l’argent. »L’hospitalité s’est donc perdue naturellement dans toute l’Europe« (Jaucourt 1765: 316) et remplacée déjà au XVIIIe siècle par l’agrément vénal et l’appât du gain. On pourrait ajouter que le parasitisme qui était une des conséquences d’une hospitalité tutélaire et charitable, devient la norme: le voyageur parasite les lieux et les êtres en les souillant de son argent. Et le touriste actuel de corroborer encore cette réputation d’intrus, finalement de parasite au sens biologique de tirer profit de l’organisme sur lequel il vient se greffer. Même si les AngloSaxons désignent l’industrie hôtelière sous l’expression »hospitality industry«, les hôtels et restaurants pratiquent l’accueil, mais pas l’hospitalité. Revenons une dernière fois à l’étymologie. Marcel Duchamp, dont on connaît le goût pour les calembours et les »ready made«, rattache à ces deux hôtes (»host« et »guest«, »Gastgeber« et »Gast«) le mot »ghost« (Gould 2000: 208), le fantôme, faisant fusionner par amalgame host et guest, qui s’étaient éloignés, dans »ghost« (»Geist«). Ce calembour fut exploité en 1953, lors du vernissage de l’exposition parisienne de Bill Copley, artiste américain, précurseur du Pop art, sur l’emballage de bonbons offerts aux invités. A Guest + A Host = A Ghost. Selon Stephen Jay Gould, dans cette conjonction spectrale, »le host anéan-

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tit le guest pour engendrer la vacuité du ghost« (Gould 2000: 208). L’argument étymologique, selon lequel le ghost clôt un cycle depuis la naissance, la croissance jusqu’au déclin et la mort, intensifie l’ironie de l’anéantissement. expansion to Birth

decline to

Maturity

Death

Host

Hospes (hospital of birth)

Ghost (hauting in death)

Guest Au niveau du signifié, le »host« qui prodigue l’hospitalité offre une »hostie« (bonbon) au »guest« qui, après l’avoir mangée, reste avec l’emballage comme un linceul de fantôme d’une substance désormais vide, annihilée, a »nihilistic shroud of Dada« (Gould 2000: 208). L’offrande d’une »hostie«, le »caramel« (d’ailleurs anagramme de Marcel) rappelle le rapport de l’hospitalité à l’oralité mis en exergue par Alain Montandon, dans Désirs d’hospitalité, l’invité étant toujours absorbé par l’hôte, voire cannibalisé: Être accueilli réactive sans nul doute les nostalgies premières et archaïques qui servirent de modèle: la sécurité, la chaleur du refuge, le nourrissage continu, le visage de la mère. La main, le regard, la bouche participent de l’établissement des liens, de la reconnaissance, de l’autre et de soi, de l’oralité, oralité qui met en place le passage du dedans et du dehors, du manger et de l’être mangé, du cannibalisme et de l’ogre. D’où une question: qui de l’hôte accueillant ou de l’hôte reçu mangera l’autre? (Montandon 2002: 1)

Toutes ces connotations de l’hospitalité vont dès lors hanter nos propos.

2. Un topos de la littérature occidentale Ces préambules étymologiques qui grèvent le mot d’une charge connotative considérable nous amènent à retenir cinq scènes d’hospitalité dans la littérature occidentale  – chez Homère, Mozart/Da Ponte, Flaubert, Klossowski, Pasolini

L a question de l ’ hospitalité

– comme autant d’allégories ou »scènes d’hospitalité« afin d’en mesurer les différentes modalités.

2.1 Homère: Odyssée Ulysse sans cesse se demande abordant un rivage étranger en quelle terre il a échoué, s’il va trouver des brutes, des sauvages sans justice ou des hommes hospitaliers, craignant des dieux: – Fidèles équipages, le gros de notre flotte va demeurer ici; mais je vais prendre, moi, mon navire et mes hommes; je veux tâter ces gens et savoir ce qu’ils sont, des bandits sans justice, un peuple de sauvages ou des gens accueillants qui respectent les dieux. (Homère 1924: XII)

Toutefois, si Ulysse supplie sur le seuil un accueil bienveillant, c’est qu’il a déjà une idée bourgeoise du retour au foyer, c’est qu’il veut ponctuer son aventure de haltes rassurantes. »Ce qui fait l’humain, c’est la ›terre donneuse de blé‹ qu’Ulysse embrasse à son retour à Ithaque, ce blé si essentiel au pain de l’hospitalité« (Montandon  2002: 36) et, comme le dit Pierre Vidal-Naquet, »Toute l’Odyssée, en un sens, est le récit du retour d’Ulysse à la normalité, de son acceptation délibérée de la condition humaine« (Vidal-Naquet 1991: 47). L’hospitalité idéale, il la trouve en partie chez les Phéaciens (le roi Alcinoos et sa fille Nausicaa), car elle est harmonieuse et pleine. Ulysse est reçu avec grande prodigalité. Le désir du voyageur de trouver un traitement favorable est dès lors exaucé au-delà de tous ses vœux. Les Phéaciens contrastent avec l’hospitalité comme séquestration, incarcération, ou aliénation qu’il connaît chez la magicienne Circé ou chez la nymphe Calypso, dont l’hospitalité enchantée, ensorceleuse, par la »rétention de l’hôte«, par sa prise en otage (»hostage«), est un »obstacle au nostos« (Montandon 2002: 25) (νόστος signifiant »retour«). Quant à l’épisode de Polyphème, il devient une parodie cynique de la scène d’hospitalité. Le seul don du Cyclope à Ulysse est le suivant: »Eh bien! je mangerai Personne le dernier, après tous ses amis; le reste ira devant, et voilà le présent (xenion) que je te fais, mon hôte!« (Homère 1924: XII). La perversion, l’hostilité, la fondamentale inhospitalité, l’anthropophagie renversent une hospitalité humaine. Aussi la mort de Polyphème est-elle une simple vengeance de celui qui déshonore Zeus Xenios. Polyphème reviendra sous forme de Cyclope bénin dans la figure d’Eumée, le porcher qui accueille Ulysse mendiant à Ithaque et lui offre sa maigre pitance. Or l’hospitalité des Phéaciens se rapproche encore d’une hospitalité bourgeoise, préconçue, où l’on soigne sa face, balisée de toutes sortes de règles à accomplir, celles que les traités du savoir-vivre préconiseront au XIXe siècle, réglée par une »eurythmie des relations sociales« (Montandon  2002: 6), par

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un cérémonial, une étiquette très codée avec des »convives que l’on aura choisis de manière harmonieuse, en évitant d’inviter ensemble des personnages qui peuvent entrer en conflit (et en particulier pour des raisons politiques)« (Montandon  2002: 6)  et une temporalité calibrée – l’hôte doit être de passage, car au-delà de trois jours il pue comme le poisson. En outre, certaines pièces dans l’intérieur bourgeois étaient exclusivement ou presque affectées à la réception: »salon, bibliothèque, salle à manger, vestibule et bureau, fumoir, salle de billard et jardin d’hiver« (ibid.: 8). Tout cela mène à l’abolition de la surprise: »La décoration flattant l’œil est soignée: vase plus ou moins riche et élégant avec des fleurs (artificielles en hiver, naturelles en été), des pyramides de fruits, pâtisseries, bonbons, le dessert dressé à l’avance, tout indique qu’il n’y aura pas de surprise« (ibid.: 8 f.). Mais la relation hôte-hôte demeure asymétrique car l’hospitalité implique une dépendance de l’accueilli envers des règles extérieures. »Le don d’hospitalité […] excède toujours le besoin« (Schérer 1993: 128), ce qui mène à la surenchère. Et l’invité, bien sûr, n’est pas chez lui, se fait vite débiteur et doit sans cesse compenser l’accueil qui lui est réservé par des contre-dons. D’où une situation inconfortable et une gêne réciproque. De sorte que le rituel s’avère intenable, et que l’agonistique guette. Le »hostis« hante le »hospes«, l’ennemi dans l’étranger. Alcinoos fait attendre Ulysse, lui demande son identité avant même de lui donner à manger. La prodigalité se teinte donc de suspicion. Ce rejet initial trouve bien entendu sa cause dans la crainte du non-familier, de l’inconnu, de celui qui pourrait être un brigand, un pirate. On fait tout pour transformer l’intrusion menaçante de l’élément exogène en élément en harmonie avec la société endogène. Montandon propose l’idée que »la peur de l’étranger motive un accueil prodigue qui fonctionne comme une conjuration face aux dangers potentiels que le personnage venu du dehors représente« (Montandon 2002: 41). L’angoisse de l’intrusion dans la sphère domestique, source de crainte et de tremblement, amène le local à ériger un rempart sociologique et culturel à toute forme de différence, de couleur, de religion, de classe sociale jusqu’au repli identitaire. Aussi Montandon repère-t-il deux dangers à ce que nous aimerions appeler »l’hospitalité irénique, consensuelle«: le narcissisme et l’assimilation. D’une part, ce qui apparaît comme une volonté de plaire et de flatter l’hôte est également narcissisation de celui qui reçoit, étalant en pleine lumière espaces et objets, manières et discours qui le mettent en valeur. L’hôte munificent exerce sur l’invité une emprise dissymétrique, l’écrasant par son opulence au risque que la relation ne dégénère: »L’hospitalité n’est pas rencontre de l’autre dans son altérité, mais rencontre du moi dans l’autre« (ibid.: 119). D’autre part, l’assimilation se traduit par un verbe que les frères Grimm mentionnent dans leur Dictionnaire, entgästen. Il signifiait le fait d’enlever les habits de celui qui était reçu et de lui donner de nouveaux vêtements, ceux de son hôte »de sorte que extérieurement il cessait d’avoir l’apparence d’un hôte« (ibid.). On retrouve ce »déshôtage« lors

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de la scène canonique de l’accueil par les Phéaciens en réponse au rite de supplication du Zeus Xenios, invocation qu’Ulysse adresse à la gracieuse Nausicaa aux bras blancs, alors que naufragé, nu et affamé, il se jette à ses pieds: Ah! reine, prends pitié! c’est toi que la première, après tant de malheurs, ici j’ai rencontrée; […] donne-moi un haillon à mettre sur mon dos; n’as-tu pas, en venant, apporté quelque housse? … Que les faveurs des dieux comblent tous tes désirs. […] Nausicaa: […] ne crains pas de manquer ou d’habits ou de rien que l’on doive accorder, en pareille rencontre, au pauvre suppliant. (Homère 1924: VI)

Or ces deux périls ne font que solidifier l’institution initiale. Notre hypothèse commence à s’articuler ici: l’hospitalité codifiée, mise en scène, de façade, n’est pas souhaitable car elle lisse les rugosités de la rencontre interculturelle. Ce léger vacillement de la méfiance semble nous plonger au cœur de l’interculturalité, dont l’hospitalité, en se polissant, en se spiritualisant, va perdre l’intensité de l’étonnement dont il faut toujours doter cette rencontre à en croire Dieter Heimböckel: Das Gewahrwerden der eigentümlichen Andersheit manifestiert sich als Staunen. Es ist ein Staunen einerseits über das Andere, andererseits über das Denken-wie-üblich und seine Begrenztheit. Das Staunen initiiert den Ausbruch aus dem Denken-wie-üblich und setzt damit ein Staunen über die Begriffe des Eigenen und Anderen frei. Das Staunen ist das Vehikel der Interkulturalität. […] Das Staunen ist Ausdruck der Begegnung mit dem Unvertrauten, eine Weise bewusstwerdenden Nichtwissens (Heimböckel 2013: 82).

Cet étonnement suppose une réceptivité: »Wer sich nicht darauf einlässt, von etwas Unvertrautem überrascht zu werden, oder wer glaubt, alles bereits zu kennen, der ist vor Überraschungen, die ihn ins Staunen versetzen, vergleichsweise geschützt« (Heimböckel 2013: 22 f.). Rappelons que xenos signifie à la fois étranger et étrange, inhabituel. C’est l’inhabituel qu’il faut sauver dans la rencontre avec l’altérité comme geste interculturel. Les cas suivants figurent la déconstruction de la scène initiale, où le »ghost« réapparaît, où l’invité s’avère d’une autre nature ontologique que l’hôte, incommensurable. La littérature met le doigt sur les risques inhérents à l’hospitalité et propose finalement ce que Jacques Derrida appellera »l’hospitalité inconditionnelle« ou »hospitalité absolue«.

2.2 Mozart/da Ponte: Don Giovanni Dans la pièce de Molière Dom Juan ou le Festin de pierre (1682), la gravité de la rencontre avec le Commandeur, que Dom Juan avait tué dans un duel, est tournée en dérision par Sganarelle.

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Arrêtez, Dom Juan: vous m’avez hier donné parole de venir manger avec moi. Oui. Où faut-il aller? Donnez-moi la main. La voilà. Dom Juan, l’endurcissement au péché traîne une mort funeste, et les grâces du Ciel que l’on renvoie, ouvrent un chemin à sa foudre. Ô Ciel! que sens-je? Un feu invisible me brûle, je n’en puis plus, et tout mon corps devient un brasier ardent, ah!

Le tonnerre tombe avec un grand bruit et de grands éclairs sur Dom Juan, la terre s’ouvre et l’abîme, et il sort de grands feux de l’endroit où il est tombé. sganarelle :

[Ah! mes gages, mes gages!] Voilà par sa mort un chacun satisfait, Ciel offensé, lois violées, filles séduites, familles déshonorées, parents outragés, femmes mises à mal, maris poussés à bout, tout le monde est content; il n’y a que moi seul de malheureux. [Mes gages, mes gages!] (Molière 2006: 129)

Dans l’opéra de Mozart Don Giovanni (1787), sur un  livret  de  Lorenzo da Ponte inspiré du même mythe, l’hospitalité doit affronter l’impensable (»jamais je ne l’aurais cru / non l’avrei giammai creduto«), à savoir la statue revenante de l’homme qu’il a tué. La statue du Commandeur invite Don Giovanni à se repentir, mais celui-ci refuse obstinément. Il sera englouti par les flammes de l’Enfer. Le Commandeur est d’une autre nature ontologique: Il ne se repaît pas de nourriture terrestre celui qui se repaît de nourriture céleste Non si pasce di cibo mortale chi si pasce di cibo celeste,

il n’est plus le guest mais le ghost. Tout invité est potentiellement un dieu, potentiellement un démon, un mort qui vient hanter le vivant. En outre, en conviant à son tour Don Giovanni chez lui, il scelle la réversibilité des rôles que suppose l’hospitalité. Cette permutation des places met le doigt sur l’ambiguïté lexicale entre l’hôte invitant et l’hôte invité et sur le caractère intenable de leur distinction. la statue :

Repens-toi!  etc. Non! etc. la statue : Si! don giovanni : Non! la statue : Si! don giovanni :



L a question de l ’ hospitalité don giovanni : Non! leporello: don giovanni : la statue :

Si! si! Non! Non! Ah! Il n’est plus temps!

La statue disparaît. De tous côtés surgissent des flammes et la terre commence à trembler sous les pieds de Don Giovanni. don giovanni :

De quelle agitation étrange je sens mon esprit assailli! D’où sortent ces tourbillons de feu pleins d’horreur? chœur de démons : Ceci en regard de tes fautes est peu! Viens, il y a mal pire! don giovanni : Qui me déchire l’âme? Qui ébranle mes entrailles? Quel supplice, hélas, quelle rage! Quel enfer, quelle terreur! leporello: Quelle face désespérée! Quels gestes de damné! Quels cris, quelles lamentations! Comme cela me terrifie! chœur : Ceci en regard de tes fautes est peu, etc. don giovanni : Qui me déchire l’âme, etc. leporello: Quelle face désespérée, etc. don giovanni ,  puis  leporello: Ah!

Les flammes enveloppent Don Giovanni. Après sa disparition, tout rentre dans l’ordre et les autres personnages entrent. (Mozart 1787: Acte II, scène finale)

Mozart christianise le débat sur l’hospitalité en sacralisant le repas comme moment de la repentance. Mais celle-ci peut s’inviter dans le lit même de l’hôte comme dans le cas de figure suivant.

2.3 Gustave Flaubert: Saint Julien l’Hospitalier Pour l’un de ses Trois Contes (1877), Flaubert s’est inspiré d’un vitrail du XIIIe siècle qui se trouve dans le déambulatoire  de la cathédrale de Rouen et qui rapporte la légende de saint Julien l’Hospitalier. On lui vouait un réel culte au moyen âge, le priant quand on cherchait refuge. Aussi est-il devenu le saint tutélaire des voyageurs, des errants, des malades. Mais contrairement à l’hagio-

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graphie (la Légende dorée de Jacques de Voragine) où Julien incarne la charité chrétienne et hospitalière, car il fonde un hôpital pour les pauvres et les lépreux, charité qui repose encore sur un contrôle de l’autre, Flaubert invoque dans sa version à la fois morbide et mystique une idée de respect devant l’altérité absolue de l’autre (l’hospitalité inconditionnelle). Comme dans le sacrifice d’Isaac par Abraham, on a ici un »rapport absolu avec l’absolu« (Schérer 1993: 39), un abaissement extrême de celui qui reçoit jusqu’à l’anéantissement. L’hospitalité est ici liée aux thèmes de l’exil et de la pénitence, et englobe jusqu’à l’intimité du lit comme lieu hospitalier par excellence, espace érotique et tombeau. Né de parents nobles, dans un château, Julien devient un jeune homme vigoureux, ardent, et très cruel, passionné de chasse. Un jour, après avoir massacré une harde de cerfs, il voit s’avancer vers lui le grand mâle qui la commandait, et celui-ci lui parle: »Maudit ! un jour, cœur féroce, tu assassineras ton père et ta mère !« Effrayé de cette prophétie, Julien délaisse la chasse; mais peu de temps après, il manque de tuer accidentellement son père et sa mère. Il prend la coiffe de dentelles de sa mère au loin pour les ailes d’une cigogne et lui lance son javelot. Il fuit alors le château et mène une vie d’aventurier. Devenu un mercenaire célèbre, il loue ses services à l’empereur qui lui offre sa fille en mariage, et les deux jeunes gens vivent heureux, jusqu’au jour où Julien se laisser attirer par des animaux sauvages dans la forêt. Entre-temps, ses vieux parents sont arrivés au château: leur belle-fille a le plus grand mal à les reconnaître en ces mendiants et leur offre son propre lit. Quand Julien rentre, dans l’obscurité, il croit trouver sa femme en compagnie d’un amant et il les massacre. Le voilà de nouveau errant sur les routes, menant la vie d’un pèlerin. Il finit par se fixer au bord d’un fleuve et fait le métier de passeur. Un jour, en plein orage, il est appelé de l’autre rive par un affreux lépreux plein de pustules. Il va le chercher, et l’homme lui demande l’hospitalité. Celui-ci mange toutes les provisions de son hôte, s’installe dans son lit et, ne pouvant se réchauffer, demander à Julien de venir à côté de lui, puis de s’allonger sur lui. Julien, par une espèce de fraternité absolue, inconditionnelle, – »hospitalité mystique ou utopique« (Schérer  1993: 257) – s’exécute, et tout à coup le lépreux devient Jésus qui entraîne Julien à sa suite, au Ciel. Un parricide, un monstre parricide devient en conséquence un saint par transfiguration christique. Son péché est rédimé par la vertu hospitalière: »Sans doute y a-t-il une coïncidence ironique des deux hospitalités dont l’une aboutit au meurtre et l’autre à la sainteté« (Montandon 2002: 147 f.). Déshabille-toi, pour que j’aie la chaleur de ton corps! Julien ôta ses vêtements; puis nu comme au jour de sa naissance, se replaça dans le lit; et il sentait contre sa cuisse la peau du lépreux, plus froide qu’un serpent et rude comme une lime. Il tâchait de l’encourager; et l’autre répondait, en haletant: – Ah! je vais mourir! … Rapproche-toi, réchauffe-moi! Pas avec les mains! non! toute ta personne!

L a question de l ’ hospitalité Julien s’étala dessus complètement, bouche contre bouche, poitrine sur poitrine. Alors le lépreux l’étreignit; et ses yeux tout à coup prirent une clarté d’étoiles; ses cheveux s’allongèrent comme les rais du soleil; le souffle de ses narines avait la douceur des roses; un nuage d’encens s’éleva du foyer, les flots chantaient. Cependant une abondance de délices, une joie surhumaine descendait comme une inondation, dans l’âme de Julien pâmé; et celui dont les bras le serraient toujours, grandissait, grandissait, touchant de sa tête et de ses pieds les deux murs de la cabane. Le toit s’envola, le firmament se déployait; et Julien monta vers les espaces bleus, face à face avec Notre-Seigneur Jésus, qui l’emportait dans le ciel. (Flaubert 2000: 61 f.)1

Le lépreux va mettre à l’épreuve la protection épidermique du sujet et du corps propre que certaines cultures vont jusqu’à ritualiser: »Certaines tribus aborigènes d’Australie du Nord se frottaient la peau pour en recueillir la sueur afin d’en recouvrir le corps de l’arrivant, exemple admirable à mes yeux d’un accueil qui fait tomber les barrières de l’étranger pour une intégration dans la sphère propre. Le corps de l’autre n’est plus élément extérieur, l’imposition des mains l’enduit de l’odeur de l’hôte pour l’assimiler. Bel exemple de proxémique où le don de l’odeur corporelle est signe de partage et d’identification à la personne, au groupe« (Montandon 2002: 127). Hors rituel, cette conduite semble difficilement tenable. C’est sans doute la raison pour laquelle Montandon distingue dans cette histoire d’abnégation et de fusion mortifère avec l’autre, d’évanouissement de toute limite dans le sentiment océanique du renoncement absolu, dans cet idéal mystique, de mortification chrétienne, »une chimère de l’hospitalité, d’une hospitalité utopique, impossible, irréalisable« (ibid.: 128). L’hospitalité absolue se donne en effet ici comme proximité absolue, épousailles du même et de l’autre, »union intime avec l’étranger dans un embrassement sexualisé« (ibid. 2002: 144).

2.4 Klossowski: Les lois de l’hospitalité Dans Roberte ce soir (1953), de Pierre Klossowski, premier volet de sa trilogie les Lois de l’hospitalité, le partage hospitalier poussé à l’extrême consiste pour l’hôte à livrer sa propre femme à la jouissance de l’invité. Octave, théologien, ancien professeur en scolastique, s’acharne à vouloir connaître au-delà de sa visibilité quotidienne sa femme Roberte, athée et inspectrice de la censure (elle persécute entre autre les œuvres pornographiques de son mari), souhaite saisir la Roberte infidèle dans une épouse remplissant fidèlement ses devoirs. Pour ce faire, il doit faire appel à un tiers, l’invité, d’où le titre de la trilogie, d’où également l’inscription sur le mur de la chambre d’amis: »La délectation la plus éminente 1 | Saint François se pliait déjà au désir de l’autre selon un don suprême de soi en donnant un bain au lépreux, »défi à la répugnance« (Schérer 1993: 45).

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de l’hôte a pour objet l’actualisation dans la maîtresse de céans de l’essence inactuelle de l’hôtesse. Or, à qui incombe ce devoir sinon à l’invité?« (Klossowski 1953: 14) Cette tentative de dévoiler, de mettre à nu ce qui se cache derrière l’apparence est étayée par des présupposés théologiques, à savoir, vouloir percer au travers d’un acte scopique »le mystère de l’union hypostatique, cette union entre la nature humaine et la nature divine« (ibid.: 43), encore appelée »communication des idiomes«, qui renvoie à l’hypostase, ou double nature de la personne du Christ. Il incombe en effet au jeune neveu de mettre au jour un moment d’égarement en puissance chez la maîtresse de céans, de dévoiler l’infidèle dans l’épouse exemplaire, la femme impudique dans la chaste, la dévergondée dans la réservée, jusqu’au point toutefois où l’hôte »aura cessé d’être maître chez lui« (ibid.: 19). L’invitant devient l’otage de l’invité. Ou encore »L’hôte (guest) devient l’hôte (host) de l’hôte (host)« (Dufourmantelle 1997: 111). En dévoilant son intimité, en devenant objet du désir d’autrui, Roberte sera devenue potentiellement »communicable«. L’oncle est persuadé que par cette opération »Roberte s’ouvre et que le verrou de son identité saute« (Klossowski 1953: 58). Toutefois, l’entreprise d’Octave avortera. Son voyeurisme, prêt à enfreindre tous les interdits de son milieu monogamique et bourgeois – l’interdit d’adultère, de prostitution, de comportement immoral –, devra se heurter à l’absence d’intimité ou de secret de Roberte. Elle aura tôt fait d’anéantir, de révoquer les fantasmes théologiques ou érotiques – »essence inactuelle«, »intellect incréé«, »pur esprit«, »lois de l’hospitalité« – de son vieux mari, son espoir, en la livrant à des tiers, de la voir en contradiction avec elle-même, mise hors d’elle-même, prise au dépourvu. Le corps souverain, errant, et athée de Roberte tourne en dérision, l’adéquation entre »le rôle et la personne«. L’expérience sera décuplée chez Pasolini.

2.5 Pasolini: Théorème Dans Théorème de Pasolini (1968), un jeune homme fait irruption chez de riches bourgeois milanais, viole leur espace privé, leur chez-soi. Puisque personne ne l’a invité, il se comporte comme un parasite ou comme un dieu, car il usurpe une hospitalité qu’on ne lui offre pas. Comme nous l’avons vu précédemment, l’invité est divinisé. C’est toujours un dieu qui est reçu: »L’individu est incertain et c’est pour cela qu’il appelle, à titre conjuratoire, la cérémonie hospitalière« (Schérer 1993: 131). Aussi, dans le »théorème« de Pasolini, ne s’agit-il plus d’une visite mais d’une visitation qui s’accomplit dans et par la possession physique. C’est par l’hôte que le scandale arrive. Dans cet univers rétrograde, foncièrement réactionnaire, confiné, de la bourgeoisie industrielle, réduit au silence de consentement de leur classe (»murés dans leur silence« (Pasolini 1978: 20), dans ce huis clos »feutré« (ibid.: 29), un monde où tout est ritualisé, »qui s’op-

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pose à l’éclosion de tout miracle« (ibid.: 142), pénètre par effraction un personnage inédit et extraordinaire, scandaleusement beau. Il finira par entrouvrir: la vie privée jalousement préservée de ces familles de gens aisés ou d’industriels milanais, qui vont jusqu’à garder leurs stores baissés, au point que seule quelque domestique ose de temps en temps mettre le nez dehors, un cours instant, pour aussitôt se retirer de nouveau dans l’ombre impénétrable des pièces. (Ibid.: 177)

L’invité, se faisant progressivement inclure, déplie, délie ce monde clos, irrespirable, contribue au dépassement des limites spatiales et morales des habitants, vers le dehors de l’affranchissement. En tant que »l’étranger, l’inconnu, l’ennemi même, qui pourtant devient l’ami sacré« (Schérer 1993: 149), en tant que xenos, étranger et hostis, ennemi potentiel, il jette le trouble et perturbe la quiétude de cette famille conformiste, mais y apporte aussi la révélation: »Il est le porteur de lumière qui réveille en chacun la flamme assoupie par son exil terrestre et surtout par la flamme qui l’enferme, […] ange luciférien« (ibid.: 42 f.). La servante Emilie, puis Pierre, le fils de famille, puis la mère et Odette, la fille, enfin le père, tous connaîtront le visiteur, au sens biblique du terme. Mais après son brusque départ, rien ne restera du message laissé. Seule l’humble servante d’origine paysanne atteindra le salut car, à la différence des bourgeois selon Pasolini, elle n’a pas substitué de conscience à son âme, ni de morale à son sens du sacré. Le roman-scénario est imprégné d’une sexualité taboue, proche de l’inceste, comme si l’hôte faisait partie de la famille. C’est en se  prêtant à leurs désirs latents refoulés qu’il parvient à les escorter vers l’ailleurs: Pierre, timide, falot mais digne, vers l’ailleurs de l’art; Odette, douce et inquiétante, vers la folie; la mère, Lucie, raffinée, incarnant la haute bourgeoisie, vers le pavillon de la luxure; le père, avec sa majesté naturelle, vers le désert; Emilie, la servante, vers le haut de la lévitation, de l’apesanteur. On pourrait appliquer à ce monde hermétiquement clos le concept foucaldien de »grand confinement« (cf. Foucault 1972) d’auto-séquestration des bourgeois, anticipant déjà sur le dernier Pasolini, celui des Cent-vingt journées de Salò, la république sadique fasciste et libertine. On peut même voir les peupliers qui entourent la propriété comme un rideau entre les deux univers, entre le dedans policé et le dehors sauvage, archaïque, sacré. L’invité, ange, émissaire de l’ailleurs, ouvre une brèche dans le monde du devoir, introduit l’arbitraire et le possible dans l’univers immuable des maximes: il entraînera les habitants vers le dehors pour les dévergonder, les tirer de leur vergogne, de leur vilenie bourgeoise, vers la fuite, le devenir-autre. Nous avons montré ailleurs (cf. Roelens 2015) que le phrasé de Pasolini est également parasité par des incises qui entament le monde clos de l’idéologie bourgeoisie et de la phrase. Pasolini, par le biais de l’incise, non seulement opère une dilatation de l’énoncé, mais taille dans le vif, cisaille la phrase, la farcit d’une

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critique sociale donnant lieu à une énonciation clivée, résultat d’une hospitalité textuelle ou d’un parasitage discursif. Dans un récit en focalisation externe, les incises insèrent une subjectivité révoltée, critique. Quelques exemples. Lucie vit dans le recueillement, le repli sur soi, l’absorbement, comme on dit en histoire de l’art (en l’occurrence Michael Fried). Elle va même jusqu’à mimer dans son corps propre les barrières topologiques qui entourent la villa, les volets fermés. Elle lit »ses yeux, obstinément baissés« (Pasolini 1978: 19). Son destin de femme sédentaire sera perturbé par la scène du chalet, juché sur d’élégants pilotis et doté d’une petite alcôve, lieu d’une »luxueuse sauvagerie« (ibid.: 39). Des pensées s’emparent d’elle, elle ne peut plus détourner le regard des vêtements du garçon »comme une suppliciée« (ibid.: 42) »Éperdue« (ibid.), elle se couche entièrement nue sur le plancher de la terrasse qui couronne le chalet. Brusquement, elle froisse entre ses mains le maillot, se lève et le jette dans le vide, pardessus la balustrade de la terrasse, de l’autre côté de l’étang, en direction des fourrés. Elle le regarde, là-bas, au fond, parmi l’herbe et les ronces, irrécupérable: de se trouver là lui confère une signification profonde, sa perte et son inertie se parent de cette violence expressive que prennent les objets dans les rêves. (Ibid.: 42 [nous soulignons])

Lucie envisagera ensuite l’inceste, abordera un jeune étudiant et s’offrira à deux autostoppeurs pour terminer dans une petite chapelle de campagne.  Le père »qui n’avait jamais fait pareille chose de sa vie« (Pasolini 1978: 52) »s’aventure« quant à lui à l’aube pieds nus dans le parc. Son égarement nous ramène à l’extra-vagance de son attitude, »et [il] va de nouveau se coucher, humilié et encore hors de lui, dans son lit«; ibid.: 55), hors de lui car il a déjà quitté en partie le confort douillet. Mais la honte reprend le dessus. Le devoir fait taire l’aspiration profonde du sujet. Car »ce geste, […], pour un bourgeois, a quelque chose d’insensé« (ibid.: 76). Il faudra que l’hôte entraîne le bourgeois en Mercedes vers un endroit désert de la périphérie pour que sautent tous les interdits. L’incise requalifie le discours hégémonique de la phrase, force son hospitalité méfiante, anticipant sur le geste de faire donation de son usine à ses ouvriers après quoi Paul se dépouillera de ses vêtements en pleine gare de Milan et empruntera le »chemin du désert« comme dans un Exode jubilatoire: Il m’est impossible de dire quelle sorte de hurlement je pousse là: il est vrai qu’il est terrible – au point de défigurer mon visage qui est alors pareil à la gueule d’un fauve –, mais il est aussi, en quelque sorte, joyeux, au point de me ramener à l’enfance. (Ibid.978: 179)

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3. Hospitalité et parasitage Le parasite nous ramène à la théorie exposée par Michel Serres dans son ouvrage éponyme. S’appuyant sur la fable de La Fontaine Le rat de ville et le rat des champs (Livre I, fable 9), Serres montre que le parasite est un bruit dans un système de communication constitué d’un hôte, d’un parasite et d’un intercepteur. L’hôte, c’est le propriétaire de la maison et des nourritures dont deux rats vont faire leur banquet. Les rats font du bruit en mangeant la nourriture de l’hôte, parasitant ainsi le silence de la maison malgré eux. Mais un autre bruit interrompt le banquet: c’est le bruit du maître de la maison qui se lève et qui va voir ce qui se passe sur la table. Le bruit de fond a donc changé de sujet. C’est alors l’homme qui parasite ou contre-parasite le banquet des rats, en leur signifiant qu’ils doivent partir. L’hôte peut devenir parasite et le parasite hôte. De sorte que »parasite«, dans le vocabulaire de Serres, devient vite synonyme de »relation«. Le bruit de l’hôte devenu parasite est différent du bruit de fond que faisaient les rats. Il s’agit d’un bruit d’alarme qui est plus fort que ce dernier et qui vise à l’annuler. Mais une alarme peut à son tour être parasitée. Le bruit de fond se réinstaure alors dans ce système transformé. En termes biologiques, il y a un organisme »hôte« et qui est »hôte« de plein droit. On suppose alors qu’il y a aussi un organisme »parasite« qui en profite. Il arrive un moment où l’organisme parasite s’introduit dans l’hôte et commence à habiter son intérieur. Il poursuit son développement dans l’hôte grâce à celui-ci et, lorsqu’il passe à une nouvelle étape de son processus, il le rejette et en sort. L’hôte peut être tué, comme les sauterelles qui sont forcées de se jeter à l’eau par les vers qui les possèdent. Ou bien, il peut continuer à vivre, libre de parasites. Ce que l’on constate dans la fable ou dans la biologie, c’est que les positions ne sont pas facilement assignables. Ce que Serres est en train de penser à l’intérieur des systèmes d’information, c’est au fond ce qui se passe dans tout le domaine du vivant. La vie elle-même ne serait que cet effort parasitaire. Vivre est donc se nourrir d’autres vivants: »L’équilibre d’un vivant dans son milieu ressemble fort à celui que réalisent enfin et où parviennent ensemble parfois l’hôte et le parasite« (Serres 1997: 299). Une autre fable de la Fontaine convoquée par Serres ajoute une nouvelle dimension à la question du parasitage et, partant, de l’hospitalité. Dans Le jardinier et son seigneur (Livre IV, Fable 4), le jardinier veillant à protéger son jardin du lièvre, c’est-à-dire du parasite, se voit obligé de remuer sans cesse la terre et dès lors de détruire son propre jardin. Si bien que la lutte contre l’envahisseur a des conséquences bien pires que l’invasion elle-même. Le parasite, le tiers inclus/exclu, est donc à la base de toute relation, qu’elle soit biologique, sociale ou technique. La position du parasite est cependant variable. En fait, ce qui lie la biologie, la société et le monde des objets techniques, c’est la relation inter-

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subjective: »Toujours vient se brancher le parasite. Le parasite est toujours là, il est inévitable. Il est un tiers sur le schéma trivial, sur l’étoile à trois branches« (Serres 1997: 116). On est devant ce que Serres considère comme le troisième coup au narcissisme. Le premier avait été un coup objectif transférant le centre de l’univers de la Terre au soleil. Le deuxième était le coup subjectif, la transposition de la révolution copernicienne au monde de la subjectivité. Le troisième est maintenant le coup intersubjectif, ce qui voudrait peut-être aussi dire le coup relationnel, la considération du parasitisme comme le fondement de toute relation. Le parasite suit le modèle du jeu du furet: un quasi-objet passe, change de position, va de l’un à l’autre. Le seul sujet de la circulation est la balle ou le furet; les joueurs n’en sont que des stations. Le »je« qui surgit lors de la possession temporaire du quasi-objet est l’effet de celui-ci: le furet est un marqueur du sujet, il permet la transmission du principe d’individuation. Le parasite est alors l’être transformé en relation. Il a donc la forme ou la structure d’un joker: il peut jouer aussi bien un rôle constructeur qu’un rôle destructeur. Les systèmes économiques se construisent à travers la distribution de ces jokers permettant un flux continuel d’information. En période de vache maigre, il y a peu de jokers, peu de chances de ramifier le système: la détermination est forte et la contrainte règne. Les systèmes se rapprochent alors de la monosémie. Quand la récolte est trop abondante et que l’on doit se débarrasser de l’excédent, les bifurcations, les confluences de valeurs rendent possible qu’il n’y ait que des jokers: c’est le capital, l’équivalent général. On voit bien que ce modèle des bifurcations et des carrefours reproduit le système de communication d’Hermès, avec les dangers qu’il entraîne. C’est le système du décalage, illustré par la fable Le singe et le chat, où le chat se fait brûler la griffe pour que le singe puisse manger les marrons (Livre IX, Fable 17). Le singe est ici le maître: le chat et lui ne sont pas égaux, mais ils ne sont pas rivaux non plus. Il y a un décalage: ce sont à la fois la commensalité et la dialectique maître-esclave qui sont décalées. Elles n’ont pas lieu. Mais le système bientôt doit se recomposer. Un bruit les oblige à fuir ensemble, mais seul le singe a profité. Le chat, par contre, n’a pas mangé des marrons et a la griffe brûlée. La chaîne parasitaire cède place à une autre chaîne parasitaire, et ainsi à l’infini. Serres lui-même constate à plusieurs reprises qu’à la base de toute valeur (d’échange, d’usage), il y a une valeur d’abus, dont le rôle, comme le parasitage, est primaire. C’est la chaîne parasite qui introduit à l’origine ce tiers fatal.

4. Économie hospitalière Ce risque de parasitage permanent vient-il révoquer le dénominateur commun des conduites hospitalières étudiées par les ethnologues, à savoir fondée sur les

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dons, présents réels ou symboliques échangés? Pas vraiment, car le don désintéressé est déjà une utopie même dans l’Essai sur le don (1924) de Marcel Mauss. Le potlatch comme prestation attend une contreprestation. Le don est toujours un pharmakon, remède et poison à la fois. Le problème de l’hospitalité s’avère, à notre sens, son institutionnalisation, sa ritualisation. Même la judiciarisation, le devenir-droit de la conduite hospitalière nuit à une hospitalité gratuite. Certes, Emmanuel Kant parlait de tolérance originaire, œcuménique et faisait de l’hospitalité un impératif catégorique dans Vers la paix perpétuelle de 1795: »Le droit cosmopolitique doit se borner aux conditions d’une hospitalité universelle. / Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.« (Kant 1958: 107). Par conséquent, aucune philanthropie particulière n’incite à l’hospitalité. C’est une exigence de l’Histoire; et même, en tout premier lieu, de l’histoire économique, la »constitution cosmopolitique, weltbürgerliche Verfassung, du genre humain« (Schérer 1993: 72). Ce droit permet aux peuples de circuler et d’interférer. Rappelons que Verkehr »désigne à la fois les relations des hommes entre eux et la circulation des marchandises« (ibid.: 69). Nous assistons donc à un extraordinaire élargissement du champ d’application de l’hospitalité puisqu’il ne s’agit de rien de moins que de la Terre entière. En outre, alors qu’en allemand Gastlichkeit dérive de »Gast« (hôte), Kant »utilise le néologisme Hospitalität qui désigne un droit de visite (Besuchrecht), mais non d’accueil (Gastrecht)« (Schérer 1993: 63). Ce simple droit de visite autorise chaque homme à faire partie de n’importe quelle société partielle, en vertu du »droit de possession commune de la surface de la terre (vermöge des Rechtes des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde« (Kant 1958: 107) lié à la particularité de la forme de la planète: »Celle-ci étant sphérique, ils [les hommes] ne peuvent s’y disperser à l’infini et ils doivent bien à la fin se tolérer les uns à côté des autres, (sich nebeneinander dulden), personne n’ayant originairement plus de droit qu’un autre sur une portion de la terre (an einem Orte der Erde)« (ibid.: 113). Or, non seulement les Européens ont abusé de leur »droit de visite« dans l’entreprise coloniale dominatrice – Hernan Cortès n’a pas constitué les Indiens mexicains comme tels, la conscience européenne du XVIe siècle ne s’est pas ouverte aux »autres mondes constitués« –, mais en outre, »le national bloque le principe d’hospitalité« (Schérer 1993: 81). Schérer en déduit – et Derrida abondera dans son sens – qu’il faut toujours appréhender l’hospitalité en dehors du droit, car elle a quelque chose d’»insuppléable«. Autrement dit, »Le devenirdroit de l’hospitalité l’abolit« (ibid.: 110) Appeler du nom d’hospitalité l’espèce de convention tacite par laquelle les nations civilisées accueillent réciproquement leurs réfugiés politiques  serait erroné car cela relève du droit des gens. Alors que l’hospitalité transcende le droit: »Dérangeante, intempestive, elle résiste pourtant, comme la folie, à toutes les raisons, à commencer par la raison d’État« (ibid.: 12)

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Les diverses lois visant au contrôle de l’immigration ou les opérations de régularisation d’étrangers en situation irrégulière ne relèvent pas de l’hospitalité. Elles s’exercent dans un cadre sévère et restrictif ou elles visent l’assimilation. Une certaine distance doit en revanche être maintenue avec l’étranger pour préserver son altérité, surtout lorsqu’on a affaire à ce que Derrida appelle des »étrangers absolus« (»les exilés, les déportés, les expulsés, les déracinés, les apatrides, les nomades anomiques« (Dufourmantelle 1997: 81)), d’autant plus que les peuples nomades, les populations transhumantes ne le sont plus maintenant que par la guerre, contraintes et forcées à l’exil. Le télescopage des cultures effraie l’habitant local qui craint pour son propre sentiment d’appartenance, à en croire Massimo Leone, engendrant »le parcours sémantique de l’aliénation/suspicion« (Leone 2012: 11) où le sujet statique, sédentaire soupçonne le sujet dynamique ou nomade d’être un envahisseur potentiel et, partant, se retranche dans ses frontières car envisage »son propre exil, ainsi que la dissipation de son propre régime d’appartenance« (ibid.: 6). Anne Dufourmantelle en dialogue avec Derrida nous rappelle que dans l’hospitalité, dans cette »géographie – impossible, illicite – de la proximité« (Dufourmantelle 1997: 10), l’intimité peut se muer en haine, que l’hôte peut se muer en ennemi. Leone sauve l’hospitalité par le biais d’une acclimatation réciproque. L’hospitalité réaliserait la temporaire »›intégration culturelle‹ où un sujet dynamique devient progressivement le sujet statique d’un nouveau milieu d’appartenance« (ibid.: 8). À l’»aliénation/suspicion« succède une »acclimatation/tolérance« des deux sujets (»host« et »guest«). Derrida, au contraire, pousse les écueils et les risques de l’hospitalité jusqu’au bord de la folie. Et c’est cette folie, la quête d’absolu incarnée par la littérature, que nous voudrions maintenir comme horizon de nos propos.

5. Interculturalité et hospitalité Notre hypothèse  selon laquelle l’interculturalité serait une hospitalité déritualisée se voit confirmée en fin de parcours. Tous les égards  – la déférence, le décorum, le cérémonial normatif et lisse, qui suppose des commensaux, une convivialité, l’eurythmie des relations sociales – excluent toute forme d’interculturalité, qui s’avère par nature agonistique, car elle relève d’un travail et implique une prise de risque, bref s’apparente à l’attitude philosophique. La pensée philosophique est en effet concernée par l’aporie de la croisée indécidable des chemins: Lorsque nous entrons dans un lieu inconnu, l’émotion ressentie est presque toujours celle d’une indéfinissable inquiétude. Puis commence le lent travail d’apprivoisement

L a question de l ’ hospitalité de l’inconnu, et peu à peu le malaise s’estompe. Une familiarité nouvelle succède à l’effroi provoqué en nous par l’irruption du tout autre (Dufourmantelle 1997: 30).

Tant le corps que la pensée éprouvent la secousse de l’étonnement dans la rencontre avec le tout autre. L’authenticité de la pensée philosophique réside dans l’expérience initiale de la perte du sens, dans l’ébranlement devant l’altérité: C’est pourquoi ›la frontière, la limite, le seuil, le pas au-devant de ce seuil‹, reviennent si fréquemment dans le langage de Derrida, comme si l’impossibilité de délimiter un territoire stable où la pensée pourrait s’établir était provocatrice de la pensée même (ibid.: 56).

Derrida se pose en outre la question de savoir si, pour offrir l’hospitalité, il faut partir de l’existence assurée d’une demeure ou bien si c’est seulement depuis la dislocation du sans-abri, du sans chez-soi que peut s’ouvrir l’authenticité de l’hospitalité: »Seul peut-être celui qui endure l’expérience de la privation de la maison peut-il offrir l’hospitalité« (ibid.: 56). Il rejoint en cela Montandon qui y voit la condition a priori de l’acte hospitalier: »il faut que l’homme découvre son propre exil, qu’il assume le fait d’être étranger à lui-même, d’être un étranger, c’est-à-dire quelqu’un qui n’a pas de chez soi, pour qu’il puisse offrir l’hospitalité« (Montandon 2002: 148). Comme si le lieu dont il était question dans l’hospitalité était un lieu qui originellement n’appartenait ni à hôte, ni à l’invité, mais au geste par lequel l’un donne accueil à l’autre. Une autre question taraude Derrida. Quelles que soient les formes de l’exil, dit-il, la langue est ce que l’on garde à soi. Il cite Hanna Arendt qui, à la question d’un journaliste: »Pourquoi êtes-vous restée fidèle à la langue allemande malgré le nazisme?«, répondait par ces mots: »Que faire, ce n’est tout de même pas la langue allemande qui est devenue folle!«, et elle ajoutait: »Rien ne peut remplacer la langue maternelle« (Dufourmantelle 1997: 80–82). Une fois effectué ce passage à la limite, Derrida taxe la langue, comme rapport inaliénable à la mère, de lieu de la folie ellemême: »Il y a la folie du rapport à la mère qui nous introduit à l’énigmatique du chez-soi. La folie de la mère menace le chez-soi« (ibid.: 84). La réalité secrète, intime, de la langue que défendait Arendt, cette langue maternelle qu’elle disait »irremplaçable«, abrite en elle la déraison, le traumatisme, la haine. Cette mère »unique et insuppléable«, le monde proche, désirant, amoureux, peut se muer en terreur. Du plus familier surgit l’inquiétude qu’un univers insensé se substitue de manière déchirante et presque impensable au monde donné par la mère: »Il faut rapprocher l’essence de la folie de l’essence de l’hospitalité, aux parages de ce déchaînement incontrôlable envers le plus proche« (ibid.: 86). De même le festin peut dégénérer en orgie. Le festin, banquet, symposium, a souvent été érigé en emblème de la philosophie comme débat, confrontation d’idées qui suppose l’inclusion symbolique des commensaux dans le banquet:

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»Chacun de nous est donc comme une tessère d’hospitalité« avance Aristophane dans Le Banquet de Platon. Mais le festin du Diable guette toujours, le diaballein, la séparation, triomphe sur le symballein. Le repas ou agapes confraternelles partagées, festins spécifiques du rituel chrétien depuis la Cène (agapè désignant l’amour chrétien) est menacé de détournement dionysiaque, de bombances, d’éros païen. D’ailleurs commensalité et interculturalité sont mutuellement exclusifs dès lors que les commensaux mangent tous ensemble, mais ne se mangent pas entre eux. Il nous faut donc retracer la généalogie entre l’hospes déterminant une hospitalité codée, irénique; l’hostis responsable d’une hospitalité agonistique, incommensurable (l’hospitalité transgressive qui sommeille dans l’hospitalité normative) et l’hospitalité absolue, inconditionnelle envers des »hôtes illogeables« (Schérer 1993: 241). Et, selon Derrida, cette hospitalité absolue ne s’adresserait pas seulement à l’homme mais aussi  aux animaux, aux plantes et aux dieux; »Si l’on ne fait pas droit à l’hospitalité envers l’animal, c’est aussi le dieu qu’on exclut« (Dufourmantelle  1997: 126). Il faut accepter une interprétation messianique de l’hospitalité, son vocabulaire proche de la théologie négative: l’incommensurable, l’illogeable, l’absolu, l’apriori, l’incalculable, l’irréductible, l’exposition à la venue du Tout Autre (pour Levinas le mendiant est un Dieu, »le rameau du suppliant est le sceptre inversé du roi« [Schérer 1993: 152]). Cette hospitalité requiert une disponibilité et une abnégation totales: »l’être-arraché-àsoi-pour-un-autre-dans-le-donner-à-l’autre-le-pain-de-sa-bouche« (Levinas 1990: 126). L’hospitalité inconditionnelle est pure et donc dangereuse et risquée, car si l’on veut contrôler le risque et l’exclure a priori, il n’a pas d’hospitalité: même la tolérance en tant qu’accueil toujours limité, circonscrit par le droit et le devoir, échappe à l’hospitalité. Il faut accepter que l’arrivant absolu, qui peut être n’importe qui, fasse loi chez soi, jusqu’à détruire votre maison. L’hospitalité est l’éthique: »Pour qu’il y ait rencontre d’un vis-à-vis, réciprocité, échange«, il faut qu’il y ait »un apriori de rencontre, une forme d’accueil, une structure d’hospitalité ›en moi‹« (Schérer 1993: 137). Cette éthique se fonde sur une dépense, un excès: »L’hospitalité déborde la personne. Son nom est excès. Excessive, incommensurable au droit, au nôtre du moins. Elle indique un autre régime, une autre forme d’économie« (ibid.: 126). Sans doute que la littérature peut nous ouvrir à cet excès de l’éthique. Voire, la lecture nous enjoint à cet acte d’hospitalité, à faire un sort à une parole étrangère, à la parole étrangère, aux opinions aliènes, tout comme la traduction est une façon d’accueillir un texte dans une autre langue ou une autre culture, jusqu’à l’illisible, l’intraduisible, l’intraitable.

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6. Conclusion Tout en gardant à l’horizon de notre pensée l’hospitalité absolue, telle qu’elle apparaît dans les exemples littéraires qui ne craignent aucune sanction, il nous faut concevoir la conduite hospitalière comme accommodation réciproque et non annexion à son propre paradigme, comme question et non comme solution: »Le problème de l’hospitalité est un problème d’accommodation« (Montandon 2012: 214). L’interculturalité doit accepter l’altérité incommunicable, l’aveu d’impénétrabilité, l’étonnement, la dépossession partielle, l’obstacle linguistique, le viol des espaces et des corps, le parasite, mais aussi accueillir la parole de l’autre de soi à soi, réalisant l’auto-hospitalité qui consiste à apprivoiser l’autre (hospes et hostis) en soi. Ce n’est qu’à ce prix que l’hospitalité se fera une des conditions d’une interculturalité viable.

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Interdisziplinäre Perspektiven der Interkulturalitätsforschung Internationaler Wissenstransfer am Beispiel von Innovationsdiskursen Gesine Lenore Schiewer Im Zentrum des vorliegenden Beitrags stehen Fragen im Horizont von Interkulturalitätsforschung und solcher Felder, die unter den Begriff der »Science and Technology Studies« zu subsumieren sind und sich insbesondere auf Aspekte des internationalen Wissenstransfers im Zusammenhang von Technik und Innovation beziehen. Dies erfordert zunächst eine kurzgefasste Erläuterung einiger Grundlagen im Bereich der »Science and Technology Studies« und der Innovationsforschung. In einem zweiten Schritt wird anhand eines Beispiels skizziert, welchen Beitrag Ansätze der germanistisch akzentuierten Interkulturalitätsforschung zu einem reflektierten und kontextbezogenen Verständnis von Technik und Innovation leisten können.

1. Interkulturelle Bildungsforschung An dieser Stelle ist eine kurze Vorbemerkung zu machen. Auch wenn im vorliegenden Beitrag eine Konzentration auf Perspektiven im Bereich der Innovationsforschung mit Blick auf Wissen und Bildung stattfindet, dürfen die vielfältigen Ansätze der Bildungsforschung selbstverständlich nicht unerwähnt bleiben, auf die an dieser Stelle aber nur generell verwiesen werden kann (vgl. z. B. Tippelt/Schmidt 2010). So positionierte sich 2007 der Deutsche Kulturrat in seiner Stellungnahme »Interkulturelle Bildung – eine Chance für unsere Gesellschaft« dahingehend, dass interkulturelle Bildung »unverzichtbar [ist] für jedes Land, das wie Deutschland durch den internationalen Handel von Dienstleistungen und Gütern stark in den wirtschaftlichen Globalisierungsprozess eingebunden ist«. Ziel müsse sein,

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G esine L enore S chiewer die Menschen in Deutschland so auszubilden dass sie sich im Inland in internationalen Unternehmen bewähren, und im Ausland integrieren und dort erfolgversprechend arbeiten können«. Ausdrücklich wird auf künstlerische Fächer Bezug genommen, aber auch auf die sogenannten exakten Wissenschaften: Die deutsche und europäische kulturelle Entwicklung – auch in den Naturwissenschaften – ist ohne Kulturbegegnungen nicht vorstellbar.

Dies wird im vorliegenden Beitrag konsequent durchgespielt, indem Interkulturalität nicht nur als additive kommunikative Kompetenz betrachtet, sondern als konstitutiver Aspekt kontextbezogener Perspektivierung von Ökonomie, Technik und Innovation im Ausgang von entsprechenden theoretischen Grundlegungen beschrieben wird.

2. Science and Technology Studies Wissenschaft und Technik als soziale Aktivitäten Zunächst ist hier der Blick auf die wissenschaftssoziologisch orientierte Richtung der Science and Technology Studies zu richten. Eine nützliche Einführung, in der auch historische Quellen wie z. B. der Logische Positivismus des Wiener Kreises und Karl Poppers Kritischer Empirismus berücksichtigt werden, liegt mit der Arbeit von Sergio Sismondo vor. Zu den Basisannahmen gehört die Einsicht, dass Wissenschaftler und Ingenieure immer Mitglied von Gemeinschaften sind, die die Standards setzen, in denen sie ausgebildet werden und in denen sie tätig sind. Daraus leitet sich ein antiessenzialistischer Anspruch ab: The sources of knowledge and artifacts are complex and various: there is no scientific method to translate knowledge into artifacts. In addition, the interpretations of knowledge and artefacts are complex and various: claims, theories, factsm and objects may have very different meanings to different audiences. (Sismondo 2004: 11)

Zentral ist die Applikation konstruktivistischen Denkens unter Rekurs auf Bruno Latours »Actor network theorie (ANT)« auf wissenschaftliche Arbeitsweisen mit der Auffassung, dass Wissen und Artefakte menschliche Produkte sind, die von den Umständen ihrer Herstellung geprägt sind. Dabei werden die Symmetrie von Technik und Gesellschaftsanalyse, von Technik und Geschichte betont: »The engineering and the sociology are inseparable. Neither the technical vision nor the social vision will come into being without the other, though with enough concerted effort both may be brought into being together.« (Sismondo 2004: 81 f.; vgl. auch 96 ff.) Einen spezifisch konflikttheoretischen Zugang zu wissenschaftssoziologischen Fragestellungen hat Randall Collins begründet. Die Grundannahmen

I nterdisziplinäre P erspek tiven der I nterkulturalitätsforschung

sind mit denen der Science and Technology Studies kompatibel, wenn Collins die Auffassung kritisiert, dass Wissenschaft durch überhistorisch-universelle Normen gekennzeichnet ist. Collins sieht »wissenschaftliche Normen, Institutionen und Organisationsformen als historisch wandelbar an und sieht sie primär als Resultate wissenschaftlicher Konflikte« (Collins 2012: 25). Entsprechende Konflikte können keineswegs ausschließlich auf das bessere Argument reduziert werden, sondern hängen Collins zufolge eng mit »notwendigen Ressourcen und Organisationen« (ebd.: 25) zusammen. Dabei berücksichtigt er einerseits gesellschaftliche Einflüsse auf die Wissenschaft ebenso wie andererseits solche der Wissenschaft auf gesellschaftliche Felder (vgl. ebd.). Damit finden sich im Umfeld der Science and Technologie Studies amerikanischer Provenienz in Anknüpfung an breite soziologische Grundlagen u. a. der deutsch- und französischsprachigen Soziologie des 20. Jahrhunderts fruchtbare Grundlagen für die Auseinandersetzung mit wissenschaftskulturellen Variablen bzw. einer interkulturellen Wissenschaftssoziologie.

3. Aktuelle Innovationsparadigmen: Wissen und Bildung statt Technik und Ökonomie? Was weiterhin das Feld der Innovationsforschung betrifft, so ging man lange davon aus, dass es sich bei einer Innovation um technische Neuerungen handelt, die zu zentralen Impulsgebern ökonomischer Dynamik werden (vgl. für einen Überblick zur Innovationsforschung Blättel-Mink 2006). Aktuelle Ansätze der Innovationsforschung haben demgegenüber eine Neuausrichtung erfahren, wenngleich hier sehr wohl auch an frühe Überlegungen der sogenannten Gründungsväter der Soziologie, Georg Simmel und Max Weber, angeschlossen werden kann (vgl. für eine knappe Skizze Cattacin 2011).1 Diese Ansätze jüngeren Datums gehen aber weit über verkürzte Auffassungen mit starken ökonomisch1 | Anschaulich wird der Bogen von der weiterhin starken Innovationskraft naturwissenschaftlich-technischer Entwicklungen zu Fragen der Gesellschaftsentwicklung in Weidenfeld/Turek (2002: 50) gespannt: »Auf die eigenartige Mischung von Globalisierung, sozio-ökonomischem Wandel und Kompensation trifft der Hagel bahnbrechender Entwicklungen in der Informationstechnologie, der Bio- und Gentechnologie sowie – bereits heute absehbar – der Nanotechnologie. Sie ermöglichen völlig neue Innovationen in der Logistik, Produktion, Kommunikation, Biomedizin, der Pharmazie und der Landwirtschaft. Aufgrund der großen Bedeutung dieser ›Zukunftsökonomien‹ muß man dementsprechend von einem sozio-technologischen Entwicklungsschub sprechen, der die Kategorie des sozio-ökonomischen Wandels als wirkungsmächtige Entwicklungskraft ergänzt. Sie formt nicht nur Märkte, sondern prägt auch das soziale Miteinander.« Vgl. zur jüngeren Innovationsforschung Hirsch-Kreinsen 2010, Howaldt/Jacobsen 2010,

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technischen Akzentuierungen hinaus und nunmehr werden gesellschaftliche und pragmatische Aspekte einbezogen. Dies sind z. B. soziale Voraussetzungen von Innovationen und soziale Einflussfaktoren wie: – Wechselverhältnisse von gesellschaftlicher und technischer Innovation, – Relationen von Innovation und sozialem Wandel, – institutionelle Kontexte der politischen, staatlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen, – die beteiligten öffentlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Akteure, – Fragen der Plan- und Steuerbarkeit von Innovation. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass in vielen Regionen der Welt vor allem der Dienstleistungssektor stark wächst. Dass insbesondere im Zuge der Herausbildung von Dienstleistungsgesellschaften die Bedeutung der sozialen Facetten von Innovationen zunimmt, liegt nahe. Es geht aber keineswegs nur um Dienstleistungen – auch technische Innovationen werden nicht mehr nur unter ökonomischen Aspekten betrachtet, sondern auch mit Bezug auf gesellschaftliche Faktoren. Dem entspricht, dass in der Innovationsforschung selbst mittlerweile entsprechende Paradigmen ausgebildet werden. Lange Zeit standen die Erfindung neuer Produkte und die Verbesserung technischer Verfahren oder die Kombination bekannter Elemente zu neuen Technologien im Fokus der Aufmerksamkeit. Technischer Fortschritt wird hier mit positiver ökonomischer Entwicklung gleichgesetzt. Der Fokus staatlicher Forschungs- und Innovationspolitik richtet sich dabei traditionell auf Spitzentechnologien; zurzeit sind dies vor allem Nano- und Biotechnologien, optische Technologien und Informationstechnologien. Die Prämisse dieser Politik besteht hierin: Mit der Globalisierung und der sich verschärfenden Innovationskonkurrenz lasse sich das (westliche) Wohlstandsniveau allein durch die forcierte Entwicklung von Technologien höchster und besonderer Qualität halten. Nur so seien Konkurrenzvorteile und damit hohe Preise insbesondere gegenüber Konkurrenten aus Niedrigkostenländern zu erzielen. Allerdings wird inzwischen sehr wohl auch die Sicht vertreten, dass dieser Ansatz insgesamt hinter wesentliche Erkenntnisse der Innovationsforschung zurückfalle. Nunmehr werden in Innovationsparadigmen gesellschaftliche und pragmatische Aspekte einbezogen. Vor dem Hintergrund der immer weiter zunehmenden Komplexität multikulturell-mehrsprachiger gesellschaftlicher Strukturen der Gegenwart finden auch interkulturelle Dimensionen Eingang. Dabei wird bislang vor allem an sozial- und kulturwissenschaftliche PraxisHowaldt/Schwarz 2010 und Rammert 2010. Vgl. zu Science and Technology Studies Sismondo 2004.

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theorien angeknüpft, um Innovationen im Zusammenhang gesellschaftlichen Handelns zu beschreiben. Eine impulsgebende Rolle kommt dem Begriff ›soziale Innovation‹ zu, der auf eine Anregung des Soziologen Wolfgang Zapf 1989 zurückgeführt wird (vgl. Zapf 1989). Weitere Begriffe, die in diesem Zusammenhang verwendet werden, sind ›sozial-konstruktivistische Innovation‹ und ›inklusive (inclusive) Innovation‹. Als zentrale Aspekte ›sozialer Innovation‹ können im Überblick genannt werden (vgl. Rammert 2010 u- Howaldt/Schwarz 2010): a. Soziale Voraussetzungen von Innovationen und soziale Einflussfaktoren. Diese Dimension wird sogar als die aktive, treibende Komponente betrachtet und das technisch Mögliche tritt hinzu. Es wird also das akzentuiert, was Naturwissenschaftler und Techniker oft ignorieren und sogar negieren: nämlich dass gesellschaftliche, politische, ökonomische, juristische und andere Aspekte in wissenschaftlich-fachliche Positionen hineinwirken (vgl. Mannheim 1980). Die Frage, inwiefern kulturelle und gesellschaftlich-soziale Faktoren als entscheidende Voraussetzungen technischer Innovation zu sehen sind, findet besondere Aufmerksamkeit in der aktuellen Wissenssoziologie und der wissenschafts- und techniksoziologischen Innovationsforschung anglo-amerikanischen Zuschnitts (s. o. Science and Technology Studies). b. Soziale Innovation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie soziale Akzeptanz findet (wenn vielleicht auch aufgrund der Ausübung von Zwang durchgesetzt) und breit in die Gesellschaft diffundiert. Was jedoch nicht heißt, dass sie per se positiv zu werten wäre. Eine wichtige Rolle spielen Durchsetzungsund Machtstrukturen. c. Institutionelle Kontexte der politischen, staatlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen rücken in den Blick ebenso wie die Interaktion der am Innovationsprozess beteiligten öffentlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Akteure. d. Soziale Innovationen gewinnen gegenüber technischen Innovationen, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten, zunehmend an Bedeutung, da Neues sich zunehmend nicht nur im Medium technischer Artefakte, sondern (auch) auf der Ebene der sozialen Praktiken vollzieht. e. Damit wendet sich der innovationstheoretische Blick hin zur Beobachtung sozialer Kommunikationsprozesse, die (mit-)entscheiden, was in einer Gesellschaft als Innovation anzusehen ist bzw. in welche Richtung die soziale Innovation gestaltet werden soll. f. Weiterhin geht es darum, welcher Stellenwert kulturellen Faktoren im Zusammenhang sozialer Innovation zukommt. Denn kulturelle Momente beeinflussen sämtliche Aspekte eines Innovationssystems, d. h. beispielsweise: Was machen einzelne Gesellschaften oder Regionen aus ihrem natürlichen Ressourcenaufkommen? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Politik,

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Wirtschaft und Sozialem? Wie wird technischer Wandel in das Wirtschaftssystem eingebaut? Welche Rolle spielt Innovation allgemein in einem bestimmten Zeitabschnitt in einer Gesellschaft oder in einer Region? Vor dem Hintergrund dieses konzisen Überblicks kann festgehalten werden, dass heute keineswegs von Wissen und Bildung statt Technik und Ökonomie zu sprechen ist, wie hier bewusst provozierend gefragt wurde. Ebenso wenig handelt es sich aber auch um Technik und Ökonomie statt Wissen und Bildung. Vielmehr ist von komplementären Bereichen auszugehen, in denen die tendenziell globale Technik und ökonomische Prinzipien, die international auch in der universitären Ausbildung standardisiert werden, eine gleichermaßen wichtige Rolle spielen wie sprach- und standortbezogene Bildung. Dies ist im folgenden Teil zu erläutern.

4. Wissenstransfer und Bildung in innovationsorientierten Gesellschaften der Gegenwart Es ist nun zu überlegen, was solche Entwicklungen der Innovationsparadigmen für die interdisziplinären Kooperationen der interkulturellen Germanistik bedeuten, etwa an den Schnittstellen zu den Wirtschaftswissenschaften, der Technik ebenso wie der Politik- und Gesellschaftswissenschaften. Und worin können besondere Aufgaben, Leistungen und Erträge der Interkulturalitätsforschung geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen bestehen? Das Wichtigste sei hier vorweggenommen: Technik wird in der Regel als global bzw. universell betrachtet. Sie wird aber gleichwohl in verschiedenen Gesellschaften verwendet und ihre jeweilige Bedeutung sowie die Folgen für die betreffenden Gesellschaften müssen interkulturell-vergleichend untersucht werden, da sie nur so in ihrer jeweiligen Kontextspezifik klar erkennbar werden. Diesem Punkt entspricht, dass die soziale Wende in der Innovationsforschung auch als eine kulturelle Wende bezeichnet wird. Der in diesem Zusammenhang eingebrachte Begriff der »Wissenskultur« oder auch der »epistemischen Kultur« verweist auf eine Thematik, die in der Gegenwart prominent reflektiert wird, unter anderem von der österreichischen Soziologin und Wissenschaftstheoretikerin Karin Knorr-Cetina: Es handelt sich um die Auffassung, dass »Wissen und Wissensansprüche auf ihre jeweiligen Kontexte bezogen (›kontextualisiert‹) werden müssen« respektive, dass »Wissen und wissenschaftliche Theorien sozial bestimmt sind« (Detel 2007: 670). Dies kann gerade anhand des Begriffs ›Innovation‹ illustriert werden, der mit höchst unterschiedlichen Semantiken verbunden wird in Abhängigkeit von seiner Kontextualisierung. Exemplarisch zeigt sich dies in zwei ausgewählten Publikationen:

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Einer 2007 erschienenen Publikation der »Worldbank« mit dem Titel Unleashing India’s Innovation. Toward Sustainable and Inclusive Growth (»Die Entfesselung der indischen Innovationskraft. Auf dem Weg zu nachhaltigem und inkuklsivem Wachstum«) von dem Mitarbeiter der Worldbank Mark A. Dutz, der dort ein Programm für Innovation und Wachstum leitete. Der Begriff ›inklusiv‹ ist hier im soziologischen Sinn zu verstehen und bezieht sich dann darauf, dass alle, d. h. auch bislang benachteiligte Schichten einzubeziehen sind. Der zweite hier aufschlussreiche Text stammt aus dem Wall Street Journal Deutschland vom 11. September 2013 mit dem Titel Neues Billig-iPhone. Apples verpasste Chance. Verfasst wurde er von der Journalistin Miriam Gottfried. Der erste Text ist (wie bereits erwähnt) von Mark A. Dutz, der zu diesem Zeitpunkt Mitarbeiter der Worldbank und dort Leiter eines Programms für Innovation und Wachstum war. Der betreffende Abschnitt wird im Folgenden vollständig zitiert und in einer Übersetzung von mir wiedergegeben (vgl. Dutz 2007: 150). Box 6.1 The Impact of ICT on Small-Scale Fishing Enterprises in Kerala The fishing industry is an important part of life in the state of Kerala. More than 70 percent of adults eat fish at least once a day, and over 1 million people work in fisheries. Fishing is done primarily by small enterprises, working near home markets and traditionally selling their catches to a specific market. Fishermen have traditionally been unable to observe prices in other markets along the coast because of high transport costs and ineffective communications. There is little storage of fish because of costs and little transportation of fish over land and between markets because road quality is poor and refrigeration is not available. Thus, the quantity of fish sold in any market is determined by the local catch, which also determines the prices that fishermen receive for their catches and the prices that customers pay. This dislocation of markets results in significant differences in the price of fish on any given day between markets that are quite close to each other. It also results in wasted catches because there are occasions, when there are large catches, where there are not enough buyers. Mobile phone services were introduced in Kerala in 1997. As in other parts of the world, mobile networks were initially concentrated in cities and towns. However, because many cities in Kerala are located along the coast, mobile network coverage extends 20–25 kilometers out to sea – the distance within which most fishing is done. Fishermen adopted mobile phones very quickly, reaching an equilibrium penetration rate of 60–75 percent (compared with an average rate of 5 percent across the region). Fishermen use the phones while still at sea to find out the prices in different markets and to decide where to land their catches. Fishermen typically call several markets and agree on a price before landing their fish, effectively conducting auctions by phone. The effects have been dramatic. After mobile phones were introduced, 30–40 percent of fishermen began selling fish outside their home markets, compared with almost none

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G esine L enore S chiewer beforehand. Within a few weeks this significantly reduced the dispersion in fish prices between markets. Prices on any given day now rarely differ by more than a few rupees per kilogram, compared with up to 10 rupees per kilogram before. Moreover, there are no cases of wastage. The use of mobile phones has also boosted incomes for fishermen. On average, daily revenues have risen by 205 rupees, while costs (including for mobile phones) have increased by 72 rupees. Thus, the profits of fishermen have jumped by 133 rupees a day – a 9 percent increase. The introduction of mobile phones has also had a modest benefit for customers, with the average price of sardines falling by 0.39 rupee per kilogram, or just under 4 percent. a Source: Jensen forthcoming. a. This is consistent with findings in other countries. See, for example, a recent study from Lao People’s Democratic Republic indicating that calls to and from suppliers are the most common reason for use of ICT services by small enterprises, many of which are household-based. See Song and Bedi (2006: 265).

Box 6.1 Die Auswirkungen von ICT (Informations- und Kommunikationstechnologie) auf kleine Fischereiunternehmen in Kerala (einem Bundesstaat im Südwesten Indiens) Die Fischereiindustrie ist ein wichtiger Teil des Lebens im Bundesstaat Kerala. Mehr als 70 Prozent der Erwachsenen essen mindestens einmal am Tag Fisch und mehr als eine Million Menschen arbeiten in der Fischerei. Diese Industrie befindet sich vor allem in der Hand kleiner Unternehmen, die in der Nähe ihrer Heimatmärkte fischen und ihre Fänge auf dem Heimatmarkt verkaufen. In der Vergangenheit waren den Fischern die Preise, die in anderen Märkten entlang der Küste gezahlt wurden, nicht bekannt; dies lag an den hohen Transportkosten und der Schwierigkeit, überhaupt zu kommunizieren. Die Lagerung von Fisch ist teuer und der Transport über Land zwischen den verschiedenen Märkten ist wegen des schlechten Zustands der Straßen nicht möglich; zudem ist keine Kühlung verfügbar. Deswegen bestimmt der lokale Fang die Menge der auf einem Markt verkauften Fische; von der jeweiligen Fangmenge hängt auch der Preis ab, den Fischer für ihre Fänge erhalten, ebenso wie die Preise für die Endkunden. Die Isolation der einzelnen Märkte führt zu erheblichen Preisunterschieden unter den verschiedenen Märkten auch am selben Tag – und selbst dann, wenn die Märkte sehr nahe beieinander liegen. Dies führt auch dazu, dass Fänge vernichtet werden, wenn die gesamte Fangmenge groß ist und nicht verkauft werden kann Mobiltelefondienste wurden 1997 in Kerala eingeführt. […] Da viele Städte in Kerala an der Küste liegen, erstreckt sich die mobile Netzabdeckung 20 bis 25 Kilometer auf das Meer hinaus; dies ist die Distanz, in der am meisten gefischt wird. Fischer begannen sehr schnell, Mobiltelefone auf See zu nutzen, um die Preise der verschiedenen Märkte herauszufinden und zu entscheiden, wo sie mit ihren Fängen an Land gehen wollen.

I nterdisziplinäre P erspek tiven der I nterkulturalitätsforschung Fischer rufen in der Regel bei mehreren Märkten an und handeln bereits auf See den Preis aus […]. Die Auswirkungen sind dramatisch. Nachdem Mobiltelefone eingeführt wurden, begannen 30 bis 40 Prozent der Fischer, ihren Fang außerhalb ihrer heimischen Märkte zu verkaufen, was vorher so gut wie nicht der Fall war. Innerhalb von wenigen Wochen reduzierten sich die Unterschiede der Fischpreise zwischen den Märkten deutlich. […] Darüber hinaus gibt es keine Fälle der Vernichtung des Fangs mehr. Die Verwendung von Mobiltelefonen hat das Einkommen der Fischer markant erhöht. […] Die Einführung von Mobiltelefonen hat nicht zuletzt auch Vorteile für die Kunden, da der Durchschnittspreis z. B. für Sardinen um 0,39 Rupien pro Kilogramm oder fast 4 Prozent gefallen ist.

Der zweite Text ist von der Journalistin Miriam Gottfried und wurde am 11. November 2013 im Wall Street Journal Deutschland veröffentlicht. Er wird hier in leicht gekürzter Form zitiert (vgl. Gottfried 2013): 11. September 2013, 14:53 Uhr Neues Billig-iPhone Apples verpasste Chance Von Miriam Gottfried, Wall Street Journal Deutschland Apples neues Billig-iPhone sorgt für Enttäuschung an der Börse. Günstigere Geräte bedeuten auch geringere Margen. Und auch das neue Telefon könnte für Kunden in Schwellenländern noch zu teuer sein. Apple öffnet sich dem Billig-Segment für Smartphones – zumindest dann, wenn man bei der Definition von »billig« beide Augen zudrückt. Am Dienstag hat der Tech-Riese zwei neue iPhones vorgestellt: Eins davon, das iPhone 5S, wird es zum gewohnten Preis geben: 199 US-Dollar für das günstigste Modell […]. Das andere, gespannt erwartete »Günstig«-Handy iPhone 5C wird in der Basisversion 99 Dollar und in der 32-GigabyteAusführung 100 Dollar mehr kosten. […] Apples Strategie war es bisher weitgehend, das iPhone in kleinen Schritten zu verbessern und das Wachstum durch die Expansion in neue Märkte anzutreiben. Für das neue, günstigere iPhone wird China eines der Hauptziele sein. […] Es scheint unumgänglich, dass Apple für den Vorstoß nach China und in andere Schwellenländer einen Preis wird zahlen müssen. Schließlich bedeuten günstigere Geräte auch niedrigere Margen. […] Natürlich hat Apple nicht nur am Preis gedreht, um Kunden für das 5C zu gewinnen. Das Gerät hat nahezu den gleichen technischen Leistungsumfang wie das iPhone 5 – nur dass die Ummantelung aus Plastik ist […]. Die meisten Innovationen gibt es dagegen beim Premium-Modell. Das 5S hat einen schnelleren Prozessor […] und ein Sicherheits-

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G esine L enore S chiewer system, das Fingerabdrücke erkennt. […] Auch beim Einkauf auf iTunes können iPhoneNutzer die Fingerabdruck-Technologie verwenden. […] Unterm Strich dürfte das, was Apple am Dienstag vorgestellt hat, nicht ausreichen, um Smartphone-Käufer von einem Produkt-Upgrade zu überzeugen. […] Um dieses Szenario zu vermeiden, muss Apple mit dem nächsten iPhone wieder mehr revolutionäre Innovationen liefern, oder es muss seine Preispolitik radikaler anpassen. An der Börse kam die Präsentation am Mittwoch nicht gut an. […] »Man […] wird seit zwei Jahren immer wieder enttäuscht«, sagte Kapitalmarktstratege Oliver Roth.

5. Exemplarische Analyse In einer Übersicht mit Fragen und Antworten sollen beide Texte an dieser Stelle vergleichend einer Kurzanalyse unterzogen werden: Fragen zu den Texten

Text 1: Indiens Innovation entfesseln

Text 2: Apples verpasste Chance

1) Welches sind im Text häufig verwendete Begriffe? (= Wortorientierte Analyse auf intratextueller Ebene/ Glossar von Schlüsselwörtern [vgl. Spitzmüller/Warnke 2011])

Fischerei – Leben – Fisch – Heimatmärkte – Preise – Märkte – Transportkosten – Fangmenge – Mobiltelefondienste – Fischpreise – Einnahmen – Gewinne der Fischer – Durchschnittspreis für Sardinen […]

Börse – Marge – Schwellenländer – Billig-Segment – Preis – Premium-Marke – Strategie – Wachstum – neue Märkte – Konzern –Preiskampf – Innovationen beim Premium-Modell – Marktanteilsverluste –Kapitalmarktstratege […]

2) In welchem Zusammenhang wird von Preisen und von Markt gesprochen? (= Textorientierte Analyse auf intratextueller Ebene [vgl. Spitzmüller/Warnke 2011])

Der Markt und damit das Thema ›Preis‹ ergeben sich überhaupt erst durch das Handeln der Fischer und den Umgang mit der neuen Technik, also mit der Nutzung von Mobiltelefonen. Denn deren Nutzung ermöglicht die Produktion von Wissen. Die krisenhafte frühere Situation der Fischer wird als Chance für einen neuen, aber auch nicht perfekten Markt beschrieben.

Es geht um einen schon bestehenden Markt, in dem der Preis eine entscheidende Größe darstellt. Der Markt bestimmt das Handeln des Konzerns. In diesem Fall gehört der Konzern im Preiswettbewerb zu den Verlierern, da eine schlechte Entwicklung erwartet wird. Die Marktsituation des Konzerns wird als krisenhaft dargestellt, da die Zielvorgaben verfehlt wurden.

I nterdisziplinäre P erspek tiven der I nterkulturalitätsforschung 3) Werden die mobilen Phones mit Bezug auf gesellschaftliche Kontexte und soziales Handeln (Praktiken) beschrieben? (= Textorientierte Analyse auf intratextueller Ebene [vgl. Spitzmüller/Warnke 2011])

Das Mobiltelefon selbst wird mit Bezug auf das soziale Handeln der Fischer, also kontextabhängig beschrieben; man spricht dann von einer ›Pfadabhängigkeit der Technik‹. Die Kontextabhängigkeit macht kulturwissenschaftliche Perspektiven stark.

Das iPhone selbst wird kontextunabhängig als weltweit verfügbares Produkt in gleicher Ausstattung beschrieben. Jedoch werden die Preise auf die sog. Schwellenländer und zu erschließende Märkte bezogen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven werden zugunsten von ökonomischen Kapitalmarktstrategien marginalisiert.

4) In welchen Zusammenhang werden Mobiltelefonmit Innovation gebracht? (= Textorientierte Analyse auf intratextueller Ebene [vgl. Spitzmüller/Warnke 2011])

Es geht um die Innovation der sozialen Praxis des Fischhandels. Inbegriffen sind die Marktbedingungen, das Lebensniveau der Fischer und die lokale Ökonomie.

Es geht um technische Innovation der iPhones selbst, die allerdings im Vergleich zur Preispolitik des Konzerns eine relativ unerhebliche Rolle spielt (z. B. schnellerer Prozessor, bessere Kamera, Fingerabdrucktechnologie statt Passwörter).

5) Wie sind die World Bank und das Wall Street Journal Deutschland als Akteure zu beschreiben? (= Produzentenrollen auf der Ebene der Akteure) [vgl. Spitzmüller/Warnke 2011])

Die World Bank ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Kernaufgabe ist die Förderung weniger entwickelter Mitgliedstaaten.

Das Wall Street Journal Deutschland ist eine internationale, englischsprachige Tageszeitung, die in New York herausgegeben wird. Die Zeitung gilt als politisch konservativ und ist besonders auflagenstark.

6) Welche Positionen werden starkgemacht? (= Diskurspositionen mit ›Ideology brokers‹, ›Diskursgemeinschaften‹ auf der Ebene der Akteure; = diskursorientierte Analyse auf transtextueller Ebene) [vgl. Spitzmüller/Warnke 2011])

Es werden Positionen starkgemacht, denen zufolge ein dynamischer Wettbewerb mit der Entwicklung neuer Märkte ›von unten‹ als inklusive Innovation positiv beurteilt wird (»grassroot innovation«, »poor economics«).

Es werden Positionen starkgemacht, denen zufolge die Ökonomie als Ganzes von Kapitalmarktstrategien dominiert wird.

Die Frage, inwiefern im Zusammenhang der sich in diesen beiden Texten spiegelnden Innovationsdiskurse spezifisch geistes-, kultur- und sozialwissenschaftliche Kompetenzen erforderlich sind, kann in sechs Punkten beantwortet werden (vgl. zur Diskurslinguistik z. B. Spitzmüller/Warnke 2011): 1. Zunächst ist zu klären, zu welchen Themen ein relevanter Beitrag geleistet werden kann, die womöglich bisher weniger berücksichtigt werden.

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a. Nur bestens entwickelte Textkompetenzen erlauben es, mit allen Texten umzugehen. b. Dies schließt solche ein, die vordergründig keinen kulturthematischen Bezug haben. c. Entwickelte Textkompetenzen versetzen nämlich in die Lage, auch verdeckte Kulturbezüge zu erkennen. d. Dieses Vorgehen bestimmte auch die Auswahl der oben genannten beiden exemplarischen Texte. Die methodisch geleitete Sensibilität für Begriffe lässt erkennen, dass sich hinter Allgemeinbegriffen Differenzen verstecken können. In diesem Fall sind es unterschiedliche Auffassungen von ›Innovation‹. Dies erfolgt z. B. mit Methoden wie a. Text-, Gesprächs- und Diskursanalyse, b. Ansätzen der Rhetorik und Stilistik, c. empirischen und korpuslinguistischen Methoden in quantitativen und qualitativen Ausrichtungen. Im Fall der oben genannten beiden Textbeispiele werden die gegenwärtig dominanten technischen und ökonomischen Innovationsdiskurse überhaupt erst analysefähig. Ein kulturwissenschaftlicher Innovationsdiskurs kann forciert werden aufgrund der Aufmerksamkeit u. a. für a. Texte und Sprachen, b. Kontextabhängigkeiten, c. soziales Handeln mit Technik in seinen Varianten, d. echte Globalität vs. Globalisierung, e. historischen Wandel. Natürlich können diese Methoden auf vielfältige Fragestellungen und unterschiedliche Diskursfelder angewendet werden. Immer wird es dabei aber um die Entwicklung eines Blicks für die Differenzierung der betreffenden Paradigmen gehen, die als eine »Topographie sozialer Deutungs- und Bedeutungsmöglichkeiten« zu begreifen sind und insofern Voraussetzung von Kommunikation generell und interkultureller Kommunikation insbesondere sind (vgl. Kaschuba 2011: 128). Interkulturelle Kompetenz kann mit anderen Worten nicht abgelöst von betreffenden Sachkenntnissen und Vertrautheit mit den entsprechenden Diskursen isoliert betrachtet und vermittelt werden, sondern muss immer die Verschränkung von Erfahrungs- und Wahrnehmungsperspektiven – und, so ist zu ergänzen, von Sachauffassungen, Bildungs- und Wissensperspektiven – berücksichtigen (vgl. ebd.: 129). Nichtverstehen kann mit Wolfgang Kaschuba entweder als ein Defizit in der Befähigung zum Umgang mit variablen Semantiken oder als bewusste Praxis der Ablehnung bzw. Ignoranz anderer abweichender Auffassungen begriffen werden (vgl. ebd.). Im Hinblick auf die dynamische Fortentwick-

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lung wissenschaftlichen Forschens sind gerade »gezielt eingesetzte Wechselwirkungen von Konsens und Dissens, von Integration und Differenz, von Wort und Geste [relevant], weil der Prozess der Deutung wie die Macht des Deutens erst dadurch überhaupt bewusst werden« (ebd.).

6. Zusammenfassung und Ausblick Geht man von aktuellen Paradigmen der Innovationsforschung aus, so ist ihre spezifische Relevanz für viele Gesellschaften der Gegenwart und Zukunft evident, da hier Innovation über technische Entwicklungen hinaus vielfach mit Prozessen sozialer Innovation verbunden wird. Vor diesem Hintergrund konnten im zweiten Teil der Ausführungen folgende Aspekte gezeigt werden: 1. Gegenstand von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften wie der interkulturellen Germanistik können und sollen auch solche Themen sein, die zunächst diesen Fächern vielleicht ferner zu liegen scheinen, wie z. B. vielfach technisch-ökonomisch geprägte Innovationsdiskurse. 2. Es zeigt sich, dass Technik ein soziales Produkt ist, obwohl dies im vorherrschenden westlichen ökonomischen Denken oft übersehen wird. Dies führt dazu, dass der Wirtschaftsdiskurs richtig als »teilweise totalitär« beschrieben wird (vgl. Kuße 2012: 225). 3. Ein Re-embedding in soziale Praktiken, d. h. eine gesellschaftliche Kontextualisierung ist erforderlich; hierin liegt eine Aufforderung, solche Themen zu bearbeiten. 4. Die interkulturelle Germanistik kann z. B. entsprechende fakultätsübergreifende Module für den Lehrexport entwickeln. Ihre Ausbildung kann technisch-ökonomische Ausbildungsprofile ergänzen und auch das Kompetenzspektrum der eigenen Absolvierenden bereichern. 5. Angesichts der nach wie vor vorherrschenden Dominanz ökonomisch-technischer Innovationsdiskurse ist ein kulturwissenschaftlicher Innovationsdiskurs ein Desiderat mit aktueller wissenspolitischer Bedeutung. Damit zeigt sich, dass internationaler Wissenstransfer im Sinne globaler Forschungsfelder, die vor allem die Technik, Ökonomie und Informationswissenschaft betreffen, und standortbezogener Bildungsbedarf keineswegs ein Spannungsfeld darstellen. Vielmehr sind sie heute zwingend komplementär. Denn erst im Ausgang von den jeweiligen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und weiteren Gegebenheiten sind jeweils relevante und aktuelle Fragestellungen und Diskursfelder – wie exemplarisch gezeigt – begründet und methodisch geleitet zu erarbeiten. Sinnvolle standortbezogene Ausbildungsschwerpunkte ebenso wie die Reflexion angemessener Einsatzfor-

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men von technisch-ökonomischen Modellen einschließlich des Hinterfragens problematischer Perspektiven (Stichworte wie die »Technikfolgenabschätzung« sind hier zu berücksichtigen) erfordern, dass Diskurse, wie gezeigt wurde, analysefähig werden können. Standortbezogener Bildungsbedarf wird hier somit nicht in Opposition zu tendenziell globalen Wissensinhalten und methodischen Standards gesehen, sondern als deren reflektierte, aber unverzichtbare und schon insofern unhintergehbare spezifische Fokussierung, als Curricula naturgemäß nur eine Auswahl von Fragestellungen, Ansätzen und Ergebnissen abbilden können. Und wenn Internationalisierung vielfach als Streben nach einer Vernetzung mit den jeweils weltweit renommiertesten Forschungseinrichtungen verstanden wird, ist zu bedenken, dass dabei vorhandene Potenziale, auch in ökonomischen und technischen Feldern, ebenso wie variable Folgen nicht aus dem Blick zu verlieren sind. Globalität bedeutet, im Unterschied zu Globalisierung, die Herstellung kluger Verknüpfungen von tendenziell globalen Wissens- und Forschungsfeldern mit deren kritischer Reflexion mit Bezug auf standortbezogene Schwerpunktsetzungen und Spezialisierungen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität auf nationalen und internationalen Ebenen sind diese Entwicklungen mit zahlreichen interkulturellen Dimensionen verbunden, von denen im vorliegenden Beitrag einige skizziert wurden. Ein weiteres Nachdenken über Innovation und Interkulturalität ist daher äußerst vielversprechend.

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Interkulturalität und germanistische Mediävistik Literarische Figurenkonzepte und kulturelle Prägungen des Helden und des Ritters Heinz Sieburg Als Siegfried, einer der Protagonisten des Nibelungenliedes, am Wormser Hof eintrifft und König Gunther sowie dessen Gefolgsleuten zum ersten Mal begegnet, ist sein Verhalten mindestens irritierend. Denn von der eigentlichen Reiseabsicht, nämlich der Brautwerbung um die burgundische Prinzessin Kriemhild, ist jetzt keine Rede mehr. In aggressiv-anmaßender Art und Weise fordert Siegfried von Gunther nichts weniger als dessen Thron und Reich. Ein Zweikampf solle unverzüglich hierüber entscheiden. Nu ir sît sô küene, als mir ist geseit, sône ruoch ich, ist daz iemen lieb ode leit, ich wil an iu ertwingen, swaz ir muget hân. lant unde burge, daz sol mir werden undertân. (NL 108 [110])1

Bei Gunther und den Seinen löst das Ansinnen Siegfrieds zunächst Befremden aus (»Den kunec hete wunder und sîne man alsam um disiu mære«; NL 109 [111]: 1 f.). Aber anstatt sich auf die Provokation einzulassen, gelingt es dem König durch diplomatisches Geschick und ruhig-kalkulierendes Argumentieren,2 Siegfried zu mäßigen und damit den höfischen Verhaltensnormen zu unterwerfen. Dabei war Gunther vorgewarnt, denn Hagen hatte kurz zuvor den heranreitenden Fremden als den Drachentöter Siegfried identifiziert. Derselbe Siegfried, der in dieser Szene quasi wie ein gefährliches Alien aus einer 1 | Zit. n. der Ausgabe Schulze/Grosse 2011: »Da Ihr so tapfer seid, wie mir gesagt worden ist, so habe ich die Absicht, Euch, ganz gleich, ob es jemandem gefällt oder jemanden stört, alles mit Gewalt abzunehmen, was Ihr besitzt. Land und Burgen sollen mir untertan werden.« 2 | Hinzu kommt auch, dass der Gedanke an Kriemhild Siegfrieds Zorn besänftigt (vgl. NL 121 [123]),

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anderen, gegenhöfischen Welt bzw. als unberechenbarer und triebgesteuertagressiver Repräsentant einer mythischen Vorzeit auftritt, duldet im weiteren Handlungsverlauf, nun aber eingebunden in das höfische Koordinatensystem, nicht nur die Zumutung, Kriemhild über ein Jahr lang nicht einmal zu Gesicht zu bekommen, sondern, als das dann endlich doch geschieht, errötet er – ganz unheldisch – wie ein Teenager. Zunächst aber prallen offensichtlich gänzlich unterschiedliche kulturelle Horizonte aufeinander. Auf der einen Seite, vertreten durch Siegfried, eine Welt der ungezügelten Affekte, in der das Recht des Stärkeren und das »archaische Gesetz der Gewalt« (Gephart 2009: 45) gilt, in der es weder Gute noch Böse, sondern eben nur Sieger und Besiegte gibt. Und auf der anderen Seite, vertreten durch Gunther, eine Welt der Affektregulation, der Agressionskontrolle und der kalkulierten Kampfvermeidung durch diplomatisches Geschick – und durch milte (Freigiebigkeit), denn Gunther kann Siegfried wenig später, dabei den ritualisierten höfischen Konventionen folgend und an Bedingungen geknüpft, generös das anbieten, was er ihm zuvor verweigerte: Dô sprach der wirt des landes: »allez daz wir hân, geruochet irs nâch êren, daz sî iu undertân, unt sî mit iu geteilet lîb und guot.« dô wart der herre Sîvrit ein lutzel sanfter gemuot. (NL 125 [127]) 3

In den Verhaltensunterschieden zwischen Gunther und Siegfried, aber auch bei Siegfried selbst scheinen überindividuelle Wertesysteme unterschiedlicher Kulturstufen auf, die symptomatisch sind für zwei im Kern gattungstypologisch deutlich zu unterscheidende Literaturausprägungen, nämlich die Heldendichtung auf der einen und die höfische Dichtung auf der anderen Seite. Beide Gattungen basieren auf klar abgrenzbaren soziohistorischen Hintergründen und beide propagieren als Handlungsträger idealtypisch Figuren, deren Konturen sich klar unterscheiden, den Helden hier und den Ritter dort. Zu bedenken ist dabei allerdings auch, dass das modellhaft Idealtypische in den konkreten Literaturzeugnisssen oft verschleiert und überlagert ist durch atypische Merkmale. Diese »Diskrepanz zwischen poetologischer Typisierung und literarischer Praxis zeigt sich«, wie Ursula Schulze (2003: 107) zu Recht bemerkt, »insbesondere beim Nibelungenlied«. Überhaupt ist eine klare Grenzziehung zwischen Helden- und Artusepik keineswegs unumstritten und stoffliche Parallelen sind ja auch nicht zu leugnen. Hier wie da stehen sozial herausgehobene, meist adlige Figuren im Mittelpunkt, die sich vor allem durch Mut und 3 | »Da sagte der Landesherr: ›Alles, was wir besitzen, stehe Euch zur Verfügung, wenn Ihr ehrenvoll davon Gebrauch macht. Das sei Euch untertan und sei mit Euch geteilt – Leben und Gut.‹ Diese Worte stimmten Siegfried etwas freundlicher.«

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Kampfgeschick behaupten und auszeichnen müssen. Und doch ist eine solche Ineinssetzung verfehlt, weil hierdurch die kulturgeschichtlichen Tiefendimensionen der Literaturzeugen aus dem Blick geraten. Die Ankunftszene Siegfrieds kann als Beleg dafür stehen, dass sich im Nibelungenlied offensichtlich unterschiedliche Stofftraditionen, Vorstellungswelten und Bewusstseinsstufen – interkulturell – mischen, die ihrerseits auf differenten kulturellen Prägungen und eben auch auf unterschiedlichen personalen Konzepten beruhen. Offensichtlich konfligiert hier eine eher ursprüngliche, archaisch-heroische Ebene mit einer aus Sicht des Hochmittelalters, der buchepischen Entstehungszeit des Nibelungenliedes, rezenten höfisch-verfeinerten. Und dieser Konflikt zeigt sich bevorzugt eben in der poetologischen Konzeption und dichterichen Ausformulierung der jeweiligen Exponenten dieser Dichtungen als Held und Ritter. Im Folgenden soll es um eine Abgrenzung und Kontrastierung beider Sphären gehen und insbesondere darum, das konzeptionell Idealtypische der unterschiedlichen Figuren herauszuarbeiten. Gerade mit Blick auf den Helden erweist sich in der mittelalterlichen Literatur eine Hybridität, die als eine interkulturelle Konstellation identifiziert werden kann, als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Der Begriff Held hat semantisch unterschiedliche Umfänge. In einem begrifflich weiten Sinn ist es durchaus möglich, auch die arturischen Protagonisten, die Ritter also, als Helden zu bezeichnen. Das geschieht ja so auch in der Forschungsliteratur, wofür hier examplarisch eine Aussage von Irmgard Gephart angeführt werden soll, die formuliert: »Kraftvolle Helden bevölkern ja schließlich auch die französischen und deutschen Artusromane« (2009: 41). Das geschieht mittelbar natürlich auch insofern, als etwa in der Anthologie von Arentzen/Ruberg 2011 auch Siegfried und das Nibelungenlied als Beispiel zur Illustration der Ritteridee aufgenommen sind. Und auch in der höfischen mittelhochdeutschen Epik selbst findet sich dieser weite begriffliche Rahmen, wenn etwa Wolfram von Eschenbach im ersten Buch »den helt« (4,19) Parzival rühmend hervorhebt. In einem engeren und eben hier vertretenen gattungstypologischen Sinn ist der Held als Figurenkonzept allerdings gebunden an die nach ihm benannte Heldendichtung, deren Sinn es eben ist, über die Taten der »helden lobebæren« (wie es in der Eingangsstrophe des Nibelungenliedes nach der Hs. C heißt) zu berichten. Dabei kann der Begriff Held hier auch durch den des »Recken« (»von küener recken strîten«, ebd.) oder auch »wîgant« vertreten werden. Der Begriff »Ritter« gehört demgegenüber zu einer jüngeren Schicht, ist – zumindest als literarisch vermitteltes Leitbild – Produkt des 12.  Jahrhunderts und entwickelt sich, ausgehend von Frankreich zu einem idealtypischen Begriff, der nicht nur den bewaffneten Reiter bezeichnet, sondern mehr und mehr auch zum Identifikationsmodell der hochmittelalterlichen Adelsgesellschaft

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avanciert.4 Aber auch der Ritterbegriff wird bisweilen in einem weiten Sinn verwendet und schließt dann den antiken und eben auch frühmittelalterlichen Helden mit ein. Heldendichtung ist ein kulturübergreifendes Phänomen, die germanische Heldendichtung mithin nur eine spezifische Ausformung. Gattungskonstitutiv ist dabei immer ein Bezug auf ein sogenanntes heroisches Zeitalter. Dieses ›heroic age‹ als eine Epoche tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche durch kriegerische Auseinandersetzungen, durch Vertreibung und Flucht bildet sich in der jeweiligen Heldenepik als historisches Substrat ab. Dies ist etwa für Griechenland die Trojasage, wie sie vor allem in der Ilias Homers (8. Jahrhundert v. Chr.) überliefert ist oder ist die französische Heldenepik, die chanson de gesteLiteratur, ein Zyklus von Epen um die Kämpfe Karls des Großen gegen die Heiden. Prominentester Vertreter ist hier die Chanson de Roland. Das ›heroic age‹ der germanischen Heldendichtung ist zeitlich zwischen diesen Beispielen zu verorten. Hier bildet die sogenannte Völkerwanderungszeit (mit Ausläufern in die frühe Merowingerzeit) den historischen Bezugsrahmen. Historisch eingrenzen lässt sich die Zeit der Völkerwanderung, die in römisch-romanischer Perspektive als ›,Barbareninvasion‹ bezeichnet wird, zwischen 375, dem Einfall der Hunnen im Osten, und 568, der Eroberung Norditaliens durch die Langobarden. Gemeint ist die Landnahme durch vor allem germanische Volksstämme auf weströmischem oder vormals weströmischem Gebiet und der so bewirkte endgültige Untergang Westroms. Heldendichtung lässt sich als ein künstlerisches Produkt der Verarbeitung einer durch Kampf, Krieg, Eroberung und Vertreibung zu charakterisierenden Zeit verstehen. Sie diente einerseits der Memoria, der Erinnerung an herausragende Ereignisse und Persönlichkeiten – und formte so das kollektive Gedächtnis bestimmter Ethnien, war aber – unbewusst – wohl andererseits auch »in ihrer blutigen Düsterheit […] Produkt der Abarbeitung kollektiver Traumata […], die das grauenvolle Geschehen der Völkerwanderungszeit bei den Betroffenen hervorrufen mußte« (Heinzle 1999: 7). Heldendichtung ist also, durchaus im Gegensatz zur Artusdichtung, keine rein fiktionale Literatur, sondern basiert auf historischen Ereignissen, die sich poetologisch verfremdet und gebrochen in ihr widerspiegeln und die (dennoch) mit dem Anspruch historischer Verbindlichkeit vorgetragen wurden. Im Gegensatz zur Artusdichtung basiert Heldendichtung zunächst auf einer mündlichen Tradierung. Volkssprachige Literatur, die in dieser frühen Phase entsteht, war in einem Umfeld allgemeiner Illiteralität eben gebunden an das Medium der Mündlichkeit, das Weitererzäh4 | Dabei lässt sich nicht verleugnen, dass der Ritterbegriff auch bereits in der Kaiserchronik (um 1150) und damit vor dem französischen Literatureinfluss detailliert entfaltet wurde. Die Wirkung der Ritteridee wird man dennoch mit der französischen Literatur zu verbinden haben.

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len von Generation zu Generation. Die Stoffe sind, in welchen Ausprägungen auch immer, umlaufendes Allgemeingut, was offenbar die Autoren der schriftlich fixierten Heldendichtungen davon abhält, sich namentlich kenntlich zu machen – auch das wieder ganz im Gegensatz zur Artusepik. Eine auf mündliche Tradierung angewiesene Gedächtniskultur birgt in besonderer Weise die Gefahr des Überlieferungsverlustes, die mit jeder Unterbrechung der Traditionskette zwingend verbunden ist. So ist der Großteil der germanischen, auch der deutschsprachigen Heldendichtung zweifellos verloren gegangen. Immerhin lassen sich über Parallelen und Reflexe in der lateinischen Dichtung und Historiografie des Mittelalters, aber auch in Adaptationen, vor allem im skandinavischen Raum, bestimmte Stoffkreise und Motivkonstellationen rekonstruieren (vgl. Haubrichs 1995: 81). Und natürlich gibt es auch unmittelbare Schriftzeugen der Heldenliedliteratur in deutscher Sprache. Für das Althochdeutsche steht hier – allerdings singulär – das kurze und nicht einmal vollständig überlieferte Hildebrandslied; für das Mittelhochdeutsche ist die Überlieferungslage günstiger, wobei auch hier mit dem Nibelungenlied ein Text deutlich im Vordergrund steht. Die seit der Völkerwanderungszeit umlaufenden Erzählungen, Sagen und Lieder wurden im Laufe der Jahrhunderte zu mehr oder weniger konsistenten Stoffkreisen geformt, in denen schließlich alles mit allem zusammenhängt und die so einen näherungsweise geschlossenen heroischen Gesamtkosmos konstituieren. Dies geschieht allerdings um den Preis anachronistischer Synchronisierungen, so etwa, wenn der Hunnenkönig Attila (Etzel), der Burgundenkönig Gundahar (Gunther) und der Ostgotenkönig Theoderich (Dietrich von Bern) gegen die historische Realität beispielseise im Nibelungenlied als Zeitgenossen vorgestellt werden. Auch die Assimilation historischer Fakten an bereits gängige Erzählschemata und -motive (Rachefabel, verräterische Einladung, Brautwerbung) sowie die Umformung komplexer historischer Zusammenhänge zu (überschaubaren) zwischenmenschlichen Konflikten oder Affekten (Rache, Hybris, Goldgier) gehört zu den Formen der dichterischen Umgestaltung historischer Ereignisse. Das mindert erstaunlicherweise allerdings nicht den »klar erkennbaren historischen Sinn« (Heinzle 2003: 8) der Heldendichtung als eine Form der Vorzeitkunde, in der die Erinnerung an eine heroische Vorzeit wachgehalten und so ein historisches Bewusstsein geschaffen werden soll, das der eigenen Gegenwart Sinn und Legitimation verleihen konnte, indem sie als historisches Selbstdeutungsmuster einer kriegerischen Adelsgesellschaft fungierte. »Die Sage«, schreibt Wolfgang Haubrichs (1995: 107), stellte nach den Anschauungsformen der Gegenwart und zur Legitimation dieser Gegenwart Schemata bereit, in denen die nie abgeschlossene Geschichte einer durch mündliche Überlieferung geprägten Gesellschaft zu erzählbarer Form und verständlichem Sinn fand.

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Das in der Heldendichtung überlieferte Wissen um die großen Taten des eigenen Stammes oder der eigenen Vorfahren konnte so auch zur Legitimation der Stellung und zum Selbstbewusstsein der eigenen Person in späteren Jahrhunderten beitragen. Zu der Funktion der Heldendichtung als Vorzeitkunde passt, dass diese als Quelle auch in der lateinischen Historiografie des Mittelalters lange anerkannt wurde. Um das Phänomen der Heldendichtung und darüber das der Figur des Helden besser verstehen zu können, ist es sinnvoll, sich die soziokulturellen Voraussetzungen der Zeit des frühen Mittelalters vor Augen zu führen. Sozialer Bezugs- und identitätsstiftender Orientierungsrahmen dieser Zeit, aber sicher auch bereits der vorangehenden Zeit, sind Volksstämme bzw. Stammesverbände, deren Bezeichnungen uns zum Teil bis heute vertraut sind (Sachsen, Franken, Thüringer, Alemannen etc.). Das damit verbundende gentile Sonderbewusstsein lässt sich bis in die Neuzeit, ja bis in die Gegenwart als (landsmannschaftliches) Identitätselement nachweisen. Innerhalb der Stammesgesellschaften (gentes) dominierte eine schmale feudal-aristokratische Führungsschicht der Großen (maiores) und Mächtigen (potentes), der Angesehenen (meliores) und Vornehmen (proceres). Eine kleine Elite von Hochgestellten bestimmte das Geschick – und das konnte durchaus heißen, über Existenz oder Untergang des gesamten Stammesverbandes, wobei Schlachten und Kriege, Schmerz und Gewalt zu den Daseinsnormalitäten zählten. Im Kern begegnet uns hier also eine Kriegergesellschaft. Dabei ist ein kaum zu überschätzender gesellschaftskonstituierender und die Einzelpersönlichkeit orientierender Faktor die Vasallität, die eine nach beiden Seiten wirkende Verpflichtungsgemeinschaft zwischen Herr und Gefolgsmann konstituierte. Die identitäts- und bewusstseinstiftende Funktion von Gefolgschaft im Sinne einer Kriegerloyalität ist jedenfalls deutlich zu unterstreichen. Loyalitätsbindungen und Treueverpflichtungen bezogen sich darüber hinaus natürlich auch auf die eigene Familie bzw. Sippe, und diese konnten auch auf die eigenen Vorfahren ausgreifen, vor allem dann, wenn herausragende Ahnen den Wert der eigenen Sippe und damit zugleich den Sippenstolz beförderten. Einen weiteren, erweiterten personalen Bezugsrahmen bildete die familia, die sich etwa aus allen Angehörigen einer Grundherrschaft konstituieren konnte. Es verwundert nicht, dass sich in dieser Zeit ein Ethos herauskristallisierte, das um die Zentralbegriffe der Ehre und Treue kreist und in dem Rache und Gewalt als legitimiert betrachtet werden. Ein Ethos, das körperliche Fähigkeiten, vor allem im Kampf propagiert und dessen Anspruch es ist, über die große Tat, das ›Exorbitante‹ (Haubrichs 1995: 106) – und sei dies der eigene, heroische Untergang – ein Weiterleben in der Memoria der Nachfahren zu bewirken. Dass das im Kern ein männliches Ethos ist, bedarf wohl zunächst keiner weiteren Begründung. Allerdings soll auf diesen Punkt am Ende des Beitrags noch einmal näher eingegangen werden.

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So eindimensional und unterkomplex eine solche ethische Orientierung möglicherweise auch wirken kann, die Heldendichtung führt mitunter Situationen vor, die als inhärente Wertereflexionen zu lesen sind und dem heroischen Ethos so auch eine (tragische) Tiefendimension verleihen. Gemeint sind Situationen, in denen Werte unüberbrückbar in Konflikt zueinander stehen und Einzelpersönlichkeiten, gefangen im heroischen Normensystem, schicksalhaft tragisch agieren (müssen). Ein Beispiel hierfür vermittelt das um 830/840 zu datierende Hildebrandslied. Das Hildebrandslied ist das einzige überlieferte Heldenlied aus althochdeutscher Zeit. Inhaltlich geht es um das Aufeinandertreffen zweier Krieger, die sich als Exponenten feindlich gegenüberstehender Heere in einem Stellvertreterkampf gegenüberstehen. Dramatisch und zugleich tragisch ist diese Konstellation vor allem, weil sich hier Vater und Sohn, »Hiltibrant enti Hadubrant«, als Kontrahenten begegnen. Der hier vorgestellte Konflikt ist damit nicht nur einer zwischen zwei Kämpfern, sondern ist insbesondere die Inszenierung eines Werte- und Loyalitätskonflikts, indem hier die vasallitische Gefolgschafts­ treue der Sippenbindung unvermittelt gegenübersteht. Und so ist der Ausgang zwangsläufig tragisch. Denn auch wenn der Schluss des Hildebrandsliedes nicht überliefert ist, lässt sich aus anderen Quellen erschließen, dass der Vater den eigenen Sohn schließlich im Kampf erschlägt und damit das eigene Geschlecht auslöscht. Die hier vorgeführte Unausweichlichkeit der den Gesetzen der heroischen Ehre folgenden blutigen Selbstvernichtung lässt sich als ein weiteres konstitutives Moment der Heldendichtung bestimmen, die nicht, wie die Artusepik, einen gesellschaftsstabilisierenden glücklichen Ausgang findet, sondern, ganz im Gegenteil, in der Destruktion des Untergangs endet. Auf personaler Ebene wird dies als Schicksalhaftigkeit erfahrbar, der der Held, weil ihm andere Lösungsmöglichkeiten versagt sind, sich im Gestus der Schicksalsverachtung bewusst unterwirft. »[W]ewurt skihit!«5, heißt es aus dem Munde des Vaters (Hildebrand), der dem Kampf mit dem eigenen Sohn (Hadubrand) schließlich nicht mehr ausweichen kann, resignierend und selbstbestimmt zugleich. Da die fatalistische Unterwerfung eben keine des passiven Erduldens ist, sondern letztlich aktiv-fordernd ausagiert wird, erweist sich hier ein als dialektisch zu bestimmendes Moment – indem nämlich Schicksalhaftigkeit und Handlungsautonomie miteinander verschränkt werden. Zwar hatte Hildebrand im Gegenüber den Sohn, den er vor Jahrzehnten durch Flucht vor »Otachres nid« (»Odoakars Hass«; Z. 18) verlassen musste, um sich in der Fremde dem Hunnenkönig Attila anzuschließen, erkannt, aber er kann dem tödlichen Kampf mit dem – die Worte des Vaters als hunnische List 5 | Hildebrandslied zit. n. Schlosser 2004, hier S. 70, Z. 49: »das Schicksal will seinen Lauf«.

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missdeutenden und kampfbegierigen – Sohn trotz aller Versöhnungsgesten dann nicht mehr ausweichen, als dieser ihm Feigheit vorwirft und seine Ehre damit öffentlich angreift. Der Vorwurf der Feigheit gilt als eine der schlimmsten Beleidigungen und Ehrverletzungen. Hierauf nicht durch tödlichen Kampf zu reagieren, hieße, sich der öffentlichen Schande auszusetzen und sowohl die eigene Person als auch die gesamte Sippe moralisch aufs Schwerste zu beschädigen. Zur Illustration der Bedeutung von Schicksalhaftigkeit und Heldenethos eignet sich auch eine Szene aus dem Nibelungenlied: Auf dem Zug der Nibelungen an den Hof des Hunnenkönigs Etzel (uns heute besser bekannt als Attila), der im Nibelungenlied in zweiter Ehe mit der rachsüchtigen Witwe Siegfrieds, also Kriemhild, verheiratet ist, entdeckt Hagen in der Nähe der Donau an einer Quelle zwei weissagende Meerfrauen, Hadeburg und Sieglinde mit Namen. Von diesen erhält Hagen die folgende Prophezeiung: Dô sprach aber diu eine: »ez mouz alsô wesen, daz iuwer deheiner kan dâ niht genesen, niwan des küneges kappelân, daz ist uns wol bekant. der kumet gesunt widere in daz Guntheres lant.« (NL 1539 [1542]) 6

Der ›grimme Hagen‹ prüft den Wahrheitsgehalt der Prophezeiung, indem er versucht, den Kaplan im Fluss zu ersäufen. Wider Erwarten und nur durch das direkte Eingreifen Gottes (»swi er niht swimmen kunde, im half diu gotes hant«; NL 1576 [1579]: 3) kann sich der Gottesmann an das dem Burgundenland zugewandte Ufer retten. Jetzt ist Hagen vom Wahrheitsgehalt der Weissagung überzeugt und er reagiert – schicksalsgläubig und schicksalsverachtend –, indem er das Boot zerstört, mit dem er die Nibelungen übergesetzt hatte, um diese nunmehr offensiv in den vorgezeichneten und unausweichlichen Untergang zu führen –, wodurch er das Unvermeidliche sozusagen als Vollstreckung des eigenen Willens inszeniert. Nun ist das Mittelalter insgesamt, aber eben auch bereits das Frühmittelalter durch ein christliches Ethos und darüber durch Handlungsmaximen geprägt, die mit einem heroischen und im Kern aus einer paganen Vorstellungswelt stammenden Wertesystem in wesentlichen Punkten unvereinbar sind. Der Mordversuch Hagens am Kaplan, der im Text in keiner Weise kritisch kommentiert wird, macht dies deutlich. Und so sind die Stimmen des Klerus und der geistlichen Autoren, die gegen den, wie Otfried von Weißenburg (um 870) 6 | »Da sagte nochmals die Erste: ›Es muss so sein; keiner von Euch kommt mit dem Leben davon, bis auf den Kaplan des Königs. Das wissen wir ganz genau. Der kehrt unversehrt in Gunthers Land zurück.‹«

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ihn nennt, cantus obscoenus, den ›schändlichen Gesang‹ zur Verherrlichung der »eitlen Taten der Vorzeithelden« (Haubrichs 1995: 44) wettern, unüberhörbar. Das verhindert zwar offensichtlich nicht das fortdauernde Interesse an der Heldendichtung – das Nibelungenlied und auch die Dietrichsepen entstehen, als Buchform, ja noch sehr viel später –, das begünstigt aber die Entwicklung einer christlich gewendeten Heldendichtung, etwa in Form des Preisliedes. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Ludwigslied (881 /82), das zwar auch die kriegerische Leistung eines Königs, hier des westfränkischen Ludwig III., in einer Schlacht gegen die Normannen thematisiert, aber der Protagonist wird hier eben als Werkzeug Gottes apostrophiert (»Holoda inan truhtin, Magazogo uuarth her sin.« [Z. 4: »Der Herr selbst nahm sich seiner an und wurde sein Erzieher«])7 und sein Sieg als eine heilsgeschichtliche Erlösungstat vorgestellt. Interessanter in diesem Zusammenhang ist aber vermutlich ein anderes Beispiel: Zwar ist die germanische Walthersage als volkssprachlich-deutsche Dichtung verloren gegangen. Umstände führten aber dazu, dass dieser Stoff von einem Mönch (St. Gallen, 9. oder 10. Jahrhundert), offensichtlich zur Unterhaltung seiner Mitbrüder, in lateinische Hexameter umgeformt wurde und als Waltharius-Epos überliefert ist. Die Umformung ist aber nicht nur eine nach der Sprache und dem Metrum, sondern – und das ist hier interessant – auch eine inhaltliche. Augenscheinlich ging es dem Autor darum, »die ›richtige‹ Sicht auf die beliebte Heldenepik zu vermitteln« (Vogt-Spira 1994: 13). »In jedem Fall«, schreibt Gregor Vogt-Spira im Vorwort seiner Ausgabe des Waltharius, »handelt es sich nicht um eine naive Verschriftlichung mündlicher Erzählungen, sondern um einen in hohem Grad überlegten und durchdachten Transformationsprozeß.« (Ebd.) Deutlich wird dies, als sich Walther auf seiner Flucht aus dem Hunnenland mit der Herausforderung durch den goldgierigen Frankenkönig Gunther und dessen Gefolgsleute konfrontiert sieht. In traditioneller, von heldischer übermüete geprägter Prahlrede reizt er sein Gegenüber zum Kampf, um sich aber gleich darauf – christlich demütig der eigenen superbia bewusst werdend – dafür um Vergebung zu bitten: Stolzen Wortes rühm ich mich jetzo, vor diesem Tore: Nimmer erdreist’ sich ein Franke, daheim seinem Weibe zu sagen, ungestraft habe er von dem gewaltigen Schatze genommen.« Kaum aber hatt’ er die Rede vollendet, da sank er zu Boden nieder und bat um Vergebung alsbald, dass er solches gesprochen. (Waltharius 560 ff.)

Auch das Ende des Liedes wirkt nicht, wie etwa im Nibelungenlied, in dem in einem ultimativ-entfesselten Gewaltrausch die unwiderbringliche Vernichtung einer gesamten Adelsdynastie mitsamt ihrer Kriegerschaft vorgeführt wird, 7 | Ludwigslied zit. n. Schlosser 2004, hier S. 124, Z. 4.

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menschlich erschütternd, sondern vielmehr grotesk-komisch. Die drei Helden haben sich schließlich gegenseitig zu Invaliden gehauen und sich dadurch gewissermaßen auf der Ebene der Körperzeichen demontiert: König Gunther verliert ein Bein, Walther eine Hand und Hagen ein Auge. Im Angesicht der vor ihnen liegenden Körperteile versöhnen sie sich und machen Späße übereinander. Auch hier ist die kritische Distanzierung des Autors gegenüber seinem Stoff unübersehbar. »Hier ist die Heldensage wirklich nur noch pergamentene Literatur, mit der die schreibgelehrten Mönche spielen« (Haubrichs 1995: 135). Konzentriert man den Gegensatz zwischen Helden- und Artusepik auf die Perspektive der Figurenzeichnung, lässt sich das Folgende feststellen: Während der Held eine, wie man sagen könnte, ›expressive Figur‹ einer kulturell vorzeitigen Entwicklungsstufe darstellt, ist der Ritter als Vertreter des verfeinerten höfischen Hochmittelalters diesem gegenüber als eine interkulturelle Kontrastfigur zu bezeichnen. So ist der Ritter charakterisiert durch die Qualität der mâze, der Mäßigung und Aggressionskontrolle; er ist minnegeleitet und Garant der Aufrechterhaltung höfischer Ordnung. Als miles christianus steht er im Dienste Gottes und kämpft gegen das Böse zum Schutz der Schwachen, Witwen und Waisen. Im Kampf mit seinesgleichen ist er nicht auf deren Tötung aus, sondern er gewährt Gnade, da er sich selbst in der Gnade Gottes weiß. Da er an die Gerechtigkeit Gottes glaubt, ist ihm Rache fremd. Im Gegensatz dazu ist der Held als Figur charakterisiert durch ungezügelte Maßlosigkeit, er ist eher ein durch seine Emotionen Getriebener, energetisch geladen, kampfgierig, rachedurstig und in selbstberühmendem Narzissmus jederzeit kränkbar und reizbar. Gnade und Reue, Scham und Mitleid sind ihm ebenso fremd wie die affektregulierende Kraft der höfischen Minne. Im Grunde ist er eine gefährliche Gestalt aus einer zivilisatorisch niedrigstufigen archaischen Vorzeit. Gerade wegen seiner entgrenzten Emotionalität bewahrt er eine Form unkontrollierbarer Autonomie und macht sich so selbst zum Gesetz seines Handelns, das aber (trotz aller Rückbindungen an die Sippe, den Stamm) nicht am Wohl seiner Nächsten orientiert sein muss, sondern am selbstbezogenen Interesse an einem Weiterleben durch Nachruhm. Ein unbedingter Selbstbehauptungswille in Todesverachtung und Schicksalsgläubigkeit im Wissen um die Unausweichlichkeit des Verhängnisses charakterisiert ihn ebenso wie sein Hang zur großen, exorbitanten Tat. Weiter oben war bereits angedeutet, dass die Figurenkonzeption des Helden – und dies gilt gleichermaßen für den Ritter – zwar unausgesprochen, darum aber nicht weniger deutlich auf exklusiv männliche Rollenzuschreibungen und -erwartungen rekuriert. Gewalt, Kampf, Rache und körperliche Stärke gehören nicht zu den auf Frauen bezogenen Zuschreibungen. Frauen wird vielmehr, sozusagen kompensatorisch, Angst und Trauer zugewiesen. Frauen obliegt es, die Größe des getöteten Helden oder auch des Ritters durch die Intensität ihrer Trauer zu bestätigen. Wenn sie Gewalt ausüben, dann eher gegen sich selbst.

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Beispiel hierfür ist die Reaktion Enites, der Protagonistin des Artusromans Erec, im Angesicht des (schein-)toten Titelhelden und Ehemanns: daz hâr si vaste ûz brach, an ir lîbe si sich rach nâch wîplîchem site, wan hie rechent si sich mite. swaz in ze leide geschiht, dâ wider entount die guoten niht, wan daz siz phlegent enblanden ougen unde handen mit trehenen und mit hantslegen (Erec 5760 ff.). 8

Extrem ist auch das Verhalten Kriemhilds, als sie beim Anblick des ermordeten Siegfried aus Mund und Augen zu bluten beginnt (»daz bluot ir ûz dem munde von herzenjâmer brast«; NL 1007 [1010]: 2; »diu ir vil liehten ougen vor leide weinten bluot«; NL 1066 [1069]: 4). Dennoch, und das soll hier nicht unterschlagen werden, gibt es auch in der mittelhochdeutschen Literatur Frauenfiguren, die ganz offensichtlich die oben behauptete geschlechtsspezifische Rollenverteilung im Sinne einer Rollentransgression durchbrechen. Zu nennen sind hier zum einen die Amazonen, die als mythische Adaption der Antike auch in unterschiedlichen mittelhochdeutschen Werken aufscheinen (vgl. Brinker/von der Heyde 1997). Aber natürlich bietet auch das Nibelungenlied hier wieder Beispiele. So ist zum einen Brünhild zu nennen, einerseits schön und begehrenswert, andererseits doch mit Körperkräften ausgestattet, der selbst die nibelungischen Helden nur unter Zuhilfenahme eines magischen Hilfsmittels, der einerseits unsichtbarmachenden, andererseits aber auch kräfteverleihenden Tarnkappe nämlich, beikommen können. Nur so kann sie in einem als Stellvertreterkampf der Geschlechter inszenierten Ringen in der zweiten Brautnacht von Siegfried überwältigt werden. Gerade dies lässt sich aber wohl als Bestätigung männlicher Vorherrschaft und als Bekräftigung des männlichen Gewaltmonopols lesen. Andererseits überschreitet auch Kriemhild die der Frau zugewiesene Geschlechterrolle, indem sie das Motiv der Rache bis ins Extrem auslebt und schließlich eigenhändig den Mörder ihres Mannes, also Hagen, mit dem Schwert erschlägt. Aber auch dieses untypische Verhalten wird unmittelbar anschließend dadurch sanktioniert,

8 | Zit. n. der Ausgabe Cramer 2007: »Sie raufte sich die Haare, sie mißhandelte sich selbst, nach Art der Frauen, denn so schaden sie sich. Was immer ihnen zu Leid geschieht, die Guten wehren sich nicht dagegen, sondern sie beschäftigen Augen und Hände mit Tränen und Schlägen.«

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dass sie von einem ihrer Verbündeten, Hildebrant, im Beisein und offenbar mit Zustimmung ihres Mannes Etzel erschlagen wird. Auch hierin kann man wohl eine vom Dichter inszenierte indirekte Bestätigung des männlichen Gewaltprivilegs sehen. Zusammenfassend bleibt somit festzustellen, dass Held und Ritter als augenscheinlich männliche Figurenkonzepte prototypisch für kulturspezifisch durchaus klar unterscheidbare Konzepte stehen und so ein wesentliches gattungstypologisches Differenzkriterium bilden. Zweifellos ist der Ritter die sympathischere Gestalt – und doch kann dem Typus des Helden eine eigene (gefährlich-problematische) Faszination nicht abgesprochen werden. Das jedenfalls lässt sich für das Publikum des Mittelalters sagen – und das geht uns Heutigen vielleicht ebenso.

Bibliografie Quellen Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer. 27. Aufl. Mainz 2007. Das Hildebrandslied. In: Horst Dieter Schlosser (Hg.): Althochdeutsche Literatur. Mit altniederdeutschen Textbeispielen. Auswahl mit Übertragungen und Kommentar. 2., überarb. und erweit. Auflage Berlin 2004, S. 68–71. Das Ludwigslied. In: Horst Dieter Schlosser (Hg.): Althochdeutsche Literatur. Mit altniederdeutschen Textbeispielen. Auswahl mit Übertragungen und Kommentar. 2., überarb. und erweit. Aufl. Berlin 2004, S. 124–127. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hg. v. Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übers. und komm. von Siegfried Grosse. Stuttgart 2011. Waltharius. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hg. v. Gregor Vogt-Spira. Stuttgart 1994.

Literatur Arentzen, Jörg/Ruberg, Uwe (Hg.; 2011): Die Ritteridee in der deutschen Literatur des Mittelalters. Eine kommentierte Anthologie. 2. Aufl. mit einer Einleitung von Peter Somogyi und Jürgen Wolf. Darmstadt. Brinker-von der Heyde, Claudia (1997): es ist ein rehtez wîphere. Amazonen in mittelalterlicher Dichtung. In: PBB. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 119, S. 399–424. Gephart, Irmgard (2009): Der Zorn der Heroen. Heldenepische Formen der Wut im ›Nibelungenlied‹. In: Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 14, H. 1, S. 41–49.

I nterkulturalität und germanistische M ediävistik Haubrichs, Wolfgang (1995): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. I/1, Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). 2., durchges. Aufl. Tübingen. Heinzle, Joachim (1999): Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik. Berlin/New York 1999. Ders.  (2003): Die Nibelungensage als europäische Heldensage. In: Ders./Klaus Klein/Ute Obhof (Hg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesbaden, S. 3–27. Schulze, Ursula (2003): Das Nibelungenlied. Stuttgart.

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Autorinnen und Autoren Dembeck, Till (Dr.) ist Adjoint de Recherche für neuere deutsche Literatur an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Literarische Mehrsprachigkeit, Lyrik und Sprachforschung des 19. Jahrhunderts, Kulturtheorie, neuere deutsche Literatur. Ausgewählte Publikationen: Das literarische Leben der Sprachdifferenz. Methodische Erkundungen. Heidelberg 2016 (hg. mit Anne Uhrmacher); Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014 (hg. mit Georg Mein); Oberflächenübersetzung: The Poetics and Cultural Politics of Homophonic Translation. In: Critical Multilingualism Studies 3 (2015), H. 1, S. 7–25; Reading Ornament. Remarks on Philology and Culture. In: Orbis Litterarum 68 (2013), H. 5, S. 367–394. De Toffoli, Ian (Dr.) est assistant-chercheur à l’Institut de langue et de littératures luxembourgeois, à l’Université de Luxembourg, où il enseigne la littérature luxembourgeoise, ainsi que la théorie littéraire. Ses travaux de recherche portent sur la présence de la culture antique gréco-romaine dans la littérature contemporaine et sur la poétique du théâtre luxembourgeois contemporain. Quelques publications : La présence du latin et de la culture antique dans l’œuvre de Claude Simon, Pascal Quignard et Jean Sorrente, Paris 2015; Damnation et salut babélique dans le théâtre luxembourgeois. In: Gerflint. Synergien. Pays Germanophones, n° 8, Multilinguisme: enseignement, littératures et cultures au Luxembourg 2015, pp. 65–79; Le prisme mythologique dans les romans de Claude Simon. In: José-Manuel Losada (éd.): Myths in Crisis. Cambridge 2015, pp. 257–266. Glesener, Jeanne E. (Prof. Dr.) ist Komparatistin und Professorin für Luxemburgische Literatur an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichtsschreibung in multilingualen und interkulturellen Kontexten, Migrationsliteratur im europäischen Vergleich und Typologie kleiner Literaturen in Europa. Ausgewählte Publikationen: The Periodical as a Strategy of Recognition for Small Literatures. In: Interlitteraria 1 (2015), S. 159–174; The Separateness of Luxembourgish Literatures Revisited. Prolegomenon to a History of Literature in Luxembourg. In: Claude D. Conter (Hg.): Fundstücke. Archiv-Forschung-Literatur. Trouvailles. Archives-Recherche-Lettres. Mersch 2014, S. 152–168; Zum Konzept der ›étrange langue‹ von Jean Portante. Überlegungen zur sprachinternen Mehrsprachigkeit. In: Till Dembeck/Georg Mein: Mehrsprachige Gegenwartsliteratur – Philologische Herausforderungen. Heidelberg 2014, S. 321–337; Le multilinguisme

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A utorinnen und A utoren comme défi et caractéristique distinctive de la littérature au Luxembourg. In: Heinz Sieburg (Hg.): Vielfalt der Sprachen – Varianz der Perspektiven. Die Luxemburger Mehrsprachigkeit in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Bielefeld 2013, S. 35–70. Gyssels, Kathleen (Prof. Dr.) enseigne les littératures caribéennes à l’Université d’Anvers. Elle vient de publier aux éditions Passage(s) Black Label ou les déboires de Léon-Gontran Damas et a deux monographies sous presse sur la poésie posthume de Léon-Gontran Damas. Elle s’intéresse en tant que comparatiste aux littératures de la diaspora noire et juive. Millim, Anne-Marie (Dr.) ist Senior Lecturer im Fach Anglistik an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Viktorianische Literatur und Kultur, auto-/ biografische Gattungen, Literatur und Presse, Landschaftsprosa und die Literaturen Luxemburgs 1900–1940. Ausgewählte Publikationen: The Victorian Diary. Authorship and Emotional Labour. Burlington 2013; Victorian Celebrity Culture and Tennyson’s Circle. Basingstoke 2013 (mit Charlotte Boyce und Paraic Finnerty); (Hg.) Batty Weber. Werk und Wirkung. Luxemburg 2017 (mit Einleitung). Pasewalck, Silke (Prof. Dr.) ist assoziierte Professorin für deutsche Literatur und Leiterin des Lehrstuhls für Germanistik an der Universität Tartu (Estland). Forschungsschwerpunkte: Literarische Interkulturalität, literarische Erinnerungskonzepte, Nationsbildung und Literatur, Literatur- und Kulturdidaktik, Deutsch als Fremdsprache. Ausgewählte Publikationen: (Hg.) Interkulturalität und (literarisches) Übersetzen. Tübingen 2014; »Als lebte ich in einem no man’s land, mit Verlass nur auf die Sprache«. Zu Ilma Rakusas Poetik der Mehrsprachigkeit. In: Till Dembeck/Georg Mein (Hg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014; (Hg.) Nationalepen zwischen Fakten und Fiktionen. Tartu 2011. Roelens, Nathalie (Prof. Dr.) est professeur de théorie littéraire à l’Université du Luxembourg et membre de l’Unité de Recherche Identités, Politiques, Sociétés, Espaces où elle dirige le centre MIS (Multilingualism and Intercultural Studies). Ses travaux récents s’inscrivent dans le domaine de la littérature de voyage, de la géocritique et de la sémiotique urbaine. Elle est membre de l’Association Internationale Word & Image Studies, de l’Association Internationale de Sémiotique et du groupe de recherche européen LEA! Lire en Europe Aujourd’hui. Elle a publié entre autres Le lecteur, ce voyeur absolu (1998) et dirigé ou codirigé les recueils Jacques Derrida et l’esthétique (2000), Homo orthopedicus (2001), L’imaginaire de l’écran (2004), Lire, écrire, pratiquer la ville (2016). Sa dernière monographie, publiée chez Kimé, s’intitule Éloge du dépaysement. Du voyage au tourisme (2015). Schiewer, Gesine Lenore (Prof. Dr.) ist Lehrstuhlinhaberin für Interkulturelle Germanstik an der Universität Bayreuth (Deutschland). Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Linguistik, Interkulturelle Kommunikations- und Dialogforschung, Interkulturelle Literaturwissenschaft, Emotions- und Konfliktforschung, Interkul-

A utorinnen und A utoren turelle Innovationsforschung (Science and Technology Studies). Ausgewählte Publikation: Studienbuch Emotionsforschung. Theorien, Anwendungsfelder, Perspektiven. Darmstadt 2014. Sieburg, Heinz (Prof. Dr.) ist Professor für germanistische Mediävistik und Linguistik an der Universität Luxemburg. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Mediävistik, deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters, Wortbildung und Soziolinguistik. Ausgewählte Publikationen: (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte. Bilder – Identitäten – Konstruktionen. Bielefeld 2015; (Hg.) Vielfalt der Sprachen – Varianz der Perspektiven. Zur Geschichte und Gegenwart der Luxemburger Mehrsprachigkeit. Bielefeld 2013; Literatur des Mittelalters. 2. Aufl. Berlin 2012. Vlasta, Sandra (Mag. Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Literatur im Kontext von Migration, literarische Mehrsprachigkeit, Reiseberichte/Reiseliteratur, kultureller Transfer, postkoloniale Literatur und Theorie. Ausgewählte Publikationen: Contemporary Migration Literature in German and English: A Comparative Study. Leiden 2016; Bewegte Geschichten. Literarische Darstellungen von Migration. In: literaturkritik.de 3 (2016); (http://www.literaturkritik.de).

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Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft Lavinia Heller (Hg.) Kultur und Übersetzung Studien zu einem begrifflichen Verhältnis Februar 2017, 308 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2963-7

Julian Osthues Literatur als Palimpsest Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart Februar 2017, ca. 308 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3718-2

Corinna Albrecht, Andrea Bogner (Hg.) Tischgespräche: Einladung zu einer interkulturellen Wissenschaft Januar 2017, 336 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2206-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft Elena Enda Kreutzer Migration in den Medien Eine vergleichende Studie zur europäischen Grenzregion SaarLorLux Oktober 2016, 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-3394-8

Michaela Holdenried, Weertje Willms (Hg.) Die interkulturelle Familie Literatur- und sozialwissenschaftliche Perspektiven (in Zusammenarbeit mit Stefan Hermes) 2012, 276 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1880-8

Thomas Ernst, Dieter Heimböckel (Hg.) Verortungen der Interkulturalität Die ›Europäischen Kulturhauptstädte‹ Luxemburg und die Großregion (2007), das Ruhrgebiet (2010) und Istanbul (2010) 2012, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1826-6

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Erhard Schüttpelz, Martin Zillinger (Hg.)

Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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