Auf Den Spuren Des Einen: Studien Zur Metaphysik Und Ihrer Geschichte 9783161541629, 9783161541636

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I: Profile der Metaphysik
I. Was ist Metaphysik in Vollendung?
1. Metaphysik ist unverzichtbar
2. Was ist Metaphysik?
3. Was sind Vollendungsgestalten von Metaphysik?
4. Platonismus und Idealismus als Vollendungsgestalten von Metaphysik
II. Metaphysik und Transzendenz
1. Zur Begriffsgeschichte der Transzendenz
2. Negative Theologie als Vollendung der Metaphysik
3. Ausblick
III. Jenseits von Sein und Nichtsein: Wie kann man für Transzendenz argumentieren?
1. Der ontologische Gottesbeweis und das Absolute
2. Platons Hypothesis-Methode als Aufweis des Absoluten
3. Drei Argumente für die Transzendenz des Absoluten
4. Der Aufweis der Transzendenz als wissendes Nichtwissen
IV. Gott im Denken
1. Warum die Philosophie auf die Frage nach Gott nicht verzichten kann
2. Drei Grundformen philosophischer Theologie
3. Absolute Transzendenz und All-Einheit
V. Die Unverwüstlichkeit der Metaphysik
1. Totgesagte leben länger
2. Subjektivität und All-Einheit: Dieter Henrich
3. Subjektivität und Geheimnis: Gunnar Hindrichs
4. Platonismus als Vollendungsform: Werner Beierwaltes
5. Restitution abgeschnittener Welt- und Gottesbezüge: Wolfgang Janke
6. Ausblick
Teil II: Platons Metaphysik des Einen
VI. Platons Metaphysik des Einen
1. Metaphysik als Henologie
2. Platons Dialektik: Aufstieg zum Absoluten
3. Das Eine als absoluter Grund
4. Die absolute Transzendenz des Einen
5. Das zweite Prinzip
6. Monismus oder Dualismus?
VII. Platons unbestimmte Zweiheit
1. Mehr und weniger als Prinzip
2. Die privative Natur des zweiten Prinzips
3. Die Unbegrenztheit des zweiten Prinzips
4. Zwei Arten von Unendlichkeit
5. Das zweite Prinzip als Grund von Raum und Bewegung
VIII. Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre
1. Monismus und Dualismus in den Dialogen
2. Monismus und Dualismus in der ungeschriebenen ­Lehre
3. Ausblick auf Speusipp und Eudoros
IX. Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons
1. Plotin als Interpret Platons
2. Warum setzt Platon neben dem Einen ein zweites Prinzip an?
3. Die Einheitsform des Geistes
4. Die Einheit des Geistes und der Monismus des Einheitsgrundes
5. Der zweistufige Urakt des Denkens
X. Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon
1. Proklos’ Selbstverständnis als Platoniker
2. Die Platondeutung des Origenes
3. Proklos’ Deutung der Platonischen Schlüsseltexte für die Transzendenz des Absoluten
4. Speusipp als Kronzeuge für die Transzendenz des Einen
XI. Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons Parmenides
1. Auf der Suche nach dem Ursprung der metaphysischen Deutung des Parmenides
2. Die metaphysische Deutung im Neupythagoreismus
3. Speusipp als Ursprung der metaphysischen Deutung
XII. Speusipp und die Unendlichkeit des Einen
1. Speusipp und die Metaphysik des Einen
2. Plotin über die Unendlichkeit des Einen
3. Vier Deutungen der Unendlichkeit des Einen bei Proklos
4. Ein neues Speusipp-Fragment
5. Interpretation des neuen Speusipp-Fragments
6. Die Bedeutung des neuen Speusipp-Fragments
Teil III: Geschichtliche Entfaltungen
XIII. Aufwachen zu sich selbst: Plotins Begriff der Einsicht
1. Einsicht und diskursives Denken
2. Verinnerlichung
3. All-Einheit
4. Konkrete Totalität
5. Schönheit
6. Selbstbewußtsein
7. Résumee
XIV. Schönheit und Bild im Neuplatonismus
1. Schönheit und Bild, Metaphysik und Ästhetik
2. Schönheit als metaphysisches Konzept
3. Plotins Begriff des Schönen
4. Das Absolute als Überschönheit
5. Plotins metaphysische Rehabilitation der Bildkunst
XV. Das Eine als Einheit und Dreiheit: Zur Prinzipienlehre Jamblichs
1. Ein neues Jamblich-Fragment
2. Der prinzipientheoretische Kontext
3. Die Trinität im Einen bei Jamblich
4. Proklos’ Kritik an Jamblich
XVI. Wie rational kann die Rede vom Absoluten sein? Zu den Grenzen des Widerspruchsprinzips bei Dionysius Areopagita und im antiken Platonismus
XVII. Nikolaus von Kues über das Begreifen des Unbegreiflichen
1. Philosophie als Suche nach dem voraussetzungslosen Urgrund
2. Das Absolute als das Können selbst
3. Könnensmetaphysik als Geistmetaphysik
4. Philosophie des Christentums?
XVIII. Hegel und die negative Theologie
1. Hegel und die negative Theologie
2. Negative Theologie als Ausdruck absoluter Transzendenz
3. Die Selbstaufhebung der negativen Theologie bei Hegel
4. All-Einheit und absolute Transzendenz
5. Das Absolute als negativer Selbstbezug: Eriugena und Cusanus
6. Résumee
XIX. Freiheit als Transzendenz. Zur Freiheit des Absoluten bei Schelling und Plotin
1. Das Eine und die Freiheit
2. Schellings Bestimmung der menschlichen Freiheit
3. Schellings Begriff der absoluten Freiheit
4. Die Freiheit des Absoluten bei Plotin
Nachweise
Teil I: Profile der Metaphysik
Teil II: Platons Metaphysik des Einen
Teil III: Geschichtliche Entfaltungen
Literatur
Namensregister
Sachregister
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Auf Den Spuren Des Einen: Studien Zur Metaphysik Und Ihrer Geschichte
 9783161541629, 9783161541636

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I

Collegium Metaphysicum Herausgeber / Editors Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat /Advisory Board Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Douglas Hedley (Cambridge) · Johannes Hübner (Halle) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)

14

II

III

Jens Halfwassen

Auf den Spuren des Einen Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte

Mohr Siebeck

IV Jens Halfwassen, geboren 1958; 1978–85 Studium der Philosophie, Geschichte, Altertumskunde und Pädagogik; 1989 Promotion; 1995 Habilitation; 1997–99 Heisenberg-Professor der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Professor für Philosophie an der Ludwig-­Maxi­milians-Universität München; seit 1999 Ordinarius für Philosophie an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg; seit 2012 Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Gründungsmitglied der Academia Platonica Septima Monasteriensis; 2014 Ehrendoktor der Universität Athen.

e-ISBN PDF 978-3-16-154163-6 ISBN 978-3-16-154162-9 ISSN 2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi­ kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg aus der Stempel Garamond gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner gebunden.

V

Dem Andenken an Hans Krämer gewidmet

VI

VII

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1 Teil I

Profile der Metaphysik I. Was ist Metaphysik in Vollendung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 1. Metaphysik ist unverzichtbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 2. Was ist Metaphysik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 3. Was sind Vollendungsgestalten von Metaphysik? . . . . . . . . . . . .  15 4. Platonismus und Idealismus als Vollendungsgestalten von Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  20 II.

Metaphysik und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  27 1. Zur Begriffsgeschichte der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .  28 2. Negative Theologie als Vollendung der Metaphysik . . . . . . . . .  32 3. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  34

III.

Jenseits von Sein und Nichtsein: Wie kann man für Transzendenz argumentieren? . . . . . . . . . . . . . .  37 1. Der ontologische Gottesbeweis und das Absolute . . . . . . . . . . .  37 2. Platons Hypothesis-Methode als Aufweis des Absoluten . . . . .  40 3. Drei Argumente für die Transzendenz des Absoluten . . . . . . . .  43 4. Der Aufweis der Transzendenz als wissendes Nichtwissen . . .  48

IV. Gott im Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  51 1. Warum die Philosophie auf die Frage nach Gott nicht verzichten kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  51 2. Drei Grundformen philosophischer Theologie . . . . . . . . . . . . .  53 3. Absolute Transzendenz und All-Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57 V.

Die Unverwüstlichkeit der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 1. Totgesagte leben länger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 2. Subjektivität und All-Einheit: Dieter Henrich . . . . . . . . . . . . . .  63 3. Subjektivität und Geheimnis: Gunnar Hindrichs . . . . . . . . . . .  70 4. Platonismus als Vollendungsform: Werner Beierwaltes . . . . . . .  73

VIII

Inhaltsverzeichnis

5. Restitution abgeschnittener Welt- und Gottesbezüge: Wolfgang Janke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   78 6. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   85 Teil II

Platons Metaphysik des Einen VI.

Platons Metaphysik des Einen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   91 1. Metaphysik als Henologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   91 2. Platons Dialektik: Aufstieg zum Absoluten . . . . . . . . . . . . . . .   94 3. Das Eine als absoluter Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   97 4. Die absolute Transzendenz des Einen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  100 5. Das zweite Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  102 6. Monismus oder Dualismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  104

VII.

Platons unbestimmte Zweiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 1. Mehr und weniger als Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 2. Die privative Natur des zweiten Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . .  116 3. Die Unbegrenztheit des zweiten Prinzips . . . . . . . . . . . . . . . . .  119 4. Zwei Arten von Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125 5. Das zweite Prinzip als Grund von Raum und Bewegung . . . .  128

VIII.

Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre . . . . . . . . .  133 1. Monismus und Dualismus in den Dialogen . . . . . . . . . . . . . . .  135 2. Monismus und Dualismus in der ungeschriebenen ­Lehre . . . .  142 3. Ausblick auf Speusipp und Eudoros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  146

IX. Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons . . . . . . . . . .  149 1. Plotin als Interpret Platons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  149 2. Warum setzt Platon neben dem Einen ein zweites Prinzip an? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  151 3. Die Einheitsform des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155 4. Die Einheit des Geistes und der Monismus des Einheitsgrundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  157 5. Der zweistufige Urakt des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161 X. Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon . . . . . . . . . .  165 1. Proklos’ Selbstverständnis als Platoniker . . . . . . . . . . . . . . . . .  165 2. Die Platondeutung des Origenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  169 3. Proklos’ Deutung der Platonischen Schlüsseltexte für die Transzendenz des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  170 4. Speusipp als Kronzeuge für die Transzendenz des Einen . . . .  178

Inhaltsverzeichnis

IX

XI. Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  185 1. Auf der Suche nach dem Ursprung der metaphysischen Deutung des Parmenides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  185 2. Die metaphysische Deutung im Neupythagoreismus . . . . . . .  188 3. Speusipp als Ursprung der metaphysischen Deutung . . . . . . .  200 XII.

Speusipp und die Unendlichkeit des Einen . . . . . . . . . . . . . . . . . .  215 1. Speusipp und die Metaphysik des Einen . . . . . . . . . . . . . . . . . .  215 2. Plotin über die Unendlichkeit des Einen . . . . . . . . . . . . . . . . . .  220 3. Vier Deutungen der Unendlichkeit des Einen bei Proklos . . .  222 4. Ein neues Speusipp-Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  224 5. Interpretation des neuen Speusipp-Fragments . . . . . . . . . . . . .  231 6. Die Bedeutung des neuen Speusipp-Fragments . . . . . . . . . . . .  240 Teil III

Geschichtliche Entfaltungen XIII.

Aufwachen zu sich selbst: Plotins Begriff der Einsicht . . . . . . . . .  247 1. Einsicht und diskursives Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247 2. Verinnerlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  250 3. All-Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  252 4. Konkrete Totalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  254 5. Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  257 6. Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  258 7. Résumee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  261

XIV.

Schönheit und Bild im Neuplatonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  265 1. Schönheit und Bild, Metaphysik und Ästhetik . . . . . . . . . . . . .  265 2. Schönheit als metaphysisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  267 3. Plotins Begriff des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  269 4. Das Absolute als Überschönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  273 5. Plotins metaphysische Rehabilitation der Bildkunst . . . . . . . .  276

XV.

Das Eine als Einheit und Dreiheit: Zur Prinzipienlehre Jamblichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  279 1. Ein neues Jamblich-Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  279 2. Der prinzipientheoretische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  281 3. Die Trinität im Einen bei Jamblich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  292 4. Proklos’ Kritik an Jamblich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  301

X

Inhaltsverzeichnis

XVI. Wie rational kann die Rede vom Absoluten sein? Zu den Grenzen des Widerspruchsprinzips bei Dionysius Areopagita und im antiken Platonismus . . . . . . . .  307 XVII. Nikolaus von Kues über das Begreifen des Unbegreiflichen . . . .  315 1. Philosophie als Suche nach dem vor­aussetzungslosen Urgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  317 2. Das Absolute als das Können selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  320 3. Könnensmetaphysik als Geistmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . .  325 4. Philosophie des Christentums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  328 X VIII. Hegel und die negative Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  331 1. ­Hegel und die negative Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  331 2. Negative Theologie als Ausdruck absoluter Transzendenz . . .  333 3. Die Selbstaufhebung der negativen Theologie bei Hegel . . . . .  336 4. All-Einheit und absolute Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .  342 5. Das Absolute als negativer Selbstbezug: Eriugena und Cusa­nus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  345 6. Résumee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  348 XIX.

Freiheit als Transzendenz Zur Freiheit des Absoluten bei Schelling und Plotin . . . . . . . . . . .  351 1. Das Eine und die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  351 2. Schellings Bestimmung der menschlichen Freiheit . . . . . . . . . .  353 3. Schellings Begriff der absoluten Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .  357 4. Die Freiheit des Absoluten bei Plotin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  364

Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  369 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  373 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  379 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  385

1

Einleitung Metaphysik ist seit Platon grundlegend Theorie des Einen. Das ist die These, die ich in diesem Buch vertreten und aus verschiedenen historischen und systematischen Perspektiven beleuchten möchte. Sie beruft sich auf Platon, der unsere metaphysische Tradition in einem Ausmaß und einer Intensität geprägt hat wie kein zweiter und der darum auch im Zentrum dieses Buches steht. Dennoch versteht sich die Charakterisierung der Metaphysik als Theorie des Einen oder Henologie nicht von selbst. Sie konkurriert mit anderen Typen von Metaphysik. Darüber hin­aus ist sie mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, wenn man das Eine als absolute Transzendenz denkt, was Platons Grundgedanke war, woraus folgt, daß eine Theorie des Einen nur als negative Henologie möglich ist. Sie sei darum einleitend anfänglich umgrenzt und im Feld der konkurrierenden Metaphysiktypen verortet. „Metaphysik“ ist selber eine relativ späte Bezeichnung für die Fundamentalphilosophie, die auf das Ganze dessen ausgreift, was überhaupt ist und gedacht werden kann, und dessen Gesamtzusammenhang aus seinen ersten und ursprünglichsten Prinzipien begreifen will. Der Titel „Metaphysik“ stammt teles-Kommentatoren und hatte ursprünglich von den spätantiken Aristo­ wohl bibliothekarische Bedeutung: Er bezieht sich auf jene 14 Vorlesungsmanuskripte des Aristo­teles, die in den antiken Ausgaben seiner Schriften seit Andronikos von Rhodos auf die Manuskripte zur „Physik“ folgten. Aristo­ teles selbst spricht nicht von „Metaphysik“, sondern von „Erster Philosophie“ (πρώτη φιλοσοφία), von „Weisheit“ (σοφία) oder auch von „Theologie“ (θεολογία, θεολογική). Aristo­teles gibt drei verschiedene Bestimmungen der Aufgabe dieser Ersten Philosophie: Sie ist erstens die Wissenschaft von den ursprünglichsten und grundlegendsten Gründen oder Prinzipien (ἀρχαί) der Wirklichkeit im Ganzen, zweitens die Wissenschaft vom „Seienden, insofern es seiend ist“ (ὂν ᾗ ὄν) und drittens die Wissenschaft vom Göttlichen (θεῖον) oder von Gott (ὁ θεός). Wie diese drei Bestimmungen der später „Metaphysik“ genannten Fundamentalphilosophie als Prinzipientheorie, Ontologie und Theologie miteinander zusammenhängen, ist bei Aristo­teles nicht leicht zu erkennen – von den antiken Kommentatoren bis zu den modernen Interpreten wurde und wird darüber kontrovers diskutiert, ohne daß ein Konsens absehbar wäre. Doch soviel ist immerhin deutlich: Die Theologie hängt mit der Prinzipientheorie insofern zusammen, als das ursprünglichste und höchste Prinzip, der Ursprung

2

Einleitung

oder Urgrund der Wirklichkeit im Ganzen als das eigentlich Göttliche gedacht wird – und zwar nicht erst von Aristo­teles, sondern, wie Aristo­teles uns berichtet, schon von den großen vorsokratischen Ursprungsdenkern Anaximander, Xenophanes, Heraklit, Parmenides und Anaxagoras. Mit der Ontologie aber hängt die Theologie insofern zusammen, als Aristo­teles den göttlichen Ursprung als das höchste und im eminenten Sinne Seiende denkt, an dem sich der Sinn von Sein in paradigmatischer Reinheit und Ursprünglichkeit zeigt. Darin liegt zugleich der Zusammenhang von Ontologie und Prinzipientheorie. Er ist für Aristo­teles spezifisch und hat eine gegen Platon gerichtete Pointe: denn für Platon war der absolute Urgrund gerade kein Seiendes und auch nicht das Sein selbst, sondern das Eine, das als absolute Transzendenz „jenseits des Seins“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) ist. Die Prinzipientheorie ist für Platon also gerade nicht ontologisch verfaßt, sondern henologisch. Aber deutlich ist auch: Fundamentalphilosophie oder Metaphysik ist im ursprünglichsten und zugleich umfassendsten Sinne Prinzipientheorie. In diesem Sinne beginnt sie nicht erst bei Aristo­teles oder Platon, sondern schon mit den ersten Denkversuchen der vorsokratischen Ursprungsdenker. Als den frühesten Metaphysiker in diesem Sinne nennt Aristo­teles bekanntlich Thales von Milet. Doch die Eigentümlichkeit und den besonderen Rang dieser frühen Metaphysik zeigt er vor allem an Anaximander, der den Ursprung als das ἄπειρον dachte – als das Unendliche, Unbegrenzte und Unbestimmte – und damit als die Verneinung der durch das Wechselspiel der Gegensätze bestimmten Weltstruktur, die gleichwohl in ihm gründet. Seit Schelling wird darüber diskutiert, ob nicht Hesiod mit seiner Theogonie als der erste metaphysische Ursprungsdenker zu gelten hätte. Und spätestens seit Uvo Hölscher und Jan Assmann wissen wir, daß die Denkform, die nach dem Ursprung der Wirklichkeit fragt, bereits den vorgriechischen Hochkulturen des Alten Orients vertraut und besonders bei den Ägyptern bemerkenswert hoch entwickelt war. Die Frage nach dem Ursprung und die in dieser Frage virulente Intuition, daß das Wirkliche in all seiner bunten Vielfalt und Verschiedenheit kraft seines Ursprungs eine Einheit, nämlich ein Ganzes bildet, gehört offenbar zum menschlichen Denken, wo immer es sich artikuliert und wir von dieser Artikulation Zeugnisse besitzen – die Ursprungsfrage und die in ihr wirksame Einheitsintuition ist älter als alle Philosophie, sie erzeugt Mythen und Religionen, in denen sie auf vorphilosophische Art und Weise thematisch wird, und sie ist der Urquell der Philosophie, die sich an ihr entzündet, nicht nur bei den Griechen, sondern ebenso bei Indern und Chinesen, deren Denktraditionen ebenfalls von der Ursprungsfrage ihren Anfang nehmen. Doch hatte Aristo­teles gute Gründe, die philosophische Theorie des Ursprungs – oder vielmehr die Philosophie als Theorie des Ursprungs – von dessen mythologischer Thematisierung in Theogonien und Kosmogonien klar zu unterscheiden. Denn die Denkform des Mythos ist die Zeit, und so erscheint

Einleitung

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der Ursprung in den mythologischen Theogonien und Kosmogonien der alten Hochkulturen als der zeitliche Anfang – das zeitlich Erste vermag der Mythos vom metaphysisch Ursprünglichen und Grundlegenden noch nicht zu scheiden. Aber genau das tun die vorsokratischen Ursprungstheorien, von denen uns Aristo­teles im ersten Buch seiner Metaphysik berichtet, und genau damit beginnt die Philosophie als eine vom Mythos vollkommen verschiedene Denkform. Denn bereits die ersten von Aristo­teles genannten Philosophen – Thales, Anaximander und Anaximenes – denken den Ursprung nicht mehr nur als das, dem alles Wirkliche anfänglich entspringt, sondern darüber hin­aus als das, das allem Wirklichen bleibend zum Grunde liegt und es bestimmt und durchherrscht. Darin kommt die im Ursprungsdenken virulente Einheitsintuition zu klarer Einsicht als Gedanke: das Wirkliche bildet die Einheit eines Ganzen, das wir Welt oder Kosmos nennen, nicht nur, weil es einem Ursprung entsprungen ist, sondern weil es diesem Ursprung einen alles Einzelne und Viele vereinenden Zug verdankt, der alles zur Einheit des Ganzen eint und mit dem Ursprung verbindet. Dieser Zug in die Einheit des Ursprungs ist das eigentliche Wesen der Dinge, das sich hinter dem Schein ihrer bunten Vielfalt und Verschiedenheit verbirgt. Es zeigt sich nur dem Denken, während die Erzählform des Mythos im Schein der Vielfalt befangen bleibt. Das Denken (νοεῖν) dagegen durchdringt den Schein und steht darum zum Wesen der Dinge und zum Ursprung in ausgezeichneter Beziehung – eine Einsicht, die freilich erst bei Parmenides zu klarer Artikulation gelangt und damit von der noch unmittelbar und in direktem Zugriff auf die Wirklichkeit bezogenen Denkform der frühen Vorsokratiker zu jener Denkform überleitet, die mit Platons „Flucht in die Logoi“ die Wahrheit über das Seiende in der Selbstzuwendung des Denkens sucht. Weil das Denken als Einheitsblick auf das Wesen und den Ursprung zu diesen in ausgezeichneter Beziehung steht, ist die Wahrheit über den Ursprung und über das Wesen und die Einheit aller Dinge nur in der Form der θεωρία zugänglich und nicht im Narrativ des Mythos. Die Ursprungsmetaphysik, in der Aristo­teles den Anfang der Philosophie erkannt hat, ist die Ur- und Grundform philosophischer Theorie überhaupt und darum auch die Ur- und Grundform metaphysischen Denkens – in diesem Sinne ist alle Metaphysik Ursprungsphilosophie und bleibt es auch immer. Doch in der Ursprungsmetaphysik der Vorsokratiker, mit der die Geschichte der Metaphysik beginnt, sind drei Einsichten eingefaltet, deren geschichtliche Entfaltung über die Form der Ursprungsmetaphysik hin­aus und zur Ausbildung von drei weiteren Grundtypen metaphysischen Denkens führt. Die Frage nach dem Wesen führt seit Aristo­teles zur Ausbildung der Ontologie als einer Seinsmetaphysik, welche die Formen und Arten des Seins (Ideen, Kategorien, Modalitäten, Transzendentalien) untersucht und dabei das Verhältnis des wahren Wesens zu seinen Erscheinungen wie zum Ursprung klärt. – Die Einsicht in die Einheit des Ursprungs und des Ganzen führt seit Platon zur Ausbildung

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der Henologie als einer Metaphysik des Einen, welche das Eine als das Absolute denkt, auf das alles Wirkliche als auf seinen Ursprung bezogen ist, das aber gerade in seiner Absolutheit selber nur noch aus der Verneinung dessen gedacht werden kann, was in ihm gründet, und so zur der Entdeckung der Transzendenz des Absoluten führt. – Die Einsicht in die ausgezeichnete Beziehung des Denkens zum Ursprung, zum Ganzen und zum Wesen führt – im Ansatz schon bei Platon und Aristo­teles, vollendet aber erst bei Plotin – zur Ausbildung der Noologie als einer Geistmetaphysik, welche in der Kraft der Negation die Ungegenständlichkeit des Geistes entdeckt und im Ausgang davon den Geist als die Ur- und Grundform des Seins denkt, dessen denkende Selbstbeziehung alle Seinsformen produktiv aus sich entfaltet, um in ihrer systematischen Einheit zu sich selbst zurückzukehren und sich selbst als denkendes Selbstverhältnis gegenwärtig zu haben. Die Ausbildung der drei entwickelten Metaphysiktypen der Henologie, der Ontologie und der Noologie, die alle drei in der vorsokratischen Ursprungsmetaphysik schon angelegt sind, verbindet sich mit den drei Klassikern der Metaphysik: Platon, Aristo­teles und Plotin. Die nachantike Geschichte der Metaphysik besteht im Wesentlichen in der weiteren Ausdifferenzierung und gelegentlich auch der Umakzentuierung der henologischen, der ontologischen und der geisttheoretischen Tradition, die dabei untereinander vielfältige Verbindungen eingehen, so schon bei Plotin, der die erst von ihm voll entfaltete Metaphysik des Geistes henologisch fundiert: im ekstatischen Transzendenzbezug zum Einen, welchem der Geist seine eigene Einheit und damit sein Selbstverhältnis verdankt. Die vier Grundtypen metaphysischen Denkens: Ursprungsmetaphysik, Einheitsmetaphysik, Seinsmetaphysik und Geistmetaphysik stehen nicht einfach nebeneinander, sondern bilden geschichtlich gesehen einen systematischen Zusammenhang, der die Frage nahelegt, ob eine von ihnen die synthetische Kraft besitzt, die drei anderen in sich zu integrieren, damit ihren systematischen Zusammenhang zu begreifen und so sich selbst als die Vollendungsform von Metaphysik zu erweisen. Die These dieses Buches besagt, daß die Theorie des Einen diese Vollendungsform ist. Mit Platons Entdeckung der Transzendenz des Absoluten vollendet sie die Einsicht, mit der die Ursprungsmetaphysik bei Anaximander anhebt, daß nämlich der Ursprung aus der Verneinung der Weltstruktur gedacht werden muß. Die Ontologie mit ihrer kategorialen Ausdifferenzierung der Seinsformen ordnet sich ihr in der Frage nach der Einheit des Seins und dem einen Sinn von Sein unter. Und die Geistmetaphysik, welche die Einheit des Seins aus der in einem unterscheidenden und vereinigenden Selbstbeziehung des Geistes begreift, begründet eben diese Differenz-Einheit des Geistes wiederum in dessen ekstatischem Transzendenzbezug zu dem Einen „jenseits des Seins“ und „jenseits des Geistes“. Die Vollendungsgestalt der Metaphysik ist so

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eine Geistmetaphysik, die in einer Metaphysik des Einen fundiert ist. Erreicht ist diese Vollendungsgestalt erstmals bei Plotin, aber ihr Fundament hat Platon gelegt, wie Plotin selber zu betonen nie müde wird. Darum sind Platon und Plotin die beiden wichtigsten Bezugsautoren dieses Buches. Der von Platon begründete und von Plotin in einem gewissen Sinne vollendete Platonismus vollzieht die Theorie des Einen als negative Theologie der Transzendenz und integriert ihr die Ontologie und die Geisttheorie, indem er Sein und Geist als „Spur des Einen“1 interpretiert, die dann begriffen sind, wenn sie als Spuren gelesen auf die Transzendenz über Sein und Geist verweisen – so erklärt sich der Titel dieses Buches. Plotins Vollendung des Platonismus, die immer noch unter dem nicht-antiken und Mißverständnisse provozierenden Namen des „Neuplatonismus“ gehandelt wird, geht „als die eigentliche Metaphysik durch die Zeiten“. 2 Ihre Denkform hält sich bis zu Proklos und Damaskios durch, aber ebenso in den christlichen Transformationen des Neuplatonismus von Pseudo-Dionysius Areopagita und Eriugena über Meister Eckhart bis hin zu Nikolaus von Kues, und sie wird im deutschen Idealismus sowohl von ­Hegel wieder aufgenommen als auch in den Spätphilosophien von Fichte und Schelling. Sie ist zugleich die erste Metaphysik in der Geschichte des Denkens, die sich selbst nicht einfach als eine weitere und bessere, höher entwickelte neben ihre metaphysischen Vorgängertheorien stellt, sondern die aus einem expliziten geschichtlichen Selbstverständnis heraus eine Theorieform entwickelt, welche die Gesamtheit aller metaphysischen Theorien aus der Entfaltungsdynamik des Geistes als eine unzeitliche, intellektuelle Evolution von Einsichten versteht, die sich einerseits in der Selbsterkenntnis des Geistes als dem „Einsehen des Einsehens“ (νόησις νοήσεως) zu einer alle einzelnen Einsichten in ihrer systematischen Einheit begreifenden Gesamt-Einsicht vollendet, sich andererseits aber nicht in sich selbst abschließt, sondern sich in der Ekstase des Geistes zur Transzendenz des Absoluten öffnet, das nur im Nichtwissen gewußt wird, in einem Nichtwissen, das alles Wissen übersteigt. Der „Neuplatonismus“ ist so zugleich die Vorwegnahme der evolutiv-genetischen Denkform Hegels, der genau wußte, wem er diese Theorieform verdankt, aber ohne die Hybris eines absoluten Wissens, die sich bei ­Hegel damit verbindet. So ist der bei den „Neuplatonikern“ vollendete Platonismus zugleich das Paradigma einer Metaphysikform, die Anton Friedrich Koch „Nichtstandard-Metaphysik“ nennt.3 Die in diesem Band vereinigten Aufsätze zu einigen zentralen Aspekten der Metaphysik des Einen sind über einen längeren Zeitraum aus disparaten Anlässen entstanden. Dennoch fügen sie sich, wie ich hoffe, zu einer von der Sache her 1 Plotin,

Enneade V 5, 5, 14. So Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München 1971, 119. 3 Anton Friedrich Koch, Die Evolution des logischen Raumes. Aufsätze zu Hegels Nichtstandard-Metaphysik, Tübingen 2014. 2 

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bestimmten Einheit zusammen. Sie beleuchten die Metaphysik des Einen aus verschiedenen systematischen, historischen und wirkungsgeschichtlichen Perspektiven. Demgemäß sind sie in drei Gruppen angeordnet. Die Texte der ersten Gruppe – „Profile der Metaphysik“ – behandeln die Metaphysik des Einen unter systematischen Aspekten als die Vollendungsform metaphysischen Denkens und legen dabei besonderes Gewicht auf die Einsicht in die Transzendenz des Absoluten, die zur Konsequenz hat, daß sich Metaphysik und a fortiori Metaphysik des Einen nicht im Stile Hegels in einem absoluten Wissen abschließen läßt, sondern daß sie sich im wissenden Nichtwissen des Einen und in der Ekstase des Geistes vollendet. Darum bleibt die Metaphysik und a fortiori die Metaphysik des Einen auch Philosophie – sie weist über sich selbst hin­aus auf das absolut Transzendente, das allem Denken und Erkennen entzogen bleibt, dessen Spuren das Denken aber so nachgeht, daß es dabei zu sich selbst kommt, indem es über sich selbst hin­ausgeht. Der letzte und umfangreichste Text dieser Gruppe gilt der Aktualität dieser transzendierenden Denkform der Metaphysik. Die Texte der zweiten und umfangreichsten Gruppe untersuchen historisch „Platons Metaphysik des Einen“. Sie tun das unter drei einander ergänzenden Aspekten. Die ersten drei Texte untersuchen Platons „ungeschriebene“, innerakademische Prinzipientheorie. Die „Tübinger Schule“ hat uns gezeigt, daß sie das Zentrum der Philosophie Platons bildet und daß sie die systematische Gestalt einer Metaphysik des Einen hat, die zum ersten Mal in der Geschichte des Denkens das Eine als das Absolute gedacht hat. Die beiden folgenden Texte untersuchen die Deutung, die Plotin und Proklos, die beiden maßgebenden Denker des „Neuplatonismus“, dieser Prinzipientheorie Platons gegeben haben. Die beiden letzten Texte schließlich versuchen zu zeigen, daß der Ursprung der die ganze weitere Geschichte der Metaphysik prägenden neuplatonischen Platon-Deutung im unmittelbaren Umfeld Platons selbst zu finden ist: bei seinem Neffen Speusipp. Die Texte der dritten Gruppe – „wirkungsgeschichtliche Entfaltungen“ – gehen einigen wesentlichen Aspekten der Wirkungsgeschichte der Metaphysik des Einen nach. Die ersten beiden Texte dieser Gruppe untersuchen die Begriffe der Einsicht und der Schönheit, die exemplarisch zeigen mögen, wie diese beiden Zentralbegriffe ihre Fruchtbarkeit ihrer henologischen Fundierung verdanken. Der längste Text dieser Gruppe gilt der Rekonstruktion der Prinzipienlehren der Neuplatoniker Porphyrios und Jamblich, die der Metaphysik des Einen eine trinitarische Wendung gegeben haben, die für ihre christliche Rezeption grundlegend wurde. Wie sehr sich der negativ-theologische Grundzug der Metaphysik des Einen auch in ihrer christlichen Transformation durchhält, können die beiden folgenden Texte zu Dionysius Areopagita und Nikolaus von Kues zeigen. Die beiden letzten Texte beziehen die Metaphysik des Einen auf Hegels absoluten Idealismus und auf Schellings Spätphilosophie. Ihre Absicht ist es,

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die unabgegoltene Aktualität des Grundgedankens der Transzendenz des Absoluten zu zeigen. Alle hier vereinigten Beiträge wurden für diesen Band durchgesehen und redaktionell überarbeitet; die Anmerkungen wurden aktualisiert, ohne daß Vollständigkeit bei der Berücksichtigung der neu erschienenen Literatur angestrebt wurde. Nachweise über die Erstveröffentlichung der verschiedenen Beiträge finden sich am Ende des Buches. Meinen Mitarbeitern Dr. Tobias Dangel und Tolga Ratzsch danke ich herzlich für ihre engagierte und umsichtige Hilfe bei der Bearbeitung der Texte. Herr Ratzsch hat sich mit nie erlahmender Sorgfalt um die technische Gestaltung der Texte gekümmert und auf der Grundlage der Anmerkungen auch das Literaturverzeichnis sowie das Register erstellt. Gedankt sei auch dem Marsilius-Kolleg der Universität Heidelberg, das mir durch ein zusätzliches Forschungssemester im Winter 2014/15 die Muße gegeben hat, die ich für die Zusammenstellung und Bearbeitung dieses Bandes brauchte, und ihn dadurch erst ermöglicht hat.

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Teil I

Profile der Metaphysik

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I.

Was ist Metaphysik in Vollendung? 1. Metaphysik ist unverzichtbar Wer heute in einem affirmativen Sinne von Metaphysik spricht, der riskiert zumindest den Vorwurf, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein. Einige der einflußreichsten Strömungen der Gegenwartsphilosophie sind sich bekanntermaßen darin einig, daß Metaphysik keine legitime und aktuelle Aufgabe der Philosophie mehr sei, daß sie unwiderruflich vergangen sei und als ein Phänomen der Vergangenheit allenfalls noch ein historisches Interesse verdiene. Ich riskiere diesen Vorwurf. Wer mit der Geschichte der Philosophie vertraut ist, weiß ohnehin, daß die Botschaft vom Ende der Metaphysik selber bereits ziemlich alt ist – so alt, daß die Attitüde der Modernität, mit der sie daherkommt, mittlerweile reichlich abgeblättert wirkt. Bereits Kant, zweifellos der bedeutendste und wirkungsmächtigste unter allen Kritikern der Metaphysik, sprach davon, daß „Metaphysik“ „ein verschrieener Name“ sei.1 Und doch verfolgte Kants kritisches Unternehmen nicht das Ziel, die Metaphysik zu zerstören, sondern hatte ganz im Gegenteil die Absicht, durch die Analyse der Verfassung der Vernunft ein sicheres Fundament zu legen, auf dem Metaphysik als Wissenschaft in Übereinstimmung mit den Maßstäben aufgeklärter Rationalität neu errichtet werden könne. Zu den zentralen Einsichten der Vernunftkritik Kants gehört dabei die Erkenntnis, daß die grundlegenden Themen und Probleme der Metaphysik keine willkürlich ausgedachten oder historisch zufällig entstandenen Scheinprobleme sind, sondern Probleme, die sich der Vernunft aufgrund ihrer eigenen Verfassung notwendig und unvermeidlicherweise ergeben. Sinnlos wäre insofern nicht die Metaphysik, sondern umgekehrt die Behauptung ihrer Sinnlosigkeit und die Verhängung von Denkverboten gegenüber Fragen, die zu stellen oder nicht zu stellen gerade nicht im Belieben der Vernunft steht. ­Hegel nannte es darum ein „sonderbares Schauspiel“, „ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen; – wie einen sonst mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes“. 2 „Sonderbar“ ist dieses Schauspiel genau darum, weil die Bildung als Selbstentfaltung der Vernunft nicht von den höchsten und letzten Ge1  Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, A/B 32 (Akademie-Ausgabe Bd. 4, 410). 2  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 11, hg. von Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke, Hamburg 1978 (= Wis-

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Teil I: Profile der Metaphysik

danken, die sich der Vernunft aus ihrer eigenen Verfassung ergeben, einfach ablassen kann. Die Fragen nach dem Ganzen dessen, was ist, nach einem letzten Grund und Ursprung dieses Ganzen und nach der Stellung der Vernunft selber in diesem Ganzen – sie gehören zur Vernunft wie das Allerheiligste zum Tempel, der ja Tempel erst durch das Allerheiligste ist; ebenso ist die Vernunft erst durch die metaphysischen Themen im vollen und eigentlichen Sinne Vernunft. Die Philosophie hat also gute Gründe, sich der Metaphysik erneut zuzuwenden. Wir erleben denn auch seit einiger Zeit eine erstaunliche Wiederkehr metaphysischer Themen und Fragestellungen in den verschiedensten Richtungen der Philosophie und der Theologie, gegenwärtig sogar in Teilen der analytischen Philosophie. Eine erneute Zuwendung zur Metaphysik muß freilich immer zugleich ihre Geschichte im Blick behalten, will man nicht ohne Not auf wesentliche Denk- und Einsichtsmöglichkeiten verzichten. Was metaphysisches Denken ist und was es vermag, zeigt allemal am deutlichsten seine Geschichte. Wenn irgendwo, so gilt hier Hegels Diktum, das Studium der Geschichte der Philosophie sei das Studium der Philosophie selbst.3 Nun bestimmt metaphysisches Denken in unterschiedlichen Ausprägungen nahezu die gesamte Geschichte der europäischen Philosophie mindestens von den Eleaten bis zum deutschen Idealismus. Schon angesichts dieser Fülle höchst unterschiedlicher Ausprägungen ist es sinnvoll, den Blick auf besonders herausgehobene Formationen zu konzentrieren, an denen Charakter und Möglichkeiten metaphysischen Philosophierens auf paradigmatische Weise deutlich werden können. Besonders aufschlußreich scheinen mir hierfür die beiden Formationen zu sein, die am Anfang und am Ende der geschichtlichen Entfaltung der europäischen Metaphysik stehen: der Platonismus und der spekulative deutsche Idealismus. Im Folgenden geht es mir um einen inneren Zusammenhang zwischen Platonismus und Idealismus. Ein solcher Zusammenhang besteht meines Erachtens noch diesseits aller historisch erforschbaren Rezeptionsvorgänge darin, daß Platonismus und Idealismus Vollendungsgestalten metaphysischen Denkens sind, die als solche unüberboten und für die Philosophie unentbehrlich bleiben, weil in ihnen auf je unterschiedliche Weise ein Höchstes und Äußerstes gedacht ist, das die Vernunft zu denken vermag. Meinem Thema nähere ich mich durch drei Fragen:

senschaft der Logik I), 5; Bd. 21, hg. von Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke, Hamburg 1985, 6. 3  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: ders., Werke in Zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970 ff, Neuausgabe 1986 (= Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie), Bd. 18, 49; Bd. 20, 479.

I. Was ist Metaphysik in Vollendung?

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1. Was ist eigentlich Metaphysik? Genauer: Durch welche Fragen und Themen konstituiert sich metaphysisches Denken grundlegend? 2. Was genau sind Vollendungsgestalten von Metaphysik und wodurch unterscheiden sie sich von anderen Formationen metaphysischen Denkens, die nicht im gleichen Sinne vollendet genannt werden können? 3. Warum und in welchem Sinne sind Platonismus und spekulativer deutscher Idealismus Vollendungsgestalten von Metaphysik? Eine Antwort auf diese Fragen möchte ich in fünf Schritten durch fünf aufeinander aufbauende Thesen versuchen.

2. Was ist Metaphysik? Erste These: Metaphysik ist ein Denken letzter Gedanken, die auf das Ganze dessen, was überhaupt ist, ausgreifen und dieses Ganze von einem letzten Grund und Ursprung aus in den Blick nehmen. – Mit dieser These greife ich einen Vorschlag von Dieter Henrich zur Bestimmung des Wesens von Metaphysik auf.4 Ich möchte diese Bestimmung zunächst abgrenzen gegen einige gängige Bestimmungen dessen, was Metaphysik ist, und dann auf bestimmte Weise modifizieren. Weit verbreitet ist ein Verständnis, für das Metaphysik die Annahme der Existenz einer intelligiblen Welt jenseits der lebensweltlich vertrauten wie der empirisch erforschbaren Realität bedeutet. Historisch geht dieses Verständnis auf die spätantiken Aristo­teleskommentatoren zurück. Sie erklären, die merkwürdige Bezeichnung der ersten, grundlegenden und höchsten Disziplin der Philosophie als „Metaphysik“ komme daher, weil sie sich mit dem befasse, was über die sinnlich erscheinende und veränderliche Wirklichkeit der Natur, die Gegenstand der Physik ist, hin­ausgeht.5 Im Horizont dieses Verständnisses von Metaphysik steht noch Nietzsche, wenn er Metaphysik als Annahme einer Hinterwelt oder Überwelt versteht und denunziert. Doch um zu verstehen, was Metaphysik eigentlich und im Grunde ist, ist eine solche Zwei-Welten-­Lehre, wie sie der Platonismus vertrat, weder umfassend noch grundlegend genug. Es gibt bedeutende Formen von Metaphysik wie z.B. die Philosophie Spinozas, die ohne eine jenseitige Welt auskommen. Und für Platons Denken selber ist die Ideenlehre und mit ihr die Annahme einer intelligiblen Welt sekundär gegen4 Vgl. Dieter Henrich, Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999 (= Bewußtes Leben), 194 f u.ö. – Vgl. zu Henrichs Metaphysikkonzept auch Michael Theunissen, „Der Gang des Lebens und das Absolute. Für und wider das Philosophiekonzept Dieter Henrichs“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), 343–362, bes. 348 ff. 5 Vgl. z.B. Simplikios, In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, 1 Diels (Commentaria in Aristotelem Graeca Bd. 9, Berlin 1882).

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Teil I: Profile der Metaphysik

über der grundlegenden Frage nach dem Einen, das das Seiende in seiner Vielheit überhaupt erst ermöglicht und verstehbar macht.6 Auch die Bestimmung von Metaphysik als Ontologie, wie sie die aristote­ lische Tradition beherrscht, scheint mir weder umfassend noch wirklich grundlegend zu sein. Sie setzt vor­aus, daß das Sein bzw. das Seiende das Umfassendste und das Ursprünglichste ist, was überhaupt gedacht werden kann. Diese Vor­ aussetzung teilt noch Heidegger, wenn er der Metaphysik vorwirft, sie habe immer nur das Seiende als das Seiende gedacht und dabei das Sein selbst, das alles Seiende allererst ursprünglich sein läßt, ungedacht gelassen.7 Die Voraussetzung, das Seiende bzw. das Sein sei das Ursprünglichste, worauf das Denken sich richten kann, läßt sich aber durchaus bezweifeln. Ist nicht der Gedanke der Einheit sowohl ursprünglicher als auch umfassender als der Gedanke des Seins? Denn alles Seiende muß zugleich als Einheit gedacht werden, aber nicht jede Einheit ist notwendig auch seiend. Auch das Nicht-Seiende muß, soll es überhaupt denkbar sein, als Einheit gedacht werden. Und bekanntlich können wir vieles denken, das bloß darum, weil wir es denken, noch nicht seiend ist, z.B. Werdeprozesse als Übergänge zwischen Sein und Nicht­sein oder auch bloß Mögliches; sogar das Nichts können wir als Privation des Seins denken. Wir können aber nichts denken, ohne es zugleich als Einheit zu denken, – auch das Viele, das scheinbare Gegenteil des Einen, denken wir notwendig und immer schon als Einheit, nämlich als geeinte Vielheit oder als ein Ganzes aus vielen elementaren Einheiten. Denn Einheit ist die grundlegende Bedingung von Denkbarkeit überhaupt. Aus derartigen Erwägungen heraus kam schon Platon zu der Überzeugung, das Eine sei ursprünglicher und grundlegender als das Sein und das Seiende; das wahrhaft und absolut Ursprüngliche sei das Eine, das wir in allem Denken immer schon vor­aussetzen müssen, über das wir im Denken zugleich aber niemals hin­ausgreifen können, weil mit der Aufhebung des Einen das Denken selbst aufgehoben wäre.8 Mit dem Gedanken des Einen scheint nun ein Gesichtspunkt gefunden, der für metaphysisches Denken überhaupt und in der ganzen historischen Vielfalt seiner Erscheinungsformen fundamental ist. Es gibt Formen von Metaphysik, die nicht ontologisch verfaßt sind, wie die Wissenschaftslehre Fichtes oder verschiedene Varianten des Buddhismus. Aber es gibt kein metaphysisches Denken, in dem der Gedanke der Einheit nicht fundamental wäre. Das ist nicht nur faktisch so, sondern kann auch gar nicht anders sein, weil Einheit eben die 6  Grundlegend dazu bleibt Hans Joachim Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959 (= Arete bei Platon und Aristo­teles). 7 Vgl. z.B. Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, 11. Aufl. Frankfurt am Main 1975. 8 Vgl. besonders den zweiten Teil von Platons Parmenides (137 C ff), ferner z.B. Speusipp, Testimonium Platonicum 50 Gaiser (Platons Ungeschriebene ­Lehre, Stuttgart 1963, 2. Aufl. 1968, 530 f).

I. Was ist Metaphysik in Vollendung?

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Bedingung von Denken und Gedachtwerden überhaupt ist. Das besagt natürlich nicht, daß metaphysisches Denken generell monistisch verfaßt sein müßte. Auch pluralistische Formen von Metaphysik wie die von Leibniz sind aber fundamental auf Einheit bezogen, und dies sogar in doppelter Weise. Denn insofern Metaphysik immer auf das Ganze dessen ausgreift, was überhaupt ist und gedacht werden kann, kann sie gar nicht umhin, dieses Ganze als eine wie auch immer näher bestimmte Einheit aufzufassen. Darüber hin­aus ist der Ausgriff auf das Ganze allererst dadurch möglich, daß man nach einem letzten Grund und Ursprung sucht, von dem aus sich das Ganze als solches – und d.h. eben als Einheit – in den Blick nehmen läßt. Auch wo eine Pluralität von Prinzipien angenommen wird, sollen diese Prinzipien ja die Wirklichkeit als ein Ganzes begründen; dazu aber müssen jene Prinzipien selber als auf einander bezogen und koordiniert gedacht werden, und damit ist das, was sie koordiniert, als das eigentlich Einheitsstiftende und wahrhaft Ursprüngliche vor­ausgesetzt, wie schon Platon bemerkte.9 Auch historisch ist die Frage nach dem Einen Ursprung älter als jeder Versuch zur Differenzierung der Ursprungsdimension; in Griechenland wie in Indien und China steht sie am Anfang der Philosophie. Metaphysisches Denken geht also, so scheint mir, immer und notwendig in doppelter Weise auf Einheit aus, insofern es das Ganze des Wirklichen und Denkbaren von einem letzten Grund seiner Einheit her begreifen will. Darum ist Metaphysik in einem ganz grundlegenden Sinne – mit Werner Beierwaltes gesagt – Denken des Einen;10 sie ist als Ausgriff auf das Ganze und den Grund seiner Einheit fundamental henologisch verfaßt.

3. Was sind Vollendungsgestalten von Metaphysik? Zweite These – ebenfalls von Beierwaltes und Henrich inspiriert: In höher entfalteten Formen metaphysischen Denkens kommt dem Selbstverhältnis des Denkens eine Schlüsselrolle zu. Diese These läßt sich zunächst historisch erläutern. Sobald der das Ganze begründende Ursprung nicht mehr in einem Element der Lebenswelt wie dem Wasser (Thales) oder dem Feuer (Heraklit) gefunden wird und d.h. sobald metaphysisches Denken im Hinausdenken über alle Erfahrung zu sich selbst kommt, wird in ihm das Denken selber in seiner Verschiedenheit von aller Wahrnehmung ausdrücklich thematisch. Schon früh, bei Parmenides und in den Upanischaden, wird das Denken selber sogar mit der denkend erschlossenen eigentlichen Wirklichkeit jenseits der erfahrbaren Alltagswelt identifiziert.  9 Vgl. Platon, Philebos 23 D. – Zur Frage des Prinzipienmonismus oder -dualismus bei Platon selbst siehe unten Kapitel VIII. 10 Vgl. Werner Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main 1985 (= Denken des Einen).

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Teil I: Profile der Metaphysik

Und spätestens Platon entdeckt die Selbstbeziehung des Denkens in ihrer eigentümlichen Struktur eines Sich-Unterscheidens von sich selbst, das gleichwohl in Einheit mit sich bleibt, die große Paradoxie des Einsseins mit sich im Unterschied, ohne die kein Verhältnis zu sich selbst möglich ist. Dieses rätselvolle Selbstverhältnis des Denkens ist zugleich grundlegend für jede Bezugnahme auf „Gegenständliches“, weil das Denken in seinem Verhalten zu von ihm selbst Unterschiedenem und Anderem sich allein schon dadurch zugleich auf sich selbst bezieht, daß es jenes Andere von sich unterscheidet. Und anders als durch solches Unterscheiden von sich kann sich das Denken überhaupt nicht auf Gedachtes beziehen, weshalb es auch sich selbst von sich unterscheiden muß, um sich auf sich selbst beziehen zu können. Diese ebenso komplexe wie fundamentale Selbstbeziehungsstruktur des Denkens, in der sich das Wissen von sich oder das Selbstbewußtsein konstituiert, wurde noch in der Antike von Plotin nicht nur zum Thema einer eigenen Theorie, sondern auch zum Ausgangspunkt einer umfassenden Metaphysik gemacht, der umfassendsten, welche die Geschichte vor ­Hegel kennt.11 Die besondere Aufmerksamkeit, die dem Selbstverhältnis des Denkens in allen hochentwickelten Formen von Metaphysik zukommt, läßt sich aus der henologischen Grundverfassung metaphysischen Denkens begreifen. Wenn Metaphysik fundamental auf Einheit ausgeht, dann nicht nur auf die Einheit des als wirklich oder seiend Erfaßten, sondern in einem damit auch auf die eigene Einheit des Denkens selber. Diese Einheit ist aber eine Einheit von ganz besonderer und rätselvoller Struktur; denn sie kann weder wie die Einheit eines einzelnen Elements oder eines einfachen Gedankens begriffen werden, noch auch wie die Einheit eines Ganzen aus einander bloß koordinierten Elementen. Die Einheit des Denkens ist vielmehr einerseits eine ursprüngliche Einheit, die nicht aus einer Synthese der in ihr unterscheidbaren Momente wie Subjekt und Objekt erst hervorgehen kann. Denn die Momente dieser Einheit sind nicht von der Art, daß sie unabhängig von ihr überhaupt gedacht werden könnten; Inhalt und Selbst des Denkens, Gedachtes und Denkendes, „Objekt“ und „Subjekt“ sowie der beide vereinigende Denkvollzug sind vielmehr ursprünglich aufeinander bezogene Momente, die nicht voneinander abgetrennt werden können. Andererseits ist die Einheit des Denkens eben aufgrund dieser in ihm unterscheidbaren Momente aber nicht von ursprünglicher Einfachheit, sondern von in sich komplexer Struktur. Dieser komplexe Einheitssinn des Denkens läßt da11 Vgl. dazu Hans Joachim Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964, 2. Aufl. 1967 (= Ursprung der Geistmetaphysik); Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, 3. Aufl. Frankfurt am Main 1966 (= Plotin als Interpret der Ontologie Platos); Jens Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein. Studien zu Plotin und Numenios, Mainz/ Stuttgart 1994 (= Geist und Selbstbewußtsein); ders., Plotin und der Neuplatonismus, München 2004 (= Plotin und der Neuplatonismus).

I. Was ist Metaphysik in Vollendung?

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rum die Frage nach einem Grund aufkommen, dem das Denken selbst seine eigene Einheit verdankt. Hochentwickelte Formen von Metaphysik haben so nicht nur die Einheit der Welt und ihren Grund zum Thema, sondern ebenso die Einheit des Denkens und dessen Grund. Damit aber ergeben sich für sie eine Reihe von Fragen, die sich einem naiven, unmittelbar auf Weltbegreifen ausgerichteten Denken gar nicht stellen: In welchem Verhältnis steht die Einheit der Wirklichkeit zur Einheit des Denkens? Ist etwa – mit Kant – die Einheit unseres Selbstbewußtseins der Grund dafür, daß wir alles, was immer wir als wirklich erfassen, als Einheit und in der Einheit einer Welt einbegriffen denken müssen? Oder ist – mit Plotin – umgekehrt der Einheitsvorgriff des Denkens ursprünglicher als dessen Selbstbezug? Wie verhält sich der Einheitsgrund der Welt zum Einheitsgrund des denkenden Selbstbewußtseins? Ist das Verhältnis des Denkens zu seinem Einheitsgrund von anderer Art als das der Welt zu ihrem Grund? Handelt es sich bei der Einheit der Welt, der Einheit des Sich-Wissens und der Einheit des Ursprungs um verschiedene Weisen von Einheit, wie Plotin annahm, oder um ­ egel lehrt? Und kann der Einheitsgrund des ein und dieselbe All-Einheit, wie H Selbstbewußtseins selber noch von der Art des Geistes sein? Die Geschichte der Metaphysik kennt auf jede dieser Fragen verschiedene Antworten. Aber daß sie sich überhaupt stellen, führt dazu, daß den hochentwickelten Metaphysiken, in denen sie thematisch werden, eines gemeinsam ist: sie alle entfalten sich aus der spezifischen Konstellation zwischen dem Einheitsbedürfnis und dem Selbstverhältnis des Denkens und versuchen aus dieser Konstellation heraus, einen Zusammenhang zwischen dem Ganzen der Welt, dem Denken in seinem Selbstbezug wie in seinem Seinsbezug und einem universal einheitsstiftenden Ursprung zu denken. Metaphysik ist dort voll entfaltet, wo dieser Zusammenhang in umfassender Weise begrifflich artikuliert wird; sie gewinnt dann den Charakter einer Metaphysik des Geistes, die in einer Metaphysik des Einen entweder fundiert ist oder mit ihr zusammenfällt. In Europa ist das zum ersten Mal in der Philosophie Platons der Fall; die umfassendsten Entwürfe solcher Art finden wir im Neuplatonismus und im nachkantischen deutschen Idealismus. Sie verbinden sich mit den Namen Plotin, Proklos, Damaskios, Johannes Eriugena und Nikolaus von Kues einerseits sowie Fichte, ­Hegel und Schelling andererseits. Dritte These: Platonismus und Idealismus sind genau darum Vollendungsformen von Metaphysik, weil ihnen nicht nur die Konstellation von Geistmetaphysik und Henologie und die sich daraus ergebenden Themen gemeinsam sind, sondern weil sie zur Bearbeitung dieser Themen eine besondere Gedanken- und Begriffsform ausbilden, die man – mit einem Ausdruck Hegels – spekulativ nennen kann. – Das Selbstverhältnis des Denkens, das Ganze des Seienden und den Ursprung des einen wie des anderen können wir uns nicht in derselben Weise durchsichtig

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Teil I: Profile der Metaphysik

machen wie gegenständlich Seiendes, weil sie immer schon allem, was wir gegenständlich denken und begreifen können, vor­ausgehen. In allem rationalen, unmittelbar gegenstandsbezogenen Denken denken wir immer – und immer nur – ein ganz bestimmtes Etwas in seiner Besonderheit, die es von anderem Bestimmten abgrenzt. Wollen wir Allgemeines rational denken, dann müssen wir von den Besonderheiten absehen. Je universaler dasjenige ist, was wir in dieser abstrahierenden Weise denken, umso inhaltsleerer und bestimmungsärmer ist es darum notwendig auch. Das Ganze des Seienden und Denkbaren ist dann ein vollkommen leerer und unbestimmter Gedanke. Es läßt sich in der Form von Rationalität, in der wir besondere Weltinhalte begreifen, überhaupt nicht denken. Das Gleiche gilt für den Ursprung, wie gerade die Theologie der rationalen Metaphysik beweist. Sie denkt Gott als den Urheber der Welt durch lineare Steigerung der Prädikate besonderer Wesen als das höchste Seiende oder das vollkommenste Wesen. Ein höchstes Seiendes bleibt aber immer noch ein Seiendes unter anderem Seienden, und zwar ein besonderes, einzelnes Seiendes. Wie aber ein einzelnes Seiendes das Ganze des Seins, zu dem es doch selber gehört, begründen soll, bleibt uneinsichtig, vollends dann, wenn man fragt, wie denn ein Einzelnes der Grund der Einheit des Ganzen sein kann. Das Selbstverhältnis des Denkens endlich bleibt jedem direkt gegenstandsbezogenen Denken ein undurchdringliches Rätsel. Wir müssen also fragen, ob es eine Form des Denkens geben kann, die von der auf das Begreifen besonderer Weltinhalte ausgerichteten Rationalität abweicht und den Themen der Metaphysik angemessener ist. Tatsächlich kennt die Geschichte der Philosophie mindestens zwei andere Formen des Denkens. Bereits Platon und Aristo­teles unterscheiden systematisch zwischen zwei verschiedenen Vollzugsformen des Denkens, die sie Nous (oder Noesis) und Dia­noia nennen.12 Dianoia meint ein diskursives, begriffliches Denken, das sich argumentierend und schlußfolgernd von einem Gedanken zum anderen fortbewegt und dabei immer nur Besonderes denkt. Dagegen meint Nous oder Noesis ein geistiges Sehen, eine intellektuelle Schau, in der ein Ganzes auf einmal präsent ist und in einem einzigen Blick des Geistes erfaßt wird, also ohne zeitliche Sukzession und ohne diskursiven Fortgang von einem zum anderen. Diese Unterscheidung von noetischem und dianoetischem Denken schreibt sich in der Geschichte der Philosophie fort als die Differenz zwischen intellectus und ­ratio, intellektueller Anschauung und diskursivem Denken oder auch Vernunft und Verstand. Platon konzipierte nun in gewisser Weise eine Vereinigung beider Vollzugsweisen des Denkens in dem, was er Dialektik nannte. Dialektik versteht Platon 12  Grundlegend dazu bleibt Klaus Oehler, Die ­L ehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristo­teles. Ein Beitrag zur Erforschung des Bewußtseinsproblems in der Antike, München 1962, 2. Aufl. Hamburg 1985 (= ­Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken).

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als ein argumentierendes, begründendes und insofern diskursiv verfaßtes Denken, in dem es um die Bestimmung von Ideen geht, und zwar durch die genaue Ermittlung der Verhältnisse der Ideen untereinander. Der Platonischen Dialektik geht es dabei nicht um die Erfassung singulärer Ideen als solcher, sondern stets um ein Zusammensehen verschiedener Ideen zu einem Ganzen, Dialektik ist somit wesenhaft Synopsis, so Platon.13 Solche Synopsis aber ist geleitet durch den Vorblick auf ein Prinzip, das alles Zusammensehen von Ideen allererst ermöglicht: das universal einheitsstiftende Eine oder Gute selbst, der „unbedingte Ursprung“ aller Ideen. Die höchste Aufgabe der Platonischen Dialektik ist darum das denkende Zusammensehen aller Ideen auf das ihre Einheit begründende Eine hin und weiter die Abhebung des Einen selbst in seiner Absolutheit von aller in ihm gründenden Vielheit der Ideen. Dialektisches Denken, wie Platon es bestimmt, unterscheidet sich von der noetischen Schau der Ideen und ihres Ursprungs durch seine begrifflich-diskursive Verfassung; aber es geht anders als alles gewöhnliche diskursive Erkennen nicht unmittelbar auf die Erfassung eines ganz bestimmten Etwas in seiner spezifischen Besonderheit aus, sondern gerade auf die Erfassung eines Ganzen aus dem Ursprung seiner Einheit; damit übersetzt es gewissermaßen den Inhalt der noetischen Schau in die diskursive Denkform. Und indem diese Übersetzung dadurch erfolgt, daß es Unterschiedenes in die Einheit eines Ganzen zusammendenkt, geht ihm daran zugleich die eigentümliche Struktur denkender Selbstbezüglichkeit auf. Für die spezifische Form spekulativen Denkens ist nun Dreierlei konstitutiv: Zum einen die Unterscheidung von intellektuell anschauendem und diskursivem Denken und der Versuch, sie miteinander zu vermitteln. Zweitens die Absicht, durch diese Vermittlung das Ganze aus dem Ursprung seiner Einheit begrifflich bestimmt zu denken. Und drittens die Erfassung der eigentümlichen Selbstbeziehungsstruktur des Denkens. Bei ­Hegel finden wir genau diese Momente vereinigt.14 Hegels Begriff der Spekulation meint bekanntlich die Vereinigung von diskursiver Reflexion und intellektueller Anschauung. Hegels entwickelte dialektische Methode zeichnet sich dadurch aus, daß sie begriffliche Bestimmungen so denkt, daß in ihnen niemals nur ein bestimmtes Etwas in seiner Besonderheit, sondern stets die Einheit verschiedener und sogar entgegengesetzter Bestimmungen gedacht wird, und zwar so, daß dabei diese Einheit als 13 Platon, Politeia 537 C. – Vgl. zum Folgenden Hans Joachim Krämer, „Über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik bei Platon“, in: Jürgen Wippern (Hg.), Das ­ ehre Platons. Beiträge zum Verständnis der Platonischen Problem der ungeschriebenen L ­ ehre Platons), Prinzipienphilosophie, Darmstadt 1972 (= Das Problem der ungeschriebenen L 394–448 (= Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik) – jetzt auch in: Hans Krämer, Gesammelte Aufsätze zu Platon, hg. von Dagmar Mirbach, Berlin/Boston 2014 (= Gesammelte Aufsätze zu Platon), 33–71. 14 Vgl. dazu Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik, Bonn 1976, 3. Aufl. 1995 (= Problem der Subjektivität).

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das Ganze eingesehen wird, das jede besondere Bestimmung in ihrer Abgrenzung von anderem Besonderen und ihrer Entgegensetzung gegen dieses sowohl ermöglicht als auch in sich umfaßt. Hegels Dialektik ist ein Verfahren zur systematischen Ent-grenzung von Begriffsinhalten, das deren Bestimmtheit nicht ins Unbestimmte verschwinden läßt, sondern gerade anreichert, und zwar durch den Blick auf die Einheit, die sie als ihr intern begründender Grund umfaßt und die in ihnen durchscheint. Genau diese begründende Einheit erweist sich bei ­Hegel als die Einheit des Denkens selbst, die alle Unterschiede so aus sich hervorgehen läßt, daß sie dabei zugleich in sich selbst und „in die Einheit ihrer Fülle“ zurückkehrt,15 und die darum in der dialektischen Methode sich selbst erfaßt. Das in dieser Methode gewonnene Wissen ist darum als Selbsterkenntnis des Absoluten selber absolutes Wissen. Freilich kann gerade der epistemische Status des spekulativen Denkens höchst unterschiedlich angesetzt werden, wie sich beim Vergleich zwischen Platonismus und Idealismus zeigt: die Bandbreite reicht vom absoluten Wissen bis zum wissenden Nichtwissen, von der Selbsterkenntnis des Absoluten bis zur Selbstaufhebung des Wissens vor der Transzendenz des Absoluten. Diese unterschiedliche Einschätzung des spekulativen Denkens besagt nichts über den Grad seiner Ausbildung, sondern hängt ab von der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Wissen und dem absoluten Grund seiner Einheit.

4. Platonismus und Idealismus als Vollendungsgestalten von Metaphysik Vierte These: Platonismus und deutscher Idealismus stellen zwei spezifisch verschiedene Formen spekulativer Metaphysik dar, welche die ihnen gemeinsame Konstellation von Geistmetaphysik und Henologie aus zwei alternativen Grund-Gedanken heraus artikulieren. Diese das Ganze der metaphysischen Denkbewegung organisierenden Grund-Gedanken sind im Falle des Platonismus die Transzendenz und im Falle des deutschen Idealismus die Totalität. – Diese These möchte ich dadurch erläutern, daß ich in aller gebotenen Kürze versuche, die spezifischen Denkformen Hegels und Plotins aus diesen beiden Grund-Gedanken heraus zu entwickeln. Totalität bedeutet in unserem Zusammenhang mehr und anderes als bloß Ganzheit im üblichen Sinne. Totalität meint eine spezifische Form von Ganzheit, in der das Ganze nicht wie ein Haufen Steine als eine nachträgliche Zusammenfügung elementarer Bestandteile aufgefaßt wird, sondern als ursprüngliche Einheit seine artikulierenden Unterschiede aus sich selbst erst hervorbringt 15  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, 3. Aufl. Heidelberg 1830 (= Enzyklopädie), § 566.

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und sich darum in diesen Unterschieden zu sich selbst verhält; derartige Unterschiede sind keine Teile, die auch getrennt voneinander bestehen und begriffen werden könnten, sondern Momente eines ursprünglich einigen Ganzen. Solche Momente sind konstitutiv auf das Ganze und aufeinander bezogen wie die Glieder eines lebendigen Organismus. Das als Totalität begriffene Ganze ist also im Verhältnis zu seinen Momenten ursprüngliche und umfassende Einheit. Dieser Einheitssinn der Totalität wird noch verstärkt und intensiviert durch den Gedanken, daß jedes Moment der Totalität die anderen Momente zugleich in sich selbst enthält, so daß jedes Moment selber wiederum den Charakter der Totalität besitzt.16 Eine solche Totalitätsstruktur, in der alle Momente selbst Totalitätscharakter haben, nennt ­Hegel konkrete Totalität.17 Durch sie begreift er das Selbstverhältnis des Denkens in seiner Einheit. Die artikulierenden Momente des selbstbezüglichen Denkens, Subjekt und Objekt oder Wissendes und Gewußtes sowie der beide vereinigende Akt des Wissens sind nicht nur ursprünglich aufeinander bezogen, sondern sie müssen wechselseitig ineinander enthalten sein, wenn Wissen von sich selbst möglich sein soll. Im Selbstbewußtsein ist das Wissende zugleich das Gewußte und als die Einheit beider aktuales Wissen. Diese selbstbezügliche Struktur konkreter Totalität begreift ­Hegel als prozessuale Einheit von Selbstdifferenzierung und Selbstidentifikation: die Einheit des Sich-Denkens und Sich-Wissens bringt als ursprüngliche Einheit ihre Unterschiede aus sich selbst hervor und differenziert darin sich selbst; dadurch aber, daß die in dieser Selbstdifferenzierung hervorgehenden Momente wechselseitig in einander enthalten sind, ist die Selbstunterscheidung der Einheit zugleich deren tätige Identifikation mit sich selbst. Diese sich selbst in ein und demselben Akt differenzierende und einende Einheit des Selbstbewußtseins denkt ­Hegel zugleich als die Struktur des Absoluten: sie ist „die allgemeine und eine Idee, welche als urteilend sich zum System der bestimmten Ideen besondert, die aber nur dies sind, in die eine Idee als in ihre Wahrheit zurückzugehen“.18 Insofern die konkrete Totalität für ­Hegel sich selbst begründet, also der Grund ihrer eigenen Einheit ist, ist sie selber das Absolute, das allbegründende ursprüngliche Eine. Durch seine Selbstdifferenzierung begründet dieses Eine ferner die begreifbare Struktur alles Wirklichen in Natur und Geschichte, so daß aus ihm nicht nur das Denken, sondern zugleich das Ganze der Welt begriffen wird. Hegels spekulative Metaphysik identifiziert in dieser Weise den Einheitsgrund des Denkens mit diesem selbst und mit dem Einheitsgrund der Welt und sie faßt in beiden Fällen das Verhältnis von Grund und Begründetem

16 Vgl.

Hegel, Enzyklopädie, § 160 und § 164. Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Band, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, hg. von Friedrich Hogemann/Walter Jaeschke, Hamburg 1981 (= Wissenschaft der Logik II), 252. 18 Hegel, Enzyklopädie, § 213. 17 Georg

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als ein Verhältnis der Selbstexplikation, so daß der Geist in seiner Einheit nicht nur das eigentlich und wahrhaft Seiende, sondern letztlich alle Wirklichkeit ist. Anders der Platonismus: er denkt das Absolute nicht als Totalität, sondern als Transzendenz und meint damit mehr und anderes als bloß ein Jenseits der Welt.19 Transzendenz bedeutet hier vielmehr die radikale Andersheit des universal einheitsstiftenden Ursprungs gegenüber schlechthin allem Entsprungenen, so daß schlechterdings alle Bestimmungen, in denen sich das Denken auf Wirklichkeit bezieht, auf den absoluten Ursprung unanwendbar sind, einschließlich der Bestimmung des Ursprungs selber. Das Absolute ist so verstanden „das Nichts alles dessen, dessen Ursprung Es ist, in dem Sinne jedoch, daß Es, da nichts von Ihm ausgesagt werden kann, weder Sein noch Wesen noch Leben, das all diesem Transzendente ist“, 20 so Plotin. Diese absolute Transzendenz ist darum nur durch Verneinung aus allen überhaupt denkbaren Bestimmungen ausgrenzbar, wobei diese Verneinungen zugleich das Hinaussein des Absoluten über das von ihm Verneinte anzeigen sollen: das ist die radikale Form negativer Theologie. Sie gründet auf einem radikal gefaßten Begriff von reiner Einheit. Wenn alles Seiende und Denkbare in all seiner differenzierten Vielfalt nur durch das Eine überhaupt seiend und denkbar ist, dann kann das Eine selbst, der universal einheitsstiftende Ursprung, seinerseits keine Form von Vielheit und Differenz mehr in sich enthalten. Als reine Einheit muß es vielmehr von absoluter, jede Differenz strikt ausschließender Einfachheit sein. Das absolut einfache Eine weist aber schlechterdings jede Bestimmung von sich ab, da keine Bestimmung ohne Bezug auf Anderes und damit auf Vielheit gedacht werden kann. 21 Da es aber jede Vielheit begründet, ist seine reine Einfachheit keine Leere, kein Mangel aller Bestimmtheit, sondern die transzendente Überfülle und Übermächtigkeit, aus der alle Bestimmtheit hervorgeht; in diesem Sinne hatte schon Platon gesagt, das Absolute sei „jenseits des Seins, an Ursprünglichkeit und Mächtigkeit über das Sein hin­aus“. 22 Das überseiende absolute Eine ist aber nicht nur der Einheitsgrund der Wirklichkeit, sondern ebenso der Einheitsgrund des Denkens. Weil das Denken in seinem Selbstverhältnis nicht von ursprünglicher Einfachheit ist, sondern eine in sich komplexe Einheit darstellt, gründet es für Plotin anders als für ­Hegel nicht in sich selbst, sondern konstituiert sich allererst in seinem Transzendenzbezug auf das jenseitige Eine. Das selbstbezügliche Denken bildet und erhält sich in seiner ihm eigentümlichen Einheitsform erst durch seine vorgängige Zuwendung zum Absoluten; die ursprüngliche Zuwendung zum Einen selbst ver19 Vgl. zum Folgenden Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992, 2., erweiterte Aufl. München/Leipzig 2006 (= Aufstieg zum Einen). 20 Plotin, Enneade III 8, 10, 28–31. 21 Vgl. Platon, Parmenides 137 C – 142 A. 22 Platon, Politeia 509 B. Vgl. Testimonium Platonicum 50 (Speusipp).

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leiht dem Denken allererst die Kraft, sich in seiner Selbstunterscheidung als Einheit zu erhalten. 23 Das Absolute begründet also die Einheit des Denkens, ist aber selbst nicht mehr von der Art des Geistes, sondern „jenseits des Geistes“:24 es transzendiert die Einheit in der Entzweiung, die den Geist ausmacht, indem es sie begründet, und es begründet sie gerade kraft seiner Transzendenz. 25 Plotin unterscheidet also den Einheitsgrund in seiner Absolutheit von der Einheit des in ihm gründenden Ganzen wie von der Einheit des Denkens. Der Gedanke der Transzendenz bringt diesen Unterschied zum schärfsten möglichen Ausdruck. Das Verhältnis von Grund und Begründetem, Ursprung und Entsprungenem kann darum bei Plotin anders als bei ­Hegel auch nicht aus der eigenen Dynamik des Ursprungs begriffen werden, sondern immer nur aus dem Einheitsbedürfnis des Begründeten; es ist für Plotin in letzter Konsequenz ein Verhältnis, das überhaupt nur aus der Perspektive des Begründeten als Verhältnis erscheint, so daß das Eine in seiner relationslosen Absolutheit auch nicht Grund oder Ursprung ist. 26 Um das Verhältnis von Geist und Welt zum schlechthin jenseitigen Absoluten zu begreifen, bildet der Platonismus ganz eigene Formen nicht-gegenständlichen Denkens aus, die sich von der dialektischen Denkform Hegels unterscheiden, aber nicht weniger spekulativ sind. 27 Dazu gehören neben der negativen Theologie auch eine analogische Dialektik, die das Verhältnis von Grund und Begründetem strikt vom Begründeten aus denkt und dabei mit absoluten, nicht durch den Begriff ersetzbaren Metaphern operiert, ferner die paradoxale Denkform eines wissenden Nichtwissens und in deren Kontext auch der Gedanke der coincidentia oppositorum. Aber auch wo innerhalb der Tradition des Platonismus die Einheit der Gegensätze ins Zentrum rückt wie bei Nikolaus von Kues, 28 wird damit kein absolutes Wissen im Sinne Hegels beansprucht. Leitend bleibt vielmehr stets der Gedanke, daß das Absolute als Grund des Wissens selber in keinem Wissen einholbar und begreifbar wird, und d.h. der Gedanke der absoluten Transzendenz. 23 Vgl. dazu im einzelnen Jens Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999, 2. Aufl. Hamburg 2005 (= ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus), 328–350; ders., Plotin und der Neuplatonismus, 84–97. 24 Plotin, Enneade I 6, 9, 37; I 7, 1, 20; V 1, 8, 7; V 3, 11–13; V 4, 2, 2 f; vgl. Aristo­teles, Περὶ εὐχῆς, Fr. 1 Ross mit Blick auf Platon; Platon, Politeia 508 E f. 25 Vgl. dazu Werner Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins ­Enneade V 3, Frankfurt am Main 1991 (= Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit). 26 Vgl. Plotin, Enneade VI 9, 3, 39–54; VI 8, 8, 9 ff. Ebenso schon Platon, Testimonium Platonicum 50 (Speusipp). 27 Vgl. dazu im einzelnen vor allem Werner Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt am Main 1965, 2., erw. Aufl. 1979 (= Proklos), bes. 240–398. 28 Vgl. dazu Kurt Flasch, Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. Problemgeschichtliche Stellung und systematische Bedeutung, Leiden 1973 (= Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues).

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Fünfte These: Platonismus und Idealismus bilden als Vollendungsformen metaphysischen Denkens jeweils auch den Grund-Gedanken der anderen Form in sich aus. Diese These mag angesichts des soeben Gesagten überraschen, sie entspricht aber dem historischen Befund. Der Gedanke einer konkreten Totalität wird in aller Klarheit und Ausdrücklichkeit von Plotin formuliert, der aus diesem Gedanken heraus die Einheit des Denkens und die einheitliche Struktur sei­ egel begründet Plotin die Welt in ner Selbstbeziehung begreift. 29 Und wie H der selbstbezüglichen Einheit des Geistes – das absolute Eine ist nur mittelbar Grund der Welt, und zwar weil es Einheitsgrund des Geistes ist. Gerade ­Hegel hat dies deutlich erkannt und darin die höchste spekulative Einsicht der gesamten antiken Philosophie gesehen: Es ist die Entdeckung der konkreten Totalität des Geistes bei Plotin und ihre systematische Entfaltung bei Proklos, die ­Hegel im Blick hat, wenn er im Neuplatonismus den Standpunkt erreicht sieht, auf dem sich das Selbstbewußtsein in seinem Denken als das Absolute weiß, den „Beginn der Welt der Geistigkeit“.30 Trotzdem findet Plotin den Grund der Einheit des Geistes nicht in diesem selbst, sondern er bestreitet vielmehr, daß die Einheitsform der konkreten Totalität rein in ihr selbst begründet sein könne. Der von Plotin in unüberbotener Konsequenz gedachte Gedanke der reinen Transzendenz läßt sich darum nicht im Hegelschen Sinne in den Gedanken einer absoluten Totalität überführen und darin positiv aufheben.31 Absolute Transzendenz ist vielmehr wesentlich Transzendenz über die Totalität in jedem Sinne.32 Gerade dieser Gedanke einer absoluten Transzendenz findet sich aber ebenfalls im spekulativen deutschen Idealismus. Nicht zwar bei Hegel, wohl aber in der späten Wissenschaftslehre Fichtes und in der Philosophie des späteren Schelling, am deutlichsten in der Philosophie der Mythologie und der Offenbarung.33 Schelling insistiert in kritischer Wendung gegen ­Hegel darauf, daß 29 Vgl. dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 357–385; Plotin und der Neuplatonismus, 64–84; ders., „Geist und Subjektivität bei Plotin“, in: Dietmar H. Heidemann (Hg.), Probleme der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Klaus Düsing zum 60. Geburtstag, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 243–262 (= Geist und Subjektivität bei Plotin). 30 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 19, 404 und 413. Vgl. dazu insgesamt Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus. 31  Dazu im einzelnen unten Kapitel XVIII. 32 Vgl. Gerhard Huber, Das Sein und das Absolute. Studien zur Geschichte der ontologischen Problematik in der spätantiken Philosophie, Basel 1955 (= Das Sein und das Absolute). 33 Vgl. zu Schelling Walter Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 1955, 2. Aufl. 1975 (= Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings); zu Fichte Wolfgang Janke, Fichte – Sein und Reflexion. Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970 (= Fichte – Sein und Reflexion), 301–417. – Vgl. zur systematischen Vergleichbarkeit von Fichte und Plotin Hans-Michael Baumgartner, „Die Bestimmung des Absoluten. Ein Strukturvergleich der Reflexionsformen bei J. G.

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das Denken der Vernunft in all seiner spekulativen Vermittlung und Selbstvermittlung seine eigene Existenz stets schon vor­aussetzen muß und sich genau darum nicht in einem absoluten Sinne selbst begründen kann. In der „unvordenklichen“ Faktizität seiner eigenen Existenz muß das Denken sich vielmehr als von einem absoluten Urgrund auf unbegreifliche Weise ins Sein gesetzt hinnehmen – von einem Urgrund, über den es nicht mehr begreifend verfügt, sondern der ihm in absoluter Transzendenz schlechthin entzogen ist. Diesen transzendenten Grund der Subjektivität denkt Schelling unter Berufung auf die platonische Tradition als das überseiende Eine, das die absolute Freiheit ist, und zwar darum, weil nur das Überseiende frei ist, das Sein zu setzen oder nicht zu setzen.34 Eine prinzipiell gleichartige Konstellation von Subjektivität und transzendentem Einheitsgrund kennzeichnet die späte Wissenschaftslehre Fichtes. Auch sie denkt das selbstbezügliche Wissen als eine Einheit von Subjekt und Objekt, deren Momente einander in dynamischer Identität durchdringen, also als konkrete Totalität. Von dieser selbstbezüglichen Einheit des Wissens weist Fichte aber auf, daß sie selber begründet ist in einem Grund absoluter und reiner Einheit, der dem Wissen der Subjektivität prinzipiell transzendent bleibt und vor dem es sich darum ekstatisch selbst vernichten und übersteigen muß. Der späte Fichte und der späte Schelling restituieren damit gegen Hegels Ineinssetzung des Einheitsgrundes mit dem Geist Plotins Fundierung des Geistes im transzendenten Einen. Daß die Transzendenz auch noch im deutschen Idealismus authentisch gedacht wird, und ebenso, daß die konkrete Totalität auch schon im Platonismus als Einheitsform des Geistes erkannt wurde, das spricht, so scheint mir, für die systematische Unentbehrlichkeit beider Grund-Gedanken für einen angemessenen Begriff des Absoluten wie für einen angemessenen Begriff des Denkens von sich selbst.

Fichte und Plotin“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 34 (1980), 321–342; zu Schelling und Plotin vgl. Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt am Main 1972, 2., erw. Aufl. 2004 (= Platonismus und Idealismus), 100–144; ders., Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt am Main 2001 (= Das wahre Selbst), 182–227 („Plotins Gedanken in Schelling“). 34  Dazu unten Kapitel XIX.

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II.

Metaphysik und Transzendenz Der Zusammenhang von Metaphysik und Transzendenz, um den es im Folgenden geht, hat für metaphysisches Denken zentrale und charakteristische Bedeutung. Dabei geht es hier nicht um eine Nachzeichnung der Geschichte der Entdeckung und Formulierung von Transzendenz durch die Metaphysik. Vielmehr möchte ich eine doppelte These zur Diskussion vorschlagen, die den inneren Zusammenhang und die sachliche Untrennbarkeit von Metaphysik und Tran­ szendenz beleuchten will. Diese These besagt erstens, daß Metaphysik erst durch die Entdeckung der Transzendenz zu sich selbst kommt, und zwar so, daß metaphysisches Denken durch seinen Ursprung und durch seinen sich durchhaltenden Grundzug auf Transzendenz hin angelegt ist und darum auch in der äußersten möglichen Radikalisierung des Transzendenzgedankens eine ihm mögliche Vollendung findet. Auf der anderen Seite ist die Entdeckung und Erfahrung von Transzendenz freilich nicht auf die Metaphysik und die Philosophie beschränkt, sondern sie ereignet sich ebenso in der Religion und in der Dichtung, zumal der religiös oder philosophisch inspirierten; Jan Assmann hat das an der altägyptischen Religion gezeigt und Michael Theunissen hat es am Beispiel Pindars eindrucksvoll vorgeführt.1 Sobald sich solche Transzendenzerfahrung aber ausspricht und selbst deutet, tut sie das freilich so, daß man von Protometaphysik sprechen kann. Und wenn sie sich in ihrer Selbstdeutung philosophischer Denkformen und Begrifflichkeit bedient, wie das Christentum und auch schon das helle­nistische Judentum im Zuge ihrer Rezeption des Platonismus, dann wird sie selbst zur Metaphysik. So besagt der zweite Teil meiner These, daß sich die gedankliche Ausformulierung von radikaler oder absoluter oder reiner Transzendenz jedenfalls in Europa nur innerhalb der Metaphysik vollzogen hat, und zwar innerhalb einer ganz bestimmten metaphysischen Tradition, die freilich als die Grundgestalt wenigstens der europäischen Metaphysik gelten kann: nämlich im Platonismus. Schon der Begriff „Transzendenz“ selber entstammt dem Platonismus und sein πρῶτος εὑρετής ist niemand anderer als Platon gewesen. Ohne eine platonische Metaphysik, so scheint mir, versteht sich die Entdeckung von Transzendenz nur 1  Jan Assmann, Theologie und Weisheit im alten Ägypten, München 2005; Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000 (= Pindar).

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verkürzt. Positiv gewendet heißt das: Die Entdeckung von Transzendenz bedarf einer platonischen Metaphysik, um sich selbst denkend so zu verstehen, daß dabei das Denken selber sowohl die Grenze seiner Möglichkeiten als auch seinen eigenen Ursprung erfährt. 2 Diese doppelte These möchte ich in zwei Schritten entfalten und begründen. In einem ersten Schritt werfe ich einen Blick auf die Begriffsgeschichte der Transzendenz. Er soll klären helfen, was Transzendenz eigentlich meint und wie ihre Entdeckung durch das philosophische Denken mit der Grundfrage der Metaphysik zusammenhängt. Im zweiten Schritt versuche ich dann zu zeigen, warum Metaphysik im Denken von Transzendenz in ihre äußerste Möglichkeit gelangt, also ihre Grenze und ihre Vollendung zugleich findet. Dabei setze ich vor­aus, was im vorangehenden Kapitel entwickelt wurde: Daß Metaphysik grundlegend der denkende Ausgriff auf das Ganze des Seienden und Denkbaren ist und dieses Ganze von einem letzten Grund seiner Einheit her in den Blick nimmt. Und daß hochentwickelte Formen von Metaphysik sich aus der besonderen Konstellation zwischen dem Einheitsbedürfnis und dem Selbstverhältnis des Denkens heraus entfalten und darum die systematische Gestalt einer Metaphysik des Geistes haben, die in einer Metaphysik des Einen entweder fundiert ist oder mit dieser zusammenfällt.

1. Zur Begriffsgeschichte der Transzendenz3 Das Verb transcendere und seine Ableitungen kommen in philosophisch prägnanter Bedeutung erstmals bei Augustinus vor, und zwar in einem Zusammenhang, in dem sie evidentermaßen der Wiedergabe von Plotins Terminus ἀναβαίνειν dienen, womit Augustinus vermutlich der verlorenen Plotin-Übersetzung des Marius Victorinus folgt; ἀναβαίνειν gebraucht Plotin terminologisch für den Aufstieg von einer begründeten Wirklichkeit zu dem sie begründenden und übersteigenden Grund, es bedeutet Aufsteigen und Übersteigen in einem und hat diese Bedeutung auch schon bei Platon. Terminologisch höchst aufschlußreich sind sodann die lateinischen Übersetzungen des Ps.-Dionysius Areopagita, dessen Schriften vom 9. bis zum 17. Jahrhundert mehr als ein halbes Dutzend Mal ins Lateinische übersetzt worden sind; durch ihre weite Ver2  Für mein eigenes Nachdenken über Transzendenz und platonische Metaphysik verweise ich auf: Halfwassen, Aufstieg zum Einen; ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus; „Philosophie als Transzendieren“, in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 3 (1998), 29–42 (= Philosophie als Transzendieren). 3 Vgl. zum folgenden Jens Halfwassen, Art. „Transzendenz, Transzendieren“ I, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel/Stuttgart 1999, Sp. 1442–1447 (= Art. „Transzendenz, Transzendieren“ I). Dort sind alle nötigen Belege zusammengestellt.

II. Metaphysik und Transzendenz

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breitung waren diese Übersetzungen stilbildend für die lateinische Schulterminologie der Philosophie. Die Auswertung dieser Übersetzungen ergibt, daß mit transcendere und transcendens vor allem die Platonischen, Plotinischen und Proklischen Termini μεταβαίνειν, ὑπερβαίνειν, ἐκβαίνειν, ἐξῃρημένος und – vor allem anderen – ἐπέκεινα sowie alle möglichen Komposita mit ὑπέρ wiedergegeben werden. Die Begriffsgeschichte der Transzendenz führt uns somit von Augustinus und Ps.-Dionysius über deren neuplatonische Quellen zurück zu Platon, dem Begründer der europäischen Metaphysik. Von ihm stammt die Begrifflichkeit, in der das metaphysische Denken seither Transzendenz denkt. Schon in Platons Gebrauch der einschlägigen Begriffe läßt sich eine doppelte Verwendung feststellen im Sinne einer starken und einer schwachen Transzendenz. Transzendenz und Transzendieren meinen bei Platon nämlich einerseits das Überstiegsverhältnis der jeweils ursprünglicheren Seinsstufe zu den von ihr abgeleiteten und ontologisch abhängigen Stufen, also z.B. der Idee zu ihren Erscheinungen, sowie den Überstieg des Denkens von diesen zu jener. Diese graduelle Transzendenz, die in den Platonischen Dialogen sehr häufig zu belegen ist, stellt aber nur die schwache Variante von Transzendenz dar. Sie ist darum schwach, weil das Denken in der Lage ist, das Transzendente und das von ihm Transzendierte zu einer Einheit zusammenzufassen, indem es das größere Ganze in den Blick nimmt, das diese und jene Seite, Begründetes und gründenden Grund gleichermaßen umfaßt. Das Auszeichnende der Platonischen Entdeckung der Transzendenz liegt nun aber darin, daß schon Platon von dieser schwachen graduellen Transzendenz die absolute oder reine Transzendenz unterscheidet, die nicht mehr mit dem, was sie transzendiert, in die gemeinsame Sphäre eines Überstiegenes und Übersteigendes gleichermaßen umfassenden Ganzen zusammengefaßt werden kann, weil absolute Transzendenz gerade kein graduelles Zuhöchstsein innerhalb eines zusammenhängenden Ganzen von Seinsstufen meint, sondern das Herausgenommensein aus der Totalität des Seins und des Denkbaren schlechthin, somit eine radikale Jenseitigkeit, die selber nicht mehr zu einem Diesseits werden kann, indem man ein wie umfassend auch immer gedachtes All-Ganzes in den Blick nimmt, weil sie genau das meint, „was aus jeder Ganzheit herausgenommen ist und sie transzendiert“, wie Proklos formuliert.4 Terminologisch steht für diese absolute Transzendenz bei Platon das ἐπέκεινα, insbesondere in der berühmten Formulierung ἐπέκεινα τῆς οὐσίας ­(Politeia 509 B), wo es das Übersteigen der Totalität des intelligiblen Seins meint; innerakademisch sind auch die Varianten ἐπέκεινα τοῦ ὄντος und ἐπέκεινα νοῦ belegt.5 Gemeint ist jeweils die absolute Jenseitigkeit des absoluten Ursprungs, des Guten als des Einen selbst, gegenüber der Totalität des Seienden und des Denk­ 4 Proklos,

In Platonis Parmenidem Commentaria 1107, 32–33 Cousin (III 88, 25 f Steel). Testimonium Platonicum 50 Gaiser; Aristo­teles, Περὶ εὐχῆς Fr. 1 Ross.

5 Speusipp,

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Teil I: Profile der Metaphysik

baren und gegenüber dem Sein selbst und dem Denken selbst. Den vom Denken vollzogenen Überstieg über die Totalität des Intelligiblen zur Transzendenz des Absoluten nennt Platon ein ἐκβαίνειν (Politeia 511 A), was Plotin weiterbildet zur ἔκστασις (Enneade VI 9, 11, 23), dem Heraustreten des Denkens aus sich selbst, dem Selbstüberstieg des Denkens im Überstieg zur absoluten Transzendenz. Diese starke Transzendenz als das Verhältnis des Absoluten zur Totalität wird nicht erst vom modernen Interpreten von jener schwachen graduellen Transzendenz prinzipiell unterschieden: „Die Transzendenz (τὸ ἐξῃρημένον) des Absoluten entspricht nicht dem Überordnungsverhältnis der ursprüng­ licheren Seinsstufen gegenüber den abgeleiteten“, so schreibt schon Proklos, weil „das Absolute im Verhältnis zu jeder Stufe des Seins absolut transzendent ist, da es alle gleichermaßen transzendiert (πάντων ὁμοίως ἐκβέβηκε) und nicht die einen in höherem und die anderen in geringerem Maße.“6 Es ist nicht schwer zu sehen, wie die von Platon entdeckte Transzendenz mit der oben entwickelten Grundfrage der Metaphysik zusammenhängt. Der Metaphysik geht es um das Ganze dessen, was ist und gedacht werden kann, und sie denkt dieses Ganze aus einem letzten Grund seiner Einheit. Während nun die schwache oder graduelle Transzendenz das Ganze intern durch eine ­Hierarchie von Dependenz- und Derivationsverhältnissen strukturiert, formuliert die starke oder absolute Transzendenz das Verhältnis des Einheitsgrundes zu diesem Ganzen und zu dem das Ganze in den Blick nehmenden Denken. Im Vergleich mit der graduellen Transzendenz, die bei Platon vor allem den Ideen zukommt, kann die absolute Transzendenz auch als doppelte Transzendenz beschrieben werden, insofern die Transzendenz des Einen über das Sein und die Ideen der Transzendenz der Ideen über ihre Erscheinungen analog ist.7 So wie die Ideen als die Einheitsgründe ihrer vielfältigen Erscheinungen diese zugleich begründen und übersteigen, so übersteigt und begründet der Einheit verleihende Ursprung der Ideen das Ganze aller Ideen. Die graduelle Transzendenz ist so betrachtet ein Analogon der absoluten. Allerdings darf man die Tragweite dieser Analogie auch nicht überschätzen, will man die von Platon und dann vor allem von Plotin hervorgehobene Paradoxie einer absoluten Transzendenz nicht aus dem Blick verlieren. Denn der erste Transzendenzschritt von den Erscheinungen zu den Ideen führt vom Werdenden und Vergehenden, das zwischen Sein und Nicht­sein gewissermaßen ausgespannt ist, zum wahren, weil ewigen Sein und von dem, was seiner Veränderlichkeit und Uneindeutigkeit wegen nur meinbar und nicht im strengen Sinne wißbar ist, zu dem, was allein wahrhaft intelligibel ist. Darum kommt das 6 Proklos, Theologia Platonis II 5, 39, 9–11.15–18 Saffrey-Westerink: καὶ γὰρ τὸ ἐξῃρημένον αὐτῆς οὐ τοιοῦτόν ἐστιν οἷον ἐπὶ τῶν δευτέρων καὶ τρίτων θεωρεῖται διακόσμων … ἀλλὰ πᾶς ὁ νοῦς καὶ πᾶς θεὸς ὑφειμένην ἔλαχεν ὑπεροχὴν πρὸς τὰ καταδεέστερα καὶ ὧν ἐστιν αἴτιος ἢ τὸ πρῶτον πρὸς ἕκαστον τῶν ὄντων, ὃ πάντων ὁμοίως ἐκβέβηκε καὶ οὐ τῶν μὲν μᾶλλον τῶν δὲ ἧττον. 7 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 220 ff.

II. Metaphysik und Transzendenz

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transzendierende Denken in diesem ersten Schritt zu sich selbst und zur Erfüllung seines Seinsbezugs. Dagegen führt der zweite Transzendenzschritt von den Ideen als dem Inbegriff des Seienden und Intelligiblen zu dem jenseitigen Einen selbst gerade über das Sein und über die Denkbarkeit hin­aus und zwingt das transzendierende Denken darum zum Selbstüberstieg in der ἔκστασις. Die darin gelegene Paradoxie hat niemand schärfer formuliert als Plotin, der schreibt: So wie der, welcher die intelligible Wirklichkeit (d.h. die Idee) schauen will, keine Vorstellung von etwas Sinnenfälligem in sich haben darf, um das zu erschauen, was jenseits des Sinnenfälligen ist, so wird auch der, welcher das schauen will, was jenseits des Intelligiblen ist, es nur schauen, wenn er alle Denkbarkeit wegnimmt.8

Die vom Denken des Absoluten verlangte Wegnahme oder Aufhebung aller Denkbarkeit führt darum in eine negative Theologie oder negative Henologie, in der allein absolute Transzendenz wenigstens negativ ausgrenzend formulierbar ist. Die für den gesamten Platonismus verbindlich bleibende Grundlage der negativen Theologie formuliert Platon selbst in der ersten Hypothesis seines Dialogs Parmenides (137 C – 142 A).9 Ihr Ausgangspunkt ist der Versuch, das Eine selbst als das Absolute in seiner Absolutheit in den Blick zu nehmen. Während Ideen grundsätzlich dadurch positiv erkannt werden, daß sie im Zusammenhang mit anderen Ideen gedacht werden, an denen sie entweder teilhaben oder die sie von sich ausschließen, kann das Eine als das Absolute nicht mehr in dieser Weise begriffen werden, weil es im Zusammenhang der Ideen immer schon als das Eine in der Vielheit begriffen würde und eben nicht als das Eine selbst. Wird das Eine selbst aber nur in sich selbst betrachtet, dann weist es als reine Einheit jedwede Bestimmung von sich ab; es steht strikt jenseits aller Bestimmungen, weil jede denkbare Bestimmung es in die Vielheit hineinziehen würde. Man kann darum nichts von ihm aussagen, noch nicht einmal, daß es ist oder daß es Eines ist, weil es damit bereits eine Zweiheit wäre (Parmenides 141 E); die duale Struktur der Prädikation, die immer etwas über etwas sagt, verfehlt prinzipiell die reine Einfachheit des Absoluten. Das Absolute ist dann nur noch denkbar als „das Nichts alles dessen, dessen Ursprung Es ist, und zwar in der Weise, daß Es – da nichts von Ihm ausgesagt werden kann, weder Sein noch Wesen noch Leben – das all diesem Transzendente ist (τὸ ὑπὲρ πάντα ταῦτα)“,10 wie Plotin zusammenfassend formuliert.

 8 Plotin, Enneade V 5, 6, 17–20: ἀλλ᾽ ὥσπερ τὴν νοητὴν φύσιν βουλόμενος ἰδεῖν οὐδεμίαν φαντασίαν αἰσθητοῦ ἔχων θεάσεται ὅ ἐστιν ἐπέκεινα τοῦ αἰσθητοῦ, οὕτω καὶ ὁ θεάσασθαι θέλων τὸ ἐπέκεινα τοῦ νοητοῦ τὸ νοητὸν πᾶν ἀφεὶς θεάσεται.  9 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 265–405. 10 Plotin, Enneade III 8, 10, 28–31: ἤ ἐστι μὲν τὸ μηδὲν τούτων ὧν ἐστιν ἀρχή, τοιοῦτο μέντοι, οἷον, μηδενὸς αὐτοῦ κατηγορεῖσθαι δυναμένου, μὴ ὄντος, μὴ οὐσίας, μὴ ζωῆς, τὸ ὑπὲρ πάντα αὐτῶν (Corr. cod. A: ταῦτα) εἶναι.

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Teil I: Profile der Metaphysik

Mit dem Gedanken des Absoluten als transzendentes Nichts seiner Prinzipiate rührt das Denken an seine Grenze, die es nicht überschreiten kann, solange es Denken bleibt; anders als durch solchen Grenzgang aber kann sich das Denken nicht auf das alle Denkbarkeit Transzendierende und in diesem Sinne Undenkbare und Unsagbare beziehen. Die Entdeckung der absoluten Tran­ szendenz durch das metaphysische Denken erfüllt sich darum durch eine negative Theologie, als die sich das Denken des Undenkbaren und das Sagen des Unsagbaren allein vollziehen kann. Die Negativität dieser negativen Theologie bereitet kein sie überbietendes positives Begreifen vor, und sie schlägt auch nicht dialektisch in die absolute Affirmation um, sondern sie bleibt als die Verneinung aller positiven Gehalte selber die einzige und darin unüberbietbare Möglichkeit des Denkens zum Ausdruck absoluter Transzendenz. Überbietbar wäre sie allein durch die ekstatische Transformation des Denkens in die unterschiedslose Einheit mit dem Absoluten, in der das Denken sich selbst verlassen hat.

2. Negative Theologie als Vollendung der Metaphysik Die Entdeckung der Transzendenz durch das metaphysische Denken erreicht ihre Vollendung in der negativen Theologie des Platonismus. In dieser Hinsicht ist der antike Platonismus später niemals überboten und kaum je wieder erreicht worden. Versuche wie der des Thomas von Aquin, die negative Theologie zur Vorbereitung einer affirmativen Erkenntnis Gottes herabzusetzen, verkennen die eigentliche Intention negativer Theologie, weil sie diese nicht in der Tran­ szendenz des Absoluten, sondern in der Insuffizienz unseres Erkenntnisvermögens begründen. Und der auf seine Weise grandiose Versuch Hegels, die negative Theologie unter Bewahrung ihres Gehalts dialektisch aufzuheben, scheitert daran, daß er eine absolute Transzendenz gar nicht erst in den Blick bekommt.11 Inwiefern findet aber das metaphysische Denken in der negativen Theologie der Transzendenz die ihm mögliche Vollendung? Die Antwort auf diese Frage versuche ich in zwei Schritten, von denen der erste auf die metaphysische Grundfrage, der zweite dagegen auf jene Konstellation abhebt, die hochentwickelte Formen von Metaphysik charakterisiert. 1. Metaphysisches Denken konstituiert sich dadurch, daß es das Ganze aus dem Grund seiner Einheit denkt. Eben darin aber liegt bereits der Zug in die Transzendenz, der im Platonismus seine radikalste mögliche Gestalt findet. Denn der Versuch, das Ganze als Einheit zu denken, verlangt bereits ein Hinausgehen über das Ganze, um es als Einheit von seinem Grund aus in den Blick 11 Vgl. dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 307–320 sowie unten Kapitel XVIII.

II. Metaphysik und Transzendenz

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nehmen zu können. Der Überstieg über das Ganze in dessen Grund ist die eigentliche Grundoperation metaphysischen Denkens. Die darin liegende Transzendenz kommt in der geschichtlichen Entwicklung des Denkens aber nur schrittweise zur Ausdrücklichkeit. Während das älteste Denken nicht nur der Griechen, sondern auch der vorgriechischen Mythologien den Grund gewöhnlich als lebensweltlich bekanntes Element vorstellt, unterscheidet erstmals Anaximander den Grund als das bestimmungslose Apeiron prinzipiell von allen Weltinhalten; doch kennen auch schon die altägyptische wie die altindische Theogonie eine undifferenzierte Einheit als Anfang der Welt. Der im Denken des Ganzen enthaltene Vorgriff auf Einheit wird sodann erstmals von Parmenides in aller Grundsätzlichkeit formuliert. Parmenides tut dies so, daß er die im Denken entdeckte Einheit aller Vielfalt der veränderlichen Weltinhalte als das wahre Sein gegenüberstellt. Man kann darin eine Vorgestalt der Platonischen Transzendenz erkennen. Allerdings bleibt die eleatische Transzendenz nur eine schwache Transzendenz, insofern die Einheit des Seins als das eigentlich Denkbare und Seiende konzipiert wird, in dessen Erkenntnis das Denken bei sich selbst ist (Fr. 3; Fr. 8, 35 f Diels). Da sie als das Ganze die vielen σήματα des Seins umfaßt, ist diese Einheit keine reine, absolut einfache Einheit. Erst Platon vollzieht den entscheidenden Schritt zur absoluten Tran­ szendenz, indem er die alle Bestimmtheit des Seins und damit alle Denkbarkeit übersteigende reine Einheit als das Seinsjenseitige über die Totalität des Seienden und Denkbaren hin­aushebt und damit den Ursprung und das Ganze, das ihm entspringt, in der radikalsten denkbaren Weise unterscheidet. 2. Metaphysik ist dort vollendet, wo sie den Zusammenhang zwischen dem Ganzen des Seienden, dem Denken in seinem Seinsbezug wie in seinem Selbstbezug und dem universal Einheit verleihenden Urgrund aus der spezifischen Konstellation zwischen dem Einheitsbedürfnis und dem Selbstbezug des Denkens heraus begrifflich entfaltet. Der Neuplatonismus Plotins tut genau dies, und er tut dies so, daß das Denken in der negativen Theologie des transzendenten Einen nicht nur seine Grenze, sondern auch seinen eigenen Ursprung erfährt.12 Plotin geht aus vom komplexen Einheitscharakter des Denkens, dem Einssein mit sich im Unterschied, das Plotin in Vorwegnahme zentraler Motive Hegels als eine konkrete Totalität denkt, in der alle Vielheit im dialektischen Dreifachsinn in die Einheit aufgehoben ist, und deren zeitfreie Selbstentfaltung in das Ganze ihrer Gehalte, der Ideen, in eins die Rückkehr des Denkens zu sich selbst und in die „Einheit seiner Fülle“ ist. Der Geist, der νοῦς, ist schon für Plotin ­ egel die Einheit von Selbstdifferenzierung und Selbstidentifikation. wie für H Der Selbstbezug des Denkens konstituiert sich dabei durch die Entfaltung ei-

IV.

12 Vgl.

dazu im einzelnen Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, Kapitel III und

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Teil I: Profile der Metaphysik

ner intelligiblen Welt, deren Einheit er garantiert; er ist Selbstbezug, Seinsbezug und Seinssetzung in einem. Die Einheit der erscheinenden Welt gründet in dieser erfüllten und produktiven All-Einheit des Geistes, und zwar so, daß die erscheinende Welt das Auseinandertreten dieser Einheit ins außereinander und nacheinander seiende Viele ist. Die Einheit des Geistes selber gründet für Plotin aber anders als für ­Hegel nicht in sich selbst, sondern in seinem Transzendenzbezug zum jenseitigen Einen. Weil das Denken in seinem Selbstverhältnis nicht von absoluter Einfachheit ist, sondern eine in sich komplexe Einheit darstellt, konstituiert es sich allererst in seinem Transzendenzbezug auf das absolute Eine. Das selbstbezüg­ liche Denken bildet und erhält sich in seiner ihm eigentümlichen Einheitsform allein durch seine allem Selbstbezug vor­ausgehende Zuwendung zur Transzendenz des Absoluten, die sich gerade in seinem alles Denken erst ermöglichenden Vorgriff auf Einheit zeigt; dieser ursprünglichen Zuwendung zum absolut Einen verdankt das Denken seine eigene Einheit, sie verleiht ihm die Kraft, sich durch Selbstunterscheidung, also durch Bildung von Einheiten, zu entfalten und sich in seiner Selbstunterscheidung als Einheit zu erhalten. Das Absolute begründet also die Einheit des Denkens, indem es sie transzendiert, und es begründet sie gerade kraft seiner Transzendenz. Das überseiende Eine ist für Plotin so vor allem der Einheitsgrund des Geistes und eben damit in zweiter Linie auch der Urgrund der Welt. Plotin unterscheidet also den Einheitsgrund in seiner Absolutheit von der Einheit der Welt wie von der Einheit des Geistes; die alle Vielheit in sich absorbierende All-Einheit des Geistes wie die in Vielheit auseinandergetretene Einheit der erscheinenden Welt sind Einheit nur kraft eines Grundes von absoluter Einfachheit. Der Gedanke der Transzendenz bringt diesen Unterschied zum schärfsten möglichen Ausdruck. Das Verhältnis von Grund und Begründetem, Ursprung und Entsprungenem kann darum bei Plotin anders als bei ­Hegel auch nicht aus der eigenen Dynamik des Ursprungs selber begriffen werden, sondern immer nur aus dem Einheitsbedürfnis des Begründeten. In der negativen Theologie des absolut Einen jenseits des Seins und des Gei­ stes gelangt das Denken darum nicht nur an seine Grenze. In seinem Transzendenzbezug zum Einen findet das Denken vielmehr zugleich seinen eigenen Ursprung, dem es seine eigene, alle Vielheit vereinigende Einheit verdankt, und in den es durch seine ekstatische Selbsttranszendenz zurückkehrt.

3. Ausblick Im Zentrum des die europäische Metaphysik bestimmenden Platonismus steht eine negative Henologie, in der sich die Entdeckung der Transzendenz durch das metaphysische Denken formuliert. Diese negative Theologie der Transzen-

II. Metaphysik und Transzendenz

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denz ist in der Geschichte der Metaphysik immer wiedergekehrt. Sie steht quer ­ egel kehrt sie beim zu allen Ansprüchen auf absolutes Wissen. Auch nach H späten Schelling wieder und erhebt ihren Einspruch gegen die Verwechselung des Absoluten mit der Vernunft.13 Die gegen die Erkenntnisansprüche der Metaphysik als positiver Wissenschaft vom Seienden sich wendende Metaphysikkritik Kants und seiner Nachfolger hat die Dimension dieser negativen Theologie niemals erreicht. Diese ist im antiken Platonismus vollendet und bleibt doch dem Denken als Aufgabe. So hat der christliche Platonismus Eriugenas sie weiterentwickelt durch eine negative Ontologie, die das Seiende im Ganzen als Theophanie der Transzendenz, als Erscheinen des Nicht-Erscheinenden und Bejahung des Verneinten denkt, sowie durch eine negative Anthropologie, die den Menschen als den Ort begreift, in dessen Selbsterkenntnis sich die Theophanie selbst weiß, aber ungegenständlich in der Weise eines alles Wissen übersteigenden Nichtwissens.14 Nikolaus von Kues hat die negative Theologie weiterentwickelt in seiner Theorie der coincidentia oppositorum, die nicht nur das Absolute als übergegensätzlich denkt, sondern auch den Geist und die Welt als übergegenständliche Einheit der Gegensätze begreift.15 Nach Schelling hat im 20. Jahrhundert vor allem Karl Jaspers den radikalen Transzendenzgedanken der platonischen Tradition erneuert und die Metaphysik als eine Chiffernsprache der Transzendenz gedeutet, die in den Chiffern aufscheint, ohne darin begreiflich zu werden. Ansätze zu einer Art negativer Theologie des Grundes des Selbstbewußtseins hat in unseren Tagen Dieter Henrich entwickelt.16 Nicht vergessen sei der am späten Fichte orientierte Wolfgang Cramer, dessen Denken den Geist und sein Verhältnis zum Absoluten umkreist, also das Thema Plotins.17 Zu erinnern wäre ferner an Wilhelm Weischedels Gott der Philosophen mit seiner negativ-theologischen Aufhebung aller positiven Gotteserkenntnis ins dialektische Schweben der Paradoxie18 oder an Emmanuel Lévinas mit seiner negativen Theologie des Anderen, die sich ausdrücklich auf Platons „Jenseits des Seins“ beruft, auch wenn sie dieses Jenseits nicht mehr als das Eine verstehen 13 Vgl. dazu Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. 14 Vgl. dazu Werner Beierwaltes, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt am Main 1994 (= Eriugena). Vgl. auch ders., Platonismus im Christentum, Frankfurt am Main 1998, 2., verb. Aufl. 2001, 3. erw. Auflage 2014 (= Platonismus im Christentum). 15 Vgl. dazu Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues; ders., Nikolaus von Kues – Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt am Main 1998 (= Nikolaus von Kues). 16 Vgl. vor allem Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992 (= Grund im Bewußtsein). 17  Wolfgang Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Frankfurt am Main 1957, 4. Aufl. 1999; ders., Das Absolute und das Kontingente, Frankfurt am Main 1959, 2. Aufl. 1976; ders., Die absolute Reflexion. Schriften aus dem Nachlaß, hg. von Konrad Cramer, Frankfurt am Main 2012. 18  Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, 2 Bde., Darmstadt 1972 (= Gott der Philosophen).

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Teil I: Profile der Metaphysik

will. Sie alle kommen mit dem Grundanliegen des Platonismus darin überein, daß sie den Horizont des Denkens öffnen für Transzendenz, wie sie im Denken entdeckt und erfahren wird und doch alle Begreifbarkeit durch das Denken übersteigt.

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III.

Jenseits von Sein und Nicht­sein: Wie kann man für Transzendenz argumentieren? 1. Der ontologische Gottesbeweis und das Absolute In allen Gottesbeweisen, so verschieden sie im einzelnen auch sein mögen, geht es doch immer um eines: darum, Einsicht in das Sein Gottes zu gewinnen. Im genialsten, raffiniertesten und fundamentalsten aller Gottesbeweise, dem ontologischen, wird das ausdrücklich reflektiert: das ontologische Argument redet davon, daß das Sein von Gott als dem Inbegriff aller Vollkommenheiten nicht einmal in Gedanken getrennt werden kann – und darum auch nicht in Wirklichkeit: also existiert Gott notwendig. Ich beginne gerne mit dem Geständnis, daß ich das ontologische Argument immer als überzeugend und beweiskräftig angesehen habe. Wenn Gott „etwas ist, über das hin­aus Größeres nicht gedacht werden kann“ (aliquid, quo nihil maius cogitari possit), dann kann sein Nicht­ sein nicht einmal gedacht werden, so Anselm von Canterbury.1 Und wenn Gott die sich selbst denkende Totalität aller reinen Bestimmungen ist, dann umfaßt er auch das Sein als das Erstgedachte und die Grundlage aller weiteren Bestimmungen, kann also ebenfalls nicht als nichtseiend gedacht werden, so Hegel. 2 Im ontologischen Argument – wie in allen anderen Gottesbeweisen – wird also Gott gedacht als ein seiendes Absolutes. Allerdings gibt es zwei interessante Ausnahmen: in der Version Meister Eckharts denkt die Ontotheologie Gott nicht als ein Seiendes neben anderem Seienden, sondern als das Eine und Einzige Sein selbst.3 Und in der Version Hegels wird Gott ebenfalls nicht als Seiendes neben anderem Seienden gedacht, sondern als die konkrete Totalität 1  Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. 2–4. Vgl. dazu die beiden neuen Deutungen von Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt am Main 2008 (= Das Absolute und das Subjekt), 38–59 und Henning Tegtmeyer, Gott, Geist, Vernunft. Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie, Tübingen 2013 (= Gott, Geist, Vernunft), 81–121. Tegtmeyer zeigt überzeugend, daß Anselms Argument von Kants Kritik nicht getroffen wird. – Zum ontologischen Gottesbeweis in der Neuzeit bleibt unentbehrlich: Dieter Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960 (= Ontologischer Gottesbeweis), zu ­Hegel dort 189–219, bes. 208 ff, 214 ff; ferner auch Tegtmeyer, a.a.O., 123–180. 2 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 17, 487 ff, 523 ff. 3 Vgl. dazu Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, 38–67.

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Teil I: Profile der Metaphysik

des sich selbst begreifenden Begriffs, dessen ursprünglichste und einfachste Bestimmungskomponente das Sein ist; Gott ist hier das in seiner Selbstvermittlung als absolute Idee und absoluter Geist unüberbietbar erfüllte Sein selbst.4 An der Überzeugungskraft des ontologischen Arguments zweifle ich nicht. Mein Problem mit der Ontotheologie setzt von einer ganz anderen Seite aus an – es ist nicht epistemologisch motiviert, sondern metaphysisch und d.h. prinzipientheoretisch. Ich frage: wenn das Absolute als seiend gedacht wird, wird es dann eigentlich noch als das Absolute gedacht? Und wenn wir das Absolute mit Meister Eckhart als das Sein selbst oder mit ­Hegel als die absolute Idee und den absoluten Geist denken, denken wir dann eigentlich noch das Absolute? Die Antwort hängt davon ab, welchen Gedanken des Absoluten wir für maßgebend halten. Selbstverständlich kann man das Absolute als das absolute Sein denken, ebenso als die sich selbst denkende Totalität des absoluten Begriffs, als die absolute Idee und als den absoluten Geist. In allen diesen Gedanken kommt das Absolute aber immer nur als Prädikat vor: Etwas (das Sein, der Begriff, die Idee, der Geist) wird als das Absolute gedacht, und zwar etwas, das als solches und für sich selbst eben noch nicht das Absolute ist. Was aber ist das Absolute an ihm selbst? Wenn wir versuchen, das Absolute strikt als Es selbst, als das Absolute zu denken, dann können wir es nicht mehr als Sein, als Begriff, als Idee oder als Geist denken. Denn rein als Es selbst genommen, ist das Absolute nichts von diesen. Wenn das Absolute allein als das Absolute genommen wird, dann ist es nichts als das Absolute selbst. Denn der Gedanke des Absoluten – des Apolyton (ἀπόλυτον) oder Anhypotheton (ἀνυπόθετον) – meint ja in seiner ursprünglichen Bedeutung das, was als von allem anderen abgelöst gedacht werden muß, also das, was alle denkbaren Prädikate und Bestimmungen verneint, weil es sie sämtlich hinter sich läßt: das Absolute ist somit Transzendenz im radikalen oder absoluten Sinne: absolute oder reine Transzendenz – wie in den beiden vorangehenden Kapiteln dargelegt. Der traditionelle Name dafür ist: das Eine. Denn der Gedanke des Einen weist, konsequent gedacht, alle anderen Gedanken und die in ihnen gedachten Bestimmungen von sich ab, weil jedwede denkbare Bestimmung das Eine schon zu einer Einheit in Vielheit, also einer Einheit mit vielen unterschiedenen Bestimmungen, macht und darum nicht mehr das Eine selbst denkt. Das gilt auch und gerade für den Gedanken des Seins und für den Gedanken des Geistes. Das Eine selbst ist reine oder absolute Transzendenz, vor der alle Gedanken gleichsam umkehren, die das Denken zwingt, durch die Verneinung aller seiner Inhalte zuletzt auch sich selbst zu verneinen, aber so, daß es über sich selbst hin­ausgeht, in einer Ekstasis, in der allein das Denken, das dann kein Denken mehr ist, der absoluten Transzendenz, dem Einen selbst als dem Nichts von Allem entspricht. 4 Vgl.

dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 273–298.

III. Jenseits von Sein und Nicht­sein

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Dieser Gedanke des Absoluten als Transzendenz stammt von Platon.5 Der früheste Text, in dem er formuliert wird, und zwar mit einer nicht mehr überbietbaren Klarheit und Konsequenz, ist die sogenannte „erste Hypothesis“ in Platons Dialog Parmenides (137 C – 142 A). Dieser Text aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert ist in seiner Klarheit und Konsequenz so vollkommen und so zwingend, daß er zur Urschrift aller späteren negativen Theologie oder besser: negativen Henologie wurde. Speusipp und Plotin, Proklos und Damaskios haben ihn nur ausgelegt und Konsequenzen entfaltet, die bei Platon vielleicht noch nicht alle ausgesprochen waren, die aber alle in diesem Text schon angelegt sind. Der negative Gedanke des Absoluten als Transzendenz, den die erste Hypothesis des Parmenides entfaltet, läßt sich in einer einfachen Formel zusammenfassen, die ebenfalls schon von Platon stammt. Wenn das Sein als das Erstgedachte die Grundlage aller weiteren denkbaren Bestimmungen ist, oder wenn es gar als der Inbegriff aller Bestimmungen die Totalität alles positiv Denkbaren bezeichnet, dann läßt sich die Negation aller denkbaren Bestimmungen, durch die allein das Absolute als das Absolute in seiner Transzendenz gedacht wird, in der Negation des Seins zusammenfassen. Die Negation des Seins muß dabei so gedacht werden, daß sie nicht den Charakter einer Privation hat, sondern die Transzendenz über das Sein als die Transzendenz über die Totalität von Allem meint: „Jenseits des Seins“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας)6 ist die von Platon geprägte Formel für die Transzendenz des Absoluten, die den negativen Gedanken des Absoluten als Transzendenz in der kürzesten, aber auch präzisesten Form zusammenfaßt. Wenn das Absolute als das Absolute, also als reine Transzendenz gedacht wird, dann ist es weder ein Seiendes noch das Sein selbst, sondern „jenseits des Seins“. Weil diese Verneinung keinen Seinsmangel meint, bedeutet sie zugleich: „jenseits von Sein und Nicht­sein“. Das Eine transzendiert den Gegensatz von Sein und Nicht­sein, so wie es in seiner Absolutheit alle Gegensätze transzendiert, durch die Seiendes als in seinem Sein Artikuliertes und Bestimmtes gedacht wird: das Eine transzendiert gleichermaßen Ganzheit und Teile, In-sichSein und In-anderem-Sein, Ruhe und Bewegung, Identität und Andersheit, 5  Dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, zur Deutung der „ersten Hypothesis“ über das Eine in Platons Parmenides dort 265–405. – Grundlegend für Platons Metaphysik bleibt Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, zur Transzendenz des Einen bes. 135 ff und 541 ff. 6 Platon, Politeia 509 B; dazu Testimonium Platonicum 50 (Speusipp). Vgl. dazu Hans Joachim Krämer, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), 1–30 (= ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ – jetzt auch in: Krämer, Gesammelte Aufsätze zu Platon, 122–148); ferner Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 221 ff, 257 ff, 281 ff. Zur Seins­ transzen­denz des Absoluten ferner Gerhard Huber, Das Sein und das Absolute. Huber ist unübertroffen im Herausarbeiten der philosophischen Struktur des Gedankens der Seins­ transzen­denz des Absoluten, er findet diesen aber historisch erst bei Plotin, verkennt also ihren Ursprung bei Platon selbst.

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Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gleichheit und Ungleichheit, Zeit und Ewigkeit, Sein und Nicht­sein und schließlich auch Einheit und Vielheit.7 Für das als reine Transzendenz konsequent gedachte Absolute kann darum kein Existenzbeweis geführt werden, denn es ist oder existiert eben nicht, sondern übersteigt die Alternative von Sein und Nicht­sein. Es ermöglicht sie allererst, so wie es alle Bestimmungen und ihre Gegensatzverhältnisse erst ermöglicht, kann aber durch sie niemals als Es selbst gedacht werden.

2. Platons Hypothesis-Methode als Aufweis des Absoluten Dennoch kann für die Transzendenz, für das allein in Negationen denkbare Absolute argumentiert werden: nämlich dafür, daß es in allen Gedankenbestimmungen ebenso wie in ihren Verneinungen immer schon vor­ausgesetzt wird. Eine solche Argumentation unterscheidet sich prinzipiell von allen Gottesbeweisen, denn sie intendiert kein Sein und kein Begreifen eines Seins, sondern die Transzendenz über das Sein und die Ekstase der Vernunft. Die Grundform der Argumentation für Transzendenz finden wir ebenfalls schon bei Platon: es ist die Hypothesis-Forschung, als die sich die aufsteigende Bewegung der Platonischen Dialektik vollzieht.8 Die Platonische Hypothesis-Methode reflektiert auf die Voraussetzungsstruktur unseres Denkens, sie setzt also die Zuwendung des Denkens zu sich selbst vor­aus, die sich als „Flucht in die Logoi“9 vollzieht. Eine ὑπόθεσις im Sinne Platons hat mit einer „Hypothese“ im modernen Verständnis nichts zu tun; sie meint vielmehr eine Voraussetzung, die wir im sinnvollen und das heißt realitätshaltigen und sachbezogenen Denken immer schon machen. Solche Voraussetzungen sind – jedenfalls, wenn es sich um grundlegende Voraussetzungen handelt – nicht revozierbar und werden im Denken, das immer intentional und damit sachbezogen ist, notwendig zugrundegelegt. Wer z.B. Arithmetik betreibt, setzt immer schon vor­ aus, daß alle Zahlen entweder gerade oder ungerade sind, wer Geometrie betreibt, setzt immer schon vor­aus, daß alle geometrischen Formen entweder gerade oder rund oder aus beidem gemischt sind, und wer über Politik nachdenkt, 7 Platon,

Parmenides 137 C – 142 A und dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 298–405. Phaidon 100 A ff; Politeia 510 B ff; Parmenides 135 E ff; dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 226 ff, 291 ff. 9 Platon, Phaidon 99 E 5; dazu und zum Folgenden Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen ­Lehren“, Paderborn 1993, 135–209 (= Zu einer neuen Interpretation Platons) mit den dort analysierten Zeugnissen; ferner Hans Krämer, „Die Idee des Guten. Sonnenund Liniengleichnis“, in: Otfried Höffe (Hg.), Platon. Politeia, Berlin 1997, 179–203 (= Idee des Guten – jetzt auch in: Krämer, Gesammelte Aufsätze zu Platon, 189–210). 8 Platon,

III. Jenseits von Sein und Nicht­sein

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setzt immer schon vor­aus, daß alle Formen von Gemeinschaft und Herrschaft immer entweder gerecht oder ungerecht oder aus beidem gemischt sind. In diesem Sinne sind das Gerade und das Ungerade die grundlegenden Voraussetzungen der Zahlen, das Kreisförmige und das Geradlinige die Voraussetzungen der Geometrie, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit die Grundvor­aussetzungen des Politischen. Neben derartigen bereichsspezifischen Voraussetzungen und gewissermaßen über ihnen gibt es aber noch allgemeinste Voraussetzungen, die für alle Sachbereiche ganz unangesehen ihrer spezifischen Besonderheiten grundlegend sind. So muß z.B. jede beliebige Sache mit sich selbst identisch und zugleich von anderem verschieden sein, sie bleibt sich selbst entweder gleich oder ist in Veränderung begriffen, sie weist im Verhältnis zu anderen Sachen Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Identität und Verschiedenheit, Ruhe (Unveränderlichkeit) und Bewegung (Veränderung), Ähnlichkeit und Unähnlichkeit sind darum allgemeinste und für alle Sachverhalte, also alles Seiende überhaupt grundlegende Voraussetzungen; zu diesen allgemeinsten Voraussetzungen gehören auch Sein und Nicht­sein, Einheit und Vielheit.10 Im gewöhnlichen sachbezogenen Denken nehmen wir diese Voraussetzungen immer schon in Anspruch, wir thematisieren sie aber nicht eigens und als solche, sondern denken von ihnen her und gewissermaßen von ihnen weg auf die Einsicht in besondere Sachverhalte hin. Diese Bewegungsrichtung des gewöhnlichen sachbezogenen Denkens, das im Ausgang von Voraussetzungen, also von allgemeinen oder regionalen Prinzipien, sachliche Erkenntnis intendiert, wird in Platons Dialektik umgekehrt. Die dialektische Umkehr wendet das Denken den allgemeinen und regionalen Prinzipien, die es immer schon in Anspruch nimmt, eigens und thematisch zu. Platonische Dialektik fragt nach dem Wesen und dem Ursprung dieser Prinzipien, die Platon bekanntlich als Ideen, also als ewige und unveränderliche Wesenheiten und Wesensgründe faßte. Dabei fragt sie genauer danach, was in solchen Prinzipien wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit oder Geradheit und Ungeradheit selber schon vor­ ausgesetzt ist: und mit dieser Frage erweisen sich die vermeintlichen Prinzipien nicht mehr als Prinzipien, sondern eben nur noch als Voraussetzungen, die selber von Anderem und Grundlegenderem allererst ermöglicht werden. Platonische Dialektik setzt die Rückfrage nach dem in allen Voraussetzungen selber noch Vorausgesetzten solange fort, bis sie das wahrhafte und absolute, nämlich selber nichts anderes mehr vor­aussetzende Prinzip findet: sie ist die Suche nach dem Anhypotheton.11 Das Anhypotheton oder das Absolute ist nach dem Gesagten dasjenige, was in allen Denkbestimmungen, auch den allerallgemeinsten wie Sein und Nicht­ sein, Identität und Differenz, immer schon vor­ausgesetzt wird, was aber an sich 10 Vgl.

z.B. Platon, Parmenides 136 AB. Politeia 510 B, 511 AB.

11 Platon,

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selbst keine andere Denkbestimmung mehr vor­aussetzt. Da alle denkbaren Bestimmungen aber immer zugleich auf andere Denkbestimmungen mitverweisen, die in ihnen enthalten oder vor­ausgesetzt sind, kann das Anhypotheton selber keine Denkbestimmung mehr sein, sondern es ist das absolute Prinzip des Denkens und aller seiner Bestimmungen; und als Prinzip des Denkens ist es zugleich das absolute Prinzip des Seins und aller Seienden. Da dieses absolute Prinzip keine andere denkbare Bestimmung mehr enthalten oder vor­aussetzen darf, ist es folglich selbst jenseits aller denkbaren Bestimmungen:12 es ist also absolute Transzendenz: das Absolute ist das Eine selbst. Das in allen Denkbestimmungen als das absolut Ursprünglichste vor­ ausgesetzte Anhypotheton kann ferner nur eines sein: denn eine Pluralität von Prinzipien, selbst eine Zweiheit letzter Prinzipien, kann niemals als vor­ aussetzungslos gedacht werden. Beide Prinzipien hätten zumindest gemeinsam, daß sie Prinzipien sind, und durch diese Gemeinsamkeit wären sie zu einer Einheit geeint; also setzen sie den Prinzipienstatus und die Einheit als Ursprünglicheres vor­aus; und damit sind sie selbst vor­aussetzungsbehaftet, also keine Prinzipien im absoluten Sinne. Darum kann das absolute Prinzip nur eines sein, und zwar das Eine selbst.13 Denn auch die inhaltliche Analyse der grundlegendsten Denkbestimmungen wie Sein und Nicht­sein, Identität und Verschiedenheit usw. erweist Einheit als die grundlegendste und ursprünglichste Bedingung aller Denkbarkeit:14 nicht nur das Sein und die Identität denken wir als Einheit, auch die Verschiedenheit und das Nicht­sein müssen wir als Einheit denken, wenn wir sie als Ideen konzipieren und den Ideen des Seins und der Identität entgegensetzen;15 aber auch in dem Gegensatzverhältnis als solchem ist schon Einheit vor­ausgesetzt, denn ohne Einheit bestünde zwischen den Entgegengesetzten gar kein Verhältnis (ἀναλογία), also auch keine Entgegensetzung.16 Das Eine wird also in allen denkbaren Bestimmungen als die ursprünglichste Bedingung ihrer Denkbarkeit vor­ausgesetzt, aber es setzt selber nichts anderes mehr vor­aus. Weil das Eine selbst nur noch negativ, durch die Verneinung aller grundlegenden Denkbestimmungen gedacht wird, genau darum enthält es nichts mehr, was ihm selber als Ursprung noch vor­ausgehen könnte. Es ist also gerade die Negativität des Absoluten, das alle Bestimmungen von sich abweist, die seine Absolutheit ausmacht. Darum ist das Eine das Absolute, der in allen Ideen vor­ausgesetzte Urgrund, der selber kein anderes Prinzip mehr vor­aussetzt, und damit die ἀνυπόθετος ἀρχή. Als Prinzip der Ideen ist das Eine 12 Vgl. auch Platon, Politeia 534 BC und dazu Krämer, „Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik“. 13  Dazu unten Kapitel VIII. 14 Platon, Sophistes 237 CD; Testimonium Platonicum 22 b (Alexander); vgl. auch Politeia 478 B, Parmenides 142 E ff, bes. 144 C. 15 Platon, Sophistes 258 B. 16 Vgl. Testimonium Platonicum 35 a (Aristo­teles).

III. Jenseits von Sein und Nicht­sein

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selbst keine Idee mehr, also kein positiv denkbarer Seinsgehalt (οὐσία), und auch nicht die Totalität aller denkbaren Gehalte, sondern reine Transzendenz. Es ist absolutes Prinzip gerade kraft seiner Transzendenz.17

3. Drei Argumente für die Transzendenz des Absoluten Ich habe Platons vor­aussetzungstheoretische Argumentation für das Absolute als Transzendenz, die im Liniengleichnis der Politeia angedeutet ist, unter Zuhilfenahme von Überlegungen aus dem Parmenides und der innerakademischen Prinzipientheorie Platons rekonstruiert. Dieser Gedankengang unterscheidet sich von allen Gottesbeweisen, weil er zu einem seinsjenseitigen oder überseienden Absoluten führt. Wenn wir fragen, ob Gott existiert oder ob sein Nicht­sein gedacht werden kann, sind wir noch gar nicht beim Absoluten. Und wenn wir fragen, ob das Absolute ist oder nicht ist, verwechseln wir das Eine mit Bestimmungen, die von ihm selbst erst ermöglicht werden, die ihm aber genau darum in seiner Transzendenz nicht zukommen können.18 Der Platonische Grundgedanke, der zu dieser Einsicht führt, wurde in der Geschichte des Platonismus in verschiedene Formen hinein ausdifferenziert. Drei davon scheinen mir besonders wichtig: (1) das henologische Argument, (2) das bestimmungstheoretische Argument und (3) das noologische Argument. (1) Das henologische Argument ist in Platons Parmenides grundgelegt und wurde von den Neuplatonikern immer weiter verfeinert.19 Eine vorbildlich klare und einfache Form gibt ihm Proklos in den ersten sechs Propositionen seiner Grundlegung der Metaphysik (Stoicheiosis theologikê). Er führt in folgenden Schritten zur Einsicht in die Transzendenz des Absoluten: 1. Jede Vielheit hat irgendwie an dem Einen teil – denn radikal einheitslose Vielheit kann nicht gedacht werden und darum auch nicht sein; Einheit ist die Bedingung für die Denkbarkeit und damit auch für das Sein von Komplexität, und zwar sowohl für jedes einzelne in einer Komplexion enthaltene Element als auch für ihre Einung in die Einheit eines Ganzen. 2. Alles, was an dem Einen teilhat, ist zugleich Einheit und Nicht-Einheit – das ergibt sich bereits aus dem bloßen Gedanken der Teilhabe: denn durch die Teilhabe an dem Einen hat das Teilhabende selber Einheitscharakter, aber dadurch, daß es bloß Teilhabendes ist, ist es nicht das Eine selbst, also nicht reine Einheit, sondern zugleich Nicht-Einheit (oder 17 Vgl.

dazu Beierwaltes, Proklos, 348 ff. So z.B. Nikolaus von Kues, De coniecturis I 5, nr. 20–21. 19 Vgl. vor allem Parmenides 157 C – 159 B. – Zum Folgenden Proklos, Elementatio theologica §§ 1–6 und dazu den Kommentar von E. R. Dodds, Proclus. The Elements of Theology. A Revised Text with Translation, Introduction and Commentary by E. R. Dodds, 2. Aufl. Oxford 1963, ND Oxford 1992, (= Proclus. The Elements of Theology), 188–193; vgl. auch Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 399 ff. 18 

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Vielheit). 3. Alles, was Eines wird, wird Eines durch die Teilhabe an dem Einen – der Einheitscharakter kommt jeder Komplexion nicht schon durch sich selbst oder durch ihre eigene Struktur zu, sondern von einem ihr vor­ausgehenden, also transzendenten Einheitsgrund her. 4. Alles Geeinte ist verschieden von dem Einen selbst – denn jede geeinte Komplexion ist eben dadurch, daß sie ein aus einer Vielheit von Momenten zu einer Einheit Gewordenes ist, von der reinen, strikt vielheitsfreien Einheit des Absoluten verschieden. 5. Jede Vielheit ist prinzipientheoretisch „später“ (ὕστερον) als das Eine – denn aufgrund seines vom Absoluten her erst empfangenen Einheitscharakters ist jedes komplexe Gebilde in seiner Einheit und damit in seiner Denkbarkeit und seinem Sein vom Absoluten abkünftig und abhängig. 6. Jede Vielheit besteht entweder aus Geeintem oder aus einfachen Einheiten – Komplexität ist immer eine Zusammenfügung, also eine Einung von Elementen, die entweder ihrerseits wiederum komplex und damit geeint sind, oder die als Urbestimmungen nicht weiter analysierbar und in diesem Sinne einfache Einheiten sind. Insofern solche nicht-analysierbaren Einheiten wie z.B. Sein oder Identität aber Beziehungen zu anderen Bestimmungen wie Nicht­sein und Differenz unterhalten und dadurch in ein Ganzes aus mehreren Bestimmungen eingefügt sind, sind sie unbeschadet ihrer Einfachheit immer schon bestimmte Einheit (ἕν τι) und niemals bestimmungslose reine Einheit an sich; als bestimmte Einheiten setzen sie das über alle Bestimmtheit und alle Bezüglichkeit hin­ausliegende Eine selbst (αὐτὸ τὸ ἕν) immer schon vor­ aus. – Diese Argumentation geht mit Platons Prinzipientheorie davon aus, daß Einheit und Vielheit die ursprünglichsten Bedingungen für alle möglichen Gedankeninhalte sind, und weist dann eine fundamentale Asymmetrie im Verhältnis dieser beiden Prinzipien auf: da Vielheit ohne Einheit nicht gedacht werden kann, 20 das Eine selbst aber nur als Verneinung aller Vielheit gedacht werden kann, 21 ist allein das Eine in seiner Transzendenz über alle Vielheit und Bestimmtheit das Absolute. (2) Das henologische Argument läßt sich in ein bestimmungstheoretisches Argument überführen, das in Platons Sophistes grundgelegt ist. 22 Jedes bestimmte Etwas – Platonisch gedacht also jede Idee – kann immer nur so gedacht werden, daß es mit sich selbst identisch, darum aber zugleich von allem anderen verschieden ist. Bestimmtes in der Gleichzeitigkeit seiner Identität mit sich selbst und seiner Differenz von anderem verdankt seine Bestimmtheit also dem dia­ lektischen Verhältnis von Identität und Differenz. Der alles Bestimmte erst ermöglichende Bezug von Identität und Differenz spielt aber immer schon im Horizont eines Ganzen, vor dem sich jedes bestimmte Etwas erst als von anderem Verschiedenes und mit sich Identisches abhebt. Ohne das Ganze, das jedes be20 Platon,

Parmenides 159 D, 165 E. Parmenides 137 C ff mit Testimonium Platonicum 50 (Speusipp). 22 Vgl. Platon, Sophistes 254 E ff. 21 Platon,

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stimmte Etwas und zugleich das Andere, von dem es sich abhebt, umfaßt, gäbe es keine Identität mit sich durch Verschiedenheit von anderem. Bestimmtes und Einzelnes ist darum nur denkbar im Ausgriff auf ein Ganzes, das die Identität-Differenz-Struktur alles Bestimmten erst ermöglicht. Dieses Ganze wird darum in jedem Bestimmten immer schon mitgedacht, nämlich als der Horizont, der seine Bestimmtheit erst hervortreten läßt. Als in allem Bestimmten Mitgedachtes muß das Ganze also selber auch denkbar sein. Doch kann es selber nicht mehr wie ein bestimmtes Einzelnes gedacht werden, denn es ist der Horizont, der Bestimmtheit erst hervortreten läßt. Es kann nur noch als die Einheit aller Bestimmungen gedacht werden, als eine Totalität, in der alle Bestimmungen, die sich als einzelne gegenseitig ausschließen, zugleich vereinigt sind, und zwar, ohne ins Unbestimmte zu verschwimmen oder ins Einerlei zu verschwinden. Diese All-Einheit kann nicht mehr nach der Logik gedacht werden, nach der jedes Bestimmte in seiner Selbstidentität alles andere ausschließt. Sie kann nur noch in einer dialektischen Logik als Koinzidenz aller Bestimmungen gedacht werden, auch und gerade der entgegengesetzten. Weil die Koinzidenz der Gegensätze als Ermöglichungshorizont aller besonderen Bestimmtheit kein Zusammenschießen ins unterschiedslose Einerlei sein kann, müssen die Gegensatzbestimmungen in der Einheit des Ganzen so koinzidieren, daß sie als ent-grenzte ineinander enthalten und bewahrt sind. Die All-Einheit muß also in sich unterschieden und ununterschieden in eins und zumal sein. Plotin, Cusa­nus und ­Hegel haben das in höchst anspruchsvollen Theorien ausgeführt, die in Details differieren, im Grundgedanken, auf den es hier ankommt, aber übereinstimmen. Die All-Einheit des Ganzen, das Differenz, Vielheit und Entgegensetzung in sich selbst ermöglicht, aushält und bewahrt, ist nicht nur selber denkbar, sondern ihre Denkbarkeit ist allererst die Bedingung für die Denkbarkeit aller besonderen und begrenzten Bestimmungen. Die All-Einheit als Inbegriff aller Bestimmungen, als differenzhafte oder vielmehr sich selbst differenzierende Einheit kann aber selbst nur gedacht werden vor dem Horizont einer letzten und absoluten Einheit, die alle Bestimmtheit transzendiert und die darum selber als solche nicht mehr thematisiert und gedacht werden kann 23 – und die darum auch Einheit nur noch in dem Sinne ist, daß sie die Einheit des Ganzen ermöglicht. Dieser letzte Einheitshorizont, dem sich die Denkbarkeit des Ganzen als All-Einheit verdankt, ist als sich entziehender Einheitsgrund reine Transzendenz. Nur dadurch ermöglicht er die Denkbarkeit der All-Einheit; wäre er selbst irgendetwas, käme ihm irgendeine Bestimmung zu, so wäre er selbst schon Moment in der All-Einheit. So ermöglicht die All-Einheit des Ganzen die Denkbarkeit und damit das Sein jedes Bestimmten und Einzelnen, die

23 Vgl. auch Markus Gabriel, Skeptizismus und Idealismus in der Antike, Frankfurt am Main 2009 (= Skeptizismus und Idealismus in der Antike), 229 f mit Bezug auf Plotin.

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Denkbarkeit und die All-Einheit des Ganzen aber ermöglicht allein die Tran­ szendenz des Einen selbst. (3) Diese bestimmungstheoretische Argumentation kann nun wiederum in ein noologisches, ein geisttheoretisches Argument überführt werden, das am deutlichsten bei Plotin zu finden ist. 24 Bei Plotin zeigt sich nämlich zum ersten ­ egel bestätigen wird: die Mal in aller Deutlichkeit, was sich bei Cusa­nus und H All-Einheit des Ganzen ist nichts Quasi-Gegenständliches, sondern sie ist die selbstbezügliche Einheit des Denkens selbst, der sich selbst denkende Geist. 25 Im Gedanken der All-Einheit – und nur in ihm – denkt und weiß der Geist sich selbst. All-Einheit ist eine Einheit, die sich in sich selbst differenziert, durch ihre Selbstunterscheidung Vielheit, Differenz und Gegensatz erst hervorbringt, aber darin nicht in unverbundene Vielheit auseinandergeht, sondern sich selbst als Einheit kontinuiert. Insofern die All-Einheit alle besonderen und entgegengesetzten Bestimmungen so in sich enthält, daß sie sich in ihr nicht mehr ausschließen und somit ent-grenzt sind, muß man sogar sagen, daß die All-Einheit alle Unterschiede nicht nur umfaßt und in sich enthält wie die Teile eines Ganzen, sondern daß sie diese Momente so umfaßt, daß jeder einzelne Unterschied, jede besondere Bestimmung als ent-grenzte in ihr zugleich die Totalität alles anderen und damit die All-Einheit des Ganzen selbst ist. 26 Die All-Einheit unterscheidet sich selbst also in der Weise in ihre Unterschiede, daß diese als ihre Momente selber All-Einheitscharakter haben, so daß die All-Einheit sich durch ihre Selbstunterscheidung nicht verläßt, sondern vielmehr zu sich selbst zurückkehrt oder immer schon zurückgekehrt ist. 27 Diese Struktur der Rückkehr zu sich selbst durch Selbstartikulation in der Weise, daß jedes Moment zugleich das Ganze ist, ist aber die reine Struktur des Denkens, das wesenhaft Beisichsein durch Rückkehr zu sich ist. ­Hegel nennt diese Einheitsstruktur die konkrete Totalität des sich selbst denkenden Begriffs, die ihre höchste Erfüllung in der absoluten Idee und im absoluten Geist findet. In aller Klarheit ausgearbeitet ist diese Einheitsstruktur des Geistes aber zum ersten Mal im Neuplatonismus, zumal bei Plotin und bei Proklos – ­Hegel verdankt dieses Motiv den Neuplatonikern, und er wußte das. 28 – Die selbstbezügliche Einheit des Geistes ist das Ineins von Sich-Unterscheiden der Einheit in die Vielheit und Sich-Vereinigen der Vielheit in die Einheit des Ganzen. In der Gegenläufigkeit dieser Bewegungen, die doch ein und derselbe Akt und ein und dieselbe Bewegung 24 Vgl.

zum Folgenden unten Kapitel IX. ausführlicher Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 64–84 mit den dort analysierten Belegen. Angedeutet ist der Geist-Charakter des Ganzen aller Ideen bei Platon, Sophistes 248 E und ff; dazu Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 193 ff. 26 Vgl. z.B. Plotin, Enneade V 8, 4. 27 Vgl. z.B. Plotin, Enneade VI 2, 3. 28  Dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 118–133, 365–385, 432– 462 mit den dort analysierten Belegen. 25  Dazu

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sind, bewahrt das Denken seine eigene Einheit aber nur dadurch, daß die vereinigende Macht der Einheit die entzweiende Macht der Unterscheidung sowohl ermöglicht als auch übergreift und bestimmt. Die Macht der Einheit ermöglicht, übergreift und bestimmt das Unterscheiden schon dadurch, daß Unterscheiden ja selber ein Bilden von Einheiten ist, denn durch die Unterscheidung der Einheit entsteht Vielheit und Differenz ja nur dadurch, daß jeder erzeugte Unterschied selbst immer schon eine Einheit ist und sich nur dadurch überhaupt als Unterschied halten kann; wäre er keine Einheit, so verschwände er unmittelbar im Nichts. Darin erkennen wir die Asymmetrie von Einheit und Vielheit wieder, die das Thema des henologischen Arguments war. – Die über alles übergreifende Macht der Einheit, die auch das Unterscheiden als Bilden von Einheiten erst ermöglicht, verdankt das Denken nicht sich selbst – denn Denken ist gleichwesentlich Unterscheiden und Vereinigen der Unterschiede. Der Überschuß der Einheit über allen Unterschied, dem das Denken seine eigene Einheit verdankt, entstammt vielmehr dem ultimativen Einheitshorizont der Transzendenz, die alle bestimmte Einheit und damit sowohl das Vereinigen als auch das Unterscheiden erst ermöglicht. Die Bewegung des Geistes ist nicht nur insofern in sich gegenläufig, als er seine Einheit in die Vielheit hinein unterscheidet und dadurch zu sich als Einheit zurückkehrt, sie ist auch insofern gegenläufig, als der Geist durch seine Selbst-Unterscheidung zu sich selbst nur zurückkehrt, indem er zugleich ekstatisch über sich hin­ausgeht: sein Transzendenzbezug zum Absoluten – der Vorgriff auf Einheit, der allem Unterscheiden und damit dem Denken selbst vor­ausgeht – ermöglicht allererst seinen erfüllten Selbstbezug. 29 (4) Wir können die Ermöglichung des Selbstbezugs des Geistes durch seinen ekstatischen Transzendenzbezug zum Einen noch einen Schritt deutlicher ma­ egel am deutlichsten gezeigt hat, erzeugt das reine Denken seine chen. Wie H Gehalte für sich selbst durch die produktive, Bestimmtheit generierende Kraft der Negation.30 Jedes bestimmte Etwas ist das, was es ist, dadurch, daß es alles andere nicht ist, also durch seine Negativität – und diese entsteht allererst durch die Selbstunterscheidung des Denkens. Wie Proklos gezeigt hat, verdankt die Negation ihre Bestimmtheit generierende Produktivität aber der Negativität des Absoluten, welche die Negativität der Transzendenz ist.31 Jedes Etwas ist es selbst durch die Negation alles anderen, das es in der All-Einheit des Ganzen, als Moment der All-Einheit, zugleich in sich selbst enthält – so konstituiert Negativität Selbstbeziehung. Die sich negativ selbst bestimmende All-Einheit des 29  Dazu ausführlicher und mit Belegen Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 84– 97 mit 52–58. 30 Vgl. dazu Düsing, Problem der Subjektivität, 213 ff, 228 ff; ferner Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion“, in: ders., ­Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971, 2. Aufl. Berlin 2010 (= ­Hegel im Kontext), 95–157. 31 Vgl. bes. Proklos, Theologia Platonis II 10, 61–64 Saffrey-Westerink und dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 421 ff.

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Teil I: Profile der Metaphysik

Geistes aber ist sie selbst nur durch die Negation der reinen Einheit des Absoluten, also dadurch, daß sie als sich in sich unterscheidende Einheit sich selbst von dem Einen selbst unterscheidet: der Geist unterscheidet sich in sich selbst nur, weil er sich vorgängig immer schon vom absolut Einen unterschieden hat; durch diesen negativen Bezug zum einfachhin Einen aber, der seiner erfüllten Selbstbeziehung als Geist ermöglichend vor­ausgeht, ist er zugleich ekstatisch über sich selbst hin­aus.32 Darum ist nicht der Geist das Absolute, sondern das reine Eine der Transzendenz.

4. Der Aufweis der Transzendenz als wissendes Nichtwissen Der Platonische Grundgedanke und seine Ausdifferenzierungen argumentieren dafür, daß nicht das Sein, nicht die Totalität aller Bestimmungen, als die sich das Sein erweist, und nicht der Geist, als der sich die All-Einheit der Totalität erweist, das Absolute ist, sondern die reine Transzendenz. Welchen Status hat nun aber diese Argumentation selber? Sie ist kein Beweis des Absoluten. Durch sie wird das Absolute nicht erkannt – denn erkennbar ist immer nur Seiendes oder (in der Weise des Sich-selbst-Wissens) die Totalität des Seins. Das Absolute aber ist kein Seiendes und damit auch kein wißbares Etwas, sondern reine Transzendenz jenseits des Seins. Das Verhältnis des Denkens zu ihm ist darum ein wissendes Nichtwissen, docta ignorantia. Es ist Nichtwissen, weil das Absolute kein wißbarer Gehalt ist, sondern das über alle Gehalte hin­ ausliegende Eine, das durch seine Transzendenz Intelligibilität erst ermöglicht. Das Eine selbst wird in diesem Nichtwissen auch nicht gedacht, denn es wird ja nur durch Verneinungen gedacht; gedacht wird in den Verneinungen also nur das, was das Absolute nicht ist. – Aber dieses Nichtwissen des Absoluten ist zugleich ein Wissen. Es ist ein Wissen, in dem kein wißbares Etwas gewußt wird, sondern die ekstatische Verfassung des Denkens selber. Im ursprünglichen Vorgriff auf Einheit, der der erfüllten Struktur des selbstbezüglichen Denkens vor­ ausgeht und sie allererst ermöglicht, und der darum rein horizonthaft bleibt und niemals selbst thematisch gewußt werden kann, ist das Denken über sich selbst als Denken immer schon hin­aus. Und dieser Ekstasis, dieser Selbsttranszendenz, verdankt das Denken seine eigene Einheit und also sich selbst. Im wissenden Nichtwissen des Absoluten weiß darum das Denken – wie in allem Wissen von Wißbarem – eigentlich von sich selbst: im Nichtwissen der Transzendenz weiß es um seinen eigenen Transzendenzbezug, der in seinem 32 Vgl. bes. Plotin, Enneade V 3, 10–11; VI 7, 15–17 und dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 130–149; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 340–350; ders., Plotin und der Neuplatonismus, 93–98.

III. Jenseits von Sein und Nicht­sein

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ekstatischen, über sich selbst hin­ausgreifenden Vorgriff auf Einheit liegt, und zwar auf die reine, überseiende, absolut ungegenständliche Einheit der Tran­ szendenz.

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IV.

Gott im Denken „Was wäre denn sonst der Mühe wert zu begreifen, wenn Gott unbegreiflich ist?“1 Mit diesen lapidaren Worten formuliert ­Hegel die Unverzichtbarkeit des Versuchs, Gott zu denken und denkend zu begreifen, für die Philosophie. In der Tat ist die Frage nach Gott für die Philosophie durch ihre gesamte Geschichte hindurch so wesentlich und so zentral, daß die Philosophie geradezu sich selbst aufgäbe, wenn sie sich von dieser Frage verabschieden würde. Das soll nun in drei Schritten begründet werden. In einem ersten Schritt soll mit Blick auf den geschichtlichen Anfang der Philosophie begründet werden, warum die Philosophie ihr Wesen aufgeben würde, wenn sie die Frage nach Gott nicht mehr stellte. In einem zweiten Schritt soll sodann der Versuch einer Typisierung der Formen unternommen werden, in denen die Philosophie im Verlauf ihrer Geschichte Gott thematisiert hat, wobei drei Grundformen unterschieden werden sollen. Der dritte Schritt wird dann ein Plädoyer für eine Verbindung von zwei dieser Grundformen sein.

1. Warum die Philosophie auf die Frage nach Gott nicht verzichten kann Philosophie ist seit ihrem griechischen Anfang der Versuch, das Ganze des Wirklichen oder Seienden zu denken. Der Ausgriff auf das Ganze kennzeichnet philosophisches Denken von den frühesten Vorsokratikern an bis hin zur Fundamentalphilosophie Dieter Henrichs. Er ist es darum, der philosophisches Denken von anderen Formen des Denkens unterscheidet und als philosophisch auszeichnet. Ebenfalls von den frühesten Vorsokratikern bis zum deutschen Idealismus und zur Gegenwart greift philosophisches Denken in der Weise auf das Ganze aus, daß es das Ganze von einem letzten Grund und Ursprung her thematisiert und in den Blick nimmt. Als das Denken des Ganzen hat Philosophie die Gestalt einer Prinzipientheorie und ist insofern Metaphysik – denn Me1  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: ders., Werke in Zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1986 (= Vorlesungen über die Philosophie der Religion), Bd. 16, 44.

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taphysik bestimmt schon Aristo­teles als die Suche nach den letzten Prinzipien der Wirklichkeit im Ganzen.2 Den Ursprung des Ganzen aber, von dem her sich das Ganze allein thematisieren läßt, denkt die Philosophie ebenfalls von den frühesten Vorsokratikern an als das eigentlich Göttliche. Aristo­teles berichtet uns, daß Anaximander, neben Thales der früheste der vorsokratischen Ursprungsdenker, als erster den Ursprung mit einem von ihm neugebildeten Neutrum τὸ θεῖον – „das Göttliche“ – genannt hat.3 Anaximander ist zugleich der erste, der in seinem Ursprungsgedanken den Ursprung von der aus ihm entsprungenen Weltwirklichkeit kategorial unterschieden hat, denn er dachte den Ursprung als das Apeiron, also als das Unbegrenzte, Unendliche und Unbestimmte und damit als Verneinung der aus ihm entspringenden Weltstruktur.4 Mit diesem Gedanken eines vorweltlichen Ursprungs hat Anaximander zum ersten Mal in der Geistesgeschichte einen Begriff des Göttlichen formuliert, der gänzlich unmythologisch ist, weil er sich von aller bildlichen Vorstellbarkeit befreit und ins reine Denken erhoben hat. Weil der Ursprung des Ganzen nur ein einziger sein kann, war es von Anaximander aus auch nur noch ein Schritt zu einem expliziten philosophischen Monotheismus. Xenophanes hat diesen Schritt noch im 6. Jahrhundert vor Christus getan:5 Er konzipierte den Einen Gott in ontologischen Bestimmungen als die Verneinung der Seinsweise der veränderlichen Welt und setzte ihn der Göttervielheit des mythologischen Polytheismus als den einzigen wahren Gott entgegen, während die vielen welthaften Götter des Mythos für Xenophanes nur Projektionen ihrer Verehrer waren, menschengestaltige Produkte der mythologischen Einbildungskraft. Seitdem ist die europäische Philosophie auf einen philosophischen Monotheismus verpflichtet, der unabhängig von jeder religiösen Offenbarung allein dem Denken entspringt, und dessen Gottesgedanke sich in rein ontologischen Bestimmungen gegen alle mythologischen Vorstellungen von Göttern profiliert. Dieser genuin philosophische Monotheismus entspringt dem Ursprungsgedanken selber, der die Philosophie als denkenden Ausgriff auf das Ganze erst ermöglicht und der darum historisch wie sachlich ihr erster und fundamentalster Gedanke ist, der sie durch ihre gesamte Geschichte hindurch trägt und prägt. Sofern und solange Philosophie Ausgriff auf das Ganze des Seienden ist und nach dem letzten Grund und Ursprung des Ganzen fragt, ist sie auf den Gedanken des Einen Gottes verpflichtet, der ganz anders ist als die anthropomorphen 2 

Aristo­teles, Metaphysik 981 b 27–29. Aristo­teles, Physik 203 b 7–15 (= Anaximander, Fr. A 15 Diels-Kranz). 4 Anaximander, Fr. B 1 Diels-Kranz; vgl. zum Kontext Simplikios, In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria 24, 13 ff Diels (= Anaximander, Fr. A 9 DielsKranz). 5  Dazu Jens Halfwassen, „Der Gott des Xenophanes: Überlegungen über Ursprung und Struktur eines philosophischen Monotheismus“, in: Archiv für Religionsgeschichte 10 (2008), 275–294. 3 

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Götter des Polytheismus und auch ganz anders als die Struktur der Welt, deren Urgrund er ist. Dieser Monotheismus ist unablösbar vom Ursprungsgedanken selber; darum bleibt die Philosophie ihm auch und gerade dann verpflichtet, wenn sie nach einem möglichen Wahrheitsgehalt des Mythos und des mythologischen Polytheismus fragt, wie das in der Spätantike im Neuplatonismus und ­ egel und zumal von Schelin der Moderne in den Religionsphilosophien von H ling geschieht.6 Aus diesem Grund verliert die Philosophie ihr Wesen, wenn sie aufhört, nach Gott zu fragen und ihn zu denken. Denn sie kann damit nur aufhören, indem sie zugleich aufhört, auf das Ganze des Seienden auszugreifen und nach dessen Ursprung zu suchen. Ich weiß wohl, daß große Teile der nachidealistischen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts genau das propagiert haben. Aber wie immer man ihr denkerisches Unternehmen auch beurteilen mag, historisch gesehen ist es nicht mehr Philosophie in dem Sinne, den dieser Begriff von Platon ­ egel und Schelling hatte und bei Denkern wie Dieter Henrich, Michael bis zu H Theunissen, Jean-Luc Marion und anderen auch heute noch hat.7 Die Absage von großen Teilen der Gegenwartsphilosophie an Gott ist erkauft um den Preis einer Abwendung von der gesamten Tradition der Philosophie. Das ist der höchste Preis, den man im Denken zahlen kann: er ist zu hoch, wenn Philosophie ihrer eignen Geschichte verpflichtet bleiben soll.

2. Drei Grundformen philosophischer Theologie Gott ist somit ein genuiner Gegenstand des philosophischen Denkens, ja mehr noch, er ist dessen ursprünglichster und vorzüglichster Inhalt. Er ist das bereits vor der Begegnung der Philosophie mit monotheistischen Offenbarungsreligionen wie Judentum, Christentum und Islam. Philosophie ist als Denken des Ganzen und seines göttlichen Ursprungs aus sich selbst heraus Theologie, und sie ist darin selbständig und unabhängig von jeder religiösen Offenbarung und jeder positiven Religion. Sie ist Theologie, weil sie Prinzipiendenken ist – das von Platon erfundene und von Aristo­teles geprägte Wort Theologie meint nämlich eben dies: Denken des göttlichen Ursprungs. Die Geschichte der Philosophie ist erfüllt von den Versuchen, Gott zu denken.8 Diese machen nicht nur ihren allergrößten Teil aus, sie haben auch die größten und anspruchsvollsten Gedanken hervorgebracht, zu denen die Philosophie fähig war. So reich und vielfältig die 6 Vgl. zu Schelling Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings „Philosophie der Mythologie“, Berlin/New York 2006 (= Der Mensch im Mythos). 7  Dazu unten Kapitel V. 8  Einen instruktiven, wenn auch unvermeidlich unvollständigen Überblick gibt Weischedel, Gott der Philosophen.

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philosophischen Gedanken über Gott auch sind, es sei doch gewagt, hier den Versuch einer Typisierung vorzunehmen, die drei Grundformen unterscheidet. Mein Typisierungsversuch orientiert sich am Ursprungsgedanken: Die Beziehung des Ursprungs zum Ganzen läßt sich nämlich grundsätzlich in drei verschiedenen Formen denken. Welche dieser drei Formen realisiert wird, entscheidet darum über ein philosophisches Gedankengebäude als ganzes. 1. Die erste der drei Grundformen denkt den Ursprung selber als Etwas innerhalb des Ganzen, nämlich als das Höchste und Vorzüglichste, in dem alles andere und weniger Vorzügliche gründet. Sie identifiziert den Ursprung mit dem vorzüglichsten Element des Ganzen. Diese Form führt zur Ausbildung einer affirmativen philosophischen Theologie, die Gott als das höchste Seiende bzw. als das vollkommenste Wesen denkt. Dieses vollkommenste Wesen wird dabei selber als ein bestimmtes, also einzelnes Seiendes unter anderem Seienden gedacht. In den meisten Ausprägungen, die dieser Grundgedanke in der Geschichte der Philosophie gefunden hat, wird das höchste Seiende und vollkommenste Wesen dabei als Geist gedacht, angefangen schon bei Anaxagoras, mit größter Wirkungsmacht dann bei Aristo­teles. Es ist die Bestimmung als Geist, die das höchste Seiende über alles andere Seiende erhebt. Denn Geist ist, auch wenn er als vollkommenes Einzelwesen gedacht wird, immer zugleich mehr als nur ein Einzelnes unter anderem Einzelnen: er ist Ausgriff auf das Ganze und zugleich absolute Beziehung zu sich selbst; er ist die unauflösbare Einheit von Selbstbesitz und Weltbesitz, und als summum ens ist er beides in höchstmöglicher Vollkommenheit und Erfüllung. Es ist dieser Gottesgedanke, auf den die Gottesbeweise in ihrer traditionellen Gestalt abzielen; dies ist der Gottesgedanke des traditionellen Theismus. Seine vollkommensten Ausprägungen findet er in der Antike bei Aristo­teles, im Mittelalter bei Thomas von Aquin und in der Neuzeit bei Leibniz.9 2. Die zweite der drei Grundformen denkt den Ursprung selber als das Ganze und verwandelt dabei sowohl den Gedanken des Ursprungs als auch den des Ganzen. Der Ursprung ist für diese Gedankenform nicht das ursprünglichste Element des Ganzen, er ist vielmehr das Ganze selber, und zwar in der Weise, daß er sich in das Ganze hinein artikuliert und sich in ihm darstellt. Das Ganze wird dabei begriffen als die Selbstartikulation des Ursprungs, der eben als sich im Ganzen artikulierender von diesem nicht verschieden ist. Der Ursprung wird damit nicht mehr als ein Einzelnes gedacht, sondern als das allumfassende Ganze, das ursprünglicher ist als jedes bestimmte Einzelne, das in ihm umgriffen und von ihm ermöglicht wird. Diesen Gedanken formuliert schon Heraklit; er liegt auch dem Monismus der Eleaten zugrunde. Die zweite 9 Vgl. zu Aristo­teles Tobias Dangel, ­Hegel und die Geistmetaphysik des Aristo­teles, Berlin/Boston 2013, §§ 2–4; zu Thomas von Aquin Tegtmeyer, Gott, Geist, Vernunft, bes. 190– 230; zu Leibniz Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt, bes. 76–102.

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Grundmöglichkeit, die Beziehung des Ursprungs zum Ganzen zu konzipieren, realisiert sich also im Gedanken der All-Einheit. Ihm liegt die Einsicht zugrunde, daß das Ganze immer ursprünglicher ist als jedes einzelne seiner Elemente. Diese Einsicht läßt sich bestimmungstheoretisch formulieren: jedes bestimmte Etwas, also jedes Besondere und Einzelne, ist das, was es jeweils ist, immer nur dadurch, daß es sich von anderem, was es nicht ist, abhebt und unterscheidet. Einzelnes und Bestimmtes gibt es nur durch die Dialektik von Identität und Differenz, wie spätestens Platons Dialog Sophistes deutlich gemacht hat. Die abhebende Unterscheidung von anderem, der sich jedes bestimmte Einzelne verdankt, ist aber selber nur möglich vor dem Horizont eines Ganzen, vor dem sich das Einzelne abhebt, der aber es selbst und das andere, von dem es sich unterscheidet, gleichermaßen umfaßt. Und so wird das Ganze von jedem Einzelnen immer schon vor­ausgesetzt und geht ihm als Horizont seiner Bestimmtheit vor­aus. Das so verstandene Ganze ist also nicht die Summe alles Besonderen, sondern dessen ermöglichender Horizont.10 Anspruchsvolle Ausformungen des All-Einheits-Gedankens sind sich darum dessen bewußt, daß das Ganze selber nicht mehr in den gleichen Gedankenformen und Begriffen thematisiert werden kann, in denen wir Einzelnes und Bestimmtes denken; der holistische Einheitsgedanke gebiert schon bei Heraklit die Denkform der Paradoxie. Das betrifft auch und gerade die Einheit des Ganzen: dieses artikuliert sich in seine Momente, in denen es sich aber zugleich als Einheit durchhält; die Einheit von Selbstunterscheidung und Rückkehr zu sich, die damit zu denken verlangt ist, erfüllt sich im Gedanken der Trinität, wie spätestens im Neuplatonismus deutlich wird.11 Die Metaphysik des All-Einen treibt zu einer Form des Denkens, die von dem kategorialen, bestimmenden Denken, in dem wir gegenständlich Seiendes, das immer ein besonderes Einzelnes ist, denken, abweicht – dieses abweichende Denken versucht zu denken, was zu denken das gegenstandsbezogene Denken sich sträubt: die allumfassende Einheit als Einheit der Gegensätze, auch der Widersprüche, die coincidentia oppositorum.12 Diese besondere Form des Denkens – ­Hegel nannte sie „spekulativ“ – realisiert auch, daß das derart in ungegenständlichen, oftmals paradoxen Formen gedachte Ganze selber nichts Gegenständliches oder Quasi-Gegenständliches mehr sein kann. Im Neuplatonismus, ­ egel zeigt sich – mit Unterschieden im Detail, im Grundbei Cusa­nus und bei H sätzlichen aber übereinstimmend – daß das spekulativ als trinitarische All-Ein10  Diese metaphysische Verwendung des Horizontbegriffs entstammt dem Neuplatonismus: sie ist erstmals belegt im Liber de causis §§ 2 und 8; vgl. Norbert Hinske, Art. „Horizont“, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 1187–1194, spez. 1189 f. 11 Vgl. dazu Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, bes. 64–84 und 143 ff; umfassend Beierwaltes, Proklos, Teil I: Trias. 12  Höchst erhellend dazu Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, bes. 155 ff.

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heit gedachte Ganze selber nur als Geist begriffen werden kann – aber nicht als Geist im Sinne eines denkenden Einzelwesens, sondern als absoluter Geist, der nichts mehr außer sich hat und sich darum in allem zugleich auf sich selbst bezieht. Die Einsicht, daß Geist die Einheit von Selbstbesitz und Weltbesitz ist, wird damit in ihre äußerste Konsequenz getrieben. Diese zweite Grundform, Gott zu denken, übersteigt den traditionellen Theismus, weil der als All-Einheit gedachte Gott keine Person mehr ist – wohl aber absolute Subjektivität. Seine vollkommenste Ausprägung in der Geschichte der Philosophie erreicht dieser Gottesgedanke zweifellos in der Metaphysik Hegels. Gegenwärtig vertritt ihn am prominentesten Dieter Henrich.13 3. Die dritte Grundform des Ursprungsgedankens schließlich denkt den Ursprung als die Verneinung des Ganzen, das ihm entspringt und in ihm gründet. Diese Verneinung darf allerdings, bezogen auf den Ursprung des Ganzen, nicht als eine Verneinung im gewöhnlichen Sinne begriffen werden: sie meint kein Fehlen von Bestimmungen wie die privative Verneinung, sondern in ihr geht es darum, daß der Ursprung selbst über alle Bestimmungen, die er selbst allererst ermöglicht, hin­aus ist. Diese besondere Verneinung denkt den Ursprung als Transzendenz. Diesen Gedanken formulierte als erster Platon, der vom absoluten Ursprung sagte, er sei „jenseits des Seins“.14 Das ist kein Nihilismus, es bedeutet nicht, daß der Ursprung nicht wirklich wäre; er ist nicht weniger als das Seiende, er ist vielmehr über alles Seiende hin­aus: er ist das Überseiende. Der Gedanke der Seins­transzen­denz denkt den Ursprung als das absolut Eine. Ihm liegt die Einsicht zugrunde, daß nur gedacht werden kann, was in irgendeiner Weise Einheitscharakter besitzt; denn Einheit ist die Bedingung von Denkbarkeit und Bestimmtheit überhaupt. Auch die Bestimmung „Sein“ müssen wir als etwas Einheitliches denken – oder, in einem anspruchsvolleren Seinsgedanken, als die Einheit aller positiven Bestimmungen. Wenn wir Sein und Nicht­ sein unterscheiden und einander entgegensetzen, müssen wir aber auch „Nicht­ sein“ als einheitliche Bestimmung denken, denn anders könnten wir es vom Sein nicht einmal unterscheiden. Wenn also Sein und Nicht­sein gleichermaßen einheitliche Bestimmungen sind, dann kann das Eine, das sie beide erst ermöglicht, nicht auf die eine Seite festgelegt werden; vielmehr übersteigt es sie beide gleichermaßen als der beide ermöglichende, übergegensätzliche Einheitsgrund: es ist notwendig jenseits von Sein und Nicht­sein. Darüber hin­aus wird das Eine, sobald wir ihm Sein zusprechen, schon zu einer Zweiheit, nämlich zur geeinten Zweiheit von Einheit und Sein, bleibt also nicht das Eine selbst in seiner Abso13 Vgl. vor allem Dieter Henrich, Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt am Main 2007 (= Denken und Selbstsein). Dazu den Sammelband von Rudolf Langthaler/Michael Hofer (Hgg.), Selbstbewußtsein und Gottesgedanke. Ein Wiener Symposion mit Dieter Henrich über Philosophische Theologie, Wiener Jahrbuch für Philosophie Bd. 40 (2008). 14 Platon, Politeia 509 B; Testimonium Platonicum 50 (Speusipp).

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lutheit.15 Rein in sich selbst betrachtet, in seiner Absolutheit, weist das Eine jede Bestimmung, die wir denken können, jedes Prädikat, das wir ihm zusprechen könnten, strikt von sich ab.16 Die Negation erweist sich damit als die einzige Form, in der wir überhaupt über das absolut Eine sprechen können. Dies zwingt zur Ausbildung einer negativen Theologie oder Henologie, die affirmative Aussagen über das Eine selbst prinzipiell ausschließt, weil die duale Struktur der Prädikation, die immer etwas über etwas aussagt, das Absolute als reine Einheit verfehlt. Die absolute begriffliche Leere, die den Gedanken des Einen auszeichnet, aber meint keinen Mangel, sondern die absolute Überfülle, die durch keinen Gedanken begriffen und durch keine positive Aussage gesagt werden kann. Absolute begriffliche Leere und absoluter semantischer Überschuß bedingen sich im Transzendenzgedanken gegenseitig. Der Gedanke des Absoluten als absolute Transzendenz, die dritte Grundform des Ursprungsgedankens, übersteigt den traditionellen Theismus in der radikalsten Weise, denn sie führt über den Gottesgedanken selbst hin­aus: das Eine selbst ist „mehr als Gott“, es ist als Grund und „Quelle aller Gottheit“ selbst übergöttlich oder die „Über-Gottheit“ selbst.17 Hier kann nicht mehr von Gott, hier kann nur noch vom Absoluten gesprochen werden – aber erst hier gewinnt der Begriff des Absoluten seine volle Bedeutung und sein ganzes Gewicht, meint er doch das von Allem Abgelöste: die reine Transzendenz.18 Seine vollkommenste geschichtliche Ausprägung findet dieser Gedanke im Neuplatonismus, vor allem bei Plotin. Unter den Philosophen der Gegenwart hat am entschiedensten Karl Jaspers an ihn angeknüpft.

3. Absolute Transzendenz und All-Einheit Wenn es richtig ist, daß die Beziehung des Ursprungs zum Ganzen grundsätzlich nur in einer der drei Grundformen gedacht werden kann, wenn also der Ursprung entweder als das erste Element des Ganzen oder als das Ganze selber oder als die Transzendenz über das Ganze gedacht werden kann, dann ergeben sich daraus drei Typen philosophischer Theologie: die affirmative Theologie des vollkommensten Seienden, die spekulative Theologie der All-Einheit und die negative Theologie des überseienden Absoluten. Damit stellt sich die Frage: Gibt es gute philosophische Gründe, eine von ihnen vorzuziehen? Gründlich 15 Platon,

Parmenides 142 B ff. Parmenides 137 C – 142 A; Testimonium Platonicum 50 (Speusipp); dazu im einzelnen Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 298–405. 17 Plotin, Enneade VI 9, 6, 12 f; Proklos, In Parm. 1108, 28–1109, 11 Cousin (III 89–90 Steel); Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV 1, XI 6, XIII 3; De mystica theologia I 1. 18 Vgl. Huber, Das Sein und das Absolute. 16 Platon,

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überlegter und in einer langen Geschichte bewährter Argumentation verdanken sich alle drei Grundformen. Je nach konkreter Ausformung, sind sie untereinander auch nicht durchweg inkompatibel, wie die Geschichte der Philosophie zeigt.19 Wir müssen darum prüfen, ob es Argumente für einen Vorrang einer dieser Formen vor den anderen gibt. Dies kann hier der Kürze halber nur in extrem thetischer Weise unternommen werden. Die schon erwähnte bestimmungstheoretische Überlegung, der zufolge das Ganze immer ursprünglicher ist als jedes Einzelne, weil es der Horizont ist, der Einzelnes in seiner besonderen Bestimmtheit erst hervortreten läßt, scheint mir die Überlegenheit des All-Einheitsgedankens über eine Theologie des höchsten Seienden zu erweisen. Ein als vollkommenstes Einzelwesen gedachter Gott ist immer noch weniger ursprünglich als das als All-Einheit begriffene Ganze. Dagegen läßt sich das bestimmungstheoretische Argument nicht gegen den negativen Gedanken des Einen als Transzendenz in Ansatz bringen; denn wäre das Eine ein Einzelnes, dann wäre es nicht jenseits des Seins, sondern selber ein Seiendes, es ist aber als die Bedingung alles Bestimmten und damit alles Seienden selber nicht seiend und nicht bestimmt, sondern überseiend. Umgekehrt zeigt sich vielmehr, daß auch das Ganze selber unvermeidlich als Einheit gedacht werden muß, wenn es überhaupt denkbar sein soll – wenn auch als eine Einheit besonderer Art: als trinitarisch in sich zurückkehrende All-Einheit, die als absolute Totalität aller Bestimmungen nichts mehr außer sich hat. Eben als Bestimmungstotalität aber ist die All-Einheit selber noch eine bestimmte Einheit, die das über alle Bestimmungen hin­ausliegende Eine selbst als letzten Grund ihrer eigenen Einheit vor­aussetzt. 20 Wenn das Ganze als All-Einheit nichts außer sich hat, dann ist das Nichts, das die All-Einheit außer sich hat, das überseiende Nichts der Transzendenz, das dem Ganzen erst die Macht verleiht, Einheit zu sein. Die konsequenteste Ausformung des metaphysischen Ursprungsgedankens ist darum die negative Theologie des überseienden Einen. In diesem Zusammenhang zeigt sich aber noch ein Zweites. Transzendenz im Sinne von absoluter Transzendenz wird nur dort gedacht, wo sie als Tran­ szendenz über das Ganze im Sinne der absoluten Totalität aller Bestimmungen gedacht wird. Damit aber erweist sich der Gedanke der All-Einheit selber als unentbehrlich für den Gedanken des Absoluten als Transzendenz. Beide Gedanken fordern sich in gewisser Weise gegenseitig. Transzendenz fordert den Gedanken der All-Einheit, weil sie nur dann absolute Transzendenz ist, wenn sie die All-Einheit des Ganzen transzendiert. Und All-Einheit fordert die 19 Z.B. vereinigt Shankara den Alleinheitsgedanken mit dem Gedanken eines personalen Schöpfergottes (Ishvara), der als das Höchste innerhalb der erscheinenden Welt gedacht wird. Der Neuplatonismus vereinigt sogar alle drei Grundformen: er denkt das Eine als absolute Transzendenz, den absoluten Geist als Alleinheit und Ideentotalität und die höchste Idee in diesem Ganzen als das höchste Seiende. 20  Siehe auch oben Kapitel III Abs. 3.

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Transzendenz des absolut Einen, weil sie nur im Transzendenzbezug zu einem sie übersteigenden, in positiven Begriffen undenkbaren Einheitsgrund selber ­ egel noch als Einheit gedacht werden kann – der späte Fichte hat das gegen H geltend gemacht und dabei der Sache nach an Einsichten Plotins angeknüpft. Der negative Einheitsgedanke der Transzendenz und der positive Einheitsgedanke der All-Einheit sind darum nicht voneinander ablösbar. Die erste Philosophie, die das nicht nur verstanden, sondern mit unüberbietbarer Konsequenz zu Ende gedacht hat, ist der Neuplatonismus Plotins. Die Philosophie kann auf den Gottesgedanken nicht verzichten. Aber: welcher Gottesgedanke ist für die Philosophie unentbehrlich? Offenbar nicht der Gedanke von Gott als summum ens. 21 Denn die Philosophie greift auch dann noch auf das Ganze aus und sucht auch dann noch nach dessen Ursprung, wenn sie kein summum ens annimmt. 22 Dagegen kann die Philosophie auf den Gedanken des Absoluten als Transzendenz nicht verzichten, weil er die ultimative Erfüllung des Ursprungsgedankens selber ist. Ebensowenig kann sie auf den Gedanken der All-Einheit verzichten, weil sich in ihm der Ausgriff auf das Ganze erfüllt und weil nur in ihm wirklich begriffen wird, was Geist ist. Wenn wir Gott und uns selbst als Geist begreifen wollen, brauchen wir den Gedanken der All-Einheit, der Geist-zu-Geist-Verhältnisse anders zu denken erlaubt denn als Beziehungen bloß Verschiedener. Eine Philosophie, die sich von ihren höchsten und anspruchsvollsten Gedanken nicht verabschieden will, muß darum Transzendenz und All-Einheit in einem systematischen Zusammenhang denken. Das geschichtliche Paradigma dafür ist der Neuplatonismus. Die von ihm ausgebildete Systemform hält sich historisch über Eriugena und Cusa­nus durch bis zu den Spätphilosophien von Fichte und Schelling. Sie mutet uns theologisch zu, zwischen Gott als Geist und trinitarischer All-Einheit und dem Absoluten als übergöttlichem Grund der Gottheit zu unterscheiden. Sie schließt aber vielleicht den Versuch nicht aus, die Gedanken der All-Einheit und der Transzendenz so miteinander zu vereinigen, daß die Selbstbezüglichkeit des Geistes nicht im Vorhof des Absoluten verbleibt wie bei Plotin, daß aber umgekehrt die Transzendenz des Einen auch nicht eingezogen wird in die Immanenz der All-Einheit wie bei Hegel. Den Versuch, All-Einheit und Transzendenz in dieser Weise zu vereinigen, haben Eriugena und Cusa­nus unternommen.23 21 

Dies meint selbstverständlich nicht, daß dieser Gedanke in irgendeiner Weise philosophisch illegitim oder heute nicht mehr vollziehbar wäre. Er bleibt eine Grundmöglichkeit, Gott zu denken. Aber er gehört nicht notwendig zur Verfassung einer Metaphysik in Vollendungsform wie die Gedanken der All-Einheit und der Transzendenz. 22  In monistischen Metaphysiken bestimmter Art ist das der Fall, z.B. im Eleatismus, bei Spinoza oder in buddhistischen Metaphysiken wie dem Madhyamika oder dem Yogacarin. 23 Vgl. dazu Beierwaltes, Eriugena; ders., Platonismus im Christentum. Ferner Max Rohstock, Der negative Selbstbezug des Absoluten. Untersuchungen zu Nicolaus Cusa­nus’ Konzept des Nicht-Anderen, Berlin/Boston 2014 (= Der negative Selbstbezug des Absoluten).

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V.

Die Unverwüstlichkeit der Metaphysik 1. Totgesagte leben länger Keine Disziplin der Philosophie wurde in den letzten zweihundert Jahren so oft totgesagt: Dasjenige, was vor diesem Zeitraum Metaphysik hieß, ist, so zu sagen, mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden und aus der Reihe der Wissenschaften verschwunden. Wo lassen oder wo dürfen sich Laute der vormaligen Ontologie, der rationellen Psychologie, der Kosmologie oder selbst gar der vormaligen natürlichen Theologie noch vernehmen lassen? … Es ist dies ein Faktum, daß das Interesse teils am Inhalte, teils an der Form der vormaligen Metaphysik, teils an beidem zugleich verloren ist. So merkwürdig es ist, wenn einem Volke z.B. die Wissenschaft seines Staatsrechts, wenn ihm seine Gesinnungen, seine sittlichen Gewohnheiten und Tugenden unbrauchbar geworden sind, so merkwürdig ist es wenigstens, wenn ein Volk seine Metaphysik verliert, wenn der mit seinem reinen Wesen sich beschäftigende Geist kein wirkliches Dasein mehr in demselben hat.1

Mit diesen Worten beschrieb vor gut zweihundert Jahren H ­ egel die Situation der Metaphysik. Seine Diagnose trifft auch heute noch zu: sowohl, was die communis opinio betrifft, Metaphysik sei eine vergangene Form philosophischen Denkens, an der das Interesse nicht mehr lebendig sei, als auch, was seine Verwunderung über dieses Faktum betrifft. Denn so sehr das Interesse an den von ­Hegel aufgezählten Disziplinen der Schulmetaphysik auch vergangen sein mag, sowenig kann der denkende Geist davon ablassen, sich „mit seinem reinen We­ egel schreibt. Genau dies aber ist jenseits aller Schulsen“ zu beschäftigen, wie H begriffe von Metaphysik der ewig lebendige Quell, aus dem das metaphysische Fragen und Denken hervorgeht. Die zitierten Sätze stehen denn auch in der „Vorrede“ zu einer Schrift, die Metaphysik als Selbsterkenntnis des reinen Wesens des Geistes neu begründet hat und die zu den Höhepunkten metaphysischen Denkens schlechthin zählt: Hegels Wissenschaft der Logik. Es ist kein Zufall, daß Hegels paradoxe Diagnose der Vergangenheit einer Sache, die ihrem Wesen nach unvergänglich ist – nämlich der Metaphysik –, ein Buch eröffnet, das die Unvergänglichkeit der vermeintlich vergangenen Sache dadurch bewährt, daß es sie einer neuen Vollendung zuführt. Und es ist ebenso wenig ein Zufall, daß Hegels Neubegründung der Metaphysik mit einem pro1 Hegel,

Wissenschaft der Logik I, 5.

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Teil I: Profile der Metaphysik

grammatischen Rückgriff auf ihre antiken Ursprünge einhergeht. Denn ­Hegel ist weit davon entfernt, die in Ontologie, Psychologie, Kosmologie und Theo­ logie gegliederte Schulmetaphysik restituieren zu wollen. Es geht ihm um nichts anderes als um die Selbsterkenntnis des Geistes in seinem reinen Wesen. An die Stelle der in thematische Disziplinen unterteilten Schulmetaphysik tritt darum ­ egel ein ganz neuer Typus von Metaphysik, der sich indes in engster Nähe bei H zur ganz alten Metaphysik der griechischen Antike weiß. Denn ­Hegel hält der Schulmetaphysik und der Vernunftkritik Kants, die jene beendet hat, gleichermaßen vor, über keinen zureichenden Begriff des Denkens und des Geistes zu verfügen. 2 Dieser Mangel ist der Grund für das Ende der „vormaligen“ Metaphysik, er ist aber auch der Grund, warum es bei Kants Vernunftkritik nicht bleiben kann, warum es überhaupt bei der Metaphysikkritik nicht bleiben kann. Denn dieser Mangel ist behebbar, und er ist geschichtlich auch längst behoben: bei Platon und Aristo­teles, mehr noch aber bei Plotin und Proklos findet ­Hegel die wahre Einsicht in das reine Wesen des Geistes schon ausgesprochen. Auf die kürzeste Formel gebracht, besteht sie darin, daß Geist kein auf ihm äußere „Gegenstände“ bezogenes subjektives Denkvermögen ist, sondern die Einheit und Identität von Denken und Sein. Der Geist, der nur sich selbst und sein reines Wesen denkt, ist das Sein selbst in seiner höchsten Erfüllung, er ist das unsterbliche, ewige, weil durch sich selbst lebende Leben, er ist die Totalität dessen, was wahrhaft ist, und er ist Gott: das worüber hin­aus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann. Die neue Geistmetaphysik, die ­Hegel mit seiner Logik begründet, ist darum in einem Ontologie, Noologie und Theologie (im antiken Sinne als Theorie des Absoluten) und sie trifft sich genau darin mit der alten Geistmetaphysik des Platonismus.3 Der Fehler der Schulmetaphysik bestand gerade darin, diese Themen getrennt zu behandeln – so als seien das Sein, der Geist und Gott getrennte „Gegenstände“ – und sie dadurch allesamt zu verfehlen. Sie sind aber Einheit und nur als Einheit und in ihrer Einheit überhaupt angemessen zu thematisieren. Die ganze Philosophie ist darum für ­Hegel „nichts anderes als das Studium der Bestimmungen der Einheit“:4 sie ist Henologie, noch bevor sie Ontologie, Theologie oder sonst etwas ist, – und auch darin trifft sich ­Hegel mit dem Platonismus, zumal dem Neuplatonismus der Spätantike.5 Blicken wir auf die Gesamtformation des deutschen Idealismus nach Kant, so läßt sich sagen, daß die großen metaphysischen Gedankenentwürfe, die Hegel, Fichte und Schelling vorgelegt haben (und zwar jeder von ihnen im Laufe seiner Denkentwicklung gleich mehrere) unbeschadet aller ihrer Unterschiede doch eine charakteristische Gemeinsamkeit aufweisen: Sie alle konzipieren Metaphysik als Einheitswissenschaft, und sie alle fassen diese Einheitswissenschaft 2 Vgl.

Hegel, Wissenschaft der Logik II, 192–197. Grundlegend dazu bleibt Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik. 4 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 100. 5 Vgl. dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus. 3 

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zugleich als die Selbsterkenntnis des Geistes im Horizont des Absoluten. Sie alle konzipieren Metaphysik als Henologie und zugleich als Noologie, und sie alle lassen sich dabei von der antiken Metaphysik und speziell vom Platonismus inspirieren. Diese kurze Erinnerung an den vorerst letzten Höhepunkt der europäischen Metaphysik kann uns helfen, ihre Gegenwart und ihre Zukunftsaussichten besser zu verstehen. Die immer wieder totgesagte Metaphysik ist in Wahrheit heute so lebendig wie damals, und sie wird das auch in Zukunft bleiben, soviel ist abzusehen. Mehr noch: sie kreist auch heute um die Themen, die im Zentrum des deutschen Idealismus stehen wie sie auch schon im Zentrum des Platonismus standen: um den Geist und das Absolute. Das „und“ kann dabei sowohl explikativ als auch disjunktiv verstanden werden, je nachdem, ob der Geist selbst als das Absolute gedacht wird, wie bei Hegel, aber auch schon bei Aristo­teles, oder ob das Absolute als der dem Geist selbst transzendente Ursprung aufgefaßt wird, dem jener seine Einheit verdankt, wie bei Plotin und schon bei Platon, aber auch noch beim späten Fichte und beim späten Schelling. Die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Absolutem ist es jedenfalls, die das metaphysische Denken in Gang hält, in der Vergangenheit und genauso auch heute.

2. Subjektivität und All-Einheit: Dieter Henrich Die großen metaphysischen Entwürfe des nachkantischen Idealismus entsprangen allesamt der Frage nach dem Wesen und der Struktur denkender Selbstbezüglichkeit. Was hat es damit auf sich, daß sich unser Denken in allem, worauf auch immer es sich bezieht, zugleich immer auch auf sich selbst bezieht? Wieso ist das Wissen von sich selbst, das diese Selbstbeziehung wesentlich ausmacht, für unser gesamtes Wissen von der Welt so fundamental, daß es ohne Selbstbewußtsein überhaupt kein Wissen von irgendetwas geben kann? Wenn das Wissen von sich selbst unbezweifelbar gewiß ist, ist es darum für sich selbst auch vollkommen durchsichtig, oder ist gerade das nicht der Fall? Und wie kommt Selbstbewußtsein überhaupt zustande und welche Struktur besitzt es? Daß diese Fragen nach wie vor groß angelegte metaphysische Entwürfe generieren können, beweist niemand eindrücklicher als Dieter Henrich, dem wir unter den Lebenden wohl den originellsten und eigenständigsten Entwurf einer Metaphysik verdanken. Es handelt sich um einen Entwurf, der in einer ganz eigenen Ausbildung des Gedankens zentrale Motive und Einsichten zumal der idealistischen Metaphysik einholt und der wie diese seinen Ausgang nimmt von der Subjektivität als Prinzip der Philosophie. Henrich hat seine Metaphysik bisher vor allem in Form von Essays und Aufsatzsammlungen vorgelegt.6 Die in 6 

Genannt seien: Dieter Henrich, Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt am Main

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diesen Essays skizzierten Überlegungen befruchten erkennbar auch die zahlreichen und weitausgreifenden philosophiehistorischen Arbeiten Dieter Henrichs zu Kant, zu Hegel, zu Fichte, zu Hölderlin und zu den Tübinger und Jenaer Entstehungskontexten des spekulativen Idealismus.7 Erst seit kurzem aber besitzen wir in Vorlesungsform eine zusammenhängende Gesamtdarstellung von Henrichs Subjektivitätstheorie und Metaphysik, die auch seine Überlegungen zur praktischen Philosophie einbezieht (worauf ich hier allerdings nicht eingehe).8 Henrich bekennt sich dabei ausdrücklich zu einer „revisionären Metaphysik“, also zur starken Form metaphysischen Denkens im Unterschied zu einer schwachen „deskriptiven Metaphysik“. Henrichs Unternehmen stellt sich von Anfang an betont in die Tradition der Moderne, indem er von der Subjektivität als Prinzip der Philosophie ausgeht; damit knüpft er an die beiden Väter der philosophischen Moderne, Des­ cartes und Kant, gleichermaßen an. Gegen alle Versuche zur Bestreitung der Ursprünglichkeit und Unhintergehbarkeit der Subjektivität von fundamentalontologischer, hermeneutischer, sozialphilosophischer, positivistischer und neuerdings vor allem von neurologischer Seite bezieht Henrich entschieden Stellung, ebenso gegen ihre sprachanalytische Trivialisierung durch die Reduktion des Ich auf den sprachlichen Gebrauch der ersten Person Singular. „Ich“ sagen können wir nur, weil wir bereits von uns selbst wissen; darum sind alle Versuche aussichtslos, Selbstbewußtsein aus der Semantik und Grammatik des Gebrauchs der ersten Person zu erklären. Es ist einfach unbestreitbar, daß das denkende Subjekt in seinem Denken immer schon von sich selbst weiß und daß dieses Wissen von sich eine Seinsgewißheit eigener Art einschließt: indem ich denke, weiß ich mit unbezweifelbarer Cartesischer Gewißheit zugleich, daß ich existiere, – aber diese Existenz ist von anderer Art als die Existenz lebensweltlicher oder wissenschaftlich erforschbarer Objektivitäten. Das Wissen von sich selbst vollzieht sich allein im Denken und als Denken; aber indem der Gedanke des Selbstbewußtseins vollzogen wird, ist das in ihm Gedachte zugleich wirklich, und zwar von unbezweifelbarer Wirklichkeit. Henrich macht 1982; ders., Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982 (= Selbstverhältnisse); ders., Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt am Main 1987; ders., Bewußtes Leben; ders., Die Philosophie im Prozeß der Kultur, Frankfurt am Main 2006. – Einen guten Überblick über Henrichs Denkentwicklung bis 1999 gibt, verbunden mit einer oft wenig überzeugenden Kritik, Gunnar Hindrichs, „Metaphysik und Subjektivität“, in: Philosophische Rundschau 48 (2001), 1–27. 7 Genannt seien: Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt am Main 1967; ders., ­Hegel im Kontext; ders., Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976; ders., Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1991; ders., Grund im Bewußtsein; ders., Grundlegung aus dem Ich, 2 Bde., Frankfurt am Main 2004. 8 Henrich, Denken und Selbstsein.

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zu recht darauf aufmerksam, daß das Selbstbewußtsein darin eine Parallele zum Gottesbegriff des ontologischen Arguments aufweist, der ebenfalls schon dadurch erfüllt ist, daß sein Inhalt gedacht wird. 9 Diese Parallele zum ontologischen Gottesbeweis hat nun aber, so Henrich weiter, vielfach dazu verführt, dem Selbstbewußtsein auch eine gottgleiche Vollkommenheit zuzuschreiben. Das Selbstbewußtsein ist sich zwar in seinem Vollzug als exi­stierendes Wissen von sich mit unbezweifelbarer Gewißheit gegeben. Aber diese Selbstgewißheit bedeutet noch keineswegs, daß es sich zugleich auch in seinem Wesen und seinem Aufbau vollkommen durchsichtig ist, daß also sein Wissen von sich seine vollständige Selbstpräsenz einschließt. Das Fürsichsein des Selbstbewußtseins bedeutet ebenso wenig, daß es als causa sui durch sich selbst existiert. Die göttlichen Charaktere Selbstpräsenz, Selbstdurchsichtigkeit und Durchsich-selbst-Sein kennzeichnen den Geistbegriff der antiken Metaphysik, der aber bekanntlich nicht vom endlichen, menschlichen Selbstbewußtsein aus gewonnen wurde. Dem menschlichen Selbstbewußtsein können sie Henrich zufolge gerade nicht zukommen. Vielmehr findet dieses sich in seiner evidenten Selbstgegebenheit selbst immer schon vor, es bringt sich nicht erst selbst ins Sein, sondern ist für sich selbst immer schon da, sein Dasein und Für-sich-Dasein ist mit Schelling gesprochen also „unvordenklich“. Welche Bewandtnis es mit ihm auf sich hat, ist ihm dabei gerade nicht immer schon durchsichtig, sondern es ist sich selbst eine Frage und ein Rätsel. Henrich geht sogar soweit, daß er annimmt, daß das Selbstbewußtsein aufgrund der bekannten (gerade von Henrich und in seinem Gefolge vieldiskutierten) Zirkelproblematik10 in seiner Wesensstruktur für sich selbst geradezu opak, konstitutiv undurchdringlich ist. Aber auch wenn man die Zirkelproblematik für grundsätzlich auflösbar hält, wofür manches spricht,11 bleibt Henrichs Aufweis der Endlichkeit unseres Selbstbewußtseins doch unbestreitbar: es bringt sich nicht selbst hervor und es ist für sich selbst auch nicht vollkommen durchsichtig und vollständig präsent; seine Helle kommt vielmehr für es selbst aus der Dunkelheit. Diese Einsicht teilt Henrich mit dem späten Schelling, der daraus wesentliche  9  Dessen Geschichte in der Neuzeit hat Henrich eine klassische Monographie gewidmet, die ihn zuerst berühmt gemacht hat: Henrich, Ontologischer Gottesbeweis. Zur Parallelität zwischen dem Selbstbewußtsein und dem Gott des ontologischen Arguments jetzt auch Tegtmeyer, Gott, Geist, Vernunft, 147 ff. 10 Vgl. dazu besonders Dieter Henrich, „Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“, in: Rüdiger Bubner/Konrad Cramer/Reiner Wiehl (Hgg.), Hermeneutik und Dialektik. Festschrift für Hans-Georg Gadamer, Tübingen 1970, 257–284; auch ders., „Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewußtsein“, in: Clemens Bellut/Ulrich Müller-Scholl (Hgg.), Mensch und Moderne. Beiträge zur philosophischen Anthropologie und Gesellschaftskritik, Würzburg 1989, 93–132. 11 Vgl. dazu Klaus Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, München 1997 (= Selbstbewußtseinsmodelle), dort bes. 97–120.

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Teil I: Profile der Metaphysik

Pointen seiner Hegelkritik zog.12 Und sie führt Henrich (wie ebenfalls schon Schelling) zu der Folgerung, daß das Selbstbewußtsein sich selbst einen Grund vor­aussetzen muß, einen Grund, dem es sich selbst verdankt, und zwar in der Weise, daß es von diesem Grund in seinem gesamten Vollzug ermöglicht und getragen wird. Die Endlichkeit des Selbstbewußtseins, die in dessen Selbstgegebenheit selber liegt, impliziert die Voraussetzung eines Grundes, der nicht das Selbstbewußtsein selbst sein kann. Er kann ebenso wenig eines der Momente sein, die das Selbstbewußtsein in sich immerhin unterscheiden kann (wie etwa Wissendes, Gewußtes und Wissensakt); denn diese Momente haben ihre Bedeutung nur innerhalb der Einheit des Selbstbewußtseins; außerhalb dieser Einheit können sie gar nicht gedacht werden; sie können diese Einheit darum weder begründen noch aufbauen oder erklären. Die Einheit des Selbstbewußtseins geht den in ihr unterscheidbaren Momenten insofern immer schon vor­aus. Umso mehr bedarf sie selbst eines Einheitsgrundes, der aber vom Selbstbewußtsein nicht mehr eingeholt werden kann, und der darum in keinem Wissen erreicht werden kann, weil das Selbstbewußtsein eben für alles Wissen fundamental ist. Zwischen der Selbstevidenz des Wissens von sich und der Undurchsichtigkeit seines Ursprungs sowie zwischen der Unhintergehbarkeit des Selbstbewußtseins und der Voraussetzung seines Grundes besteht so eine Spannung, die sich nicht auflösen läßt; aus ihr entspringt eine Dynamik der Subjektivität, deren Entfaltung die Architektur von Henrichs Metaphysik bestimmt. Die eigentümliche Verschränkung von Selbstevidenz und (partieller) Selbstentzogenheit im Wissen von sich bedeutet zugleich, daß das Selbstbewußtsein immer schon über sich selbst hin­ausgreift, im Ausgriff auf seinen Grund und auf ein Ganzes, das nicht es selbst ist. Henrich unterscheidet verschiedene Weisen des Ausgreifens auf ein Ganzes, denen verschiedene Formen des Denkens zuzuordnen sind. Das Subjekt, das im Wissen von sich sein Leben führen muß, greift zunächst aus auf eine Welt, in der es sich handelnd zu orientieren hat. Von diesem Ausgriff auf die Lebenswelt unterscheidet sich der Ausgriff auf eine Welt, die sich gegenständlichem, objektivierbarem und kritisch überprüfbarem Wissen erschließt. Die wissenschaftliche Welterschließung folgt dabei einer eigenen Dynamik, die sich an die Lebenswelt nicht einfach zurückbinden läßt, so daß wir es insofern wirklich mit zwei Welten zu tun haben. Beiden ist aber gemeinsam, daß in ihnen das selbstbewußte Subjekt selber keinen Ort hat. Beide Welten sind Gegenstandswelten, in denen die Gegenständlichkeit allererst konstituierende Subjektivität notwendig ortlos bleiben muß. Von dem Ausgriff auf sie unterscheidet sich der Ausgriff des Subjekts auf seinen Grund darum fundamental. Denn seinen eigenen Grund kann das Subjekt sich weder lebensweltlich noch wissenschaftlich erschließen (das letztere ist der Grundfehler des Naturalismus); 12 Vgl. dazu immer noch Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings.

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er entzieht sich jeder Vergegenständlichung. Der Ausgriff auf den Grund und der Ausgriff auf die lebensweltlich bzw. wissenschaftlich erschlossene Welt erfolgen darum in einander diametral entgegengesetzten Richtungen: in dem einen geht das Selbstbewußtsein von sich weg zu einer Welt, in der es selbst ortlos ist; in dem anderen geht es in sich selbst zurück zu seinem Grund. Die beiden Ausgriffe erfordern darum auch spezifisch verschiedene Denkweisen und Begriffsformen: die eine gegenstandsorientiert und erfahrungsbezogen; die andere mit den eigenen Mitteln des Denkens extrapolierend, ohne dabei aber eine gesicherte Gegenstandserkenntnis erreichen zu können oder eine solche auch nur zu erstreben. Denn daß das Subjekt in der gegenständlich erschlossenen Welt ortlos bleibt, bedeutet zugleich, daß seine Frage nach einem Sinn seines Lebens, in dem es sich selbst als letztgültig affirmiert verstehen kann, weder wissenschaftlich noch lebensweltlich beantwortet, ja überhaupt gestellt werden kann. Die Dringlichkeit, in der sich die Sinnfrage dem Subjekt stellt, die ja von der Frage, was es mit dem Subjekt eigentlich auf sich hat, gar nicht abgetrennt werden kann, führt nun in einen weiteren Ausgriff: in ihm greift das Subjekt in derselben Richtung, in der es auf seinen Grund ausgreift, also in einer seinem gewöhnlichen Weltzugriff entgegenlaufenden Richtung, auf ein Ganzes eigener Art aus, das nun so beschaffen sein muß, daß sich das Subjekt mit seiner Selbstbeziehung und seiner Sinnerwartung in dieses Ganze einbegreifen kann. Dieses nicht-gegenständliche Ganze, in das sich das Subjekt selbst einschreiben kann und das es sich nur in einem extrapolierenden Denken erschließt, ist das Thema, in dem Henrichs Metaphysik kulminiert: die All-Einheit. Das extrapolierende Denken muß, um den Grund und die All-Einheit thematisieren zu können, die Denkformen und Begriffe, mit denen unser gewöhnliches Denken Gegenstände in der Welt erfaßt, abwandeln, sie gewissermaßen in sich selbst umbrechen, um sie für das Ungegenständliche gleichsam zu öffnen. Henrich nennt diese „alternative“ Begriffsform eines in sich selbst umgebrochenen Denkens im An­ egel spekulativ; und seine Beschreibung des spekulativen Denkens schluß an H orientiert sich auch unverkennbar an Hegel. Was Henrich von ­Hegel gleichwohl trennt, ist dies, daß er von Anfang an keinen Anspruch auf absolutes Wissen prätendiert; Henrichs Metaphysik bleibt vielmehr (wiederum wie die Schellings) in einem emphatischen Sinne Philosophie. Wie sieht nun Henrichs metaphysischer Abschlußgedanke der All-Einheit näher betrachtet aus? Der Ausgang von der Einheit des Selbstbewußtseins, die sich nicht aus sich selbst begründen kann, führt zunächst zum Gedanken des Einen, in dem Henrich vollkommen zu Recht den grundlegendsten Gedanken aller Metaphysik erkennt, wofür er sich auf Parmenides und Platon beruft. Das Eine darf aber nun nicht als differenzlose Einheit gedacht werden, wenn es die Subjektivität und ihre Selbstbeziehung in sich einbegreifen soll. Es muß vielmehr als das Eine gedacht werden, das sich in sich selbst differenziert und sich so zur All-Einheit entfaltet. Henrich denkt das Eine also nach dem Mo-

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dell des seienden Einen aus der zweiten Hypothesis von Platons Parmenides (142 B ff), dem Platon und die Neuplatoniker „das Eine selbst“ als absolut differenzlose reine Einheit (erste Hypothesis des Parmenides, 137 C ff) noch vor­ aussetzten: das allein in Negationen ausgrenzbare Absolute (ἀνυπόθετον) im eigentlichen Sinne, der absolut transzendente Urgrund auch des seienden Einen. – Die Selbstdifferenzierung des Einen ist für Henrich weiter so zu denken, daß sich das Eine darüber nicht selbst verliert und in Vielheit auseinandergeht, sondern sich in ihr als Einheit selbst durchhält. Das aber bedeutet: die Differenzmomente sind keine dem Einen gegenüber selbständigen Entitäten, sondern sie sind als integrative Momente eines holistisch verfaßten Ganzen jeweils in sich schon die All-Einheit selbst. Henrich nimmt damit unverkennbar die „konkrete Totalität“ des Begriffs auf, welche für ­Hegel die Fundamentalstruktur erfüllter denkender Selbstbeziehung darstellt. Den Gedanken einer solchen „konkreten Totalität“ hatte aber schon Plotin als die Struktur des sich selbst denkenden Geistes klar herausgearbeitet, und zwar in Aufnahme und Weiterentwicklung von Platons Gedanken des seienden Einen.13 Dieser Gedanke ist in der Geschichte der Metaphysik ständig wiedergekehrt, besonders prominent etwa bei Eriugena, Cusa­nus und Leibniz. Vermutlich ist er alternativlos, wenn eine nicht bloß formale und leere, sondern in sich selbst erfüllte, allumfassende Einheit gedacht werden soll. In das als All-Einheit in diesem Sinne begriffene Absolute kann sich nun das Subjekt selbst einbegreifen. Denn das Subjekt hat selber auch die Struktur einer sich in sich selbst differenzierenden Einheit, die sich in ihren Momenten selbst kontinuiert: es ist selbst „konkrete Totalität“. Henrich nennt das „Einzelnheit“ in einem nicht-trivialen, sondern emphatischen Sinne.14 Es ist unverkennbar, daß er damit Hegels begriffslogischen Begriff der Einzelnheit aufnimmt, in der auch ­Hegel das erblickt, was unsere Individualität in einem emphatischen Sinne ausmacht.15 Die Einsicht, daß ich selbst als Einzelner der absolute Begriff bin, ­ egel zugleich die Einsicht in die untrennbare Einheit des menschlichen ist für H und des göttlichen Wesens, insofern Mensch und Gott ihrem Wesen nach Geist sind, worin ­Hegel den Kern der christlichen Offenbarung sieht.16 Henrichs von ­Hegel übernommener, emphatischer Begriff des Einzelnen hat darin eine chri­ stologische Pointe, die bei Henrich freilich unausgesprochen bleibt. Es bleibt bei Henrich auch offen, ob der Grund, den sich das Subjekt selbst vor­aussetzen 13 Vgl.

im einzelnen Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 59–74. Denken und Selbstsein, bes. 265 ff. – Henrich hat diesen Gedanken weiter ausgeführt und zugleich geschichtlich auf das Verstehen der Genesis philosophischer Hauptwerke angewendet in: ders., Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten, München 2011, bes. 21 ff, 33 ff, 105 ff und passim. 15  Auch Plotin erkennt in unserem Selbstbewußtsein, dem Kern unserer Individualität, unsere Identität mit dem absoluten Geist: „Jeder von uns ist ein intelligibler Kosmos“ (Enneade III 4, 3). 16 Vgl. dazu Martin Wendte, Gottmenschliche Einheit bei Hegel, Berlin/New York 2007. 14 Henrich,

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muß, mit dem All-Einen gleichgesetzt werden kann oder ob der Grund selber individuiert ist und zusammen mit dem Subjekt die emphatisch begriffene Einzelnheit ausmacht. Angesichts der dem All-Einen und dem Einzelnen gemeinsamen Struktur konkreter Totalität laufen beide Möglichkeiten freilich zuletzt auf dasselbe hin­aus. Henrich nimmt unter dem Titel „Einsicht als Ereignis“ noch ein weiteres zentrales Motiv der idealistischen wie der antiken Metaphysik in seinen Entwurf auf, das er aber zugleich im Sinne seiner eigenen Konzeption „extrapolierenden“ Denkens gewissermaßen moderiert.17 „Einsicht als Ereignis“ benennt einen Durchblick auf das Ganze, der sich in augenblickshafter Plötzlichkeit auftut und in dem in höchster Evidenz mit einem Schlag klar wird, was es mit dem Ganzen auf sich hat. Solche Ereignisse höchster Einsicht können für ein philosophisches, wissenschaftliches oder auch künstlerisches Werk grundlegend sein, sie können die gesamte Denkentwicklung, aber auch die Lebensführung dessen bestimmen, der sie erlebt. Einsichten von dieser Art sind in der Philosophie, aber auch im religiösen Leben, in der Kunst und in den Wissenschaften vielfach bezeugt. Die antike Metaphysik nannte das Noesis, die klassische deutsche Philosophie sprach von „intellektueller Anschauung“; beide sahen darin eine infallible, absolute Erkenntnis, einen augenblickshaften Durchbruch des Menschen zur Erkenntnisweise des göttlichen oder absoluten Geistes.18 Henrich erkennt die Realität dieser noetischen Einsicht an, sieht in ihr aber kein infallibles Wissen, sondern betont vielmehr ihre Individualität und Perspektivität. Verschiedenen Denkern, die das Ereignis der Einsicht für sich reklamiert haben, ist dabei Verschiedenes aufgegangen, und manchmal sogar unvereinbar Widerstreitendes (denkt man etwa an die Einsichtsereignisse von Descartes und Pascal). Der Erkenntnisanspruch ereignishafter Einsicht wird dadurch deutlich herabgestimmt. Gleichwohl aber kann solche ereignishafte Einsicht einen metaphysischen Entwurf des Ganzen, wie Henrich ihn vorlegt, und seine Ausarbeitung in der „alternativen“ Begriffsform spekulativen Denkens in einer Weise beglaubigen, die über die bloße Extrapolation der Mittel eines rein diskursiven und propositionalen Denkens hin­ausreicht; dies zumal dann, wenn, wie bei Hegel, aber auch schon bei Platon, die noetische Einsicht als konstitutives Moment in das spekulative Denken selbst eingeht. Man mag sich übrigens wundern, daß Henrich die Möglichkeit nicht diskutiert, das Selbstbewußtsein, dessen Genese diskursiv (etwa durch ein Reflexionsmodell) offenbar nicht durchsichtig zu machen ist, könnte selber ein Fall solcher Einsicht sein, eine intellektuelle Anschauung nicht als privilegiertes Ausnahmeereignis, sondern als sich permanent und immer schon vollziehende Grundlage aller Vollzüge des Subjekts; Fichte, aber auch schon Plotin, hatten 17 Henrich, 18 

Denken und Selbstsein, 69 ff, vgl. auch 249 ff. Siehe dazu unten Kapitel XIII.

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genau das angenommen. Sie wäre dann der Grund des Subjekts, der dieses in allen seinen Vollzügen trägt und ermöglicht. Und sie würde für das Subjekt dann zum Ereignis einer Durchsicht auf das Ganze, wenn es aus seiner alltäglichen Weltbezogenheit in sich selbst zurückgeht, und wenn ihm dabei der Durchbruch zu seinem Grund gelingt – wobei die Gelingensbedingungen dieses Durchbruchs nicht in der Macht des endlichen Subjekts selber stehen, weshalb Ereignisse der Einsicht auch nicht willkürlich herbeigeführt werden können. Unser Selbstbewußtsein aber, dem seine eigene Genese entzogen bleibt, wäre so die horizonthafte, also unthematisch-latente Präsenz jener nicht-diskursiven Einsicht, die in den seltenen, privilegierten Momenten gelingender Durchsicht auf das Ganze als solche und für sich selbst thematisch würde.

3. Subjektivität und Geheimnis: Gunnar Hindrichs Einen groß angelegten metaphysischen Entwurf, dem es um das Verhältnis von Subjekt und Absolutem geht, legt auch Gunnar Hindrichs vor.19 Hindrichs stellt sich dabei die ganz einfache Frage: „Worin sind wir?“ Damit wird freilich nicht nach der Einbettung des Menschen in Natur, Gesellschaft oder Geschichte gefragt, auch nicht nach dem In-der-Welt-Sein Heideggers, sondern nach dem Worin des denkenden Ich. Dieses aber kann nur im Absoluten sein, so Hindrichs. Aber weil das Subjekt alles andere konstituiert, kann es, so scheint es, nur in sich selbst und gar nicht in einem Anderen sein. Doch solches Insichsein des Subjekts widerspräche dem Faktum, daß das Subjekt sich eben nicht selbst als causa sui ins Sein bringt, sondern sich selbst immer schon vorfindet. Wie aber kann es überhaupt in einem Anderen, dem Absoluten, sein, ohne daß damit seine konstituierende Tätigkeit negiert würde? Aus dieser Frage entfaltet sich Gunnar Hindrichs Entwurf, und zwar so, daß er zuerst nach dem Absoluten fragt und dann nach dem Subjekt und seinem Verhältnis zum Absoluten. Bei der Frage nach dem Absoluten greift Hindrichs erstaunlicherweise nicht auf den antiken Ursprung des Gedankens vom Absoluten zurück. Das Thema wird vielmehr scheinbar alternativlos im Rahmen der Ontotheologie verhandelt, welche ein seiendes Absolutes konzipiert. Deren eigentlichen Beginn erkennt Hindrichs zu Recht in jenem unum argumentum des Anselm von Canterbury, das seit Kant als „ontologischer Gottesbeweis“ bezeichnet wird. Hindrichs gelingt eine höchst bemerkenswerte Rekonstruktion wesentlicher Stationen der Ontotheologie von Anselm bis Schelling, wobei sich gerade Anselm und Schelling als die beiden Denker herausstellen, auf die es eigentlich ankommt. Anselm zeigt, daß der Gedanke von Gott als „etwas, über das hin­aus nichts Größeres/ Vollkommeneres gedacht werden kann“ (aliquid, quo ­nihil maius/melius cogi19 Hindrichs,

Das Absolute und das Subjekt.

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tari possit) nur so gedacht werden kann, daß er die Undenkbarkeit der Nichtexistenz des in ihm Gedachten einschließt. 20 Gott ist dem Denken so innerlich, daß es niemals von ihm absehen kann. Zugleich übersteigt er es aber. Denn Anselm betont, daß aus dem genannten Begriff notwendig auch folgt, daß das in ihm Gedachte größer ist, als gedacht werden kann.21 Das Denken erfaßt Gott mit gleicher Notwendigkeit als von sich unabtrennbar und darum unverneinbar und als unausschöpfbar und darum es selbst übersteigend. Dieses Moment negativer Theologie verleiht Anselms Gedanken sein spezifisches Profil, das ihn von allen neuzeitlichen Reformulierungen seit Descartes unterscheidet. Hindrichs zeigt, daß genau diese Einsicht in das negative Moment des Gottesbegriffs es Anselm erlaubt, den Einwand Gaunilos gegen seinen Beweis zurückzuweisen. In der Behandlung der weiteren Geschichte des ontologischen Arguments erweist sich als dessen wichtigster neuzeitlicher Vertreter nicht Descartes und nicht Spinoza, sondern Leibniz. Seine modale Erweiterung des ontologischen Arguments denkt Gott nicht bloß als Inbegriff alles Wirklichen, sondern als den Inbegriff aller Möglichkeiten und erweist diesen Gedanken als widerspruchsfrei denkbar, womit die Existenz des in ihm Gedachten bewiesen ist. Kant bezeichnet dann eine Wende in der Geschichte der Ontotheologie, und zwar nicht einmal primär durch seine Kritik an ihr, sondern mehr noch, weil die von ihm herausgearbeitete Konstitution der objektiven Realität durch das Subjekt den welterschaffenden Gott theoretisch ortlos zu machen droht. Der nachkantische Idealismus reagiert darauf, indem er das Absolute und die weltsetzende Subjektivität auf verschiedene Weisen zu vermitteln versucht. Für Hindrichs zentral ist der späte Schelling mit seiner Hegelkritik: die Vernunft setzt in aller vermittelnden Tätigkeit ihre eigene Existenz immer schon vor­aus; die Faktizität ihres Seins ist für sie selbst uneinholbar, sie vermag sich also gerade nicht allein aus sich selbst heraus zu begründen. Daraus folgt eine Selbstbeschränkung der spekulativen Vernunft. In der Beziehung auf das unvordenkliche Sein, das sie begrifflich nicht einholen kann, wird sie ekstatisch: sie transzendiert sich selbst. Das Verhältnis des Subjekts zum Absoluten erweist sich als ein Transzendenzbezug, in welchem das Subjekt sich erfüllt, gerade indem es sich selbst übersteigt. Schelling kehrt das ontologische Argument in einer „inversen Theologie“ um, welche die Beweisgestalt übersteigt: das unvordenkliche Sein, von dem das Denken nicht absehen kann, erweist sich erst durch die Selbstoffenbarung des Absoluten in der Geschichte wirklich als Gott. Für Hindrichs gelangt die Vernunft in ihrer Ekstase damit freilich immer noch zu

20 

Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. 2–4. Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. 15. Vgl. dazu auch Gunnar Hindrichs, „Anselms inverse Theologie“, in: Thomas Buchheim/Friedrich Hermanni/Axel Hutter/Chri­ stoph Schwöbel (Hgg.), Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft, Tübingen 2012, 181–221. 21 

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einem „Positiven“, das „entpositiviert“ werden muß, um zuletzt – unverkennbar inspiriert von Eberhard Jüngel22 – „das Absolute als Geheimnis“ zu denken. Hindrichs Deutung des Subjekts nimmt ihren Ausgang nicht vom Selbstbewußtsein, sondern von dem Motiv der Ordnung, deren konstitutive Rolle für die Begreifbarkeit der Welt herausgearbeitet wird. Daraus ergibt sich zugleich ihre über alle bloße Logik hin­ausreichende ontologische und axiologische Bedeutung: die Ordnung verleiht jedem einzelnen Ding seine Bestimmtheit und seinen eigenen Wert, indem sie ihm seine angemessene Stelle im Ganzen zuweist. Im nächsten Schritt wird die Ordnung der Gedanken, welche als solche die Ordnung der Dinge ausmacht, als eine Begründungsordnung erwiesen, die dem „Satz vom Grund“ gehorcht. Leibniz wird aufgenommen, sein Monaden-Universum, in dem Alles in jedem ist, modifiziert Hindrichs allerdings zu einer strikt relationalen Ontologie, welche den Substanzgedanken verabschiedet. Diese Ontologie wird nun im Subjekt fundiert: die Ordnung der Gedanken und der Dinge gründet in der Synthesetätigkeit des Subjekts. Als der konstituierende Grund, an dem die Ordnung der Welt hängt, fällt das Subjekt jedoch selber aus der von ihm konstituierten Welt-Ordnung heraus. 23 Als bildende Tätigkeit ist es ins Bild der Welt nicht eingezeichnet und bleibt so metaphysisch „heimatlos“. Hindrichs knüpft hier an Henrich an, dem er auch darin folgt, daß das Selbstbewußtsein sich selber aufgrund der Zirkelproblematik opak bleiben soll, so daß auch die Selbstbeziehung des Subjekts notwendig unerfüllt bleibt. 24 Im nächsten Schritt wird dann die Synthesetätigkeit des Subjekts selber analysiert: sie erweist sich als diskursive Arbeit und mithin als Entfremdung. Die Pointe ist dabei eine theologische: die Entfremdung des arbeitenden Subjekts enthüllt sich nämlich als Sünde, insofern sie am Ende zur Selbstverdinglichung des Subjekts und damit zu dessen Selbstverlust führt. In einem furiosen Crescendo schließt Hindrichs die Dialektik der Aufklärung mit Augustinus’ experimentum medietatis kurz: die gottgleiche Weltsetzung des Subjekts ist Lucifers Sturz in den Abgrund. Dieser schwarze Brokat gibt nun die Folie ab, vor der die finale Rettung in Szene gesetzt wird: Hindrichs spürt in der Verfassung des Subjekts selber, nämlich in dessen Heimatlosigkeit in der Welt, die zugleich seine Unselbständigkeit ist, die Spur einer Beziehung des Subjekts zu einem Anderen auf, die dem Subjekt letztendlich doch Heimat sein könnte. Denn als Unselbständiges sei das Subjekt nicht in sich selbst, sondern in einem Anderen – was an Henrichs 22  Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, 7. Aufl. Tübingen 2001 (= Gott als Geheimnis der Welt). 23  Ganz anders als bei Leibniz, dessen Welt aus Monaden besteht, die als vorstellende Wesen allesamt Subjektcharakter haben, weshalb das Monaden-Universum auch eine Welt der Geister (Subjekte) ist und keine Welt von Gegenständen. 24 Vgl. dazu auch Gunnar Hindrichs, Negatives Selbstbewußtsein, Hürtgenwald 2002.

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„Grund im Bewußtsein“ erinnert. Diese Beziehung darf für Hindrichs jedoch nicht als „Begründung“ des Subjekts interpretiert werden, da dieses selbst der höchste Punkt aller Begründungsverhältnisse sei. Folglich handle es sich um eine von allen Grund-Folge-Beziehungen völlig verschiedene, mithin außerordentliche Beziehung, in welcher das extraordinäre Subjekt stehe. Das Absolute, in dem das Subjekt ist, sei nicht dessen Grund und entäußere sich darum auch nicht in seiner Beziehung zum Subjekt wie dieses in der Beziehung zu der von ihm begründeten Ordnung der Welt. Es handelt sich folglich um die außerordentliche und entäußerungslose Beziehung zu einem „Ungrund“. Sie läßt sich nur denken, indem das Subjekt seine ordentlichen Vollzüge durchbricht und gegen sich selbst denkt. Darin aber verwandelt sich das Subjekt selber: in der reflexiven Rückkehr aus seiner Verlorenheit an die Welt kommt es zu sich und gewinnt seine Heimat im Ungrund, gerade indem es sich reflexiv aus der Reflexion und damit aus sich selbst herausschraubt. Die Analogie zu Schellings Ekstase der Vernunft ist unverkennbar. Um die Beziehung zum Ungrund zu erhellen, erweist sich für Hindrichs der alte Gedanke der analogia entis als der einzig angemessene, freilich nicht in seiner harmonistischen Verharmlosung bei Thomas von Aquin, sondern in seiner Radikalisierung durch Erich Przywara, 25 der ihren negativ-theologischen Kern freigelegt hatte: das je größere Anderssein Gottes in und über aller Ähnlichkeit. Die Analogie hebt so verstanden die Entzogenheit des Absoluten nicht auf, sondern enthüllt sie gerade; darum denkt sie das Absolute als Geheimnis. Das Sein des Subjekts in einem Anderen ist, so Hindrichs, ein „Hängen“ an dem Ungrund, der über ihm ist. Damit schließt sich der Kreis: die Suche nach der Heimat des Subjekts führt in die negative Theologie des Geheimnisses, in welcher die Ontotheologie ihren ultimativen Abschluß fand. Die negative Theologie aber, in der Hindrichs’ Entwurf kulminiert, verbindet die bei ihm aufgenommenen mittelalterlichen, neuzeitlichen und modernen Traditionen mit der antiken Philosophie, genauer mit dem Platonismus als dem Ursprung und Urbild aller negativen Theologie.

4. Platonismus als Vollendungsform: Werner Beierwaltes26 Werner Beierwaltes ist der bedeutendste und philosophisch kraftvollste Interpret des Platonismus. Seine lebenslange Beschäftigung mit diesem erfolgt erklärtermaßen nicht aus einem rein historischen Interesse, sondern um der unvergänglichen Sache der Metaphysik willen. Es geht Beierwaltes darum, mit 25 

Erich Przywara, Analogia Entis, München 1932. auch meinen ausführlicheren Würdigungsversuch in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 263 (2011), 127–141. 26 Vgl.

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historischen Mitteln eine Vollendungsgestalt metaphysischen Denkens auszuweisen, an deren Maß sich auch die Kritik an der Metaphysik messen lassen muß. Als diese Vollendungsgestalt identifiziert Beierwaltes den Neuplatonismus. Dazu verfolgt er eine dreifache Strategie: (1) Durch den eingehenden interpretierenden Nachvollzug zentraler Gedankenzusammenhänge von Plotin und Proklos, Eriugena, Meister Eckhart und Cusa­nus wird deren philosophische Erschließungskraft, spekulative Tiefe und begriffliche Differenziertheit auf eindrucksvolle Weise deutlich.27 (2) Hinzu kommt die Aufarbeitung der Wirkungsgeschichte des Neuplatonismus, welche diesen als den Knotenpunkt in der Geschichte der Metaphysik erweist, der darum den Schlüssel zu ihrem angemessenen Verständnis bildet. So gut wie alle späteren Formationen der Metaphysik haben in der einen oder anderen Weise auf neuplatonische Denkmotive zurückgegriffen, so daß die nachantike Geschichte der Metaphysik in weitem Umfang die Wirkungsgeschichte des Neuplatonismus ist. 28 (3) Der dritte Aspekt, unter dem Beierwaltes die Attraktivität des neuplatonischen Denkens erweist, ist seine Fruchtbarkeit für die philosophische und theologische Selbstverständigung des Christentums. Über das wirkungsgeschichtliche Interesse hin­aus motiviert dieser Aspekt Beierwaltes’ Beschäftigung mit dem christlichen Neuplatonismus, dessen Höhepunkte er bei Eriugena und Cusa­nus ausmacht. Zumal ihre Transformation des Platonismus erweist diesen als fähig, Denken und Glauben, Philosophie und Religion in eine philosophisch begriffene Einheit zu vermitteln, die der Philosophie selber neue Horizonte eröffnet. 29 Beierwaltes war auch der erste, der das Verhältnis des deutschen Idealismus zum Neuplatonismus eingehender untersucht hat, am genauesten Hegels Deu27  Wir verdanken diesem Ansatz neben zahlreichen tiefdringenden Aufsätzen die grundlegende Monographie Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik und die beiden ungeheuer intensiven und eindringlichen Plotin-Kommentare Plotin. Über Ewigkeit und Zeit. Enneade III 7, Frankfurt am Main 1967, 5., erg. Auflage 2010 (= Plotin) sowie Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, die Monographie Eriugena – Grundzüge seines Denkens und zuletzt das Plotin-Buch Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen sowie Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren, Frankfurt am Main 2007 (= Procliana). 28  Beierwaltes konzentriert sich auf zwei wesentliche Aspekte dieser umfassenden Wirkungsgeschichte: nämlich erstens die christliche Rezeption des Neuplatonismus, die nicht nur für die Patristik, sondern auch für die Philosophie des Mittelalters und der Renaissance weithin bestimmend ist. Hierfür stehen Marius Victorinus und Augustinus, Boethius, Ps.-Dionysius Areopagita und Johannes Eriugena, die Schule von Chartres und Bonaventura, Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, Marsilio Ficino und Giordano Bruno; ihnen allen hat Beierwaltes eindringliche Arbeiten gewidmet. Den zweiten Schwerpunkt bilden die Rezeption und die systematische, vielfach auch indirekt vermittelte Affinität des deutschen Idealismus, insbesondere Hegels und Schellings, zum Neuplatonismus. Daraus sind die wegweisenden Bücher Platonismus und Idealismus; Identität und Differenz, Frankfurt am Main 1980 (= Identität und Differenz); Denken des Einen und zuletzt Fußnoten zu Plato, Frankfurt am Main 2011 (= Fußnoten zu Plato) hervorgegangen. 29  Wegweisend dafür wurde nach der Eriugena-Monographie das programmatische Buch Platonismus im Christentum.

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tung von Proklos. Die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen beiden macht er im Gedanken der „konkreten Totalität“ aus. Den Gedanken entwickelt, wie bereits erwähnt, schon Plotin. Er bestimmt das intelligible Sein, das Ganze der Platonischen Ideen, als Geist, der durch seine Selbstentfaltung zu sich selbst zurückkehrt und so Denken und Erkennen seiner selbst ist, νόησις νοήσεως. Diese Selbstvermittlung des Seins als Geist vollzieht sich in einem Dreischritt aus der Entfaltung vor­ausgehender Einheit (Sein), Selbstdifferenzierung in die Ideenvielheit (Leben) und Rückkehr zu sich selbst (Geist), deren Struktur in der weiteren neuplatonischen Entfaltung des Gedankens immer differenzierter herausgearbeitet wird, am differenziertesten bei Proklos, der die triadische Struktur einer sich selbst denkenden dynamischen Identität in einem hochkomplexen System sich wechselseitig durchdringender Triaden ausführt, durch welche der Geist sich in eine Hierarchie von Stufen auffächert, die sich aber nicht verselbständigen, sondern integrative Momente eines holistischen Ganzen bleiben, dessen Wesen das Denken seiner selbst ist. ­Hegel hat in dieser Triadik des Proklos die systematische Erfüllung des Gedankens der konkreten Totalität gesehen. Beierwaltes’ eigene Proklos-Deutung ist in diesem Punkt erklärtermaßen ­ egel inspiriert, insbesondere durch Hegels Einsicht in die (von Beierwalvon H tes so genannte) „dynamische Identität“ der Nous-Hypostase und in die Kreisstruktur ihrer Selbstvermittlung. Daß ­Hegel die absolute Idee als absolute denkende Selbstbeziehung konzipiert, verbindet ihn mit der Geistmetaphysik des Neuplatonismus. Hegels provokative Behauptung, der antike Geistbegriff sei Kants Vernunftkritik überlegen,30 kann sich darauf berufen, daß die neuplatonische Geistmetaphysik die Selbstvermittlung des Denkens als den Motor der Seinsentfaltung konzipiert und die weltformende Tätigkeit des Denkens damit nicht nur erkannt, sondern sie konsequent und ohne die Verstandesdualismen der Kantischen Erkenntnisrestriktion gedacht habe. Freilich zeigt Beierwaltes ebenso, daß ­Hegel die neuplatonische Henologie grundlegend umdeutet, indem er das absolut jenseitige Eine in den Nous integriert, was seiner eigenen Systemidee entspricht, aber das Zentrum der neuplatonischen Philosophie gerade zum Verschwinden bringt. Damit aber bleibt der Neuplatonismus gerade mit seinem Gedanken eines absolut transzendenten Absoluten, das nur in konsequent negativer Dialektik aus allen Bestimmungen des Seins und des Denkens ausgegrenzt werden kann, eine systematische Alternative zu Hegels absolutem Idealismus, welche dieser nicht in sich integrieren kann. Die vielleicht am tiefsten reichende Gemeinsamkeit Hegels und Schellings mit dem Neuplatonismus erkennt Beierwaltes freilich im Gedanken der Einheit von Philosophie und Religion. Beierwaltes findet vor allem im christlichen Platonismus das Modell einer philosophisch begriffenen Einheit von Philosophie und Religion. Diese soll den Platonismus gerade in seiner christlichen Trans30 Hegel,

Wissenschaft der Logik II, 192–197.

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formation als eine Vollendungsgestalt metaphysischen Denkens erweisen, deren integrative Kraft jener Hegels und Schellings zumindest ebenbürtig ist, ja in einem entscheidenden Punkt über sie sogar hin­ausgeht. Die radikale Tran­ szendenz des Absoluten nämlich vermag Hegels Metaphysik der Immanenz nicht zu integrieren, während Schellings Spätphilosophie ihr im Gedanken des „Überseienden“ zumindest nahekommt. Soll nun der Neuplatonismus als Vollendungsgestalt metaphysischen Denkens erwiesen werden, dann muß er fähig sein, die Wahrheit der Religion in sich aufzuheben, und zwar die Wahrheit des Christentums als der philosophischen, vom Geist der griechischen Metaphysik erfüllten Religion. Für Beierwaltes’ Programm kommt darum dem christlichen Neuplatonismus eine Schlüsselrolle zu. Dieser aber kreist um ein Problem, das sich einer vollständigen Vereinigung von Philosophie und Religion zu widersetzen scheint. Denn das Christentum ist durch seine jüdische Wurzel auf die strikte Einzigkeit Gottes verpflichtet, die durch die Trinität keineswegs eingeschränkt wird. Der Neuplatonismus dagegen unterscheidet das „übergöttliche“, absolut jenseitige Eine selbst und den göttlichen Nous. Für ihn kann darum die christliche Wahrheit, daß Gott Geist ist, immer nur ein Vorletztes sein. Dann aber wäre das Christentum nur die Vorstufe zur höheren Wahrheit des Platonismus und eine vollkommene Vereinigung von Religion und Philosophie wäre nicht möglich. Um das Christentum philosophisch als absolute Wahrheit zu begreifen, muß Gott so gedacht werden können, daß er sowohl das absolute Eine jenseits der Alternative von Sein und Nicht­sein als auch der sich selbst denkende Geist, die Fülle des Seins ist. Aber wie wäre das möglich? ­Hegel hatte dieses Problem in seiner Dialektik des Absoluten zu lösen versucht.31 In ihr konzipiert er das Absolute zunächst genuin negativ-theologisch: als die absolute Einheit der Indifferenz, von der alle Bestimmungen verneint werden müssen. Diese Verneinungen erscheinen als der Weg des verneinenden Denkens zum Absoluten, der diesem selbst äußerlich bleibt. Mit dem Argument, ein Absolutes, bei dem nur angekommen werde, sei nicht das wahrhaft Absolute, faßt ­Hegel dann aber die Verneinung aller Bestimmungen als die eigene Tätigkeit des Absoluten in ihm selbst. In ihr bezieht sich das Absolute auf sich selbst und ist darin die Selbstbestimmung des Bestimmungslosen, die alle ­ egel zwar die Henologie, aber durch Bestimmtheit erzeugt. Damit integriert H die Preisgabe der radikalen Transzendenz des Absoluten. Beierwaltes hat gezeigt, daß Eriugena genau das vermeidet:32 Er denkt Gott als reine Transzendenz und als wissenden Selbstbezug, und zwar ohne die absolute Transzendenz in die Immanenz des Denkens zu nivellieren wie Hegel, aber auch ohne den Selbstbezug des Sich-Wissens im Vorhof des Absoluten zu belassen wie Plotin. Dabei nimmt Eriugena Hegels Dialektik des Absoluten geradezu vorweg. 31 Vgl.

32 Vgl.

Hegel, Wissenschaft der Logik I, 370–379. Siehe dazu unten Kapitel XVIII. Beierwaltes, Eriugena, 180–204 („Absolutes Selbstbewußtsein“).

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Wie ­Hegel begreift Eriugena nämlich Dialektik nicht nur als Methode des denkenden Erkennens, sondern zugleich als ontologische Struktur der erkannten Wirklichkeit; er konzipiert also eine ontologische Realdialektik, was er duplex theoria nennt.33 Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes, daß Eriugena auch die Verneinung aller Bestimmungen, durch welche die Transzendenz des übergöttlichen Einen ausgegrenzt wird, als ein Tun begreift, das dem transzendenten Absoluten nicht äußerlich bleibt, sondern dessen eigene Tätigkeit ist: Das Absolute ist in sich selbst die Verneinung von allem, es wird von dieser nicht nur intendiert. Als die Negation allen Seins und aller Bestimmtheit ist das Absolute das überseiende, transzendente Nichts (nihil superessentiale, nihil per excellentiam). Das überseiende Nichts aber bringt gerade aus seiner eigenen Nichtigkeit alle Wirklichkeit hervor, und zwar (wie bei Hegel) durch Selbstnegation der absoluten Negativität.34 Der Abstieg vom Übersein zum Sein vollzieht sich also im Absoluten selbst als dessen eigene Tätigkeit, als eine creatio ex nihilo, die Eri­ ugena als die ewige Selbsterschaffung des dreieinigen Gottes aus der überseienden Nichtigkeit der „Übergottheit“ begreift; und diese Selbsterschaffung Gottes ist zugleich die Selbstvermittlung des überseienden Absoluten, in der dieses sich selbst erkennt. Anders als ­Hegel hält Eriugena dabei aber die Transzendenz des Absoluten mit aller Konsequenz fest: das Eine bleibt jenseits von allem, auch wenn es in allem erscheint, das Übersein hebt sich nicht auf in die Positivität des Seins. Das Selbstbewußtsein des Absoluten ist darum für Eriugena auch kein absolutes Wissen, sondern ein alles Wissen übersteigendes Nichtwissen. Denn das Absolute ist kein bestimmbares Etwas, das positiv gewußt werden könnte. Es ist auch nicht die sich selbst bestimmende Totalität aller Bestimmtheit, sondern es ist die Verneinung aller denkbaren Seinsgehalte und weiß sich gerade in dieser als das alles Seiende und Denkbare zugleich setzende und aufhebende Nichts der reinen Transzendenz. Während ­Hegel die Transzendenz des Einen in die Immanenz des selbstbezüglichen Denkens aufhebt, erhebt Eriugena den Selbstbezug des Sich-Wissens in die Transzendenz des undenkbaren Einen. Er integriert die Selbstvermittlung des Absoluten durch Schöpfung und Trinität in die Transzendenz des absolut Einen und hält damit die Grundintuition des Platonismus konsequent fest, ohne die im Christentum begriffene Weltzuwendung des Absoluten zur Vorstufe herabzusetzen. Eriugena vermag so Platonismus und Christentum, Transzendenz und Weltzuwendung vollkommen zu vereinen: er denkt das Eine als Geist und als Transzendenz über den Geist zugleich, als absolutes Selbstbewußtsein, aber so, daß dieses Selbstbewußtsein selber absolutes Nichtwissen ist. Ähnliches ließe sich bei Cusa­nus zeigen.35 33 

Dazu ebd. 82–115 („Duplex Theoria“). dazu Beierwaltes, Denken des Einen, 337–367, spez. 358 ff. 35 Vgl. dazu auch das Horizonte eröffnende Buch von Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. Rohstock, Der negative Selbstbezug des Absoluten hat gezeigt, daß Cusa­ nus die entscheidende Anregung dafür, mit dem Begriff „non-aliud“ das Absolute als nega34 Vgl.

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Beierwaltes’ Bedeutung für die Metaphysik besteht jenseits seiner unschätzbaren Verdienste als ihr wohl kenntnisreichster und subtilster Historiker vor allem im Nachweis einer vormodernen Vollendungsgestalt der Metaphysik im christlichen Neuplatonismus, die imstande ist, die moderne Vollendung der ­ egel und Schelling unter Bewahrung ihrer zentralen AnlieMetaphysik bei H gen und Einsichten in sich zu integrieren. Damit aber wird die philosophische Moderne auch systematisch relativiert, in dem Sinne, daß sie nicht mehr den Maßstab dafür abgeben kann, was in metaphysicis möglich und erlaubt ist und was nicht oder nicht mehr „geht“. Die Bedeutung dieser Relativierung kann kaum überschätzt werden.

5. Restitution abgeschnittener Welt- und Gottesbezüge: Wolfgang Janke Eine Restitution metaphysischen Denkens im Rückgriff auf seinen antiken Ursprung, speziell auf den Platonismus, die diesen und nicht die moderne Metaphysik zum bestimmenden Maßstab nimmt, ist auch das Anliegen von Wolfgang Janke. Ihm geht es dabei um die Wiedergewinnung metaphysischer Denkmöglichkeiten überhaupt aus einer kritischen Analyse philosophischer Defizite der Moderne heraus. Janke formuliert eine „Kritik der präzisierten Welt“.36 Dies ist zunächst erläuterungsbedürftig. Die moderne Welt, und zwar sowohl die Welt der modernen Wissenschaft als auch unsere von Wissenschaft und Technik bestimmte Lebenswelt, ist Jankes Diagnose zufolge eine „präzisierte“ Welt im ursprünglichen Sinne des Wortes. „Praecidere“ bedeutet nämlich „abschneiden“: praecidere alicui linguam heißt „jemandem die Zunge abschneiden“. Die moderne Welt ist nun eine „abgeschnittene“, verkürzte Welt, weil sie in vielfältiger Weise Lebens-, Welt- und Gottesbezüge abschneidet und nicht mehr zuläßt, die für menschliches In-der-Welt-Sein ursprünglich konstitutiv und erfüllend sind. Die Geschichte der Präzisierung der Welt reicht dabei weit zurück, bis in die Antike. So schneiden schon die vorsokratische Naturphilosophie und die Metaphysik Platons mit ihrer Mythen- und Dichterkritik eine wesentliche Dimension ab, in der Menschen die Welt ursprünglich „angeht“, indem sie die poetische Welteröffnung durch den Mythos und seine spezifische Gotteserfahrung beiseite stellen und als Zugang zur Wahrheit nicht mehr zulassen. Im weiteren Fortgang der Weltpräzisierung wird dann durch die moderne Religionskritik (Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud) die Offenheit des Menschen für tiven Selbstbezug zu konzipieren, Eriugena verdankt (durch die Vermittlung des Honorius Augustodonesis). 36  Wolfgang Janke, Kritik der präzisierten Welt, Freiburg/München 1999 (= Kritik der präzisierten Welt).

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Gott grundsätzlich abgeschnitten. Hierdurch kommt es zu der Entgötterung, Entfremdung und Entzauberung der Welt, die die Moderne kennzeichnet; alle drei Vorgänge erweisen sich als Teilaspekte eines und desselben weltgeschichtlichen Vorgangs der praecisio mundi. Zuletzt schneidet die Metaphysikkritik des nachidealistischen 19. und 20. Jahrhunderts mit dem Positivismus, der analytischen Philosophie und dem kritischen Rationalismus auch noch die noetische Welteröffnung durch die Metaphysik als unwissenschaftlich ab. Übrig bleibt eine durch Entpoetisierung, Entmythologisierung und Entnoetisierung radikal präzisierte Welt, die von allen poetisch-mythischen, religiös-numinosen und noetisch-metaphysischen Dimensionen abgeschnitten ist, und in der demzufolge nur noch das als wirklich und relevant zugelassen wird, was empirisch, mit den Methoden mathematischer Naturwissenschaft (und allenfalls noch empirischer Sozialwissenschaft), als positive Tatsache nachgewiesen werden kann. Dieser weltgeschichtliche Vorgang der Präzisierung der Welt, ihrer Zurechtschneidung auf berechenbare, planbare und vernutzbare Tatsachen, erreicht seinen Höhepunkt im 20. Jahrhundert. Er führt in einen haltlosen, verzweifelten und letztlich selbstzerstörerischen Nihilismus, der sich bei Nietzsche nur philosophisch ankündigt, der aber in den politischen Totalitarismen, den beispiellosen Massenmorden und Weltkriegen des jüngst vergangenen Saeculums weltgeschichtlich real wird und seine ganze Destruktivität enthüllt. Damit ist unbestreitbar: in der solcherart präzisierten Welt können wir als Menschen nicht leben. Die radikal präzisierte Welt ist keine Welt, in der Menschen menschlich „wohnen“, also bei sich sein und zugleich einer auf sie zukommenden Wirklichkeit geöffnet sein können. Jankes Analyse der Präzisierung der Welt erinnert natürlich an Heideggers These von der sich steigernden Seinsvergessenheit, die als Unheilsgeschichte in der modernen Technik und der von ihr bestimmten Welt ihre extremste Gestalt erreicht. Doch Jankes Anliegen unterscheidet sich sehr deutlich von dem Heideggers. Es geht nicht darum, in der Nacht der Seinsverlassenheit – gleichsam quietistisch – „andenkend“ auf eine neue Entbergung des Seins oder die Ankunft eines neuen Gottes zu warten. Janke geht es vielmehr darum, die im Zuge der Weltpräzisierung abgeschnittenen Weisen der Welteröffnung zu restituieren, um ein menschliches „Wohnen“ in der Welt wieder möglich zu machen. Diese Restitution hat eine doppelte Aufgabe: Es geht zum einen um die kritische Analyse entscheidender Phasen der Weltpräzisierung.37 Dabei zeigt sich durchgehend, daß die „abgeschnittenen“ Dimensionen der poetischen Weltstiftung, der religiösen Erfahrung des Numinosen und der metaphysischen Entdeckung der Transzendenz niemals im eigentlichen Sinne als unwahr widerlegt, sondern stets nur im Namen ganz bestimmter Weltauslegungen und zurecht gelegter Wahrheitsbegriffe verdrängt wurden, und zwar so, daß ihnen durch Denkver37 

Dies erfolgt in der Kritik der präzisierten Welt.

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bote und Sprachbereinigungen regelrecht „die Zunge abschnitten“ wird. Aufgabe der Philosophie ist es in dieser Situation darum, bewußt „unzeitgemäß“ gegen diese Verkürzungen von Denk- und Sprachmöglichkeiten zu denken. Nur und gerade in dieser Unzeitgemäßheit kann die Philosophie auch heute noch „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“ (Hegel) sein. Dem „unzeitgemäßen“ Denken stellt sich so die weitere und zentrale Aufgabe, die abgeschnittenen Dimensionen im Sinne einer restitutio in integrum wieder zugänglich zu machen.38 Um erneuten Präzisierungen durch einseitige Absolutheitsansprüche vorzubeugen, soll dabei zugleich die Zusammengehörigkeit und gleiche Berechtigung der wesentlichen Weisen menschlichen In-derWelt-Seins herausgestellt werden. Dazu aber muß ein gemeinsamer Wurzelgrund aufgewiesen werden, dem die verschiedenen Weltzugänge des Menschen durch Empirie und Wissenschaft, Metaphysik, Mythos und Poesie entspringen. Für Janke ist das die Sprachlichkeit des Daseins. Sie manifestiert sich gleichermaßen in der Alltagssprache, in der wir uns die sinnlich begegnende Welt erschließen, und der davon abgeleiteten Wissenschaftssprache, wie im dialektischen Logos der Metaphysik, der die übersinnliche Welt der Ideen und Prinzipien aufschließt, aber ebenso in der Narrative des Mythos, die uns das Heilige im Erzählen unvordenklicher Urgeschichten vergegenwärtigt, und schließlich im Sprachkunstwerk der Dichtung, das unser „Wohnen auf Erden“ „stiftet“. Und so erweist die präzisionskritische Restitution der Dimensionen eines vollen und erfüllten In-der-Welt-Seins den Menschen schließlich als „Bürger von vier Welten“.39 In unserem Zusammenhang interessiert vor allem Jankes Restitution der Metaphysik.40 Sie erfolgt im entschiedenen Rückgriff auf Platon.41 Dieser Rück38  Dies

unternimmt Janke in seinen auf die Kritik der präzisierten Welt folgenden Büchern: Wolfgang Janke, Das Glück der Sterblichen, Darmstadt 2002; ders., Archaischer Gesang. Pindar – Hölderlin – Rilke. Werke und Wahrheit, Würzburg 2005; ders., Plato. Antike Theologien des Staunens, Würzburg 2007 (= Plato); ders., Die Sinnkrise des gegenwärtigen Zeitalters. Weg und Wahrheit, Gott und Welt, Würzburg 2011; ders., Wiedereinführung in die Philosophie. Platonismus – Nihilismus – Eksistentialontologie, Würzburg 2013. 39 Janke, Plato, 240: „Und in der Tat, der Mensch ist nicht nur ‚Bürger zweier Welten‘ (Kant), sondern Bürger von vorzüglich vier Welten: der Sinnenwelt, der Ideenwelt, einer mythisch-religiösen und einer poetisch-numinosen Welt. Alle vier Sprachwelten haben unstreitig widerspruchsfrei ihr je eigenes Recht und gleichberechtigte Befugnis. Sie sind einheitlich in unserem Dasein verwurzelt, das seine Welt-, Seins- und Gottesoffenheit sprachlich konstituiert.“ 40  Sie erfolgt grundlegend in dem schon zitierten Werk: Plato. Darauf aufbauend: Wiedereinführung in die Philosophie. 41  Dies ist darum umso bemerkenswerter, weil Janke selber einer der renommiertesten Interpreten neuzeitlicher Metaphysik ist, den Bücher über Leibniz und Fichte berühmt gemacht haben. Vgl. Wolfgang Janke, Leibniz. Die Emendation der Metaphysik, Frankfurt am Main 1963; ders., Fichte – Sein und Reflexion; ders., Vom Bilde des Absoluten, Berlin/New York 1993; ders., Die dreifache Vollendung des deutschen Idealismus. Schelling, ­Hegel und Fichtes ungeschriebene ­Lehre, Amsterdam/New York 2009.

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gang auf Platon aber ist seinerseits durch eine kritische Diagnose der Moderne motiviert. Die moderne Philosophie und Wissenschaft ist nämlich seit Descartes’ Zweifelsbetrachtung beherrscht vom Streben nach der Gewißheit des Wissens, so Jankes von Martin Heidegger und Karl-Heinz Volkmann-Schluck inspirierte Diagnose. Das Streben nach Gewißheit aber führt zum Primat der Erkenntnissicherung vor der Erkenntnissuche und diesen Primat bekundet die für die Philosophie der Moderne so charakteristische Dominanz der Methode, die primär der Sicherung der Erkenntnis dient. Dem zugrunde aber liegt eine Grundhaltung des Zweifels und der Skepsis, welche die Moderne von Anfang an bestimmt, und die in Kierkegaards existentialer Verzweiflung und in Nietzsches antiplatonischer Kunst des Mißtrauens und der Verdächtigung nur ihre extremste Gestalt erreicht, die der Metaphysik die Zunge abschneidet: so führt die Grundhaltung der Moderne zur Heraufkunft der präzisierten Welt. Um aus ihr einen Ausweg zu finden, sucht Janke nach einer alternativen philosophischen Grundhaltung, die vom Primat der Erkenntnissicherung umstellt auf den Primat der Erkenntnissuche, von einer Haltung des Zweifels und Mißtrauens auf eine Haltung der Offenheit, in der uns die Welt, das Sein und Gott begegnen. Diese aus der Verzweiflung der Moderne herausführende Grundhaltung findet Janke im θαυμάζειν, dem „Staunen“ in den Bedeutungen der fragenden Verwunderung, der ehrfürchtigen Bewunderung, des berückten Hingerissenseins und der ekstatischen Entrückung. Das Staunen in diesem vierfachen Sinn ist der durchtragende Anfang und das Grundpathos der antiken Philosophie. Von den großen Denkern der Moderne hat es bezeichnenderweise nur Schelling wirklich verstanden und zu würdigen gewußt. Denn eine vom Pathos des Staunens geleitete Philosophie erfüllt sich in einer Metaphysik, deren ursprünglicher und bestimmender Impetus nicht auf absolutes Wissen geht, sondern auf Schönheit und Transzendenz. Das motiviert Jankes Zuwendung zu Platon, dem paradigmatischen Metaphysiker des Staunens. Der Rückgang auf Platon erfolgt in der erklärten Absicht einer Restitution der „antiken Theologie des Staunens“. Denn sie allein vermag uns nach der „Schreckensherrschaft des Mißtrauens“ und den „Verheerungen des Antiplatonismus“ wieder aufzuhelfen. Jankes Platondeutung ist dabei in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sie geht aus von Platons Mythen- und Dichterkritik und damit von dem Punkt, in dem Platon und die von ihm begründete Metaphysik selbst in die Weltgeschichte der praecisio mundi gehören. Platons Destruktion der Göttergeschichten, des Epos und der Tragödie sind natürlich motiviert durch den Wahrheitsanspruch der Metaphysik, der die ältere Wahrheit des Mythos und seiner Äußerungsweisen als „Lügen der Dichter“ ins Abseits stellt. Das ist auch vor Janke schon oft gesehen worden. Bemerkenswert ist aber Jankes Erinnerung daran, daß Platons Verhältnis zum Mythos ja keineswegs nur destruktiv ist: Platon ist selber nämlich auch Mythologe und seine philosophischen Mythen haben einen genau bestimmbaren Sinn und eine unentbehr­

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liche Funktion innerhalb seiner Philosophie. Platon setzt den Mythos gezielt dort ein, wo der dialektische Logos an seine Grenzen gelangt: wenn es um das Jenseitsschicksal der menschlichen Seele geht, das anders als ihre Unsterblichkeit nicht dialektisch bewiesen werden kann (Gorgias, Phaidon, Politeia X); wenn es um die daimonische Kraft des Eros geht, die Sinnen- und Ideenwelt verbindet (Symposion, Phaidros); wenn es um das konstitutive Verhältnis der Welt des Werdens im ganzen zum intelligiblen Sein geht, das als Weltschöpfung durch den demiurgischen Nous nur in einem philosophischen Mythos „erzählt“ werden kann (Timaios); wenn es schließlich um die geschichtliche Verfassung der Welt des Werdens geht (Politikos, Kritias); zusammenfassend also: immer dann, wenn es um die grundlegenden Bezüge von Sein und Werden geht, die sich dem Logos, der allein das Sein in seiner Ideenstruktur aufschließt, entziehen. Der Mythos hat so eine unentbehrliche Aufgabe: er eröffnet uns diejenigen Dimensionen der Welt, die sich der Erschließungskraft des Logos entziehen, nicht, weil sie ihn übersteigen, sondern weil sie ihn als nicht wahrhaft Seiendes und darum auch nicht eigentlich Wißbares unterschreiten. Durch diese Besinnung auf Platons eigene Mythen rettet Janke den Platonismus gewissermaßen aus der Präzisionsgeschichte: die Metaphysik ist mit Mythos und dichterischer „Weltstiftung“ gar nicht grundsätzlich unvereinbar, sie weist diesen vielmehr selber ihren legitimen Ort zu, indem sie die Grenzen des Logos bestimmt. Der Logos hat aber, wie sich bei Platon zeigt, nicht nur eine Grenze nach unten, durch die er zum Mythos hin offen ist, er hat auch eine Grenze nach oben, durch die er zur Transzendenz geöffnet ist, die den Logos überschreitet: die dialektische Seinserkenntnis zielt nämlich zuletzt auf die umfassende Begründung des Seins und aller Ideenverhältnisse in einem schlechthin „Unbedingten“ (ἀνυπόθετον), einem Absoluten, das weiterer Begründung weder bedarf noch fähig ist und das genau darum der „Urgrund des Ganzen“ (τοῦ παντὸς ἀρχή) zu sein vermag.42 Als dieses Anhypotheton erweist sich bei Platon „das Gute selbst“, das kein Seiendes und keine Idee mehr ist, sondern als der Urgrund des Seins selbst „jenseits des Seins“ ist und dieses „an Ursprünglichkeit und Mächtigkeit überragt“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος).43 Aus dieser Transzendenz über das Sein folgt aber, da Platon Sein und Erkennbarkeit gleichsetzt,44 zugleich die Transzendenz über jede Erkenntnis; dialektisch zugänglich ist das Absolute nur noch via negationis durch Ausgrenzung aus allem anderen (Politeia 534 BC) sowie in einer Analogik, die seine „Systemstelle“ als absolutes Prinzip erkennen läßt, aber nicht enthüllt, was es an sich selbst ist. Janke erkennt in der Seins­transzen­denz des Absoluten und dem Transzensus über alle Stufen des Seins und Erkennens hin­aus völlig zu recht den Höhepunkt 42 Platon,

Politeia 511 B. Politeia 509 B. 44 Vgl. Platon, Politeia 476 C 3 ff, v.a. 477 A 3: τὸ μὲν παντελῶς ὂν παντελῶς γνωστόν. 43 Platon,

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der Platonischen Philosophie, in dem sich eine „Theologie des Staunens“ allein wahrhaft erfüllt. In ihrer ganzen Bedeutung verstanden wird die Transzendenz des Absoluten freilich erst dann, wenn man die Gleichnisse der Politeia von Platons ungeschriebener Prinzipienlehre her aufschlüsselt.45 Dann läßt sich „das Gute“ als überseiender Seinsgrund mit dem alle Vielheit ins Sein einenden, übermächtig-absoluten Einen identifizieren und von daher läßt sich das Sonnengleichnis dann auch mit der negativen Henologie der ersten Hypothesis des Parmenides verbinden, in der Platon dem reinen Einen in seiner Absolutheit alle grundlegenden Seinsbestimmungen in konsequenter Negation abspricht und gerade dadurch seine absolute Transzendenz herausstellt.46 Janke folgt den Ergebnissen der Platondeutung der „Tübinger Schule“ und der damit konvergierenden neuplatonischen Platoninterpretation in beiden zentralen Punkten ohne Vorbehalt. Platon wird damit nicht nur zum Begründer, sondern auch zum entscheidenden Denker der „negativen Theologie“, die Henologie von Plotin und Proklos erweist sich als die legitime Weiterführung und konsequente Vollendung der Platonischen „Theologie“. Janke restituiert damit nicht nur Platon, sondern auch den Neuplatonismus. Zwar vertritt auch Aristo­teles eine Theologie des Staunens. Aber mit seiner Bestimmung des höchsten Prinzips als sich selbst denkendes Denken (νόησις νοήσεως) schneidet er die Transzendenz des Einen ab. Und das Staunen ist ihm nur noch als fragendes Verwundern der Anfang (initium) der Philosophie, aber nicht mehr dessen durchtragender Grund (principium) und darum auch nicht dessen Vollendung im ekstatischen Transzendieren über alles Wissen und Wißbare hin­aus. Darin erweist sich vielmehr der Neuplatonismus Plotins als die legitime Erfüllung der genuinen Intentionen Platons. Janke erkennt darum Plotins henologische Mystik als den Gipfel und die (konsequente) Übersteigerung der Platonischen Theologie des Staunens an. Freilich glaubt Janke, bei Plotin einen Zwiespalt konstatieren zu müssen, gegen den er Einspruch erhebt, weil der Platonismus dadurch in eine Krise gerate: Während Platon die Philosophie bei aller Transzendenzbewegung zum Übersein an die sokratische Sorge um die Welt zurückbinde und der Philosoph nach der Schau der Sonne des Guten in die Höhle zurückkehre, reiße Plotins Mystik die Platonische Einheit von Gottesschau und Weltsorge in einer Weltflucht auseinander. Ob die Diagnose der Weltflucht und eines „Platonismus ohne Sokrates“ (Walter Bröcker) Plotin wirklich gerecht wird, kann hier dahin gestellt bleiben.47 Für Janke jedenfalls 45 

Grundlegend dazu bleibt Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles. dazu im einzelnen Halfwassen, Aufstieg zum Einen, spez. 301–405. 47  Werner Beierwaltes jedenfalls sieht in Plotins Metaphysik weder eine Weltflucht noch einen „Platonismus ohne Sokrates“, vgl. Denken des Einen, 24–31. Gegen den Vorwurf der Weltflucht spricht ganz entschieden auch Plotins Kritik an der Gnosis, deren Weltflucht und Weltverachtung Plotin auf ein falsches, buchstäblich ver-kehrtes Verständnis von Transzendenz zurückführt: dazu Jens Halfwassen, „Gnosis als Pseudomorphose des Platonismus: 46 Vgl.

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bleibt Platon Maß und Vorbild einer zu restituierenden Metaphysik des Staunens, die sokratisch und transzendenzorientiert gleichermaßen ist. – In der Suche nach einer alternativen Grundhaltung des Philosophierens, die mit der Umstellung vom Vorrang der Erkenntnissicherung48 auf den der Erkenntnissuche auch einen erneuerten Zugang zu einer Metaphysik im Horizont des Absoluten ermöglicht, trifft sich Janke mit dem Grundanliegen von Wolfram Hogrebe.49 Hogrebe ist wie Janke von Heidegger beeinflußt. Er kehrt die modernen Hierarchien des wissenden Weltzugangs sogar noch entschiedener um als Janke: Ahnung und Nichtwissen bestimmen nach Hogrebe unser ursprüngliches Verhältnis zum Sein. Wie bei Janke, Beierwaltes und Hindrichs, so spielt auch bei Hogrebe die Tradition negativer Theologie eine zentrale Rolle: denn gegenständliche Realität zeichnet sich dadurch aus, daß alles und jedes immer nur dadurch ein bestimmtes Etwas ist, daß es sich von allem anderen unterscheidet; dies aber ist allererst dadurch möglich, daß es sich abhebt vor dem Hintergrund einer „Distinktionsdimension“, einer ursprünglichen, differenz-, seins- und bestimmungslosen Einheit, die Unterschiedenheit und damit Bestimmtheit und bestimmtes Seiendes sowie seine Erkenntnis allererst ermöglicht. Zugang zu diesem ultimativen Horizont des Denkens haben wir nur in einem Nichtwissen, das ursprünglicher ist als alles Wissen. Hogrebe identifiziert die „Distinktionsdimension“ darum mit dem Einen Platons und Plotins sowie mit dem „Sein“ Heideggers. Sein Nachdenken über das Absolute und die Weise, in der es Erkenntnis ermöglicht, gerade indem es sich ihr entzieht, geht aus von Schellings Weltaltern, die Hogrebe als eine „Fundamentalheuristik“ deutet, welche die Konstitution von Bestimmtheit und Sinn (Logizität) aus einem bestimmungslosen Urgrund und Ungrund denkt, der als solcher nicht mehr thematisierbar ist, weil er allem Denken und Sprechen immer schon im Rücken liegt.50 Hogrebe orientiert sich dabei zuletzt zunehmend an Plotin und Eriugena, deren negative Theologie der Begründung des Geistes Plotins Gnosiskritik“, in: Christoph Markschies/Johannes van Oort (Hgg.), Zugänge zur Gnosis, Leuven 2013, 25–42. 48  Daß die moderne Fixierung auf Erkenntnissicherung konsequenterweise in den Skeptizismus mündet, der als epistemologischer Nihilismus seinerseits ex negativo einer idealistischen Geistmetaphysik den Boden bereitet, die mit der Bestimmung des Seins als Geist auch auf skeptische Einwände gegen die Realität einer „Außenwelt“ reagiert, was sich historisch am besten am Verhältnis von Sextus Empiricus und Plotin nachvollziehen läßt, zeigt Markus Gabriel in zwei eindrucksvollen Büchern: Markus Gabriel, An den Grenzen der Erkenntnistheorie, Freiburg/München 2009; ders., Skeptizismus und Idealismus in der Antike. 49 Vgl. Wolfram Hogrebe, Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen, Frankfurt am Main 1992; ders., Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt am Main 1996; ders., Echo des Nichtwissens, Berlin 2006; ders., Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, Berlin 2009; ders., Der implizite Mensch, Berlin 2013. 50  Wolfram Hogrebe, Prädikation und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings „Die Weltalter“, Frankfurt am Main 1989.

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im Überseienden Hogrebe in einem „philosophischen Surrealismus“ verheutigt.51 – In seinem Anliegen einer gleichberechtigten Restitution von Dichtung, Mythos und Metaphysik trifft sich Janke ferner mit Michael Theunissen, einem der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, dem es in seinem Spätwerk wesentlich um die Freilegung einer vor-metaphysischen Erfahrung von Transzendenz (bei Pindar) geht sowie um ein ursprünglich welteröffnendes, nicht-physikalisches Verständnis von Zeit (bei Homer, Hesiod und Pindar).52 Allerdings ­ egel will Theunissen, der der Vollendung der neuzeitlichen Metaphysik bei H 53 und Schelling eindringliche Interpretationen gewidmet hat, Metaphysik heute nicht mehr als „erste Philosophie“ und d.h. Prinzipientheorie restituieren, sondern nur noch als „letzte Philosophie“ rekonstruieren, orientiert an Schellings historischer „positiver Philosophie“, welche die geschichtlich ereignete Wahrheit der Mythologie und des Christentums als geschichtliche Selbstoffenbarung der Transzendenz begreift. Gegen Theunissens Verabschiedung der ersten Philosophie wäre freilich zu bedenken, ob nicht die überlieferte Gestalt der Metaphysik als erste Philosophie zumindest den gleichen Anspruch auf geschichtlich ereignete Wahrheit für sich reklamieren kann wie Mythos und religiöse Offenbarung, ferner, ob nicht gerade die Integration der Wahrheit von Mythologie und Offenbarung in einer sie begreifenden „letzten Philosophie“ ihrerseits eine Prinzipientheorie als „erste Philosophie“ erfordert, von der her die Wahrheit der Mythologie wie der Religion allererst aufgeschlossen werden kann, wie das die historischen Beispiele Schellings und des christlichen wie des paganen Neuplatonismus nahelegen.

6. Ausblick Ich habe vier gegenwärtige Entwürfe von Metaphysik ausführlicher referiert, die mir besonders originell, aufschlußreich und weiterführend zu sein scheinen, und auf zwei weitere wenigstens hingewiesen, die nicht weniger bedeutsam sind. Die Auswahl ist – wie könnte es auch anders sein? – selbstredend subjektiv und von meinen eigenen Interessen geleitet. Vieles könnte noch ergänzt werden, 51  Wolfram Hogrebe, Philosophischer Surrealismus, Berlin 2014, zur Anknüpfung an Plotin und Eriugena bes. 26 ff und 106 ff. 52 Vgl. Theunissen, Pindar; vgl. auch schon ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, 4. Aufl. 2002. 53 Vgl. Michael Theunissen, Hegels ­L ehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970; ders., Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt am Main 1980; ders., „Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“, in: Philosophisches Jahrbuch 83 (1976), 1–29; ders., „Schellings anthropologischer Ansatz“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965), 174—189; ders., „Die Idealismuskritik in Schellings Theorie der negativen Philosophie“, in: Hegel-Studien, Beiheft 17 (1977), 173–191.

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worauf ich nicht eingegangen bin. Der Versuch, einen auch nur einigermaßen „repräsentativen“ Überblick über das Feld der Metaphysik in der Gegenwart zu geben, wurde nicht beabsichtigt. Denn dieses Feld ist heute unübersichtlich geworden, vor allem auch durch das Auftreten einer „deskriptiven Metaphysik“, die sich in Thematik und Denkstil von den „revisionären Metaphysiken“ traditionellen Stils fundamental unterscheidet. Darum scheint mir ein paradigmatisches Vorgehen aufschlußreicher als eine Diskussion verschiedener Metaphysikbegriffe und Typen von Metaphysik. Daß aber die hier vorgestellten Entwürfe paradigmatischen Rang beanspruchen dürfen, das zeigt schon ihre Anknüpfung an unbestrittenen Höhepunkten metaphysischen Denkens. Läßt man die vorgestellten Entwürfe Revue passieren, so verbietet sich der Versuch von selbst, sie auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu wollen. Aufschlußreich erscheinen mir aber die folgenden Beobachtungen: 1. Sie beweisen, von wie verschiedenen Ausgangspunkten aus sich auch heute noch eine gehaltvolle Metaphysik entwickeln läßt: sei dies das Rätsel des Selbstbewußtseins und die Frage nach dem Ursprung der Subjektivität, die Kritik an einer sich in Hybris selbst verabsolutierenden Moderne, die Suche nach einer zum Gewißheitsstreben alternativen Grundhaltung des Philosophierens, die Erforschung der Geschichte der Metaphysik oder die Frage, wie die Wahrheit der Religion und die Wahrheit der Metaphysik zusammengehören können. 2. Unbeschadet aller Differenzen verhalten sich die Entwürfe zueinander sehr viel eher komplementär und sich gegenseitig stützend, als daß sie einander konkurrierend ausschlössen. Sie erkunden das gemeinsame Feld der Metaphysik von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus auf verschiedenen Pfaden und bieten dabei unterschiedliche Perspektiven, die sich aber häufig ergänzen oder sogar ineinander überführen lassen. Vielleicht gilt das ja nicht nur von den hier besprochenen Entwürfen, sondern von der Geschichte der Metaphysik überhaupt. Denn diese ist, genau besehen, gar kein Schlachtfeld sich gegenseitig ausschließender und bekämpfender Dogmen (so hat es bekanntlich Kant dargestellt), sondern viel eher ein Garten mit Pfaden, die sich verzweigen, um sich dann wieder zu treffen (um ein Bild von Jorge Luis Borges aufzugreifen). Je mehr dieser Pfade man begeht, umso besser lernt man den Garten kennen und umso mehr begreift man seine Harmonie. 3. Alle besprochenen Autoren greifen in ihren eigenen Unternehmen auf produktive Weise auf die Geschichte der Metaphysik zurück. Das gilt auch für die betont systematischen Unternehmungen von Henrich und Hindrichs (ebenso Hogrebe). Daß systematisches Philosophieren ohne Philosophiegeschichte leer ist (wie bloße Philosophiehistorie ohne philosophisches Anliegen blind), wissen und beherzigen alle genannten Autoren. Und so zeigt sich im Felde der Metaphysik vielleicht deutlicher noch als anderswo, wie künstlich und unfruchtbar die Trennung zwischen „systematischer“ und „historischer“ Philosophie in Wahrheit ist. Wenn metaphysisches Philosophieren allen Legenden vom Ende

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der Metaphysik zum Trotz heute so lebendig ist, so ist eine Quelle seiner erstaunlichen Vitalität seine ungeheuer reiche Geschichte. 4. Alle besprochenen Autoren erneuern metaphysisches Denken mit Mut und Umsicht und ohne Rücksicht auf bestehende Denkverbote, die dem Zeitgeist lieb und teuer sind. Keiner von ihnen fragt danach, ob das, was er unternimmt, denn auch zeitgemäß sei und ob eine Philosophie, die Wissenschaft sein möchte, derartiges denn überhaupt dürfe oder „heute noch“ könne. Daß Metaphysik immer zugleich mehr und weniger ist als Wissenschaft in irgendeinem üblichen Sinne, ist ihnen allen klar, auch wenn es nicht eigens ausgesprochen wird (wie von Henrich). Keiner erneuert aber auch den Anspruch auf abso­ egel und Fichte aufgetreten waren. Metaphylutes Wissen, mit dem zumal H sik als strenge Wissenschaft, das liegt hinter uns. Daß Metaphysik Philosophie bleibt, Suche nach Weisheit, die vom Nichtwissen ausgeht, in ihren Einsichten geschichts- und perspektivengebunden bleibt, keine linearen Fortschritte kennt und letztlich über eine docta ignorantia weder hin­auskommen will noch muß, das ist eine gemeinsame Überzeugung aller hier vorgestellter Metaphysiker. Ebenso aber auch die fundamentale Einsicht, daß die erschließende Kraft des Denkens unabsehbar weiter reicht und größer ist als der enge Bezirk des wissenschaftlichen Wissens. Die Metaphysik der Gegenwart stellt sich darum wieder wie die der Vormoderne von Platon bis Cusa­nus entschlossen auf den Boden des Denkens, das immer gewagt sein will, das aber auch gewagt werden muß, wenn Philosophie sie selbst bleiben soll: Suche nach Wahrheit im Ausgriff auf das Ganze und im Horizont des Absoluten – und in dem Wissen, daß das Ganze wie das Absolute verfehlt werden, sobald man sie vergegenständlicht.

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Platons Metaphysik des Einen

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VI.

Platons Metaphysik des Einen 1. Metaphysik als Henologie „Alles Seiende ist durch das Eine seiend.“ (Enneade VI 9, 1, 1) Mit diesen Worten beginnt Plotin seine Programmschrift Über das Gute. Sie charakterisieren in der kürzesten möglichen Weise eine Philosophie, die sich selbst als Metaphysik des Einen versteht. Genauer betrachtet, enthält der zitierte Programmsatz ­Plotins drei für eine Metaphysik des Einen grundlegende Aussagen: 1. Jedes Seiende existiert als dasjenige, was es jeweils ist, genau aus dem Grunde, weil es Eines ist. 2. Die Gesamtheit aller einzelnen Seienden bildet die Einheit eines Ganzen. Einheit charakterisiert also nicht nur jedes einzelne Seiende, sondern ebenso die Totalität des Seins. 3. Das Prinzip der Einheit des Ganzen und zugleich der Einheit jedes einzelnen Seienden ist das Eine selbst. Als der Einheit-verleihende Ursprung ist das Eine das Absolute, durch das alles Seiende Eines und kraft seiner Einheit auch seiend ist.1 Metaphysik des Einen in diesem Sinne ist bekanntlich der Neuplatonismus seit Plotin. 2 Aber nicht nur dieser, sondern die gesamte platonische Tradition bis zu Nikolaus von Kues, Marsilio Ficino und Giordano Bruno und darüber hin­aus auch der spekulative deutsche Idealismus von Fichte, ­Hegel und Schelling ist in dem gekennzeichneten Sinne Metaphysik des Einen.3 Blickt man auf das Ganze der europäischen Philosophiegeschichte, so überragt die einheitsme1 Vgl.

dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, Kapitel I und II. dazu Beierwaltes, Denken des Einen; auch ders., Proklos. 3 Vgl. dazu Beierwaltes, Platonismus und Idealismus; ders., Identität und Differenz; ders., Eriugena; ders., Platonismus im Christentum; ders., Procliana; ders., Fußnoten zu Plato; Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues; ders., Nikolaus von Kues; ders., Nicolaus Cusa­nus, München 2001 (= Nicolaus Cusa­nus); Halfwassen, ­Hegel und der spät­ antike Neuplatonismus; ders., Plotin und der Neuplatonismus; Theo Kobusch/Burkhard Mojsisch/Orrin F. Summerell (Hgg.), Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus, Amsterdam/Philadelphia 2002; Burkhard Mojsisch/Orrin F. Summerell (Hgg.), Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie, München/Leipzig 2003; Michael Franz, Tübinger Platonismus. Die gemeinsamen philosophischen Anfangsgründe von Hölderlin, Schelling und Hegel, Tübingen 2012. 2 Vgl.

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taphysische oder henologische Tradition die ontologische oder seinsmetaphysische an Umfang, Dauerhaftigkeit und sachlichem Gewicht so deutlich, daß man in der Frage nach dem Einen, und nicht in der Frage nach dem Sein oder dem Seienden, die Grundfrage der Metaphysik zu sehen hat.4 Der Begründer der henologischen Tradition, der erste Denker, der eine entwickelte Metaphysik des Einen entworfen hat, ist nun keineswegs Plotin, sondern Platon, als dessen Interpret Plotin sich denn auch verstand (Enneade V 1, 8). Diese Behauptung könnte verwundern, denn in Platons Dialogen ist von dem Einen verhältnismäßig selten die Rede – sieht man einmal von dem Dialog Parmenides ab, der ganz diesem Thema gewidmet ist, dessen Deutung aber notorisch umstritten war, seit die neuplatonische Auslegung, die in diesem Dialog das Evangelium der Einheitsmetaphysik sah, im 17. Jahrhundert ihre Selbstverständlichkeit verlor. Blickt man dagegen auf die indirekte Überlieferung über die ungeschriebene ­Lehre Platons,5 so ergibt sich ein ganz anderes Bild. Im Zen­ ehre steht nämlich eine Prinzipientheorie, die sich trum der ungeschriebenen L im gekennzeichneten Sinne als Metaphysik des Einen charakterisieren läßt, und die die Grundlagen für die gesamte spätere henologische Tradition enthält.6 Diese Prinzipientheorie wurde von Platon unter dem gleichen Titel vorgetragen, den auch die Programmschrift Plotins trägt: Über das Gute (Περὶ τοῦ ἀγαθοῦ). Und sie kulminierte in der These, das Gute sei seinem eigentlichen Wesen nach das Eine (z.B. Test. Plat. 7 und 51). Diese ungeschriebene Prinzipientheorie hat die Platonforschung seit ihrer Wiederentdeckung durch Léon Robin intensiv beschäftigt.7 Einen epochalen Fortschritt, der unser Bild von Platon und seinem Verhältnis zum Neuplatonismus und damit zur metaphysischen Tradition insgesamt grundlegend verändert hat, bedeuten dabei die Forschungen von Hans Krämer. Krämer widerlegte nämlich nicht nur die früher übliche Spätdatierung der ungeschriebenen

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Sie dazu auch oben Kapitel I. Die wichtigsten Zeugnisse sind gesammelt bei Konrad Gaiser, Platons Ungeschriebene ­Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der ­ ehre), 446–557. platonischen Schule, Stuttgart 1963, 2. Aufl. 1968 (= Platons Ungeschriebene L 6  Dazu bleibt grundlegend Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles. 7 Vgl. außer Léon Robin, La théorie platonicienne des idées et des nombres d’après ­Aristote, Paris 1908, ND Hildesheim 1998 (= La théorie platonicienne) vor allem Paul Wilpert, Zwei aristotelische Frühschriften über die Ideenlehre, Regensburg 1949 (= Zwei aristotelische Frühschriften); Philip Merlan, From Platonism to Neoplatonism, Den Haag 1953, 2. Aufl. 1960, 3. Aufl. 1968 (= From Platonism to Neoplatonism); Gaiser, Platons Ungeschriebene ­Lehre; ders., Gesammelte Schriften, hg. von Thomas Alexander Szlezák unter Mitwirkung von Karl-Heinz Stanzel, Sankt Augustin 2004 (= Gesammelte Schriften); Cornelia J. de Vogel, Philosophia, Band I, Assen 1970 (= Philosophia I); dies., Rethinking Plato and Platonism, Leiden 1988 (= Rethinking Plato and Platonism); Heinz Happ, Hyle. Studien zum Aristotelischen Materiebegriff, Berlin 1971 (= Hyle); Wippern (Hg.), Das Problem der unge­ ehre Platons. schriebenen L 5 

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­ ehre,8 die in den Quellen gar kein Fundament hat, sondern er revolutionierte L die Platondeutung durch seinen Nachweis, daß die in der ungeschriebenen ­Lehre greifbare Metaphysik des Einen und seiner Entfaltung in die Vielheit des Seienden spätestens seit dem Phaidon und der Politeia den systematischen Hintergrund aller großen Dialoge bildet und darum auch den Schlüssel zu ihrem richtigen Verständnis.9 Durch diesen Nachweis wird erstmals seit dem Neuplatonismus wieder eine integrative Interpretation der Philosophie Platons möglich, die nicht mehr nur jeden Dialog gesondert für sich interpretiert und damit im Extremfall Platon soviele Philosophieentwürfe zutraut, wie er Dialoge geschrieben hat, sondern die nun die verschiedenen Dialoge als sich ergänzende Aspekte eines umfassenden Bildes sehen lehrt, dessen Grundriß die ungeschriebene Prinzipientheorie zeichnet, die darüber hin­aus auch in zahlreichen Details gerade das genau ausführt und ausfüllt, was die Dialoge nur andeuten oder sogar ganz offenlassen. Das integrative, Schriftwerk und ungeschriebene ­Lehre ergänzend aufeinander beziehende Platonbild, das aus dem Forschungsansatz von Hans Krämer entstand, zeigt uns Platons Philosophie als das Paradigma einer konsequenten Metaphysik des Einen, das die henologische Tradition wohl weiter entfalten und teilweise anders akzentuieren konnte, ohne es aber zu überbieten. Platons Metaphysik des Einen möchte ich nun im Folgenden in vier Schritten vorstellen. Ich beginne mit Platons Begriff von Dialektik, der Platons eigene Beschreibung der Aufgaben einer Prinzipienphilosophie enthält. Dann wende ich mich der grundlegenden philosophischen Einsicht der Metaphysik des Einen zu, die anfangs thesenhaft schon genannt wurde. Von dort aus kommen zwei Themen zur Sprache, die für Platon charakteristisch sind und den Platonismus von anderen Typen von Einheitsmetaphysik wie z.B. dem Monismus der Eleaten oder Spinozas oder auch der dialektischen All-Einheitslehre Hegels un8 Vgl. dazu zuletzt Hans Krämer, „Nochmals: Für die Frühdatierung des platonischen Vortrags Über das Gute bei Aristoxenos“, in: ders., Gesammelte Aufsätze zu Platon, 241–270. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß der Kern der ungeschriebenen Prinzipientheorie, die ­Lehre vom Einen als dem universalen Prinzip, sogar bereits von Anfang an hinter Platons Schriftwerk steht, also auch schon hinter den Frühdialogen. 9 Vgl. außer Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles ders., Ursprung der Geistmetaphysik; ders., Platone e i fondamenti della metafisica, Milano 1982, 3. Aufl. 1989 (= Platone e i fondamenti della metafisica); engl. Ausgabe: Plato and the Foundations of Metaphysics, New York 1990; ders., Gesammelte Aufsätze zu Platon. Vgl. auch Thomas Alexander Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie. Interpretationen zu den frühen und mittleren Dialogen, Berlin/New York 1985 (= Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie); ders., Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993 (= Platon lesen); ders., Die Idee des Guten in Platons Politeia, Sankt Augustin 2003 (= Die Idee des Guten in Platons Politeia); ders., Das Bild des Dialektikers in Platons späten Dialogen. Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie Band II, Berlin/New York 2004; Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der „ungeschriebenen ­Lehren“, Paderborn 1993 (= Zu einer neuen Interpretation Platons); Halfwassen, Aufstieg zum Einen.

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terscheiden: nämlich die radikale Transzendenz des Absoluten sowie die Frage nach einem Prinzip der Vielheit und seiner systematischen Stellung.

2. Platons Dialektik: Aufstieg zum Absoluten Platons eigener Name für die Prinzipienphilosophie, die die aristotelische Tradition später „Metaphysik“ nannte, lautet bekanntlich Dialektik. ­Hegel hat diese Benennung wiederaufgenommen, um damit die spekulative, durch Negation ent-grenzende Denkform der Prinzipienphilosophie zu kennzeichnen.10 Ursprünglich bedeutet Dialektik einfach die Kunst der Unterredung, also die Suche nach Wahrheit im philosophischen Gespräch, im methodischen Gebrauch von Frage und Antwort. Grundlegend ist dabei schon in den frühesten Dialogen Platons die Rückfrage nach dem, was das in Rede Stehende eigentlich ist, und was in der Verständigung über es jeweils schon vor­ausgesetzt wird. Dialektik zielt so schon in ihrer einfachsten Bedeutung als Kunst der Gesprächsführung auf die Thematisierung der jeweils gemachten Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen heißen griechisch ὑποθέσεις, wobei jede Assoziation an die moderne wissenschaftstheoretische Bedeutung von „Hypothese“ hier fernzuhalten ist.11 Es handelt sich bei den Voraussetzungen, die die Dialektik thematisiert, nicht um vorläufige und falsifizierbare Arbeitsannahmen, sondern vielmehr um Voraussetzungen, die für jedes sachbezogene Gespräch grundlegend sind, die also immer schon als gültig in Anspruch genommen werden, wenn sachhaltige Erkenntnis intendiert ist. Platonische Dialektik ist somit in einem ganz allgemeinen Sinne ὑπόθεσις-Forschung – also philosophische Reflexion von allgemeinen Grundlagen – und sie wird im Phaidon ausdrücklich als solche bestimmt (100 A – 102 A).12 Aus dem Phaidon und noch deutlicher aus der Politeia geht freilich auch hervor, daß Dialektik für Platon eine ganz besondere Art der Grundlagenreflexion darstellt. Im „Liniengleichnis“ – wohl seiner grundsätzlichsten Äußerung über die Vorgehensweise der Philosophie – bestimmt Platon Dialektik als ein solches Wissen, das die grundlegenden Voraussetzungen, von denen jede sachhaltige Bezugnahme auf Wirkliches ausgeht, nicht einfach unbefragt annimmt, sondern eben diese grundlegenden Voraussetzungen ihrerseits auf ihre Begrün10 Vgl.

dazu vor allem Hans-Georg Gadamer, „­Hegel und die antike Dialektik“, in: Hegel-Studien 1 (1961), 173–199 (erneut in: ders., Gesammelte Werke, Band 3: Neuere Philosophie I: Hegel. Husserl. Heidegger, Tübingen 1987, 3–28); Düsing, Problem der Subjektivität; ders., ­Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit, Darmstadt 1983 (= ­Hegel und die Geschichte der Philosophie); Rüdiger Bubner, Zur Sache der Dialektik, Stuttgart 1980 (= Zur Sache der Dialektik). 11 Vgl. Jens Halfwassen, Rez. von Peter Stemmer, „Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge“ (1992), in: Archiv für Geschichte der Philosophie 76 (1994), 220–225. 12 Vgl. dazu Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 135–152.

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dung hin befragt, wobei sie ihre Suche nach dem Grund solange fortsetzt, bis sie etwas findet, was selbst vor­aussetzungs-los oder un-bedingt – ἀνυπόθετος – ist (509 C – 511 E).13 Dieses einer weiteren Begründung weder fähige noch bedürftige Unbedingte – das ἀνυπόθετον (511 B 6) –, hinter das nicht weiter zurückgegangen werden kann, weil es selber keinen Grund mehr hat, ist der erste Ursprung von Allem oder der Urgrund der Wirklichkeit im ganzen; Platon spricht vom „unbedingten Ursprung“ (ἀνυπόθετος ἀρχή, 510 B 7) als dem „Urgrund des Ganzen“ (ἀρχὴ τοῦ παντός, 511 B 7). Dieser Platonische Begriff des ἀνυπόθετον ist der Ursprung unseres Begriffs des Absoluten, wobei absolutum die wörtliche Übersetzung von ἀπόλυτον ist, einem Ausdruck, den einige Zeugnisse über Platons Prinzipientheorie für das ἀνυπόθετον verwenden (z.B. Test. Plat. 32 § 263). Platonische Dialektik ist der Versuch, die Vielfalt der grundlegenden Voraussetzungen unserer denkenden Bezugnahme auf Wirklichkeit auf einen einzigen absoluten Urgrund zurückzuführen: sie ist also die Suche nach dem Absoluten als dem unbedingten Ursprung und Urgrund des Ganzen der Wirklichkeit. Fragen wir nun, was für Platon der unbedingte Ursprung ist, und suchen in den Dialogen nach einer Antwort, so werden wir zugleich fündig und enttäuscht. Ausgerechnet dort nämlich, wo Platon den Ursprung von Allem ausdrücklich thematisiert, im „Sonnengleichnis“ der Politeia (504 A – 509 C),14 wird uns vorenthalten, was das Absolute eigentlich ist. Der Urgrund von Allem, der das Sein (εἶναι) und das Wesen (οὐσία), also die Existenz und die inhaltliche Bestimmtheit der wahrhaft seienden Ideen und damit letztlich alles Seienden begründet, ist dem „Sonnengleichnis“ zufolge das Gute selbst (αὐτὸ τὸ ἀγαθόν). Es begründet nicht nur das Sein der Ideen, sondern auch deren Erkennbarkeit und die Erkenntnisfähigkeit unseres Geistes und ist damit gleichermaßen das Seinsprinzip und das Erkenntnisprinzip alles Seienden und Erkennbaren (508 Β – 509 Β). Was dieses absolute Prinzip, das Gute selbst, seinem eigentlichen Wesen nach ist, sagt Platon im „Sonnengleichnis“ nicht; er zeigt dort lediglich, daß es weder die Lust noch die Einsicht sein kann (505 B–D) und weicht dann in eine Proportionsanalogie aus, die gerade nicht das Wesen des Guten zu erkennen gibt, sondern nur dessen Verhältnis zum Seienden und zum erkennenden Geist, also seine Stellung als absolutes Prinzip. Seine Benennung als „das Gute“ bringt gar nichts anderes zum Ausdruck als eben diese Stellung als Prinzip des Seins; – denn „das Gute“ bestimmte Platon allgemein als „den Grund, der das Seiende im Sein erhält“ (τὸ αἴτιον σωτηρίας τοῖς οὖσιν, Def. 414 E 9; vgl. Politeia 509 B 7 ff). Es ist nun aber keineswegs so, daß das Wesen des Guten einfach ein ἄρρητον wäre, über das sich nichts weiter sagen ließe. Platon läßt seinen Sokra13 

Zusammenfassend dazu Krämer, „Idee des Guten“. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 220–264; Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 257–291; Krämer, „Idee des Guten“; Szlezák, Die Idee des Guten in Platons Politeia, 109–131. 14 Vgl.

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tes vielmehr ausdrücklich erklären, er besitze eine bestimmte Meinung über das Wesen des Guten, die er seinen Gesprächspartnern aber absichtlich vorenthalte (Politeia 506 D–E; vgl. auch 509 C). Damit ist deutlich, daß wir Platons Aussagen über den absoluten Ursprung von Sein und Erkennen nur dann wirklich verstehen können, wenn wir auf die ungeschriebene Prinzipienlehre zurückgreifen. Aristo­teles und alle anderen Zeugen berichten übereinstimmend, für Platon sei das eigentliche Wesen des Guten – also genau das, was in der Politeia absichtlich zurückgehalten wird – das Eine selbst (αὐτὸ τὸ ἕν), das absolute Eine (Aristo­teles, Metaphysik 1091 b 13–15; Eudemische Ethik 1218 a 15–32). Das Wesen des Guten ist für Platon die reine Einheit. Die Wesensbestimmung des Absoluten als reine Einheit ist grundlegend für Platons Prinzipienphilosophie, die darum den Charakter einer Metaphysik des Einen hat. Erst von ihr aus läßt sich auch verstehen, wie das Absolute Sein und Wassein, Erkennen und Erkennbarkeit zugleich begründet.15 Für den henologischen Charakter von Platons Prinzipienphilosophie ist freilich noch etwas charakteristisch: Platon betont mit allem Nachdruck, daß das Gute selbst kein Seiendes ist und auch nicht das Sein selbst, sondern daß es „jenseits des Seins und des Seienden“ steht; das Absolute ist ἐπέκεινα τῆς οὐσίας, wie es am Ende des „Sonnengleichnisses“ heißt (509 B 9).16 Und damit ist es zugleich jenseits aller überhaupt denkbaren Bestimmungen – denn das Sein ist für Platon der Inbegriff von Bestimmtheit schlechthin – also auch jenseits von Wahrheit, Erkenntnis und Geist (508 E – 509 A).17 Die Zeugnisse der ungeschriebenen ­Lehre bestätigen diese absolute Transzendenz des Einen ebenso wie der Parmenides-Dialog (141 E; Test. Plat. 50 und 51; Aristo­teles, Περὶ εὐχῆς Fr. 1). Ferner hat Platon den innerakademischen Zeugnissen zufolge angenommen, daß die Entfaltung des Seienden aus der Seins­transzen­denz des Absoluten nur mit Hilfe eines zweiten Prinzips, eines eigenen Prinzips der Vielheit, möglich und einsehbar ist; auch das bestätigt der Parmenides-Dialog (142 B ff; 157 B ff). Die Bestimmung des Absoluten als reine Einheit, die absolute Transzendenz des Einen selbst und die Ansetzung eines eigenen Prinzips für die Vielheit sind die drei grundlegenden Thesen der Platonischen Metaphysik des Einen. Sie ergeben sich unmittelbar auseinander. Um ihren systematischen Zusammenhang einsichtig zu machen, konzentriere ich mich zunächst auf den philosophischen Sinn von Platons Grundthese, daß das Eine das letzte, nicht weiter hintergreifbare Prinzip für Sein und Denken und für ihren Zusammenhang ist.

15 

Grundlegend bleibt dazu Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, 474 ff, 535–551. dazu Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, 541 ff; ders., „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“. 17 Vgl. Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 257–264. 16 Vgl.

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3. Das Eine als absoluter Grund Platon zeigt, daß nicht das Sein das Ursprünglichste ist, was wir denken können, sondern das Eine. Denn Einheit ist die grundlegende Bedingung für das Sein und die Denkbarkeit alles Seienden. Was auch immer wir als seiend denken, wir denken es eben damit, daß wir es als seiend denken, auch schon als Eines und einheitlich. Wir können nämlich überhaupt nur solches denken, was in irgend einer Weise Einheit ist; was in keiner Weise Eines ist, ist für das Denken nichts. Das griechische οὐδέν bzw. μηδέν interpretiert Platon in der Politeia (478 B 12 f) und im Parmenides (144 C 4–5; vgl. Test. Plat. 22 B = Alexander, In Metaph. 56, 30 f) als ein οὐδὲ ἕν bzw. μηδὲ ἕν; nichts ist also das, „was nicht einmal Eines ist“. Alles, was seine Einheit verliert, wird eben damit unmittelbar zu nichts, es zerstiebt gleichsam ins Nichts. Auch das Gegenteil des Einen, das Viele, denken wir immer schon und notwendig als Einheit, nämlich als geeinte Vielheit und das bedeutet als ein einheitliches Ganzes aus vielen elementaren Einheiten, so daß der Gedanke des Vielen in doppelter Weise Einheit vor­aussetzt (Parmenides 157 C – 158 B). Umgekehrt gilt das dagegen nicht: der Gedanke des Einen setzt seinerseits keine Vielheit vor­aus (Parmenides 137 C ff). Zwar kennt Platon Bedeutungen von Einheit, in denen Vielheit begrifflich enthalten ist, wie Ganzheit, Einheitlichkeit als Einheit in der Vielheit und sogar Identität (die für Platon eine in Einheit aufgehobene Zweiheit ist: Aristo­teles, Metaphysik 1018 a 7–9 zu Platon, Sophistes 254 D 15; vgl. Parmenides 139 D 4–5). Für andere Einheitsbedeutungen wie Einzigkeit und Einmaligkeit gilt das aber nicht. Und die Einfachheit, für Platon die Grundbedeutung von Einheit, von der alle genannten Einheitsbegriffe abhängen, denken wir sogar nur durch den expliziten Ausschluß aller Vielheit (Parmenides 137 C 4 – D 3). Alle mit Vielheit kompatiblen Formen von Einheit sind nämlich als Einheit nur dann begreifbar, wenn sie Modifikationen oder Einschränkungen des reinen Wesens von Einheit sind, das an sich selbst nichts anderes als die absolute reine Einfachheit sein kann (Parmenides 158 A 3–6). Die reine Einfachheit ist darum, wie Platon im Parmenides (137 C 4 – D 3, 140 A 1–3, 141 E 9–12, 158 A 5–6) und im Sophistes (245 A 1–10) hervorhebt, das reine Wesen des Absoluten. Der Gedanke des Einen ist ferner auch umfassender als der Gedanke des Seins. Denn alles Seiende und auch das Sein selbst müssen wir notwendig als Einheit denken, aber umgekehrt ist nicht jede Einheit notwendig auch schon seiend oder Sein. Denn wir denken ja auch das Nicht­sein als das vom Sein Verschiedene (Sophistes 256 D 11 – E 3, 257 B 3–4, 258 A 11 – B 3), das Werden als die Mitte zwischen Sein und Nichts (Politeia 477 A 6–7, 478 D 5–7; Tim. 27 D 6 – 28 A 4) und sogar das Nichts selber als den vollständigen Mangel an Sein (Politeia 477 A 3–4, 478 B 6 – C 1; Sophistes 237 B 7 – E 2); und dabei denken wir Nicht­sein, Werden und Nichts jeweils als einheitliche Bestimmung. Dage-

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gen können wir nichts denken, ohne es zugleich als Einheit zu denken. Denn Einheit ist die ursprünglichste Bedingung von Denken und Denkbarkeit überhaupt. Wie der Schluß des Parmenides-Dialogs (165 E 2 – 166 C 2) zeigt, wäre mit der Aufhebung des Einen jede denkbare Bestimmung und damit auch das Denken selbst aufgehoben. Aufgrund dieser Überlegungen kam Platon zu der Einsicht, das Eine sei ursprünglicher und grundlegender als das Sein und das Seiende; das wahrhaft und absolut Ursprüngliche sei das Eine, das wir im Denken immer schon vor­ aussetzen müssen, über das wir im Denken aber nicht mehr hin­ausgreifen können, weil mit der Aufhebung des Einen das Denken selbst aufgehoben wäre. Das Eine ist darum das ἀνυπόθετον, das Absolute, das sich nicht wegdenken läßt, weil es von jedem Denkakt schon vor­ausgesetzt wird. Und weil die Bedingungen des Denkens für Platon zugleich die Bedingungen des Seins sind (Politeia 477 A), darum ist alles, was in irgendeiner Weise seiend ist, überhaupt nur darum seiend, weil und insofern es Einheit ist. Das Eine ist darum das absolute Prinzip des Seins wie des Erkennens, das mit der Einheit von Denken und Sein zugleich die Sachhaltigkeit unseres Denkens begründet. Nun scheint sich hier ein Einwand gegen Platon nahezulegen. Man könnte nämlich einwenden, daß aus dem Einheitsvorgriff unseres Denkens noch nicht zwingend folgt, daß die Dinge auch in sich selbst, unabhängig von unserem Denken, Einheitscharakter besitzen und daß sie nur kraft dieses Einheitscharakters existieren und das sind, was sie jeweils sind. Der Einwand bezweifelt also, daß Einheit darum, weil sie Bedingung der Denkbarkeit von allem ist, zugleich auch der Grund des Seins von allem sein muß. Dieser Einwand erweist sich aber schnell als haltlos. Er gesteht zu, daß Platon die begriffliche Unmöglichkeit von einheitsloser Vielheit bewiesen habe; er bezweifelt aber, daß daraus die reale oder objektive Unmöglichkeit radikal einheitsloser Seiender folgt. Er meint, die Wirklichkeit könne aus einer unbegrenzten Pluralität unverbundener Einzeldinge bestehen, auch wenn wir sie dann weder denken noch erkennen können. Der Einwand bestreitet also, daß die Strukturen unseres Denkens mit den Strukturen des Seins fundamental übereinstimmen, – und genau damit erweist er sich als sinnlos. Denn wer meint, die Wirklichkeit könne auch aus einer einheitslosen Vielheit unverbundener Einzeldinge bestehen, der nimmt eben damit Denkbestimmungen wie Wirklichkeit, Vielheit und Einzelnes als realitätshaltig in Anspruch und setzt somit genau das vor­aus, was er bestreiten will, nämlich die Einheit von Denken und Sein.18 Außerdem sind Bestimmun18  In diesem Sinne kritisiert Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon, Stuttgart 2003, 2. Aufl. Weimar 2008 die antiplatonische Wende der Moderne seit dem Nominalismus, die eben die Realitätshaltigkeit unserer Denkbestimmungen leugnet. Vgl. auch ders., Denken und Sein bei Platon und Descartes. Kritische Anmerkungen zur „Überwindung“ der antiken Seinsphilosophie durch die moderne Philosophie des Subjekts, Heidelberg 2011 (= Denken und Sein bei Platon und Descartes), bes. 123 ff zu dem Einen als unhintergreifbarem Grund des

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gen wie Vielheit oder Einzelnes selber nur als einheitliche Bestimmungen überhaupt denkbar, so daß auch der Pluralist den Vorrang der Einheit immer schon vor­aussetzt, sobald er seinen Pluralismus formuliert, was er nur in einheitlichen Denkbestimmungen tun kann. Der Einheitsvorgriff unseres Denkens ist darum nicht nur subjektiv, für uns, unhintergehbar, sondern ihm wohnt objektive Wahrheit inne, und zwar unbestreitbarerweise, weil sie sogar dann noch vor­ ausgesetzt wird, wenn sie bestritten wird.19 Alles Seiende und Denkbare ist also nur darum seiend und denkbar, weil es einheitlich ist, und zwar in der Weise, daß sein Charakter als Einheit die Grundlage seiner Denkbarkeit und das Fundament seines Seins sowie aller weiteren Bestimmungen bildet, die ihm sonst noch zukommen. Daraus folgt zugleich, daß Einheit das Kriterium der Unterscheidung von Sein und Nicht­sein ist und der Maßstab, an dem Seiendes von höherem oder geringerem Seinsgrad meßbar wird. Zwar denken wir Sein und Nicht­sein gleichermaßen als einheitliche Bestimmungen, aber im Nicht­sein denken wir dabei keinen positiven Inhalt, kein eigenes Was oder Etwas (τί), sondern nur die Negation des Seins. Jeder positive Inhalt aber muß positiven Einheitscharakter haben, um als ein bestimmter gedacht zu werden (Sophistes 237 C 7 – D 10; vgl. Test. Plat. 22 B = Alexander, In Metaph. 56, 30–31). Da Sein für Platon eben Bestimmtheit bedeutet, 20 ist jedes vollständig bestimmte Etwas damit auch schon als seiend im Sinne einer Idee gedacht, während das Nichtseiende ein Unbestimmtes bleibt und eben aufgrund seiner Unbestimmtheit nichtseiend ist. Wird das Nichtsein dagegen selber als ein positiv Bestimmtes gedacht, so ist es die Idee der Verschiedenheit, die selber eine Seiendheit (οὐσία) ist (Sophistes 258 B 2). Wenn ferner die Einheit von etwas der Grund seines Seins ist, dann ist jedes etwas auch in dem Grade seiend, indem es Eines ist. Je einheitlicher etwas ist, desto seiender (μᾶλλον ὄν, Politeia 515 D 3) ist es dann auch. Erst sein henologischer Ansatz erlaubt Platon die Graduierung von Sein, die der Eleatismus noch nicht kennt. Einheit als Grund des Seins generiert den ontologischen Komparativ und damit die Grundlage der Ideenlehre, der zufolge die einheitliche Wesenheit von etwas seiender ist als ihre vielen individuellen Instanziierungen, und zwar genau darum, weil die eine Schönheit selbst oder die eine Gerechtigkeit selbst den vielen Fällen erscheinender Schönheit oder Gerechtigkeit als die Zusammenhangs von Denken und Sein, der in der Selbstreflexion des Denkens selbst entdeckt wird. 19 Vgl. die Argumentation des Aristo­teles für die Unbestreitbarkeit des Satzes vom Widerspruch Metaphysik IV 4. Daß nicht das Widerspruchsaxiom, sondern der Einheitsvorgriff das grundlegendste und sicherste Denkprinzip ist, zeigt gegen Aristo­teles Plotin, Enneade VI 5, 1–2. Dazu auch unten Kapitel XVI. 20 Vgl. die grundlegende Untersuchung von Uvo Hölscher, Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie, Heidelberg 1976 (= Sinn von Sein) und ferner – auch zum Folgenden – Schmitt, Denken und Sein bei Platon und Descartes, bes. 111 ff.

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diese Vielheit begründende Einheit zugrunde liegt (Politeia 476 A, 479 A – 480 A, 507 B).

4. Die absolute Transzendenz des Einen Aus der Grundeinsicht, daß das Eine der Grund des Seins wie des Denkens und ihres Zusammenhangs ist, entwickelt Platon die für ihn charakteristische radikale Transzendenz des Einen und seine Auslegung in negativer Dialektik. 21 Platon tut das in kritischer Auseinandersetzung mit dem Eleatismus, mit dem er jene Grundeinsicht teilt. 22 Parmenides hatte das Eine mit dem im Denken erfaßten reinen Sein gleichgesetzt und dieses Eine Sein als ein Ganzes, als Totalität konzipiert (Fr. 8, 4–6 DK). Aus dieser Gleichsetzung des Einen mit dem Sein und dem Ganzen ergibt sich eine Spannung, die den eleatischen Einheitsgedanken von innen her aufsprengt, sobald man das Eine an sich selbst als reine Einheit denkt. Parmenides konnte das Eine Sein nur so denken, daß er es als ein inhaltlich positiv Bestimmtes durch eine Vielheit von unterschiedenen, aber zugleich konstitutiv aufeinander bezogenen ontologischen Bestimmungen wie Einheit, Ganzheit, Identität, Gleichheit mit sich, Ruhe, Abgeschlossenheit, Vollendung usw. gedacht hatte (Fr. 8 DK). Diese vielen Bestimmungen konstituieren zusammen das Sein als die Einheit eines Ganzen seiner Bestimmungen. Als ein solches Ganzes aber ist es eine Einheit, die ebensosehr Vielheit ist, so Platon gegen Parmenides (Sophistes 244 B – 245 D). Die Vielheit und Unterschiedenheit der σήματα des Seins, also der grundlegenden Seinsbestimmungen, kann dabei nicht als eine rein begriffliche genommen werden, wenn man mit Parmenides und Platon an der Sachhaltigkeit unserer Denkbestimmungen festhalten will. Also kann das Eine selbst als absolut vielheitslose, reine Einheit weder mit dem Ganzen noch mit dem Sein identisch sein (Sophistes 245 A; Parmenides 137 CD, 141 E). Das Eine ist vielmehr als Ursprung des Seins selber jenseits des Seins und aller Seinsbestimmungen, so Platon gegen Parmenides (Test. Plat. 50; vgl. Politeia 509 B). Weil Platon dabei an der von Parmenides entdeckten Einsicht festhält, daß Einheit das Fundament von Denken und Sein ist, das die Sachhaltigkeit unserer Denkbestimmungen garantiert, beansprucht er zu recht, daß seine Kritik an Parmenides kein Vatermord ist (Sophistes 241 D). Mit der eleatischen All-Einheit löst sich zugleich die Symmetrie der grundlegenden Denkbestimmungen in ein fundamental asymmetrisches Verhältnis auf. Platon zeigt im Parmenides-Dialog wie im Sophistes (244 B ff), was die in21 

Dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, Teil II. Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, Kapitel V; ders., „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“. 22  Dazu

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nerakademischen Zeugnisse (bes. Test. Plat. 22 B; 32; 39 A; 39 B; 40 A; 40 B; 41 A; 41 B; 42 A; 42 B; 55 A) weiter erhärten: Alle Fundamentalbestimmungen des Denkens wie Sein und Ganzheit, Identität und Verschiedenheit, Ruhe und Bewegung, Gleichheit und Ungleichheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit usw. stehen in einer gleichermaßen notwendigen wie asymmetrischen Beziehung zum Gedanken des Einen. Denn Bestimmtheit ist nur als Einheit denkbar. Das Eine setzt als solches aber keinerlei weitere Bestimmung vor­aus, weder das Sein noch das Ganze oder die Identität (Sophistes 245 A; Parmenides 137 C – 141 E; Test. Plat. 50); es ist von ihnen allen unabhängig und kann genau darum ihr Prinzip sein. Wie Plotin ergänzend gezeigt hat, gilt das auch für das Verhältnis des Denkens selber zum Einen: denn wenn jeder Denkakt nur als Einheit vollziehbar ist, dann setzt er das Eine damit schon vor­aus, das also Prinzip des Denkens ist und nicht dessen Setzung, die auf den Vollzug des Denkens angewiesen wäre (Enneade VI 6, 13). Das Eine ist also dasjenige, das von allem anderen vor­ausgesetzt wird, ohne selbst irgend etwas anderes vor­auszusetzen; genau darum ist es die ἀνυπόθετος ἀρχή. Dagegen sind die genannten Fundamentalbestimmungen für Platon nur noch Charaktere des Seins, aber nicht mehr auch Charaktere des Einen wie für Parmenides; sie explizieren nicht das Eine, sondern manifestieren es nur in der Vielheit und sind darum die höchsten und allgemeinsten Ideen, die μέγιστα γένη, als die ersten Prinzipiate des Einen, die alle übrigen Ideen in ihrer Seinsstruktur bestimmen. Soll nun aber das Eine selbst in seiner Absolutheit gedacht werden, so zeigt sich eine Schwierigkeit, die zur Ausbildung einer negativen Theologie oder Henologie zwingt. Denn das Denken bewegt sich immer schon im Zusammenhang seiner Fundamentalbestimmungen und insofern in der Vielheit; anders als im Zusammenhang dieser Vielheit kann inhaltlich positiv Bestimmtes gar nicht gedacht werden. Also kann das Eine selbst als das Prinzip der Einheit dieses Zusammenhangs, das selber nicht mehr durch ihn bedingt ist, überhaupt nur noch so gedacht werden, daß Es Selbst durch konsequente Verneinung aus diesem Zusammenhang herausgenommen wird. Platon führt das in der ersten Hypothesis seines Parmenides-Dialogs vor (137 C – 142 A). 23 Wird das Eine nur in sich selbst betrachtet, dann weist es als reine Einheit jedwede Bestimmung strikt von sich ab; es steht als solches jenseits aller Bestimmungen, weil jede denkbare Bestimmung es in die Vielheit hineinziehen würde. Man kann darum nichts von ihm aussagen, noch nicht einmal, daß es ist oder daß es Eines ist, weil es damit bereits eine Zweiheit wäre (141 E); die duale Struktur der Prädikation verfehlt prinzipiell die reine Einfachheit des Absoluten. Platon spricht dem absolut Einen darum systematisch alle Fundamentalbestimmungen ab, auch Sein, Einssein, Erkennbarkeit und Sagbarkeit 23 

Dazu eingehend Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 265–405.

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(141 E – 142 A; vgl. auch Test. Plat. 50, wohl bezogen auf die erste Hypothesis des Parmenides). 24 Das Absolute ist so verstanden „das Nichts alles dessen, dessen Ursprung Es ist, und zwar in der Weise, daß Es – da nichts von Ihm ausgesagt werden kann, weder Sein noch Seiendheit noch Leben – das all diesem Transzendente ist“ (Enneade III 8, 10, 28–31), so formuliert Plotin den Sachverhalt durchaus im Sinne Platons. Plotin hebt eigens hervor, was schon Platon gemeint hatte, daß nämlich die auf das jenseitige Eine bezogene Verneinung als Transzendenzaussage zu verstehen ist (vgl. z.B. auch Enneade V 5, 6), also nicht etwa bedeutet, daß dem Absoluten fehlt, was ihm abgesprochen wird. Denn das Eine ist ja der absolute Ursprung alles dessen, was ihm abgesprochen wird, so daß ihm seine eigenen Prinzipiate nicht fehlen können; wenn sie ihm in seiner reinen Einfachheit gleichwohl nicht zukommen, dann nur in dem Sinne, daß es sie transzendiert. Die Verneinung aller Bestimmungen vom Absoluten meint darum nicht die Leere, den absoluten Mangel, sondern die absolute Transzendenz, sie intendiert die positiv unsagbare und undenkbare Überfülle des Überseins. Weil die dem Einen entspringenden Fundamentalbestimmungen mit dem Sein zugleich auch positive Denkbarkeit allererst konstituieren, darum bedeutet die Seins­transzen­denz des absolut Einen zugleich seine Denk- und Erkenntnistranszendenz. Das Eine selbst ist ebensosehr jenseits des Geistes und der Erkenntnis (vgl. Politeia 508 E f; Parmenides 142 A; Aristo­teles, Περὶ εὐχῆς Fr. 1), wie es jenseits des Seins ist; es übersteigt den Zusammenhang von Denken und Sein, indem es das Prinzip dieses Zusammenhangs ist; und es begründet ihn gerade kraft seiner Transzendenz. Darum muß sich das Denken in seiner Beziehung zum Absoluten selbst übersteigen, was letztlich zur Mystik führt, eine Konsequenz, die vielleicht erst Plotin mit aller Entschiedenheit gezogen hat, die sich aber aus Platons Konzeption des Absoluten folgerichtig ergibt.

5. Das zweite Prinzip Aus der reinen Transzendenz des Absoluten ergibt sich nun das zweite unterscheidende Charakteristikum der Platonischen Metaphysik des Einen, nämlich die Ansetzung eines zweiten Prinzips als Grund der Vielheit. Weil das Eine selbst in seiner Absolutheit alle Denkbarkeit radikal transzendiert, darum ist das Denken auch nicht imstande, die Prinzipiate des Einen, das Sein und die Vielheit seiner Fundamentalbestimmungen, auf eine begrifflich vollziehbare Weise aus dem Einen selbst abzuleiten. Denn das Eine selbst entzieht sich in seiner Transzendenz dem Denken radikal. Vom Übersein des Absoluten führt kein konstruktiver Rückweg zurück zum Sein. Das einzige Zeug24 Vgl.

dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282 ff sowie unten Kapitel XI.

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nis, das über das Motiv Platons zur Einführung seines zweiten Prinzips Aufschluß gibt, sagt das ausdrücklich: Speusipp, Platons Neffe und Nachfolger, berichtet – wobei er Platons ­Lehre den „Alten“, also wohl den Pythagoreern zuschreibt25 –: Sie glauben nämlich, das Eine selbst sei über das Sein erhaben und Vonwoher des Seins, und sie haben Es sogar von der Verhältnisbestimmung als Ursprung befreit. Weil sie aber meinen, daß nichts von den anderen Dingen entstünde, wenn man (nur) das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestimmungen, rein an sich selbst zugrunde legt, ohne Ihm irgend ein zweites Element hinzuzusetzen, darum haben sie (auch) die unbestimmte Zweiheit als Ursprung der Seienden eingeführt. 26

Platon nimmt also ein zweites Prinzip nach dem Einen an, 27 um mit dessen Hilfe die Prinzipiate, also das Seiende in seiner Vielheit, ableiten zu können. Dieses zweite Prinzip erfüllt seine Funktion dann und nur dann, wenn es spezifisch das generiert, was die reine Einheit absolut von sich ausschließt: nämlich eben die Vielheit. Das Prinzip der Vielheit kann freilich selbst kein schon bestimmtes Vieles sein, sondern es ist als solches unbestimmt und als Unbestimmtes auch nicht seiend, sondern vorseiend, aber freilich nicht überseiend wie das Eine selbst, sondern als unbestimmte Vielheit bloße Seinslatenz (vgl. Test. Plat. 31). Platon nennt dieses Vielheitsprinzip die „unbestimmte Zweiheit“ (ἀόριστος δυάς), weil Ent-zweiung seine grundlegende, Vielheit allererst generierende Wirkungsweise ist (Aristo­teles, Metaphysik 1082 a 13–15 = Test. Plat. 60; Alexander, In Metaph. 57, 4 = Test. Plat. 22 B; Test. Plat. 32 §§ 276–277; vgl. Parmenides 143 A 1). Der Parmenides-Dialog zeigt übereinstimmend mit den innerakademischen Zeugnissen, wie allein aus dem Zusammenwirken des Einen mit einem 25  So

Walter Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962 (= Weisheit und Wissenschaft), 56 f. 26 Proklos, In Parm. VII 40, 1–5 (= Speusipp, Fr. 62 Isnardi Parente = Test. Plat. 50 Gaiser): „Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens, et ab ea que secundum principium habitudine ipsum liberaverunt. Existimantes autem quod, si quis le unum ipsum seorsum et solum meditatum, sine aliis, secundem se ipsum ponat, nullum alterum elementum ipsi apponens, nichil utique fiet aliorum, interminabilem dualitatem entium principium induxerunt.“ – Proklos zitiert Speusipp hier verbatim, wie er selbst betont, 40, 1 (Vgl. auch die Rekonstruktion des griechischen Originals von Friedrich Rumbach bei Steel, 501, 4–9 = Procli in Platonis Parmenidem Commentaria III, 289–291). Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282 ff. 27  Proklos referiert das ausdrücklich: „Quare testatur et iste (sc. Speusippus) hanc esse antiquorum opionem de Uno, quod ultra ens sursum raptum est et quod post Unum interminabilis dualitas.“ (In Parm. VII 40, 6) – Auch wenn Proklos hier nicht mehr verbatim zitiert, berichtet er dies ausdrücklich als von Speusipp so referiert, weshalb Gaiser den Satz zu Recht in den Text von Test. Plat. 50 aufgenommen hat. Er paraphrasiert nicht einfach das zuvor im Wortlaut zitierte Fragment, sondern bringt eine darüber hin­ausgehende Information, die eigenen Quellenwert besitzt, da Proklos das Werk Speusipps, aus dem er zitiert und referiert, offenbar noch vorlag, ähnlich wie ein halbes Jahrhundert später Simplikios das Lehrgedicht des Parmenides.

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ent-zweiend wirksamen Zweiten alle ontologischen Fundamentalbestimmungen hervorgehen, welche die Struktur des Ideenreiches und damit die ganze Welt des Seienden konstituieren. Die Konstitution des intelligiblen Seins erscheint dabei einerseits vom Vielheitsprinzip aus als die Einheit und Bestimmtheit setzende Begrenzung der unbegrenzten Vielheit durch die Übermacht des Einen (Parmenides 157 C – 158 D mit Test. Plat. 32 § 277) und andererseits vom Einheitsgrund aus als die Entfaltung des Einen in die Vielheit durch die entzweiende Wirksamkeit des zweiten Prinzips (Parmenides 142 E ff mit Test. Plat. 32 § 277). Der Konstitutionsvorgang ist dabei so zu verstehen, daß das Eine nicht in sich selbst Bestimmtheit und Grenze annimmt, sondern sie kraft seiner Überfülle an Dynamis ausschließlich in seinen Prinzipiaten setzt (vgl. Parmenides 158 A 1–7). Die an sich selbst unbestimmte und nichtige Vielheit wird durch die Einheit-setzende Übermacht des Einen aus ihrer unbestimmten Nichtigkeit zu Bestimmtheit und Sein erhoben, und dabei artikuliert sie ihre Bestimmtheit in sich selbst, indem sie ihr Sein entzweiend vervielfältigt und sich damit erst als seiende Vielheit selbst aktualisiert. Umgekehrt zeigt sich die Artikulation der Bestimmtheit des Seins in sich selbst als die entzweiende Ausfaltung seiner ursprünglichen, vom absoluten Einen gesetzten Einheit in die seiende Vielheit seiner Bestimmungen, erscheint also als eine Entfaltung des Einen ins Viele, durch die das Eine aus dem Übersein ins Sein absteigt. Die Konstitution des Seins ist so zugleich und in einem die Erhebung der Vielheit ins Sein durch ihre Einung in eine Einheit und der Abstieg des Einen ins Sein durch seine Entfaltung in eine Vielheit. Dieser Abstieg und diese Entfaltung ist freilich so zu verstehen, daß das Eine als Es selbst unentfaltet jenseits des Seins bleibt, seine Transzendenz also bewahrt und gerade kraft ihrer nur in seinen Prinzipiaten Sein annimmt, so daß das seiende Eine – die Totalität der Ideen – nur die Manifestation des überseienden Absoluten ist.

6. Monismus oder Dualismus? Das wohl schwierigste Problem der Platonischen Metaphysik ist nun die genauere Bestimmung des Verhältnisses, in dem die beiden universalen Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit zueinander stehen. 28 Aus dem Gesagten ist bereits deutlich, daß das zweite Prinzip kein zweites Absolutes ist, Platon also keinen radikalen Dualismus vertritt. Die unbestimmte Zweiheit ist vielmehr erst das Zweite nach dem Einen selbst (Test. Plat. 50) und eben damit kein ἀνυπόθετον. Platon führt sie nur ein, weil die absolute 28  So ausdrücklich Gaiser, Platons Ungeschriebene ­L ehre, 12 f; zum Folgenden eingehender unten Kapitel VIII.

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Transzendenz des Einen eine konstruktive Herleitung des Seins aus dem Einen verwehrt. Und sie ist in sich selbst unbestimmt, als bloße Seinslatenz an sich nichtig und unwirksam (Test. Plat. 31). Erst die Übermacht des Einen erhebt sie ins Sein und ermächtigt sie zu ihrer entzweienden, das Sein artikulierend aufschließenden und entfaltenden Wirksamkeit. So ist die unbestimmte Zweiheit nur die an sich selbst nichtige Entfaltungsbasis des Einen, dem sie alle Kraft und Wirksamkeit verdankt, denn ihre entzweiende Wirksamkeit vollzieht sich immer nur an einer Einheit, die sie entzweit, und der Akt der Entzweiung führt seinerseits wiederum immer nur zu Einheit, wenn auch zu einer Vielheit von Einheiten (vgl. Parmenides 142 D ff), so daß die Dynamis des Einen die seines Gegenprinzips sowohl ermöglicht als auch übergreift. Gleichwohl ist dieses Gegenprinzip eben damit für alles Seiende mitkonstitutiv und aus dem Einen begrifflich nicht ableitbar. Das Verhältnis der unbestimmten Zweiheit zum Einen läßt sich prinzipiell in drei verschiedene Richtungen deuten. Man kann erstens aus der begrifflichen Unableitbarkeit des Vielheitsprinzips auf eine metaphysisch irreduzible Dualität der Prinzipien schließen, die freilich den absoluten Vorrang des Einen weder aufheben noch einschränken darf. 29 Zweitens kann man die unbestimmte Zweiheit als eine Art von Selbstexplikation des Einen deuten, die freilich dessen absolute Einheit nicht aufheben darf.30 Und drittens kann man annehmen, daß die unbestimmte Zweiheit ursprünglich auf eine begrifflich nicht explizierbare Weise aus der Überfülle des Einen hervorgeht, wobei der Urakt dieses Hervorgangs selbst im strengen Sinne unvordenklich und unbegreiflich bleibt.31 Zwischen diesen drei Optionen ist eine sichere Entscheidung wohl nicht möglich, da unsere Quellen zu unbestimmt sind, um eine von ihnen zu erzwingen oder mit Sicherheit auszuschließen. Gleichwohl legt die Wirkungsgeschichte die dritte Option nahe, für die mir die meisten und besten Indizien zu sprechen scheinen und die systematisch mit den wenigsten Aporien belastet ist. Gegen eine metaphysisch irreduzible Dualität der Prinzipien spricht nämlich vor allem, daß die unbestimmte Zweiheit als Prinzip selber eine Einheit sein muß. Aristo­teles berichtet sogar, Platon habe sie als eine zugleich begriffliche und numerische Einheit konzipiert, ohne zwischen ihrer begrifflichen und ihrer numerischen Einheit überhaupt zu unterscheiden (Metaphysik 1087 b 9–12 = Test. Plat. 49; vgl. Philebos 23 E 4–6, 25 A 1–4, 25 C 10 f). Als Einheit ist die 29  Diese Lösung vertreten Wilpert, Zwei aristotelische Frühschriften, bes. 173 ff; Happ, Hyle, bes. 141 ff.; Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, bes. 205 ff. 30  Für diese Deutung plädieren Gaiser, Platons Ungeschriebene ­L ehre, bes. 12 f, 27, 200; Vittorio Hösle, Wahrheit und Geschichte. Studien zur Struktur der Philosophiegeschichte unter paradigmatischer Analyse der Entwicklung von Parmenides bis Platon, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984 (= Wahrheit und Geschichte), 478–490; vgl. schon Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Bd. 18, 242 ff. 31  So unten Kapitel VIII.

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unbestimmte Zweiheit aber selber ein Prinzipiat des Einen. Darüber hin­aus ist auch das Zusammenwirken der beiden Prinzipien eine Form von Einheit und bedarf eines einigenden Grundes (vgl. Philebos 27 B mit 30 AB; Aristo­teles, Metaphysik 1075 b 17–20), der nur das Eine selbst sein kann. Ferner konstituieren die Prinzipien das Sein als die Einheit eines Ganzen (ἓν ὅλον, Parmenides 157 E 4, 158 A 7), als das seiende Eine, in dem alle entfaltete Vielheit einbegriffen bleibt. Nähme man nun an, daß der Koordination der Prinzipien ihre ursprünglich irreduzible Dualität vor­ausginge, so ginge die Zweiheit der Einheit vor­aus, was nicht nur für Platon, sondern auch in der Sache undenkbar ist. Dagegen findet sich die Deutung der unbestimmten Zweiheit als Selbstexplikation des Einen in einem unserer wichtigsten Zeugnisse, dem wahrscheinlich auf Xenokrates zurückgehenden Bericht bei Sextus Empiricus (Test. Plat. 32 § 261).32 Sie erscheint dort aber als zirkulär, da die unbestimmte Zweiheit aus der Selbstunterscheidung und Selbstentzweiung des Einen hervorgehen soll, Unterschied und Entzweiung aber selber Prinzipiate der Zweiheit sind. Außerdem ist eine immanente Selbstunterscheidung des Einen mit seiner reinen Einheit unvereinbar und wird dem absoluten Einen von Platon ausdrücklich abgesprochen (Parmenides 139 B 4 ff). Dagegen bietet die dritte Option eine sachlich befriedigende Lösung: ein unvordenklicher und unbegreiflicher Hervorgang des Vielheitsprinzips aus der Überfülle des Einen, wobei dieses sich nicht in sich selbst unterscheidet, sondern seine Überfülle nur ad extra manifestiert. Daß nicht erst Plotin (Enneade V 1, 5, 6 ff),33 sondern schon Platon so dachte, läßt sich nicht beweisen, es scheint sich aber aus der inneren Konsequenz seiner Absolutsetzung des Einen zu ergeben. Zudem gibt es eine Reihe von Indizien, von denen ich nur die wichtigsten nenne. Platon spricht im „Sonnengleichnis“ von der Sein-setzenden Übermacht des Absoluten (δυνάμει ὑπερέχοντος, Politeia 509 B 9 f), und er gebraucht dafür bereits die Metapher der Emanation. Denn wenn das Auge seine Sehkraft „wie eine Emanation“ (ὥσπερ ἐπίρρυτον, 508 B 7) der Sonne besitzt, dann ist der erkennende Geist in strenger Analogie dazu eine Emanation des Absoluten; Sein und Wahrheit „scheinen“ (καταλάμπει, 508 D 5) dem Gleichnis zufolge auf analoge Weise aus dem Übersein des Absoluten hervor wie das Licht aus der Überhelle der Sonne. Auch die Rede vom Ursprung als Quelle (πηγή) im Phaidros (245 C 9) verweist auf die Emanation, die freilich nur ein analoges Bild für einen begrifflich nicht faßbaren Ursprungsakt sein kann, eine absolute Metapher, die einen unvordenklichen Akt ursprünglichen Hervorgehens vorstellt, ohne 32  Auf Xenokrates zurückgeführt von Konrad Gaiser, „Quellenkritische Probleme der indirekten Platonüberlieferung“, in: Hans-Georg Gadamer/Wolfgang Schadewaldt (Hgg.), Idee und Zahl. Studien zur platonischen Philosophie, Heidelberg 1968, 31–84 (= Quellenkritische Probleme der indirekten Platonüberlieferung), bes. 38, 78, 80. 33  Dazu unten Kapitel IX.

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ihn zu begreifen. Von einem „Hervorgehen der Wirklichkeit des Seienden“ aus dem Übersein des Einen spricht auch Speusipp in zwei Fragmenten (Fr. 58 und 72 Isnardi Parente). Daß Platon und Speusipp die ursprüngliche Setzung des Seins durch die Metaphern des Überfließens und Hervorgehens vorstellen, spricht entschieden dafür, daß auch die unbestimmte Zweiheit selber in dieser Weise aus dem Übersein des Einen hervorgeht. Denn das Bild vom Überfließen und Hervorgehen setzt kein Substrat vor­aus, an dem sich der ursprünglich Sein-setzende Akt vollzieht, wie das bei den begrifflichen Verhältnissen der Bestimmung des Unbestimmten und der Einung der Vielheit der Fall ist, sondern es schließt ein solches Substrat gerade aus. Diese begrifflichen Verhältnisse, in denen die Konstitution des Seins dialektisch begriffen wird, scheinen darum jenen in ungleicher Analogie nur bildlich vorstellbaren, aber nicht begreifbaren Ursprungsakt schon vor­ auszusetzen. Platons Metaphysik des Einen ist die erste vollständig entfaltete und in sich konsistente Theorie des Absoluten in der Geschichte des westlichen Denkens. Sie bleibt nicht archaisch unentwickelt wie der Eleatismus, die einzige überhaupt vergleichbare Vorgängertheorie, deren ganzes Potential erst Platons nicht-vatermörderische Kritik fruchtbar macht. Aus Platons Theorie des Absoluten speist sich der Neuplatonismus und sie ist systematisch anschließbar an Cusa­ nus wie an die Spätphilosophien von Fichte und Schelling. Damit bleibt sie über ihre eminente historische Bedeutung hin­aus eine lebendige philosophische Option, deren Einsichten aktuell sind, mögen sie dem Zeitgeist auch noch so sehr widersprechen.

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VII.

Platons unbestimmte Zweiheit Das zweite Prinzip in Platons ungeschriebener Prinzipienphilosophie, die „unbestimmte Zweiheit“ (ἀόριστος δυάς),1 ist das Prinzip des Mehr oder Weniger, des Größer und Kleiner, und damit das Prinzip aller Relativität und Graduierung. Als Ursprung von Mehr und Weniger ist die unbestimmte Zweiheit in sich selbst der Inbegriff der Unbestimmtheit des Mehr oder Weniger: sie ist die reine Unbestimmtheit nicht einfach als Abwesenheit von Bestimmtheit, sondern als die unbestimmte Richtungsdualität zum Größeren und Kleineren, zum Mehr und Weniger hin. Genau diesen Charakter zeigt auch ihr Name an: sie ist die unbestimmte Zweiheit des Großen und zugleich Kleinen. Da jede Hinsichtenunterscheidung sie schon zu einem Bestimmten machen würde, sind die Relativa von Mehr und Weniger, Groß und Klein auf ununterschiedene und ununterscheidbare Weise in ihr zugleich und in eins. Genau dieser Charakter der unbestimmten Zweiheit bedeutet aber, daß sie auch Prinzip oder Ursprung nur mehr oder weniger ist, in einem eingeschränkten und relativen Sinne, nicht im absoluten Sinne wie das überseiende Eine. Die unbestimmte Zweiheit ist zwar Prinzip des Seienden wie das Eine; ohne sie ist die ontologische Struktur des Seienden nicht zu denken. Aber sie ist Prinzip des Seienden nur im Zusammenwirken mit dem Einen, das allein Sein und Bestimmtheit setzt; und sie ist darüber hin­aus nur das zweite Prinzip nach dem Einen, das das Eine als das absolut Ursprüngliche immer schon vor­aussetzt.

1. Mehr und weniger als Prinzip Betrachten wir zunächst die unbestimmte Zweiheit als Prinzip des Mehr oder Weniger, als Ursprung von Graduierung und Relativität. Dazu empfiehlt es sich, von einem Zeugnis auszugehen, das der Neuplatoniker Simplikios in sei1  Grundlegend zu Platons zweitem Prinzip und zum altakademischen Materialprinzip ist unverändert das Standardwerk von Happ, Hyle, 85–208. – Weitere Werke von grundlegender Bedeutung sind Robin, La théorie platonicienne; Gaiser, Platons ungeschriebene ­Lehre; Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles; ders., Ursprung der Geistmetaphysik; ders., Platone e i fondamenti della metafisica; Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons; Marie Dominique Richard, L’enseignement oral de Platon. Une nouvelle interprétation du platonisme, Paris 1986, 2. Aufl. 2006 (= L’enseignement oral de Platon).

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

nem Kommentar zur Physik des Aristo­teles überliefert hat. Es handelt sich um einen Bericht des Platonschülers Hermodor, den Simplikios im Wortlaut zitiert. 2 2 Simplikios, In Aristotelis physicam 247, 30–248, 20 Diels = Hermodor, Fragment 7 Isnardi Parente (Test. Plat. 31 Gaiser): ἐπειδὴ πολλαχοῦ μέμνηται τοῦ Πλάτωνος ὁ Ἀριστοτέλης ὡς τὴν ὕλην μέγα καὶ μικρὸν λέγοντος, ἰστέον ὅτι Πορφύριος ἱστορεῖ τὸν Δερκυλλίδην ἐν τῷ ῑᾱ τῆς Πλάτωνος φιλοσοφίας, ἔνθα περὶ ὕλης ποιεῖται τὸν λόγον, Ἑρμοδώρου τοῦ Πλάτωνος ἑταίρου λέξιν παραγράφειν ἐκ τῆς περὶ Πλάτωνος αὐτοῦ συγγραφῆς, ἐξ ἧς δηλοῦται ὅτι τὴν ὕλην ὁ Πλάτων κατὰ τὸ ἄπειρον καὶ ἀόριστον ὑποτιθέμενος ἀπ᾿ ἐκείνων αὐτὴν ἐδήλου τῶν τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον ἐπιδεχομένων, ὧν καὶ τὸ μέγα καὶ τὸ μικρόν ἐστιν. εἰπὼν γὰρ ὅτι „τῶν ὄντων τὰ μὲν καθ᾿ αὑτὰ εἶναι λέγει ὡς ἄνθρωπον καὶ ἵππον, τὰ δὲ πρὸς ἕτερα, καὶ τούτων τὰ μὲν ὡς πρὸς ἐναντία ὡς ἀγαθὸν κακῷ, τὰ δὲ ὡς πρός τι, καὶ τούτων τὰ μὲν ὡς ὡρισμένα, τὰ δὲ ὡς ἀόριστα“ ἐπάγει „καὶ τὰ μὲν ὡς μέγα πρὸς μικρὸν λεγόμενα πάντα ἔχειν τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον, ἔστι μᾶλλον εἶναι μεῖζον καὶ ἔλαττον εἰς ἄπειρον φερόμενα· ὡσαύτως δὲ καὶ πλατύτερον καὶ στενότερον καὶ βαρύτερον καὶ κουφότερον καὶ πάντα τὰ οὕτως λεγόμενα εἰς ἄπειρον οἰσθήσεται. τὰ δὲ ὡς τὸ ἴσον καὶ τὸ μένον καὶ τὸ ἡρμοσμένον λεγόμενα οὐκ ἔχειν τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον, τὰ δὲ ἐναντία τούτων ἔχειν. ἔστι γὰρ μᾶλλον ἄνισον ἀνίσου καὶ κινούμενον κινουμένου καὶ ἀνάρμοστον ἀναρμόστου. ὥστε αὐτῶν ἀμφοτέρων τῶν συζυγιῶν πάντα πλὴν τοῦ ἑνὸς στοιχείου τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον δεδεγμένον . ὥστε ἄστατον καὶ ἄμορφον καὶ ἄπειρον καὶ οὐκ ὂν τὸ τοιοῦτον λέγεσθαι κατὰ ἀπόφασιν τοῦ ὄντος. τῷ τοιούτῳ δὲ οὐ προσήκειν οὔτε ἀρχῆς οὔτε οὐσίας, ἀλλ᾿ ἐν ἀκρασίᾳ τινὶ φέρεσθαι. δηλοῖ γὰρ ὡς ὃν τρόπον τὸ αἴτιον κυρίως καὶ διαφέροντι τρόπῳ τὸ ποιοῦν ἐστιν, οὕτως καὶ ἀρχή, ἡ δὲ ὕλη οὐκ ἀρχή. διὸ καὶ τοῖς περὶ Πλάτωνα ἐλέγετο μία, ὅτι ἡ ἀρχή“. ἀλλὰ τοῦ μὲν μὴ εἶναι ἀρχὴν τὴν ὕλην κατὰ Πλάτωνα ὀλίγον ὕστερον δεησόμεθα· πῶς δὲ μέγα καὶ μικρὸν καὶ μὴ ὂν ἔλεγε τὴν ὕλην ὁ Πλάτων, ἐκ τούτων οἶμαι δῆλον γεγονέναι.   „Da Aristo­teles an vielen Stellen erwähnt, daß Platon die Materie als das Große und Kleine bezeichnet, muß man folgendes wissen: Porphyrios berichtet, daß Derkylides im elften Buch seiner Philosophie Platons, wo er von der Materie handelt, ein wörtliches Zitat von Platons Schüler Hermodoros aus dessen Schrift Über Platon anführt, aus welchem klar hervorgeht, daß Platon die Materie im Sinne des Unbegrenzten und Unbestimmten ansetzte und sie von dem her aufzeigte, was das Mehr und das Weniger annimmt, wozu auch das Große und das Kleine gehört. Denn Hermodoros sagt: Platon lehrt, daß von dem Seienden das eine an sich selbst existiert, wie Mensch und Pferd, während das andere auf anderes bezogen ist, und zwar zum Teil in der Weise der Entgegensetzung, wie das Gute auf das Schlechte, zum anderen Teil aber in der Weise der Relation, wobei von den Relationen die einen bestimmt und die anderen unbestimmt sind. Dann fährt er fort: Und alles, was durch eine Relation gedacht wird, wie das Große in Relation zum Kleinen, enthalte das Mehr und das Weniger in sich. Denn es kann in höherem Maße größer und kleiner sein, und zwar bis ins Unendliche. In gleicher Weise steigere sich auch das Breitere und das Schmalere, das Schwerere und das Leichtere und überhaupt alles, was in diesem Sinne gedacht wird, bis ins Unendliche. Dagegen enthalte das, was in dem Sinne gedacht wird wie das Gleiche und das Insichbleibende und das Stimmige das Mehr und das Weniger nicht in sich, während das diesem Entgegengesetzte es enthält. Denn es kann etwas noch ungleicher sein als anderes Ungleiches und noch bewegter als anderes Bewegtes und noch unstimmiger als anderes Unstimmiges, so daß von diesen beiden Reihen (also den Gegensätzen und den Relationen) jedes Glied außer der einen Reihe das Mehr und das Weniger aufgenommen habe und in sich enthalte. Darum werde das, was so beschaffen sei, als unbeständig und gestaltlos und unbegrenzt und als nichtseiend im Sinne der Negation des Seins gedacht. Diesem aber komme es weder zu, Ursprung (Urgrund) noch Sein (Substanz) zu sein, sondern nur eine Art Schweben in Unbestimmtheit (Unentschiedenheit). Platon macht nämlich klar, daß in dem Sinne, in dem das Schaffende eigentlich und in ausgezeichneter Weise Grund ist, es so auch Ursprung sei, während die Materie nicht Ursprung sei.

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Hermodor, der zu Platons engeren Schülern gehörte, verfaßte ein Buch ­ ehrers auch dessen PhiÜber Platon, in dem er neben der Biographie seines L losophie darstellte, und zwar gerade die innerakademische ­Lehre. Hermodors Buch wurde im ersten vorchristlichen Jahrhundert von dem Philosophiehistoriker Derkylides in seinem umfangreichen, mindestens 11 Bücher umfassenden Werk über Platons Philosophie benutzt. Im elften Buch dieses Werkes behan­ ehre von der Materie und der unbestimmten Zweidelte Derkylides Platons L heit als Materialprinzip. Deren Charakterisierung bei Hermodor schrieb Der­ ky­lides wörtlich aus. Als der Neuplatoniker Porphyrios im 3. Jahrhundert n. Chr. seinen umfangreichen Traktat Über die Materie verfaßte, benutzte er das ihm noch vorliegende Platonwerk des Derkylides, während ihm das Buch Hermodors selber offenbar nicht mehr zugänglich war. Porphyrios wollte in seiner Abhandlung zwei wesentliche Einsichten darlegen: es ging ihm erstens darum zu zeigen, daß die Materie nicht nur die materielle Welt der wechselnden Erscheinungen mitbegründet, sondern daß auch die intelligible Welt der ewigen Ideen in ihrer ontologischen Struktur nur zu verstehen ist, wenn sich in ihr ebenfalls eine Art von Materie aufweisen läßt, nämlich eine intelligible Materie (ὕλη νοητή) als Prinzip der Vielheit und Verschiedenheit der einzelnen Ideen. Als ontologisches Prinzip hat die Materie für Porphyrios darum universale Bedeutung. Gleichwohl – und das ist der zweite Punkt, auf den es Porphyrios ankam – ist die Materie als Prinzip nicht absolut, sondern in ihrer Grundlegungsfunktion selber abhängig von dem Einen als dem einzigen absoluten Prinzip. Es ging Porphyrios also darum, einerseits die Seinsstruktur auf eine Bipolarität zweier Prinzipien hin zu analysieren, dabei zugleich aber einen Dualismus zweier gleich­ursprünglicher und gleichmächtiger Prinzipien zu vermeiden.3 Als Platoniker war Porphyrios dabei der Nachweis wichtig, daß beides schon von Platon gelehrt wurde. Den wichtigsten historischen Beleg dafür fand Porphyrios im Platonwerk des Derkylides, und zwar in dem dort ausgeschriebenen Bericht Hermodors, den Porphyrios darum seinerseits wörtlich abschrieb. Simplikios wiederum wollte den Platonischen Hintergrund der Aristotelischen Materiekonzeption ausleuchten; dazu benutzte er Porphyrios’ Materieschrift und zitierte aus ihr den Bericht Hermodors wörtlich. Simplikios zitiert Hermodor, der sein Platonbuch 900 Jahre früher geschrieben hatte, also aus dritter Hand, aber er zitiert ihn im originalen Wortlaut, und er gibt die Überlieferung genau an, durch die er Zugang zu diesem Wortlaut hatte. An der Authentizität dieses Berichts ist darum nicht zu zweifeln. Darum sagten Platon und seine Schüler auch, daß es nur einen einzigen Urgrund gebe. Daß also die Materie für Platon kein Urgrund ist, darauf werden wir wenig später noch zurückkommen. In welchem Sinne Platon aber die Materie als Großes und Kleines und als Nichtseiendes bezeichnet hat, ist, glaube ich, aus dem Gesagten klar genug geworden.“ 3  Zur Metaphysik des Porphyrios und ihrer Beziehung zu Platon vgl. das vorzügliche Buch von Giuseppe Girgenti, Il pensiero forte di Porfirio, Milano 1996.

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Hermodor geht in seinem Bericht von jener Einteilung der Seinsarten aus, die wir auch aus anderen Berichten über Platons innerakademische ­Lehre kennen, besonders durch die Berichte von Sextus Empiricus (Test. Plat. 32) und Alexander von Aphrodisias (Test. Plat. 22 B). Die Einteilung der Seinsarten und ihre Zurückführung auf die Prinzipien ist somit durch drei voneinander unabhängige Überlieferungen für Platon belegt, nämlich durch Hermodor, der Platon selbst gehört hatte, durch den auf Aristo­teles zurückgehenden Bericht Alexanders und durch den wohl auf Xenokrates zurückgehenden Bericht des Sextus.4 Alle drei Berichte referieren eine Einteilung des Seienden in die beiden Seinsarten des An-Sich-Seienden (καθ’ αὑτό), d.h. der Wesenheiten oder Substanzen, die allein im absoluten Sinne Sein besitzen, und des nur bezugsweise Seienden (πρὸς ἕτερα), das nicht an und für sich selbst existiert, sondern nur bezogen auf die absolut seienden Substanzen. Alle drei Berichte unterteilen das bezugsweise Seiende dann weiter in die konträren Gegensätze (ἐναντία) wie das Gute und das Schlechte auf der einen und die Relationen im engeren Sinne (πρός τι) auf der anderen Seite. Allein Hermodor berichtet von der weiteren Zweiteilung der Relationen in bestimmte (ὡρισμένα) und unbestimmte (ἀόριστα), referiert in diesem Punkt also genauer als Alexander und Sextus. Die grundlegende Unterscheidung zwischen den Seinsarten des absolut und des relativ Seienden entspricht der Aristotelischen Unterscheidung zwischen selbständig existierenden Substanzen und unselbständigen Akzidentien, die auf einen substantiellen Träger angewiesen sind. Sogar Hermodors Beispiele für Substanzen, Mensch und Pferd, sind dieselben, die Aristo­teles in der Kategorienschrift (1 b 28) nennt – es handelt sich offenbar um akademische Standardbeispiele. Freilich wissen wir aus Platons Dialogen, vor allem aus dem Timaios (49 D ff), und aus dem 7. Brief (342 E ff), daß Platon anders als Aristo­teles keine sinnlichen und veränderlichen Substanzen angenommen hat. Substantiell oder an sich selbst seiend sind für Platon vielmehr nur die Ideen sowie die Zahlen und die unsterblichen Geistseelen, also allein geistige Wesenheiten. Hermodor meint mit „Mensch“ und „Pferd“ also deren Ideen und keine sinnlichen Einzelwesen. Die Unterscheidung zwischen substantiell und bezugsweise Seiendem fällt darum mit der ontologischen Grundunterscheidung Platons zwischen ewigem Intelligiblem und veränderlichen Erscheinungen zusammen.5 4  Die zuerst von Konrad Gaiser aufgestellte These, der Sextusbericht gehe (über eine hellenistische Zwischenquelle) auf Xenokrates zurück, wird eingehend untersucht und gesichert von Detlef Thiel, Die Philosophie des Xenokrates im Kontext der Alten Akademie, München/ Leipzig 2006 (= Die Philosophie des Xenokrates), 348–423. 5  Das hat Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, 282–318 m.E. überzeugend gezeigt. Anders Gaiser, Platons ungeschriebene L ­ ehre, spez. 131, der meint, daß sich die kategoriale Unterscheidung zwischen An-sich- und bezüglich Seiendem durch alle Seinsstufen hindurchziehe. Gaisers Deutung stößt jedoch auf zwei Schwierigkeiten: sie steht im Widerspruch zu Platons expliziter Aussage, es gebe im Bereich des Werdens kein substantielles Sein; und sie würde bedeuten, daß für Platon Ideen von Relativem wie die Idee der Anders-

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Aus dem Sextusbericht (§§ 266–267) kennen wir ferner das Kriterium für die weitere Einteilung des bezugsweise Seienden, das Gegensätze von Relationen unterscheidet: Gegensätze schließen einander aus, können also nicht zusammenbestehen, Relationen im engeren Sinne können dagegen nur zusammen bestehen: wer ein Glied aufhebt, hebt immer zugleich auch das andere Glied der Relation mit auf, während bei den Gegensätzen immer der eine den anderen aufhebt. Was gut oder gerecht ist, kann niemals zugleich und in derselben Hinsicht auch schlecht oder ungerecht sein; denn Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit ist das Fehlen des Guten und des Gerechten. Was dagegen groß ist, ist dies immer nur im Verhältnis zu einem Kleinen, was oben ist, immer nur im Verhältnis zu einem Unten; diese Verhältnisbestimmungen lassen sich nur zusammen denken. Sie besitzen darum ein geringeres Maß an Selbständigkeit und folglich auch an Sein als die Gegensätze. Aus dem Sextusbericht (§§ 269–275) wissen wir weiterhin, daß Platon von den Gegensätzen die Reihe der positiven Bestimmungen wie gut, schön oder gerecht über die Gattung des Gleichen auf das Eine zurückgeführt hat, die Reihe der negativen Bestimmungen wie schlecht, häßlich und ungerecht dagegen über die Ungleichheit des Mehr oder Weniger auf die unbestimmte Zweiheit. Das vollendet Gute, Schöne oder Gerechte kann nur entweder erfüllt oder verfehlt werden; als vollbestimmte Einheiten sind sie sich selbst gleich und lassen kein Mehr oder Weniger zu. Dagegen liegt das Wesen der Fehlbestimmungen wie schlecht, häßlich oder ungerecht gerade im Mehr oder Weniger. Denn gemessen am Maß des Guten und Gleichen bestehen die Fehlformen stets in einem Zuviel oder in einem Zuwenig. So ist z.B. die Feigheit ein Zuwenig an Mut und zugleich ein Zuviel an Furcht. Die negative Reihe der Gegensätze läßt darum anders als die positive Reihe immer ein Mehr oder Weniger zu, sie ist in sich selbst relativ und darum auch unbegrenzt graduierbar. Während die gerechte Staatsform für Platon nur eine ist, welche das rechte Maß an Einheit in der Vielheit realisiert, gibt es viele ungerechte Staatsformen, deren Ungerechtigkeit jeweils größer oder kleiner sein kann, je nach ihrem Zuviel und Zuwenig an Einheit und Vielheit, Ordnung und Freiheit; so ist für Platon die Tyrannis mit ihrem Übermaß an Uniformität noch ungerechter als die Demokratie mit ihrem Übermaß an Pluralität. Das Verhältnis von Zuviel und Zuwenig in den Fehlformen läßt sich unbegrenzt abstufen. Es gibt zu jeder Ungerechtigkeit immer noch ein Ungerechteres, zu jeder Größe immer noch ein Größeres, zu jeder Geschwindigkeit immer noch ein Schnelleres usw. bis ins Unendliche, ohne daß man je zu einem schlechthin Schnellsten, Größten oder Ungerechtesten käme. Dagegen kann nichts gerechter sein heit oder die Ideen des Großen und des Kleinen selber die Seinsart des Relativen haben – Platon betrachtet diese Ideen aber nach Ausweis aller einschlägigen Dialogstellen als an sich selbst seiende Wesenheiten wie alle anderen Ideen auch.

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als die Gerechtigkeit, nichts gleicher als die Gleichheit und nichts schöner als die Schönheit. Ihre nicht steigerbare Vollkommenheit besteht in ihrer Einheit, welche die Vielheit des Mehr oder Weniger von sich ausschließt. Die unbegrenzte Abstufbarkeit der Fehlformen gründet dagegen eben in der Vielheit des Mehr oder Weniger, die ein absolut Größtes oder Kleinstes nicht bloß faktisch, sondern begrifflich ausschließt. Ein absolut Größtes wäre nämlich groß nicht bloß im Verhältnis zu einem Kleineren; und genau darum wäre es überhaupt nicht groß, weil die Bestimmung „groß“ nur im Verhältnis zur Bestimmung „klein“ sinnvoll ist. Hermodor bestätigt in allen diesen Punkten den Sextusbericht genau. Hier kommt zugleich die nur von Hermodor referierte Einteilung in bestimmte und unbestimmte Relationen ins Spiel. Relationen sind dann bestimmt, wenn ihre Glieder im Verhältnis zueinander eine feste Bestimmtheit aufweisen, also z.B. das Verhältnis von Doppelt zu Halb. In derartigen Verhältnissen ist die an sich unbestimmte Relativität des Mehr und Weniger begrenzt und dadurch zu einem bestimmten Verhältnis geeint und festgestellt. Dagegen laufen in den unbestimmten Relationen wie größer und kleiner, schneller und langsamer, mehr und weniger die Relata ohne ein festes Verhältnis zueinander bloß auseinander, so daß ihr Verhältnis in die Unbestimmtheit des Unbegrenzten zerfließt. Diese unbestimmten Verhältnisse sind darum das Minimum an Bestimmtheit und Sein, das sich gerade noch erfassen läßt, wenn auch nur ex­ trapolierend im Ausgang von bestimmten Verhältnissen. Genau darum aber repräsentieren sie das Wesen von Relativität am reinsten. An ihnen zeigt sich das Wesen der unbestimmten Zweiheit; und zwar zeigt es sich an ihnen als ein Un-Wesen, nämlich als Wesensmangel und Seinsmangel (στέρησις). Wir kommen damit zu dem eigentlichen Skopos des Hermodor-Berichts: „Sein“ bedeutet für Platon Bestimmtheit6 und reine Bestimmtheit ist als sich selbst gleiche Einheit nicht graduierbar. Darum sind die nicht graduierbaren Ideen das reine Sein, und darum vermittelt die Arete, nämlich die nicht graduierbaren Vollkommenheiten wie gut, schön und gerecht, demjenigen, der sie realisiert, Anteil am reinen Sein (vgl. Politikos 283 D 8 f: Arete als „das notwendige Sein des Werdens“).7 Gradualität und Relativität konstituieren sich dagegen durch die Vermischung und Durchdringung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Sein und Nicht­sein. Darum gibt es sie nur im Bereich des Werdens, aber nicht im Bereich der Ideen. Hält man aber beide Seinsbereiche nebeneinander, dann ergibt sich eine Abstufung des Seins, ein „ontologischer Komparativ“ (vgl. Politeia 515 D, 585 C), der vom höchsten, absoluten Sein der Ideen über die verschiedenen Mischungsverhältnisse von Bestimmtheit und 6 Vgl.

dazu die grundlegende Abhandlung von Hölscher, Sinn von Sein. ist ein wesentliches Ergebnis von Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, 301– 329, bes. 301–305, der durch diesen Gedanken die für Platon spezifische Wertstruktur erschloß. 7  Dies

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Unbestimmtheit bis hin zum minimalen Seinsgehalt der unbestimmten Relationen reicht. Der Seinsgehalt eines Seienden bemißt sich dabei am Maß seiner Bestimmtheit und d.h. seiner Einheit und stuft sich nach dem Grad seiner Relativität ab. Darum sind die Wesenheiten das Seinsstärkste und die unbestimmten Relationen das Seinsschwächste. Das aller Relativität zugrundeliegende Prinzip, das sich an den unbestimmten Verhältnissen als die Richtungszweiheit von Größer und Kleiner zeigt, ist darum an sich selbst betrachtet absolut unbestimmt und reiner Seinsmangel, privatives Nichts (οὐκ ὄν); es ist nichts an sich selbst, sondern zeigt sich nur am Mehr oder Weniger des Relativen als ein Unständig-Flüchtiges (ἄστατον), als Bestimmungs- und Strukturloses (ἄμορφον), als „Schweben in einer Art Unentschiedenheit“ (ἐν ἀκρασίᾳ τινὶ φέρεσθαι), und zwar in einer Unentschiedenheit, in der die Gegensätze ineinander verflossen sind. Wie Hermodor besonders hervorhebt, ist es darum für Platon auch nicht Prinzip (ἀρχή) im eigentlichen Sinne. Ursprung oder Urgrund im eigentlichen Sinne (κυρίως) ist nur dasjenige, was Sein und Bestimmtheit setzt (τὸ ποιοῦν); und dies ist allein das Eine. Dasjenige, was Bestimmtheit nur so aufnimmt, daß es sie zugleich mit seiner eigenen Unbestimmtheit infiziert, ist dagegen kein eigentliches Prinzip, denn es begründet keinen positiven Seinsbestand, sondern es ist ein Quasi-Prinzip, das nur von der konstituierten Seinsordnung aus überhaupt als Prinzip erscheint, weil die Seinsordnung neben Einheit und Bestimmtheit auch Relativität und Unbestimmtheit umfaßt, die sich als solche nicht auf das seinsbegründende Eine zurückführen lassen. Dieses Quasi-Prinzip durchdringt die unteren Stufen des Seins mit seiner Unbestimmtheit und gebiert dadurch gleichsam die Verhältnisse von Mehr und Weniger, in denen es sich manifestiert. Manifestieren aber kann es sich allein an einer Bestimmtheit, indem es diese in ein Mehr oder Weniger hinein gleichsam auflöst und eben am Vorgang dieses Sich-Auflösens von Bestimmtheit als verschwebende Unbestimmtheit erscheint. Das Erscheinen von Unbestimmtheit ist somit angewiesen auf Bestimmtheit als das Primäre und darum setzt die unbestimmte Zweiheit das Eine als das absolut Ursprüngliche immer schon vor­aus. An sich selbst ist das Sich-Auflösen ins Zuviel und Zuwenig ein wesenloses Nichts. Dies stimmt mit der vierten Hypothesis in Platons Parmenides überein, in der sich das zweite Prinzip, von dem seinsbegründenden Einen getrennt betrachtet, als die absolute Privation erweist (159 C – 160 B).

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2. Die privative Natur des zweiten Prinzips Dieser Charakter der unbestimmten Zweiheit wird von Aristo­teles bestätigt. Es ist nämlich gerade der Privationscharakter des Platonischen zweiten Prinzips, von dem sich Aristo­teles mit seinem eigenen Begriff der Materie (ὕλη) abgrenzt.8 8  Aristo­teles, Physik I 9, 191 b 35 – 192 a 25: ἡμμένοι μὲν οὖν καὶ ἕτεροί τινές εἰσιν αὐτῆς, ἀλλ᾿ οὐχ ἱκανῶς. πρῶτον μὲν γὰρ ὁμολογοῦσιν ἁπλῶς γίγνεσθαί τι ἐκ μὴ ὄντος, ᾗ Παρμενίδην ὀρθῶς λέγειν· εἶτα φαίνεται αὐτοῖς, εἴπερ ἐστὶν ἀριθμῷ μία, καὶ δυνάμει μία μόνον εἶναι. τοῦτο δὲ διαφέρει πλεῖστον. ἡμεῖς μὲν γὰρ ὕλην καὶ στέρησιν ἕτερόν φαμεν εἶναι, καὶ τούτων τὸ μὲν οὐκ ὂν εἶναι κατὰ συμβεβηκός, τὴν ὕλην, τὴν δὲ στέρησιν καθ᾿ αὑτήν, καὶ τὴν μὲν ἐγγὺς καὶ οὐσίαν πως, τὴν ὕλην, τὴν δὲ οὐδαμῶς· οἱ δὲ τὸ μὴ ὂν τὸ μέγα καὶ μικρὸν ὁμοίως, ἢ τὸ συναμφότερον ἢ τὸ χωρὶς ἑκάτερον. ὥστε παντελῶς ἕτερος ὁ τρόπος οὗτος τῆς τριάδος κἀκεῖνος. μέχρι μὲν γὰρ δεῦρο προῆλθον, ὅτι δεῖ τινὰ ὑποκεῖσθαι φύσιν, ταύτην μέντοι μίαν ποιοῦσιν· καὶ γὰρ εἴ τις δυάδα ποιεῖ, λέγων μέγα καὶ μικρὸν αὐτήν, οὐθὲν ἧττον ταὐτὸ ποιεῖ· τὴν γὰρ ἑτέραν παρεῖδεν. ἡ μὲν γὰρ ὑπομένουσα συναιτία τῇ μορφῇ τῶν γιγνομένων ἐστίν, ὥσπερ μήτηρ· ἡ δ᾿ ἑτέρα μοῖρα τῆς ἐναντιώσεως πολλάκις ἂν φαντασθείη τῷ πρὸς τὸ κακοποιὸν αὐτῆς ἀτενίζοντι τὴν διάνοιαν οὐδ᾿ εἶναι τὸ παράπαν. ὄντος γάρ τινος θείου καὶ ἀγαθοῦ καὶ ἐφετοῦ, τὸ μὲν ἐναντίον αὐτῷ φαμεν εἶναι, τὸ δὲ ὃ πέφυκεν ἐφίεσθαι καὶ ὀρέγεσθαι αὐτοῦ κατὰ τὴν αὑτοῦ φύσιν. τοῖς δὲ συμβαίνει τὸ ἐναντίον ὀρέγεσθαι τῆς αὑτοῦ φθορᾶς. καίτοι οὔτε αὐτὸ αὑτοῦ οἷόν τε ἐφίεσθαι τὸ εἶδος διὰ τὸ μὴ εἶναι ἐνδεές, οὔτε τὸ ἐναντίον (φθαρτικὰ γὰρ ἀλλήλων τὰ ἐναντία), ἀλλὰ τοῦτ᾿ ἔστιν ἡ ὕλη, ὥσπερ ἂν εἰ θῆλυ ἄρρενος καὶ αἰσχρὸν καλοῦ· πλὴν οὐ καθ᾿ αὑτὸ αἰσχρόν, ἀλλὰ κατὰ συμβεβηκός, οὐδὲ θῆλυ, ἀλλὰ κατὰ συμβεβηκός.   „Auch andere Philosophen haben sich mit der Materie befaßt, aber nicht in zureichender Weise. Erstens nämlich stimmen die Platoniker damit überein, daß das Werden im absoluten Sinne aus dem Nichtseienden erfolgen müsse, und daß insofern Parmenides recht habe. Ferner glauben sie, daß wenn das Nichtseiende (im Sinne der Materie) der Zahl nach Eines ist, es dann auch nur eine einzige Bedeutung haben könne. Dabei liegt darin doch gerade der größte Unterschied. Ich behaupte nämlich, daß Materie und Seinsmangel (Privation) verschieden sind, und daß das eine von diesen beiden, die Materie, nur in einem relativen Sinne nicht­ seiend ist, während der Seinsmangel absolut (an sich selbst) nichtseiend ist, und daß das eine, die Materie, der Substanz nahekommt und in gewisser Hinsicht Substanz ist, das andere, der Seinsmangel, dagegen in keiner Weise. Die Platoniker aber lehren, daß es keinen Unterschied zwischen dem Nichtseienden und dem Großen und Kleinen gebe, und zwar gleichgültig, ob man beides zusammen nimmt oder jedes von beiden für sich. Und darum hat die Dreiheit der Prinzipien bei den Platonikern auch einen ganz anderen Sinn als bei mir. Bis dahin nämlich sind sie wohl gekommen, daß es eine zugrundeliegende Wesenheit geben muß; diese jedoch begreifen sie unterschiedslos als Einheit. Denn auch wenn Platon sie als Zweiheit begreift, indem er sie das Große und Kleine nennt, so begreift er sie doch nichts desto weniger in ein und derselben Bedeutung (als nichtseiend); denn die andere Bedeutung übersieht er. Das eine (die Materie) ist nämlich als das beständig Zugrundeliegende gemeinsam mit der Form Mitursache alles Werdenden wie eine Mutter. Das negative Gegensatzglied (der Seinsmangel) muß dagegen, bedenkt man seine zerstörerische Wirksamkeit, immer wieder als das reine Nichts erscheinen. Denn wenn das seiend ist, was göttlich und gut und erstrebenswert ist, so ist nach meiner ­Lehre das eine diesem konträr entgegengesetzt (der Seinsmangel), während das andere (die Materie) von der Wesensart ist, daß es aufgrund seines eigenen Wesens nach dem Guten strebt und es intendiert. Für die Platoniker ergibt sich dagegen, daß das dem Guten Entgegengesetzte seine eigene Vernichtung intendiert. Es ist jedoch weder möglich, daß die Form als solche sich selbst erstrebt, weil ihr nichts fehlt, noch daß das der Form konträr Entgegengesetzte (der Seinsmangel) nach ihr strebt (denn die Gegensätze vernichten sich wechselseitig), sondern das, was nach der Form strebt, ist die Materie, (die so nach der Form

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Aristo­teles berichtet, daß Platon von Parmenides mit seiner Entgegensetzung von Sein und Nicht­sein ausgegangen sei, was sich besonders deutlich in Platons Analyse des Werdens im 5. Buch der Politeia zeigt (476 A ff). Faßt man Werden im absoluten Sinne als den Vorgang auf, in dem etwas überhaupt erst entsteht, das vorher nicht da war, dann zeigt sich als Ausgangspunkt dieses Vorgangs das Nicht­sein. Um das Werden ontologisch begreifen zu können, hat Platon dem Nicht­sein darum gegen Parmenides den Status eines ontologischen Prinzips zuerkannt. Als das Woraus alles Entstehens von etwas muß das Nicht­ sein selber ebenso eine Einheit sein wie das Sein, allerdings anders als dieses eine unbestimmte Einheit – dies ist die Materie. Wie Aristo­teles berichtet, haben Platon und seine Schüler diesem Nichtseienden sogar numerische Einheit, also Einzigkeit zugeschrieben, was der Timaios bestätigt (50 B). Aus der Einzigkeit des Materialprinzips aber habe Platon, so Aristo­teles weiter, geschlossen, daß dieses auch nur eine einzige Kraft oder Bedeutung (δύναμις) haben kann, und diese Bedeutung sei der Seinsmangel (στέρησις), das gänzliche Fehlen von Sein und Bestimmtheit. Auch das entspricht Platons Ausführungen im Timaios, wo von der „Unterlage und Amme alles Werdens“ (49 A) gesagt wird, sie bleibe sich in allen Werdeprozessen gerade dadurch als die eine und selbe immer gleich, daß sie selbst ohne alle Formen und Bestimmungen sei (50 AB), „als gestaltlose entbehrt sie aller Ideen“ (50 D 7 f) und „ist ihrem Wesen nach ganz und gar außerhalb aller Formbestimmtheit“ (50 E 5, 51 A 3); ihr Wesen ist gerade der vollständige Mangel an Sein, Bestimmtheit und Form. Diese Platonische Konzeption des Materialprinzips als Seinsmangel kritisiert Aristo­teles als unzureichend. Will man Werden als Übergang von Nicht­sein in Sein verstehen, so darf das Nicht­sein, von dem aus der Übergang ins Sein erfolgt, gerade nicht als vollständiger Mangel an Sein gedacht werden, so Aristo­ teles; vielmehr muß dieses Nicht­sein als die positive Möglichkeit (δύναμις) zum Sein begriffen werden, geradezu als eine Intentionalität auf Sein hin, die bloß noch nicht ist, die aber als das, was sein kann, „dem Sein nahekommt und in gewisser Weise Sein ist“ (Physik 192 a 5 f). Aristo­teles unterscheidet demgemäß gegen Platon zwischen dem Seinsmangel und der Seinsmöglichkeit als zwei grundsätzlich verschiedenen Formen und Bedeutungen von Nicht­sein. Während die Privation das absolute Nicht­sein ist, ist die Materie als Seinsmöglichkeit ein nur akzidentelles oder relatives Nicht­sein, das sich vom absoluten Nichts der Privation gerade durch seine Intentionalität, durch sein Streben (ἔφεσις) zum Sein hin unterscheidet und kraft dieser Intentionalität Mitursache des Seienden ist.

strebt) wie das Weibliche nach dem Männlichen und das Unvollkommene (Häßliche) nach dem Vollkommenen (Schönen) strebt. Dies freilich nur in dem Sinne, daß nicht das absolut Unvollkommene (nach dem Vollkommenen strebt), sondern nur das relativ Unvollkommene, und ebenso nicht das Weibliche überhaupt, sondern nur das in spezifischer Beziehung Weibliche (nach dem Männlichen strebt).“

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Nun hatte auch Platon der unbestimmten Zweiheit Intentionalität zugeschrieben. Sie ist nicht nur die an sich selbst unbestimmte Richtungszweiheit zum Großen und zum Kleinen hin, sie ist als dieses unbestimmte Auseinandergehen in entgegengesetzte Richtungen selber überhaupt nur dadurch Einheit, daß sie Intentionalität auf Einheit hin ist, unbestimmtes Streben nach dem Einen, das als das Woraufhin dieses Strebens das Gute ist (vgl. Aristo­ teles, Eudemische Ethik I 8); sie ist die Urform von Intentionalität.9 Gerade in dieser Intentionalität der unbestimmten Zweiheit sieht Aristo­teles aber einen Widerspruch zu ihrem Charakter als reiner Privation. Als Streben zum Guten und d.h. als Intention auf Einheit und damit auf Sein und Bestimmtheit würde das privative Nichts der unbestimmten Zweiheit ja seine eigene Aufhebung anstreben. Das Streben zum Guten und zum Sein kann darum für Aristo­teles nur einem Nichtseienden zugeschrieben werden, dessen Nicht­sein gerade nicht die reine Privation bedeutet, sondern die positive Möglichkeit zu sein. Darum ist die Materie als Prinzip des Werdens für Aristo­teles zwar unbestimmt und nichtseiend wie für Platon, aber nicht privativ nichtig, sondern als positive Möglichkeit zum Sein gewissermaßen ein Drittes zwischen Sein und Nichts. In einem weiteren Zeugnis präzisiert Aristo­teles den Einheitscharakter des Platonischen Materialprinzips.10 Er berichtet, Platon habe die beiden Momente der unbestimmten Zweiheit, das Große und das Kleine, als ein einziges Prinzip angesetzt, das Große und das Kleine also unbeschadet ihrer Gegenläufigkeit nicht als zwei verschiedene Prinzipien angesehen oder gar zwischen dem Ungleichen sowie dem Großen und dem Kleinen im Sinne einer Dreiheit un-

 9 Vgl.

die grundsätzlichen Klärungen von Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 326 ff und Happ, Hyle, 203–207 mit weiteren Belegen; vgl. auch Thomas Alexander Szlezák, Platon und Aristo­teles in der Nuslehre Plotins, Basel/Stuttgart 1979 (= Nuslehre Plotins), 86 ff. 10  Aristo­teles, Metaphysik XIV 1, 1087 b 4–12 (Test. Plat. 49 Gaiser): οἱ δὲ τὸ ἕτερον τῶν ἐναντίων ὕλην ποιοῦσιν, οἱ μὲν τῷ ἑνὶ τὸ ἄνισον, ὡς τοῦτο τὴν τοῦ πλήθους οὖσαν φύσιν, ὁ δὲ τῷ ἑνὶ τὸ πλῆθος (γεννῶνται γὰρ οἱ ἀριθμοὶ τοῖς μὲν ἐκ τῆς τοῦ ἀνίσου δυάδος, τοῦ μεγάλου καὶ μικροῦ, τῷ δ᾿ ἐκ τοῦ πλήθους, ὑπὸ τῆς τοῦ ἑνὸς δὲ οὐσίας ἀμφοῖν)· καὶ γὰρ ὁ τὸ ἄνισον καὶ ἓν λέγων τὰ στοιχεῖα, τὸ δ᾿ ἄνισον ἐκ μεγάλου καὶ μικροῦ δυάδα, ὡς ἓν ὄντα τὸ ἄνισον καὶ τὸ μέγα καὶ τὸ μικρὸν λέγει, καὶ οὐ διορίζει ὅτι λόγῳ ἀριθμῷ δ᾿ οὔ.   „Die Platoniker setzen als das zweite der beiden entgegengesetzten Prinzipien die Materie an, dabei setzen die einen (Platon und Xenokrates) dem Einen das Ungleiche entgegen, weil dieses die Wesenheit der Vielheit sei, der andere (Speusippos) aber setzt dem Einen die Vielheit entgegen. (Denn die Zahlen werden bei Platon und Xenokrates aus der Zweiheit des Ungleichen, dem Großen und Kleinen, erzeugt, bei Speusippos dagegen aus der Vielheit, bei beiden Parteien aber durch die Wesenheit des Einen.) Denn auch der Philosoph (Platon), welcher das Ungleiche und das Eine als die elementarsten Prinzipien bezeichnet, mit dem Ungleichen aber die Zweiheit aus Großem und Kleinem meint, lehrt, daß das Ungleiche und das Große und das Kleine Eines sind, und dabei unterscheidet er nicht, daß sie wohl dem Begriff nach Eines sind, der Zahl nach aber nicht.“

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terschieden. Dabei kritisiert Aristo­teles, daß Platon der unbestimmten Zweiheit des Groß-Kleinen nicht nur begriffliche Einheit (λόγῳ ἕν) zugeschrieben habe, sondern auch numerische Einheit (ἀριθμῷ ἕν), da sie ein einziges Prinzip sei. Aristo­teles hält es für ungereimt, daß das Große und das Kleine in ihrer Gegenläufigkeit nicht nur gedanklich untrennbar zusammengehören, sondern ein einziges Wesen sein sollen, was Platon in der Tat annimmt.11 Diese Kritik des Aristo­teles läßt uns zugleich besser verstehen, was Hermodor berichtet, daß nämlich für Platon die unbestimmte Zweiheit Prinzip nur in einem uneigentlichen, also offenbar irgendwie abgeleiteten Sinne war. Wenn nämlich das Große und das Kleine in ihrer begrifflichen Untrennbarkeit ein einziges Wesen ausmachen, dann bedeutet das, daß sie unabhängig von dem Einen selbst als dem Ursprung aller Einheit gar nicht gedacht werden können. Die unbestimmte Zweiheit verdankt somit ihre eigene Einheit und Einzigkeit dem absolut Einen. Und da sie nur als Einheit Prinzip sein kann, wird sie zu ihrer Wirksamkeit als Prinzip durch das Eine selbst allererst ermächtigt. Aristo­teles bestätigt damit in der Sache, was Hermodor und Simp­ likios so nachdrücklich betonen, daß nämlich Platon gar keinen wirklichen Dualismus zweier Prinzipien vertreten hat, weil sein zweites Prinzip erst durch die Übermacht des Einen überhaupt möglich und wirksam wird. Die Ursprungsmacht des Einen, des einzigen Absoluten, übergreift damit in gewisser Weise die nur relative Ursprünglichkeit des Vielheitsprinzips. Die unbestimmte Zweiheit ist nur mehr oder weniger ein Prinzip, weil sie als die Einheit der Gegenläufigkeit von Mehr und Weniger selbst erst eingesetzt ist durch die Übermacht des absoluten Einen; diese ermächtigt sie erst dazu, Prinzip zu sein.

3. Die Unbegrenztheit des zweiten Prinzips Die Inferiorität des zweiten Prinzips zeigt sich auch daran, daß es in seiner privativen Bestimmungslosigkeit das Unbegrenzte und im schlechten Sinne Unendliche (ἄπειρον) ist und in seinen Prinzipiaten Unbestimmtheit und schlechte Unendlichkeit bewirkt. Aristo­teles vergleicht Platons Auffassung des Unendlichen mit jener der Pythagoreer.12 Denn beide setzen das Unendliche als ein eigenes Prinzip an und nicht nur als Eigenschaft einer anderen Sache, wie z.B.

11 Vgl. dazu Thomas Alexander Szlezák, „Die Lückenhaftigkeit der akademischen Prinzipientheorien nach Aristo­teles’ Darstellung in Metaphysik M und N“, in: Andreas Graeser (Hg.), Mathematik und Metaphysik bei Aristo­teles (Akten des 10. Symposium Aristotelicum), Bern 1987, 45–67. 12  Aristo­teles, Physik III 4, 202 b 34 – 203 a 11.15–16 (Test. Plat. 23 A Gaiser): προσῆκον ἂν εἴη τὸν περὶ φύσεως πραγματευόμενον θεωρῆσαι περὶ ἀπείρου, εἰ ἔστιν ἢ μή, καὶ εἰ ἔστιν, τί

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Heraklit der Seele Unendlichkeit zuschreibt (Fr. B 45 DK) oder Melissos das Eine Sein als unendlich, und zwar durchaus auch in quantitativem Sinne, ansah (Fr. B 2–7 DK). Während Unendlichkeit hier als Eigenschaft des Seins bzw. der Seele angesehen wird, betrachten die Pythagoreer und Platon „das Unbegrenzte“ als etwas Selbständiges, in der Terminologie des Aristo­teles also als Substanz (οὐσία). Die Pythagoreer kennen dabei aber nur eine sinnlich-körperliche Unendlichkeit; unendlich in diesem Sinne ist für sie vor allem das, was sich außerhalb des zahlenmäßig begrenzten und geordneten Kosmos befindet: der mathematisch unstrukturierte leere Raum. Platon bestreitet dagegen, daß es außerhalb des Kosmos einen körperlich ausgedehnten, leeren Raum geben könne; Ausdehnung und Körperlichkeit gibt es nur innerhalb des Kosmos, zu dem gar kein räumliches „Außerhalb“ gedacht werden kann, weshalb auch die Transzendenz der Ideen nicht verräumlicht werden darf zu einem „Außerhalb“ der Welt. Ferner nimmt Platon das Unbegrenzte nicht nur in der sinnlichen Welt der Erscheinungen an, sondern auch in der intelligiblen Welt der Ideen. In beiden Seinssphären wirkt sich die unbestimmte Zweiheit als Entgrenzung in die gegenläufigen Richtungen des unendlich Großen und des unendlich Kleinen aus.

ἐστιν. σημεῖον δ᾿ ὅτι ταύτης τῆς ἐπιστήμης οἰκεία ἡ θεωρία ἡ περὶ αὐτοῦ· πάντες γὰρ οἱ δοκοῦντες ἀξιολόγως ἧφθαι τῆς τοιαύτης φιλοσοφίας πεποίηνται λόγον περὶ τοῦ ἀπείρου, καὶ πάντες ὡς ἀρχήν τινα τιθέασι τῶν ὄντων, οἱ μέν, ὥσπερ οἱ Πυθαγόρειοι καὶ Πλάτων, καθ᾿ αὑτό, οὐχ ὡς συμβεβηκός τινι ἑτέρῳ ἀλλ᾿ οὐσίαν αὐτὸ ὂν τὸ ἄπειρον. πλὴν οἱ μὲν Πυθαγόρειοι ἐν τοῖς αἰσθητοῖς (οὐ γὰρ χωριστὸν ποιοῦσιν τὸν ἀριθμόν), καὶ εἶναι τὸ ἔξω τοῦ οὐρανοῦ ἄπειρον, Πλάτων δὲ ἔξω μὲν οὐδὲν εἶναι σῶμα, οὐδὲ τὰς ἰδέας, διὰ τὸ μηδὲ ποὺ εἶναι αὐτάς, τὸ μέντοι ἄπειρον καὶ ἐν τοῖς αἰσθητοῖς καὶ ἐν ἐκείναις εἶναι· καὶ οἱ μὲν τὸ ἄπειρον εἶναι τὸ ἄρτιον … Πλάτων δὲ δύο τὰ ἄπειρα τὸ μέγα καὶ τὸ μικρόν.   „Es ist wohl angebracht, im Rahmen einer Abhandlung über die Natur das Unbegrenzte (Unendliche) zu betrachten, nämlich ob es existiert oder nicht, und wenn es existiert, was dann sein Wesen ist. Es gibt ein Indiz dafür, daß die Betrachtung über das Unbegrenzte spezifisch zu dieser Wissenschaft (der Naturphilosophie) gehört: Alle nämlich, die sich nach allgemeiner Ansicht auf angemessene Weise mit dieser Art von Philosophie befaßt haben, haben eine Theorie über das Unbegrenzte aufgestellt. Und alle setzen es als ein Prinzip des Seienden an, manche, wie die Pythagoreer und Platon, als etwas an sich selbst Bestehendes und nicht als etwas, das nur an einem anderen als dessen Eigenschaft vorkommt, sondern sie lehren, das Unbegrenzte als solches sei eine Wesenheit (Substanz). Nur daß die Pythagoreer das Unbegrenzte im Bereich des Sinnenfälligen ansetzen – denn sie schreiben der Zahl keine Transzendenz zu – und lehren, unbegrenzt sei auch das, was außerhalb des Himmels (Universums) sei. Platon dagegen bestreitet, daß es außerhalb des Universums irgendeinen Körper gebe, und auch nicht die Ideen, weil diese überhaupt nicht irgendwo seien; er setzt jedoch das Unbegrenzte sowohl in der sinnenfälligen Welt als auch in der Ideenwelt an. Und die Pythagoreer lehren, das Unbegrenzte sei das Gerade … Platon dagegen nimmt ein doppeltes Unbegrenztes an: das Große und das Kleine.“

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Simplikios zitiert dazu zwei einander sehr gut ergänzende Zeugnisse von Porphyrios und Alexander.13 Alexander schöpft dabei, wie er selbst angibt, aus Aristo­teles’ Schrift Über das Gute. Ob Porphyrios seine Kenntnisse Alexander oder Derkylides verdankt (und über diesen dann wohl Hermodor), ist dagegen nicht sicher auszumachen; gewiß ist jedenfalls, daß Porphyrios außer dem Platonwerk des Derkylides auch die Aristo­teles-Kommentare Alexanders benutzt 13 Simplikios, In Aristotelis Physicam 453, 22–455, 11 Diels = Porphyrios, Kommentar zu Platons „Philebos“ Fragment 174 Smith = Aristo­teles, De bono Fragment 2 Ross / Fragment 93 Gigon (Test. Plat. 23 B Gaiser): ἀλλ᾿ οὐδὲ τὰς ἰδέας ἔξω τοῦ οὐρανοῦ φησιν εἶναι διὰ τὸ μηδέ που εἶναι αὐτὰς μηδὲ ὅλως ἐν τόπῳ, τὸ μέντοι ἄπειρον καὶ ἐν τοῖς αἰσθητοῖς εἶναί φησι καὶ ἐν ταῖς ἰδέαις. ἀρχὰς γὰρ καὶ τῶν αἰσθητῶν τὸ ἓν καὶ τὴν ἀόριστόν φασι δυάδα λέγειν τὸν Πλάτωνα, τὴν δὲ ἀόριστον δυάδα καὶ ἐν τοῖς νοητοῖς τιθεὶς ἄπειρον εἶναι ἔλεγε, καὶ τὸ μέγα δὲ καὶ τὸ μικρὸν ἀρχὰς τιθεὶς ἄπειρον εἶναι ἔλεγεν ἐν τοῖς Περὶ τἀγαθοῦ λόγοις, οἷς Ἀριστοτέλης καὶ Ἡρακλείδης καὶ Ἑστιαῖος καὶ ἄλλοι τοῦ Πλάτωνος ἑταῖροι παραγενόμενοι ἀνεγράψαντο τὰ ῥηθέντα αἰνιγματωδῶς, ὡς ἐρρήθη, Πορφύριος δὲ διαρθροῦν αὐτὰ ἐπαγγελλόμενος τάδε περὶ αὐτῶν γέγραφεν ἐν τῷ Φιλήβῳ· „αὐτὸς τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον, καὶ τὸ σφόδρα καὶ τὸ ἠρέμα τῆς ἀπείρου φύσεως εἶναι τίθεται. ὅπου γὰρ ἂν ταῦτα ἐνῇ κατὰ τὴν ἐπίτασιν καὶ ἄνεσιν προϊόντα, οὐχ ἵσταται οὐδὲ περαίνει τὸ μετέχον αὐτῶν, ἀλλὰ πρόεισιν εἰς τὸ τῆς ἀπειρίας ἀόριστον. ὁμοίως δὲ ἔχει καὶ τὸ μεῖζον καὶ τὸ ἔλαττον καὶ τὰ ἀντ᾿ αὐτῶν λεγόμενα ὑπὸ Πλάτωνος τὸ μέγα καὶ τὸ μικρόν. ὑποκείσθω γάρ τι μέγεθος πεπερασμένον οἷον πῆχυς, οὗ δίχα διαιρεθέντος εἰ τὸ μὲν ἕτερον ἡμίπηχυ ἄτμητον ἐάσαιμεν, τὸ δὲ ἕτερον ἡμίπηχυ τέμνοντες κατὰ βραχὺ προστιθοῖμεν τῷ ἀτμήτῳ, δύο ἂν γένοιτο τῷ πήχει μέρη, τὸ μὲν ἐπὶ τὸ ἔλαττον προϊόν, τὸ δὲ ἐπὶ τὸ μεῖζον ἀτελευτήτως. οὐ γὰρ ἂν εἰς ἀδιαίρετόν γε ἔλθοιμέν ποτε μέρος τέμνοντες· συνεχὲς γάρ ἐστιν ὁ πῆχυς. τὸ δὲ συνεχὲς διαιρεῖται εἰς ἀεὶ διαιρετά. ἡ δὴ τοιαύτη ἀδιάλειπτος τομὴ δηλοῖ τινα φύσιν ἀπείρου κατακεκλεισμένην ἐν τῷ πήχει, μᾶλλον δὲ πλείους, τὴν μὲν ἐπὶ τὸ μέγα προϊοῦσαν τὴν δὲ ἐπὶ τὸ μικρόν. ἐν τούτοις δὲ καὶ ἡ ἀόριστος δυὰς ὁρᾶται ἔκ τε τῆς ἐπὶ τὸ μέγα καὶ τῆς ἐπὶ τὸ μικρὸν μονάδος συγκειμένη. καὶ ὑπάρχει ταῦτα τοῖς τε συνεχέσι σώμασι καὶ τοῖς ἀριθμοῖς· ἀριθμὸς μὲν γὰρ πρῶτος ἡ δυὰς ἄρτιος, ἐν δὲ τῇ φύσει τοῦ ἀρτίου τό τε διπλάσιον ἐμπεριέχεται καὶ τὸ ἥμισυ, ἀλλὰ τὸ μὲν διπλάσιον ἐν ὑπεροχῇ, τὸ δὲ ἥμισυ ἐν ἐλλείψει. ὑπεροχὴ οὖν καὶ ἔλλειψις ἐν τῷ ἀρτίῳ. πρῶτος δὲ ἄρτιος ἐν ἀριθμοῖς ἡ δυάς, ἀλλὰ καθ᾿ αὑτὴν μὲν ἀόριστος, ὡρίσθη δὲ τῇ τοῦ ἑνὸς μετοχῇ. ὥρισται γὰρ ἡ δυάς, καθ᾿ ὅσον ἕν τι εἶδός ἐστι. στοιχεῖα οὖν καὶ ἀριθμῶν τὸ ἓν καὶ ἡ δυάς, τὸ μὲν περαῖνον καὶ εἰδοποιοῦν, ἡ δὲ ἀόριστος καὶ ἐν ὑπεροχῇ καὶ ἐλλείψει.“ ταῦτα ὁ Πορφύριος εἶπεν αὐτῇ σχεδὸν τῇ λέξει, διαρθροῦν ἐπαγγειλάμενος τὰ ἐν τῇ Περὶ τἀγαθοῦ συνουσίᾳ αἰνιγματωδῶς ῥηθέντα, καὶ ἴσως ὅτι σύμφωνα ἐκεῖνα ἦν τοῖς ἐν Φιλήβῳ γεγραμμένοις. καὶ ὁ Ἀλέξανδρος δὲ καὶ αὐτὸς ἐκ τῶν Περὶ τἀγαθοῦ λόγων τοῦ Πλάτωνος ὁμολογῶν λέγειν, οὓς ἱστόρησαν Ἀριστοτέλης τε καὶ οἱ ἄλλοι τοῦ Πλάτωνος ἑταῖροι, τάδε γέγραφε· „ζητῶν γὰρ τὰς ἀρχὰς τῶν ὄντων ὁ Πλάτων, ἐπεὶ πρῶτος ὁ ἀριθμὸς ἐδόκει αὐτῷ τῇ φύσει εἶναι τῶν ἄλλων (καὶ γὰρ τῆς γραμμῆς τὰ πέρατα σημεῖα, τὰ δὲ σημεῖα εἶναι μονάδας θέσιν ἐχούσας, ἄνευ τε γραμμῆς μήτε ἐπιφάνειαν εἶναι μήτε στερεόν, τὸν δὲ ἀριθμὸν καὶ χωρὶς τούτων εἶναι δύνασθαι), ἐπεὶ τοίνυν πρῶτος τῶν ἄλλων τῇ φύσει ὁ ἀριθμός, ἀρχὴν τοῦτον ἡγεῖτο εἶναι καὶ τὰς τοῦ πρώτου ἀριθμοῦ ἀρχὰς καὶ παντὸς ἀριθμοῦ ἀρχάς. πρῶτος δὲ ἀριθμὸς ἡ δυάς, ἧς ἀρχὰς ἔλεγεν εἶναι τό τε ἓν καὶ τὸ μέγα καὶ τὸ μικρόν. καθὸ γὰρ δυάς ἐστι, πλῆθος καὶ ὀλιγότητα ἔχειν ἐν ἑαυτῇ· καθὸ μὲν τὸ διπλάσιον ἔστιν ἐν αὐτῇ, πλῆθος (πλῆθος γὰρ καὶ ὑπεροχὴ καὶ μέγεθός τι τὸ διπλάσιον), καθὸ δὲ ἥμισυ, ὀλιγότητα. διὸ ὑπεροχὴν καὶ ἔλλειψιν καὶ μέγα καὶ μικρὸν εἶναι ἐν αὐτῇ κατὰ ταῦτα. καθὸ δὲ ἑκάτερόν τε αὐτῆς τῶν μορίων μονὰς καὶ αὕτη ἕν τι εἶδός ἐστι τὸ δυαδικόν, μονάδος αὐτὴν μετέχειν. διὸ ἀρχὰς τῆς δυάδος ἔλεγε τὸ ἓν καὶ τὸ μέγα καὶ τὸ μικρόν. ἀόριστον δὲ δυάδα ἔλεγεν αὐτὴν τῷ μεγάλου καὶ μικροῦ μετέχουσαν ἤτοι μείζονος καὶ ἐλάττονος τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον ἔχειν. κατὰ γὰρ ἐπίτασιν καὶ ἄνεσιν προϊόντα ταῦτα οὐχ ἵσταται, ἀλλ᾿ ἐπὶ τὸ τῆς ἀπειρίας ἀόριστον προχωρεῖ. ἐπεὶ οὖν πρῶτος ἀριθμῶν ἡ δυάς, ταύτης δὲ ἀρχαὶ τὸ ἓν καὶ τὸ μέγα καὶ μικρόν, καὶ παντὸς ἀριθμοῦ ταύτας ἀρχὰς εἶναι ἀνάγκη. οἱ δὲ ἀριθμοὶ στοιχεῖα τῶν ὄντων πάντων. ὥστε καὶ πάντων ἀρχαὶ τὸ ἓν καὶ τὸ μέγα καὶ μικρὸν ἤτοι ἡ ἀόριστος δυάς. καὶ γὰρ

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hat, in denen dieser aus der Aristotelischen Platon-Nachschrift referiert (vgl. Vita Plotini 14, 13). Porphyrios berichtet zunächst, mit Hermodor übereinstimmend, daß Platon alle Verhältnisse, die sich nach Mehr oder Weniger abstufen lassen, dem Unbeἕκαστος τῶν ἀριθμῶν καθόσον μὲν ὅδε τίς ἐστι καὶ εἷς καὶ ὡρισμένος, τοῦ ἑνὸς μετέχει, καθόσον δὲ διαιρεῖται καὶ πλῆθός ἐστι, τῆς ἀορίστου δυάδος. ἔλεγε δὲ καὶ τὰς ἰδέας ὁ Πλάτων ἀριθμούς. εἰκότως ἄρα τὰς ἀρχὰς τοῦ ἀριθμοῦ καὶ τῶν ἰδεῶν ἀρχὰς ἐποίει. τὴν δὲ δυάδα τοῦ ἀπείρου φύσιν ἔλεγεν, ὅτι οὐχ ὥρισται τὸ μέγα καὶ μικρὸν ἤτοι τὸ μεῖζον καὶ ἔλαττον, ἀλλ᾿ ἔχει τὸ μᾶλλον καὶ ἧττον, ἅπερ εἰς ἄπειρον πρόεισιν.“   „Platon sagt aber auch von den Ideen nicht, daß sie außerhalb des Universums seien, weil sie überhaupt nicht irgendwo und überhaupt nicht an einem Ort sind, von dem Unbegrenzten jedoch sagt er, daß es sowohl in der sinnenfälligen Welt als auch in der Ideenwelt sei. Denn als Prinzipien sowohl des Sinnenfälligen [als auch der Ideen] lehrte Platon, wie bezeugt ist, das Eine und die unbestimmte Zweiheit. Die unbestimmte Zweiheit aber setzte er auch in der intelligiblen Welt an und lehrte, sie sei unbegrenzt. Ebenso setzte er das Große und das Kleine als Prinzipien an und lehrte, sie seien unbegrenzt, in den Vorlesungen Über das Gute, bei denen Aristo­teles, Herakleides, Hestiaios und andere Schüler Platons anwesend waren, die dann das Gesagte so rätselhaft aufzeichneten, wie es vorgetragen worden war. Porphyrios aber hat in der erkärten Absicht, diese L ­ ehren zu erhellen, in seinem Phileboskommentar folgendes darüber geschrieben: Platon ordnete das Mehr und das Weniger sowie das Heftige und das Schwache der Wesenheit des Unbegrenzten zu. Worin immer nämlich diese enthalten sind, nach Anspannung und Entspannung fortschreitend, dort wird das, was an ihnen teilhat, nicht feststehen und in sich begrenzt sein, sondern bis ins Unbestimmte der Unendlichkeit fortschreiten. In gleicher Weise verhält es sich mit dem Größeren und dem Kleineren und mit dem, was Platon statt dessen sagte: dem Großen und dem Kleinen. Denn nehmen wir irgendeine begrenzte Größe, beispielsweise eine Elle: wenn wir diese in zwei Teile unterteilen und die eine halbe Elle ungeteilt lassen, die andere halbe Elle aber, indem wir sie in kleine Abschnitte zerlegen, der ungeteilten Hälfte hinzufügen, so ergeben sich für die Elle zwei Glieder, von denen das eine zum Kleineren hin fortschreitet und das andere zum Größeren hin, und zwar ohne jemals zu einem Ende zu kommen. Denn wir kommen beim Zerlegen niemals zu einem unteilbaren Glied. Denn die Elle ist ja eine kontinuierliche Größe. Das Kontinuierliche aber wird in immer weiter teilbare Glieder geteilt. So zeigt diese unaufhörliche Zerlegungsmöglichkeit, daß in der Elle eine Art von Unendlichkeit eingeschlossen ist, oder vielmehr mehrere, von denen die eine zum Großen hin fortschreitet und die andere zum Kleinen hin. In diesen beiden Unendlichkeiten aber wird auch die unbestimmte Zweiheit sichtbar, weil sie aus der zum Großen und der zum Kleinen hin fortschreitenden Einheit besteht. Diese (die zum Großen hin fortschreitende Einheit und die zum Kleinen hin fortschreitende Einheit) liegen aber sowohl den kontinuierlich ausgedehnten Körpern als auch den Zahlen zugrunde. Die ursprünglichste Zahl nämlich ist die Zweiheit als gerade Zahl. In der Wesenheit des Geraden aber ist gleichermaßen das Doppelte wie das Halbe umgriffen, wobei das Doppelte im Übertreffen und das Halbe im Zurückbleiben besteht. Also sind Übertreffen und Zurückbleiben im Geraden. Das ursprünglichste Gerade im Bereich der Zahlen aber ist die Zweiheit, und zwar ist diese an sich selbst unbestimmt und wird nur durch ihre Teilhabe an dem Einen bestimmt. Die Zweiheit ist nämlich in sich bestimmt, sofern sie eine bestimmte einheitliche Form (Idee) ist. Darum sind auch die elementarsten Prinzipien der Zahlen das Eine und die Zweiheit, wobei das Eine begrenzend und Form-setzend wirkt, während die Zweiheit sowohl im Übertreffen wie im Zurückbleiben unbestimmt ist. Das ist es, was Porphyrios in genau diesem Wortlaut sagt, in der erklärten Absicht, das zu erhellen, was in der Vorlesung Über das Gute rätselhaft gesagt war, und wohl auch deshalb, weil diese ­Lehren mit dem übereinstimmen, was im Philebos geschrieben steht. Und Alexander, der ja selbst

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grenzten zugeordnet habe, sie also als Prinzipiate der unbestimmten Zweiheit angesehen hat. Wie sich dieses Prinzip in seinen Prinzipiaten auswirkt, zeigt dann anschaulich das offenbar von Platon selbst benutzte Beispiel der Ellenteilung.14 Eine Elle wird in zwei Hälften geteilt, von denen die eine ungeteilt bleibt, während die andere wiederum in zwei Hälften geteilt wird usf. bis ins Unendliche; denn bei einer kontinuierlich ausgedehnten Größe kommt die Teilung niemals zu einem unteilbaren letzten Glied, an dem sie ein Ende fände, was schon Zenon in seinen Paradoxien deutlich gemacht hatte. Der Vorgang der Teilung zeigt in der Elle, also in einer begrenzten Größe, eine Unendlichkeit auf, und zwar sogar eine doppelte Unendlichkeit: eine Unendlichkeit zum Großen und eine zum Kleinen hin. Aufgrund der ins Unendliche fortschreitenden Teilung besteht die Elle aus zwei Gliedern, von denen das eine zum unendlich Kleinen und das andere zum unendlich Großen hin fortschreitet. Denn die ungeteilte Hälfte der Elle wird im Verhältnis zu der immer weiter geteilten andesagt, daß seine Darlegungen aus Platons Ausführungen Über das Gute stammen, von denen Aristo­teles und die übrigen Schüler Platons berichten, hat folgendes geschrieben: Bei der Erforschung der Prinzipien des Seienden ging Platon davon aus, daß die Zahl dem Wesen nach ursprünglicher sei als alles andere – denn die Grenzen der Linie seien die Punkte, die Punkte aber seien Einheiten mit Stelle im Raum, und ohne die Linie gebe es weder eine Fläche noch einen dreidimensionalen Körper, während die Zahl auch unabhängig von allen Dimensionen existieren könne – da nun also die Zahl dem Wesen nach ursprünglicher sei als alles andere, nahm er an, daß die Zahl Prinzip ist und daß die Prinzipien der ursprünglichsten Zahl auch die Prinzipien jeder Zahl sind. Die ursprünglichste Zahl aber ist die Zweiheit, und als deren Prinzipien lehrte er das Eine und das Große und das Kleine. Sofern sie nämlich Zweiheit ist, habe sie Vielheit und Wenigkeit in sich. Und zwar Vielheit, sofern das Doppelte in ihr ist; denn das Doppelte ist Vielheit und Überschuß und eine bestimmte Größe; Wenigkeit aber, sofern das Halbe in ihr ist. Aufgrund dieser Bestimmungen seien darum Überschuß und Mangel und Großes und Kleines in der Zweiheit. Sofern aber jedes ihrer beiden Glieder eine Einheit ist und die Zweiheit als solche eine bestimmte einheitliche Form (Idee) ist, nämlich das Zweiheitliche, habe sie an der Einheit teil. Darum lehrte er, daß die Prinzipien der Zweiheit das Eine und das Große und das Kleine seien. „Unbestimmte Zweiheit“ aber nannte er sie deswegen, weil das, was am Großen und Kleinen beziehungsweise am Größeren und Kleineren teilhat, das Mehr und das Weniger in sich enthält. Denn nach Anspannung und Entspannung fortschreitend stehen Mehr und Weniger nicht fest, sondern greifen ins Unbestimmte der Unendlichkeit aus. Weil nun die ursprünglichste Zahl die Zweiheit sei und deren Prinzipien das Eine und die unbestimmte Zweiheit, darum seien diese notwendig die Prinzipien aller Zahlen. Die Zahlen aber seien die Elemente alles Seienden. Somit seien das Eine und das Große und Kleine beziehungsweise die unbestimmte Zweiheit auch die Prinzipien von Allem. Denn auch jede Zahl habe an dem Einen teil, sofern sie eine bestimmte Zahl und etwas Einheitliches und in sich Bestimmtes ist, an der unbestimmten Zweiheit aber, sofern sie teilbar und eine Vielheit ist. Platon lehrte aber, daß auch die Ideen Zahlen seien. Darum leuchtet es ein, daß er die Prinzipien der Zahl auch als Prinzipien der Ideen ansah. Daß aber die Zweiheit das Wesen des Unbegrenzten sei, lehrte er darum, weil das Große und Kleine beziehungsweise das Größere und Kleinere nicht bestimmt sind, sondern das Mehr und Weniger enthalten, welche ja ins Unendliche fortschreiten.“ 14  Dafür spricht jedenfalls die auffallende Ähnlichkeit des Gedankens mit dem Linien­ gleichnis der Politeia, in dem ebenfalls eine Linie in zwei ungleiche Teile geteilt wird, die dann weiter eingeteilt werden.  

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ren Hälfte mit jedem Teilungsschritt immer größer und die sich teilende Hälfte wird mit jeder Teilung im Verhältnis zur ungeteilten immer kleiner. An diesem unendlichen Größer- und Kleinerwerden zeigt sich die unbestimmte Zweiheit als Prinzip der Teilung und der unendlichen Vielheit. Und zwar zeigt sich dieses Prinzip als diejenige Einheit, welche das zum Größeren und das zum Kleineren hin fortschreitenden Glied, das jeweils selbst eine Einheit (μόνας) ist, zusammenhält (συγκειμένη). Erst durch dieses Zusammenhalten der beiden gegenläufig auseinandergehenden Einheiten wird nämlich deren wechselseitiges Verhältnis des Größer- und Kleinerwerdens überhaupt faßbar. Damit dieses Verhältnis als solches faßbar wird, muß jedes seiner beiden Glieder Einheitscharakter haben und zugleich müssen beide Glieder auch noch zu einer sie beide umgreifenden Einheit zusammengehalten werden. Die unbestimmte Zweiheit zeigt sich darum gerade in ihrer entgrenzenden, ins Unendliche teilenden Wirksamkeit als die Einheit der Einheit des Großen und der Einheit des Kleinen. Sie ist noch in den unbestimmten Verhältnissen des unbegrenzten Mehr und Weniger, in denen sich ihr Wesen als solches zeigt, in doppelter bzw. dreifacher Weise durch das Eine bestimmt. Dieses Prinzip des unbestimmten Mehr und Weniger aber liegt nicht nur den kontinuierlichen Größen in der Sinnenwelt zugrunde, sondern ebenso den Zahlen als den strukturgebenden Elementen der Ideenwelt, wie Platons Analyse der Zweiheit beweist. Die Zweiheit ist die ursprünglichste Zahl, weil sie das ursprünglichste und einfachste Verhältnis ist, das gedacht werden kann. Denn die Verhältnishaftigkeit konstituiert die Zahl als Zahl.15 Darum ist die Eins keine Zahl, weil sie kein Verhältnis enthält. Die Zweiheit ist nun nicht einfach eine Einheit aus zwei Elementareinheiten, sondern spezifischer gedacht die Verhältniseinheit des Doppelten und Halben und damit das erste und ursprünglichste zahlenhaft bestimmte Verhältnis überhaupt. Was für sie konstitutiv ist, ist darum für alle anderen denkbaren Verhältnisse jedweder Art ebenfalls konstitutiv. Das Verhältnis von Doppelt zu Halb ist aber ein Verhältnis von Übertreffen und Zurückbleiben, von Mehr und Weniger, von Überschuß (ὑπεροχή) und Mangel (ἔλλειψις), die in ihm schon konkretisiert sind und ihm darum als Ursprünglicheres vor­ausgehen müssen. Der unbestimmte Bezug von Überschuß und Mangel, Größer und Kleiner ist darum das Prinzip der Verhältnishaftigkeit als solcher und damit das Prinzip der Zahl. Als das unbestimmte Urverhältnis von Groß und Klein ist er das Prinzip der Entzweiung und der Relativität. Wird dieses Urverhältnis nun durch die Übermacht des Einen zu 15  Grundlegend dazu ist Otto Töplitz, „Das Verhältnis von Mathematik und Ideenlehre bei Plato“ (zuerst 1929), in: Oskar Becker (Hg.), Zur Geschichte der griechischen Mathematik, Darmstadt 1965, 45–75. Vgl. ebenso Julius Stenzel, „Zur Theorie des Logos bei Aristo­ teles“ (zuerst 1929), in: ders., Kleine Schriften zur griechischen Philosophie, Darmstadt 1956, 188–219. Vgl. auch die umfassende Darstellung bei Gaiser, Platons Ungeschriebene ­Lehre, 115–145.

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dem bestimmten Verhältnis zweier bestimmter Einheiten, des Doppelten und des Halben, begrenzt, so entsteht aus ihm die Zahl Zwei als eine vollbestimmte eigene Einheit, als einheitliche Idee oder Form (ἕν τι εἶδος). Die Prinzipien der Zahl sind darum das Bestimmtheit, Grenze und Form ermöglichende Eine und die sich im Übertreffen und Zurückbleiben auswirkende, Verhältnis-stiftende unbestimmte Zweiheit. Diese ist freilich auch als das unbestimmte Urverhältnis von Größer und Kleiner selbst immer noch eine Einheit – wenn auch eine unbestimmte – und mithin dem Einen selbst nicht gleichursprünglich, denn Verhältnis ist eine Weise von Einheit. Das Zeugnis Alexanders, das Simplikios daneben stellt, bestätigt das Referat des Porphyrios, ohne inhaltlich darüber hin­auszugehen. Alexander betont besonders, daß die Zweiheit als Verhältnis eine Einheit ist und daß auch ihre beiden Glieder Einheiten sind. Bei Porphyrios wird dagegen deutlicher, daß auch das zugrundeliegende Urverhältnis von Mehr und Weniger als solches schon den Charakter einer Einheit hat, daß also der Einheitscharakter des Verhältnisses und seiner Momente ihrer Bestimmung als Zahl und Idee immer schon vor­ausgeht und darum auch die unbestimmte Zweiheit als solche betrifft. Alexander erwähnt ferner eigens die für Platon vielfach belegte Gleichsetzung der Ideen mit Zahlen und die dimensionale Reduktion der Körperwelt auf die reinen Zahlen, welche den bei Porphyrios vor­ausgesetzten Hervorgang der Sinnenwelt aus dem intelligiblen Kosmos strukturiert;16 dieser strukturelle Zusammenhang beider Seinssphären erklärt auch, warum Platon das Eine und die unbestimmte Zweiheit als die Prinzipien beider Welten ansetzen konnte.

4. Zwei Arten von Unendlichkeit Das Prinzip des Unbegrenzten wirkt sich nun in beiden Welten auf verschiedene Weisen aus. Simplikios führt das in einem Referat aus, das vermittelt durch Alexander auf Aristo­teles’ Nachschrift zurückgeht.17 Simplikios wendet sich 16 Vgl. dazu die umfassende Darstellung von Gaiser, Platons ungeschriebene ­L ehre, 44– 51, auch 73–81. 17 Simplikios, In Aristotelis Physicam 503, 10–35 Diels = Aristo­teles, De bono Fragment 94 Gigon (Test. Plat. 53 B Gaiser): δείξας δὲ ὅτι περιέχεται μᾶλλον τὸ ἄπειρον ἤπερ περιέχει καὶ ὅτι ἄγνωστόν ἐστι τῇ αὑτοῦ φύσει, τὴν ἐπιπόλαιον ἐκδοχὴν ἐλέγχει τῶν Πλάτωνος λόγων. τοῦ γὰρ Πλάτωνος ἐν τοῖς Περὶ τἀγαθοῦ λόγοις εἰπόντος τὸ μέγα καὶ τὸ μικρὸν τὴν ὕλην, ἣν καὶ ἄπειρον ἔλεγε, καὶ περιέχεσθαι ὑπὸ τοῦ ἀπείρου πάντα τὰ αἰσθητὰ καὶ ἄγνωστα εἶναι διὰ τὸ ἔνυλον καὶ ἄπειρον καὶ ῥευστὴν ἔχειν τὴν φύσιν, ἀκόλουθόν φησι δοκεῖν τῷ τοιούτῳ λόγῳ καὶ ἐν τοῖς νοητοῖς τὸ ἐκεῖ μέγα καὶ μικρόν, ὅπερ ἐστὶν ἡ ἀόριστος δυάς, ἀρχὴ καὶ αὐτὴ οὖσα μετὰ τοῦ ἑνὸς παντὸς ἀριθμοῦ καὶ πάντων τῶν ὄντων· ἀριθμοὶ γὰρ καὶ αἱ ἰδέαι. ἀκόλουθον οὖν τὸ καὶ ἐν τοῖς νοητοῖς ὑπὸ τοῦ ἐκεῖ ἀπείρου καὶ ἀγνώστου περιέχεσθαι καὶ ὁρίζεσθαι τὰ νοητὰ γνωστὰ ὄντα φύσει καὶ ὡρισμένα ἅτε εἴδη ὄντα. αὕτη μὲν ἡ κατὰ τὸ φαινόμενον ἀτοπία τοῦ λόγου. ἐπιστῆσαι δὲ χρὴ ὅτι τὰ μὲν ἔνυλα εἰκότως ὑπὸ τῆς ὕλης καὶ τῆς ὑλικῆς ἀπειρίας λέγει περιέχεσθαι οὐχ ὡς ὁριζούσης αὐτά, ἀλλ᾿ ὡς διὰ πάντων χωρούσης καὶ οἷον εἰδοποιούσης, καὶ τὸ ἄγνωστον τοῖς τῇδε εἰκότως ἡ

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dabei gegen eine kritische Bemerkung des Aristo­teles (Physik 207 a 18), die für ihn ein oberflächliches Platonverständnis erkennen läßt. Aristo­teles hatte gegen Platon bemerkt, daß das Unbegrenzte eher umgriffen werde als selber umgreife – wie gerade das Beispiel der Ellenteilung zeigen kann –, und daß es aufgrund seines eigenen Wesens unerkennbar sei, weil Erkennen, wie auch Simplikios in seinem Referat betont, stets das Erfassen von Bestimmtheit und darum auf Grenze angewiesen ist. Simplikios berichtet nun, Platon habe die Materie in ihrer Unbegrenztheit mit dem unbegrenzt Großen und Kleinen identifiziert, das er auch in der Ideen­welt als Prinzip angesetzt habe. Dieses Prinzip wirke im Sinnenfälligen ὑλικὴ ἀπειρία παρέχεται· τὰ μέντοι νοητὰ ἄυλα ὄντα καὶ καθαρὰ εἴδη ὑπὸ τῆς ἐκεῖ ἀύλου ἀπειρίας περιέχεται τὴν διάκρισιν τῶν εἰδῶν ἐργαζομένης κατὰ τὴν δυάδα καὶ τὸ μᾶλλον καὶ ἧττον ἐν ὑπεροχῇ καὶ ἐλλείψει παρεχομένης διὰ τῆς ἐκεῖ τάξεως καὶ τὸ τῆς δυνάμεως ἀνέκλειπτον. καὶ οὐκ ἂν εἴη κατ᾿ ἐκείνην τὴν περιοχὴν ἄγνωστα. καὶ γὰρ καὶ τὸ ἐνταῦθα ἄπειρον ὡς ὑλικὸν ἄγνωστα τὰ τῇδε ἐποίει, ἐκεῖνο δὲ ὑπὸ τοῦ ἑνὸς καὶ τοῦ πέρατος κρατούμενον ὁ πλοῦτος καὶ ἡ γονιμότης τῶν εἰδῶν ἐστιν. εἰ δὲ κατὰ τὴν ἐκεῖ ἀπειρίαν ἡ εἰς τὸ ὂν καὶ τὴν νοητὴν ἕνωσιν ἀνάχυσις γίνεται τῶν ἐκεῖ εἰδῶν, οὐδὲν θαυμαστὸν κατὰ ταύτην καὶ τὴν γνωστὴν ὑπερδραμεῖν φύσιν τὰ εἴδη. τὸ γὰρ γνωστὸν πρὸς τοῦ πέρατος μᾶλλόν ἐστι, τὸ δὲ ἄγνωστον καὶ ἀπόρρητον πρὸς τῆς ἀπειρίας.   „Daß Aristo­teles meint [Physik III 6, 207 a 18], daß das Unbegrenzte eher umgriffen wird als selber umgreift und daß es aufgrund seines eigenen Wesens unerkennbar ist, beweist, wie oberflächlich er Platons L ­ ehren übernommen hat. Denn Platon sagt in den Lehrvorträgen Über das Gute, die Materie, welche er auch unbegrenzt nennt, sei das Große und das Kleine, und alles Sinnenfällige werde durch das Unbegrenzte umgriffen und sei unerkennbar, weil es ein materielles, unbegrenztes und fließendes Wesen habe. Entsprechend sagt er aufgrund einer derartigen Überlegung, daß es auch im Intelligiblen das geben muß, was dort das Große und Kleine ist: dies ist die unbestimmte Zweiheit, welche selber zusammen mit dem Einen auch Ursprung aller Zahlen und damit alles Seienden überhaupt sei. Denn Zahlen seien auch die Ideen. Demgemäß bedeutet auch im Intelligiblen das Umgriffenwerden durch das, was dort das Unbegrenzte und Unerkennbare ist, zugleich ein Bestimmtwerden, sind doch die intelligiblen Wesenheiten aufgrund ihres Wesens erkennbar und in sich bestimmt, da sie ja Ideen sind. Das ist nur dann abwegig, wenn man diesen Gedanken auf die Erscheinungen bezieht. Man muß aber verstehen, daß Platon zwar von den materiellen Dingen zu Recht sagt, daß sie von der Materie und der materiellen Unbegrenztheit umgriffen werden, nicht in dem Sinne, daß sie von ihr bestimmt würden, sondern vielmehr in dem Sinne, daß die Unbegrenztheit durch alle Dinge hindurchgeht und in ihnen gleichsam Gestalt annimmt, und daß er somit zu Recht sagt, daß bei den Dingen hienieden die materielle Unbegrenztheit die Unerkennbarkeit einschließt. Die intelligiblen Wesenheiten jedoch, welche immateriell und reine Ideen sind, werden von der dortigen immateriellen Unbegrenztheit umgriffen, indem durch die Zweiheit die Unterscheidung der Ideen zustande kommt, wobei das Mehr und Weniger im Übertreffen und Zurückbleiben aufgrund der Ordnung und der Unerschöpflichkeit ihrer Kraft im Intelligiblen (immer schon) umgriffen (und bestimmt) ist. Und darum werden die Ideen durch jenen Überfluß auch nicht unerkennbar. Denn das Unbegrenzte in dieser Welt macht die Dinge hienieden unerkennbar, weil es materiell ist, das Unbegrenzte in jener Welt dagegen ist der Reichtum und die Fruchtbarkeit der Ideen, weil es immer schon von der Übermacht des Einen und der Grenze bestimmt ist. Wäre es dagegen so, daß aufgrund der dortigen Unbegrenztheit die Einung ins Sein und in die Erkennbarkeit den transzendenten Ideen zerflösse, dann wäre es nicht erstaunlich, daß aus diesem Grunde die Ideen auch ihr erkennbares Wesen verlören. Denn die Erkennbarkeit gehört recht eigentlich zur Grenze, die Unerkennbarkeit und Unaussprechlichkeit dagegen zur Unbegrenztheit.“

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so, daß alles Sinnliche durch das Unbegrenzte umgriffen werde (περιέχεσθαι). Dieses Umgriffenwerden sei aber nicht so zu verstehen, daß die Sinnendinge dadurch begrenzt und bestimmt würden, sondern vielmehr in dem Sinne, daß die Unbegrenztheit der Materie durch alles Sinnliche hindurchgehe und dabei in den sinnlichen Dingen gleichsam Gestalt annehme. Diese sinnlich erscheinende Gestalt bleibt aber nicht fest und beständig, sondern wird von der gestaltlosen Unbegrenztheit der Materie je und je gleichsam aufgezehrt. Darum haben die sinnlichen Erscheinungen ein materielles, und d.h. ein ins Unbegrenzte und Unbestimmte zerfließendes Wesen. Weil die unbestimmte Unendlichkeit der Materie durch alle Erscheinungen hindurchgeht und dabei ihre Bestimmtheit aufzehrt, darum sind die Erscheinungen auch von der Unerkennbarkeit der Materie infiziert, also selber nicht eigentlich erkennbar, sondern nur wahrnehmbar und meinbar. Bei den Ideen ist das Umgriffenwerden durch die Unbegrenztheit der unbestimmten Zweiheit dagegen nicht so zu verstehen, daß diese durch die Ideen, ihre Bestimmtheit auflösend, hindurchginge, sondern im Gegenteil so, daß die Ideen dadurch bestimmt werden, und zwar zu reinen, stabilen und ewigen Bestimmtheiten. Die Unbegrenztheit wirkt also auf die Ideen bestimmend und nicht Bestimmtheit zersetzend wie bei den Erscheinungen. Sie bestimmt die Ideen insofern, als sie ihre Unterschiedenheit voneinander und damit ihre Vielheit begründet. Die Unterschiedenheit der Ideen löst deren Bestimmtheit aber nicht auf, sondern trägt gerade zu ihr bei, denn bestimmt ist eine jede Idee gerade durch ihren Unterschied zu anderen Ideen. Der von der Zweiheit bewirkte Unterschied, welcher die Ideen pluralisiert, und zwar zu einer unendlichen Vielheit (vgl. Parmenides 142 D – 143 A), ist darum kein Seinsmangel wie die durch alle Erscheinungen hindurchgehende Unbestimmtheit der Materie. Sie bedeutet ganz im Gegenteil einen Überschuß (ὑπεροχή) an Sein: den Reichtum (πλοῦτος) und die Fruchtbarkeit (γονιμότης) der Ideen, kraft der diese immer andere Ideen und abgeleitete Seinsformen aus sich hervorgehen lassen. Die Ideenwelt ist unendlich, wie auch der Parmenides beweist, aber nicht im Sinne der schlechten ­ egel erinnernden „wahUnendlichkeit der Materie, sondern im Sinne einer an H ren“ oder vollendeten Unendlichkeit, der die Bestimmtheit verleihende Grenze nicht fehlt, die aber auch nicht gegen ein Anderes, ihr selbst Äußerliches begrenzt ist, sondern nur gegen sich selbst und in sich selbst (vgl. Parmenides 158 D): als Totalität aller reinen Bestimmungen hat das Ideenganze alle Bestimmtheit des Seins in sich selbst und ist darum im positiven Sinne unendlich. Diese positive Unendlichkeit der Ideen, die in sich selbst bestimmt ist, gründet aber in der Sein und Bestimmtheit setzenden Übermacht des absoluten Einen.18 Indem das Eine die Unendlichkeit der unbestimmten Zweiheit in die Einheit des Seins 18 Vgl. zur Unendlichkeit des absoluten Einen selbst bei Platon und in der Akademie unten Kapitel XII.

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eint, die als Bestimmungstotalität nur in sich selbst und gegen sich selbst bestimmt ist, verhindert es das Zerfließen der Bestimmtheit in die Relativität des unbegrenzten Mehr oder Weniger und wandelt so die schlechte Unendlichkeit des Vielheitsprinzips in den unerschöpflichen inhaltlichen Reichtum des intelligiblen Seins, die wahre Unendlichkeit um. So ist es die das Vielheitsprinzip übergreifende und bestimmende Übermacht des absolut Einen, der die stabile Ordnung des Intelligiblen die „Unerschöpflichkeit ihrer Kraft“ (τῆς δυνάμεως ἀνέκλειπτον) verdankt.19 Die unbestimmte Zweiheit wirkt sich im Bestimmungsreichtum der Ideen nur als Unterschiedenheit aus, nämlich in einer von der Übermacht des Einen immer schon gebändigten und beherrschten Weise, in der ihr eigentliches privatives Wesen gar nicht zur Auswirkung kommt. Erst in der Welt der Erscheinungen, in denen sie die Bestimmtheit der Ideen mit Unbestimmtheit durchdringt und ins Mehr und Weniger hinein auflöst, zeigt sich die eigene Macht und das eigentliche Wesen des zweiten Prinzips. In dieses Wesen eingesetzt und zu seiner relativierenden, graduierenden und Bestimmtheit auflösenden Wirksamkeit ermächtigt ist das zweite Prinzip freilich selbst durch die Übermacht des Einen, die so auch noch die von der Materie durchherrschte Welt der Erscheinungen dominiert.

5. Das zweite Prinzip als Grund von Raum und Bewegung Aristo­teles berichtet in der Physik an berühmter Stelle, Platon habe im Timaios die Materie (ὕλη) und den Raum (χώρα) miteinander identifiziert und damit als erster überhaupt eine Wesensbestimmung des Raumes, des Worin der Dinge, gegeben. Dieses Materialprinzip habe Platon in „dem, was man die ungeschriebenen ­Lehren nennt,“ bloß auf andere Weise bezeichnet (nämlich als das Ungleiche, die unbestimmte Zweiheit, das Große und Kleine), in der Sache aber durchaus so konzipiert wie im Timaios. 20 19 Vgl. dazu Platons berühmte Formulierung (Politeia 509 B 9 f), das Absolute sei ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος. 20  Aristo­teles, Physik IV 2, 209 b 11–17. 209 b 33–210 a 2 (Test. Plat. 54 A Gaiser): διὸ καὶ Πλάτων τὴν ὕλην καὶ τὴν χώραν ταὐτό φησιν εἶναι ἐν Τιμαίῳ· τὸ γὰρ μεταληπτικὸν καὶ τὴν χώραν ἓν καὶ ταὐτόν. ἄλλον δὲ τρόπον ἐκεῖ τε λέγων τὸ μεταληπτικὸν καὶ ἐν τοῖς λεγομένοις ἀγράφοις δόγμασιν, ὅμως τὸν τόπον καὶ τὴν χώραν τὸ αὐτὸ ἀπεφήνατο. λέγουσι μὲν γὰρ πάντες εἶναί τι τὸν τόπον, τί δ᾿ ἐστίν, οὗτος μόνος ἐπεχείρησεν εἰπεῖν. … (Πλάτωνι μέντοι λεκτέον, εἰ δεῖ παρεκβάντας εἰπεῖν, διὰ τί οὐκ ἐν τόπῳ τὰ εἴδη καὶ οἱ ἀριθμοί, εἴπερ τὸ μεθεκτικὸν ὁ τόπος, εἴτε τοῦ μεγάλου καὶ τοῦ μικροῦ ὄντος τοῦ μεθεκτικοῦ εἴτε τῆς ὕλης, ὥσπερ ἐν τῷ Τιμαίῳ γέγραφεν.)   „Darum sagt Platon im Timaios auch, die Materie und der Raum seien dasselbe. Denn das Aufnehmende und der Raum sind ein und dasselbe. Zwar bezeichnet er das Aufnehmende im Timaios und in dem, was man die „ungeschriebenen ­Lehren“ nennt, auf verschiedene Weise, gleichwohl aber sah er (hier wie dort) den Ort und den Raum als identisch an. Alle behaupten

VII. Platons unbestimmte Zweiheit

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Platon hat in seiner innerakademischen Prinzipienphilosophie die unbestimmte Zweiheit auch als Prinzip der Ideen und Zahlen angesetzt und damit Aspekte dieses Prinzips thematisiert, die im Timaios ausgespart bleiben, wo die Raum-Materie nur als Prinzip des Werdens behandelt wird. Gleichwohl aber kann man mit Aristo­teles von einer Gleichsetzung der Raum-Materie des Timaios mit dem Vielheitsprinzip der innerakademischen Lehrvorträge ausgehen; denn das eigentliche, nämlich privative Wesen des zweiten Prinzips kommt ja erst im Werden und in den sinnlichen Erscheinungen wirklich zur Auswirkung, wie wir gesehen haben. Im intelligiblen Sein bleibt die entzweiende, unterscheidende und pluralisierende Kraft der unbestimmten Zweiheit ganz und gar eingebunden in die Bestimmungstotalität der Ideen und wirkt sich in ihr nur als Bestimmungsreichtum aus. Erst im Werden zeigt sich diese Kraft in ihrem eigentlichen Wesen als der die Dinge trennende und auseinanderreißende Raum und als die ihre Bestimmtheit relativierende, aufzehrende und schließlich verschwindenlassende Materie. Während Sein und Bestimmtheit in den Ideen wirklich sind und im Werden nur gebrochen erscheinen, ist das privative Wesen des zweiten Prinzips umgekehrt nur im Werden wirklich, im Sein dagegen immer schon aufgehoben in die Einheit und Bestimmtheit. Aristo­teles verknüpft mit seinem Referat die kritische Bemerkung, Platon müsse sich fragen lassen, wieso die Ideen nicht im Raum sein sollen, wenn doch das Aufnehmende der Raum sei und Platon in Gestalt des Großen und Kleinen auch für die Ideen etwas angesetzt habe, was dort die Bestimmtheit aufnehme und darum, so Aristo­teles’ eigene Folgerung, von der Art des Raumes sein müsse. Die Antwort auf diese Frage hat uns schon der Bericht des Simplikios gegeben (Test. Plat. 53 B). Ernster zu nehmen ist ein anderer Einwand des Aristo­teles. 21 Er kritisiert nämlich, Platons zweites Prinzip verstelle gerade ein angemessenes Begreifen nämlich, der Raum sei etwas, was er aber ist, hat allein Platon herauszufinden unternommen … Platon muß jedoch erklären – wenn eine Nebenbemerkung erlaubt ist –, warum die Ideen und die Zahlen nicht im Raum sind, wenn doch das Aufnehmende der Raum ist, sei es, daß das Aufnehmende das Große und Kleine ist, sei es, daß es die Materie ist, wie er im Timaios geschrieben hat.“ 21  Aristo­teles, Physik III 2, 201 b 16–26 (Test. Plat. 55 A Gaiser): ὅτι δὲ καλῶς εἴρηται, δῆλον καὶ ἐξ ὧν οἱ ἄλλοι περὶ αὐτῆς λέγουσιν, καὶ ἐκ τοῦ μὴ ῥᾴδιον εἶναι διορίσαι ἄλλως αὐτήν. οὔτε γὰρ τὴν κίνησιν καὶ τὴν μεταβολὴν ἐν ἄλλῳ γένει θεῖναι δύναιτ᾿ ἄν τις, δῆλόν τε σκοποῦσιν ὡς τιθέασιν αὐτὴν ἔνιοι, ἑτερότητα καὶ ἀνισότητα καὶ τὸ μὴ ὂν φάσκοντες εἶναι τὴν κίνησιν· ὧν οὐδὲν ἀναγκαῖον κινεῖσθαι, οὔτ᾿ ἂν ἕτερα ᾖ οὔτ᾿ ἂν ἄνισα οὔτ᾿ ἂν οὐκ ὄντα· ἀλλ᾿ οὐδ᾿ ἡ μεταβολὴ οὔτ᾿ εἰς ταῦτα οὔτ᾿ ἐκ τούτων μᾶλλόν ἐστιν ἢ ἐκ τῶν ἀντικειμένων. αἴτιον δὲ τοῦ εἰς ταῦτα τιθέναι ὅτι ἀόριστόν τι δοκεῖ εἶναι ἡ κίνησις, τῆς δὲ ἑτέρας συστοιχίας αἱ ἀρχαὶ διὰ τὸ στερητικαὶ εἶναι ἀόριστοι.   „Daß unsere ­Lehre (über die Bewegung als Entelechie) richtig ist, wird schon aus dem klar, was die anderen Philosophen über sie sagen und daraus, daß es gar nicht leicht ist, sie anders zu bestimmen. Denn man kann doch die Bewegung und die Veränderung nicht in einer anderen Gattung ansetzen. Das wird deutlich, wenn man prüft, wie manche (die Platoniker) sie ansetzen, welche behaupten, daß die Bewegung Verschiedenheit und Ungleichheit

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

von Bewegung (κίνησις) und Veränderung (μεταβολή). Aristo­teles sieht das Wesen der Bewegung in der Veränderung als dem Vorgang des „Umschlagens“ von Nicht­sein in Sein. Diesen Umschlag begreift er als Übergang vom Modus der Möglichkeit (δύναμις) in den der Wirklichkeit (ἐνέργεια), als einen Akt des Wirklichwerdens, für den er den Terminus „Entelechie“ prägt, also „Ins-Ziel-Gelangen“. Dieses Ins-Ziel-Kommen ist die ontologisch begriffene Bewegung. Platon und die Platoniker denken die Bewegung dagegen nicht von der Veränderung als Umschlag her, wie Aristo­teles berichtet, sondern von ihrem zweiten Prinzip her durch „die Prinzipien der negativen Gegensatzreihe“. Bewegung ist für Platon ein Prinzipiat der unbestimmten Zweiheit und darum durch Verschiedenheit, Ungleichheit und Nicht­sein charakterisiert. Das ursprünglichste und eigentliche Wesen der Bewegung besteht für Platon, wie auch der Sophistes zeigt, darin, Beziehung zwischen Verschiedenen zu sein; dies ist sowohl das Wesen der intelligiblen Bewegung als der Beziehung zwischen verschiedenen Ideen als auch das Wesen der sinnlich erscheinenden Bewegung als des Übergangs zwischen verschiedenen Zuständen. Als „Beziehung zwischen Verschiedenen“ ist Bewegung aber durch die Ungleichheit dieser Verschiedenen und ihr relationales Nicht­sein (das eine ist das andere nicht) wesentlich bestimmt; darum sind Verschiedenheit, Ungleichheit und Nicht­sein die bestimmenden Momente der Bewegung. Diese Bestimmungsmomente sind nun freilich ihrerseits bestimmt durch ihren negativen Bezug zu ihren Gegensätzen Identität, Gleichheit und Sein, die Inbegriffe reiner Bestimmtheit sind; an ihnen selbst sind Verschiedenheit, Ungleichheit und Nicht­sein dagegen unbestimmt und ohne den Bezug zu ihren positiven Gegensätzen, der sie erst mit Bestimmtheit erfüllt, leer und privativ nichtig. Bewegung ist darum für Platon zuletzt ein Moment der Unbestimmtheit im Übergang zwischen verschiedenen Bestimmtheiten und im Bereich des Werdens sogar ein Privationsphänomen, nämlich das Nicht-Festhalten und Verlieren von Bestimmtheit, wodurch immerfort eins ins andere übergeht und nichts sich selbst gleich bleibt. Aristo­teles kritisiert hieran zweierlei: Platons von den Prinzipien absteigendem Denkweg setzt er seinen eigenen „phänomenologischen“, von den konkreten Erscheinungen ausgehenden Ansatz entgegen; und gegen Platons Abwertung der Bewegung als Seinsmangel hält er seinen eigenen positiven Begriff von Bewegung als Realisierung von Form. Diese Kritik enthüllt freilich eher die Unterschiedlichkeit der Denkstile von Platon und Aristo­teles, als daß sie wirkund das Nichtseiende sei. Nichts von diesen ist notwendig bewegt, weder das Verschiedene noch das Ungleiche noch auch das Nichtseiende. Auch die Veränderung erfolgt nicht eher in diese hinein oder aus ihnen heraus als aus dem ihnen Entgegengesetzten (dem Identischen, Gleichen und Seienden). Der Grund dafür, die Bewegung mit diesen Bestimmungen gleichzusetzen, scheint darin zu liegen, daß sie etwas Unbestimmtes ist und daß die Prinzipien der negativen Gegensatzreihe (also Verschiedenheit, Ungleichheit und Nicht­sein) aufgrund ihres Seinsmangels unbestimmt sind.“

VII. Platons unbestimmte Zweiheit

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liche Defizite der Platonischen Theorie zeigte. Die Bewegung als Veränderung ist nämlich nur von der reinen Bestimmtheit der Ideen aus betrachtet Seinsmangel, weil sie diese Bestimmtheit ins Mehr und Weniger hinein auflöst; von der Unbestimmtheit der Materie aus gesehen, zeigt sie sich dagegen als Erscheinen von Form und damit als ontologisch positiv. Die dialektische Bewegung der Ideen im Ideenganzen dagegen bedeutet, der nicht-privativen Wirkung des zweiten Prinzips im Intelligiblen entsprechend, alles andere als Seinsmangel, sondern ganz im Gegenteil ontologischen Reichtum: wie Platon im Sophistes gegen Parmenides festhält, darf das „vollkommene Sein“ (παντελῶς ὄν) gerade aufgrund seiner Vollkommenheit nicht ohne Bewegung, Leben, Seele und Einsicht (κίνησις, ζωή, ψυχή, φρόνησις) gedacht werden, weil es ohne diese Charaktere nicht Geist (νοῦς) wäre (248 E f). 22 Die ewige Bewegung der Ideen im Sein erfüllt dieses allererst mit Bestimmungsreichtum und darum kehrt das Sein durch diese Bewegung ewig zu sich selbst zurück und ist so Geist, der in den Ideen sich selbst denkt und erkennt. Die Negativität des zweiten Prinzips bewirkt nur in den Erscheinungen Seinsmangel, in den Ideen dagegen ist sie durch die Übermacht des Einen umgewandelt in Positivität: in Reichtum und Überschuß an Seinsgehalt. Die Verhältnisnatur der unbestimmten Zweiheit bewirkt beides: in den Erscheinungen Relativität und damit Abschwächung der Bestimmtheit des Seins, in den Ideen dagegen Beziehungsreichtum und so Fülle des Seins.

22 Vgl.

dazu Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 193 ff.

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133

VIII.

Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre Platons innerakademische Prinzipienlehre – deren bedeutendster zeitgenössischer Interpret Hans Krämer ist1 – setzt bekanntlich zwei letzte Prinzipien an, auf deren Zusammenwirken alles Seiende zurückgeführt wird: das absolute Eine (αὐτὸ τὸ ἕν) und die unbestimmte Zweiheit (ἀόριστος δυάς) des μέγα καὶ μικρόν. Die Frage, „wie sich die beiden gegensätzlichen Prinzipien nach der Auffassung Platons letzten Endes zueinander verhalten“, bezeichnete Konrad ­ ehre Gaiser 1963 in seinem grundlegenden Buch über Platons Ungeschriebene L als „das zentrale sachliche und historische Problem“ der Platonischen Prinzipientheorie. 2 Die damit gestellte Frage nach dem Verhältnis von Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre hat die Platon-Forschung der letzten Jahrzehnte immer wieder beschäftigt.3 Die diskutierten Lösungsmöglichkeiten reichen von 1  Die wichtigsten Arbeiten von Hans Krämer zur Deutung der ungeschriebenen Prinzipienlehre Platons und ihres Zusammenhangs mit dem Schriftwerk sind: Arete bei Platon und Aristo­teles; Ursprung der Geistmetaphysik; Platonismus und hellenistische Philosophie, Berlin/New York 1971 (= Platonismus und hellenistische Philosophie); Platone e i fondamenti della metafisica – engl. Ausgabe: Plato and the Foundations of Metaphysics; Die Ältere Akademie, in: Hellmut Flashar (Hg.), Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie. Philosophie der Antike Bd. 3: Ältere Akademie – Aristo­teles – Peripatos, Basel/Stuttgart 1983, 1–174, 2., durchgesehene und erw. Aufl. Basel 2004, 1–165 (= Die Ältere Akademie); La nuova immagine di Platone, Napoli 1986; Dialettica e definizione del Bene in Platone. Interpretazione e commentario storico-filosofico di „Repubblica“ VI, 534 b 3 – d 2, Milano 1989; die zahlreichen grundlegenden und weitausgreifenden Aufsätze Krämers zu Platon sind jetzt gesammelt in: Gesammelte Aufsätze zu Platon (Berlin/Boston 2014), dort auch die Rezen­sionen, in denen Krämer die Platonforschung fortlaufend kommentiert hat; dort nicht enthalten: „Aristo­teles und die akademische Eidoslehre. Zur Geschichte des Universalienproblems im Platonismus“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 55 (1973), 119–190 (= Aristo­teles und die akademische Eidoslehre). 2 Gaiser, Platons Ungeschriebene ­L ehre, 12–13. 3  Die verschiedenen Möglichkeiten, das Verhältnis der Prinzipien zueinander zu konzipieren und damit die verschiedenen möglichen Spielarten von Monismus und Dualismus sowie der Durchdringung beider, die in Platons Ansatz liegen, unterscheidet grundsätzlich Philip Merlan, „Monismus und Dualismus bei einigen Platonikern“, in: Kurt Flasch (Hg.), Parusia. Festschrift für Johannes Hirschberger, Frankfurt am Main 1965, 143–153. Verschiedene Realisierungen von Monismus und Dualismus innerhalb der Geschichte des Platonismus untersuchen Cornelia J. de Vogel, „La théorie de l’ἄπειρον chez Platon et dans la tradi-

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einem prononcierten Monismus, wie ihn John Findlay in seiner stark hegelianisierenden Platondeutung vertrat,4 bis zu einem konsequenten Dualismus, wie ihn Paul Wilpert, Heinz Happ und Giovanni Reale für Platon konstatierten.5 Während Cornelia de Vogel und Carl Friedrich von Weizsäcker einen Monismus mit deutlicher Unterordnung des Vielheitsprinzips unter das Eine nach dem Modell der Henologie Plotins präferierten,6 tendierte Konrad Gaiser selber zu einer Lösung im Sinne einer coincidentia oppositorum im Absoluten.7 In dieser Richtung energisch weitergehend, glaubt Vittorio Hösle bei Platon ein Übergreifen des positiven über das negative Prinzip im Sinne einer dialektischen Einheit von Einheit und Vielheit feststellen zu können.8 Dagegen hat Hans Krämer insgesamt stärker den dualistischen Zug des Platonischen Prinzipiendenkens betont, gleichwohl aber die Möglichkeit eines den Dualismus hintergreifenden letzten Monismus offengelassen und in seinem monumentalen Buch Der Ursprung der Geistmetaphysik selber eine monistische Lösung tion platonicienne“, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 84 (1959), 21–39 (= La théorie de l’ἄπειρον) – erneut in: dies., Philosophia I, 378–395; Willy Theiler, „Einheit und unbegrenzte Zweiheit von Plato bis Plotin“, in: Jürgen Mau/Ernst Günther Schmidt (Hgg.), Isonomia. Studien zur Gleichheitsvorstellung im griechischen Denken, Berlin 1964, 2. Aufl. 1967, 89–109 – erneut in: Willy Theiler, Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970 (= Untersuchungen zur antiken Literatur), 460–483; ders., „Philo von Alexandria und der Beginn des kaiserzeitlichen Platonismus“, in: Flasch (Hg.), Parusia, 199–218, bes. 205 ff – erneut in: Theiler, Untersuchungen zur antiken Literatur, 484–501; John M. Rist, „Monism: Plotinus and some Predecessors“, in: Harvard Studies in Classical Philology 69 (1965), 329–344; John M. Dillon, The Middle Platonists, London 1977, 2. Aufl. Ithaca/London 1996 (= The Middle Platonists), bes. 12 ff (Speusipp), 119 ff (Ps.-Pythagoreer), 126 ff (Eudoros), 342 ff (Alexander Polyhistor und Sextus Empiricus), 346 ff (Moderatos); ders., The Heirs of Plato. A Study of the Old Academy (347–274 BC), Oxford 2003 (= Heirs of Plato), bes. 40–64 (Speusipp) und 98–136 (Xenokrates); Alain Metry, Speusippos. Zahl – Erkenntnis – Sein, Bern 2002 (= Speusippos), bes. 125–157; Detlef Thiel, Die Philosophie des Xenokrates, bes. 197 ff, 373–423. 4  John N. Findlay, Plato. The Written and Unwritten Doctrines, London 1974, bes. 322 ff. 5 Wilpert, Zwei aristotelische Frühschriften, passim, bes. 173 ff; Happ, Hyle, passim, bes. 141 ff; Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, bes. 205 ff. 6  De Vogel, „La théorie de l’ἄπειρον“, bes. 31; dies., „Was Plato a Dualist?“, in: dies., Rethinking Plato and Platonism, 190–206; Carl Friedrich von Weizsäcker, „Parmenides und die Quantentheorie“, in: ders., Die Einheit der Natur, München 1971, 474–491, bes. 476, 491 – erneut in: ders., Ein Blick auf Platon. Ideenlehre, Logik und Physik, Stuttgart 1981, 57 f, 74 f; ähnlich jetzt Lloyd P. Gerson, From Plato to Platonism, Ithaca/London 2013 (= From Plato to Platonism), bes. 134 ff, 276 ff. 7 Gaiser, Platons Ungeschriebene L ­ ehre, bes. 12–13, 27, 200–201, 506, – vgl. 200: „Eine letzte ‚Begründung‘ wäre nur dann gegeben, wenn hinter den Antinomien, die in der Gegensatzlehre beschlossen sind, ein umfassender Grund sichtbar würde, der beides – Sein und Nicht­sein, πέρας und ἄπειρον – in sich enthielte.“ 8 Hösle, Wahrheit und Geschichte, 478–490, – vgl. 481: „In gewissem Sinne läßt sich Platons Philosophie auf die Formel bringen, sie habe … die Einheit von Einheit und Vielheit gedacht; wichtig an dieser Bestimmung ist die Struktur, die eine positive und eine negative Kategorie in der positiven zusammenfaßt.“

VIII. Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre

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erwogen. Krämer rechnet dabei allerdings nicht mit einer (entweder von Cusa­ nus oder von H ­ egel her verstandenen) Einheit der Gegensätze bei Platon, sondern im Sinne der neuplatonischen Platondeutung mit einer Zurückführung des Vielheitsprinzips auf das Eine als allbegründendes Ur-Prinzip.9 Schon diese Forschungsdiskussion sollte uns davor warnen, die ungeschrie­ ehre undifferenziert als unvermittelbaren, quasi manichäischen Dualisbene L mus zu deuten. Gleichwohl hat Wolfgang Kullmann den „Dualismus“ der un­ ehre dem „Monismus“ der Dialoge im Sinne zweier inhaltlich geschriebenen L kaum vereinbarer Philosophien entgegengestellt.10 Demgegenüber ist mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, daß auch die Dialoge (namentlich Timaios, Sophistes, Philebos und Parmenides) mit einer zweipoligen Struktur der Wirklich­ ehre rechnen,11 während andererseits die keit im Sinne der ungeschriebenen L ­ ehre durchaus Indizien für einen letzten Zeugnisse über die ungeschriebene L Monismus Platons erkennen lassen, für den im übrigen auch die Wirkungsgeschichte der Prinzipienlehre nicht erst vom Neuplatonismus an, sondern wohl schon seit Speusipp spricht.12 Im folgenden seien nun zunächst einige für das Verhältnis von Monismus und Dualismus bei Platon aufschlußreiche Dialogstellen betrachtet; sodann sei auf einige besonders wichtige Indizien für einen letzten Prinzipien-Monismus in der indirekten Überlieferung eingegangen und eine – wie ich glaube – bisher noch nicht diskutierte Lösungsmöglichkeit vorgeschlagen; abschließend sei dann dieser Lösungsvorschlag von Speusipp und dem von ihm abhängigen Mittelplatoniker Eudoros her historisch weiter erhärtet.

1. Monismus und Dualismus in den Dialogen Der für das Verständnis des Platonischen Prinzipiendenkens aufschlußreichste Passus des Dialogwerkes ist anerkanntermaßen die Gleichnissequenz im 6. und 7. Buch der Politeia mit den anschließenden Ausführungen über das Verhältnis von mathematischer Propädeutik und Dialektik.13 Platon enthüllt hier nur sein  9 Krämer,

Ursprung der Geistmetaphysik, bes. 332–334. Kullmann, „Platons Schriftkritik“, in: Hermes 119 (1991), 2–21 (= Platons Schriftkritik), bes. 11 ff und 18 ff, – vgl. 21: „Die ­Lehre von einem zweiten Prinzip wurde erst nach Abfassung des ‚Staates‘ entwickelt und blieb in ihrer strikten Form in den Dialogen gänzlich unberücksichtigt, weil sie mit Grundpositionen der platonischen Philosophie nicht vereinbar war.“ 11  Dazu eingehend Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 293 f, 315 ff, 355 ff, bes. 445–521 zum Timaios. Vgl. ferner Maurizio Migliori, Dialettica e Verità. Commentario filosofico al „Parmenide“ di Platone, Milano 1990 sowie Giancarlo Movia, Apparenze, essere e verità. Commentario storico-filosofico al „Sofista“ di Platone, Milano 1991. 12 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, bes. 98 ff, 201 ff, 282 ff, 363 ff sowie unten Kapitel XI und XII; auch Kapitel XV. 13  Grundlegend für das Verständnis der zentralen Passagen der Politeia im Lichte der Prinzipienlehre sind die folgenden Arbeiten von Krämer: Arete bei Platon und Aristo­teles, 10  Wolfgang

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Erstes Prinzip, das als „das Gute selbst“ oder „die Idee des Guten“ erscheint, dessen eigentliches Wesen aber absichtlich zurückgehalten wird.14 Daß das Gute selbst seinem eigentlichen Wesen nach für Platon das Eine selbst ist, wie uns Aristo­teles berichtet,15 wird von Platon selber in der Politeia unter anderem dadurch unmißverständlich angedeutet, daß er eine dialektische Wesensbestimmung der Idee des Guten fordert, die diese ἀπὸ τῶν ἄλλων πάντων ἀφελών abgrenzt,16 sie also in der Weise einer negativen Theologie aus allen grundlegenden Seins- und Denkbestimmungen herausnimmt.17 Diese ἀφαίρεσις πάντων führt aber der Sache nach notwendig auf das Eine selbst, dessen absolute Einfachheit jede Vielheit von Bestimmungen von ihm ausschließt und damit auch erklärt, warum das „Gute“ als letztes Seins-, Erkenntnis- und Wertprinzip selbst „noch jenseits des Seins“ (ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) stehen muß.18 Denn schon die Aussage, daß das Eine ist, enthält ja eine Zweiheit: nämlich die Zweiheit von Einheit 135–145, 473–480, 533 ff; „Die platonische Akademie und das Problem einer systematischen Interpretation Platons“, in: Kant-Studien 55 (1964), 69–101 – jetzt in: Gesammelte Aufsätze zu Platon, 3–32; „Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik“; „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“; Plato and the Foundations of Metaphysics, 96–103; „Idee des Guten“. – Auf Krämers Ergebnissen aufbauend die Deutungen des Sonnengleichnisses bei Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 257–291; bei Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 220–264 und bei Szlezák, Die Idee des Guten in Platons Politeia, 109–132. – Sehr wichtig ist das Buch von Thomas Alexander Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie – zur Politeia 271–326 – durch den präzise geführten Nachweis, daß die „Hilfe“ für den eigenen Logos durch den Rückgriff auf τιμιώτερα – d.h. auf eine prinzipiellere Begründung – das konsequent durchgeführte Kompositionsprinzip des Platonischen Dialogwerkes bildet; ferner hat Szlezák durch die durchgehende Analyse der Dialoge auf ihre immanenten Verweisungsfunk­ tionen hin den indirekten Beweis erbracht, daß das Dialogwerk im ganzen und im einzelnen der Ergänzung durch die ungeschriebene Prinzipienlehre bedarf und auf sie hin angelegt ist. Vgl. dazu auch Szlezák, Platon lesen, bes. 67 ff, 85 ff. 14  Politeia 506 D–E, 509 C. 15  Metaphysik 1091 b 13–15; Eudemische Ethik 1218 a 19–21. Dasselbe ergibt sich aus Aristoxenos, Harm. II 39–40 Da Rios (nach Aristo­teles); Aristo­teles, Metaphysik 988 a 14 f, 1075 a 35 f, 1084 a 34 f, 1091 a 29 ff; Physik 192 a 15; Sextus Empiricus, Adv. Math. X 268–275; Hermodor bei Simplikios, In Phys. 248, 2 ff Diels u.ö. – Platon deutet am Schluß des Sonnengleichnisses verschlüsselt auf das Eine als das Wesen des Guten hin durch die Anrufung Apollons (509 C 1), dessen Name als Verneinung der Vielheit (A-pollon – der Un-Viele) gedeutet wurde – vgl. Plotin, Enneade V 5, 6, 27 f; Plutarch, De E apud Delphos 20, 393 C und De Iside 75, 381 F – 382 A (im Kontext der Platonischen Prinzipienlehre: alles aus dem ἕν – Ἀπόλλων – abgeleitet κατ’ ἔλλειψιν καὶ ὑπερβολήν, ἰσότητι!). 16  Politeia 534 B. 17  Zur Einzelerklärung der sehr wichtigen Stelle Politeia 534 BC Krämer, „Über den Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik bei Platon“. – Daß Platon an dieser Stelle eine negative Theologie konzipiert, betont zu Recht schon Proklos, In Rempubl. I 285, 5–28 Kroll und In Parm. VII 64, 16–27 mit 58, 22 ff Klibansky. Proklos’ Deutung der Stelle auf die via negativa des reinen Einen stimmt mit der Deutung Krämers grundlegend überein, unterscheidet aber nicht explizit zwischen generalisierendem und elementarisierendem Aufstieg zum Einen; ferner verknüpft Proklos die Stelle mit der 1. Hypothese des Parmenides, in der Platon, so Proklos, die ἀφαίρεσις des ἓν ἀγαθὸν ἀπὸ τῶν ἄλλων πάντων durchführe. 18  Politeia 509 Β; vgl. Parmenides 141 Ε. Zur absoluten Transzendenz des Einen und Gu-

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und Sein, aus der sich alle anderen Grundbestimmungen des Seienden ableiten lassen, wie die 2. Hypothesis des Parmenides lehrt.19 Das überseiende Eine und Gute wird nun betont das „Unbedingte“, 20 der „unbedingte Ursprung“21 oder „der Ursprung des Ganzen“22 genannt; dabei wird die Unbedingtheit des Einen mit seiner Stellung als „Ursprung des Ganzen“, also als allbegründendes Prinzip, verknüpft. 23 Das Dialektikprogramm der Politeia beschreibt deutlich den Aufstieg zu Einem Unbedingten und Absoluten, das Urgrund von allem ist. Dies scheint einen irreduziblen Prinzi­pien­ dualismus auszuschließen: Denn wenn dem Einen die Vielheit als gleichursprüngliches und unabhängiges Prinzip gegenüberstünde, dann wäre das Eine nicht mehr das Prinzip von allem, und es wäre auch nicht mehr ἀνυπόθετος ἀρχή, da seine Wirksamkeit als Ursprung dann durch sein Zusammenwirken mit dem Vielheitsprinzip bedingt wäre, ferner würden sich mehrere unbedingte Prinzipien in ihrer Unbedingtheit gegenseitig aufheben, weshalb es konsequent gedacht nur Ein ἀνυπόθετον geben kann, auf das hin die Vielheit der ὑποθέσεις überstiegen wird. 24 Die Aussagen der Politeia sprechen darum entschieden für eine monistische Deutung der Prinzipienlehre. Da in der Politeia deutlich auf die Ideenzahlen 25 und ebenso auf das μέγα καὶ μικρόν26 hingewiesen wird, kann ten im einzelnen Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 19 ff, 188 ff, 221 ff, 257 ff, 277 ff, 302 ff, 392 ff. 19  Parmenides 142 Β ff. Vgl. auch die aufschlußreiche Parallele bei Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente (Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 7–10): τὸ ἓν ὅπερ δὴ οὐδὲ ὄν πω δεῖ καλεῖν, διὰ τὸ ἁπλοῦν εἶναι καὶ διὰ τὸ ἀρχὴν μὲν ὑπάρχειν τῶν ὄντων, τὴν δὲ ἀρχὴν μηδέπω εἶναι τοιαύτην οἷα ἐκεῖνα ὧν ἐστιν ἀρχή. Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 281 ff, ferner 339 ff, 356 ff, 393 ff. 20  Politeia 511 B 6: τὸ ἀνυπόθετον. 21  Politeia 510 B 7: ἀνυπόθετος ἀρχή. 22  Politeia 511 B 7: ἡ τοῦ παντὸς ἀρχή. 23  Politeia 511 B. 24  Politeia 511 B, 533 C. 25  Politeia 476 A 5–7: … πάντων τῶν εἰδῶν πέρι ὁ αὐτὸς λόγος, αὐτὸ μὲν ἓν ἕκαστον εἶναι, τῇ δὲ τῶν πράξεων καὶ σωμάτων καὶ ἀλλήλων κοινωνίᾳ πανταχοῦ φανταζόμενα πολλὰ φαίνεσθαι ἕκα­ στον. Dies entspricht genau der Begründung des Zahlcharakters der Ideen in dem Referat bei Sextus Emipiricus, Adv. Math. X 258: ἐπείπερ ἑκάστη ἰδέα κατ’ ἰδίαν μὲν λαμβανομένη ἓν εἶναι λέγεται· κατὰ σύλληψιν δὲ ἑτέρας ἢ ἄλλων δύο ἢ τρεῖς ἢ τέσσαρες. 26  Politeia 524 C, 525 A; 524 C 11: τί οὖν ποτ’ ἐστὶ τὸ μέγα αὖ καὶ τὸ σμικρόν. Vgl. ferner 525 A 4–7: ἅμα γὰρ ταὐτὸν ὡς ἕν τε ὁρῶμεν καὶ ὡς ἄπειρα τὸ πλῆθος. – οὐκοῦν εἴπερ τὸ ἕν … καὶ σύμ­ πας ἀριθμὸς ταὐτὸν πέπονθε τοῦτο; – Auch die von Platon im Liniengleichnis (510 C) genannten Prinzipien des Mathematischen – das Gerade und das Ungerade, die Figuren und die drei Arten der Winkel – wurden in der ungeschriebenen ­Lehre über Gleichheit und Ungleichheit bzw. πέρας und ἄπειρον als Obergattungen auf die beiden Universalprinzipien zurückgeführt (vgl. Test. Plat. 37/38 Gaiser; dazu Konrad Gaiser, „Platons Zusammenschau der mathematischen Wissenschaften“, in: Antike und Abendland 32 (1986), 89–124, bes. 100 ff). Um so bezeichnender ist es, daß Platon nur von Einem ἀνυπόθετον als „Ursprung des Ganzen“ spricht, zu dem von den Prinzipien des Mathematischen aus aufgestiegen wird; dies kann nur heißen, daß die unbestimmte Zweiheit für Platon eben keine ἀνυπόθετος ἀρχή ist.

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eine Deutung, die den monistischen Zug der Politeia mit dem Dualismus der indirekten Überlieferung genetisch auszugleichen versucht (durch Spätdatierung der letzteren), 27 ausgeschlossen werden. Eine monistische Deutung der Prinzipienlehre kann freilich von vornherein keine Eliminierung der sie durchgehend bestimmenden Bipolarität bedeuten, sondern nur ihre Relativierung insofern, als das Vielheitsprinzip dem Einen nicht gleichursprünglich und gleichmächtig gegenüberstehen kann. 28 Dies wird durch den zweiten Teil des Parmenides bestätigt, der die Prinzipienlehre innerhalb des Schriftwerkes am weitesten enthüllt. Dort werden in acht Argumentationsgängen oder „Hypothesen“ das Eine und die Vielheit, also die beiden Prinzipien der ungeschriebenen ­Lehre, sowohl in ihrer Absolutheit an sich selbst als auch in ihrem Verhältnis zueinander untersucht. Die 2. und die 3. Hypothesis zeigen die Konstitution des Seinsganzen der Ideenwelt, des „seienden Einen“, durch das Zusammenwirken der beiden Prinzipien des Einen und der (von sich her) unbegrenzten Vielheit: Sie beschreiben die Begründung des Seins einerseits vom ersten Prinzip her als die Entfaltung der Einheit in die Vielheit durch die entzweiende und aufschließende Kraft der Zweiheit (2.  Hypothese) und andererseits vom zweiten Prinzip her als die Begrenzung des Unbegrenzten durch die Einheit-setzende Macht des Einen (3. Hypothese) – die Übereinstimmung mit den Zeugnissen der indirekten Überlieferung ist von Stenzel bis Reale und Migliori immer wieder hervorgehoben worden. 29 Dagegen thematisieren die 1. und die 4.  Hypothesis das Eine und die Vielheit an sich selbst, in ihrer Unbezüglichkeit. Das Ergebnis ist insofern ein negatives, als den Prinzipien an ihnen selbst alle grundlegenden Seinsbestimmungen, die Prädikate des seienden Einen sind, und schließlich auch das Sein selbst sowie Erkennbarkeit und Sagbarkeit abgesprochen werden müssen.30 Dies besagt zunächst, daß die beiden Prinzipien als solche nichtseiend sind, da sie allen denkbaren Bestimmungen und damit jeder möglichen Seinsbedeutung vor­ausliegen. Indessen ist das Nicht­sein des absoluten Einen31 genauer als Seins­transzen­denz 27 

So zuletzt Kullmann, „Platons Schriftkritik“, bes. 11 ff. Zu erinnern ist an die grundsätzliche Klärung Krämers, Ursprung der Geistmetaphysik, 332–333: „Durchdenkt man die der akademischen Prinzipienlehre inhärenten Möglichkeiten und Probleme auf dem Hintergrund der ‚späteren‘ Lösungen einmal genauer, so zeigt sich sofort, daß die Alternative nicht einfach heißt: Monismus oder Dualismus, sondern bestimmter: Monismus mit folgendem Dualismus oder ursprünglicher Dualismus … oder anders ausgedrückt: Die monistische Lösung entspringt einem Rückgriff hinter den Gegensatz der beiden Prinzipien, ohne ihn aufzuheben.“ 29  Zu verweisen ist etwa auf die Referate Aristo­teles, Metaphysik 989 b 18, 1081 a 25, 1082 a 13 ff, 1083 b 23 f, 1091 a 25; Alexander, In Metaph. 56, 19 f, 26 ff und 57, 4 Hayduck; Simplikios, In Phys. 454, 14 (Porphyrios) und 455, 6 f (Alexander); Sextus Empiricus, Adv. Math. X 276–277. Vgl. auch Speusipp bei Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 17 f; ferner Xenokrates, Fr. 68 Heinze. 30  Parmenides 141 E – 142 A. 31  Parmenides 141 E. 28 

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oder Überseiendheit zu verstehen,32 und demgemäß müssen alle Negationen der 1. Hypothesis als Transzendenzaussagen verstanden werden, die das überseiende Absolute in der Weise einer konsequenten theologia negativa von allen seinen Prinzipiaten abheben und damit die in der Politeia33 geforderte negative Ausgrenzung des absoluten Prinzips vollziehen.34 Dagegen bedeutet das Nicht­ sein der reinen, einheitslosen Vielheit nicht Übersein, sondern Seinsmangel, und dementsprechend sind auch die Negationen der 4. Hypothesis in privativer und nicht in transzendierender Bedeutung zu verstehen. Sowohl die Seins­transzen­ denz des reinen Einen als auch der Seinsmangel der reinen Vielheit sind für Pla­ ehre mehrfach bezeugt.35 ton auch durch Zeugnisse der innerakademischen L Darin liegt aber eine deutliche Asymmetrie im Verhältnis der Prinzipien zu32 Vgl.

Politeia 509 B; Test. Plat. 50. Politeia 534 BC. 34 Vgl. zur Deutung der 1. Hypothesis Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 276 ff, 302–405. – Die Deutung der 1. Hypothesis als negative Theologie halte ich aus folgenden Gründen für die einzige historisch mögliche: 1. Die Seins­transzen­denz ist für das Eine in der indirekten Platon-Überlieferung mehrfach bezeugt; für die mit dem Einen identische Idee des Guten ist sie durch Politeia 509 B gesichert. Ein überseiendes Prinzip kann aber nur via negationis erfaßt werden, da jede positive Bestimmung das Sein schon implizieren würde. Platon fordert denn auch die Bestimmung der Idee des Guten ἀπὸ τῶν ἄλλων πάντων ἀφελών (Politeia 534 Β 9), also durch negative Theologie. 2. Platon kritisiert im Sophistes (243 Ε ff) das eleatische Eine, aber nicht deswegen, weil es absolut einfach und deshalb bestimmungslos wäre – wie man erwarten müßte, wenn die 1. Hypothese des Parmenides antieleatisch gemeint wäre –, sondern gerade deswegen, weil es zugleich das Seiende und das Ganze ist und darum nicht absolut einfach und frei von jeder Vielheit; infolgedessen habe das eleatische Eine Teile, und dies könne dem „Einen selbst“ unmöglich zukommen (Sophistes 245 A 5 f). Platon kritisiert das eleatische Eine also, weil es keine reine, absolut einfache Einheit ist. Sophistes 245 A 8–9 sagt er: ἀμερὲς δήπου δεῖ τό γε ἀληθῶς ἓν κατὰ τὸν ὀρθὸν λόγον εἰρῆσθαι. Dies ist ein deutlicher Rückverweis auf Parmenides 137 C ff, wo das Eine in dieser Weise als absolut teillos und frei von Vielheit angesetzt wird. Wenn die 1. Hypothese für Platon also der „ὀρθὸς λόγος“ des ἕν ist, kann sie keine reductio ad absurdum sein, ist also als negative Theologie zu verstehen. 3. Die „neuplatonische“ Deutung der 1. Hypothese als negative Theologie ist nicht nur nachweislich vorplotinisch, wie E. R. Dodds („The Parmenides of Plato and the Origin of the Neoplatonic ‚One‘“, in: Classical Quarterly 22 (1928), 129–142 (= The Parmenides of Plato)) gezeigt hat, sondern sie dürfte im Prinzip bereits auf Speusipp zurückgehen, was Dodds schon vermutet hatte (a.a.O. 140); es läßt sich nämlich zeigen, daß sich Speusipp bei Proklos, In Parm. VII, 40, 1 ff Klibansky (= Test. Plat. 50) auf die ersten beiden Hypothesen des Parmenides bezieht (vgl. unten Kapitel XI). Damit ist aber die Richtigkeit der Deutung der 1. Hypothese als negative Theologie durch einen Platonschüler bezeugt. – Die „neuplatonische“ prinzipientheoretische Deutung des Parmenides verteidigt auch Christoph Horn, „Der Platonische Parmenides und die Möglichkeit seiner prinzipientheoretischen Interpretation“, in: Antike und Abendland 41 (1995), 95–114 (= Der Platonische Parmenides) mit weiteren Argumenten. 35 Speusipp: Test. Plat. 50; Aristo­teles: Test. Plat. 28 a, vgl. Metaphysik 1092 a 14 f; Porphyrios: Test. Plat. 52; Hermodor: Test. Plat. 31. Für die Seins­transzen­denz des Einen ist ferner zu verweisen auf Speusipp, Fr. 48, 57, 62, 72 Isnardi Parente; Aristo­teles, Περὶ εὐχῆς Fr. 1 Ross; Eudemische Ethik 1248 a 27–29; für den privativen Charakter des Vielheitsprinzips besonders auch auf Aristo­teles, Physik 192 a 3 ff (dazu oben Kapitel VII Abs. 2). 33 

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einander: Während das Eine selbst in seiner absoluten Transzendenz jenseits aller Vielheit rein für sich selbst genommen werden kann und muß, da es in seiner Absolutheit von jeder Beziehung zum Anderen, d.h. zum zweiten Prinzip, frei ist, kann die Vielheit gerade nicht rein für sich angesetzt werden, da sie, sobald sie radikal vom Einen getrennt wird, gleichsam ins Nichts zerstiebt.36 Nur das Eine läßt sich absolut setzen, nicht dagegen die Vielheit, die an sich selbst nichtig ist, und darum gibt es nur Ein Absolutes. Die letzte Hypothesis des Parmenides bestätigt dies, indem sie zeigt, daß die Vielheit getrennt von dem Einen auch nicht mehr Vielheit ist,37 sondern gar nichts.38 Positiv gewendet besagt das, daß auch die Vielheit selber noch Einheitscharakter haben muß, um überhaupt als Prinzip konzipiert werden zu können; und in der Tat bezeugt Aristo­teles den Einheitscharakter des Vielheitsprinzips bei Platon ausdrücklich.39 Damit kann die Vielheit dem Einen aber nicht mehr als gleichursprünglich und gleichmächtig entgegengesetzt werden, ohne daß freilich die Möglichkeit einer diskursiv vollziehbaren Ableitung der ursprünglichsten Vielheit selbst aus dem absoluten Einen absehbar wäre. Auch der Philebos spricht für einen den Dualismus nicht eliminierenden, sondern nur hintergreifenden letzten Monismus Platons. Er setzt Einheit und Vielheit, die hier pythagoreisierend auch als πέρας und ἄπειρον erscheinen, übereinstimmend mit der indirekten Überlieferung und mit dem Parmenides als die beiden konstituierenden Prinzipien der Wirklichkeit auf allen Stufen des Seins an.40 Platon betont, daß jedes dieser beiden Prinzipien sich einerseits in einer Vielheit von Aspekten und Manifestationen in den verschiedenen Stufen und Bereichen der Wirklichkeit auswirkt, daß andererseits aber jedes Prinzip für sich Eines ist (23 E ff).41 Dabei hebt Platon den notwendigen Einheitscharakter gerade des ἄπειρον – also des zweiten Prinzips – in ganz auffälliger Weise hervor (25 A, C; vgl. 23 E).42 Wenn aber das Vielheitsprinzip unbeschadet der Pluralität seiner Aspekte und Manifestationen selber Einheitscharakter haben muß, da es sonst gar nicht Ein Prinzip und die einheitliche Obergattung seiner vielfältigen Erscheinungsweisen sein könnte, dann kann es dem Einen selbst 36 Vgl.

Parmenides 165 E – 166 C. Parmenides 165 E, vgl. 159 D. 38  Parmenides 166 C. 39  Metaphysik 1087 b 9–12, 1088 a 15. 40  Philebos 14 C ff. 41  Philebos 23 E 4–6: πολλὰ ἑκάτερον ἐσχισμένον καὶ διεσπασμένον ἰδόντες, εἰς ἓν πάλιν ἑκά­ τερον συναγαγόντες, νοῆσαι πῇ ποτε ἦν αὐτῶν ἓν καὶ πολλὰ ἑκάτερον. 42 Bes. Philebos 25 A 1–4: (Alle Erscheinungsweisen des Mehr und des Weniger müssen zurückgeführt werden) εἰς τὸ τοῦ ἀπείρου γένος ὡς εἰς ἓν δεῖ πάντα ταῦτα τιθέναι, κατὰ τὸν ἔμπροσθεν λόγον ὃν ἔφαμεν ὅσα διέσπασται καὶ διέσχισται συναγαγόντες χρῆναι κατὰ δύναμιν μίαν ἐπισημαίνεσθαί τινα φύσιν. Ebd. 25 C 10–11: ὁπόσα ἐν τῷ πρόσθεν τῆς τὸ μαλλόν τε καὶ ἧττον δεχομένης ἐτίθεμεν εἰς ἓν φύσεως. Vgl. dazu Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 417 ff. 37 

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als dem Urgrund jeder Einheit weder gleichursprünglich noch von ihm unabhängig sein. Dem Philebos läßt sich aber noch ein weiteres Indiz für einen letzten Prinzipienmonismus Platons entnehmen: Er setzt nämlich neben πέρας und ἄπειρον noch zwei weitere Prinzipien der Wirklichkeit an (23 C ff): das μικτόν als Produkt der Begrenzung des Unbegrenzten und die αἰτία τῆς μείξεως, die eben dieses Zusammenwirken der beiden Prinzipien in der Begrenzung des Unbegrenzten koordiniert (27 B; vgl. 30 AB). Das μικτόν auf der Stufe des wahrhaft Seienden kann vom Parmenides her mit dem „seienden Einen“ als dem Ganzen aller Ideen identifiziert werden. Die αἰτία wird in der kosmologisch verkürzten Perspektive unserer Philebos-Stelle mit dem νοῦς verknüpft (28 C ff), also mit dem Demiurgen als causa efficiens der Welt.43 Wir können aber von dieser per­ spektivischen Verkürzung absehen und nach dem Grund für das Zusammenwirken der beiden Universalprinzipien selber fragen. Insofern Koordination selbst eine Weise von Einheit ist, kann ihr Prinzip nur das absolute Eine sein, das somit als der „Grund“ schlechthin über dem Prinzipiengegensatz steht und ihn selber erst ermöglicht.44 Platon selber scheint auf das Eine als letzte oder absolute αἰτία hinzuweisen, wenn er den νοῦς aufgrund seiner αἰτία-Funktion „König des Himmels und der Erde“ nennt (28 C), was an das Königtum der Idee des Guten als Metapher für ihre Allbegründung in der Politeia (509 D, 517 C) und auch an den „König aller Dinge“ aus dem 2. Brief (312 E) erinnert, womit dort zweifellos das Eine selbst gemeint ist. Ferner heißt es im Philebos, der νοῦς gehöre zur „Gattung des Grundes aller Dinge“ (30 D 10 f: ὅτι νοῦς ἐστὶ γένους τῆς τοῦ πάντων αἰτίου λεχθέντος),45 den er also nur als eine seiner Manifesta­ tionen repräsentiert. Der „Grund aller Dinge“ aber ist nach der Politeia die Idee des Guten als ἀρχὴ τοῦ παντός (511 B 7),46 also das überseiende Eine selbst, dessen einheitsstiftende Wirksamkeit der Nous im untergeordneten Bereich des kosmischen Seins nachahmt.47

43 Vgl. die überzeugende Deutung von Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 429 ff und bes. 440 ff. 44  Gerade dieses Argument, nämlich daß eine Zweiheit gleichursprünglicher, aber zusammenwirkender Prinzipien notwendig ein ursprünglicheres Prinzip als Grund ihrer Koordination vor­aussetzt und daß nur das Eine selbst der Grund dieser letzten und umfassendsten Einung sein kann, war für Proklos die entscheidende Widerlegung eines jeden irreduziblen Dualismus. Vgl. Theol. Plat. II 1, 12–14 und II 2, 15–16 Saffrey-Westerink, ähnlich ferner In Parm. 619, 30–620, 3; 695, 39–697, 20; 706, 19–27; 709, 6–36; 724, 10–726, 27 Cousin. 45 Vgl. auch Philebos 30 D 8: ὡς ἀεὶ τοῦ παντὸς νοῦς ἄρχει. 46 Vgl. Politeia 517 C 2: Die Idee des Guten ist πᾶσι πάντων … ὀρθῶν τε καὶ καλῶν αἰτία. 47 Vgl. zur Rolle des demiurgischen Nous und zu seinem Verhältnis zum absoluten Einen eingehend Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, 487 ff und 526 ff; ferner Jens Halfwassen, „Der Demiurg. Seine Stellung in der Philosophie Platons und seine Deutung im antiken Platonismus“, in: Ada B. Neschke-Hentschke (Hg.), Platons „Timaios“. Beiträge zu seiner Rezeptionsgeschichte, Löwen/Leiden 2000, 39–61.

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2. Monismus und Dualismus in der ungeschriebenen ­Lehre Spricht somit das Zeugnis der Dialoge entschieden für einen letzten, die bipolare Struktur der Wirklichkeit nicht aufhebenden, sondern in einem umfassenden Prinzip tiefer begründenden Monismus bei Platon, so findet eine solche Deutung an den Berichten über die ungeschriebene ­Lehre durchaus Anhalt. Zwar findet sich auch hier nirgends eine wirkliche Ableitung des Vielheitsprinzips aus dem Einen. Das Zeugnis bei Sextus Empiricus (Test. Plat. 32, § 261), das als einziges von einer solchen Ableitung zu sprechen scheint, bleibt unbefriedigend. Denn die Selbstentzweiung des Einen „gemäß seiner Andersheit“, die dort die unbestimmte Zweiheit ergeben soll48 setzt die Andersheit bereits vor­aus und verweist außerdem auf die ins Unendliche iterierbare wechselseitige Implikation der beiden Komponenten des seienden Einen im Parmenides (142 E ff), die gemäß der Andersheit voneinander unterschieden und zueinander hinzugefügt werden, wodurch – genau wie bei Sextus – die Ideenzahlen abgeleitet werden (143 B ff).49 Dies weist also eher die Wirksamkeit des Zweiheitsprinzips im ursprünglichsten Seinsgebilde auf, als daß sie das Prinzip der Zweiheit selber aus dem über Identität und Andersheit erhabenen absoluten Einen50 ableitet. Dagegen spricht eine Reihe von Zeugnissen für eine prinzipielle Unterordnung der ἀόριστος δυάς unter das Eine, ohne daß sie als Prinzipiat aus dem Einen abgeleitet würde. Der die Prinzipienlehre in starker Verkürzung referierende Bericht Hermodors (Test. Plat. 31) bestätigt die privative Bedeutung des Nicht­seins der unbestimmten Zweiheit als Seinsmangel.51 Er stimmt darin mit der 4. und der 8. Hypothese des Parmenides überein. Hermodor spricht der unbestimmten Zweiheit aber darüber hin­aus sogar den Status einer ἀρχή ab, was am ehesten so zu verstehen sein dürfte, daß sie kein positiv seinsbegründendes Prinzip, sondern nur die von sich her nichtige Entfaltungsbasis des Einen ist – es liegt nahe, zum Vergleich auf Augustins Kennzeichnung des malum als causa deficiens zu verweisen. Auch Aristo­teles scheint mehrfach auf einen letzten Monismus der innerakademischen Prinzipienlehre hinzuweisen. Er berichtet nämlich, der Denker, 48  Sextus

Empiricus, Adv. Math. X 261: καὶ ταύτην (sc. τὴν μονάδα) κατ’ αὐτότητα μὲν ἑ­ αυτῆς νοουμένην μονάδα νοεῖσθαι, ἐπισυντεθεῖσαν δ’ ἑαυτῇ καθ’ ἑτερότητα ἀποτελεῖν τὴν καλου­ μένην ἀόριστον δυάδα. 49 Vgl. Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 343 f Anm. 221. 50  Parmenides 139 B–E; dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 336–352. 51  Hermodor bei Simplikios, In Phys. 248, 11 ff Diels: αὐτῶν ἀμφοτέρων τῶν συζυγιῶν ­πάντα πλὴν τοῦ ἑνὸς στοιχείου τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον δεδεγμένον. ὥστε ἄστατον καὶ ἄπειρον καὶ οὐκ ὂν τὸ τοιοῦτον λέγεσθαι κατὰ ἀπόφασιν τοῦ ὄντος. τῷ τοιούτῳ δὲ οὐ προσήκειν οὔτε ἀρχῆς οὔτε οὐσίας [ὄνομα em. Theiler], ἀλλ’ ἐν ἀκρισίᾳ τινὶ φέρεσθαι … Dazu oben Kapitel VII Abs. 1.

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der das Eine und das Ungleiche als Prinzipien ansetzte und das Ungleiche als die (unbestimmte) Zweiheit des Großen und des Kleinen dachte, habe von dem Ungleichen, dem Großen und dem Kleinen als von Einem Seienden (ὡς ἓν ὄντα) gesprochen, und Aristo­teles kritisiert, er habe nicht unterschieden, daß sie nur begrifflich (λόγῳ), nicht aber numerisch (ἀριθμῷ) eine Einheit bilden (Test. Plat. 49).52 Dies entspricht vollkommen Platons deutlichen Hinweisen auf den notwendigen Einheitscharakter des Vielheitsprinzips im Parmenides und im Philebos; das Aristotelische Zeugnis präzisiert diese aber noch, da es klarmacht, daß die Einheit des zweiten Prinzips für Platon offenbar nicht nur begrifflicher, sondern als numerische Einheit auch ontologischer Natur war. Wenn Platon also der unbestimmten Zweiheit nicht nur begrifflich, sondern auch ontologisch Einheitscharakter zugesprochen hat, dann ist sein zweites Prinzip dem Einen nicht gleichursprünglich und gleichmächtig, sondern nach dem Kriterium des συναναιρεῖν καὶ μὴ συναναιρεῖσθαι von dem Einen abhängig. Denn wie auch der Parmenides zeigt, wird das Vielheitsprinzip mit aufgehoben, wenn das Eine aufgehoben wird (8. Hypothesis), das Eine selbst aber nicht, wenn die Vielheit aufgehoben wird (1. Hypothesis). In die gleiche Richtung weist die Bemerkung des Aristo­teles, strenggenommen sei dem Einen nichts entgegengesetzt, „wenn aber überhaupt etwas, dann die Vielheit“.53 Wenn die Vielheit selber begrifflich und seinsmäßig eine Einheit sein muß, weil sie sonst auch keine Vielheit mehr sein könnte, dann ist das Eine als Prinzip von allem, auch der Vielheit, gegensatzlos und übergegensätzlich. Gleichwohl bilden die beiden Prinzipien einen Quasi-Gegensatz,54 insofern die Vielheit zwar nicht von dem Einen, wohl aber das Eine selbst von der Vielheit absolut getrennt werden kann. Im gleichen Sinne ist wohl auch die Bemerkung zu verstehen, die Vertreter der Zwei-Prinzipienlehre setzten noch ein anderes, eigentlicheres Prinzip (ἀρχὴ κυριωτέρα) an, wobei Aristo­teles ausdrücklich die Vertreter der Ideenlehre nennt.55 Das Prinzip der Ideen ist das Eine,56 das auch gegenüber der unbestimmten Zweiheit das „eigentlichere Prinzip“ ist, da es im Sinne des αἰτία-Prinzips des Philebos noch 52  Aristo­teles, Metaphysik 1087 b 9–12: καὶ γὰρ ὁ τὸ ἄνισον καὶ ἓν λέγων τὰ στοιχεῖα, τὸ δ’ ἄνισον ἐκ μεγάλου καὶ μικροῦ δυάδα, ὡς ἓν ὄντα τὸ ἄνισον καὶ τὸ μέγα καὶ τὸ μικρὸν λέγει, καὶ οὐ διορίζει ὅτι λόγῳ ἀριθμῷ δὲ οὐ. – Den Einheitscharakter der unbestimmten Zweiheit bezeugt auch Porphyrios bei Simplikios, In Phys. 454, 8 f Diels: ἐν τούτοις δὲ καὶ ἡ ἀόριστος δυὰς ὁρᾶται ἔκ τε τῆς ἐπὶ τὸ μέγα καὶ τῆς ἐπὶ τὸ μικρὸν μονάδος συγκειμένη. Dazu genauer oben Kapitel VII Abs. 2–3. 53  Aristo­teles, Metaphysik 1087 b 27 ff: εἰ δέ ἐστιν, ὥσπερ βούλονται, τὰ ὄντα ἐξ ἐναντίων, τῷ δὲ ἑνὶ ἢ οὐθὲν ἐναντίον ἢ εἴπερ ἄρα μέλλει, τὸ πλῆθος … 54  Den Ausdruck gebraucht Proklos, Theol. Plat. II 12, 66, 20 Saffrey-Westerink: τὴν τῶν πολλῶν πρὸς τὸ ἓν οἷον ἀντίθεσιν. Vgl. In Parm. 1095,15 f Cousin: ἀναίνεται γὰρ ἡ τοῦ ἑνὸς ἔννοια τὸ πλῆθος. 55  Aristo­teles, Metaphysik 1075 b 17–20: καὶ τοῖς δύο ἀρχὰς ποιοῦσιν ἄλλην ἀνάγκη ἀρχὴν κυριωτέραν εἶναι. καὶ τοῖς τὰ εἴδη ὅτι ἄλλη ἀρχὴ κυριωτέρα· διὰ τὶ γὰρ μετέσχεν ἢ μετέχει; 56 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 988 a 10–11: τὰ γὰρ εἴδη τοῦ τί ἐστιν αἴτια τοῖς ἄλλοις, τοῖς δ’ εἴδεσι τὸ ἕν. 988 b 4–6: τὸ τί ἦν εἶναι ἑκάστῳ τῶν ἄλλων τὰ εἴδη παρέχοντα, τοῖς δ’ εἴδεσι τὸ ἕν.

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die Zuordnung der beiden Prinzipien – und damit zugleich die Partizipation der Ideen an den Prinzipien und der Dinge an den Ideen – als eine Form von Einheit begründet. Damit ergibt sich, daß das Vielheitsprinzip Platons zwar einerseits von dem Einen als dem absoluten Ursprung von allem abhängt, daß es aber andererseits aus dem Einen selbst in seiner Absolutheit nicht abgeleitet werden kann, und zwar eben zufolge der absoluten Transzendenz des Einen, das nichts ist als das Eine selbst und darum keine latente, unentfaltete Vielheit in sich haben kann, das zweite Prinzip also weder impliziert noch präformiert. Prinzip ist die ἀόριστος δυάς offenbar nicht deshalb, weil sie dem Einen gleichursprünglich und unabhängig gegenüberstünde, sondern genau deshalb, weil sie als Entfaltungsbasis des Einen von diesem selbst diskursiv nicht ableitbar ist: Um überhaupt etwas aus dem Einen ableiten zu können, muß die unbestimmte Vielheit oder Zweiheit selber schon vor­ausgesetzt werden, wie die 2. und 3. Hypothesis des Parmenides zeigen. Die ἀόριστος δυάς ist darum zwar kein absolut Letztes oder Erstes im reduktiven Aufstieg zum Urgrund, also keine zweite ἀνυπόθετος ἀρχή, wohl aber eine selber diskursiv nicht weiter ableitbare Bedingung für die deduktive Herleitung des Seienden, da aus dem Einen selbst in seiner absoluten Transzendenz und Unbezüglichkeit keine denkbare Bestimmung abgeleitet werden kann, eben weil „Es selbst“ in seinem reinen Ansich absolut jenseits des Seins und jeder Vielheit ist und darum auch nicht als Prinzip in Beziehung zu diesen steht,57 wie gerade der Schluß der 1. Hypothese des Parmenides zeigt (141 E – 142 A). Der Bericht Speusipps über Platons Prinzipienlehre bestätigt dies und nimmt offenbar genau auf diese Schwierigkeit Bezug: Sie (sc. die Pythagoreer, denen Speusipp Platons L ­ ehre hier zuschreibt) glauben nämlich, das Eine selbst sei über das Sein erhaben und Vonwoher des Seins, und sie haben Es sogar von der Verhältnisbestimmung als Ursprung befreit. Weil sie aber meinen, daß nichts von den anderen Dingen entstünde, wenn man das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestimmungen, rein an sich selbst zugrunde legt, ohne ihm irgend ein zweites Element (Prinzip) hinzuzusetzen, darum haben sie die unbestimmbare Zweiheit als Prinzip der Seienden eingeführt.58 57  Zur Negation auch des Prinzip-Charakters des Einen selbst, weil dieser eine Beziehung zu den Prinzipiaten implizieren würde, vgl. neben Test. Plat. 50 auch Plotin, Enneade VI 8, 8, 9 ff: (τὸ ἕν ἐστιν) ἀρχή· καίτοι ἄλλον τρόπον οὐκ ἀρχή … δεῖ δὲ ὅλως πρὸς οὐδὲν αὐτὸν λέγειν· ἔστι γὰρ ὅπερ ἐστὶ καὶ πρὸ αὐτῶν (sc. τῶν ἄλλων πάντων)· ἐπεὶ καὶ τὸ ἔστιν ἀφαιροῦμεν, ὥστε καὶ τὰ πρὸς τὰ ὄντα ὁπωσοῦν. VI 9, 3, 49 ff: ἐπεὶ καὶ τὸ αἴτιον λέγειν οὐ κατηγορεῖν ἐστι συμβεβηκός τι αὐτῷ, ἀλλ’ ἡμῖν, ὅτι ἔχομέν τι παρ’ αὐτοῦ ἐκείνου ὄντος ἐν αὑτῷ. Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 106–130. – Wie für Plotin, so ist offenbar auch für Platon das Absolute nicht an sich, sondern nur vom Seienden her Prinzip, insofern das Seiende in einseitiger Abhängigkeitsbeziehung zum Absoluten steht, der keine Beziehung von Seiten des Absoluten selbst korrespondiert; dies scheint auch das Referat Aristo­teles, Eudemische Ethik 1218 a 15–30 zu bestätigen. 58  Speusipp bei Proklos, In Parm. VII 40, 1–5 Klibansky (Fr. 62 Isnardi Parente / Test. Plat. 50): „Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens, et ab ea que secundum princi-

VIII. Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre

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Wenn diese Deutung richtig ist, dann verbindet Platons Prinzipienlehre einen Monismus in der Reduktion zum Absoluten mit einem Dualismus in der Deduktion des Seienden. Eine solche Verbindung von reduktivem Monismus und deduktivem Dualismus scheint genauer betrachtet für eine Metaphysik des transzendenten Absoluten sachlich unumgänglich zu sein. Denn ein Dualismus in der Reduktion führt immer nur zu zwei Prinzipien, von denen keines wirklich ἀνυπόθετον ist und deren Zusammenwirken nicht mehr begründet werden kann, während ein Monismus in der Deduktion eine latente Vielheit oder zumindest eine Vorform der Vielheit schon im Einen selber finden muß, das sich dann in sich selbst entzweit und nicht mehr jenseits von allem ist. Auch bei Plotin, dessen Denken für eine konsequente Metaphysik des Einen paradigmatisch ist, finden wir nirgendwo eine diskursiv vollziehbare Ableitung der Vielheit aus dem überseienden Einen, wie schon ­Hegel konstatiert (und von seinem Standpunkt aus kritisiert) hat.59 Der Hervorgang der Vielheit aus dem absolut einfachen Einen wird von Plotin nur postuliert und in den bekannten Emanationsmetaphern umschrieben, aber nicht in seiner Notwendigkeit gedanklich durchsichtig und begreifbar gemacht. Aufgrund der Erkenntnistranszendenz des Einen ist das auch gar nicht möglich: Die Vielheit geht vielmehr auf unbegreifliche Weise aus der überseienden Überfülle des Einen hervor. Den Grund dafür, daß außer dem Einen selbst überhaupt Anderes, d.h. Vielheit und Seiendes ist, erblickt Plotin in der seinssetzenden Übermacht und Überfülle des Einen; dabei ist jedoch nur das Daß, nicht aber das Wie und Warum des Hervorgangs der Vielheit aus dem Einen erkennbar.60 Der für Plotin dabei entscheidende Gedanke der seinssetzenden Übermacht des Absoluten stammt von Platon (Politeia 509 B, Parmenides 157 E – 158 B); und auch die im Sinne Plotins als Überfülle an δύναμις verstandene Unendlichkeit des Einen finden wir bei Platon,61 ebenso die Metapher der Emanation.62 Ob auch Platon wie Plotin einen für das pium habitudine ipsum liberaverunt. Existimantes autem quod, si quis le unum ipsum seorsum et solum meditatum, sine aliis, secundum se ipsum ponat, nullum alterum elementum ipsi apponens, nichil utique fiet aliorum, interminabilem dualitatem entium principium induxerunt.“ Vgl. auch die Rekonstruktion des griechischen Originals von Friedrich Rumbach bei Steel, 501, 4–9 (= Procli in Platonis Parmenidem Commentaria III, 289–291). – Dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282 ff und unten Kapitel IX Abs. 2 und Kapitel XI Abs. 3. 59 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Bd. 19, 447: „Aus diesem Ersten aber geht alles hervor, und das Eine schließt sich auf. … Dies kann aber aus dem Absoluten nicht gefaßt werden … Dieser Übergang zum Zweiten wird aber von Plotin nicht philosophisch oder dialektisch gemacht, sondern diese Notwendigkeit wird in Bildern und Vorstellungen ausgedrückt.“ – Vgl. dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, Kapitel V § 1. 60  Dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 98–130 mit Belegen, bes. 107 ff und 118 ff. 61  Parmenides 137 D 7–8 (ἄπειρον ἄρα τὸ ἕν, εἰ μήτε ἀρχὴν μήτε τελευτὴν ἔχει) mit Politeia 509 B 9–10 (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος) – dazu unten Kapitel XII. 62  Politeia 508 B 6–7: οὐκοῦν καὶ τὴν δύναμιν ἣν ἔχει ( sc. τὸ ὄμμα) ἐκ τούτου (sc. τοῦ ἡλίου) ταμιευομένην ὥσπερ ἐπίρρυτον κέκτηται.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

diskursive Denken unbegreiflichen Hervorgang seines Vielheitsprinzips aus dem Einen angenommen hat, wissen wir nicht; wir können es aber vermuten. Denn das meist für spezifisch neuplatonisch gehaltene Motiv der seinssetzenden πρόοδος aus der Übermacht des überseienden Absoluten ist der Akademie nicht nur vertraut gewesen, sondern es geht auf sie zurück: Speusipp nämlich sprach vom „Hervorgang der Wirklichkeit des Seienden“ aus dem Einen, das deshalb auch in allen Seinsbereichen gleichermaßen als einheitssetzendes Prinzip begründend wirksam ist (Fr. 58, 72, 88 Isnardi Parente).63

3. Ausblick auf Speusipp und Eudoros Speusipp setzt demgemäß sein Vielheitsprinzip auch nicht dem überseienden Einen selbst entgegen,64 sondern nur dessen erstem Derivat, der Monade oder dem seienden Einen als dem Prinzip der Zahlen, das zusammen mit der Vielheit die Zahlen – bei Speusipp die höchste Seinsstufe – konstituiert. Damit bleibt der Prinzipiengegensatz dem absoluten Einen als dem einzigen Urprinzip nachgeordnet, das auf jeder Seinsstufe die dualistisch entgegengesetzten Regionalprinzipien koordiniert (Fr. 88 Isnardi Parente).65 Da Speusipp einen stufenweisen Hervorgang des Seienden aus dem Einen gelehrt hat und da das „Hervorgehen“ (προελθεῖν) gerade das hyletische und kategoriale Plus begründet, durch welches die ontologisch „spätere“ Stufe von der ontologisch „früheren“ unterschieden ist (Fr. 58, 72 Isnardi Parente), scheint er einen Hervorgang auch der Vielheit, die zusammen mit der Monade die erste Seinsstufe konstituiert, aus dem Einen angenommen zu haben. Denn da die Zahlen-Monade von dem absoluten Einen durch die Begrenzung der Vielheit erzeugt wird (Fr. 72, 88 Isnardi Parente), die Vielheit also schon vor­aussetzt, ist das, was ursprünglich aus dem Einen hervorgeht, offenbar eben die Vielheit selber. Wir können also bei Speusipp einen zweistufigen Urakt erschließen, in dem die Vielheit in der ersten Stufe als unbegrenzte aus dem Einen hervorgeht, um dann in der zweiten Stufe von diesem 63 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1091 A 35: προελθούσης τῆς τῶν ὄντων φύσεως. Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 12: προϊούσης γὰρ πορρωτέρω ἀπὸ τῶν ἐν ἀρχῇ φύσεως … Ebd. IV 17, 5 mit 12–16: καίπερ τοῦ ἑνὸς ὁμοίου ἐγγιγνομένου διὰ παντός … τὸ γὰρ ἁπλούστατον παντα­ χοῦ στοιχεῖον εἶναι. λοιπὸν οὖν τινα ἑτέραν μεγέθους αἰτίαν ὑποθεμένους, ὡς ἐν ἀριθμοῖς μονάδα κατὰ τὸ ἕν, οὕτως στιγμὴν ἐν γραμμαῖς τιθέναι. 64  Bei Aristo­teles, Metaphysik 1028 B 21–24 (Speusipp, Fr. 48 Isnardi Parente) erscheint das Eine als einziges Urprinzip über den hierarchisch angeordneten Seinsstufen und ihren (dualistischen) Sonderprinzipien: Σπεύσιππος δὲ καὶ πλείους οὐσίας ἀπὸ τοῦ ἑνὸς ἀρξάμενος , καὶ ἀρχὰς ἑκάστης οὐσίας, ἄλλην μὲν ἀριθμῶν ἄλλην δὲ μεγεθῶν, ἔπειτα ψυχῆς· καὶ τοῦτον δὴ τὸν τρόπον ἐπεκτείνει τὰς οὐσίας. Das Eine selbst wird also auch in den Aristotelischen Referaten – ebenso wie bei Jamblich, De comm. math. sc. IV 17, 14 f – von dem regionalen Prinzip der Zahlen unterschieden. 65 Vgl. unten Kapitel XI.

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begrenzt zu werden; die Unbegrenztheit des Emanats entspricht der von Speusipp ebenfalls angenommenen Unbegrenztheit des Einen selbst (bei Proklos, In Parm. 1118, 10–19 Cousin).66 Die erste Stufe dieses Uraktes: der Hervorgang der Vielheit aus dem Einen selbst, ist zwar nicht überliefert, kann aber aus dem durch Aristo­teles und Jamblich unabhängig voneinander für Speusipp bezeugten Gedanken des Hervorgangs der Wirklichkeit aus dem Absoluten und seiner Funktion im Derivationszusammenhang des Stufensystems mit hinreichender Sicherheit erschlossen werden. Dieser zweistufige Urakt Speusipps entspricht vollkommen dem zweistufigen Urakt bei Plotin, bei dem die Vielheit ebenfalls „zunächst“ als unbestimmte aus der Übermacht des Einen hervorgeht, um sich dann in der Hinwendung auf das Eine zu begrenzen; der Hervorgang als solcher vollzieht sich dabei auf eine diskursiv nicht erkennbare Weise.67 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die von Speusipp und Platons Parmenides abhängige Version der altakademischen Prinzipienlehre, die der Mittelplatoniker Eudoros von Alexandria den Pythagoreern zuschreibt: Auf der höchsten Stufe (κατὰ τὸν ἀνωτάτω λόγον) setzten die Pythagoreer das Eine als Ursprung von allem an, auf der zweiten Stufe (κατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον) aber nahmen sie zwei Konstitutionsprinzipien der Wirklichkeit an, nämlich das Eine und die diesem entgegengesetzte Wesenheit. Darunter wird alles, was man als gegensätzlich erkennt, eingeordnet, und zwar das Werthafte unter das Eine, das Unwerte dagegen unter die diesem entgegengesetzte Wesenheit. Deshalb faßt diese Schule diese Prinzipien auch nicht als absolut erste auf; denn wenn das eine Prinzip der einen Gegensatzreihe, das andere Prinzip der anderen Gegensatzreihe ist, dann sind sie nicht die gemeinsamen Prinzipien von allem wie das absolute Eine … Darum, so berichtet Eudoros, lehrten sie auch, das absolute Eine sei in einem ganz anderen Sinne Ursprung von allem, weil auch die Materie ebenso wie alles Seiende aus Ihm hervorgegangen sei. Dieses (sc. das absolute Eine) sei der transzendente Gott (ὑπεράνω θεός), … Ich sage also, daß die L ­ ehre der Pythagoreer auf das Eine als Urgrund (ἀρχή) von allem hin­ausläuft, während sie in einem anderen Sinne zwei höchste Elemente (στοιχεῖα) ansetzten …, so daß sich als Urgrund das absolute Eine, als Elemente aber das (zweite) Eine und die unbestimmte Zweiheit ergeben, wobei jedes dieser beiden Elementarprinzipien jeweils wieder eine Einheit ist. Evident ist auch, daß das höchste Eine, der Ursprung von allem, von dem der Zweiheit entgegengesetzten Einen, welches sie auch als Monade bezeichnen, verschieden ist.68 66 Vgl.

unten Kapitel XII. Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 114–149 mit Belegen. Grundlegend für die historische Analyse des Plotinischen Uraktes ist Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 312– 337; sie wird im einzelnen ergänzt durch die Quellenanalyse von Szlezák, Nuslehre Plotins, 52–119. 68  Eudoros bei Simplikios, In Phys. 181, 10–30 Diels: κατὰ τὸν ἀνωτάτω λόγον φατέον τοὺς Πυθαγορικοὺς τὸ ἓν ἀρχὴν τῶν πάντων λέγειν, κατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον δύο ἀρχὰς τῶν ἀποτελουμένων εἶναι, τό τε ἓν καὶ τὴν ἐναντίαν τούτῳ φύσιν. ὑποτάσσεσθαι δὲ πάντων τῶν κατὰ ἐναντίωσιν ἐπινοουμένων τὸ μὲν ἀστεῖον τῷ ἑνί, τὸ δὲ φαῦλον τῇ πρὸς τοῦτο ἐναντιουμένῃ φύσει. διὸ μηδὲ εἶναι τὸ σύνολον ταύτας ἀρχὰς κατὰ τοὺς ἄνδρας. εἰ γὰρ ἡ μὲν τῶνδε ἡ δὲ τῶνδέ ἐστιν ἀρχή, οὐκ εἰσὶ κοιναὶ πάντων ἀρχαὶ ὥσπερ τὸ ἕν … διό, φησί, καὶ κατ’ ἄλλον τρόπον ἀρχὴν ἔφασαν εἶναι τῶν πάντων τὸ ἕν, ὡς ἂν καὶ τῆς ὕλης καὶ τῶν ὄντων πάντων ἐξ αὐτοῦ γεγενημένων. τοῦτο 67 Vgl.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

Eudoros führt hier also die bipolare Struktur der Wirklichkeit auf die beiden Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit zurück, unterscheidet dabei aber genau wie Speusipp und wie Platon im Parmenides zwischen dem absoluten Einen als transzendenter ἀρχή von allem und dem seienden Einen oder der Monade als immanentem στοιχεῖον des Seienden;69 mit der Monade zusammen konstituiert die unbestimmte Zweiheit als Materialprinzip die bipolare Struktur des Seienden. Eudoros unterscheidet demgemäß zwischen einem monistischen ἀνωτάτω λόγος und einem dualistischen δεύτερος λόγος, und dies scheint genau dem Verhältnis von monistischer Reduktion zum Absoluten und dualistischer Ableitung des Seienden zu entsprechen, das wir bei Platon finden. Den Zusammenhang zwischen diesen beiden Betrachtungsebenen wahrt Eudoros dadurch, daß nach ihm die unbestimmte Zweiheit „ebenso wie alles Seiende“ aus dem transzendenten Einen hervorgegangen ist. Die bemerkenswerte Begründung des Eudoros dafür lautet: ἀρχαὶ ἄμφω ἓν ὄντα πάλιν. Dieses Argument ist genuin Platonisch: Denn daß auch die ἀόριστος δυάς selber für Platon eine Einheit war, wissen wir durch Aristo­teles (Test. Plat. 49). Deshalb liegt die Vermutung nahe, daß schon Platon einen diskursiv nicht weiter explizierbaren Hervorgang des Vielheitsprinzips aus dem Einen angenommen hat.

δὲ εἶναι καὶ τὸν ὑπεράνω θεόν … φημὶ τοίνυν τοὺς περὶ τὸν Πυθαγόραν τὸ μὲν ἓν πάντων ἀρχὴν ἀπολιπεῖν, κατ’ ἄλλον δὲ τρόπον δύο τὰ ἀνωτάτω στοιχεῖα παρεισάγειν … ὡς δὲ στοιχεῖα τὸ ἓν καὶ ἡ ἀόριστος δυάς, ἀρχαὶ ἄμφω ἓν ὄντα πάλιν. καὶ δῆλον ὅτι ἄλλο μέν ἐστιν ἓν ἡ ἀρχὴ τῶν πάντων, ἄλλο δὲ ἓν τὸ τῇ δυάδι ἀντικείμενον, ὃ καὶ μονάδα καλοῦσιν. (Wörtliches Zitat!) Zur Abhängigkeit von Speusipp und Platons Parmenides unten Kapitel XI. 69 Diese Unterscheidung zwischen ἀρχή und στοιχεῖον und die Negation des στοι­ χεῖον-Charakters des absoluten Einen dürfte durch die von Aristo­teles, Metaphysik 1014 a 26 als konstitutiv hervorgehobene Immanenz des στοιχεῖον motiviert sein: στοιχεῖον λέγεται ἐξ οὗ σύγκειται πρώτου ἐνυπάρχοντος … Aus dem gleichen Grunde verneint auch Plotin den στοιχεῖον-Charakter des Einen selbst: Enneade V 3, 11, 16 f: τὸ δὲ πρὸ τούτων ἡ ἀρχὴ τούτων, οὐχ ὡς ἐνυπάρχοντα· τὸ γὰρ ἀφ’ οὗ οὐκ ἐνυπάρχει, ἀλλ’ ἐξ ὧν.

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IX.

Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons 1. Plotin als Interpret Platons Alles Seiende ist durch das Eine seiend, sowohl das, was ein ursprünglich und eigentlich Seiendes ist, als auch dasjenige, was nur in einem beliebigen Sinne als vorhanden seiend bezeichnet wird. Denn was könnte es sein, wenn es nicht Eines wäre? Da ja, wenn man ihm die Einheit, die von ihm ausgesagt wird, nimmt, es nicht mehr das ist, was man es nennt.1

Mit diesen Worten eröffnet Plotin seine Programmschrift Über das Gute oder das Eine. Sie fassen die Grundlage seiner „Philosophie des Einen“ (Enneade VI 9, 3, 14) zusammen, wie Plotin sein eigenes Denken ganz grundsätzlich charakterisiert. 2 Sie zeigen zugleich Plotins Rückgriff auf Platon: denn es war Platon, der als erster das Eine als den absoluten Grund alles Seienden und Denkbaren gedacht hat. Dieser Gedanke bildet das Zentrum von Platons ungeschriebener, innerhalb der Akademie mündlich vorgetragener Prinzipienphilosophie.3 Als Grundlage der gesamten Platonischen Philosophie steht er freilich auch hinter Platons Dialogen; namentlich deren metaphysische Schlüsselpartien wie die drei Gleichnisse in der Mitte der Politeia oder der zweite Teil des Parmenides sind ohne ihn nicht zu verstehen.4 Plotin greift also mit dem tragenden Grundgedanken seiner Metaphysik auf Platon zurück. Mehr noch: er versteht mit einer Ausdrücklichkeit, die jede Relativierung ausschließt, seine gesamte Philosophie als Interpretation der Philosophie Platons.5 Dabei geht es Plotin darum, nicht nur irgendwie an Platon anzuknüpfen und dessen Einsichten für sich fruchtbar zu machen und weiter1 Plotin, Enneade VI 9, 1, 1–4: πάντα τὰ ὄντα τῷ ἑνί ἐστιν ὄντα, ὅσα τε πρώτως ἐστὶν ὄντα, καὶ ὅσα ὁπωσοῦν λέγεται ἐν τοῖς οὖσιν εἶναι. τί γὰρ ἂν καὶ εἴη, εἰ μὴ ἓν εἴη; ἐπείπερ ἀφαιρεθέντα τοῦ ἓν ὃ λέγεται οὐκ ἔστιν ἐκεῖνα. 2 Vgl. Halfwassen, Aufstieg zum Einen; ders., „Der absolute Ursprung bei Plotin“, in: Emil Angehrn (Hg.), Anfang und Ursprung. Die Frage nach dem Ersten in Philosophie und Kulturwissenschaft, Berlin/New York 2007, 165–186. 3  Dazu bleibt grundlegend Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles. 4 Vgl. zu den Gleichnissen der Politeia Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 271–326 und ders., Die Idee des Guten in Platons Politeia, 87–131, zum zweiten Teil des Parmenides Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 265–405. 5 Vgl. dazu Plotin, Enneade V 1, 8–9; Jean-Michel Charrue, Plotin. Lecteur de Platon,

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

zudenken, sondern ihm ist es zentral darum zu tun, Platons Philosophie von ihrem tragenden, alles bestimmenden Grundgedanken her, nämlich dem Gedanken des Einen, als eine in sich konsequente Prinzipientheorie zu rekonstruieren. Plotin ist der erste Platoniker seit der Alten Akademie, der Platon ganz und gar aus seinem Prinzipiengedanken heraus versteht, und er macht damit ernst, mit einer Rigorosität und Konsequenz, die ohne Beispiel in der gesamten Geschichte des Platonismus ist. Ficino hat aus diesem Grunde in Plotin den größten und wichtigsten, den wahrhaft kongenialen Interpreten Platons gesehen,6 und Proklos feiert Plotin als den Wiederhersteller der wahren Metaphysik Platons (Theol. Plat. I 1, 6, 16–21). Im Zentrum von Plotins Philosophie und seiner damit identischen Platondeutung steht darum seine Interpretation der Prinzipientheorie Platons. Sie zeichnet sich durch drei Eigentümlichkeiten aus, denen ich im folgenden nachgehen will: 1. Plotin denkt das absolute Eine und Gute, von dem Platon gesagt hatte, es sei kein Seiendes, „sondern noch jenseits des Seins“ (Politeia 509 B: ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας), mit rigoroser Konsequenz als absolute Transzendenz, der sich das Denken nur auf dem Wege der konsequenten Negation aller Bestimmungen und aller Denkbarkeit zu nähern vermag.7 2. Plotin interpretiert Platons Prinzipienphilosophie im Sinne eines Monismus eines absoluten Prinzips.8 Das Prinzip der Vielheit, das Platon angenommen hatte, ist für Plotin kein dem Einen gleichursprüngliches zweites Prinzip, sondern ein dem Einen selbst Entsprungenes, das zu seiner Wirksamkeit als Prinzip erst durch das Eine selbst ermächtigt wird. 3. Die Bestimmung des unbestimmten Vielheitsprinzips durch die Einheit-setzende Übermacht des Einen, als die Platon die Begründung des Seins konzipiert hatte, wird von Plotin als die Konstitution des Geistes interpretiert, selbstverständlich nicht des menschlichen Nous in der Seele, sondern des göttlichen oder absoluten Geistes, der das einheitliche Ganze aller Ideen ist. Geist nämlich ist gar nichts anderes als dasjenige Verhältnis der Prinzipien der Einheit und der Entzweiung, in dem das Eine die Zweiheit bestimmt zu einer in sich selbst differenzierten Einheit.9 Erst diese geistphilosophische Deutung der Platonischen Seinsbegründung läßt auch Plotins monistische Deutung des Verhältnisses der Platonischen Prinzipien wirklich verstehen.

Paris 1978 (= Plotin. Lecteur de Platon); Szlezák, Nuslehre Plotins, spez. 18–41; grundlegend schon Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos. 6  „Marsilii Ficini Florentini in Plotinum Prooemium ad Magnanimum Laurentium Medicem Patriae Servatorem“, in: Plotini divini illius e Platonica Familia Philo­sophi de rebus philosophicis Libri LIV in Enneades distributi. Opera omnia p. 1537 (Fol. IIIr), Basel 1562. 7 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, bes. 150–182; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 257–273; ders., Plotin und der Neuplatonismus, 43 ff. 8  Dazu oben Kapitel VIII. 9 Vgl. z.B. Enneade V 4, 2, 7–11.

IX. Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons

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2. Warum setzt Platon neben dem Einen ein zweites Prinzip an? Darum ist es wichtig, zunächst einmal Klarheit darüber zu gewinnen, warum Platon es für nötig hielt, neben dem Einen selbst ein zweites Prinzip, ein eigenes Prinzip der Vielheit, einzuführen. Dieses zweite Prinzip, die unbestimmte Zweiheit des Groß-Kleinen, ist in den Berichten über Platons Prinzipienphilosophie zwar allgegenwärtig, unter den uns heute zugänglichen Berichten gibt es aber nur einen einzigen, der Auskunft gibt über Platons Motiv zur Einführung des zweiten Prinzips. Dies ist der von Proklos im Schlußteil seines Kommentars zu Platons Parmenides überlieferte Bericht Speusipps (Test. Plat. 50).10 Wir dürfen davon ausgehen, daß Plotin ihn gekannt hat.11 Dieser Bericht ist höchst aufschlußreich nicht nur für Platons zweites Prinzip, sondern ebenso für den Charakter des ersten Prinzips, des Einen selbst. Er lautet: Sie glauben nämlich, das Eine selbst sei über das Sein erhaben und Vonwoher des Seins, und so haben sie Es sogar von der Verhältnisbestimmung als Urgrund befreit. Weil sie aber meinen, daß nichts von allem anderen entstünde, wenn man (nur) das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestimmungen, rein an Ihm selbst zugrundelegt, ohne Ihm irgend ein zweites Element hinzuzusetzen, darum haben sie (auch) die unbestimmte Zweiheit als Urgrund der Seienden eingeführt.12

Speusipp, den Proklos im Originalwortlaut zitiert, formuliert hier die Absolutheit des Einen mit der gleichen radikalen Konsequenz, wie das Platon selbst in der ersten Hypothesis des Parmenides getan hatte (137 C – 142 A), mit welcher der Bericht Speusipps in der Sache vollkommen übereinstimmt.13 Er berichtet 10  Eine unentbehrliche, knapp kommentierte Sammlung der wichtigsten Berichte zu Pla­ ehre bietet Gaiser, Platons ungeschriebene ­Lehre, 446–557; Test. Plat. tons ungeschriebener L 50 dort 530 f. Eine kommentierte französische Ausgabe bietet Richard, L’enseignement oral de Platon. 11  Das ergibt sich daraus, daß Plotin sich einerseits wiederholt bezüglich des Einen auf Speusipp bezieht (z.B. Enneade VI 9, 6, 6 ff – freilich ohne ihn beim Namen zu nennen) und daß andererseits die wichtigsten Zeugnisse zu Speusipps Henologie durch die Plotin nahestehenden Neuplatoniker Porphyrios, Jamblich und Proklos überliefert sind. Dazu unten Kapitel XII. 12 Proklos, In Parm. VII 40, 1–5 Klibansky-Labowsky = Speusipp, Fr. 62 Isnardi Parente: „Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens et ab ea que secundum principium habitudine ipsum liberaverunt. Existimantes autem quod, si quis le unum ipsum seorsum et solum meditatum sine aliis secundum se ipsum ponat, nullum alterum elementum ipsi apponens, nichil utique fiet aliorum, interminabilem dualitatem entium principium induxerunt.“ Vgl. auch die Rekonstruktion des griechischen Originals von Friedrich Rumbach bei Steel, 501, 4–9 = Procli in Platonis Parmenidem Commentaria III, 289–291. 13 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282 ff und unten Kapitel XI; ferner John M. Dillon, „Plotinus, Speusippus and the Platonic Parmenides“, in: Kairos 15 (2000), 61–74 (= Plotinus, Speusippus and the Platonic Parmenides) sowie ders., „Reconstructing the Philosophy of Speusippus: a Hermeneutical Challenge“, in: Ulrike Bruchmüller (Hg.), Platons Hermeneutik und Prinzipiendenken im Licht der Dialoge und der antiken Tradition.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

aber weiter, daß gerade die Absolutheit des Einen zur Konsequenz hat, daß die Begründung des Seins nur mit Hilfe eines zweiten Prinzips, der unbestimmten Zweiheit, verstanden werden kann. Beide Punkte sind für Plotins Verständnis der Platonischen Prinzipien eminent wichtig, darum seien sie hier genauer erläutert. Speusipp berichtet, das Eine selbst sei „über das Sein erhaben“ (melius ente, griech. κρεῖττον τοῦ ὄντος), was mit der Seins­transzen­denz des Absoluten, des Einen und Guten, im Sonnengleichnis der Politeia übereinstimmt.14 Die Frage liegt nahe, warum Platon dem Einen nicht einfach den Rang des unüberbietbar Höchsten zuschreibt, sondern so weit geht, ihm das Sein abzusprechen? Der Bericht Speusipps beantwortet genau diese Frage: Betrachtet man nämlich das Eine selbst allein in sich selbst, dann ist es nichts als reine, absolute Einheit. Jede weitere Bestimmung, die man hinzufügen, jedes Prädikat, das man ihm zusprechen würde, zöge das Eine in die Vielheit hinein. Als reine Einheit läßt es alle Bestimmungen, alle Eigenschaften und Prädikate hinter sich, wie ja auch die erste Hypothesis des Parmenides zeigt.15 Das gilt selbst für die Aussagen, daß das Eine ist oder daß es Eines ist (Parmenides 141 E): auch diese Sätze machen das einfachhin Eine zu einer Zweiheit, die sich in das Eine und sein Sein oder in das Eine und seine Einheit auseinanderlegen läßt (vgl. Parmenides 142 D). Die duale Struktur der Prädikation, die immer etwas über etwas aussagt, verfehlt prinzipiell die reine Einfachheit des Absoluten. Das Eine an sich selbst ist jenseits aller Bestimmungen und darum auch jenseits des Seins und des Einsseins. Es ist im strengen Sinne unsagbar (7. Brief 341 C, Parmenides 142 A): wir können nicht sagen, was oder wie es ist, sondern nur, was es nicht ist.16 Denken und sagen läßt es sich überhaupt nur durch die Verneinung aller Bestimmungen. Diese Verneinung von allem und jedem bedeutet freilich nicht, daß dem Einen das, was ihm abgesprochen wird, fehlt: denn weil das Eine der Ursprung von allem ist, können ihm seine eigenen Prinzipiate nicht fehlen, sondern es ist über sie erhaben. Die Negativität des Einen ist darum der Ausdruck seiner absoluten Transzendenz. Der umfassendste Ausdruck dieser absoluten Transzendenz ist aber die Transzendenz über das Sein. Denn „Sein“ meint den Inbegriff von Bestimmtheit schlechthin.17 Als was immer wir etwas auch denken, wir denken es Festschrift für Thomas Alexander Szlezák zum 70. Geburtstag, Hildesheim 2012, 185–202 (= Reconstructing the Philosophy of Speusippus). 14  Grundlegend dazu Krämer, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“; ferner ders., „Idee des Guten“; Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 220–264; Szlezák, Die Idee des Guten in Platons Politeia, bes. 109–131. 15  Dazu eingehend Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 298–405. 16 Vgl. Enneade V 3, 14, 5–8; VI 8, 8, 4–8. 17 Vgl. Enneade V 5, 6, 1–14. Zu diesem Begriff von Sein als Inbegriff von Bestimmtheit vor allem Enneade III 6, 6 und dazu Jens Halfwassen, „Sein als uneingeschränkte Fülle. Zur Vorgeschichte des ontologischen Gottesbeweises im antiken Platonismus“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002), 497–516 (= Sein als uneingeschränkte Fülle).

IX. Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons

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eben damit, daß wir ihm überhaupt Bestimmtheit zuschreiben, auch schon als seiend; was etwas ist, muß eben darum auch sein. Transzendenz über das Sein bedeutet darum in einem die Transzendenz über die Totalität alles Denkbaren, mithin absolute Transzendenz. Platon hat die reine Transzendenz des Absoluten also nicht weniger radikal gedacht als Plotin. Darin liegen aber zwei Konsequenzen, die Platons Prinzipientheorie ihr spezifisches Profil verleihen. Wenn das Eine selbst jenseits von allem ist, dann kann es auch nicht zu irgend etwas in Beziehung stehen. Denn auch jede Beziehung müßte es in die Vielheit hineinziehen. Das Eine selbst steht darum auch nicht als Urgrund oder Ursprung (ἀρχή) in Beziehung zum Sein.18 Denn Ursprünglichkeit ist ein Verhältnis von Prinzip und Prinzipiat: das Absolute aber steht als solches in keinem Verhältnis. Platon hat dem Einen selbst darum auch die Verhältnisbestimmung (habitudo, griech. σχέσις) als Urgrund abgesprochen, obwohl es das „Vonwoher des Seins“ (a quo le ens, griech. ἀφ’ οὗ τὸ ὄν) ist.19 Das bedeutet: Ursprung und Urgrund ist das Eine nur für das Sein und nur von diesem her, aber nicht an und für sich selbst. Wir sagen nicht das Eine selbst in seiner Absolutheit, wenn wir es den Urgrund nennen, sondern wir sagen damit eigentlich den Transzendenzbezug des Seins zum Einen.20 Die Ursprünglichkeit des Einen ist keine Ursprünglichkeit als nur eine vom Sein und damit von uns aus so erscheinende. Im gleichen Sinne ist das Eine auch das Gute nicht an und für sich selbst, sondern nur für das andere (vgl. das Referat bei Aristo­teles, Eudemische Ethik I 8). In seiner reinen Transzendenz ist das Eine auch über das Gute hin­aus, wie es über jedes Verhältnis als Urgrund hin­aus ist.21 Darin aber liegt eine fundamentale Paradoxie: weil es in absoluter Tran­ szendenz aus jedem Verhältnis herausgenommen ist, kann aus dem Einen selbst auch nichts abgeleitet werden. Von der Seins­transzen­denz des Absoluten führt kein Weg zurück zum Sein. Die Begründung des Seins kann darum vom Absoluten her nicht begriffen werden, eben weil das Absolute alles Begreifen, alle Denkbarkeit übersteigt. 22 Begreifbar wird die Begründung des Seins erst durch ein zweites Prinzip: die unbestimmte Zweiheit (interminabilis dualitas, griech. ἀόριστος δυάς). 23 Wie Speusipp berichtet, hat Platon diese gerade wegen der je18  Genau so übrigens Enneade VI 8, 8, 8–15. Vgl. auch V 5, 9, 7: das Eine ist das „Vorursprüngliche“ (τὸ πρὸ ἀρχῆς – nach der überzeugenden Konjektur von Theiler). 19  Im gleichen Sinne Enneade V 3, 11, 17–20. 20 Im gleichen Sinne Enneade VI 9, 3, 49–54 (Text nach der Editio maior von Henry-Schwyzer und Harder). 21  Im gleichen Sinne Enneade VI 9, 6, 39–41; VI 9, 6, 56–57; V 3, 11, 23–25. Vgl. schon Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente, wo das Eine selbst καὶ τοῦ καλοῦ καὶ τοῦ ἀγαθοῦ ὑπεράνω genannt wird. 22 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 98–114; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 321–328. 23 Vgl. dazu Platon, Parmenides 142 D – 143 A; Sextus Empiricus, Adv. Math. X 261–262 (Test. Plat. 32).

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des Begreifen übersteigenden Transzendenz des Absoluten eingeführt. Die unbestimmte Zweiheit ist darum „Ursprung der Seienden“ (im Plural: entium principium, griech. ἀρχὴ τῶν ὄντων): sie begründet spezifisch das, was das Eine selbst absolut von sich ausschließt und was darum von ihm her nicht begriffen werden kann: die Vielheit, ohne die kein Seiendes wäre; und die Grundform der Vielheit ist die Entzweiung, die eine Pluralität allererst denkbar macht. Das bedeutet jedoch nicht, daß die unbestimmte Zweiheit nun als alleiniger Ursprung des Seienden gedacht werden müßte. Vielmehr begründet sie die Entfaltung des Seins, das als Einheit nur durch die Übermacht des Einen selbst möglich ist, in die Vielheit des Seienden, konkret: in die Pluralität der Ideen und Idealzahlen. Sein als Bestimmtheit impliziert unterscheidbare Bestimmungsmomente. Es ist darum immer schon auf die Pluralität des Seienden bezogen. Als die Einheit seiner Momente aber ist das Sein nur durch seinen Transzendenzbezug auf das jenseitige Eine. Das Sein verweist darum immer schon auf zwei Prinzipien: das „Vonwoher“ seiner Einheit und den Grund seiner Entfaltung in die Vielheit. Urgrund und Ursprung ist das Eine wie die unbestimmte Zweiheit immer nur vom Sein her. Während aber das Eine selbst in seiner Absolutheit wenigstens negativ, durch die Verneinung aller Bestimmungen, als Transzendenz über das Sein gedacht werden kann, zeigt sich dagegen die unbestimmte Zweiheit allererst in der Perspektive des vielen Seienden und bleibt unlösbar an diese gebunden, weil sie für sich genommen sofort im Nichts der reinen Privation verschwände: dies berichtet Hermodor in einem Bericht über Platon (Test. Plat. 31), den Plotin wohl ebenfalls gekannt hat. 24 Die Einführung der unbestimmten Zweiheit ergibt sich mit Notwendigkeit aus der absoluten Transzendenz des Einen. Die Begründung des Seins bleibt insofern unaufhebbar dualistisch, und zwar gerade dann, wenn das Sein aus dem seinsjenseitigen Absoluten begriffen werden soll. Es geht Platon wesentlich um die Absolutheit des Einen. Diese hat aber zur notwendigen Konsequenz, daß ein zweites Prinzip postuliert werden muß, um die Begründung des Seins aus dem Einen begreifbar zu machen; dies ist sozusagen der Preis, der für die Absolutheit des Einen zu zahlen ist. Das Eine selbst ist das Absolute, das ἀνυπόθετον (Politeia 511 B, vgl. 510 B), denn der Gedanke des Einen ist der einzige Gedanke, der sich – wenn auch nur negativ – rein an und für sich selbst denken läßt, ohne irgendeines anderen Gedankens zu bedürfen, und zwar deswegen, weil er selbst durch die Verneinung aller anderen Gedanken gedacht wird – das Eine wird als das Absolute also nur dadurch gedacht, daß Es Selbst gerade nicht gedacht wird. Genau darum aber schließt der Gedanke des Absoluten jeden Übergang zu einem anderen Gedanken aus. Die Absolutheit des Ei24 Vgl. Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 122–124 mit den dort angeführten Plotinstellen, die bis in die Formulierung hinein Test. Plat. 31 sehr nahekommen, so Enneade III 6, 7; III 6, 14; II 4, 10; II 4, 14–16; II 5, 5; I 8, 3; I 8, 6. – Zur Deutung von Test. Plat. 31 unten Kapitel VII.

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nen verwehrt es uns aus diesem Grunde zu begreifen, wie das Eine Grund und Ursprung für anderes sein kann. 25

3. Die Einheitsform des Geistes Diese Dualität der Prinzipien hält Plotin einerseits durchaus fest, aber zugleich hebt er sie auch auf in einen Prinzipienmonismus des Einen. 26 Es geht Plotin darum, daß mit der gleichen Notwendigkeit, mit der der Gedanke des Absoluten zur Ansetzung eines zweiten Prinzips führt, eben dieses Zweite als ein dem Absoluten selbst Entsprungenes gedacht werden muß. Das läßt sich freilich aus dem Gedanken des Absoluten selbst heraus nicht zeigen, eben weil das Absolute, konsequent gedacht, jeden Übergang zu einem Zweiten ausschließt und darum sogar den Gedanken des Ursprungs, der ein Verhältnis zu einem Zweiten enthält, von sich abweist. 27 Die Entsprungenheit des zweiten Prinzips aus dem Einen läßt sich also, wenn überhaupt, nur vom Sein aus verstehen. Genau so geht Plotin auch vor. Dabei ist sein alles entscheidender Zug, der einsichtig macht, daß die Entsprungenheit des Zweiten aus dem Einen denknotwendig ist, die Interpretation des Seins als Geist. 28 Denn die Struktur des Geistes, genauer: seine spezifische Form der Einheit, bleibt unbegriffen, solange der Geist nur auf zwei Prinzipien zurückgeführt wird. Das Wesen des Geistes ist das Einsehen (νοεῖν), also das intellektuelle Sehen des Seins und der Ideen, in die sich das Sein artikuliert (Enneade V 5, 1, 1–3; V 5, 1, 65–2, 4; V 9, 5, 29–30). 29 Das darf aber nicht so gedacht werden, daß eidetisches Sein und einsehender Geist sich als zwei einander ursprünglich fremde gegenüberstehen und durch das Einsehen nur in eine nachträgliche Beziehung zueinander gebracht werden.30 Denn dann wäre das Denken von sich her seinslos, also leer und damit gar kein Einsehen, das stets das Haben und Präsentsein von Ideen ist; und ebenso wäre dann das Sein von sich her geistlos, also nicht vollbestimmtes eidetisches Sein. Sein als Idee meint dagegen das Immer-schon-Gesehen-Sein vom Geist, und Geist als Noein meint das Immer-schon-im-BlickHaben des Seins. Darum sind Sein und Geist identisch (Enneade V 2, 1, 9–13; V 3, 5, 21–25; V 5, 2, 4–18; V 5, 3, 1–2; V 9, 8, 8–18). Und darum sieht der Geist sich selbst, wenn er das Sein sieht, so daß sein Einsehen der Ideen zugleich das 25 Vgl.

Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 126 ff; Beierwaltes, Denken des Einen, 48 ff. dazu zusammenfassend Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 86 ff. 27  Enneade VI 8, 8, 8–15; VI 9, 3, 49–54. 28 Vgl. Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein; ders., „Geist und Subjektivität bei Plotin“; ders., Plotin und der Neuplatonismus, 59–84. 29  Die folgenden Belege werden nur exempli gratias gegeben. Sie könnten leicht wesentlich vermehrt werden. 30 Vgl. dazu Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, 93 ff, 112 ff; Szlezák, Nuslehre Plotins, 120–127; Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 59–64. 26 Vgl.

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Einsehen des Einsehens selber ist, νόησις νοήσεως, reines Denken seiner selbst (Aristo­teles, Metaphysik XII 9, 1074 b 34 ff; Plotin, Enneade V 3, 13, 12–14). Der Geist ist also Einheit, weil er die Identität von Denken und Sein, von Einsehendem und Eingesehenem, von Noesis und Eidos ist. Er ist aber Einheit stets nur in dem Sinne, daß die Unterschiedenheit von Denkendem und Gedachtem und ebenso die Differenziertheit des gedachten Seins in die Pluralität der Ideen in der Einheit des Geistes erhalten bleibt (Enneade III 6, 6, 23; V 8, 4, 4–23; V 9, 8, 1–7). Die Einheitsform des Geistes ist mithin die Einheit von Unterschied und Ununterschiedenheit (Enneade VI 9, 5, 16), von Identität und Andersheit, wie Plotin, ­Hegel vorwegnehmend, ausdrücklich sagt: Das Denkende (νοοῦν) muß, wenn immer es denkt, in Zweiheit sein … und immer muß das Denken (νόησις) in Andersheit sein und dabei zugleich notwendig in Identität; und das, was im eigentlichen Sinne gedacht wird, muß im Verhältnis zum Geist sowohl dasselbe als auch ein anderes sein.31

Ohne die Zweiheit der Andersheit, also ohne Selbstunterscheidung, hätte das Denken gar nichts, was es denken könnte; und ohne die Identität mit sich im Unterschied wäre das, was es denkt, nicht es selbst. Nous ist also die selbsttätige Einheit von Selbstdifferenzierung und Selbst­ identität, er ist eine sich selbst in sich selbst differenzierende Einheit, die im Sich-Unterscheiden ihren Gehalt, die Ideen, hervorbringt, und sich dadurch zugleich mit sich selbst zusammenschließt (Enneade VI 2, 3, 20–32; III 6, 6, 7–23; V 3, 5, 33–36; V 9, 8, 15). In dieser Einheit sind einerseits die Momente des Denkenden (νοῦς), des Gedachten (νοητόν) und des beide vereinigenden Denkaktes (νόησις) zu unterscheiden (Enneade II 9, 1, 38–51; V 3, 5, 43–48) und andererseits die Ideen als die Artikulationselemente des Gedachten (Enneade V 8, 4, 4–23; V 9, 8, 1–7). Ohne die Unterschiedenheit dieser Momente ist die Einheit des Geistes nicht zu denken (Enneade III 8, 11, 5–6; V 3, 10, 23–26; V 3, 10, 40– 46). Aber diese Momente sind in ihrer Unterschiedenheit wiederum auch nur innerhalb der Einheit des Geistes denkbar, nämlich nur als wesenhaft aufeinander bezogene; isoliert für sich verlieren sie ihren Sinn. Die Einheit des Geistes geht der Unterschiedenheit ihrer Momente insofern immer schon vor­aus, in der Weise nämlich, daß sie ihre Momente allererst selbst hervorbringt, durch ihre Selbstunterscheidung, in welcher sie sich zugleich mit sich selbst zusammenschließt (Enneade VI 2, 3, 20–32).32 Aus dieser Einheitsform des Geistes zieht Plotin nun drei Konsequenzen, die zugleich seine Deutung der Prinzipientheorie Platons bestimmen:

31 Plotin, Enneade V 3, 10, 23–26: δεῖ τοίνυν τὸ νοοῦν, ὅταν νοῇ, ἐν δυσὶν εἶναι … καὶ ἀεὶ ἐν ἑτερότητι τὴν νόησιν εἶναι καὶ ἐν ταυτότητι δὲ ἐξ ἀνάγκης· καὶ εἶναι τὰ κυρίως νοούμενα πρὸς τὸν νοῦν καὶ τὰ αὐτὰ καὶ ἕτερα. 32 Vgl. dazu Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 68–77.

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1. Die Einheit des Geistes genügt sich nicht selbst und vermag sich darum nicht aus sich selbst heraus zu begründen, sondern sie verweist über sich hin­aus auf einen Ursprung ihrer Einheit, der selber nicht mehr von der Art des Geistes sein kann, sondern den Geist absolut transzendiert: das Eine selbst. 2. Die spezifische Einheitsform des Geistes, die Einheit von Selbstdifferenzierung und Selbstidentifizierung, läßt sich auf zwei Prinzipien zurückführen, einen Grund der Einheit und einen Grund der Entzweiung, die als solche ursprünglicher sind als der Geist, dessen Struktur sich nur aus der Vereinigung dieser beiden Prinzipien begreifen läßt. 3. Die Einheit des Geistes bleibt allerdings unbegriffen, solange sie nur auf zwei Prinzipien zurückgeführt wird. Als Vereinigung von Einheit und Entzweiung kann sie nur in einem Einheitsgrund gründen, dessen Einheitsmacht auch noch die Entzweiung als solche übergreift und bestimmt, weshalb das Prinzip der Entzweiung als aus dem Einen selbst hervorgegangen gedacht werden muß.

4. Die Einheit des Geistes und der Monismus des Einheitsgrundes (1) Daß die Einheit des Geistes keine sich selbst genügende Einheit ist und sich darum nicht selbst begründen kann, ist unmittelbar klar. Denn die Selbstunterscheidung des Denkens setzt die ursprünglich ununterschiedene, in sich selbst einfache Einheit als solche immer schon vor­aus. Der Vorgriff auf sie ermöglicht das unterscheidende Denken erst (Enneade V 3, 10–11; VI 7, 15–17).33 Der ursprüngliche Vorgriff auf Einheit, dem sich das Denken verdankt, ist aber als solcher noch kein Denken, sondern geht jedem artikulierten Denkakt vor­aus (Enneade V 3, 10, 43: προνοοῦσα): er ist ein unterschiedsloses bloßes Berühren (θίξις ἐπαφὴ μόνον ἄρρητος καὶ ἀνόητος), in dem Berührendes und Berührtes unterschiedslos und unmittelbar Eins sind (Enneade V 3, 10, 40–46). Das Denken konstituiert sich als Denken allererst durch die Selbstentzweiung (Enneade V 3, 10, 45 f: διχάσει αὐτὸ ἑαυτό) dieser Einheit in Denkendes und Gedachtes und durch die Artikulation des Gedachten zu einem in sich Unterschiedenen und Vielfältigen. Aus dieser Entzweiung und Unterscheidung aber geht das Denken in seiner Selbstbeziehung und Identität mit sich selbst erst dadurch hervor, daß die sich entzweiende Einheit im Vollzug ihrer Entzweiung selber zu sich selbst zurückkehrt und so ewig Einheit bleibt: „Das Eine ist also Zweiheit geworden 33 Vgl. zu Enneade V 3 den ungeheuer tiefdringenden Kommentar von Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, spez. 129–141 sowie 208 ff zu V 3, 10–11; zu Enneade VI 7 vgl. den eindringlichen Kommentar von Georg Siegmann, Plotins Philosophie des Guten. Eine Interpretation von Enneade VI 7, Würzburg 1990 (= Plotins Philosophie des Guten), spez. 70–89 zu VI 7, 15–17.

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und die Zweiheit wieder Eines“ (Enneade III 8, 11, 5 f, vgl. auch VI 2, 3, 20–32), so Plotins Strukturformel für den Geist. Die Macht der Einheit übergreift also Entzweiung und Unterschied. Sie ermächtigt die sich entzweiende Einheit, aus der Entzweiung zu sich als Einheit zurückzukehren und in den Unterschieden bei sich selbst zu bleiben. Erst dadurch konstituiert sie das Denken als Beziehung auf sich selbst, als Sich-Wissen und Sich-selbst-Denken (Enneade VI 7, 17, 22–33). Ohne sie wäre die Entzweiung keine Rückkehr zu sich und also kein Denken, sondern ein Auseinanderfallen in die Unterschiede. Diese alle Entzweiung übergreifende Macht der Einheit bringt das Denken allererst zu sich selbst: sie ist dessen vorgängiger, also transzendenter Ursprung. Sie verdankt sich selbst einem Einheitsgrund, der als reine absolute Einheit selbst jenseits aller Unterschiede bleibt, also jenseits des Geistes und des im Geist erfüllten Seins (Enneade I 7, 1, 19 f). (2) Damit ist aber auch deutlich: als selbstbezügliche Einheit konstituiert sich der Geist erstens durch seinen Einheitsvorgriff und zweitens durch seine Selbstbeziehung. Diese beiden sind aber nicht gleichursprünglich: der ursprüngliche Vorgriff auf Einheit geht der Selbstbeziehung des Denkens vielmehr immer schon vor­aus und ermöglicht diese allererst. Als Vorgriff auf das absolute Eine ist er ein Transzendenzbezug, der das Denken erst zu sich selbst bringt (Enneade VI 7, 15, 10–20; V 3, 11, 1–16).34 Da aber das Selbstverhältnis des Denkens ebensowenig möglich ist ohne Selbstunterscheidung, also ohne Entzweiung, geht auch die Zweiheit dem Geist als sein Prinzip vor­aus: „Darum heißt es auch, daß aus der unbestimmten Zweiheit und dem Einen die Ideen und die Zahlen hervorgehen, denn das ist der Geist“ (Enneade V 4, 2, 7 f). Der Geist ist gar nichts anderes als das Verhältnis der beiden Platonischen Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit.35 Er ist dasjenige Verhältnis der Prinzipien, in dem die unbestimmte Zweiheit durch die Einheit-setzende Übermacht des Einen bestimmt wird zu einer Einheit, welche die Entzweiung in sich selbst enthält, sie also zugleich aushält und im Hegelschen Sinne in sich „aufhebt“. Diese Einheit ist der Geist in seiner Selbstunterscheidung in Denkendes und Gedachtes, die doch Eins sind (Enneade V 3, 5, 43 f; III 8, 11, 5 f). Kraft der unbestimmten Zweiheit ist der Geist eine sich in sich selbst entzweiende Einheit. Aber dank der in ihm wirksamen Macht des Einen verliert er durch diese Entzweiung nicht seine Einheit, sondern kehrt im Akt seiner Selbstunterscheidung zu sich selbst als Einheit zurück (Enneade VI 7, 17, 14–18). Die Bestimmung der unbestimmten Zweiheit durch die Übermacht des Einen ist so die Konstitution 34  Dazu ausführlich Halfwassen, ­ Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 343–350; vgl. auch ders., Aufstieg zum Einen, 139–149. 35  Der erste moderne Interpret der Prinzipienphilosophie Platons, der das mit bewundernswerter Klarheit gesehen hat, ist Hans Krämer, der darum in Platons Prinzipientheorie den „Ursprung der Geistmetaphysik“ nachweisen konnte; vgl. das grundlegende Buch von Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik.

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des Denkens in seiner Selbstbeziehung: aus ihr geht nicht nur die geeinte Vielheit der Ideen hervor, sondern gleichursprünglich damit die Zwei-Einheit des in dieser Ideenvielheit sich selbst wissenden Geistes (Enneade V 1, 5, 17–18; VI 7, 17, 18–32). Die Zwei-Einheit des sich selbst denkenden Geistes ist die zur Einheit erhobene und dadurch bestimmte Zweiheit. (3) Damit komme ich zu dem für Plotin alles entscheidenden Punkt: die Struktur des Geistes als selbstbezügliche Einheit von Einheitsvorgriff und Selbstentzweiung verweist auf die beiden Prinzipien, die Platon als die letzten Gründe angenommen hatte. Aber die Einheit des Geistes, also die Einheit der beiden Prinzipien im Geist oder als Geist, wird nur begreifbar aus der Einheit eines einzigen Ursprungs. Dieser absolute Urgrund, dem auch das zweite Prinzip noch entsprungen sein muß, kann nur das Eine selbst sein: „Denn vor der Zweiheit ist das Eine selbst, die Zweiheit ist erst das Zweite, und weil sie von dem Einen selbst her entsprungen ist, erhält sie von Jenem her ihre Bestimmung, während sie selbst an sich selbst unbestimmt ist.“ (Enneade V 1, 5, 6–8) Diese Entsprungenheit des Zweiten läßt sich aber nur aus dem Geist begreifen, genauer aus der Einheitsweise des Geistes: also aus der Einheit von Einheitsvorgriff und Selbstentzweiung. Wenn das Prinzip der Selbstentzweiung des Geistes, als das Plotin die unbestimmte Zweiheit interpretiert, aus der Übermacht und Überfülle des Einen entsprungen sein soll, dann muß sich diese Entsprungenheit des Zweiheitsgrundes selber an der Form der Selbstentzweiung des Geistes aufweisen lassen. Denn anders läßt sie sich nicht zeigen: aus dem Einen selbst in seiner Absolutheit kann der Hervorgang des zweiten Prinzips nicht begriffen werden, weil der Gedanke des Absoluten jeden Übergang zu einem Zweiten ausschließt. Aus dem eigenen Wesen der unbestimmten Zweiheit selbst läßt sie sich genau so wenig begreifen, denn wenn die Zweiheit als Strukturprinzip des Geistes dessen entfalteter Struktur vor­ausliegt, dann liegt sie aus eben diesem Grunde auch der Denkbarkeit vor­aus. Was in jedem denkbaren Gedanken als Formmoment des Denkens selbst immer schon mit am Werk ist, die Unterscheidung in Denkendes und Gedachtes, das läßt sich nicht mehr denkend ableiten. Dagegen läßt sich am Denken selbst aufweisen, daß seine beiden Formprinzipien, Einheit und Unterschied, nicht gleichursprünglich sind. Denn Geist ist die Einheit von Einheit und Unterschied, Denken also die aktive Einheit von Vereinigen und Unterscheiden (Enneade V 3, 11, 1–16). Die formgebende Ursprünglichkeit des Einheitsgrundes übergreift im Geist die Ursprünglichkeit des Unterscheidungsgrundes. Die Formgebung durch Vereinigung übergreift und überformt die Formgebung durch Unterscheidung, und zwar in der Weise, daß sie die Unterschiede selber als integrative Momente der geformten Einheit integriert. Wäre das anders, dann würde der Geist nicht durch seine Selbstunterscheidung zu sich als Einheit zurückkehren und in seinen Unterschieden mit sich identisch bleiben, sondern er wäre das Auseinandergehen der Einheit in ein einheitsloses Vieles. Die Form der Einheit des Geistes, die jede Vielheit und je-

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den Unterschied in sich einbehält, zeigt darum, daß die Ursprungsmacht des Einen die unterscheidende Kraft der Zweiheit überformt und nicht zu selbständiger Auswirkung kommen läßt. Plotin geht indes noch einen entscheidenden Schritt weiter. Er zeigt nämlich, daß die beiden Grundakte des Denkens, das Vereinigen und das Unterscheiden, die als solche auf die beiden Prinzipien zurückverweisen, nicht nur in der Einheit des Geistes vereint sind. Er zeigt darüber hin­aus, daß Vereinigen und Unterscheiden beide gleichermaßen Akte des Bildens von Einheit sind. Denn der Akt des Vereinigens ist ein Bilden von Einheit durch Vereinigung der Unterschiede, worin sich das unterscheidende Denken als Einheiten-bildende Tätigkeit selbst anschaut (Enneade VI 7, 17, 14–33). Der Akt des Unterscheidens aber ist an sich selbst ebenfalls ein Akt der Einheitsbildung (VI 7, 17, 29–31; vgl. Platon, Parmenides 142 DE). Denn aus der Unterscheidung der ursprünglichen Einheit gehen ja stets neue Einheiten hervor. Die Unterschiede der sich entzweienden Einheit sind kein unbestimmt Vieles, sondern selbst Einheiten, und zwar durch den Unterschied zum jeweils Anderen wohlbestimmte Einheiten (vgl. Platon, Parmenides 157 E – 158 D);36 nur als wohlbestimmte Einheiten sind sie überhaupt Unterschiede, andernfalls wäre das Sich-Unterscheiden gar kein Hervorbringen von Unterschieden, sondern die Selbstvernichtung dessen, was sich entzweit. Darüber hin­aus haben die Unterschiede, die aus der Selbstentzweiung der Einheit des Geistes hervorgehen, also die einzelnen Ideen, Einheitscharakter von der Art, daß der Geist in ihnen zu sich selbst als Einheit zurückkehrt (Enneade VI 2, 3, 20–32). Das aber ist nur dadurch möglich, daß die Differenzmomente des Geistes nicht nur unterschiedene Momente des Ganzen sind, sondern daß sie vom Ganzen und den anderen Momenten so unterschieden sind, daß sie diese und damit das Ganze jeweils in sich selbst enthalten (Enneade III 8, 8, 40–48; V 8, 4), also durch die πάντα-ἐν-πᾶσιν-Struktur des Geistes, die ­Hegel später die „konkrete Totalität des Begriffs“ nennen wird.37 Das Unterscheiden, als das die unbestimmte Zweiheit wirksam ist, ist also in sich selbst schon ein Bilden von Einheit, und zwar genauer ein Bilden von Einheiten, die so beschaffen sind, daß jede einzelne dieser Einheiten in sich selbst zugleich das Ganze der sich unterscheidenden Einheit ist; nur darum kehrt diese in ihnen zu sich selbst zurück und schließt sich darin mit sich selbst zur Einheit zusammen. – 36  Diese prinzipientheoretische Schlüsselpassage aus dem Parmenides leitet Plotins Analyse der Selbstkonstitution des Geistes in seinem Transzendenzbezug zum Einen in Enneade VI 7, 15–17, wobei Plotin sie mit dem Sonnengleichnis und dem Platonreferat des Aristo­teles, Eudemische Ethik I 8 zusammennimmt. Vgl. Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 143 f Anm. 101–102; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 345 f Anm. 64–65. 37 Vgl. dazu grundlegend Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, 93–118; Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, besonders 372–377; Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 74 ff.

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Dieser Einheitscharakter des Unterscheidens, der für die besondere Einheitsweise des Geistes entscheidend ist, erlaubt Plotin nun den Rückschluß, daß dann der Grund der Selbstunterscheidung des Geistes, die unbestimmte Zweiheit, auch an sich selbst Einheit sein muß: die reine Form der Entzweiung ist als solche Einheit und nicht Zweiheit,38 darum muß sie als aus dem absoluten Einen selbst hervorgegangen gedacht werden. Aber sie ist eine Einheit, der die Möglichkeit der Entzweiung innewohnt; das unterscheidet sie von der reinen Einheit des Absoluten, die jenseits aller Bestimmbarkeit bleibt. Doch da die Entzweiung der zweiten Einheit in sich selbst stets Einheiten hervorbringt, die dem sich entzweienden Ganzen so immanent bleiben, daß sich die zweite Einheit darin selbst kontinuiert, muß sich auch die Einheiten-bildende Macht der Entzweiung noch der Übermacht des Einen selbst verdanken (Enneade V 1, 5, 17–18; V 3, 10, 50 – 11, 22; VI 7, 15, 18–22). Das Absolute läßt das zweite Prinzip also nicht nur aus sich hervorgehen, es ermächtigt es auch allererst zu seiner Wirksamkeit als Prinzip, insofern diese Wirksamkeit selber ein Hervorbringen von holistisch strukturierter Einheit ist (Enneade VI 7, 40, 10–20). Das ist Plotins monistische Deutung der Platonischen Prinzipien. Sie denkt den Monismus des Einheitsgrundes konsequent von der der Einheit des Geistes aus und wahrt dadurch die reine Transzendenz des Absoluten, dem sie keine immanente Selbstentzweiung zuschreiben muß, wie das der Sextusbericht (Adv. Math. X § 261) tut, der damit im Grunde dem Einen selber Geistcharakter zuschreibt, wohinter vermutlich Xenokrates steht.39

5. Der zweistufige Urakt des Denkens Plotin gelangt also zu seiner monistischen Deutung der Platonischen Prinzipien, indem er zwei Stufen des Hervorgangs des Zweiten aus dem absoluten Einen annimmt: in einer ersten Stufe entspringt der Überfülle des jenseitigen Einen selbst eine zweite Einheit, die als reines Sich-Entzweien eine unbestimmte Einheit mit der Möglichkeit zur Selbstunterscheidung ist; in der zweiten Stufe wird diese an sich selbst unbestimmte, aber bestimmbare Einheit des Sich-Entzweiens durch die einigende Übermacht des Einen selbst zur sich mit sich selbst 38 ­Hegel hat mit bemerkenswertem Scharfblick den Einheitscharakter der unbestimmten Zweiheit aus dem Sextusbericht (Test. Plat. 32) – den ­Hegel noch gar nicht als Platon-Referat durchschaute – erkannt, wenn er schreibt: „Die unbestimmte Dyas ist: nicht gesetzter Gegensatz, reine Tätigkeit überhaupt“ (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Bd. 18, 248). „… denn Dyas als Zweiheit, Vielheit ist einfach“ (ebd. 249) „ … nicht gesetzte Vielheit … (Vielheit) als einfacher Gedanke, ununterschieden“ (ebd. 244). Vgl. dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 187 ff. 39 Vgl. dazu die überaus gründliche Analyse des Sextusberichts und seine Zurückführung auf Xenokrates bei Thiel, Die Philosophie des Xenokrates, 340–423; zur Selbstentzweiung und zum Geistcharakter des Einen im Sextusbericht spez. 380 ff.

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zusammenschließenden Zwei-Einheit des Geistes bestimmt. Zusammen bilden beide Stufen den „Urakt des Denkens“, wie Hans Krämer die Konstitution des Geistes bei Plotin genannt hat.40 In der ersten Stufe geht das zweite Prinzip als unbestimmte Einheit aus der Überfülle des Einen selbst hervor. Dies ist der ursprüngliche Akt des „Hervorgangs“ (πρόοδος). Er läßt sich aus dem Absoluten selbst wegen seiner Transzendenz über jede Denkbarkeit nicht begreifen. Plotin umschreibt ihn darum methodisch bewußt nur durch ungleiche Analogien und Metaphern, die auf uneigentliche Weise vorstellig machen sollen, was sich allem Begreifen entzieht: die begrifflich nicht denkbare, also unvordenkliche Abkünftigkeit des Begreifbarkeit mit-konstituierenden Unterscheidungsgrundes aus dem absoluten Einen. Die Metaphern, in denen Plotin diese unvordenkliche Abkunft umschreibt und von denen das Bild der Emanation,41 des „Überfließens“ der Überfülle des Absoluten (Enneade V 2, 1, 3–9) am berühmtesten und wohl auch am eindrücklichsten ist, dürfen darum nicht in Begriffe übersetzt werden, denn in ihnen geht es gerade um die vorbegriffliche Vor-Stufe der Konstitution von Begreifbarkeit und Sich-selbst-Begreifen.42 In der zweiten Stufe wird die hervorgegangene unbestimmte Einheit dann durch ihre Selbstunterscheidung in sich und ihre Rückkehr zu sich in den Unterschieden zur sich selbst bestimmenden Einheit des sich selbst denkenden Geistes, der alle Entzweiung und allen Unterschied in sich selbst enthält. Diese zweite Stufe in der Konstitution des Geistes ist die „Hinwendung“ oder „Rückkehr“ (ἐπιστροφή), die in einem Rückwendung zum absoluten Ursprung und Rückkehr zu sich selbst ist (Enneade VI 9, 2, 35 f: εἰς αὑτὸν γὰρ ἐπιστρέφων εἰς ἀρχὴν ἐπιστρέφει).43 Diese zweite Stufe ist die eigentliche Selbstkonstitution des Geistes. Auch sie bleibt als solche noch begrifflich uneinholbar, nur in Bildern und Metaphern vorstellbar, weil sich in ihr das Milieu allererst konstituiert, in dem begriffliche Verhältnisse und damit Begreifbarkeit möglich sind. Plotin spricht auch hier noch durchgängig in Metaphern, wenn er von der „Hinwendung“ des entsprungenen Zweiten zum übermächtigen Einen spricht, in wel40 Vgl. dazu Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 312–337 mit den dort analysierten Belegen. 41  Es stammt – was in der Forschung selten gesehen wurde – aus Platons Sonnengleichnis selbst: das Auge besitzt seine Sehkraft „gleichsam als Ausfluß“ (Politeia 508 B 7: ὥσπερ ἐπίρρυτον) des Lichtes der Sonne – da das Auge im Sonnengleichnis das Analogon des Nous ist, überträgt Plotin die Emanationsvorstellung auf den Geist: dessen Kraft des denkenden Vereinigens und Unterscheidens der Ideen ist die Emanation der einigenden Übermacht des Einen selbst. 42 Vgl. dazu Beierwaltes, Denken des Einen, 48 ff; Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 126 ff. Zu Plotins Metapherngebrauch ist wichtig auch Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 1998 (= Paradigmen zu einer Metaphorologie), 176 ff, der aus Plotins Umgang mit Bildern und Metaphern seinen Begriff der „absoluten“, d.h. nicht in Begriffe übersetzbaren, weil Vorbegriffliches andeutenden Metapher entwickelt. 43 Vgl. dazu Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 86–93.

IX. Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons

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cher das entspringende Zweite die „Mächtigkeit des Erzeugens“ (Enneade VI 7, 15, 18: δύναμις εἰς τὸ γεννᾶν) empfängt, also die Kraft zur Bildung von Einheit durch das Hervorbringen von Unterschieden und durch die Vereinigung der Unterschiede zur in sich selbst unterschiedenen Einheit des Denkens. Zugleich aber korrigiert Plotin seine eigene Metaphorologie des unvordenklichen, begrifflich nicht einholbaren, ursprünglichen Entspringens auch wieder. „Hervorgang“ und „Rückwendung“, πρόοδος und ἐπιστροφή sind zwar einerseits vorläufig unterscheidbar als die beiden Stufen, in denen zuerst das Zweite aus der Überfülle des Einen entspringt, um dann von dieser als Geist bestimmt und zur bestimmten Einheit des Seins erhoben zu werden. Aber diese Unterscheidung ist selber nur vorläufig und uneigentlich. Sie unterscheidet nicht zwei wirkliche „Phasen“ oder „Akte“ in der Konstitution des Seins als Geist. Die beiden Aspekte des Ursprungsgeschehens, Hervorgang und Rückwendung, πρόοδος und ἐπιστροφή, sind in Wahrheit identisch, sie sind ein und derselbe Akt:44 es entspringt nicht „zunächst“ etwas als Unbestimmtes, das seiner Unbestimmtheit wegen nicht einmal „Etwas“ genannt werden dürfte, das sich „dann“ auf den Ursprung zurückwendet und dadurch bestimmt wird. Der Hervorgang als solcher kann sich gar nicht anders vollziehen, denn als Akt der Hinwendung zum Absoluten. Das hervorgehende Zweite wendet sich im Akt seines Hervorgehens selbst zum Absoluten hin und geht nur durch diese Hinwendung überhaupt hervor, wie Plotin ausdrücklich betont: „Das Entsprungene wandte sich auf Jenes (das Eine selbst) hin und wurde erfüllt, und es entstand, indem es auf Jenes hinblickte, und das ist der Geist.“ (Enneade V 2, 1, 9 f)45 – Darin liegt zugleich die Einsicht, daß die zweite Einheit, die unbestimmte Zweiheit, kein dem Geist gegenüber selbständiges Prinzip ist: sie ist als das Element der Bestimmbarkeit, ohne das der Geist nicht gedacht werden kann, zwar ursprünglicher als dessen erfüllte Selbstbeziehung; aber sie ist kein dem Geist ontologisch vor­ ausliegendes Wesen. Die zweite ausdrückliche Selbstkorrektur von Plotins Metaphorologie des Ursprungsgeschehens betrifft das Verhältnis des Geistes zum Absoluten. Die Bestimmung der unbestimmten Zweiheit zur geeinten Zwei-Einheit des Geis44 Vgl. die Klarstellung von Werner Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7), Frankfurt am Main 1967, 5. erg. Aufl. 2010, 16: „Es entsteht nicht zunächst ‚Etwas‘, das sich dann in sich selbst zurück- oder auf das Eine selbst denkend hinwendet, sondern das Entstehen ist zugleich die Hinwendung auf sich selbst und den Ursprung. Hervorgang und Rückgang sind in der Einen, durch diesen Hervor- und Rückgang allererst entstehenden ὑπόστασις identisch.“ 45  Ebenso deutlich Enneade V 1, 6, 16–19: μὴ ὄντος δὲ ἐκείνῳ μηδενὸς μὴ τιθώμεθα αὐτὸ κινεῖσθαι, ἀλλ’ εἴ τι μετ’ αὐτὸ γίνεται, ἐπιστραφέντος ἀεὶ ἐκείνου πρὸς αὐτὸ ἀναγκαῖόν ἐστι γεγονέναι. „Da Jenes (das Eine selbst) nichts hat, zu dem Es sich bewegen könnte, so dürfen wir nicht annehmen, daß Es sich bewege; sondern wenn nach Ihm etwas entsteht, muß es notwendig entstanden sein, indem jenes Entstehende sich immer schon auf Es (das Eine selbst) hingewendet hat.“ (Text nach der Editio maior von Henry-Schwyzer).

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tes darf nicht gedacht werden als ein Empfangen der Bestimmtheit von Seiten des Absoluten, so als wäre die Bestimmtheit schon im Einen selbst. Denn das Absolute bleibt selbst strikt jenseits aller Bestimmtheit und Bestimmbarkeit. Die Bestimmung der unbestimmten Zweiheit durch die Übermacht des Einen kann darum nur gedacht werden als das Sich-selbst-Bestimmen des an sich unbestimmten Zweiten, in der Weise, daß durch diese Selbstbestimmung alle Bestimmtheit erst ursprünglich erzeugt wird (Enneade VI 7, 15, 14–20). Diese Selbsterzeugung von Bestimmtheit kann wiederum nur gedacht werden als ein Setzen von Einheit: die ursprünglich unbestimmte Einheit des Zweiten bestimmt sich selbst, indem sie sich in wohlbestimmte Einheiten unterscheidet, die unterschiedenen Teil-Einheiten dabei zugleich zur umfassenden Einheit des Ganzen vereinigt und in diesem Vereinigen der Unterschiede sich selbst als die Einheit des Ganzen für sich selbst gegenwärtig hält (vgl. Enneade V 3, 13, 12 ff). Die „Mächtigkeit zur Erzeugung“ von Bestimmtheit und damit von Sein und Wesensgehalt ist also die Kraft, Einheiten zu bilden und zu vereinigen (Enneade VI 7, 15–17). Diese Kraft erhält das Zweite durch seine Hinwendung zum Einen selbst, durch seine Intention auf das Absolute, und zwar genau dadurch, daß sich ihm das Eine selbst in seiner absoluten Transzendenz entzieht. Weil es das Absolute niemals erreichen kann, darum erfüllt das Zweite seine Intention auf Einheit, in der es selbst entspringt, nur dadurch, daß es seine eigene, dem jenseitigen Einen selbst entsprungene Einheit in sich unterscheidet, sich mit diesen Unterschieden erfüllt und sich darin als erfüllte, die Totalität aller Bestimmtheit umfassende Einheit selbst erblickt (Enneade V 3, 11). So konstituiert sich der Geist als erfüllte Selbstbeziehung des reinen Denkens, die alle Bestimmtheit in sich selbst erzeugt, gerade durch seinen Transzendenzbezug auf das jenseitige Absolute. Indem sich das Eine selbst dem Denken entzieht, verleiht es diesem die Macht der Einheitsbildung, die alle Bestimmtheit ermöglicht, aber im Denken selbst und nicht im Absoluten (Enneade VI 7, 17, 17 ff; VI 7, 40, 10 ff). So ist es gerade die Transzendenz des Absoluten, die Bestimmtheit ursprünglich ermöglicht, nämlich als die sich selbst bestimmende Einheit des Geistes und damit als Freiheit.46

46 

Dazu unten Kapitel XIX.

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X.

Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon 1. Proklos’ Selbstverständnis als Platoniker Proklos versteht seine gesamte Philosophie ausdrücklich als Interpretation der Philosophie Platons.1 An herausgehobener Stelle seines Oeuvres, nämlich zu Beginn seines systematischen Hauptwerks über die Platonische Theologie, gibt Proklos folgende Selbstherleitung: Die Platonische Philosophie, so heißt es dort, sei eine im göttlichen Geist verborgene Wahrheit, die den nach Wahrheit Suchenden durch einen einzigen Mann offenbart worden sei, nämlich durch Platon. Dieser habe seine Theologie, d.h. seine Metaphysik der Prinzipien jedoch nur innerhalb der Akademie an einen kleinen Kreis von Eingeweihten weitergegeben, durch die sie überliefert wurde, der breiteren Öffentlichkeit aber sei sie unbekannt geblieben und so in Vergessenheit geraten. Erst nach langer Zeit sei die eigentliche Metaphysik (ἐποπτεία) Platons dann durch Plotin erneuert und an seine Schüler weitergegeben worden, in deren Tradition Proklos sich selbst einreiht. Er nennt hier die beiden Plotinschüler Porphyrios und Amelios, dann Jamblich und dessen Schüler Theodoros von Asine und schließlich seinen, Proklos’ eigenen ­Lehrer Syrian. 2 An dieser Selbstherleitung des Neuplatonismus scheinen mir drei Punkte bemerkenswert: 1. Die Hervorhebung der einzigartigen Bedeutung Platons unterstreicht den Anspruch des Proklos, orthodoxer Platoniker zu sein. Sie enthält aber zugleich eine unausgesprochene Zurückweisung der schon in der Alten Akademie, von Platonschülern wie Speusipp und Xenokrates vorgenommenen Zurückdatierung der Platonischen Philosophie auf Pythagoras,3 die innerhalb des Neuplatonismus besonders von Jamblich propagiert wurde.4 – Zwar beruft sich Proklos an anderer Stelle selbst auf die Tradition des Pythagoreismus und auf die 1 Vgl.

dazu generell Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, Kapitel I 2 und VI 2. Proklos, Theologia Platonis I 1, 5, 6–7, 8 Saffrey-Westerink. Dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 222 ff. 3  Dazu bleibt grundlegend Burkert, Weisheit und Wissenschaft; vgl. auch Dillon, The Heirs of Plato, passim, bes. 59 ff. 4 Vgl. dazu Dominic J. O’Meara, Pythagoras Revived. Mathematics and Philosophy in Late Antiquity, Oxford 1989 (= Pythagoras Revived). Dazu, daß Jamblich dabei speziell an Speusipp anknüpft, unten Kapitel XV. 2 Vgl.

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vermeintlich noch ältere der Orphischen Mysterien5 als die Quelle der gesamten griechischen Theologie, von der sie zuerst durch den sagenhaften Aglaophamos an Pythagoras übermittelt worden sei, und dann durch die Pythagoreer, zu denen Proklos übrigens auch Parmenides zählt, an Platon.6 Doch Proklos betont, daß erst Platon die in diesen uralten Überlieferungen enthaltene göttliche Offenbarung der Wahrheit durch die Methode der Dialektik zur Wissenschaft von den ersten und höchsten Prinzipien erhoben habe.7 Proklos unterscheidet in diesem Sinne grundsätzlich vier Weisen und Stufen der Theologie: erstens eine symbolische und mythische, die auf die Orphiker zurückgeht, zweitens eine bildhafte (aenigmatische) Theologie, die von den Pythagoreern vertreten wird, drittens eine Theologie durch unmittelbare göttliche Inspiration, die sich in den Chaldäischen Orakeln findet, und viertens eine dialektische und metaphysische Theologie, deren Begründer und zugleich Vollender Platon ist.8 Diese vierte ist die höchste und eigentliche Theologie, sie hebt den Wahrheitsgehalt der drei anderen Stufen in sich auf. Die Traditionen der Orphiker, der Pythagoreer und der Chaldäer relativieren darum die Bedeutung Platons als des eigentlichen Interpreten der göttlichen Wahrheit in keiner Weise. Proklos versteht sich deshalb ausdrücklich als Platoniker und nicht als Pythagoreer, und zwar mit der Begründung, daß nur Platon die Prinzipien und die Stufen des Seins in ihrer hierarchischen Ordnung mit hinreichender Deutlichkeit unterschieden habe.9 Dieses Selbstverständnis verbindet Proklos mit Plotin und trennt ihn von Jamblich. 2. Proklos beruft sich ausdrücklich auf die innerakademische ­Lehre Platons und rechnet mit deren gleichsam unterirdischer Vermittlung innerhalb der platonischen Schultradition bis zu Plotin. Wie wir seit den Forschungen von Léon Robin, Eric Robertson Dodds, Cornelia de Vogel, Philip Merlan und vor allem von Hans Krämer wissen, ist das keine Diadochenkonstruktion, sondern eine aus den Quellen breit belegbare historische Tatsache.10  5  Daß der Orphismus in Wirklichkeit nicht vorpythagoreisch ist und daß die ältesten or­ ehren mit den ältesten pythagoreischen L ­ ehren übereinstimmen, zeigte bekanntphischen L lich E. R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970, 2. Aufl. 1991, 83 ff. Vgl. zum Orphismus und seiner Deutung im antiken Platonismus Luc Brisson, Oprhée et l’orphisme dans l’Antiquité gréco-romaine, Aldershot 1995.  6 Vgl. Proklos, Theologia Platonis I 5, 25, 24 ff. Vgl. dazu Henri-Dominique Saffrey, „Accorder entre elles les traditions théologiques: une charactéristique du néoplatonisme athénien“, in: Egbert P. Bos/Pieter A. Meijer (Hgg.), Proclus and his Influence in Medieval Philosophy, Leiden 1992, 35–50.  7 Vgl. Proklos, Theologia Platonis I 4, 20, 15–19; den Terminus τῶν πρωτίστων ἀρχῶν ἐπιστήμη gebraucht Proklos ebd. I 9, 38, 7.  8 Vgl. Proklos, Theologia Platonis I 4, 20, 1–25.  9 Vgl. Proklos, Theologia Platonis I 3, 13, 6–16, 18. Vgl. Plotin, Enneade V 1, 8–9 und dazu Szlezák, Nuslehre Plotins, 34–38. 10  Verwiesen sei hier nur auf das Standardwerk von Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik. Zu den Ergebnissen dieses Buches vgl. auch meinen Versuch eines Resümees, das die in

X. Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon

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3. Bemerkenswert ist schließlich Proklos’ klare Hervorhebung der epochalen Bedeutung Plotins für die geschichtliche Entwicklung des Platonismus. Die entscheidende Zäsur, die für uns heute den Übergang vom Mittelplatonismus zum Neuplatonismus markiert, erkennt Proklos dabei in Plotins Erneuerung der innerakademischen Metaphysik Platons, also derjenigen Prinzipientheorie, welche die Totalität des Seienden aus dem Einen als dem absoluten Prinzip, das alles begründet und selber einer Begründung weder bedürftig noch fähig ist, ableitet.11 Durch seine Erneuerung dieser Metaphysik des Einen gelang Plotin eine einheitliche und systematisch fundierte Gesamtdeutung der Philosophie Platons, die auch die wahre Bedeutung der Platonischen Dialoge allererst wirklich erschloß. Den Plotin vorangehenden Mittelplatonikern war dagegen weder das eine noch das andere gelungen – ihre Platondeutung bleibt vielmehr weithin experimentierend.12 – Proklos behauptet also nicht einfach das Bestehen einer einheitlichen und ununterbrochenen Tradition des Platonismus von der Akademie bis zu Plotin, sondern er ist sich über den innovatorischen Charakter von Plotins Platonismus gegenüber dem vorangehenden Mittelplatonismus völlig im Klaren. Er deutet aber die Erneuerung des Platonismus durch Plotins Metaphysik des Einen – historisch ganz zu Recht – als die Wiederaufnahme der henologischen Prinzipienphilosophie Platons, die im Mittelplatonismus zugunsten einer sowohl an Platons Timaios als auch an Xenokrates orientierten Nous-Theologie stark in den Hintergrund getreten war, ohne indes ganz verdeckt zu werden; denn bei Denkern wie Eudoros, Moderatos und im Pythagoreer-Referat des Sextus Empiricus tritt sie in Gestalt ihrer Pseudomorphose im Neupythagoreismus deutlich hervor, und auch bei Numenios und in der platonisierenden Gnosis wird sie erkennbar.13 den letzten Jahrzehnten erzielten weiteren Erkenntnisse einbezieht: Jens Halfwassen, „‚Der Ursprung der Geistmetaphysik‘. Die wiederentdeckte Einheit des antiken Platonismus“, in: Thomas Alexander Szlezák (Hg.), Platonisches Philosophieren. Zehn Vorträge zu Ehren von Hans Joachim Krämer, Hildesheim/Zürich/New York 2001, 47–65. 11 Grundlegend dazu bleiben die Standardwerke von Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles und Gaiser, Platons ungeschriebene ­Lehre. 12  Wie stark gleichwohl auch im Mittelplatonismus die innerakademische L ­ ehre Platons und ihre Weiterführungen durch Speusipp und Xenokrates weiterwirken, zeigte nach Krämer vor allem das Standardwerk von Dillon, The Middle Platonists. Dillon und Krämer stimmen auch darin überein, daß beide die deutlichen Lehrunterschiede zwischen den verschiedenen Denkern und Richtungen innerhalb des Mittelplatonismus in weitem Umfang durch die unterschiedlichen Einflüsse von Speusipp einerseits und Xenokrates andererseits und ihre Auswirkungen auf die jeweilige Platondeutung erklären. 13  Diese vorplotinische Präsenz der L ­ ehre vom überseienden Einen und ihre Herkunft aus Platons Parmenides bewies zuerst Dodds, „The Parmenides of Plato“. Wichtig für die Tradition einer negativen Henologie im Mittelplatonismus und Neupythagoreismus sind die Arbeiten von John Whittaker, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΝΟΥ ΚΑΙ ΟΥΣΙΑΣ“ in: Vigiliae Christianae 23 (1969), 91–104 (= ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΝΟΥ); ders., „Neopythagoreanism and the Transcendent Absolute“, in: Symbolae Osloenses 45 (1970), 77–86 (= Neopythagoreanism and the Transcen-

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

Die zentrale systematische Differenz zwischen dem Mittelplatonismus und dem von Plotin erneuerten Platonismus, in dem Proklos den echten, von den Verkürzungen der Mittelplatoniker gereinigten Platonismus sieht, besteht also vor allem anderen in der Bestimmung des höchsten Prinzips. Die alles entscheidende Differenz liegt dabei aber nicht darin, ob das höchste Prinzip als Einheitsgrund konzipiert wird oder nicht. Denn alle Mittelplatoniker hatten ihr höchstes Prinzip als den letzten Einheitsgrund für die Totalität alles Seienden angesehen und in diesem Sinne eine henologische Metaphysik vertreten, auch wenn sie das Höchste dann auch noch als das Sein selbst (αὐτοόν) und als den höchsten Geist (πρῶτος νοῦς) bestimmt hatten. Die entscheidende Differenz besteht vielmehr in der Einsicht Plotins, daß der absolute Grund aller Einheit nichts als das Eine selbst ist und darum weder als Sein noch als Geist bestimmt werden darf, weil er damit bereits in die Vielheit hineingezogen würde. Darin, daß das Absolute nichts ist als das Eine selbst, daß es also jenseits aller denkbaren Bestimmungen, auch jenseits des Seins (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας) und jenseits des Geistes (ἐπέκεινα νοῦ) ist, liegt die Transzendenz des Absoluten, die konsequent gedacht absolute Transzendenz, also Transzendenz über die Totalität alles überhaupt Denkbaren sein muß.14 Der von Plotin erneuerte Platonismus macht die Transzendenz des Absoluten zum Zentrum seiner Platondeutung. Wenn Proklos beansprucht, dieses Platonverständnis sei das einzig richtige und angemessene, dann muß er zeigen können, daß die ­Lehre von der Transzendenz des Einen über Sein und Geist keine Neuerung Plotins ist, sondern sich bei Platon selbst nachweisen läßt. Eben diesen Nachweis zu führen, unternimmt Proklos vor allem im 2. Buch seiner Platonischen Theologie. Er scheint mir aus zwei Gründen von höchstem Interesse zu sein: er ist nämlich nicht nur zentral für den Neuplatonismus, er ist darüber hin­aus auch wichtig im Blick auf Platon selbst: denn ich möchte die These vertreten, daß Proklos schlagend bewiesen ­ ehre von der Transzendenz des Absoluten über Sein und hat, daß Platon die L Geist vertreten hat.

dent Absolute); ders., „Neupythagoreismus und negative Theologie“, in: Clemens Zintzen (Hg.), Der Mittelplatonismus, Darmstadt 1981 (= Mittelplatonismus), 169–186. 14 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, bes. 81–97 und 150–182; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 257–273; ders., Plotin und der Neuplatonismus, 43–58. Daß die Transzendenz über die Totalität für Plotins Begriff des Absoluten konstitutiv ist, betonte zu Recht schon Huber, Das Sein und das Absolute, 49 ff, 53 ff, bes. 58 ff, der darin allerdings noch spezifisch Spätantikes sehen wollte.

X. Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon

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2. Die Platondeutung des Origenes Das 2. Buch der Platonischen Theologie ist die systematischste und geschlossenste Darstellung der Theorie des absoluten Einen, die wir in Proklos’ umfangreichem Oeuvre und darüber hin­aus wohl im gesamten Neuplatonismus finden.15 In den ersten drei Kapiteln entfaltet Proklos eine eingehende systematische Argumentation dafür, daß die Totalität des Seienden notwendig bipolar, nämlich durch Einheit und Vielheit zugleich strukturiert ist, und daß genau darum der absolute Einheitsgrund des Ganzen alles Seienden selbst als reine Einheit das Sein und alle Seinsbestimmungen radikal transzendieren muß.16 Im vierten Kapitel sichert Proklos dieses Ergebnis dann gegen die mittelplatonische Platondeutung ab, derzufolge das höchste Prinzip selber Geist ist und insofern mit der höchsten Stufe des Seins zusammenfällt.17 Als den Hauptvertreter dieser Deutung nennt Proklos hier Origenes, der wie Plotin ein Schüler des Ammonios war.18 Dieser Origenes kann auch deswegen nicht der gleichnamige Christ gewesen sein,19 weil dieser in seinen erhaltenen Schriften wie zahlreiche Mittelplatoniker, z.B. der von ihm bekämpfte Kelsos, schwankt zwischen einer Bestimmung des höchsten Prinzips als Geist und einer Transzendenz über Sein und Geist. 20 Von dem Platoniker Origenes berichtet Porphyrios, daß er – ganz anders als der vielschreibende Christ – nur zwei Bücher verfaßt habe, die beide nicht erhalten sind, und zwar eine Schrift Über die Dämonen und eine weitere, welche die im Mittelplatonismus übliche, aber doch nicht unumstrittene Gleichsetzung des höchsten Prinzips mit dem Schöp-

15  Eine kommentierte zweisprachige Ausgabe dieses Textes bereite ich für die „Philosophische Bibliothek“ des Felix Meiner Verlags (Hamburg) vor. 16 Vgl. Proklos, Theologia Platonis II 1–3. Die eigentlich grundlegende Argumentation findet sich im ersten Kapitel. Ich habe sie eingehend kommentiert in: Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 401–411. 17 Eine solche Platondeutung mittelplatonischer Art, die die Seins­ t ranszen­denz des höchsten Prinzips bei Platon bestreitet, wird auch heute vertreten, repräsentativ etwa von Matthias Baltes, „Is the Idea of the Good in Plato’s Republic Beyond Being?“ (zuerst 1997), in: ders., ΔΙΑΝΟΗΜΑΤΑ. Kleine Schriften zu Platon und zum Platonismus, hgg. von Annette Hüffmeier/Marie-Luise Lakmann/Matthias Vorwerk, Stuttgart/Leipzig 1999 (= ΔΙΑΝΟΗΜΑΤΑ), 351–371. 18 Vgl. zu ihm die Monographie mit kommentierter Sammlung der Fragmente von KarlOtto Weber, Origenes der Neuplatoniker. Versuch einer Interpretation, München 1962. Zu seiner ­Lehre vom höchsten Prinzip dort 98–113; zu Proklos’ Auseinandersetzung mit ihr vgl. Henri Dominique Saffrey/Leendert Gerrit Westerink (Hgg.), Proclus. Théologie Platonicienne, 5 Vol., Paris 1968–1997 (= Proclus. Théologie Platonicienne), Vol. II, „Introduction“, X–XX. 19  Für die Gleichsetzung des Platonikers mit dem Christen plädiert Thomas Böhm, „Origenes – Theologe und (Neu-)Platoniker? Oder: Wem soll man mißtrauen: Eusebius oder Porphyrius?“ in: Adamantius 8 (2002), 7–23. 20 Vgl. z.B. Origenes, De prinicipiis I, 1, 6; Contra Celsum VI 64 und VII 45.

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fergott des Platonischen Timaios verteidigt. 21 Diese zweite Schrift enthält also die Prinzipientheorie des Origenes, 22 was Proklos von ihr berichtet, stammt aus diesem Buch. Proklos berichtet nun, daß Origenes den Geist nicht nur als die höchste Stufe des Seienden angesehen habe, sondern darüber hin­aus als das Höchste, Vollkommenste und Ursprünglichste schlechthin, und zwar mit der Begründung, daß das ursprünglich Seiende (πρώτως ὄν) auch das ursprünglich Eine (πρώτως ἕν) sei.23 Diese Begründung führt Proklos auf die These des Aristo­teles von der Konvertibilität des Seienden mit dem Einen zurück, die schon Plotin kritisiert hatte. 24 Proklos betrachtet die Konvertibilität des Seienden und des Einen zu Recht nicht nur als unplatonisch, sondern geradezu als antiplatonisch, weil sie sich direkt gegen Platons Ansetzung des Einen als Prinzip des Seins richtet. Darum verweigert er Origenes sogar den Ehrentitel eines Platonikers. Gegen dessen aristotelische „Ketzerei“ (καινοτομία), wie Proklos sie nennt, argumentiert er nun nicht mehr systematisch, sondern philologisch und texthermeneutisch. Sein Beweisziel dabei ist nicht, daß die Konvertibilitätsthese in der Sache falsch ist, was Proklos bereits im ersten Kapitel des 2. Buchs der Platonischen Theologie gezeigt hatte, sondern, daß sie mit Platons ­Lehre unvereinbar ist. Dazu weist er durch genaue Textinterpretation nach, daß Platon in vier zentralen Passagen seiner Dialoge die Transzendenz des Absoluten über das Sein und den Geist ausdrücklich lehrt oder zumindest implizit vor­aussetzt. Es handelt sich um Stellen aus der Politeia, dem Sophistes und dem Parmenides, wo ­ ehre vertritt, sowie aus dem Philebos, wo er sie vor­aussetzt. SePlaton diese L hen wir uns diese Stellen und ihre Interpretation durch Proklos nun genauer an.

3. Proklos’ Deutung der Platonischen Schlüsseltexte für die Transzendenz des Absoluten 1. Natürlich beruft sich Proklos für die Transzendenz des Absoluten zuerst auf das Sonnengleichnis, an dessen Ende – dem kompositorischen Höhepunkt der gesamten Politeia25 – die berühmte und von Proklos wörtlich zitierte Wendung 21 Vgl. Porphyrios, Vita Plotini 3, 29 ff. Porphyrios berichtet dort, Origenes habe die Schrift über die Identität des Schöpfers mit dem höchsten Prinzip unter Gallienus verfaßt, der 253 Kaiser wurde; in diesem Jahr starb der Christ Origenes an den Folgen der Folter. – Zwischen dem höchsten Prinzip und dem Schöpfer unterscheidet z.B. auch Numenios, Fr. 12 und Fr. 21 des Places. 22  So zu Recht Saffrey/Westerink, Théologie Platonicienne II, XI f. 23 Vgl. Proklos, Theologia Platonis II 4, 31, 4–22 (= Origenes, Fr. 7 Weber). 24 Vgl. Proklos, Theologia Platonis II 4, 31, 16–22; vgl. Plotin, Enneade VI 9, 2 gegen Aristo­teles, Metaphysik IV 2, 1003 b 22 ff. 25 Vgl. die genaue Strukturanalyse des Aufbaus der Politeia von Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 271–326; auch ders., Die Idee des Guten in Platons Politeia, 54–71, bes. 67 ff.

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steht, das Gute selbst sei keine Seiendheit, sondern noch jenseits des Seins, an Ursprünglichkeit und Mächtigkeit über das Sein hin­aus. 26 Dies ist unbestreitbar der deutlichste Textbeleg für die Seins­transzen­denz des Absoluten im gesamten Schriftwerk Platons. Proklos deutet ihn so, daß die Seins­transzen­denz des Guten dessen Geisttranszendenz einschließt. 27 Aus der Proportionsanalogie zwischen dem sinnlichen Sehen und der geistigen Einsicht ergibt sich nämlich eindeutig, daß nicht nur das Seiende und seine Erkennbarkeit, sondern ebenso der Geist und seine Erkenntnisfähigkeit Prinzipiate des Guten sind, 28 so wie nicht nur das Werdende und seine Sichtbarkeit, sondern auch das Auge und seine Sehkraft Prinzipiate bzw. „Emanationen“ (ἐπίρρυτα) der Sonne sind, wie Platon wörtlich sagt.29 Platons Text macht ebenso deutlich, daß die Prinzipiate des Guten, nämlich Geist (νοῦς),30 Erkenntnis (ἐπιστήμη bzw. γνῶσις)31 und Wahrheit (ἀλήθεια),32 aber ebenso Sein (εἶναι)33 und Seiendheit (οὐσία)34 zwar von der Art des Guten (ἀγαθοειδές) sind, daß sie aber von dem Guten selbst in seiner Transzendenz unterschieden werden müssen.35 So wie das Licht und das Sehen zwar sonnenhaft sind, aber deshalb nicht mit der Sonne selbst identisch sind,36 so heißt es mit Bezug auf das Wissen und die Wahrheit ausdrücklich, sie seien zwar ἀγαθοειδές,37 das Gute selbst aber sei ἄλλο καὶ κάλλιον,38 μειζόνως τιμητέον39 und ὑπὲρ ταῦτα.40 Der Transzendenz des Guten über seine „ontologischen“ Prinzipiate εἶναι und οὐσία entspricht im Text also ganz klar eine Transzendenz auch über die „gnoseologischen“ Prinzipiate νοῦς, ἐπιστήμη, γνῶσις und ἀλήθεια, ja die Transzendenz über das Sein wird sogar als Steigerung der vorher ausgesprochenen Transzendenz über Erkenntnis und Wahrheit eingeführt,41 so daß Proklos 26 Platon, Politeia 509 B 8–10: οὐκ οὐσίας ὄντος τοῦ ἀγαθοῦ, ἀλλ’ ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος. Zitiert bei Proklos, Theologia Platonis II 4, 32, 20–22. 27 Proklos, Theologia Platonis II 4, 32, 1–34, 8. 28 Vgl. Platon, Politeia 508 B 12 ff. 29 Platon, Politeia 508 B 6–7. 30 Platon, Politeia 508 C 1, D 6. 31 Platon, Politeia 508 E 3, 5, 6; 509 A 6. 32 Platon, Politeia 508 E 1, 4; 509 A 1, 6; vgl. 508 D 5. 33 Platon, Politeia 509 B 7; vgl. 508 D 5 (τὸ ὄν). 34 Platon, Politeia 509 B 8. 35 Vgl. Platon, Politeia 508 E 1 – 509 B 10. 36 Vgl. Platon, Politeia 509 A 1 ff mit Verweis auf 508 A 11 ff. 37 Platon, Politeia 509 A 3. 38 Platon, Politeia 508 E 5–6. 39 Platon, Politeia 509 A 4–5. 40 Platon, Politeia 509 A 7. 41  Das ergibt sich nicht nur aus der Steigerung der Transzendenzprädikate von ἄλλο über μειζόνως und ὑπέρ bis zu ἐπέκεινα und ὑπερβολή, sondern auch aus der Wendung μὴ μόνον … ἀλλὰ καὶ … (Politeia 509 B 6–7), mit der die „ontologische“ Transzendenz nach der „gnoseologischen“ eingeführt wird. Vgl. Szlezák, Die Idee des Guten in Platons Politeia, 67: „Mit der ‚Jenseitigkeit‘ des Guten sind wir auf dem Höhepunkt einer sorgfältig aufgebauten Klimax angelangt.“

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zu Recht interpretiert, daß die Seins­transzen­denz des Absoluten dessen Geistund Erkenntnistranszendenz einschließt.42 Proklos deutet das Sonnengleichnis ganz selbstverständlich von der von Aristo­teles für Platon referierten Gleichsetzung des Guten selbst mit dem Einen selbst her,43 die so zu verstehen ist, daß das absolute Eine das von Platon im Sonnengleichnis wie in der gesamten Politeia absichtlich zurückgehaltene Wesen des Guten ist.44 Die Gleichsetzung des Guten selbst mit dem Einen wurde von allen antiken Platonikern akzeptiert, so daß sie in der gesamten Antike niemals kontrovers war. Diese henologische Interpretation verleiht der Seins­ transzen­denz des Guten nun zugleich ihre systematische Schärfe und Klarheit. Proklos sagt, daß das Absolute die gesamte Dimension des Geistes und ebenso die gesamte Dimension des Intelligiblen und des Seins „kraft seiner absoluten Einheit“ (καθ’ ἕνωσιν) transzendiert.45 Darin steckt das Grundaxiom des Platonismus, daß jede Vielheit das Eine vor­aussetzt, und daß das Eine selbst in seiner Absolutheit aus aller Vielheit, auch aus jeder nur begrifflichen Vielheit, herausgenommen ist.46 Angewendet auf das Thema des Sonnengleichnisses, also die Begründung des geistigen Erkennens und des κόσμος νοητός der Ideen im Absoluten, besagt das, daß Geist und Erkenntnis und ebenso Sein, Seiendheit und Wahrheit Formen von Einheit und damit Prinzipiate des Einen selbst sind, daß sie aber eben als Formen von Einheit, also als bestimmte Einheiten notwendig immer in Vielheit eingeschränkte Einheiten sind und niemals die reine oder absolute Einheit selbst, die über alle Formbestimmtheit hin­aus ist;47 darum sind sie zwar von der Art des Einen und Guten, aber nicht das Eine oder Gute selbst. Proklos führt schließlich noch einen weiteren Grund gegen die Gleichsetzung des Guten mit dem Geist und dem Seienden an: das erste Prinzipiat des überseienden Absoluten sei dem Gleichnis zufolge nämlich weder der Geist noch die Seiendheit, sondern das intelligible „Licht der Wahrheit“,48 welches das Sein und den Geist erst vollende und dadurch beide ἀγαθοειδές mache, so wie das von der Sonne ausgehende Licht das Auge und das von ihm Gesehene erst „sonnenhaft“ mache. Proklos betont dabei, daß die οὐσία und der νοῦς durch ihre Teilhabe am Licht der Wahrheit die ihnen zukommende Einheit (ἕνωσις) erlangten und dadurch göttlich seien und vereint mit dem Prinzip alles Seienden.49 Wie das Sonnenlicht die Kraft ist, welche das Sehen als Vereinigung von Auge und Sichtbarem erst ermöglicht, ebenso interpretiert Proklos das Geist 42 Vgl.

Proklos, Theologia Platonis II 4, 32, 23–33, 7. Aristo­teles, Metaphysik 1091 b 13–15; Eudemische Ethik 1218 a 15–32. 44 Vgl. Platon, Politeia 506 D 8 ff zur absichtlichen Zurückhaltung des Wesens des Guten. 45 Proklos, Theologia Platonis II 4, 32, 23–26. 46 Vgl. Proklos, Elementatio theologica §§ 1 und 5. 47 Vgl. meine Deutung in: Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 251–263. 48 Vgl. Platon, Politeia 508 D 5. 49 Proklos, Theologia Platonis II 4, 33, 5–21. 43 Vgl.

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und Sein vereinigende Licht der Wahrheit als die ursprüngliche Kraft der Setzung von Einheit, die von dem Einen selbst ausgeht und alle Formen von Einheit in der Vielheit ursprünglich konstituiert und vollendet. Weil οὐσία und νοῦς jeweils Formen von Einheit in der Vielheit sind – denn das Sein ist der Inbegriff aller ideenhaften Bestimmtheit und der Geist ist die Einheit der Strukturmomente des Denkenden, des Gedachten und des beide vereinigenden Denkaktes – darum sind sie weit davon entfernt, mit dem Absoluten, dem Ursprung aller Einheitssetzung, identisch zu sein.50 – Proklos betont, das Sonnengleichnis allein reiche schon aus, um die Tran­ szendenz des Absoluten über Sein und Geist für Platon zu belegen. Dennoch sei es eine gute hermeneutische Regel, ein aus der Interpretation eines Textes gewonnenes Ergebnis durch weitere Texte zu bestätigen.51 Diese mehrfache Absicherung verfährt nicht einfach nach der Maxime „doppelt genäht hält besser“, sondern sie widerlegt den möglichen (und gerade heute sehr beliebten) Einwand, das Sonnengleichnis sei eine vereinzelte Passage, auf deren These von der absoluten Transzendenz des höchsten Prinzips Platon in anderen Dialogen nie wieder zurückkomme. 2. Proklos entnimmt Platons kritischer Auseinandersetzung mit den Ontologien der Vorsokratiker im Sophistes zwei fundamentale Thesen: 1. Die Vielheit des Seienden (der ὄντα) setzt die Einheit des Seins (des ὄν) vor­aus, das selber keines der vielen Seienden ist. 2. Die Einheit des Seins setzt das Eine selbst (αὐτὸ τὸ ἕν) vor­aus, das selbst weder Sein noch Seiendes ist.52 Die erste These ergibt sich aus Platons Auseinandersetzung mit den pluralistischen Theorien der Vorsokratiker vor Parmenides, die zweite ergibt sich aus seiner Auseinandersetzung mit dem eleatischen Monismus. Beide Thesen finden sich wirklich in Platons Text. (1) Den pluralistischen Positionen der frühen Vorsokratiker wirft Platon nämlich vor, sie verwechselten jeweils bestimmte Seiende mit dem Sein selbst und könnten darum die Totalität des Seienden gar nicht als seiend begreifen. Wenn nämlich konkrete Bestimmungen wie das Warme oder das Kalte und ebenso, wenn rein intelligible Bestimmungen wie Ruhe oder Bewegung einander ausschließende Gegensätze darstellen, dann kann man nicht einen dieser Gegensätze mit dem Sein identifizieren, ohne dadurch das jeweilige Gegenteil nichtseiend zu machen. Wenn man das Warme mit dem Sein gleichsetzt, dann ist das Kalte nichtseiend, und wenn man die Ruhe mit dem Sein gleichsetzt, dann ist Bewegung nichtseiend, und ebenso umgekehrt.53 Platons Ideendialektik zeigt aber, daß Bewegung und Ruhe notwendig beide gleichermaßen Seinscharakter besitzen müssen, soll das Seiende nicht unverstehbar sein. Denn 50 Vgl.

Proklos, Theologia Platonis II 4, 33, 22–34, 8. Theologia Platonis II 4, 34, 9–13. 52 Proklos, Theologia Platonis II 4, 34, 14–35, 9. 53 Vgl. Platon, Sophistes 243 D 8 – E 6, 249 E 7 – 250 D 4. 51 Proklos,

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ohne die Ruhe, d.h. die Unveränderlichkeit des Sich-Gleichbleibens, wäre das Seiende gar nicht das, was es ist, wäre also gar nicht wahrhaft seiend und wäre auch nicht als das, was es ist, erkennbar, weil Erkenntnis die stabile Bestimmtheit des Zu-Erkennenden zur Bedingung hat. Ohne Bewegung wäre das Seiende aber genau so wenig erkennbar. Denn der Akt des denkenden Erkennens (νοεῖν) ist ebenso eine Bewegung wie das Erkanntwerden selbst.54 Also müssen sowohl die Bewegung als auch die Ruhe zum Sein gehören; und wenn beide gleichermaßen seiend sind, dann kann weder die eine noch die andere die „Idee des Seienden“ (ἰδέα τοῦ ὄντος)55 oder das Sein selbst sein. Die einander entgegengesetzten Seienden besitzen also ihren Seinscharakter oder ihre Seiendheit nicht aus ihnen selbst und aufgrund ihres je eigenen, besonderen Wesens, sondern durch ihre Teilhabe an dem sie transzendierenden Sein selbst, dessen Einheit die Vielheit der verschiedenen und entgegengesetzten Seienden erst ermöglicht. (2) Damit aber macht sich Platon keineswegs den eleatischen Monismus in modifizierter Form zu eigen. Parmenides wirft Platon nämlich vor, er habe falscherweise das Sein (ὄν), das Ganze (ὅλον) und das Eine (ἕν) miteinander identifiziert. Dagegen unterscheidet Platon das Eine im Sinne des absoluten Einen sowohl von dem Sein als auch von dem Ganzen in der Weise, daß dem Sein und dem Ganzen jeweils Einheitscharakter zukommen muß, ohne daß sie deshalb mit dem Einen selbst identisch wären; sie sind vielmehr dessen Prinzipiate, so wie die vielen verschiedenen Seienden die Prinzipiate des Seins sind.56 Der Ausgangspunkt von Platons Argumentation ist dabei die Einsicht, daß jede denkbare Bestimmung, jedes sachhaltige Etwas (τί) notwendig Einheitscharakter besitzen muß, weil es anders gar nicht gedacht werden könnte.57 Dieser Einsicht hätte Parmenides durchaus zugestimmt,58 und Platon beansprucht ja auch, daß seine Kritik an Parmenides kein Vatermord sein soll.59 Er macht aber gegen Parmenides geltend, daß das Sein nicht zugleich ein Ganzes und differenzlose, absolute Einheit sein kann, weil sich Ganzheit und absolute Einheit im Sinne von reiner Einfachheit gegenseitig ausschließen. Denn Ganzheit meint immer einen Inbegriff intelligibler, also mindestens gedanklich unterscheidbarer Bestimmungsmomente, die insofern die Teile oder Momente des Ganzen sind, wie ja auch das Parmenideische Eine Sein durch eine Vielheit von σήματα gedacht wird, die begrifflich unterschiedene Bestimmungen des Seins darstellen.60 Das absolut oder wahrhaft Eine (ἀληθῶς ἕν) dagegen müsse κατὰ τὸν ὀρθὸν λόγον 54 Vgl.

Platon, Sophistes 248 D 10 – 249 D 4. Sophistes 254 A 8–9. 56 Vgl. Platon, Sophistes 244 B 6 – 245 B 10. 57 Platon, Sophistes 244 B 12 ff. 58 Vgl. Parmenides, Fr. 8, 5–6 DK: ἐστιν ὁμοῦ πᾶν, ἕν, συνεχές. 59 Vgl. Platon, Sophistes 241 D. 60 Vgl. Platon, Sophistes 244 D 14 – 245 B 2 mit Zitat von Parmenides, Fr. 8, 43–45 DK. 55 Platon,

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absolut frei von jeder Form von Vielheit sein, so betont Platon gegen Parmenides;61 darum könne das Eine selbst weder das Sein noch das Ganze sein.62 Dieser Begriff des absoluten Einen, dem in seiner reinen Einfachheit keine Form von Vielheit zukommen kann, nicht einmal eine rein gedankliche Vielheit, ist nicht eleatisch, sondern genuin Platonisch. Platon gewinnt ihn durch die kritische Auflösung des eleatischen Einheitsbegriffs, der ὀρθὸς λόγος des ἕν, auf den Platon sich beruft, ist sein eigener.63 Platon argumentiert dabei so, daß das Sein weder für den Fall, daß es eleatisch als Ganzheit konzipiert wird, mit dem Einen selbst identisch sein kann, weil es als Ganzes eine interne Vielheit aufweist,64 noch auch für den entgegengesetzten Fall, daß es anti-eleatisch nicht als Ganzheit aufgefaßt wird, weil auch dann das Sein und das Eine noch immer eine Zweiheit wären.65 Platons Kritik richtet sich also nicht gegen die Gleichsetzung des Seins mit dem Ganzen, sondern ausschließlich gegen die des Seins mit dem Einen. Die eleatische Bestimmung des Seins als Ganzheit wird von Platon nicht nur nicht kritisiert, sondern sogar bestätigt, wenn er bemerkt, daß das Sein sich selbst fehlen würde, wenn ihm der Charakter der Ganzheit fehlte, so daß es selbst nicht seiend wäre.66 Das Sein muß ebenso wie das Ganze und wie jede andere Idee Einheitscharakter besitzen; da es aber weder die reine Einheit selbst noch eine einzelne Idee ist, so ist es offenbar in der Weise Eines, daß es das Ganze seiner Bestimmungen, also wohl das Ganze aller Ideen ist. Der Charakter der Einheit ist dabei aber weder mit dem Sein selbst noch mit seiner Ganzheit identisch, sondern er kommt dem Sein nur als Bestimmung (πάθος) zu, und zwar durch seine Teilhabe an dem absoluten Einen, das als reine Einheit das Sein in seiner Bestimmungsvielheit notwendig transzendiert.67 So wie die vielen Seienden nur dadurch seiend sind, daß sie am Sein partizipieren, so ist das Sein selbst nur dadurch Einheit, daß es an dem Einen selbst teilhat; und so wie die Einheit des Seins die Vielheit der Seienden transzendiert, so transzendiert das Eine selbst das Sein und alle Seinsbestimmungen in einer doppelten Transzendenz.68 Platons kritische Auseinandersetzung mit den ontologischen Ansätzen seiner Vorgänger läuft also wirklich auf die Transzendenz des absoluten Einen über das Sein und alles Seiende hin­aus. Sie schließt aber ebenso die Bestimmung des höchsten Prinzips als Geist aus, weil der Geist seiend ist, nämlich das Ur61 Platon, Sophistes 245 A 8–9: Ἀμερὲς δήπου δεῖ παντελῶς τό γε ἀληθῶς ἓν κατὰ τὸν ὀρθὸν λόγον εἰρῆσθαι. 62 Vgl. Platon, Sophistes 245 A 1–6, B 8–10. 63 Grundlegend dazu Krämer, Arete bei Platon und Aristo­ teles, bes. 541 ff; ders., „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“. 64 Vgl. Platon, Sophistes 244 E 2 ff. 65 Vgl. Platon, Sophistes 245 B 7 ff; vgl. Parmenides 142 B 5 ff. 66 Platon, Sophistes 245 C 1–5. 67 Platon, Sophistes 245 A 1 – C 2; vgl. Parmenides 158 A 3–6. 68  Dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 222 ff.

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sprünglichste und Höchste, dem Sein zukommt.69 Denn er ist ja das vollkommene Sein (παντελῶς ὄν), das nach Platon nicht ohne Bewegung, Leben, Einsicht und Geist sein kann, weil es sonst nicht vollkommen wäre.70 – Für Proklos ist der Geist das höchste Seiende, das nicht nur dem absoluten Einen, sondern auch dem Sein selbst, der Seinsmonade nachgeordnet ist, wobei die Seinsmonade freilich ihrerseits in der Weise der einfaltenden Einheit Geist in sich enthält.71 Man muß diese Proklische Differenzierung aber nicht mitmachen, um sein Argument schlagend zu finden, daß Geist Sein enthält und darum nicht das Eine selbst sein kann. 3. Der Philebos enthält anders als die Politeia und der Sophistes keinen direkten Beleg für die Transzendenz des Einen. Proklos kann aber zeigen, daß er sie in der Sache vor­aussetzt, weil seine zentrale These anders nicht verstanden werden kann.72 Thema des Philebos ist das Gute, aber nicht das Gute als metaphysisches Prinzip wie im Sonnengleichnis, sondern das Gute des menschlichen Lebens, das ἀνθρώπινον ἀγαθόν.73 Gleichwohl setzt eine Theorie über das ἀνθρώπινον ἀγαθόν die Metaphysik des ἀγαθόν als Prinzip vor­aus, weil das ἀνθρώπινον ἀγαθόν ein Prinzipiat des ἀγαθόν schlechthin ist, weshalb seine Bestimmung gewisse Rückschlüsse auf sein Prinzip zuläßt.74 Diese Voraussetzung macht Proklos ausdrücklich, und sie scheint mir angesichts von Platons Denkweise, die keine Verselbständigung der Ethik gegenüber der Metaphysik kennt, ganz unvermeidlich zu sein. Das ἀνθρώπινον ἀγαθόν ist dasjenige, in dessen Besitz die Seele sich vollkommen selbst genügt (παντάπασιν ἱκανῶς)75 und so die εὐδαιμονία erreicht. Im Philebos stellt sich nun heraus, daß zur vollkommenen Erfüllung weder die Lust noch der Geist für sich allein ausreichen, sondern nur eine Vereinigung von νοῦς und ἡδονή.76 Wenn aber schon für uns das vollkommene Gute nicht allein und ausschließlich im Besitz des νοῦς besteht, dann ergibt sich notwendig, daß auch das Prinzip des ἀνθρώπινον ἀγαθόν, das ἀγαθόν schlechthin, nicht mit dem Geist identisch sein kann, sondern daß es auch den vollkommensten Geist noch transzendiert, so wie ja auch die vollkommene Erfüllung unseres Lebens mehr ist als bloß unsere Geistestätigkeit.77 In dieser Weise ergibt sich auch aus dem Philebos die Transzendenz des Guten, des höchsten Prinzips, über den Geist, auch wenn sie nicht direkt ausgesprochen wird. Denn wenn das Gute als solches ursprünglich als Geist zu bestimmen wäre, dann müßte auch für uns die Prä69 Vgl.

Proklos, Theologia Platonis II 4, 35, 4–9. Platon, Sophistes 248 E 6 ff. 71 Vgl. Proklos, Theologia Platonis III 9, 35, 8–24. Dazu Beierwaltes, Proklos, 93–106. 72 Vgl. Proklos, Theologia Platonis II 4, 35, 10–36, 11. 73 Vgl. Platon, Philebos 11 BC. 74 Vgl. Proklos, Theologia Platonis II 4, 35, 20 ff; vgl. Platon, Philebos 28 C – 31 B. 75 Vgl. Platon, Philebos 60 C 2–4. 76 Vgl. Platon, Philebos 20 B – 22 B. 77 Vgl. Proklos, Theologia Platonis II 4, 35, 18–22. 70 Vgl.

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senz des Geistes zur absoluten Erfüllung ausreichen. Doch unser Geist genügt sich nicht selbst, sondern er bedarf der beseligenden Anschauung des Vollkommenen und der damit verbundenen Lust, um erfüllt zu sein.78 4. Am Ende kommt Proklos nur noch relativ kurz auf denjenigen Text zu sprechen, der für ihn wie für jeden Neuplatoniker seit Plotin das wichtigste Zeugnis für die absolute Transzendenz des Einen überhaupt ist: auf die erste Hypothesis des Parmenides.79 Die erste Hypothesis entfaltet genau jenen ὀρθὸς λόγος des ἕν, auf den sich Platon im Sophistes gegen Parmenides beruft.80 Wenn der Sophistes chronologisch später als der Parmenides ist, wofür wohl alles spricht, dann dürfte Platons Berufung auf den ὀρθὸς λόγος des ἕν sogar einen deutlichen Rückverweis auf die erste Hypothesis des Parmenides darstellen. Jedenfalls legt Platon hier exakt denselben Begriff von reiner Einheit als absoluter Einfachheit und Ausschluß aller Vielheit zugrunde wie in seiner Kritik am Parmenideischen Einen Sein im Sophistes. In der ersten Hypothesis des Parmenides entfaltet er diesen Begriff des Absoluten zu einer konsequent negativen Henologie, die Urbild und Hauptquelle aller späteren negativen Theologie ist. Wird nämlich das Eine nur in sich selbst betrachtet, dann weist es als reine Einheit jedwede Bestimmung strikt von sich ab; es steht als solches jenseits aller überhaupt denkbaren Bestimmungen, weil jede denkbare Bestimmung es in die Vielheit hineinziehen würde. Man kann darum nichts von ihm aussagen, noch nicht einmal, daß es ist oder daß es Eines ist, weil es damit bereits eine Zweiheit wäre; die duale Struktur der Prädikation verfehlt prinzipiell die reine Einfachheit des Absoluten, weshalb dieses überhaupt nur durch konsequente Verneinung aller Bestimmungen gedacht und gesagt werden kann.81 Proklos betont, daß der Parmenides die Gleichsetzung des Absoluten mit dem Sein ausschließt, weil die erste Hypothesis dem Einen selbst am Ende ausdrücklich auch das Sein (εἶναι, οὐσία) selbst, den Inbegriff von Bestimmtheit überhaupt, abspricht.82 Proklos deutet diese Negation des Seins wie alle auf das Absolute bezogenen Negationen als negative Transzendenzaussage: das Eine selbst „transzendiert auch das Sein“ (ἐξῄρηται καὶ τῆς οὐσίας),83 und zwar in der Weise, daß es gerade aufgrund seiner absoluten Transzendenz (κατ’ ἄκραν ὑπεροχὴν ἐξῃρημένον) der Grund des Seins (τὸ τῆς οὐσίας αἴτιον) ist.84 Proklos entnimmt dem Text der ersten Hypothesis ferner vier Argumente gegen die Gleichsetzung des Absoluten mit dem Geist. Auch wenn eine expli78 Vgl.

Proklos, Theologia Platonis II 4, 35, 22–36, 11. Proklos, Theologia Platonis II 4, 36, 12–37, 3. 80 Vgl. Platon, Sophistes 245 A 8–9 mit Parmenides 137 C 4 ff. 81 Vgl. Platon, Parmenides 137 C 4 – 142 A 6; dazu meine Interpretation in: Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 298–405. 82 Proklos, Theologia Platonis II 4, 36, 12–16 mit Verweis auf Platon, Parmenides 141 E 7–10. 83 Proklos, Theologia Platonis II 4, 36, 15. 84 Proklos, Theologia Platonis II 4, 36, 17–18. 79 Vgl.

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zite Verneinung des Geistes unter den Negationen der ersten Hypothesis nicht vorkommt, so ist sie doch in drei anderen Negationen der Sache nach mitenthalten. Denn erstens ist der Geist im Sinne Plotins, aber auch schon nach den Andeutungen von Platon selbst im Sophistes und im Timaios mit dem Sein iden­ tisch;85 darum bedeutet die Verneinung des Seins zugleich die des Geistes, so daß das Eine selbst Sein und Geist gleichermaßen transzendiert.86 Zweitens kommt dem mit dem vollkommenen Sein des Sophistes identischen Geist nach Platons dortigen Ausführungen sowohl Ruhe als auch Bewegung zu, nämlich sowohl das unwandelbare Sich-Gleichbleiben des ewigen Seins als auch die Tätigkeit des Denkens. Dem absoluten Einen aber spricht Platon Bewegung und Ruhe ab, es transzendiert beide gleichermaßen.87 Drittens kehrt der Geist in seinem Vollzug zu sich selbst zurück und ist in sich selbst, wenn er sich selbst denkt. Dagegen ist das Eine selbst in seiner Transzendenz weder in sich selbst noch in einem anderen.88 Die Verneinung des Insichseins und die Verneinung von Ruhe und Bewegung vom Absoluten schließen darum ebenso wie die Verneinung des Seins die Gleichsetzung des Absoluten mit dem Geist aus. Als viertes Argument gegen diese Gleichsetzung führt Proklos an, daß sie den Unterschied zwischen dem absoluten Einen der ersten und dem seienden Einen der zweiten Hypothesis aufheben würde. Damit würde aber zugleich der Unterschied zwischen dem Prinzip und dem Prinzipiat, dem Einen selbst und dem Sein aufgehoben und so Platons kritische Differenzierung des eleatischen Einheitsgedankens rückgängig gemacht.89

4. Speusipp als Kronzeuge für die Transzendenz des Einen Der Parmenides schließt in der Tat eine Bestimmung des höchsten Prinzips als Sein und als Geist aus, wenn die erste Hypothesis eine negative Theologie des Absoluten darstellt, deren Negationen als negative Transzendenzaussagen verstanden werden müssen, was Proklos vor­aussetzt.90 Wir wissen aber, daß Origenes genau diese Voraussetzung wie zahlreiche moderne Platoninterpreten be85 Vgl. Platon, Sophistes 248 E f mit Timaios 30 C ff; dazu Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 194–207 mit weiteren Belegen (Politeia 500 B ff; Parmenides 157 C ff; Testimonium Platonicum 25 A Gaiser). 86 Proklos, Theologia Platonis II 4, 36, 17–19. 87 Proklos, Theologia Platonis II 4, 36, 19–22 mit Verweis auf Platon, Sophistes 248 E 6 – 249 C 4 und Parmenides 138 B 7 – 139 B 3. 88 Proklos, Theologia Platonis II 4, 36, 22–25 mit Verweis auf Platon, Parmenides 138 A 2 – B 6. 89 Proklos, Theologia Platonis II 4, 36, 25–37, 3 mit Verweis auf Platon, Parmenides 142 B 1 ff und 157 C 1 ff. 90  Daß sie in der Tat nicht anders verstanden werden können, habe ich zu zeigen versucht in: Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 280 ff.

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stritten hat und die erste Hypothesis rein negativ, als kritische Destruktion eines übersteigerten Begriffs von absoluter Einheit interpretierte. Wir wissen von dieser so modern anmutenden Deutung des Origenes, weil niemand anders als Proklos sie uns referiert. Proklos berichtet von ihr natürlich nur deshalb, um sie zu widerlegen. Seine Widerlegung finden wir im 6. und 7. Buch seines großen Parmenideskommentars.91 Am Schluß der ersten Hypothesis, nachdem er dem absoluten Einen Sein, Erkennbarkeit, Sagbarkeit und Benennbarkeit abgesprochen hat, fragt der Platonische Parmenides seinen Gesprächspartner, den jungen Aristo­teles, ob es denn möglich sei, daß es sich mit dem Einen so verhalte. Die Antwort des jungen Aristo­teles lautet, ihm scheine das nicht so.92 Diese negative Antwort ist übrigens die einzige eigene Meinungsäußerung des Gesprächspartners, der sonst nur „Ja“, „Wie meinst du das?“ oder „Warum?“ antworten darf, im ganzen Dialog. Sie zeigt, daß Aristo­teles dem weisen Parmenides nicht zu folgen vermocht hat, was in Platons Dialogen dem Gesprächspartner gerade bei der Eröffnung allerhöchster Einsichten immer so ergeht; so reagiert z.B. auch Glaukon auf die Eröffnung der Seins­transzen­denz des Guten in der Politeia mit einem Amusement (μάλα γελοίως),93 das nur Unverständnis verrät. Für den Platonleser sind solche Stellen natürlich immer auch ein Test, ob er mehr verstanden hat als der überforderte Gesprächspartner des Philosophen. Origenes jedenfalls hat sich die Meinung des jungen Aristo­teles zu eigen gemacht und aus ihr auf die negative Bedeutung der ersten Hypothesis und die Unhaltbarkeit des in ihr entfalteten Begriffs des absolut Einen geschlossen.94 Dagegen argumentiert Proklos in dreifacher Weise. (1) Er macht erstens geltend, rein logisch könne die Unhaltbarkeit nur entweder daraus folgen, daß die Vor­ aus­set­zung, also die absolute Vielheitslosigkeit des Einen, falsch oder unmöglich sei, oder daraus, daß die Schlußfolgerungen, aus denen sich die Negationen des Seins, der Erkennbarkeit und der Sagbarkeit des Einen ergeben haben, logisch fehlerhaft gewesen seien (Origenes hatte natürlich das erste gemeint). Die Argumentation sei aber logisch fehlerfrei und die Voraussetzung, daß dem Einen selbst keinerlei Vielheit zukommen könne, sei nicht nur nicht unmöglich, sondern sie werde im Sophistes ausdrücklich als notwendig und zutreffend bezeichnet. Also kann die erste Hypothesis aus logischen Gründen keine reductio ad absurdum sein, da sie nichts enthält, was in Platons Augen absurd wäre.95 91 Proklos, In Parmenidem VI 1064, 21–1066, 16 Cousin; In Parmenidem VII 64, 1–16 und 36, 8–31 Klibansky; vgl. die Zusammenstellung der Texte bei Saffrey/Westerink, Théologie Platonicienne II, XII–XX. 92 Platon, Parmenides 142 A 3–8. 93 Platon, Politeia 509 C 1; vgl. auch Symposion 209 E 5 – 210 A 4. 94 Vgl. Proklos, In Parmenidem VII 64, 1–10; In Parmenidem VI 1065, 1–7. 95 Proklos, In Parmenidem VI 1065, 10–1066, 5; In Parmenidem VII 36, 18–26; 64, 11–13; 66, 2–8.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

(2) Proklos zeigt ferner, daß das Ergebnis, das Aristo­teles für unmöglich hält, nämlich die Verneinung schlechthin aller Bestimmungen vom absolut Einen, Platons in anderen Schriften belegbarer Lehrmeinung durchaus entspricht. Denn im Sophistes bezeichne Platon die absolute Vielheitslosigkeit des Einen selbst, aus der im Parmenides alle weiteren Negationen abgeleitet werden, gerade als den ὀρθὸς λόγος des ἕν. Aus dem Sonnengleichnis ergebe sich die Tran­ szendenz des absoluten Ursprungs über alles Sein und alles Erkennen, und in seiner Bestimmung der Aufgabe der Dialektik im 7. Buch der Politeia fordere Platon ausdrücklich, der Dialektiker müsse den Urgrund durch Negation aller Bestimmungen von allem Seienden „abziehen“ (ἀπὸ τῶν ἄλλων πάντων ἀφελών, ab aliis omnibus entibus removens),96 Platon formuliere dort also das Programm einer negativen Theologie, mithin genau das, was in der ersten Hypothesis des Parmenides durchgeführt werde. Auf die Unsagbarkeit des Absoluten weise Platon außerdem im 2. Brief hin.97 (3) Proklos beruft sich für die absolute Transzendenz des Einen und für die Richtigkeit seiner henologischen Interpretation der ersten Hypothesis schließlich auch auf eines der interessantesten und aufschlußreichsten Zeugnisse zur ­ ehre Platons.98 Er zitiert nämlich im Wortlaut ein Zeugnis ungeschriebenen L Speusipps, in dem dieser als „­Lehre der Alten“ folgendes berichtet: Sie glaubten nämlich, das Eine selbst sei über das Sein erhaben und Vonwoher des Seins, und sie haben Es sogar von der Verhältnisbestimmung als Ursprung befreit. Weil sie aber meinten, daß nichts von den anderen Dingen entstünde, wenn man das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestimmungen, rein an sich selbst zugrunde legt, ohne Ihm irgend ein zweites Element hinzuzusetzen, darum haben sie die unbestimmte Zweiheit als Ursprung der Seienden eingeführt.99

Proklos bezieht diese „­Lehre der Alten“, mit denen Speusipp die Pythagoreer gemeint hat,100 umstandslos auf Platon, der bei Speusipp namentlich nicht genannt wird. Trotzdem ist Proklos damit ganz im Recht, denn Aristo­teles bezeichnet die „unbestimmte Zweiheit“, die nach Speusipps Bericht zur Ablei  96 Platon, Politeia 534 B 9, zitiert bei Proklos, In Parmenidem VII 64, 18–19; vgl. dazu Krämer, „Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik“. Krämer kommt zu dem gleichen Ergebnis wie Proklos, nämlich daß Platon damit das Programm einer negativen Bestimmung des Absoluten formuliert.   97 Proklos, In Parmenidem VII 64, 13–29 und 66, 4–15 mit Verweis auf Platon, Sophistes 245 AB, Politeia 509 AB und 534 BC, 2. Brief 312 E.   98 Proklos, In Parmenidem VII 38, 32–40, 17 = Testimonium Platonicum 50 Gaiser.  99  Speusipp bei Proklos, In Parmenidem VII 40, 1–5 = Speusipp, Fr. 62 Isnardi Parente / Fr. 48 Tarán: „Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens, et ab ea que secundum principium habitudine ipsum liberaverunt. Existimantes autem quod, si quis le unum ipsum seorsum et solum meditatum, sine aliis, secundum se ipsum ponat, nullum alterum elementum ipsi apponens, nichil utique fiet aliorum, interminabilem dualitatem entium principium induxerunt.“ Vgl. auch die Rekonstruktion des griechischen Originals von Friedrich Rumbach bei Steel, 501, 4–9 = Procli in Platonis Parmenidem Commentaria III, 289–291. 100 Vgl. dazu Burkert, Weisheit und Wissenschaft, 56 f.

X. Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon

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tung des Seienden unentbehrlich ist, ausdrücklich als ein ἴδιον Platons, das diesen von den Pythagoreern unterscheide.101 Da Speusipp selber zwar ebenfalls ein eigenes Prinzip der Vielheit angenommen, dieses aber nicht als unbestimmte Zweiheit konzipiert hat, ist eindeutig und ausschließlich Platon derjenige, dessen ­Lehre Speusipp referiert, und Proklos ist das offenbar so selbstverständlich, daß er es nicht einmal eigens begründet. Daß Proklos Zugang zu Texten Speusipps hatte, steht außer Frage, enthält doch auch sein Euklidkommentar eine Reihe wichtiger Speusipp-Fragmente;102 außerdem zitiert Proklos den noch älteren Vorsokratiker Parmenides gerade im Parmenideskommentar ausführlichst und wörtlich, ebenso die ihm noch vorliegende Schrift Zenons, die Vierzig Argumente. Das Zeugnis Speusipps ist nun aus drei Gründen höchst aufschlußreich. Es ­ ehre, das ist nämlich erstens das einzige Zeugnis über Platons ungeschriebene L uns über das Motiv berichtet, das Platon zur Einführung eines Prinzips der Vielheit motiviert hat. Es bezeugt zweitens die absolute Transzendenz des Einen und begründet gerade mit ihr die Einführung der unbestimmten Zweiheit. Weil nämlich das Eine selbst in seiner Absolutheit nicht nur das Sein, sondern schlechthin alle Denkbarkeit radikal transzendiert, darum ist das Denken auch nicht imstande, die Prinzipiate des Einen, das Sein und die Vielheit seiner Bestimmungen, auf eine begrifflich vollziehbare Weise aus dem Einen selbst abzuleiten. Das Eine selbst entzieht sich in seiner Transzendenz dem Denken radikal, so radikal, daß das Eine strenggenommen noch nichteinmal als Prinzip bestimmt werden darf, weil dies eine Relation zu der prinzipiierten Wirklichkeit ausdrückt, die dem Absoluten in seiner Absolutheit nicht zukommt.103 Vom Übersein des Absoluten führt darum kein konstruktiver Rückweg zurück zum Sein. Drittens berührt sich das Speusipp-Fragment in der Sache und sogar bis in den Wortlaut hinein engstens mit den ersten beiden Hypothesen in Platons Parmenides. Denn die erste Hypothesis thematisiert genau „das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestimmungen, rein an sich selbst … ohne Ihm irgend ein zweites Element hinzuzusetzen“;104 dagegen setzt die zweite Hypothesis dem Einen das Sein als ein Zweites hinzu und leitet daraufhin die Vielheit der Fundamentalbestimmungen des Seienden aus der ursprünglichen Bestimmungszweiheit des seienden Einen ab. Dadurch, daß sich die beiden Momente des seienden Einen, das Sein und die Einheit, jeweils gegenseitig enthalten müssen, ergibt sich eine ins Unendliche gehende Zweiteilung des seienden Einen, in der sich das ent-zweiende Wesen der unbestimmten Zweiheit manifestiert; und darin, daß diese Zweiteilung stets wieder zur 101 

Aristo­teles, Metaphysik 987 b 25–27. Ein weiteres Speusipp-Fragment im Parmenideskommentar (1118, 10–19) versuche ich unten Kapitel XII nachzuweisen. 103 Vgl. die genau entsprechende L ­ ehre Plotins, Enneade VI 8, 8, 9 ff; VI 9, 3, 49 ff. 104  Speusipp bei Proklos, In Parmenidem VII 40, 2–4. 102 

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

Bildung von seienden Einheiten führt, erweist sich die Einheit-setzende Übermacht des Einen, die auch alle Entzweiung übergreift, so daß die zweite Hypothesis von Anfang an das Zusammenwirken beider Prinzipien bei der Konstitution des Seienden zeigt.105 Proklos, der offenkundig auch den Kontext der von ihm im Wortlaut zitierten 5 Zeilen kannte, faßt Speusipps Äußerung so auf, daß sie sich geradezu auf die ersten beiden Hypothesen des Parmenides bezieht, wie eine Art Kommentar.106 Er deutet außerdem die unbestimmte Zweiheit tendenziell monistisch als ein reines Hilfsprinzip, das dem Einen deutlich nach- und untergeordnet ist.107 105 Vgl.

Platon, Parmenides 142 B 5 ff, bes. 142 D 1 – 143 A 3. Proklos, In Parmenidem VII 40, 6–17 und dazu unten Kapitel XI Abs. 3. – Meine These, daß sich Speusipp auf die ersten beiden Hypothesen des Parmenides bezieht und diese metaphysisch interpretiert, in einer Weise, die mit Plotins Deutung grundsätzlich übereinstimmt, hat mit ergänzenden Argumenten inzwischen John M. Dillon übernommen: „Plotinus, Speusippus and the Platonic Parmenides“; ebenso ders., Heirs of Plato, 57 ff. Dagegen Carlos Steel, „A Neoplatonic Speusippus?“, in: Henosis kai Philia. Ommaggio a Francesco Romano, Catania 2002, 469–476; auch ders., „Une histoire de l’interpréta­ tion du ‚Parménide‘ dans l’Antiquité“, in: Il „Parmenide“ di Platone e la sua Tradizione, a cura di Maria Baranti e Franceso Romano, Catania 2002, 11–40, bes. 17 ff. Steel hält das Fragment für eine Fälschung neupythagoreischer Kreise. Das begründet er u.a. damit, daß das Fragment im Wortlaut an Platon, Parmenides 143 A 6–9 erinnert und daß die Charakterisierung der unbestimmten Zweiheit als „alterum elementum“ der Formulierung bei Aristo­teles, Metaphysik 1081 b 24–25 entspricht. Der neupythagoreische Fälscher – den Steel nicht identifizieren kann – habe seinen Text aus diesen beiden Stellen zusammengestellt, um Speusipp und durch ihn Platon die in Wirklichkeit erst neupythagoreische ­Lehre vom überseienden Einen zu vindizieren. Steels treffende Beobachtungen scheinen mir freilich das Gegenteil von dem zu beweisen, was er beweisen möchte. Die Nähe zu Formulierungen bei Platon und in Referaten des Aristo­teles über Platon und damit die typisch altakademische Terminologie des Fragments spricht doch weit eher für einen alt­ akademischen Ursprung, also für die Echtheit des Fragments, als für Steels Fälscherthese. Auch der Umstand, daß das Fragment die Theorie des überseienden absoluten Einen und der unbestimmten Zweiheit nicht Platon, sondern den Pythagoreern zuschreibt, spricht weder gegen Speusipp als Autor noch stützt sie eine Zuweisung dieser Prinzipientheorie an die vorplatonischen Pythagoreer, sondern sie entspricht einfach der pythagoreischen Selbststilisierung und Selbstmaskierung der Alten Akademie, wie schon Burkert sah. John Dillon hat seine und meine Deutung gegen Steels Fälscherthese inzwischen überzeugend verteidigt: „Speusippus and the Ontological Interpretation of the Parmenides“, in: John D. Turner/Kevin Corrigan (Hgg.), Plato’s Parmenides and Ist Heritage. Volume I: History and Interpretation from the Old Academy to Later Platonism and Gnosticism, Atlanta 2010, 67–78 (= Speusippus and the Ontological Interpretation of the Parmenides); Dillon, „Reconstructing the Philosophy of Speusippus“. 107 Proklos, In Parmenidem VII 40, 6–7: „Quare testatur et iste (sc. Speusippus) hanc esse antiquorum opinionem de uno, quod ultra ens sursum raptum est et quod post unum interminabilis dualitas.“ – Speusipp lehrte einen stufenweisen Hervorgang der Wirklichkeit aus dem Übersein des Einen (Fr. 58 und 72 Isnardi Parente), wobei dieser Hervorgang gerade das Plus an Vielheit hervorbringt, das die jeweils ontologisch spätere Seinsstufe von den ontologisch früheren und das Seiende insgesamt von dem überseienden Einen unterscheidet. Darum liegt die Vermutung nahe, daß Speusipp, ähnlich wie später Plotin, einen unbegreif­ lichen Hervorgang auch des Vielheitsprinzips selber aus dem Einen angenommen hat. 106 Vgl.

X. Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon

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Für beide Deutungen spricht vieles. Aber was immer man auch von ihnen halten mag, Speusipps Zeugnis belegt jedenfalls unwiderlegbar die absolute Tran­ szendenz des Einen als ­Lehre Platons und bestätigt damit zugleich Proklos’ henologische Deutung der ersten Hypothesis als die dem Text angemessene und einzig richtige. Damit aber hat Proklos den Beweis erbracht, daß die Transzendenz des Absoluten keine Neuerung Plotins ist, sondern im Zentrum von Platons eigener Philosophie steht.

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XI.

Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons Parmenides 1. Auf der Suche nach dem Ursprung der metaphysischen Deutung des Parmenides Der Parmenides ist der notorisch rätselhafteste und in seiner Deutung am meisten umstrittene unter allen Dialogen Platons. Rätsel gibt schon der erste Teil des Dialogs auf, in dem der Dialogführer Parmenides die von dem jungen Sokrates vorgetragene Ideenlehre mit Argumenten kritisiert, die in den Auseinandersetzungen um die Ideenlehre innerhalb der Akademie nachweisbar eine Rolle gespielt haben,1 aber gleichwohl die Unverzichtbarkeit der Annahme von an sich seienden Ideen mit starkem Nachdruck betont (135 B 5 ff). 2 Parmenides erklärt die Unfähigkeit des jungen Sokrates, die Ideenlehre angemessen gegen seine Kritik (die teilweise die Ideenkritik des Aristo­teles vorwegnimmt) zu verteidigen, mit dessen mangelnder Übung in Dialektik (135 C 7 ff). Der Platonische Parmenides entwirft daraufhin ein dialektisches Übungsprogramm, das mit den Prinzipien des Einen und des Vielen sowie mit allen Fundamentalbestimmungen wie Sein und Nicht­sein, Ruhe und Bewegung, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit usw. durchgeführt werden soll, um die Grundlagen der Ideenlehre 1  Der Vergleich der bei ihren Ideaten ungeteilt anwesenden Ideen mit dem Segeltuch (Parmenides 131 B 7 ff) dürfte die immanentistische Ideenlehre des Eudoxos aufnehmen, der zufolge die Ideen mit ihren Ideaten „vermischt“ sind (vgl. Aristo­teles, Metaphysik 991 a 14 ff; 1079 b 18 ff) – Das am Beispiel des „Großen“ durchgeführte Argument vom „dritten Menschen“ (Parmenides 132 A 6 ff, D 5 ff) erscheint in der Ideenkritik des Aristo­teles als einer der Haupteinwände gegen die Ideenlehre (die Stellen bei Bonitz, Index Arist. 771 a 36–39). – Die konzeptualistische Auffassung der Ideen als νοήματα ἐν ψυχαῖς (Parmenides 132 B 3 ff) entspricht der konzeptualistischen Eidoslehre Speusipps; vgl. hierzu die Rekonstruktion der Eidoslehre Speusipps durch Krämer, „Aristo­teles und die akademische Eidoslehre“, spez. 161–187. 2  Es läßt sich im einzelnen zeigen, daß Platons genuine Ideenlehre von jener Kritik gar nicht getroffen wird, sondern daß diese sich gerade gegen Verkürzungen und Mißverständnisse der Ideenlehre richtet. Sehr lehrreich ist hierzu das IV. Buch im Kommentar des Proklos (In Parm. 837–977 Cousin). Der Hinweis von Hans-Georg Gadamer, Plato. Texte zur Ideenlehre, Frankfurt 1978, 83–85 geht in die gleiche Richtung; Gadamer verweist selbst auf Proklos (83). – Zur Ideenlehre Platons vgl. die zusammenfassende Darstellung von Karl Bormann, Platon, 2. Aufl. Freiburg/München 1987, 44–95.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

zu sichern (135 E 8 – 136 C 5).3 Im zweiten Teil des Dialogs (137 A 7 ff) führt der Platonische Parmenides dieses Programm dann an dem höchsten Prinzip der ­ ehre Platons durch, dem Einen selbst (τὸ ἓν αὐτό, 137 B 3, innerakademischen L D 2),4 das sowohl an sich selbst als auch in seinem Verhältnis zur Vielheit, dem zweiten Prinzip Platons, untersucht wird. Diese dialektische Behandlung des Einen in acht oder neun „Hypothesen“ – schon die Zählung ist umstritten5 – ist nun der am meisten umstrittene Text Platons, wenn nicht der antiken Philosophie überhaupt. Seine Einschätzung reicht von der Abqualifizierung als „logisches Gestrüpp“6 bis zu dem Lob, es handle sich um „das größte Kunstwerk der alten Dialektik“.7 Die einen deuten ihn als antieleatische Polemik oder als logische Propädeutik ohne metaphysischen Gehalt, die anderen als verschlüsselte Darstellung von Platons eigener Metaphysik des Einen und als Höhepunkt der abendländischen Metaphysik, ferner gibt es zahlreiche Zwischenpositionen.8 Die Deutung dieses Textes ist in hohem Maße nicht nur vom Platonbild des jeweiligen Interpreten, sondern fast ebensosehr von dessen Urteil über Möglichkeiten und Grenzen der Metaphysik überhaupt abhängig. Ein Grund hierfür ist die Wirkungsgeschichte des Parmenides, der neben dem Timaios der bei weitem einflußreichste und meistkommentierte Dialog Platons in Antike, Mittelalter und Neuzeit gewesen ist. Für die Neuplatoniker, die sich als getreue Interpreten der genuinen Philosophie Platons verstanden, war der Parmenides Platons wichtigstes Werk und das „Grundbuch des Platonismus“.9 In den ersten beiden Hypothesen des zweiten Teils fanden sie eine dialektische Metaphysik 3  Zu diesem Übungsprogramm Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 298 ff. Zur Einordnung der „Übung“ in Platons Konzeption von Dialektik als Ideen- und Prinzipienwissenschaft dort 289 ff. 4 Vgl. auch Parmenides 158 A 5, Sophistes 245 A 6; Aristo­teles, Metaphysik 1001 a 27, 1091 b 14, 1092 a 15, Eudemische Ethik 1218 a 20. 25 u.ö.; Speusipp bei Proklos, In Parm. VII 40, 2–3 Klibansky: le unum ipsum – τὸ ἓν αὐτό wird offenbar als terminus technicus gebraucht, um das Absolute Platons vom All-Einen der Eleaten abzugrenzen (vgl. Parmenides 128 A 8–9: σὺ μὲν γὰρ ἐν τοῖς ποιήμασιν ἓν φῂς εἶναι τὸ πᾶν). – Zur eleatischen Ontologie des Einen Seienden ist grundlegend Karl Bormann, Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten, Hamburg 1971. 5  Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 298 Anm. 97. – Im folgenden wird aus Bequemlichkeitsgründen die für die Neuplatoniker kanonische Zählung von neun Hypothesen beibehalten, ohne daß damit ihre sachliche Richtigkeit behauptet werden soll; mit der „dritten Hypothesis“ ist immer der Abschnitt 155 E 4 – 157 B 5 gemeint. 6  So Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Platon. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1919, Band 2, 222 f und 227. 7  So Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. von Wolfgang Bonsiepen/Reinhard Heede, Hamburg 1980), 48. Ähnlich lobend auch ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 19, 79 und 81. 8 Vgl. den Überblick über die verschiedenen Auslegungsrichtungen beim Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 267–275. 9  So Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, 143. – Einen in vielen Einzelheiten veralteten Überblick über die neuplatonische Parmenidesdeutung gibt Max Wundt, Platons Parmenides, Stuttgart/Berlin 1935 (= Platons Parmenides), 7–26; ergänzend

XI. Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons Parmenides

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des absolut transzendenten Einen und seiner Entfaltung in die Viel-Einheit des göttlichen Nous als des Inbegriffs aller Ideen. Beeinflußt von dieser neuplatonischen Deutung haben sich auch Cusa­nus und ­Hegel – deren eigene Philosophien starke neuplatonische Einflüsse aufweisen – auf den Parmenides berufen und in ihm das Hauptwerk Platons gesehen.10 Der metaphysisch gedeutete Parmenides ist darum von kaum zu überschätzender Bedeutung für das Verständnis gerade der Höhepunkte von Metaphysik und Dialektik in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Im Folgenden soll der Ursprung der so einflußreichen und wirkungsmächtigen Deutung der „dialektischen Übung“ als Metaphysik des Einen geklärt werden. Bekanntlich hat Plotin die neuplatonische Deutung grundlegend bestimmt, indem er die erste Hypothesis, die dem als absolute Einheit verstandenen Einen selbst alle grundlegenden Bestimmungen des Seins und des Denkens abspricht, auf das Absolute in seiner absoluten Transzendenz bezog, ferner die zweite Hypothesis, die dem als seiend verstandenen Einen alle grundlegenden Bestimmungen zuspricht, auf die Viel-Einheit des sich selbst denkenden Geistes als die höchste Form von Einheit in der Vielheit sowie die dritte Hypothesis, die dem als seiend und nichtseiend zugleich verstandenen Einen den Übergang von Einheit zu Vielheit und zwischen allen weiteren entgegengesetzten Fundamentalbestimmungen zuschreibt, auf die Einheit und Vielheit diskursiv trennende und verbindende Seele als Ort der Ausfaltung der All-Einheit der Ideen im Nous in die getrennte Vielheit des Einzelnen (Enneade V 1, 8).11 Es ist jedoch wenig bekannt, daß diese von Plotin vorgetragene Deutung der drei ersten Hypothesen des Parmenides auf das Absolute, den Ideenkosmos und die Seele, an der alle späteren Neuplatoniker mit gewissen Modifikationen festgehalten haben,12 bereits vor Plotin nachweisbar ist, und zwar bei Moderatos von Gades im 1. Jahrhundert nach Christus sowie – was die ersten beiden Hypothesen betrifft – bei Eudoros von Alexandrien im 1. vorchristlichen Jahrhundert und und korrigierend dazu Saffrey/Westerink, Proclus. Théologie Platonicienne I, LXXV– LXXXIX. 10 Hierzu Raymond Klibansky, Ein Proklos-Fund und seine Bedeutung, Heidelberg 1929; Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues; Karl Bormann, Die Exzerpte und Randnotizen des Nikolaus von Kues zu den lateinischen Übersetzungen der Proclusschriften: 2.2 Expositio in Parmenidem Platonis (Cusa­nus-Texte: III. Marginalien: 2. Proclus latinus), Heidelberg 1986. – Wolfgang Künne, „­Hegel als Leser Platos“, in: Hegel-Studien 14 (1979), 109–146; Klaus Düsing, „Ontologie und Dialektik bei Plato und Hegel“, in: Hegel-Studien 15 (1980), 95–150, spez. 123 ff; ders., ­Hegel und die Geschichte der Philosophie, 55–96. 11  Zu Plotins Parmenidesdeutung vgl. Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 187 ff, auch 20 ff, 63 ff, 70 ff, 77 ff, 137 ff, 152 ff, 179 ff, 311, 317 ff, 335 f, 338 ff, 356 f, 363, 369, 372. – Die vollständigste Sammlung der direkten Bezugnahmen Plotins auf den Parmenides bietet Charrue, Plotin. Lecteur de Platon, 43–84. 12 Vgl. den Überblick bei Saffrey/Westerink, Proclus. Théologie Platonicienne I, LXXX ff. – Die einzige Ausnahme bildet Jamblich, der die 3. Hypothesis auf „Engel, Dämonen und Heroen“ bezog und erst die 4. auf die Seele.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

bei einem Anonymus, Ps.-Brotinos, der möglicherweise ins 2. oder 3. Jahrhundert v. Chr. gehört; diese Zusammenhänge hat E. R. Dodds bereits 1928 in einem berühmten Artikel nachgewiesen.13 Die für den Neuplatonismus grundlegende einheitsmetaphysische Deutung des Parmenides ist also keine Innovation Plotins, sondern wurde bereits im kaiserzeitlichen und hellenistischen Neupythagoreismus vertreten. Es ist allerdings ganz unwahrscheinlich, daß sie eine originäre interpretatorische Leistung der Neupythagoreer ist, zumal die dabei zugrunde gelegte Metaphysik des überseienden Einen und seiner Entfaltung in Ideenkosmos und Seele keineswegs spezifisch pythagoreisch oder neupythagoreisch ist, sondern der innerakademischen ­Lehre Platons entspricht. Auch die Etikettierung dieser Metaphysik als „­Lehre der Pythagoreer“ folgt nur der pythagoreischen Selbststilisierung der Alten Akademie. Es ist darum sehr wahrscheinlich, daß auch die einheitsmetaphysische Deutung der ersten zwei bzw. drei Hypothesen des Parmenides altakademischer Herkunft ist und im Neupythagoreismus nur tradiert wurde. Ich möchte zeigen, daß die von Moderatos, Eudoros und Ps.-Brotinos referierte Metaphysik und ihre Verknüpfung mit der Dialektik des Einen im Parmenides schon bei Speusipp vorliegt.14 Vorab sei jedoch auf die wenig bekannten Einzelheiten der neupythagoreischen Parmenides-Deutung eingegangen.

2. Die metaphysische Deutung im Neupythagoreismus 1. Die Überlieferungssituation der Parmenides-Deutung des Moderatos ist kompliziert. Simplikios referiert sie in seinem Physikkommentar nicht aus erster Hand, sondern nach einem Referat des Porphyrios aus dessen verlorener Schrift Über die Materie. Wie Plotin in der gleichnamigen Enneade II 4 hat Porphyrios dort zwischen sinnenfälliger und intelligibler Materie unterschieden und sich dafür auf Platon berufen. Simplikios berichtet nun nach Porphyrios: Diese Auffassung über die Materie scheinen unter den Hellenen als erste die Pythagoreer vertreten zu haben und diesen folgte Platon, wie uns auch Moderatos berichtet. Denn er 13 Dodds,

„The Parmenides of Plato“. umfassendste Darstellung der Interpretationsgeschichte des Parmenides in der Antike bieten jetzt die zwei Bände des Sammelwerks von John D. Turner und Kevin Corrigan (Hgg.), Plato’s Parmenides and Its Heritage. Vol. I: History and Interpretation from the Old Academy to Later Platonism and Gnosticism. Vol. II: Reception in Patristic, Gnostic and Christian Neoplatonic Texts, Atlanta 2010 (= Plato’s Parmenides and Its Heritage). Ein wesentliches Ergebnis dieser beiden materialreichen Bände ist der Nachweis einer überraschend breiten und dichten Präsenz des Platonischen Parmenides in neupythagoreischen und mittelplatonischen, aber auch in gnostischen und christlichen Texten vor Plotin sowie die Zurückführung dieser intensiven vorneuplatonischen Wirkungsgeschichte auf die Alte Akademie und speziell auf Speusipp, was meine zuerst 1993 in diesem Aufsatz vertretene These glänzend bestätigt. 14  Die

XI. Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons Parmenides

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(sc. Platon) erklärt im Sinne der Pythagoreer, das erste Eine sei über das Sein und alle Seiendheit erhaben, während das zweite Eine, welches das wahrhaft Seiende und Intelligible ist, für ihn die Ideen sind; das dritte (sc. Eine), welches der Bereich der Seele ist, habe an dem Einen und den Ideen teil, während die von diesem (sc. dritten Einen) ausgehende unterste Stufe der Wirklichkeit, jene der sinnenfälligen Dinge, nicht einmal teilhabe, sondern durch die Spiegelung der Ideen geordnet werde, wobei die Materie im sinnenfälligen Bereich ein Schatten des Nichtseienden, dessen ursprüngliches Wesen in der Vielheit besteht, sei und einen noch geringeren Rang einnehme (sc. als das Nichtseiende) und von diesem herstamme.15

Die Auffassung der Materie als „Schatten des Nichtseienden, dessen ursprüngliches Wesen in der Vielheit besteht“ (τοῦ μὴ ὄντος πρώτως ἐν τῷ ποσῷ ὄντος οὔ­ σης σκίασμα), die Platon nach Moderatos von den Pythagoreern übernommen haben soll, ist in Wirklichkeit spezifisch Platonisch. Aristo­teles berichtet uns, daß Platon die im Timaios (49 A – 52 D) als „Aufnahme“ (ὑποδοχή, μεταλη­ πτικόν) allen Werdens beschriebene χώρα in seinen mündlichen Lehrvorträgen auf die unbegrenzte Zweiheit des μέγα-μικρόν, das intelligible Prinzip der Vielheit, zurückgeführt habe.16 Dieses Vielheitsprinzip hat Platon nach den übereinstimmenden Angaben bei Hermodor und Aristo­teles als nichtseiend im privativen Sinne angesehen.17 Moderatos’ Angabe, das Nichtseiende bestehe seinem ursprünglichen Wesen nach ἐν τῷ ποσῷ εἶναι, verweist also unverkennbar auf das Platonische μέγα-μικρόν, das als unbestimmte Richtungszweiheit zum 15 Simplikios, In Phys. 230, 34–231, 5 Diels: ταύτην δὲ περὶ τῆς ὕλης τὴν ὑπόνοιαν ἐοίκα­ σιν ἐσχηκέναι πρῶτοι μὲν τῶν Ἑλλήνων οἱ Πυθαγόρειοι, μετὰ δ’ ἐκείνους ὁ Πλάτων, ὡς καὶ Μο­ δέρατος ἱστορεῖ. οὗτος γὰρ κατὰ τοὺς Πυθαγορείους τὸ μὲν πρῶτον ἓν ὑπὲρ τὸ εἶναι καὶ πᾶσαν οὐσίαν ἀποφαίνεται, τὸ δὲ δεύτερον ἕν, ὅπερ ἐστὶ τὸ ὄντως ὂν καὶ νοητόν, τὰ εἴδη φησὶν εἶναι, τὸ δὲ τρίτον, ὅπερ ἐστὶ τὸ ψυχικόν, μετέχειν τοῦ ἑνὸς καὶ τῶν εἰδῶν, τὴν δὲ ἀπὸ τούτου τελευταίαν φύσιν τὴν τῶν αἰσθητῶν οὖσαν μηδὲ μετέχειν, ἀλλὰ κατ’ ἔμφασιν ἐκείνων κεκοσμῆσθαι, τῆς ἐν αὐτοῖς ὕλης τοῦ μὴ ὄντος πρώτως ἐν τῷ ποσῷ ὄντος οὔσης σκίασμα καὶ ἔτι μᾶλλον ὑποβεβηκυίας καὶ ἀπὸ τούτου. – Hierzu Dodds, „The Parmenides of Plato“, 136 ff; Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 251 f; Philip Merlan, „Greek Philosophy from Plato to Plotinus“, in: A. H. Armstrong (Hg.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy, Cambridge 1967, 14–132 (= Greek Philosophy from Plato to Plotinus), spez. 91 ff; Whittaker, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΝΟΥ“, spez. 96 f; Dillon, The Middle Platonists, 347 ff; Fritz-Peter Hager, Gott und das Böse im antiken Platonismus, Würzburg/Amsterdam 1987 (= Gott und das Böse), 125 ff; Harold Tarrant, Thrasyllan Platonism, London/Ithaca 1993, 150–161; Matthias Baltes, Der Platonismus in der Antike, Bd. 4, hg. von Heinrich Dörrie/Matthias Baltes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996 (= Platonismus in der Antike), 477–485. 16  Aristo­teles, Physik 209 b 11–17 = Test. Plat. 54 A Gaiser. Vgl. dazu Test. Plat. 54 B (Philoponos und Simplikios) und 54 B’ (Themistius) sowie Gaisers Kommentar, Platons Ungeschriebene ­Lehre, 534 f. 17  Hermodor bei Simplikios, In Phys. 247, 30–248, 15 Diels = Test. Plat. 31 Gaiser, spez. 248, 11 ff: αὐτῶν ἀμφοτέρων τῶν συζυγιῶν πάντα πλὴν τοῦ ἑνὸς στοιχείου τὸ μᾶλλον καὶ τὸ ἧττον δεδεγμένον. ὥστε ἄστατον καὶ ἄμορφον καὶ ἄπειρον καὶ οὐκ ὂν τὸ τοιοῦτον λέγεσθαι κατὰ ἀπόφα­ σιν τοῦ ὄντος. Aristo­teles, Metaphysik 1004 b 27 ff = Test. Plat. 40 A: ἔτι τῶν ἐναντίων ἡ ἑτέρα συστοιχία στέρησις, καὶ πάντα ἀνάγεται εἰς τὸ ὂν καὶ τὸ μὴ ὄν, καὶ εἰς ἓν καὶ πλῆθος. Vgl. auch Physik 192 a 7: oἱ δὲ τὸ μὴ ὂν τὸ μέγα καὶ τὸ μικρὸν ὁμοίως. Dazu oben Kapitel VII Abs. 1–2.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

Größeren und zum Kleineren der Grund des Nicht­seins ist, da das Sein immer Einheit vor­aussetzt, ohne welche es ins Unbestimmte zergehen müßte.18 Moderatos hat die ποσότης nach einem ergänzenden Bericht des Porphyrios als intelligibles Materialprinzip auf der Stufe der Ideen aus dem zweiten Einen abgeleitet und diesem entgegengesetzt.19 Die Benennung der intelligiblen Materie als „das Nichtseiende“ (τὸ μὴ ὄv) nimmt wohl auch Platons ­Lehre von der Andersheit (ἕτερον, θάτερον) als Sein des Nichtseienden und Grund der Verschiedenheit der vielen einzelnen Ideen im Sophistes (254 D – 259 D) auf; diese ­Lehre wird von Aristo­teles ausdrücklich auf die ἀόριστος δυάς des μέγα-μικρόν bezogen, 20 deren Aspekt oder Prinzipiat die Andersheit ist, was Platon im den Sophistes fortsetzenden Politikos (284 B ff) selbst andeutet.

18 Vgl. Platon, Parmenides 159 B 2 – 160 B 4, 165 E 2 – 166 C 2. Zum zweiten Prinzip Platons umfassend Happ, Hyle sowie oben Kapitel VII. 19  Porphyrios bei Simplikios, In Phys. 231, 7–12 Diels: … βουληθεὶς ὁ ἑνιαῖος λόγος, ὥς πού φησιν ὁ Πλάτων, τὴν γένεσιν ἀφ’ ἑαυτοῦ τῶν ὄντων συστήσασθαι, κατὰ στέρησιν αὑτοῦ ἐχώρησε τὴν ποσότητα πάντων αὐτὴν στερήσας τῶν αὑτοῦ λόγων καὶ εἰδῶν. τοῦτο δὲ ποσότητα ἐκάλεσεν ἄμορφον καὶ ἀδιαίρετον καὶ ἀσχημάτιστον, ἐπιδεχομένην μέντοι μορφὴν σχῆμα διαίρεσιν ποιότητα πᾶν τὸ τοιοῦτον … „der Einheitsgrund wollte, wie Platon irgendwo sagt, die Entstehung der Seienden von sich selbst her zustandebgringen, indem er der Vielheit durch die Wegnahme seiner selbst einräumte zu sein, wobei er sie aller Strukturprinzipien und Ideen, die zu ihm gehörten, beraubte. Diese Vielheit aber nannte er formlos und unterschiedslos und gestaltlos, sie nehme jedoch Form, Gestalt, Unterschied, Qualität und alles von dieser Art auf …“ Daß der ἑνιαῖος λόγος, der durch seine Selbstbeschränkung die intelligible ποσότης hervorbringt, nicht das überseiende erste Eine, sondern das seiende zweite Eine ist, folgt schon daraus, daß die ποσότης als στέρησις des ἑνιαῖος λόγος selbst τὸ μὴ ὄν ist, der ἑνιαῖος λόγος also τὸ ὄντως ὄν sein muß. Es ergibt sich ferner daraus, daß der ἑνιαῖος λόγος Inbegriff der Ideen ist (στερήσας τῶν αὑτοῦ λόγων καὶ εἰδῶν), das δεύτερον ἕν aber mit den εἴδη identisch ist. Die Berufung auf Platon in diesem Zusammenhang (ὥς πού φησιν ὁ Πλάτων) dürfte konkret die Erzeugung der Vielheit der Ideen durch die Selbst-Diremption des ἓν ὄν in der zweiten Hypothesis (Parmenides 142 E 3 ff) im Blick haben, was Moderatos mit dem als τὸ μὴ ὄν interpretierten ἐκμαγεῖον des Timaios kombiniert haben dürfte; vgl. Dodds, „The Parmenides of Plato“, 137. – Theiler, „Einheit und unbegrenzte Zweiheit von Plato bis Plotin“, in: ders., Untersuchungen zur antiken Literatur, 477 identifiziert den ἑνιαῖος λόγος fälschlich mit dem überseienden ersten Einen, Dillon, The Middle Platonists, 348 richtig, aber ohne zureichende Begründung mit dem zweiten Einen. – Die Beschreibung der ποσότης als ἄμορφον καὶ ἀδιαίρετον καὶ ἀσχημάτι­ στον und als τὸ μὴ ὄν erinnert an Hermodors Charakterisierung des Platonischen Materialprinzips bei Simplikios, In Phys. 248, 11 ff Diels. (Test. Plat. 31 Gaiser). – Die Bemerkung des Moderatos, nach Platon und den Pythagoreern habe das Sinnenfällige an dem Einen und den Ideen nicht einmal teil, sondern werde nur durch ihre Spiegelung geordnet (Simplikios, In Phys. 231, 2–4), dürfte sich am ehesten auf die achte Hypothesis (Parmenides 164 B – 165 D) beziehen, welche den „Anderen“ den Schein aller Bestimmungen zuspricht, nicht aber deren Sein. Hier fassen wir also eine vorneuplatonische Deutung einer der letzten vier Hypothesen des Parmenides! 20  Aristo­teles, Metaphysik 1089 a 2 ff und dazu Krämer, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“, 11 ff. – Zur Zurückführung der Andersheit auf das Vielheitsprinzip vgl. z.B. Alexander, In Metaph. 250, 13 ff Hayduck = Test. Plat. 39 B Gaiser: λέγει δὲ ἀρχὴν τὴν ἐναντίωσιν τό τε ἓν καὶ τὸ τῷ ἑνὶ ἀντικείμενον, τοῦτο δέ ἐστι τὰ πολλά· τὸ μὲν γὰρ ταὐτὸν ἕν τι, τὸ δὲ ἕτερον πλῆθός τε

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Spezifisch Platonisch ist aber nicht nur die von Moderatos wiedergegebene Deutung der Materie und des Nichtseienden als Vielheitsprinzip, sondern ebenso die Seins­transzen­denz des ersten oder absoluten Einen, die Moderatos in einer an den Wortlaut der berühmten Transzendenzformel aus der Politeia (509 B 9 f: ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος) anklingenden Formulierung wiedergibt: τὸ μὲν πρῶτον ἓν ὑπὲρ τὸ εἶναι καὶ πᾶσαν οὐσίαν, womit aber inhaltlich der Schluß der ersten Hypothesis des Parmenides (141 E 7 – 12) zusammengefaßt wird. Wir haben keinen Grund, Porphyrios zu verdächtigen, er unterschiebe hier Moderatos seine eigene Interpretation der ersten Hypothesis, 21 da die zitierte Formulierung von Porphyrios’ eigener Deutung in einem ganz entscheidenden Punkt abweicht: denn für Porphyrios ist das πρῶτον ἕν zwar ἐπέκεινα τοῦ ὄντος (In Parm. XII 31) und ὑπὲρ τὸ ὂν καὶ πᾶσαν οὐσίαν (Sent. § 26), aber gerade nicht ὑπὲρ τὸ εἶναι, sondern vielmehr αὐτὸ τὸ εἶναι τὸ πρὸ τοῦ ὄντος (In Parm. XII 26 f) oder τὸ εἶναι τὸ ἀπόλυτον καὶ ὥσπερ ἰδέα τοῦ ὄντος (In Parm. XII 32 f). 22 Die absolute Transzendenz des Absoluten, des Einen selbst, ist nun für Platon und die Alte Akademie vielfältig bezeugt. 23 Das neben dem Sonnengleichnis (Politeia 507 A – 509 C) wichtigste Zeugnis ist indes die erste Hypothesis des Parmenides: denn nur hier wird die reine Transzendenz des absolut Einen im detaillierten Durchgang durch alle grundlegenden Seinsbestimmungen aus der absoluten Einfachheit des Einen, die jede Bestimmung strikt von ihm ausschließt, begründet und bis zur Selbstaufhebung des dialektischen Denkens in einer nicht in die Affirmation umschlagenden Negation der Negation (142 A) durchdacht. 24 Daß sich Moderatos tatsächlich auf den Parmenides bezieht, folgt mit Sicherheit daraus, daß er die Ideen mit dem zweiten Einen und die Seele mit dem dritten Einen identifiziert, also wie Plotin (Enneade V 1, 8) drei καὶ ἐν πλήθει. – Moderatos’ Benennung des Materialprinzips als τὸ μὴ ὄv deutet Dillon, The Middle Platonists, 349 als Anknüpfung an den Sophistes. 21  So aber Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd. III 2, 5. Aufl. Leipzig 1923, 7. Aufl. Darmstadt 2006 (= Philosophie der Griechen), 160 f, bes. Anm. 5; Werner Beierwaltes, Art. „Hen“, in: RAC, Bd. XIV (1987), 451; skeptisch auch Heinrich Dörrie, Art. „Moderatos“, in: Der Kleine Pauly, Bd. III (1975), 1377; unentschieden Hager, Gott und das Böse, 129. – Keine Vorbehalte gegen die Zuverlässigkeit des Moderatos-Referats bei Simplikios haben Dodds, Krämer, Merlan, Whittaker und Dillon. 22  Zu Porphyrios’ Konzeption des Absoluten und zu seiner Deutung des Parmenides ist grundlegend Pierre Hadot, Porphyre et Victorinus, 2 Bände, Paris 1968 (= Porphyre et Victorinus); ders., „Die Metaphysik des Porphyrios“, in: Clemens Zintzen (Hg.), Die Philosophie des Neuplatonismus, Darmstadt 1977 (= Philosophie des Neuplatonismus), 208–237 (= Metaphysik des Porphyrios). 23 Vgl. Platon, Politeia 508 E – 509 C, 511 B, 534 BC; Parmenides 137 C – 142 A; 2. Brief 312 D – 313 A; 7. Brief 341 C. – Speusipp, Fr. 48, 57, 62 (= Test. Plat. 50), 72, 88, 89 Isnardi Parente. – Aristo­teles, Περὶ εὐχῆς Fr. 1 Ross; Eudemische Ethik 1248 a 27 ff. – Dazu im einzelnen Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 19 ff, 193 ff, 221 ff, 257 ff, 277 ff; ferner Krämer, „ΕΠΕ­ ΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“. 24 Vgl. die einheitsmetaphysische Deutung der ersten Hypothesis bei Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 276–405.

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verschiedene Bedeutungen und Stufen des Einen unterscheidet, was nur auf die drei ersten Hypothesen des Parmenides zurückgehen kann. Zwar ist die Unterscheidung zwischen einem höchsten und einem sekundären Einen im Neupythagoreismus auch sonst nachweisbar, 25 die Gleichsetzung des zweiten Einen mit den Ideen und die Ansetzung der Seele als des dritten Einen ist jedoch absolut singulär und kann nur als metaphysische Interpretation der zweiten und dritten Hypothesis verstanden werden. 26 Moderatos beruft sich ferner ausdrücklich auf Platon (ὥς πού φησιν ὁ Πλάτων), und zwar für die Ableitung des Vielheitsprinzips aus der Selbstbeschränkung des Einheitsgrundes; die einzige Stelle bei Platon, die er hierbei im Blick haben kann, ist die Selbstaufgliederung des seienden Einen am Anfang der zweiten Hypothese (142 D ff). Wenn wir davon absehen, daß Moderatos den Ideenkosmos, das zweite Eine, nicht ausdrücklich mit dem göttlichen Nous identifiziert, 27 dann hat er die drei ersten Hypothesen des Parmenides wenigstens in den Grundzügen genau so gedeutet wie Plotin. Zusammenfassend können wir festhalten: (1) Moderatos hat das absolute Eine der ersten Hypothesis mit dem überseienden Absoluten, das seiende Eine der zweiten Hypothesis mit dem Ideenkosmos und das seiende und nichtseiende Eine der dritten Hypothesis mit der zwischen Ideen- und Sinnenwelt vermittelnden Seele identifiziert. (2) Er hat die Materie auf das als intelligibles Vielheitsprinzip verstandene Nichtseiende, d.h. die ἀόριστος δυάς des μέγα-μικρόν, zurückgeführt, die er offenbar ebenfalls in der zweiten Hypothesis dargelegt fand, und zwar wohl in der eine unbegrenzte Zweiteilung implizierenden Komplementarität der beiden Elemente des ἓν ὄν (142 D – 143 A), aus der die Andersheit als Prinzip der Verschiedenheit und die Zahlen als Urformen der Quantität abgeleitet werden (143 B – 144 A). 28 25  Außer bei Eudoros und „Archainetos, Philolaos und Brotinos“ (s.u.) auch bei Sextus Empiricus, Adv. Math. X 248–283 (= Test. Plat. 32 Gaiser), spez. 258 ff, bes. 276 mit einer abweichenden, wohl auf Xenokrates (vgl. Fr. 15 Heinze) zurückgehenden Terminologie: das Einheitsprinzip erscheint hier als μονάς (261–262, 276), das (zweite) Eine auf der Stufe der Ideen und Zahlen als ἕν (258, 260, 261, 270, 275, 276, 277). 26 Vgl. Dodds, „The Parmenides of Plato“, 137–139 und Merlan, „Greek Philosophy from Plato to Plotinus“, 91–95, bes. 94; zustimmend auch Whittaker, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΝΟΥ“, 96 f; Dillon, The Middle Platonists, 348; Hager, Gott und das Böse, 129. – Dodds wollte darüber hin­aus die Spiegelungen der Ideen im Sinnenfälligen bei Moderatos auf die 4. und die Materie des Sinnenfälligen als absolutes μὴ ὄν auf die 5. Hypothesis beziehen (Parmenides 157 B 6 – 159 B 1, 159 B 2 – 160 B 1) – doch beziehen sich die Spiegelungen der Ideen wohl eher auf die 8. Hypothese (s.o.). 27  Die Gleichsetzung des zweiten Einen mit dem Nous ergibt sich für Moderatos aber indirekt aus der Identität des zweiten Einen mit dem ἑνιαῖος λόγος als Inbegriff der Ideen und Logoi, der offenbar mit Denken und Wollen (βουληθείς!) ausgestattet ist. Vgl. oben Anm. 19 und Dillon, The Middle Platonists, 348 f. 28 Vgl. Dodds, „The Parmenides of Plato“, 137–138. – Die ἀόριστος δυάς des μέγα-

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(3) Moderatos hat den Platonischen Prinzipien des überseienden Einen und des nichtseienden Groß-Kleinen pythagoreischen Ursprung zugeschrie­ ehre der Pyben, d.h. er glaubte in den Hypothesen des Parmenides die L thagoreer zu finden. 29 Interessant ist in diesem Zusammenhang eine von Porphyrios zitierte Bemerkung des Longinos, Plotins Auslegung der „Pythagoreischen und Platonischen Prinzipien“ übertreffe die Schriften von Numenios, Kronios, Moderatos und Thrasyllos über diese Prinzipien an Genauigkeit bei weitem (Vita Plotini 20, 71–76). Hieraus folgt einerseits, daß die von Moderatos repräsentierte neupythagoreische Parmenides-Deutung im Detail wohl weit hinter Plotins kongenialer Interpretation zurückblieb. Andererseits liegt die Frage nahe, ob auch Numenios, sein Schüler Kronios sowie der Tiberius-Freund und Platon-Herausgeber Thrasyllos die „Pythagoreischen und Platonischen Prinzipien“ in den Hypothesen des Parmenides fanden. Bei Numenios, dem einzigen, von dem wir zahlreiche Fragmente besitzen, gibt es jedoch keine Indizien für eine metaphysische Parmenides-Deutung; dagegen wissen wir, daß Numenios die altakademische Prinzipienlehre, die er wie Moderatos für pythagoreisch hielt, als irreduziblen Dualismus zweier gleichursprünglicher Prinzipien deutete30 und das μικρόν wird darüber hin­ausgehend an zwei Stellen in der 2. und der ihr korrespondierenden 4. Hypothesis enthüllt: Parmenides 150 C 6 ff: οὔτε ἄρα τὰ ἄλλα μείζω τοῦ ἑνὸς οὐδὲ ἐλάττω, μήτε μέγεθος μήτε σμικρότητα ἔχοντα, οὔτε αὐτὼ τούτω πρὸς τὸ ἓν ἔχετον τὴν δύναμιν τὴν τοῦ ὑπερέχειν καὶ ὑπερέχεσθαι, ἀλλὰ πρὸς ἀλλήλω. 158 C 5 ff: οὐκοῦν οὕτως ἀεὶ σκοποῦντες αὐτὴν καθ’ αὑτὴν τὴν ἑτέραν φύσιν τοῦ εἴδους ὅσον ἂν αὐτῆς ἀεὶ ὁρῶμεν ἄπειρον ἔσται πλήθει. 158 D 5 f: ἡ δὲ ἑαυτῶν sc. τῶν ἄλλων τοῦ ἑνὸς φύσις καθ’ ἑαυτὰ ἀπειρίαν. Dies entspricht vollkommen dem Vielheitsprinzip der mündlichen Lehrvorträge Platons; vgl. Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, 134 f, 137, 324, 333 Anm. 170, 420. 29  Porphyrios berichtet, Moderatos habe behauptet, daß Platon seine zentralen L ­ ehren (wie übrigens auch Speusipp, Xenokrates, Aristo­teles und Aristoxenos) von den Pythagoreern gestohlen habe (Vita Pythagorae 53, vgl. ebd. 48 ff zur vermeintlichen pythagoreischen Herkunft der altakademischen Prinzipientheorie nach Moderatos). Vgl. dazu Dillon, The Middle Platonists, 346 f. 30 Vgl. Numenios, Test. 30 Leemans = Fr. 52 des Places (= Chalcidius, In Tim. cap. 295– 299) mit Polemik gegen den Prinzipienmonismus der Neupythagoreer: „Sed non nullos Pythagoreos vim sententiae non recte assecutos putasse dici etiam illam indeterminatam et immensam duitatem ab unica singularitate institutam recendente a natura sua singularitate et in duitatis habitum migrante“ (Fr. 52, Z. 15 ff d. Pl.). Dodds, „The Parmenides of Plato“, 138 Anm. 4 stellt dies neben die Selbstdiremption des ἓν ὄν Parmenides 142 E f; Merlan, „Greek Philosophy from Plato to Plotinus“, 94 findet in dem Zeugnis des Numenios das entscheidende Argument dafür, daß der Prinzipienmonismus des Moderatos keine Rückprojektion unseres Gewährsmanns Porphyrios ist. Vgl. zur Ableitung der ἀόριστος δυάς aus dem Einen auch Sextus Empiricus, Adv. Math. X 261; Alexander Polyhistor bei Diogenes Laertios VIII 25 und Eudoros. Michael Frede, „Numenius“, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt, Bd. 36, 2 (1987), 1034–1075, hier: 1052 glaubt, daß sich Numenios in Fr. 52, 15 ff speziell gegen Moderatos wendet, da sich die bei Sextus und anderen referierte Ableitung der Zweiheit durch Selbstverdoppelung des Einen deutlich von dem bei Numenios kritisierten Modell unterscheide.  

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Einheitsprinzip positiv als πρῶτος νοῦς und αὐτοόν bestimmte.31 Er vertrat also keine negative Theologie und lehnte das Dogma von der Seins­transzen­denz und Übergegensätzlichkeit des höchsten Einen ab, für das sich Moderatos auf den Parmenides berufen hatte. 2. Eine ganz ähnlich strukturierte monistische Prinzipienlehre wie Moderatos vertrat dagegen ein Jahrhundert vor diesem Eudoros von Alexandrien.32 Simplikios referiert diesmal nicht aus zweiter Hand, sondern zitiert den originalen Wortlaut des Eudoros: Auf der höchsten Stufe setzten die Pythagoreer das Eine als Ursprung von allem an, auf der zweiten Stufe aber zwei Konstitutionsprinzipien der Wirklichkeit, nämlich das Eine und die diesem entgegengesetzte Wesenheit. Darunter wird alles, was man als gegensätzlich erkennt, eingeordnet, und zwar das Werthafte unter das Eine, das Unwerte dagegen unter die diesem entgegengesetzte Wesenheit. Deshalb faßt diese Schule diese Prinzipien auch nicht als absolut erste auf; denn wenn das eine Prinzip der einen Gegensatzreihe, das andere Prinzip der anderen Gegensatzreihe ist, dann sind sie nicht die gemeinsamen Prinzipien von allem wie das höchste Eine … Darum, so berichtet Eudoros, lehrten sie auch, das Eine sei in einem ganz anderen Sinne Ursprung von allem, weil auch die Materie ebenso wie alles Seiende aus Ihm hervorgegangen sei. Dieses (sc. das Eine) sei der transzendente Gott … ich sage also, daß die ­Lehre der Pythagoreer auf das Eine als Urgrund von allem hin­ausläuft, während sie in einem anderen Sinne zwei höchste Elementarprinzipien ansetzten …, so daß sich als Urgrund das Eine, als Elemente aber das (zweite) Eine und die unbestimmte Zweiheit ergeben, wobei jedes dieser beiden Elementarprinzipien wieder eine Einheit ist. Evident ist auch, daß das höchste Eine, der Urgrund von allem, von dem der Zweiheit entgegengesetzten Einen, welches sie auch als Monade bezeichnen, verschieden ist.33 31 Numenios, Fr. 17 des Places, vgl. auch Fr. 22. – Zur Theologie des Numenios Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 83–91; Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein. 32  Zu Eudoros Heinrich Dörrie, „Der Platoniker Eudoros von Alexandria“, in: ders., Platonica Minora, München 1976, 297–309 (= Der Platoniker Eudoros), bes. 304 f; Willy Theiler, „Philo von Alexandria und der Beginn des kaiserzeitlichen Platonismus“, in: ders., Unter­ suchungen zur antiken Literatur, 484–501 (= Philo von Alexandria), bes. 490 ff; John M. Dillon, „Eudoros und die Anfänge des Mittelplatonismus“, in: Zintzen (Hg.), Mittelplatonismus, 3–32 (= Eudoros), bes. 17 ff; Jaap Mansfeld, „Compatible Alternatives: Middle Platonist Theology and the Xenophanes-Reception“, in: Roelof van den Broek (Hg.), Knowledge of God in the Greco-Roman World, Leiden 1988, 92–117; Linda M. Napolitano, „Eudoro di Alessandria: Monismo, dualismo, assiologica dei principi nella tradizione Platonica“, in: ­Museum Patavinum 3 (1985), 289–312; Baltes, Platonismus in der Antike, Bd. 4, 473–477. 33 Simplikios, In Phys. 181, 10–30 Diels: κατὰ τὸν ἀνωτάτω λόγον φατέον τοὺς Πυθαγορι­ κοὺς τὸ ἓν ἀρχὴν τῶν πάντων λέγειν, κατὰ δὲ τὸν δεύτερον λόγον δύο ἀρχὰς τῶν ἀποτελουμένων εἶναι, τό τε ἓν καὶ τὴν ἐναντίαν τούτῳ φύσιν. ὑποτάσσεσθαι δὲ πάντων τῶν κατὰ ἐναντίωσιν ἐπινο­ ουμένων τὸ μὲν ἀστεῖον τῷ ἑνί, τὸ δὲ φαῦλον τῇ πρὸς τοῦτο ἐναντιουμένῃ φύσει. διὸ μηδὲ εἶναι τὸ σύνολον ταύτας ἀρχὰς κατὰ τοὺς ἄνδρας. εἰ γὰρ ἡ μὲν τῶνδε ἡ δὲ τῶνδέ ἐστιν ἀρχή, οὐκ εἰσὶ κοιναὶ πάντων ἀρχαὶ ὥσπερ τὸ ἕν … διό, φησί, καὶ κατ’ ἄλλον τρόπον ἀρχὴν ἔφασαν εἶναι τῶν πάντων τὸ ἕν, ὡς ἂν καὶ τῆς ὕλης καὶ τῶν ὄντων πάντων ἐξ αὐτοῦ γεγενημένων. τοῦτο δὲ εἶναι καὶ τὸν ὑπεράνω θεόν … φημὶ τοίνυν τοὺς περὶ τὸν Πυθαγόραν τὸ μὲν ἓν πάντων ἀρχὴν ἀπολιπεῖν, κατ’ ἄλλον δὲ τρόπον δύο τὰ ἀνωτάτω στοιχεῖα παρεισάγειν … ὥστε ὡς μὲν ἀρχὴ τὸ ἕν, ὡς δὲ στοιχεῖα

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Ganz offenkundig handelt es sich hier um eine dem Neuplatonismus präludierende monistische Version der Platonischen Prinzipienlehre,34 die wie die von Moderatos referierte Metaphysik das absolute Eine über dem Prinzipiengegensatz von (zweitem) ἕν und ἀόριστος δυάς ansetzt; genau wie Moderatos und der Bericht über die Prinzipienlehre bei Sextus Empiricus (Adv. Math. X 261 = Test. Plat. 32) leitet auch Eudoros das Materialprinzip aus dem Einen als Urprinzip von allem ab.35 Obwohl Eudoros den Namen Platons nicht nennt, ist der Bezug auf diesen wegen der ἀόριστος δυάς (die nach Aristo­teles, Metaphysik 987 b 25 – 27 ein ἴδιον Platons ist) sicher. Er ergibt sich außerdem aus dem von Alexander (In Metaph. 58, 21 ff Hayduck) berichteten Versuch des Eudoros, den Aristotelischen Bericht über die Prinzipienlehre Platons in Metaphysik A 6 (987 b 18 ff) im monistischen Sinne zu „korrigieren“: Eudoros ergänzte den Wortlaut in Metaphysik 988 a 10–11: τὰ γὰρ εἴδη τοῦ τί ἐστιν αἴτια τοῖς ἄλλοις, τοῖς δ’ εἴδεσι τὸ ἕν durch den Zusatz: καὶ τῇ ὕλῃ,36 was der oben zitierten Zurückführung der Materie auf das Eine entspricht. Eudoros kommt zu seinem Prinzipienmonismus durch den Rückgang hinter die beiden Komplementärprinzipien auf ein ursprünglicheres Prinzip, welches die Zuordnung der Gegensätze und das Zusammenwirken der beiden entgegengesetzten Prinzipien begründet. Eudoros sagt auch, warum dieser Rückgang notwendig ist: ἀρχαὶ ἄμφω ἓν ὄντα πάλιν. Also auch die ἀόριστος δυάς ist als Prinzip selber begrifflich wie numerisch eine Einheit und setzt darum das Eine als Grund aller Einheit schon vor­aus. Dieses sachlich wohl durchschlagende Argument entspricht nicht nur den von Platon formulierten Kriterien für logisch-ontologische Priorität (μὴ συναναιρεῖσθαι, πρότερον-ὕστερον φύσει);37 τὸ ἓν καὶ ἡ ἀόριστος δυάς, ἀρχαὶ ἄμφω ἓν ὄντα πάλιν. καὶ δῆλον ὅτι ἄλλον μέν ἐστιν ἓν ἡ ἀρχὴ τῶν πάντων, ἄλλο δὲ ἓν τὸ τῇ δυάδι ἀντικείμενον, ὅ καὶ μονάδα καλοῦσιν. 34 Vgl. Theiler, „Philo von Alexandria“, 490 f; auch Merlan, „Greek Philosophy from Plato to Plotinus“, 81, 82. 35 Theiler, „Philo von Alexandria“, 490 verweist auch auf das monistische Platon-Referat Hermodors, Test. Plat. 31 Gaiser; bei Hermodor fehlt aber die Ableitung des Materialprinzips aus dem Einen und die Unterscheidung zwischen dem absoluten und dem zweiten Einen. Unhaltbar ist dagegen Theilers Versuch, die monistische Fassung der Prinzipienlehre und ihre Zuschreibung an die Pythagoreer bei Sextus auf Eudoros zurückzuführen (a.a.O. 492 ff). Denn 1. geht die Zuweisung der Prinzipienlehre an die Pythagoreer auf die Alte Akademie zurück, wie Test. Plat. 50 (Speusipp) beweist (dazu unten). Und 2. spricht die abweichende Terminologie gegen eine Abhängigkeit des Sextus von Eudoros. Der Sextus-Bericht dürfte vielmehr über eine hellenistische Zwischenquelle auf Xenokrates zurückgehen (vgl. Gaiser, „Quellenkritische Probleme der indirekten Platonüberlieferung“, bes. 38, 78, 80). 36 Alexander, In Metaph. 59, 1 ff Hayduck berichtet, Eudoros habe sich dafür auf das Wissen der „Eingeweihten“ berufen; er dürfte also noch andere altakademische Quellen als Aristo­teles gekannt haben. 37 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1019 a 2–4 ( = Test. Plat. 33 a), 1059 b 27 – 1060 a 1, 1071 a 34–35; Topik 123 a 13–15, 141 b 22–29; Eudemische Ethik 1217 b 6–16; Protreptikos Fr. 5 p. 32 Ross (= Test. Plat. 34); Divisiones Aristoteleae Cod. Marc. 65; Sextus Empiricus, Adv. Math. X 269. – Das dem Wesen nach Frühere und Ursprünglichere ist dabei immer das Einfachere:

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vielmehr hat Platon selbst seinem Vielheitsprinzip ausdrücklich Einheitscharakter zugeschrieben, wie durch mehrere Zeugnisse belegt ist.38 Eudoros unterscheidet in der Platonischen Prinzipienlehre also eine monistische höchste Stufe mit dem Einen als übergegensätzlichem Urgrund der Totalität von einer dualistischen zweiten Stufe, auf der dem Einen als Prinzip der positiven Systoichie die unbestimmte Zweiheit als Prinzip der negativen Systoichie entgegengesetzt wird. Diese Unterscheidung zwischen einem übergegensätzlichen Urgrund auf höchster Begründungsebene und einem Elementen-Dualismus auf zweiter Stufe, aus dem die Gegensatzbestimmungen hergeleitet werden, läßt sich am überzeugendsten mit Dodds und John Whittaker als metaphysische Interpretation der ersten beiden Hypothesen des Parmenides verstehen:39 Eudoros’ ἀνωτάτω λόγος entspricht der ersten Hypothesis, die das Eine in seiner Absolutheit über alle für das Seiende grundlegenden Gegensatzpaare hin­aushebt, während Eudoros’ δεύτερος λόγος der zweiten Hypothesis entspricht, die alle fundamentalen Gegensätze aus der Elementen-Zweiheit des ἓν ὄν ableitet und dabei an zwei hervorgehobenen Stellen am Anfang (142 E f) und am Schluß (150 C f) die ἀόριστος δυάς des μέγα-μικρόν als entzweiendes Prinzip der Vielheit und Quantität enthüllt, das dem Moment des Einen innerhalb des ἓν ὄν entgegengesetzt ist (vgl. 142 E und 144 B zu 143 A 6 ff; 150 C 6 ff zu E 2 ff). Dagegen ist die von John Rist versuchte Zurückführung auf den Philebos kaum überzeugend: 40 Zwar wird dort (27 B) dem Prinzipiengegensatz von πέ­ ρας und ἄπειρον die αἰτία als Grund der Zuordnung und Koordination der Gegensätze übergeordnet,41 es findet sich aber keine Unterscheidung zwischen absolutem und der Vielheit komplementärem ἕν und keine Ableitung der Gegensatz-Systoichien wie im Parmenides; in diesem konnte Eudoros auch finden, τὰ γὰρ ἁπλούστερά τε καὶ μὴ συναναιρούμενα πρῶτα τῇ φύσει (Alexander, In Metaph. 55, 22 f = Test. Plat. 22 B). τὸ γὰρ ἁπλούστατον πανταχοῦ στοιχεῖον εἶναι (Jamblich, De comm. math. sc. IV 17, 12 f = Speusipp, Fr. 88 Isnardi Parente). 38 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1087 b 9–12 (= Test Plat. 49): καὶ γὰρ ὁ τὸ ἄνισον καὶ ἓν λέ­ γων τὰ στοιχεῖα, τὸ δ’ ἄνισον ἐκ μεγάλου καὶ μικροῦ δυάδα, ὡς ἓν ὄντα τὸ ἄνισον καὶ τὸ μέγα καὶ τὸ μικρὸν λέγει, καὶ οὐ διορίζει ὅτι λόγῳ ἀριθμῷ δὲ οὔ. Vgl. Metaphysik 1088 a 15 f: οἱ δὲ τὸ ἄνι­ σον ὡς ἕν τι, τὴν δυάδα δὲ ἀόριστον ποιοῦντες ἐκ μεγάλου καὶ μικροῦ … Porphyrios bei Simplikios, In Phys. 454, 8 f (= Test. Plat. 23 B): ἐν τούτοις δὲ καὶ ἡ ἀόριστος δυὰς ὁρᾶται ἔκ τε τῆς ἐπὶ τὸ μέγα καὶ τῆς ἐπὶ τὸ μικρὸν μονάδος συγκειμένη. – Indirekt ergibt sich der Einheitscharakter des zweiten Prinzips auch aus der letzten Hypothesis des Parmenides (165 E 2–166 C 2), wo das Vielheitsprinzip ins Nichts verschwindet, sobald das Eine von ihm getrennt wird: οὐκοῦν ἓν μὲν οὐκ ἔσται τἆλλα … οὐδὲ μὴν πολλά γε· ἐν γὰρ πολλοῖς οὖσιν ἐνείη ἂν καὶ ἕν. εἰ γὰρ μηδὲν αὐτῶν ἐστὶν ἕν, ἅπαντα οὐδέν ἐστιν, ὥστε οὐδ’ ἂν πολλὰ εἴη (165 Ε 4–7). 39 Dodds, „The Parmenides of Plato“, 136, 139, 140; Whittaker, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΝΟΥ“, 98; vgl. auch Dillon, „Eudoros“, 30 Anm. 14. 40  John M. Rist, „The Neoplatonic One and Plato’s Parmenides“, in: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 93 (1962), 389–401. 41 Vgl. auch Aristo­teles, Metaphysik 1075 b 17 f: καὶ τοῖς δύο ἀρχὰς ποιοῦσιν ἄλλην ἀνάγκη ἀρχὴν κυριωτέραν εἶναι. – Dies entspricht in der Tat der Anordnung der Prinzipien bei Eudoros.

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daß das zweite Eine und die unbegrenzte Zweiheit an dem absoluten Einen teilhaben müssen (158 A ff), dieses also als ursprünglicheres Prinzip schon vor­ aussetzen. Die Erklärung der monistischen Deutung der Prinzipienlehre bei Eudoros durch den Einfluß des Philebos ist also unwahrscheinlich, jedenfalls aber weniger naheliegend als der Rückgriff auf den Parmenides. Eudoros erklärt das absolute und das der Zweiheit komplementäre Eine ausdrücklich für verschieden und differenziert auch terminologisch zwischen ihnen: καὶ δῆλον ὅτι ἄλλο μέν ἐστιν ἓν ἡ ἀρχὴ τῶν πάντων, ἄλλο δὲ ἓν τὸ τῇ ­δυάδι ἀντικείμενον, ὃ καὶ μονάδα καλοῦσιν. Das absolute Eine ist ferner ἀρχή, aber nicht στοιχεῖον.42 Diese Unterscheidung zwischen dem höchsten Einen und dem dem Gegenprinzip zugeordneten zweiten Einen stimmt überein mit der von Moderatos referierten „pythagoreischen“ Deutung der ersten beiden Hypothesen des Parmenides: auch hier folgt auf das absolute Eine ein Elementenpaar – das zweite Eine und das μέγα-μικρόν. Anders als bei Moderatos ist die Seins­ transzen­denz des höchsten Einen bei Eudoros nicht explizit erwähnt. Sie läßt sich für Eudoros aber erschließen, nämlich aus der Übergegensätzlichkeit des höchsten Einen und aus dessen Bezeichnung als ὑπεράνω θεός43 – das erste verweist auf das überseiende Eine der ersten Hypothesis, das zweite dürfte eine Reminiszenz an das Platonische ἐπέκεινα τῆς οὐσίας sein.44 Eudoros’ monistische Deutung der „pythagoreischen“, in Wirklichkeit Platonischen Prinzipienlehre stimmt also mit der „pythagoreischen“ Interpretation der ersten beiden Hypothesen des Parmenides bei Moderatos vollkommen überein; lediglich die Deutung der dritten Hypothesis auf die Seele als das dritte Eine fehlt bei Eudoros. Wie Moderatos, so dürfte auch Eudoros in den Hypothesen des Parmenides die ­Lehre der Pythagoreer gefunden haben, die aber in Wirklichkeit die innerakademische ­Lehre Platons ist; wie Moderatos, so hält auch Eudoros Platon für einen Pythagoreer. Wir besitzen dafür einen zusätzlichen Beweis aus dem Bereich der Ethik: Eudoros definierte das Ziel des

42  Ebenso übrigens Plotin, Enneade V 3, 11, 16 ff: τὸ δὲ πρὸ τούτων ἡ ἀρχὴ τούτων, οὐχ ὡς ἐνυπάρχοντα· τὸ γὰρ ἀφ’ οὗ οὐκ ἐνυπάρχει, ἀλλ’ ἐξ ὧν. Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1014 a 26: στοιχεῖον λέγεται ἐξ οὗ σύγκειται πρώτου ἐνυπάρχοντος. – Die terminologische Differenzierung zwischen dem transzendenten ἕν und der μονάς als zweitem ἕν geht auf Speusipp zurück: Fr. 88 Isnardi Parente = Jamblich, De comm. math. sc. IV 17, 14 f; vgl. auch Arist. Metaphysik 1028 b 21–24. – Nach Theiler, „Philo von Alexandria“, 491 entspricht das zweite Eine bei Eudoros den Platonischen Ideen; dies entspricht dem seienden Einen der zweiten Hypothesis des Parmenides als Inbegriff der Ideen in der Deutung des Moderatos und stützt die Vermutung, daß sich Eudoros wie dieser auf den Parmenides bezieht. 43 Vgl. Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente = Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 10 f: τὸ δὲ ἕν … καὶ τοῦ καλοῦ καὶ τοῦ ἀγαθοῦ ὑπεράνω εἶναι. – Auch der Terminus ἀνωτάτω begegnet bei Speusipp und bei Eudoros im gleichen Zusammenhang: δύο τὰς πρωτίστας καὶ ἀνωτάτω ὑπο­ θετέον ἀρχάς (Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 6 f) – δύο τὰ ἀνωτάτω στοιχεῖα (Simplikios, In Phys. 181, 23). 44  So Heinrich Dörrie, Entretiens sur l’Antiquité classique XII (1966), 32. Vgl. aber Anm. 43.

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menschlichen Lebens mit Platon (Theaitet 176 B) als ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνα­ τόν, schrieb diese Definition aber Pythagoras zu.45 In der Geschichte des antiken Platonismus markiert Eudoros die Erneuerung der Metaphysik des Transzendenten in Anknüpfung an die Ältere Akademie und in bewußter Absetzung von den Immanenzphilosophien des Hellenismus.46 Eudoros lehnte die Harmonisierung Platons mit der Stoa und dem immanentistisch interpretierten Peripatos ab, die Antiochos von Askalon vorgenommen hatte. Er knüpfte darum wieder an die Metaphysik der Alten Akademie an und deutete Platon wie diese als Pythagoreer; zum Beleg berief er sich auf die Autorität von Platons Schriften (die Antiochos ebenso wie die skeptische Neue Akademie nicht als Zeugnisse für Platons eigene ­Lehre akzeptiert hatte). ­ ehre vom Einen und der unbegrenzten Zweiheit an die Die Zuschreibung der L Pythagoreer aber fand Eudoros schon vor.47 3. Eine ganz ähnliche, wenn auch im Einzelnen vielleicht weniger gut faßbare Metaphysik des Einen, wie sie die pythagoreisierenden Platoniker Eudoros und Moderatos im Parmenides fanden, referieren Syrian und Ps.-Alexander aus der Schrift „Περὶ νοῦ καὶ διανοίας“ eines anonymen Pythagoreers, des Ps.-Brotinos, den Holger Thesleff versuchsweise ins 2. oder 3. Jahrhundert v. Chr. datierte.48 Syrian berichtet uns (In Metaph. 166, 5 f Kroll), Brotinos habe das Einheitsprinzip (ἡ ἑνιαία αἰτία) als Geist und Sein insgesamt an Mächtigkeit und Ursprünglichkeit transzendierend angesehen: Βροτίνος δὲ ὡς νοῦ παντὸς καὶ οὐσίας δυνά­ μει καὶ πρεσβείᾳ ὑπερέχει (sc. ἡ ἑνιαία αἰτία). Syrians Bemerkung, die vielleicht den originalen Wortlaut des Ps.-Brotinos wiedergibt,49 erinnert unmittelbar an die berühmte Transzendenzformel Platons (Politeia 509 B), die fast wörtlich zitiert ist. Syrian berichtet (In Metaph. 166, 3 ff Kroll), Brotinos habe dieses Sein und Geist transzendierende Einheitsprinzip über dem Prinzipiengegensatz von μονάς und ἀόριστος δυάς angesetzt, was genau der Anordnung der Prinzipien bei Eudoros und Moderatos entspricht. Die gleiche Prinzipienlehre sollen nach Syrian auch „Archainetos und Philolaos“ vertreten haben.50 Syrian nennt diese 45 Vgl.

das Referat des Areios Didymos bei Stobaios, Ekl. II 49, 8 ff Wachsmuth.

46 Vgl. dazu Dörrie, „Der Platoniker Eudoros“, 297 ff, bes. 301, 303 ff; Dillon, „Eudoros“,

10 ff. – Zu Antiochos Georg Luck, Der Akademiker Antiochos, Bern 1953. 47 Vgl. oben Anm. 35 gegen Theilers These. – Eudoros hat auch den Timaios kommentiert und sich in der Deutung der Zusammensetzung der Weltseele an Xenokrates und Krantor angeschlossen, also auch hier auf die Alte Akademie zurückgegriffen (vgl. Plutarch, De animae procreatione 1013 B, auch 1019 E ff); dazu Matthias Baltes, Die Weltentstehung des Platonischen Timaios nach den antiken Interpreten, Teil I, Leiden 1976 (= Weltentstehung des Platonischen Timaios I), 83–86; zur altakademischen Timaios-Deutung auch 5–22, 210–216. 48  Holger Thesleff, An Introduction to the Pythagorean Writings of the Hellenistic Period, Åbo 1961, 115. Ähnlich datiert die Pseudopythagorica (ohne Erwähnung des Ps.-Brotinos) Walter Burkert, „Hellenistische Pseudopythagorica“, Philologus 105 (1961), 24 ff, 42, 227 ff. 49  Dies glaubt Whittaker, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΝΟΥ“, 95. 50  „Archainetos“ soll dieses Urprinzip αἰτία πρὸ αἰτίας genannt haben, „Philolaos“ τῶν

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Pythagoreer als Vertreter der ­Lehre vom überseienden Einen und Guten neben Platon, dem er die gleiche Prinzipienlehre wie ihnen zuschreibt: Jene (sc. die Anhänger der Ideenlehre) behaupten immer, daß es unter dem Einen Urgrund von allem, welchen sie das Gute oder das Eine über allem Seienden nannten, zwei Prinzipien in der Wirklichkeit gebe, die Monade und die unbestimmte Zweiheit. Diese Prinzipien wiesen sie gleichmäßig jeder Stufe des Seins zu.51

Syrian war also die gleiche monistische Fassung der altakademischen Prinzipienlehre bekannt wie Eudoros und Moderatos, und sie galt ihnen allen als gleichermaßen Platonisch wie Pythagoreisch. Ebenso wie Eudoros und Moderatos scheint sich nun auch die durch Ps.-Brotinos repräsentierte Schule auf den Parmenides bezogen zu haben. Ps.-Alexander berichtet uns nämlich: „Die einen, wie Platon und der Pythagoreer Brotinos, behaupten, daß das Gute das Eine selbst sei und daß es im Eines-Sein Sein annehme, wie oftmals gesagt wird.“52 Die Gleichsetzung des überseienden Guten mit dem absoluten Einen ist für Platon gut bezeugt53 und wird von ihm selbst in der Politeia angedeutet.54 Dagegen läßt sich die Bemerkung, das Gute und Eine nehme im Eines-Sein Sein an (οὐσίωται ἐν τῷ ἓν εἶναι), wohl nur als Reminiszenz an den Anfang der zweiten Hypothesis des Parmenides deuten,55 wo es heißt: ἓν εἰ ἔστιν, ἆρα οἷόν τε αὐτὸ εἶναι μέν, οὐσίας δὲ μὴ μετέχειν κτλ. (142 Β 5 ff). Im Folgenden wird dann πάντων ἀρχά. Stobaios, Ekl. Ι 278 f Wachsmuth zitiert aus dem Werk „Über die ersten Prinzipien“ des Ps.-Archytas eine ­Lehre, die den mit μορφή und οὐσία gleichgesetzten Prinzipien μονάς und δυάς ein Urprinzip, das über dem νοῦς steht, überordnet. – Zur Transzendenz des Absoluten im Neupythagoreismus auch Whittaker, „Neopythagoreanism and the Transcendent Absolute“. 51 Syrian, In Metaph. 112, 14–17 Kroll: ἔλεγον μὲν οἱ ἄνδρες μετὰ τὴν μίαν τῶν πάντων ἀρχήν, ἣν τἀγαθὸν καὶ τὸ ὑπερούσιον ἓν ἠξίουν καλεῖν, δύο εἶναι τῶν ὅλων αἰτίας, μονάδα καὶ τὴν ἀπειροδύναμον δυάδα, καὶ ταύτας τὰς ἀρχὰς καθ’ ἑκάστην τῶν ὄντων τάξιν οἰκείως ἀπετίθεντο. 52 Ps.-Alexander (= Michael von Ephesos), In Metaph. 821, 33 ff Hayduck: οἱ μέν, ὥσπερ ὁ Πλάτων καὶ Βροτίνος ὁ Πυθαγόρειος, φασὶν ὅτι τὸ ἀγαθὸν αὐτὸ τὸ ἕν ἐστι καὶ οὐσίωται ἐν τῷ ἓν εἶναι, ὡς πολλάκις εἴρηται. Vgl. dazu Syrian, In Metaph. 183, 1 ff Kroll: ἔστι μὲν ὑπερούσιον παρά τε τῷ Πλάτωνι τὸ ἓν καὶ τἀγαθὸν καὶ παρὰ Βροτίνῳ τῷ Πυθαγορείῳ καὶ παρὰ πᾶσιν ὡς εἰπεῖν τοῖς ἀπὸ τοῦ διδασκαλείου τοῦ τῶν Πυθαγορείων ὡρμημένοις. In beiden Zeugnissen erscheint „Brotinos“ als Repräsentant einer Platon ganz nahestehenden Richtung der „Pythagoreer“. 53 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1091 b 13–15; Eudemische Ethik 1218 a 19–21. 25 f; Aristoxenos, Harmonika II 30–31 Meibom (nach Aristo­teles). Sie ergibt sich auch aus Stellen wie Aristo­teles, Metaphysik 988 a 14 f, 1075 a 35 f, 1084 a 34 f, 1091 a 29 ff; Physik 192 a 15; Sextus Empiricus, Adv. Math. X 268 zu 275; Hermodor bei Simplikios, In Phys. 248, 2 ff Diels. 54  Platon hält das Wesen des Guten in der Politeia zurück (506 DE, 509 C 7), fordert aber einen λόγος τῆς οὐσίας des ἀγαθόν (534 BC), der jedoch nur ein negativer sein kann (534 B 9: ἀπὸ τῶν ἄλλων πάντων ἀφελών) – dies führt von selbst auf den negativen Begriff des Einen als des absolut Un-Vielen, auf den Platon auch 509 C 1 mit der Anrufung Apollons (= der Un-Viele) anspielt; vgl. Plotin, Enneade V 5, 6, 27 f; Plutarch, De E apud Delphos 20, 393 C und De Iside 75, 381 F – 382 A (im Kontext der Platonischen Prinzipienlehre: alles aus dem ἕν = Ἀ-πόλλων abgeleitet κατ’ ἔλλειψιν καὶ ὑπερβολήν, ἰσότητι!) – Zu diesen Zusammenhängen Krämer, „Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik“. 55 Vgl. Dodds, „The Parmenides of Plato“, 138; Whittaker, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΝΟΥ“, 95.

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ausgeführt, daß die beiden Elemente des seienden Einen, ἕν und εἶναι, einander in notwendiger Komplementarität wechselseitig implizieren, so daß nicht nur das Sein das Einssein, sondern auch das positive Eine (das von dem überseienden Einen der ersten Hypothesis abgehoben wird)56 das Sein in sich enthält: ἆρα ἀπολείπεσθαι ἢ τὸ ἓν τοῦ εἶναι μορίου ἢ τὸ ὂν τοῦ ἑνὸς μορίου … τό τε γὰρ ἓν τὸ ὂν ἀεὶ ἴσχει καὶ τὸ ὂν τὸ ἕν· ὥστε ἀνάγκη δύ’ ἀεὶ γιγνόμενοι μηδέποτε ἓν εἶναι (142 E 1 f. 6 ff). Mit dieser unbegrenzten Zweiteilung, die das ἓν ὄν impliziert, ist die ἀόριστος δυάς aufgewiesen. Man darf darum wohl annehmen, daß die durch Ps.-Brotinos repräsentierte Richtung die ἀόριστος δυάς einem zweiten und seienden ἕν, der Monade, als Gegenprinzip zuordnete und beide aus dem überseienden Einen und Guten als monistisch verstandenem Urprinzip ableitete;57 es handelt sich mithin um die gleiche offenbar aus dem Parmenides legitimierte Einheitsmetaphysik wie bei Moderatos und Eudoros.

3. Speusipp als Ursprung der metaphysischen Deutung Die bei Ps.-Brotinos, Eudoros und Moderatos faßbare neupythagoreische Deutung des Platonischen Parmenides weist folgende strukturelle Gemeinsamkeiten auf: (1) Sie unterscheidet zwischen dem ersten oder absolut Einen und abgeleiteten, weniger intensiven Formen von Einheit – entweder einer oder mehreren solcher abgeleiteten Einheiten; diese Stufung des Einen folgt den verschiedenen Bedeutungen von Einheit in den ersten zwei bzw. drei Hypothesen des Parmenides. (2) Sie setzt das erste und absolute Eine gemäß der metaphysischen Deutung der ersten Hypothesis als überseiend und übergegensätzlich an. (3) Sie scheint das absolute Eine als das höchste Prinzip mit dem überseienden Guten der Politeia zu identifizieren (so die durch Ps.-Brotinos repräsentierte Richtung ausdrücklich).58 (4) Sie setzt dem zweiten Einen – dem Einen auf der Stufe der 56 Vgl. Parmenides 143 A 6 ff: αὐτὸ τὸ ἕν, ὃ δή φαμεν οὐσίας μετέχειν κτλ. zu 140 A 1 ff: ἀλλὰ μὴν εἴ τι πέπονθε χωρὶς τοῦ ἓν εἶναι τὸ ἕν, πλείω ἂν εἶναι πεπόνθοι ἢ ἕν, τοῦτο δὲ ἀδύνατον. Diese absolute Einheit, die jede Vielheit und jede Teilhabe an anderem strikt ausschließt, kennzeichnet ausschließlich das Absolute: 158 A 5 f: νῦν δὲ ἑνὶ μὲν εἶναι πλὴν αὐτῷ τῷ ἑνὶ ἀδύ­ νατόν που. 57 Syrian, In Metaph. 165, 34 ff Kroll schreibt dies „Philolaos“ zu, den er 166, 3 ff mit „Brotinos“ zusammenstellt: τῶν δύω συστοιχιῶν sc. πέρας καὶ ἄπειρον τὸ ἐπέκεινα ᾔδεσαν, ὡς μαρτυρεῖ Φιλόλαος τὸν θεὸν λέγων πέρας καὶ ἀπειρίαν ὑποστῆσαι. 58  Für Eudoros und Moderatos kann man eine solche Gleichsetzung vielleicht aus der Kennzeichnung des höchsten Einen als ὑπεράνω θεός und ὑπὲρ τὸ εἶναι καὶ πᾶσαν οὐσίαν erschließen, doch bleibt dies unsicher, da beide Formulierungen nicht nur an Politeia 509 B 9, sondern auch an Speusipp erinnern (vgl. Anm. 43), der das Eine nicht mit dem Guten gleichgesetzt hat (Fr. 57, 58 und 72 Isnardi Parente). Ein ziemlich sicheres Indiz für die Identität des Einen mit dem Guten bei Eudoros ist jedoch dessen Rückgriff auf die Aristotelischen Referate über Platon.

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Ideen – die ἀόριστος δυάς des μέγα-μικρόν als gleichursprüngliches Prinzip entgegen; diese beiden entgegengesetzten Prinzipien werden in der metaphysisch gedeuteten zweiten Hypothesis gefunden. (5) Dem Prinzipien-Dualismus wird das absolute Eine als übergegensätzliches Urprinzip übergeordnet, aus dem (bei Eudoros) die beiden Komplementärprinzipien monistisch abgeleitet werden. (6) Die ersten beiden Hypothesen des Parmenides werden also interpretiert im Horizont der innerakademischen Prinzipienlehre Platons, die selber als Monismus mit nachgeordnetem Dualismus verstanden wird; dabei gilt diese Prinzipientheorie als gleichermaßen Platonisch und pythagoreisch, weshalb der Inhalt des einheitsmetaphysisch gedeuteten Parmenides als ­Lehre der Pythagoreer ausgegeben wird; dies war um so leichter möglich, als Parmenides, der die Dialektik des Einen im Dialog vorträgt und sie als seine eigene ­Lehre bezeichnet (137 B 3), in der doxographischen Literatur selbst als Pythagoreer galt.59 Diese Gemeinsamkeiten machen die Annahme einer gemeinsamen Quelle wohl unabweisbar, die aus sachlichen und auch aus zeitlichen Gründen nur im Umkreis der Alten Akademie gesucht werden kann. Bereits Dodds führte die in dieser Richtung des Neupythagoreismus vertretene Metaphysik des überseienden Einen auf Speusipp zurück;60 seine These wurde durch drei 1953 und 1992 neu entdeckte Speusipp-Fragmente glänzend bestätigt, die beweisen, daß Speusipp das absolute Eine als überseiend, übergegensätzlich und als unendlich im Sinne der Transzendenz über jede Grenze konzipiert hat.61 Ferner haben bedeutende Untersuchungen von Walter Burkert, Hans Joachim Krämer und John Dillon die Anknüpfung der neupythagoreischen Metaphysik an die Alte Akademie und insbesondere an Speusipp genauer nachgewiesen.62 Es läßt sich nun wahrscheinlich machen, daß auch die Verknüpfung der Prinzipienlehre mit der Dialektik des Einen im Parmenides auf Speusipp zurückgeht. Speusipp hat nicht nur verschiedene Seinsstufen oder „Hypostasen“ unterschieden, sondern er nahm auch für jede dieser Hypostasen ein eigenes Prinzip an, das die grund- und maßgebende Einheit des betreffenden Seinsbereichs bildet.63 Aristo­teles warf ihm deshalb Zerdehnung des Seins vor und verglich 59 Vgl. z.B. den Katalog der Pythagoreer bei Jamblich, Vita Pyth. 267 ( = VS 58 A DielsKranz). 60 Dodds, „The Parmenides of Plato“, 140. 61  Es handelt sich um (1) das umfangreiche Speusipp-Exzerpt bei Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 6–18, 12 (= Fr. 72, 88 Isnardi Parente) sowie um (2) das wörtliche Speusipp-Zitat bei Proklos, In Parm. VII 40, 1–5 (= Fr. 62) und (3) das Speusipp-Referat bei Proklos, In Parm. 1118, 10–19. Zur Zuweisung dieser Zeugnisse an Speusipp: zu (1) Merlan, From Platonism to Neoplatonism, 1. Aufl., 86–118 (2. Aufl., 96–140); zu (2) Raymond Klibansky, Plato Latinus Band III, London 1953 (ND Nendeln 1973), 86; zu (3) Halfwassen, „Speusipp und die Unendlichkeit des Einen“ (= unten Kapitel XII). 62 Burkert, Weisheit und Wissenschaft; Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik; Dillon, The Middle Platonists. 63  Aristo­teles, Metaphysik 1028 b 21–24 (= Speusipp, Fr. 48 Isnardi Parente): Σπεύσιππος δὲ καὶ πλείους οὐσίας ἀπὸ τοῦ ἑνὸς ἀρξάμενος sc. οἴεται εἶναι, καὶ ἀρχὰς ἑκάστης οὐσίας, ἄλλην

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Speusipps „episodische“ Ontologie mit einer schlechten Tragödie.64 Speusipp hat den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Seinsstufen aber dadurch hergestellt, daß er ihre Prinzipien aus dem Einen selbst als dem absoluten Prinzip abgeleitet65 und – genau wie später die Neuplatoniker – einen stufenweisen „Hervorgang der Wirklichkeit des Seienden“ aus dem überseienden Einen angenommen hat.66 Speusipp hat also wie die Neupythagoreer (und später die Neuplatoniker) zwischen dem überseienden absoluten Einen und den verschiedenen abgeleiteten Einheitsprinzipien der einzelnen Seinsstufen unterschieden: der Monade – die für Speusipp wie für Eudoros das zweite Eine ist – als Einheitsprinzip der Zahlen, dem als μονὰς θέσιν ἔχουσα definierten Punkt67 als Einheitsprinzip der geometrischen Größen und einem weiteren Einheitsprinzip für die Seelen, vermutlich der Kreisbewegung als Struktur der selbstbezüglichen Noesis und der Selbstbewegung.68 Diesen regionalen Einheitsprinzipien, die im Verhältnis der Analogie zueinander und zum absoluten Einen stehen,69 hat Speusipp bereichsspezifische Materialprinzipien zugeordnet: die Vielheit (πλῆθος)

μὲν ἀριθμῶν ἄλλην δὲ μεγεθῶν, ἔπειτα ψυχῆς· καὶ τοῦτον δὴ τὸν τρόπον ἐπεκτείνει τὰς οὐσίας. – „Speusipp aber nahm eine größere Zahl von Seinsstufen vom dem Einen als Urgrund absteigend an, und jeweils eigene Prinzipien für jede Seinsstufe, verschieden für die Zahlen, die Größen und dann die Seele; und auf diese Weise zerdehnte er die Seinsstufen.“ Vgl. auch Fr. 49–52 I. P. – Zur Ontologie Speusipps Merlan, From Platonism to Neoplatonism, 96– 140; Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 207–214, 351–361 und passim; ders., Die Ältere Akademie, 20–31; Dillon, Heirs of Plato, 40–64; Metry, Speusippos, 112–157. 64  Aristo­teles, Metaphysik 1075 b 37–1076 a 3 und 1090 b 19 f (= Fr. 52 und 86 Isnardi Parente). – Speusipps Begründung für die Ansetzung der regionalen Sonderprinzipien ist bei Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 18–17, 29 erhalten: Danach ist die kategoriale Differenzierung der abgestuften Seinsbereiche von einem einzigen Prinzipienpaar aus nicht hinreichend begründbar. Mit diesem Argument Speusipps operiert Aristo­teles selber wiederholt gegen die Derivation aller Hypostasen aus den höchsten Prinzipien bei Platon und Xenokrates, z.B. Metaphysik 1001 b 21 ff, 1090 b 32 ff. 65 Jamblich, De comm. math. sc. IV 17, 5 mit 12–16 (= Fr. 88 Isnardi Parente): καίπερ τοῦ ἑνὸς ὁμοίου ἐγγιγνομένου διὰ παντός … τὸ γὰρ ἁπλούστατον πανταχοῦ στοιχεῖον εἶναι. λοιπὸν οὖν τινα ἑτέραν μεγέθους αἰτίαν ὑποθεμένους, ὡς ἐν ἀριθμοῖς μονάδα κατὰ τὸ ἕν, οὕτως στιγμὴν ἐν γραμμαῖς τιθέναι. „Das Eine erscheint in allen Seinsstufen auf analoge Weise … denn das Einfachste ist überall das Grundlegende. Es bleibt also nur übrig, da wir eine andere Ursache für die Größe (d.h. das Vielheitsprinzip) vor­aussetzen, so wie wir im Bereich der Zahlen die Monade als dem Einen analoges Prinzip ansetzen, so im Bereich der Linien den Punkt.“ Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1085 a 13: ἡ δὲ κατὰ τὸ ἓν ἀρχή. 66  Aristo­teles, Metaphysik 1091 a 35 (= Fr. 58 Isnardi Parente): προελθούσης τῆς τῶν ὄντων φύσεως. Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 12 (= Fr. 72 I. P.): προϊούσης γὰρ πορρωτέρω ἀπὸ τῶν ἐν ἀρχῇ φύσεως … 67 Vgl. z.B. Aristo­teles, Metaphysik 1016 b 26. 68 Vgl. Krämer, Die Ältere Akademie, 23 mit Verweis auf Xenokrates, Fr. 9 Heinze (Fr. 87 Tarán). 69 Jamblich, De comm. math. sc. IV 17, 14–16 (= Fr. 88 Isnardi Parente): ὡς ἐν ἀριθμοῖς ­μονάδα κατὰ τὸ ἕν, οὕτως στιγμὴν ἐν γραμμαῖς τιθέναι. Aristo­teles, Metaphysik 1085 a 32 f (= Fr. 84 I. P.): ἡ δὲ στιγμὴ αὐτοῖς δοκεῖ εἶναι οὐχ ἓν ἀλλ’ οἷον τὸ ἕν.

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für die reinen Zahlen, die Ausdehnung (διάστασις, τόπος, θέσις) für die geome­ trischen Figuren und die Bewegung (κίνησις) für die Seelen.70 Jede Stufe des Seins ist somit dualistisch durch ein Paar gleichursprünglicher Prinzipien strukturiert, das der betreffenden Seinsstufe immanent ist. Dagegen ist dem absoluten Einen, das als Ursprung des Seienden (ἀρχὴ τῶν ὄντων) selbst überseiend ist,71 kein gleichursprüngliches zweites Prinzip zugeordnet;72 denn die Vielheit, das Materialprinzip der höchsten Seinsstufe, ist für Speusipp wie für Eudoros, Moderatos und „Archainetos, Philolaos und Brotinos“ das Gegenprinzip des zweiten und seienden Einen, der Monade, sie ist als das Nichtseiende dem Seienden entgegengesetzt, nicht dem Überseienden. Das überseiende Eine selbst steht also als einziges Urprinzip über einem Dualismus sekundärer Prinzipien, der das Seiende auf allen Stufen bestimmt. Allerdings ist eine Ableitung des (höchsten) Materialprinzips aus dem Einen, wie wir sie bei Eudoros und Moderatos finden, für Speusipp nicht überliefert, obwohl sie vielleicht aus dem „Hervorgang der Wirklichkeit des Seienden“ (und der für das Seiende konstitutiven Prinzipien) aus dem Einen herausgelesen werden kann.73 Jedenfalls aber ist das Eine nach Speusipp in allen Seinsbereichen gleichermaßen als einheitstiftender, bestimmender und begrenzender Urgrund wirksam, indem es die regionalen Einheitsprinzipien der einzelnen Seinsbereiche durch die Begrenzung des spezifischen Materialprinzips erzeugt,74 entweder unmittelbar 70 Vgl. Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 10 ff; 15, 15 ff; 17, 16 ff; vgl. 17, 25 ff für Vielheit und Ausdehnung. Als Materialprinzip des seelischen Bereichs erschließt Krämer, Die Ältere Akademie, 23 aus Xenokrates, Fr. 9 Heinze (Fr. 87 Tarán) die geradlinige Bewegung. – Zu den Materialprinzipien Speusipps siehe die umfassende Darstellung bei Happ, Hyle, 208–241. 71 Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 7–10 (= Fr. 72 Isnardi Parente): τὸ ἓν ὅπερ δὴ οὐδὲ ὄν πω δεῖ καλεῖν, διὰ τὸ ἁπλοῦν εἶναι καὶ διὰ τὸ ἀρχὴν μὲν ὑπάρχειν τῶν ὄντων, τὴν δὲ ἀρχὴν μη­ δέπω εἶναι τοιαύτην οἷα ἐκεῖνα ὧν ἐστιν ἀρχή. – „Das absolute Eine aber darf man nicht einmal in irgend einem Sinne seiend nennen, weil Es absolut einfach und weil Es Urgrund des Seienden ist, der Urgrund aber niemals von der Art ist wie das, dessen Urgrund er ist.“ Proklos, In Parm. VII 40, 1 (= Fr. 62 I. P.): „le unum enim melius ente putantes et a quo le ens“. Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1092 a 14 f (= Fr. 57 I. P.): ὥστε μηδὲ ὄν τι εἶναι τὸ ἓν αὐτό. 72 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1087 b 27 ff (= Fr. 39 Tarán): εἰ δέ ἐστιν, ὥσπερ βούλονται, τὰ ὄντα ἐξ ἐναντίων, τῷ δὲ ἑνὶ ἢ οὐθὲν ἐναντίον ἢ εἴπερ ἄρα μέλλει, τὸ πλῆθος … In Fr. 48 Isnardi Parente (= Aristo­teles, Metaphysik 1028 b 21–24) steht das Eine als einziges Urprinzip über den (dualistisch strukturierten) Seinsstufen und ihren regionalen Prinzipien; es ist also von dem regionalen Prinzip der Zahlen, der Monade oder dem Zahl-Einen, zu unterscheiden (so auch Jamblich, De comm. math. sc. IV 17, 14 f: ἐν ἀριθμοῖς μονάδα κατὰ τὸ ἕν) und erst diesem ist die Vielheit entgegengesetzt. Da Aristo­teles zwischen dem absoluten und dem sekundären Einen terminologisch nicht unterscheidet, schwankt er, ob die Vielheit dem Einen entgegengesetzt ist oder nicht. 73  Die Formulierung bei Jamblich, De comm. math. sc. IV 17, 5: τοῦ ἑνὸς ὁμοίου ἐγγιγνο­ μένου διὰ παντός scheint für eine solche Deutung zu sprechen. Ein Modell der Ableitung der ersten Vielheit aus dem Einen, auf das sich der von Speusipp abhängige Moderatos berief, liegt bei Platon in der Selbstdiremption des ἓν ὄν Parmenides 142 E – 143 A vor. 74 Vgl. Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 21 ff; 16, 17 f; 17, 5. Dies entspricht völlig der

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oder vermittelt durch das Einheitsprinzip der jeweils übergeordneten Hypo­ stase.75 Speusipps Prinzipienlehre stimmt also in der monistischen Tendenz mit der neupythagoreischen Parmenides-Deutung durchaus überein. Speusipp hat ferner, wie schon angedeutet, das absolute Eine nicht nur als überseiend, sondern auch als übergegensätzlich angesehen:76 Wie das Eine als das Überseiende jenseits des ontologischen Urgegensatzes von Sein und Nicht­ sein steht, so steht es auch als das Übergute und Überschöne jenseits der axiologischen Urgegensätze ἀγαθόν – κακόν und καλόν – αἰσχρόν,77 und ebenso ist es als das jede Grenze Transzendierende und in diesem Sinne Unendliche über den Gegensatz von Peras und Apeiron erhaben.78 Speusipp hat die Transzendenz des Absoluten so nachdrücklich betont wie niemand sonst vor Plotin, von Platon einmal abgesehen. Wir finden bereits bei Speusipp eine negative Theologie des absoluten Einen, die ihre Verneinungen ausdrücklich als Transzen­denz­ aussagen versteht. Obwohl die Metaphysik der Alten Akademie primär an die mündliche ­Lehre Platons anknüpft, haben sich die Schüler Platons doch auch auf dessen Schriften bezogen und zum Teil ihre eigenen ­Lehren aus ihnen zu legitimieren gesucht, wie die Timaios-Kommentierung des Xenokrates beweist.79 Auch Aristo­teles deutet in seinen Berichten die besondere Nähe mancher Dialoge zu den mündlichen Lehrvorträgen Platons an, namentlich für den Timaios und den Sophistes, indirekt auch für den Parmenides.80 Für Speusipp aber muß der Parmenides Konstitution des seienden Einen durch die Teilhabe der Vielheit am absoluten Einen bei Platon, Parmenides 157 B – 158 D. 75  So offenbar Jamblich, De comm. math. sc. IV 17, 14–16. 76 Vgl. Anm. 72. 77 Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 10–11 (= Fr. 72 Isnardi Parente): τὸ δὲ ἓν οὔτε καλὸν οὔτε ἀγαθὸν ἄξιον καλεῖν, διὰ τὸ καὶ τοῦ καλοῦ καὶ τοῦ ἀγαθοῦ ὑπεράνω εἶναι. Vgl. ebd. 18,1 ff. 78 Proklos, In Parm. 1118, 10–19 Cousin: οἱ μὲν οὕτω φασὶν ἄπειρον προσειρῆσθαι τὸ ἕν, ὡς ἀδιεξίτητον καὶ ὡς πέρας τῶν ὅλων· διχῶς γὰρ λέγεται τὸ ἄπειρον, τὸ μὲν οἷον τὸ ἄληπτον καὶ ­ἀδιεξίτητον, τὸ δὲ οἷον ὃ πέρας ἐστὶ τὸ μὴ ἔχον ἄλλο πέρας· καὶ τὸ ἓν οὖν ἀμφοτέρως εἶναι ἄπειρον, ὡς ἄληπτόν τε καὶ ἀπεριήγητον πᾶσι τοῖς δευτέροις καὶ ὡς πέρας τῶν ὅλων καὶ μὴ δεόμενον αὐτὸ πέρατος ἄλλου μηδενὸς. – „Die einen behaupten, daß das Eine in dem Sinne unendlich genannt wird, daß es unabschreitbar ist und daß es Grenze von allem ist. Denn das Unendliche werde in doppelter Bedeutung ausgesagt: einmal als das Unbegreifliche und Unabschreitbare; und dann als das, was absolute Grenze ist, ohne eine andere Grenze zu haben. Und das Eine sei nun in beiden Bedeutungen unendlich, als unbegreiflich und unumschreibbar für alles Nachgeordnete, und als Grenze von allem und selbst keiner anderen Grenze bedürfend.“ Dazu unten Kapitel XII. – Proklos bemerkt zu diesem Unendlichkeitsbegriff: τὸ γὰρ ἄπειρον τοῦτο ταὐτὸν τῷ οὐ πέρας ἔχοντι … ὡς αὐτὸ πέρατος οὐδενὸς οὐδὲ ἄλλου μέτρου δεόμενον … ἄπειρον οὖν ὡς ὑπὲρ πᾶν πέρας (In Parm. 1124, 6 f. 20 f. 23 f). 79 Vgl. Xenokrates, Fr. 33 und 54 Heinze, ferner Fr. 68 zur Konstitution der Weltseele. Auch in seiner Theologie berief sich Xenokrates auf den Timaios, vgl. Fr. 15 Heinze und dazu Matthias Baltes, „Zur Theologie des Xenokrates“, in: ders., ΔΙΑΝΟΗΜΑΤΑ, 191–222. 80 Vgl. z.B. Physik 209 b 11 ff zum Timaios; Metaphysik 1089 a 2 ff zum Sophistes. Stellen wie Metaphysik 988 b 12, 998 b 10, bes. 1061 a 17 f erinnern stark an Parmenides 142 C–E, E 6 f wird 1061 a 18 (τό τε γὰρ ἓν καὶ ὄν πως, τό τε ὂν ἕν) fast wörtlich aufgenommen.

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der bei weitem wichtigste Dialog Platons gewesen sein.81 In der Ideenkritik des ersten Teils dürfte Speusipp die Bestätigung für seine eigene ontologische Depotenzierung und konzeptualistische Umdeutung des Eidos gefunden haben, deren im Rahmen der altakademischen Metaphysik bleibende Motive 1973 von Krämer rekonstruiert worden sind.82 Vor allem aber dürfte Speusipp in der dia­ lektischen Behandlung des Einen im zweiten Teil seine eigene Prinzipienlehre mit ihrer abstufenden Differenzierung des Einheitsbegriffs wiedergefunden haben. Für Speusipp lag darum der Rekurs auf den Parmenides ebenso nahe wie für Xenokrates – seiner mehr kosmologisch zentrierten Metaphysik entsprechend – der Rekurs auf den Timaios. Denn die Übereinstimmungen zwischen der Metaphysik Speusipps und dem metaphysisch gedeuteten zweiten Teil des Parmenides sind augenfällig und gehen bis ins Detail. So entspricht die radikale via negativa des absoluten Einen in der ersten Hypothesis mit der Negation aller grundlegenden Prädikate völlig der Auffassung Speusipps von der absoluten Transzendenz und begrifflichen Negativität des Einen selbst. Ferner wird das Prinzip der Vielheit erst auf der Stufe des seienden Einen in der zweiten Hypothesis angesetzt, wo es dem Moment des Einen innerhalb des seienden Einen entgegengesetzt wird (so vor allem 142 E 1 ff zu 143 A 6 ff; 150 C 6 ff zu E 2 ff). Der Prinzipiengegensatz erscheint somit als dem seienden zweiten Einen immanent, bleibt also dem überseienden Einen selbst untergeordnet. Auch erscheint das zweite Prinzip im Parmenides in Übereinstimmung mit der Terminologie Speusipps als πλῆθος ἄπειρον (143 A 2, 144 A 6, E 4 f, 158 B 6, C 6 f, vgl. D 6), auch wenn sein spezifisch Platonischer Charakter als ἀόριστος δυάς und als μέγα-μικρόν unverkennbar hervortritt.83 Weiter erscheint in der zweiten Hypothesis das seiende Eine als Prinzip der Zahlen (143 D ff) – und kann insofern mit der Monade Speusipps gleichgesetzt werden – sowie auf weiter abgeleiteter Stufe als Prinzip der reinen geometrischen Raumformen (145 B, vgl. 148 D ff.), die Speusipp als eigene Seinsstufe von den Zahlen unterschied, Platon jedoch nicht.84 Das seiende und nichtseiende Eine der dritten Hypothesis endlich entspricht mit seiner inneren Bewegtheit im Übergang zwischen Sein und Nicht­sein und seiner Konstitution der Zeit, der es im ἐξαίφνης zugleich enthoben ist, vollkommen der Seele als Prinzip der Bewegung und Vermittlungsinstanz zwischen dem wahrhaft Seienden und dem Werdenden als dem Nichtseienden, die im noetischen Denken mit dem Ewigen und Überzeitlichen verbunden ist und sich im dianoetischen Denken selbst verzeitlicht; diese Konzeption der Seele findet sich übereinstimmend bei Platon, Speu-

81 So auch Harold Tarrant, „Speusippus’ ontological classification“, in: Phronesis 19 (1974), 130–145 (= Speusippus’ ontological classification), bes. 131, 138 ff. 82 Krämer, „Aristo­teles und die akademische Eidoslehre“, 161–187. 83 Vgl. Anm. 28. 84 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1028 b 19–23.

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sipp und Xenokrates.85 Darüber hin­aus ist aber sogar Speusipps geometrische Wesensbestimmung der Weltseele als „Idee des überallhin Ausgedehnten“ (ἰδέα τοῦ πάντῃ διαστατοῦ), also als Inbegriff aller geometrischen Figuren, im Parmenides schon vorgeprägt, wo dem seienden Einen geradlinige, kreisförmige und aus beidem gemischte Gestalt zugeschrieben wird (145 B 3 ff); dem seienden Einen kommen weiterhin Ruhe und Bewegung zu (145 E – 146 A) und es wird angedeutet, daß die Synthesis von Ruhe und Bewegung die um eine ruhende Mitte rotierende Kreisbewegung ist (138 C 4 ff, vgl. Politeia 436 D), die für Xenokrates und wohl auch für Speusipp das Einheitsprinzip des Seelischen war.86 Speusipp konnte somit seine beiden höchsten Prinzipien, das absolut Eine und die unbegrenzte Vielheit, sowie die regionalen Einheitsprinzipien des arithmetischen, des geometrischen und des seelischen Bereichs im Parmenides wiederfinden. Wir besitzen darüber hin­aus zwei Speusipp-Fragmente, die sich direkt auf die ersten beiden Hypothesen zu beziehen scheinen. Proklos zitiert in seinem Parmenideskommentar Speusipp als Zeugen für die Platonizität der Theorie des überseienden Einen, die Proklos in der ersten Hypothesis dargelegt findet. Das wörtliche Zitat lautet: Sie glauben nämlich, das Eine selbst sei über das Sein erhaben und Vonwoher des Seins, und sie haben Es sogar von der Verhältnisbestimmung als Ursprung befreit. Weil sie aber meinen, daß nichts von den anderen Dingen entstünde, wenn man das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestimmungen, an ihm selbst zugrunde legt, 85  Die Seelendefinitionen Speusipps („Idee des überallhin Ausgedehnten“, Fr. 96–97 Isnardi Parente) und Xenokrates’ („sich selbst bewegende Zahl“, Fr. 60–65 Heinze) knüpfen beide an Platons Schilderung der Zusammensetzung der Weltseele im Timaios (34 B – 37 C) an und stimmen in der Sache wesentlich überein. Dazu Philip Merlan, „Beiträge zur Geschichte des antiken Platonismus II: Poseidonios über die Weltseele in Platons Timaios“, in: ders., Kleine philosophische Schriften, Hildesheim 1976, 70–87; ferner Gaiser, Platons Ungeschriebene ­Lehre, 41–66; Krämer, Die Ältere Akademie, 22 f und 45 f. 86 Vgl. Xenokrates, Fr. 9 Heinze. – Xenokrates und Speusipp haben die kreisförmige Bewegung als Einheitsprinzip des Seelischen vermutlich wie Platon (Timaios 34 A, 37 A–C, 40 AB, 47 B, 77 BC, 90 CD; vgl. Nomoi 898 AB; Politikos 269 C ff; Aristo­teles, De anima 404 b 26 – 407 b 12, bes. 407 a 19 ff) mit der in sich zurückkehrenden νόησις verknüpft, die geradlinige Bewegung als Materialprinzip des Seelischen dagegen mit der aus sich herausgehenden αἴσθησις (so Platon, Timaios 45 C für das Sehen, Xenokrates, Fr. 9 für das Hören); die aus beidem gemischte Bewegung und Gestalt dürfte dann mit der systematisch zwischen νόησις und αἴσθησις stehenden διάνοια oder ἐπιστήμη verknüpft gewesen sein. Wenn der Seele als der ἰδέα τοῦ πάντῃ διαστατοῦ für Speusipp kreisförmige, geradlinige und aus beidem gemischte Gestalt und Bewegung gleichzeitig zukommen, so ist sie damit nicht nur als Inbegriff des Geometrischen, sondern in eins auch als Inbegriff aller Erkenntnisvermögen charakterisiert. Vgl. dazu den Bericht des Aristo­teles über den prinzipientheoretischen Hintergrund der Seelenbildung im Timaios: De anima 404 b 16–27, bes. b 19 ff (= Test. Plat. 25 A); dort ist noch zwischen ἐπιστήμη und δόξα unterschieden (vgl. Platon 7. Brief 342 A 7 ff; Politeia 509 D 6 ff), wobei diese der αἴσθησις, jene dem νοῦς nähersteht. Die vier Erkenntnisvermögen werden Test. Plat. 25 A mit der Dimensionenfolge (die vier ersten Ideenzahlen als Prinzipien für reine, lineare, flächenhafte, körperhafte Zahl) verknüpft, so daß die Seele als Einheit aller Dimensionen „Idee des allseits Ausgedehnten“ ist.

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ohne ihm irgendein zweites Element (Prinzip) hinzuzusetzen, darum haben sie die unbestimmte Zweiheit als Ursprung der Seienden eingeführt.87

Nach Angabe des Proklos hat Speusipp dies als „die L ­ ehre der Alten über das ­ ehre vom überseienden EiEine“ ausgegeben:88 Speusipp hat also offenbar die L nen und der unbegrenzten Zweiheit den Pythagoreern zugeschrieben,89 wie dies auch Eudoros und Moderatos tun. Tatsächlich handelt es sich jedoch um die innerakademische Prinzipientheorie Platons, die hier auf die Pythagoreer zurückprojiziert wird. Die These von der Seins­transzen­denz des reinen Einen selbst ist nämlich spezifisch Platonisch und wurde innerhalb der Akademie auch von Speusipp und möglicherweise von weiteren Platon-Schülern vertreten;90 sie setzt die Auflösung der eleatischen Gleichsetzung des Einen mit dem Sein vor­aus,91 während für die vorplatonischen Pythagoreer das Eine nicht nur nicht „jenseits des Seins“ stand, sondern nicht einmal das höchste Prinzip war.92 Spezifisch Platonisch ist weiterhin die unbestimmte Zweiheit als Entfaltungsbasis des Einen und Prinzip der Vielheit des Seienden; Aristo­teles grenzt sie als ein ἴδιον Platons eigens von dem ἄπειρον der Pythagoreer, aber auch von dem allgemeiner gehaltenen πλῆθος Speusipps ab.93 Speusipp referiert in dem zitier87 Proklos,

In Parm. VII 40, 1–5 (= Speusipp, Fr. 62 Isnardi Parente = Test. Plat. 50 Gaiser): „Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens, et ab ea que secundum principium habitudine ipsum liberaverunt. Existimantes autem quod, si quis le unum ipsum seorsum et solum meditatum, sine aliis, secundem se ipsum ponat, nullum alterum elementum ipsi apponens, nichil utique fiet aliorum, interminabilem dualitatem entium principium induxerunt.“ (Vgl. auch die Rekonstruktion des griechischen Originals von Friedrich Rumbach bei Steel, 501, 4–9 = Procli in Platonis Parmenidem Commentaria III, 289–291). Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282 ff. 88 Proklos, In Parm. VII 40, 6 f: „Quare testatur et iste hanc esse antiquorum opinionem de uno, quod ultra ens sursum raptum est et quod post unum interminabilis dualitas“. Vgl. ebd. 38, 33: „Speusippus narrans tamquam placentia antiquis“. 89 So Burkert, Weisheit und Wissenschaft, 56 f; auch Gaiser, Platons Ungeschriebene ­Lehre, 475, 530; Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 54. Zur Zuschreibung genuin Platonischer ­Lehren an die Pythagoreer durch die Platonschüler (außer Aristo­teles) vgl. Burkert a.a.O., 55 ff, Krämer a.a.O., 53 ff. 90 Platon, Politeia 509 B 9 f; Parmenides 141 E 7–12; Speusipp, Fr. 72 und 57 Isnardi Parente, auch Fr. 48 (das Eine über allen Stufen der οὐσία); Aristo­teles, Περὶ εὐχῆς Fr. 1 Ross: ὁ θεὸς ἢ νοῦς ἐστὶν ἢ καὶ ἐπέκεινά τι τοῦ νοῦ. Eudemische Ethik 1248 a 27–29: λόγου δ’ ἀρχὴ οὐ λόγος, ἀλλά τι κρεῖττον· τί οὖν ἂν κρεῖττον καὶ ἐπιστήμης καὶ νοῦ πλὴν θεός; Ob die beiden letzten Stellen die eigene Ansicht des Aristo­teles wiedergeben oder ausschließlich als Referat akademischer L ­ ehre zu verstehen sind, bleibt unsicher, ebenso, ob Xenokrates ein überseiendes Absolutes gelehrt hat. 91  Hierzu ist grundlegend Krämer, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“, 8 ff. ders., Arete bei Platon und Aristo­teles, 541 ff. 92  Nach Aristo­teles, Metaphysik 986 a 15 ff waren die höchsten Prinzipien der älteren Pythagoreer ἄρτιον und περιττόν (a 17 f), die der jüngeren πέρας und ἄπειρον (a 24); das ἕν erscheint bei beiden erst auf der dritten Stufe (a 19 f. 26). Zu diesen beiden pythagoreischen Prinzipienlehren Burkert, Weisheit und Wissenschaft, 30 ff, 45 ff. 93  Aristo­teles, Metaphysik 987 b 25–27, 1091 b 30–35 u.ö.

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ten Fragment also nicht die L ­ ehre der vorplatonischen Pythagoreer, aber auch ­ ehre Platons; so versteht es nicht seine eigene Theorie, sondern vielmehr die L übrigens auch Proklos.94 Speusipp grenzt dabei Platons Metaphysik des überseienden Einen vom eleatischen Monismus des All-Einen implizit ab:95 Platon hat das als reine oder absolute Einheit verstandene Eine selbst (le unum ipsum = τὸ ἓν αὐτό) in äußerster Transzendenz jenseits des Seins (melius ente = κρεῖτ­ τον τοῦ ὄντος)96 angesetzt, das Seiende selbst aber als Vielheit von Seiendem – als Pluralität von Ideen – konzipiert und darum neben dem Einen selbst ein Prinzip der Vielheit, die unbegrenzte Zweiheit, postuliert. Denn dem überseienden Einen muß in seiner reinen Transzendenz auch die Bestimmung als Prinzip abgesprochen werden (et ab ea que secundum principium habitudine ipsum liberaverunt = καὶ τῆς κατ’ ἀρχὴν σχέσεως αὐτὸ ἀπήλλαξαν), die es in ein Verhältnis zum Sein brächte, obwohl es Ursprung oder „Vonwoher“ des Seins ist (a quo le ens = ἀφ’ οὗ τὸ ὄν).97 Weil nun das Eine selbst in seiner absoluten Transzendenz vollkommen bestimmungslos ist, kann aus ihm allein auch nichts abgeleitet werden (nichil utique fiet aliorum = οὐδὲν ἂν γίγνοιτο τῶν ἄλλων). Darum ist die unbestimmte Zweiheit das Prinzip der Seienden (principium entium = ἀρχὴ τῶν ὄντων), welches die überseiende reine Einheit in die geeinte Vielheit des Seienden gleichsam entfaltet, indem es durch die Übermacht des Einen begrenzt und bestimmt wird.98 94 Proklos,

In Parm. VII 40, 6–9. Krämer, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“, 11 ff. 96  Dies nimmt die berühmte Transzendenzformel ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος (Politeia 509 Β 9 f) auf, ebenso die Paraphrase des Proklos (quod ultra ens = ὅτι ἐπέκεινα τοῦ ὄντος). 97 Vgl. die genau entsprechende ­Lehre Plotins, Enneade VI 8, 8, 9 ff: (τὸ ἕν ἐστιν) ἀρχή· καίτοι ἄλλον τρόπον οὐκ ἀρχή … δεῖ δὲ ὅλως πρὸς οὐδὲν αὐτὸν λέγειν· ἔστι γὰρ ὅπερ ἐστὶ καὶ πρὸ αὐτῶν (sc. τῶν ἄλλων πάντων)· ἐπεὶ καὶ τὸ „ἔστιν“ ἀφαιροῦμεν, ὥστε καὶ τὸ πρὸς τὰ ὄντα ὁπωσοῦν. – „Das Eine ist Ursprung und doch auf andere Weise wiederum nicht Ursprung … man darf Jenen überhaupt nicht als zu irgendetwas in Beziehung stehend ansprechen, denn Er ist absolut, was Er ist, und vor und über allem anderen, wir nehmen ja selbst das ‚Ist’ von Ihm weg und folglich auch jede Beziehung zu dem Seienden.“ VI 9, 3, 49 ff: ἐπεὶ καὶ τὸ αἴτιον λέγειν οὐ κατηγο­ ρεῖν ἐστι συμβεβηκός τι αὐτῷ, ἀλλ’ ἡμῖν, ὅτι ἔχομέν τι παρ’ αὐτοῦ ἐκείνου ὄντος ἐν αὐτῷ … – „Denn auch wenn wir das Eine den Grund nennen, sagen wir damit nicht etwas Ihm, sondern etwas uns Zukommendes aus, daß wir nämlich etwas von Jenem her haben, während Jenes selbst in sich bleibt …“ Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 106–130. – Das Eine ist Ursprung oder „Vonwoher“ des Seins nur von diesem her, aber nicht an sich selbst; dies folgt notwendig aus seiner Seins­transzen­denz. Es ist darum völlig unbegründet, wenn Leonardo Tarán, Speusippus of Athens, Leiden 1981, 352 ff in der Negation des Prinzipcharakters des Einen einen inneren Widerspruch vermutet und anschließend die Echtheit des Fragments in Zweifel zieht. Speusipp bzw. Platon vertritt vielmehr die gleiche L ­ ehre wie Plotin: Nicht das Absolute steht in Relation zum Seienden, sondern dieses konstituiert sich in einseitiger Beziehung zum relationslosen Absoluten. Zur Relationslosigkeit des Einen bei Platon vgl. Parmenides 139 B 4 – E 6 und dazu Halfwassen a.a.O., 336–352.  98 Vgl. Platon, Parmenides 157 E – 158 D und dazu die Referate aus Περὶ τἀγαθοῦ, z.B. Aristo­teles, Metaphysik 989 b 18, 1081 a 25, 1083 b 23 f, 1091 a 25; Alexander, In Metaph. 56, 95 Vgl.

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Dieses Referat Speusipps stimmt nun in allen Einzelheiten vollkommen mit dem Inhalt der ersten beiden Hypothesen des Parmenides überein: die erste nämlich „legt das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne alle weiteren Bestimmungen, an ihm selbst zugrunde, ohne ihm irgendein zweites Element hinzuzufügen“, also auch nicht das Sein. Wenn das Eine selbst allein in sich selbst betrachtet wird, ist es nichts als das Eine; jede weitere Bestimmung würde es in die Vielheit hineinziehen,99 da sie immer schon die Zweiheit von Bestimmtem und Bestimmendem bzw. Bestimmung enthält. Das Eine selbst ist somit jenseits von allem, so daß ihm weder irgendetwas zukommt noch irgendetwas von ihm abgeleitet werden kann;100 da es als das Absolute aus allem herausgenommen ist, steht es an ihm selbst auch nicht als Prinzip in Beziehung zu Anderem. Vom Übersein des Einen zum Sein, von der reinen Einheit zur Vielheit führt kein Weg zurück. Darum setzt die zweite Hypothesis neu ein, indem sie dem Einen ein zweites Element hinzufügt, das als solches nicht in ihm enthalten ist: das Sein. Wenn das Eine ist, dann müssen innerhalb dieses seienden Einen das Eine und das Sein unterschieden werden (142 D 1 ff), das Sein als das Bestimmte, das Eine als das Bestimmende oder als Bestimmung des Seins; zusammen machen sie die Momente des seienden Einen als eines Ganzen aus (142 D 4 f). Diese beiden Elemente des seienden Einen sind zwar unterscheidbar, können aber nicht voneinander getrennt werden: denn das Sein ist nur, wenn es zugleich Eines ist, und das Eine ist nur positiv Eines, wenn es zugleich ist. Die beiden Elemente des seienden Einen, Einheit und Sein, implizieren einander in notwendiger Komplementarität wechselseitig, so daß die Zweiteilung in den beiden Richtungen des Seins und der Einheit unendlich iterierbar ist (142 E 1 ff); darin aber bekundet sich die ἀόριστος δυάς, welche das seiende Eine in eine unbegrenzte Vielheit von seienden Einheiten, d.h. von Ideen101 artikuliert (143 A 2) und dadurch die überseiende Überfülle des absoluten Einen ontologisch fruchtbar werden läßt: Wie die Parallelstelle aus der vierten Hypothesis beweist, hat sowohl das ursprüngliche Ganze des seienden Einen als auch jede einzelne der durch Zweiteilung aus ihm entstehenden seienden Einheiten – also sowohl der Ideenkosmos in seiner Ganzheit als auch jede einzelne Idee – allererst durch die Teilhabe an dem überseienden Einen selbst Einheitscharakter und Fürsichsein (157 C 1 – 158 B 1). Innerhalb der Bestimmungs-Zweiheit des seien19 f. 26 ff; Simplikios, In Phys. 454, 14 (Porphyrios) und 455, 6 f (Alexander); Sextus Empiricus, Adv. Math. X 277. Vgl. auch Speusipp bei Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 17 f; ferner Xenokrates, Fr. 68 Heinze.  99 Platon, Parmenides 140 A 1–3: ἀλλὰ μὴν εἴ τι πέπονθε χωρὶς τοῦ ἓν εἶναι τὸ ἕν, πλείω ἂν εἶναι πεπόνθοι ἢ ἕν, τοῦτο δὲ ἀδύνατον. 100 Vgl. Platon, Parmenides 142 A 2: τούτῳ τῷ μὴ ὄντι sc. τῷ ἑνὶ εἴη ἄν τι ἢ αὐτῷ ἢ αὐτοῦ; Hierzu Wundt, Platons Parmenides, 30: „… jedenfalls wird mit dem Dativ und Genitiv jede Art der Beziehung und also Bestimmung geleugnet.“ 101  Daß die Ideen seiende Einheiten sind, ergibt sich z.B. aus Philebos 15 AB, 16 DE; ferner Parmenides 132 C 4, 133 B 1, 135 C 9 sowie Politeia 476 A, 479 A, 507 B, 596 A.

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den Einen ist nun das Eine das bestimmende und begrenzende und das Sein das bestimmte, also von sich her unbegrenzte Element; deshalb erscheint das Sein in der zweiten Hypothesis als das die ursprüngliche Einheit des ἓν ὄν in die Vielheit der Ideen zerteilende und artikulierende Prinzip (spez. 144 E),102 was mit der ἀόριστος δυάς als ἀρχὴ τῶν ὄντων bei Speusipp ebenso übereinstimmt wie mit den Angaben über die „entzweiende“ (δυοποιός) Wirksamkeit der unbegrenzten Zweiheit bei Aristo­teles und Alexander von Aphrodisias.103 Aus dem Zusammenwirken der entzweienden Zweiheit mit dem einenden und begrenzenden Einen im seienden Einen entwickelt die zweite Hypothesis dann sämtliche Grundbestimmungen des Seienden, welche auch in den Aristotelischen Berichten über Platon und die Akademie als die μέγιστα γένη des Ideenreiches und ersten Derivate der beiden Prinzipien erscheinen und welche die erste Hypothesis dem Einen selbst in seiner Absolutheit abgesprochen hatte. Diese Übereinstimmungen beweisen zunächst, daß den ersten beiden Hypothesen des Parmenides und dem Referat Speusipps über Platons Prinzipienlehre dieselbe Metaphysik des überseienden Einen und der Ableitung der Vielheit des Seienden aus ihm mit Hilfe der unbestimmten Zweiheit zugrunde liegt; sie lassen es darüber hin­aus als sehr plausibel erscheinen, daß sich Speusipp in seinem Referat eben auf den Parmenides bezieht.104 Speusipp deutet dann die Negatio102 Vgl. Platon, Parmenides 144 E 3–5: τὸ ἓν ἄρα αὐτὸ κεχερματισμένον ὑπὸ τῆς οὐσίας πολλά τε καὶ ἄπειρα τὸ πλῆθός ἐστιν. Ε 6–7: αὐτὸ τὸ ἓν ὑπὸ τοῦ ὄντος διανενημένον πολλὰ ἀνάγκη εἶναι. – Dagegen ist das Moment des Einen innerhalb des seienden Einen für sich genommen einfache Einheit: Parmenides 143 A 6–9: τί δέ; αὐτὸ τὸ ἕν, ὃ δή φαμεν οὐσίας μετέχειν, ἐὰν αὐτὸ τῇ διανοίᾳ μόνον καθ’ αὐτὸ λάβωμεν ἄνευ τούτου οὗ φαμεν μετέχειν, ἆρά γε ἓν μόνον φανήσεται ἢ καὶ πολλὰ τὸ αὐτὸ τοῦτο; – ἕν, οἶμαι ἔγωγε. – „Wie aber: wenn wir das Eine selbst, von dem wir sagen, daß es am Sein teilhat, mit dem Denken als solches allein für sich selbst nehmen, ohne das, woran es, wie wir sagen, teilhat, wird dieses sich dann als reine Einheit zeigen oder auch als Vieles? – Als reine Einheit, glaube ich jedenfalls.“ 103 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1082 a 13–15: ἡ γὰρ ἀόριστος δυάς, ὥς φασι, λαβοῦσα τὴν ὡρισμένην δυάδα δύο δυάδας ἐποίησεν· τοῦ γὰρ ληφθέντος ἦν δυοποιός. Dies entspricht exakt der Selbstdiremption des seienden Einen Parmenides 142 E 3 ff: πάλιν ἄρα καὶ τῶν μορίων ἑκάτερον τό τε ἓν ἴσχει καὶ τὸ ὄν, καὶ γίγνεται τὸ ἐλάχιστον ἐκ δυοῖν αὖ μορίοιν τὸ μόριον, καὶ κατὰ τὸν αὐτὸν λόγον οὕτως ἀεί, ὅτιπερ ἂν μόριον γένηται, τούτω τὼ μορίω ἀεὶ ἴσχει· τό τε γὰρ ἓν τὸ ὂν ἀεὶ ἴσχει καὶ τὸ ὂν τὸ ἕν· ὥστε ἀνάγκη δύ’ ἀεὶ γιγνόμενον μηδέποτε ἓν εἶναι. – „Also enthält wiederum jeder der Teile das Eine und das Sein in sich und so entsteht auch der Teil mindestens aus diesen beiden Teilen (sc. dem Einen und dem Sein); und im gleichen Verhältnis hat wiederum jeder Teil, welcher auch immer entsteht, immer auch selber diese beiden Teile in sich: denn das Eine enthält immer das Sein und das Sein das Eine; und so wird es notwendig immer Zweiheit werden und niemals Einheit sein.“ Vgl. auch Alexander, In Metaph. 57, 4 Hayduck; ähnlich ferner Sextus Empiricus, Adv. Math. X 276–277. 104  So auch Margherita Isnardi Parente, „Speusippo in Proclo“, in: Elenchos 5 (1984), 293– 310 (= Speusippo in Proclo), spez. 307 ff, 309 f und Werner Beierwaltes, Art. „Hen“, in: RAC Bd. XIV (1987), 450 f; John M. Dillon, Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides. Translated by Glenn R. Morrow and John M. Dillon, Princeton 1987 (= Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides), 485 f hält es für möglich, aber nicht für zwingend, daß sich Speusipp in Test. Plat. 50 auf den Parmenides bezieht; vgl. auch Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 285 ff.

XI. Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons Parmenides

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nen der ersten Hypothesis als Explikation der absoluten Transzendenz des Einen selbst über alle seine Prinzipiate, also als negative Theologie. Daß dem Einen selbst die Charaktere seiner Prinzipiate zufolge seiner absoluten Einfachheit, die nach der ersten Hypothese alle Bestimmungen von ihm ausschließt, abgesprochen werden müssen, ist auch Speusipps eigene ­Lehre; er konzipierte das Absolute genau wie Plotin als das Nichts seiner Prinzipiate.105 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, daß Speusipp nach einem neu aufgefundenen Fragment das Eine selbst als unendlich im Sinne der Transzendenz über jede Grenze konzipiert hat.106 Seine Begründung dafür lautet, das Eine sei unmeßbar und unbestimmbar für alles ihm Nachgeordnete und es liege als begrenzendes Prinzip von allem (πέρας τῶν ὅλων) selbst über jede bestimmende Grenze hin­aus; dies letztere entspricht der Begründung für die Unendlichkeit des Einen in der ersten Hypothesis (137 D 4–8). Nach Speusipp hat Platon ferner die unbestimmte Zweiheit erst nach dem überseienden Einen auf der Stufe des Seienden angesetzt.107 Wenn Speusipp sich dabei auf die zweite Hypothesis bezieht, muß er die unbestimmte Zweiheit dem Einheitsmoment innerhalb des seienden Einen entgegengesetzt haben, was Proklos auch anzudeuten scheint, so daß das Eine selbst in seiner Transzendenz über den Prinzipiengegensatz erhaben bleibt. Dies würde der monistischen Tendenz in Speusipps eigener Prinzipienlehre entsprechen, die πλῆθος und μονάς Schon Walter Burkert verwies für die Seins­transzen­denz des Einen in dem Fragment auf Politeia 509 B und den Parmenides (Weisheit und Wissenschaft, 56 Anm. 64). 105 Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente (= Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 7–10 – Text in Anm. 70). Vgl. Plotin, Enneade III 8, 10, 28–31: (τὸ ἁπλῶς ἕν) ἐστι μὲν τὸ μηδὲν τούτων ὧν ἐστιν ἀρχή, τοιοῦτο μέντοι, οἷον, μηδενὸς αὐτοῦ κατηγορεῖσθαι δυναμένου, μὴ ὄντος, μὴ οὐσίας, μὴ ζωῆς, τὸ ὑπὲρ πάντα αὐτῶν (Corr. cod. A: ταῦτα) εἶναι. VI 9, 3, 39 f: γεννητικὴ γὰρ ἡ τοῦ ἑνὸς φύσις οὖσα τῶν πάντων οὐδέν ἐστιν αὐτῶν. VI 9, 6, 55; V 1, 7, 18 ff; V 2, 1, 1 ff u.ö. Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 12 f, 58 ff, 89–97, 118 ff, 151 ff, 175 ff. 106  Speusipp bei Proklos, In Parm. 1118, 10–19 und dazu unten Kapitel XII. – Proklos referiert dies als Auslegung zu Platon, Parmenides 137 D 4–8 (vgl. D 7 f: ἄπειρον ἄρα τὸ ἕν, εἰ μήτε ἀρχὴν μήτε τελευτὴν ἔχει). Da Speusipp dem Einen in seiner Absolutheit die Verhältnisbestimmung als Prinzip abspricht, ist dementsprechend wohl auch die bedeutungsgleiche Kennzeichnung als πέρας τῶν ὅλων als uneigentliche Bestimmung zu verstehen, die nur das Verhältnis der Prinzipiate zum Einen ausdrückt. 107 Vgl. Proklos, In Parm. VII 40, 6 f: „Quare testatur et iste (sc. Speusippus) hanc esse antiquorum opinionem de uno, quod ultra ens sursum raptum est et quod post unum inter­ ehre der Alten über das minabilis dualitas.“ – „Darum bezeugt auch Speusipp, daß dies die L Eine ist, daß Es über das Sein hin­aus entrückt ist und daß nach dem Einen die unbestimmte Zweiheit kommt.“ Proklos fährt dann fort: „Et hic (= Parmenides 141 E) igitur Plato hoc ostendit le unum ultra le ens et ultra id quod in ipso unum et ultra totum unum ens. Primum enim aliquid et le unum ens dicet per secundam hypothesim, ex dissimilibus ens, per unum et ens; ultra quod ait esse le autounum.“ (40, 7–11) – „Und hier beweist Platon eben dies, daß das Eine selbst jenseits des Seins und jenseits des Einen im Sein und jenseits des gesamten seienden Einen ist. Denn in der zweiten Hypothese sagt er als Erstes, das seiende Eine sei etwas Bestimmtes, das aus Verschiedenem besteht, nämlich dem Einen und dem Sein; das Eine selbst sei das Jenseits dessen.“

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

(= ἓν ὄν) einander als gleichursprünglich zuordnet, aber nicht πλῆθος und τὸ ἓν αὐτό. Im Parmenides zeigen die fünfte und die neunte Hypothesis, daß die Vielheit rein als solche, getrennt von dem Einen, ins Nichts verschwindet, daß sie also selbst Einheitscharakter haben muß, um als Prinzip konzipiert werden zu können.108 Während das Eine selbst in seiner Absolutheit frei von jeder Vielheit sein muß, wie Speusipp wohl mit Blick auf die erste Hypothesis hervorhebt, ist die Vielheit entweder selbst Einheit oder sie ist gar nichts (vgl. 166 C 1: ἓν εἰ μὴ ἔστιν, οὐδέν ἐστιν).109 Von hier aus ist es dann nur noch ein Schritt bis zu der Erklärung, auch das Vielheitsprinzip selbst sei qua Einheit aus dem absoluten Einen hervorgegangen; ob Eudoros der erste war, der diesen historisch folgenreichen Schritt tat, wissen wir nicht – es spricht manches dafür, ihn schon Speusipp oder Platon selber zuzutrauen.110 Speusipp hat also, wie es scheint, Platons innerakademische Prinzipienlehre im zweiten Teil des Parmenides dargelegt gefunden; offenbar deutete er die erste Hypothesis als negative Theologie des überseienden und übergegensätzlichen Absoluten und die zweite Hypothesis, wohl einschließlich ihres Korollars (= der dritten Hypothese), als Ableitung der nach Gegensatzpaaren geordneten und hierarchisch gestuften Vielheit des Seienden aus einer dem Absoluten nachgeordneten Prinzipien-Zweiheit. Diese in ihrer Tendenz monistische Prinzipienlehre war für Speusipp die „­Lehre der Alten“, der Pythagoreer, d.h. wohl die Wiederherstellung der ursprünglichen Weisheit, die nach Platon ein „Geschenk der Götter an die Menschen“ war, und zwar an die „Alten, die besser waren als wir und den Göttern näherwohnten“ (Philebos 16 C).111 Speusipp unterschied darum – anders als Aristo­teles – nicht zwischen Platonischer und pythagoreischer Philosophie. Dies ist der Grund, warum der Inhalt des metaphysisch gedeuteten Parmenides bei Eudoros, Moderatos und Ps.-Brotinos als ­Lehre der Pythagoreer erscheint.

108 Vgl. Parmenides 159 B 4 – 160 B 2, 165 E 2 – 166 C 2. Dem korrespondieren die oben in Anm. 38 zusammengestellten Belege für den Einheitscharakter des Vielheitsprinzips bei Platon. 109 Vgl. Parmenides 165 E 4 ff: οὐκοῦν ἓν μὲν οὐκ ἔσται τἆλλα … οὐδὲ μὴν πολλά γε· ἐν γὰρ πολλοῖς οὖσιν ἐνείη ἂν καὶ ἕν. εἰ γὰρ μηδὲν αὐτῶν ἐστιν ἕν, ἅπαντα οὐδέν ἐστιν … 110  Dazu oben Kapitel VIII. 111  Platon bezieht dies ausdrücklich auf die ­Lehre von ἕν und πολλά, πέρας und ἄπειρον (16 C 9 f); im Folgenden deutet er die Ideenzahlenlehre an (16 D – 17 A). Zur pythagoreischen Selbststilisierung der Alten Akademie und ihren Motiven siehe Burkert, Weisheit und Wissenschaft, 55 ff, 73 ff; zu ihren Anfängen bei Platon selbst 76 ff. – Im Hintergrund steht die Geschichtsphilosophie Platons mit ihrer Annahme einer urzeitlichen Offenbarkeit der Wahrheit, der eine im Geschichtsverlauf zunehmende Entfremdungs- und Vergessenstendenz gegenübersteht; hierzu Gaiser, Platons Ungeschriebene ­Lehre, 205–289, bes. 224 ff zur geschichtlichen Selbsteinordnung der Platonischen Philosophie; auch ders., Platon und die Geschichte, Stuttgart 1961.

XI. Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons Parmenides

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Speusipp ist somit allem Anschein nach die Quelle, auf welche die neupythagoreische und damit indirekt auch die neuplatonische Deutung des Parmenides zurückzuführen ist.112 Dies bedeutet, daß die einheitsmetaphysische Interpretation dieses Dialogs, die seit Plotin einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf die weitere Geschichte der Metaphysik hatte, auf die Schule Platons zurückgeht und somit den höchsten Grad an Authentizität besitzt. Sie ist gerade keine späte und primär von den eigenen systematischen Interessen der Neuplatoniker bestimmte Umdeutung, sondern die älteste und durch die innerakademische ­Lehre Platons legitimierte Parmenides-Interpretation. Wir haben keinen Grund, Speusipp irgendwelcher willkürlicher Umdeutungen zu verdächtigen; sein Referat ist vielmehr auch in dem Punkt zuverlässig, in dem Platons Prinzipienlehre von Speusipps eigener abweicht, nämlich in der Fassung des zweiten Prinzips als ἀόριστος δυάς. Speusipps Zeugnis ist darum für das historisch und sachlich angemessene Verständnis des schwierigsten Platonischen Dialogs ausschlaggebend.

112 

Seit der Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes 1993 hat sich John Dillon meiner These angeschlossen, daß die metaphysische Deutung des Parmenides auf Speusipp zurückgeht und wir seine Deutung in Test. Plat. 50 vorliegen haben, und sie in mehreren Publikationen mit einer Reihe von weiteren Argumenten untermauert: „Plotinus, Speusippus and the Platonic Parmenides“; Heirs of Plato, 57 ff; „Speusippus and the Ontological Interpretation of the Parmenides“; „Reconstructing the Philosophy of Speusippus“. In den beiden zuletzt genannten Aufsätzen verteidigt Dillon auch die Echtheit des Speusipp-Fragments gegen Carlos Steels These, daß es sich um eine neupythagoreische Fälschung handelt, vgl. oben Kapitel X Anm. 106.

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XII.

Speusipp und die Unendlichkeit des Einen 1. Speusipp und die Metaphysik des Einen Speusipp, Platons Neffe und Nachfolger als Haupt der Akademie, war der reinste und konsequenteste Vertreter der mathematisierenden Elementenmetaphysik innerhalb der Alten Akademie;1 er war ferner derjenige Platonschüler, der Platons ­Lehre vom überseienden und über alle Bestimmungen hin­ausliegenden Einen selbst am treuesten bewahrt hat und als ihr Vermittler an Neupythagoreismus und Neuplatonismus sehr wichtig war. 2 Speusipps historische und philosophische Bedeutung ist erst von der Forschung der letzten Jahrzehnte erkannt worden,3 nachdem sein Denken unter 1  Die

maßgebende Gesamtdarstellung Speusipps ist: Krämer, Die Ältere Akademie, § 2: „Speusipp“, 13–31 (mit umfassender Bibliographie 138–142); weitere neue Gesamtdarstellungen: Metry, Speusippos; Dillon, The Heirs of Plato, 30–88; vgl. auch ders., „Reconstructing the Philosophy of Speusippus“. – Kommentierte Ausgaben der Fragmente und Testimonien: Paul Lang, De Speusippi Academici scriptis. Accedunt fragmenta, Bonn 1911, ND Hildesheim 1965 (= De Speusippi Academici scriptis); Speusippo, Frammenti. Edizione, traduzione e commento a cura di Margherita Isnardi Parente, Napoli 1980 (= Speusippo, Frammenti); Leonardo Tarán, Speusippus of Athens. A critical study with a collection of the related texts and commentary, Leiden 1981 (= Speusippus of Athens). 2  Dazu: Dodds, „The Parmenides of Plato“; Merlan, From Platonism to Neoplatonism; Burkert, Weisheit und Wissenschaft – erweiterte englische Ausgabe: Lore and Science in ancient Pythagoreanism, Cambridge Mass. 1972; Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik; Dillon, The Middle Platonists; Halfwassen, Aufstieg zum Einen. 3  Grundlegend ist Merlan, From Platonism to Neoplatonism. – Weitere wichtige Arbeiten: Zeller, Die Philosophie der Griechen, II. Teil, 1. Abt.: Sokrates und die Sokratiker. Plato und die alte Akademie, 982–1010; Ernst Hambruch, Logische Regeln der Platonischen Schule in der Aristotelischen Topik, Berlin 1904, ND New York 1976; Julius Stenzel, Art. „Speusippos“, in: RE, Zweite Reihe 6/III2 (1929), 1636–1669; Philip Merlan, „Beiträge zur Geschichte des antiken Platonismus I: Zur Erklärung der dem Aristo­teles zugeschriebenen Kategorienschrift, II: Poseidonios über die Weltseele in Platons Timaios“, in: Philologus 89 (1934), 35–53 und 197–214 – auch in: ders., Kleine philosophische Schriften, Hildesheim 1976, 51–69, 70–87; Harold Cherniss, The Riddle of the Early Academy, Berkeley 1945, ND New York 1962, spez. 31–59; ders., Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy, Baltimore 1944, ND New York 1964, spez. 1–82; Domenico Pesce, Idea, numero e anima. Primi contributi a una storia del Platonismo nell’antichità, Padova 1961 (= Idea, numero e anima), spez. 55–59; Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, spez. 207–214 und 351–361; ders., „Grundbegriffe akademischer Dialektik in den biologischen Schriften von Aristo­teles und Theophrast“, in: Rheinisches Museum 111 (1968), 293–333 – jetzt in: ders., Gesammelte Aufsätze zu Platon, 292–327; ders., „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“; ders., Platonismus und hellenistische Philo-

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

dem Eindruck der äußerst polemischen Berichterstattung des Aristo­teles lange Zeit als abstrus gegolten hatte. Die Aristotelischen Berichte waren zudem bis zur Erschließung des großen Speusipp-Fragments bei Jamblich, De communi mathematica scientia, cap. IV (p. 15, 6–18, 12 Festa) durch Philip Merlan (1953)4 die einzige Quelle, die einen Überblick über Speusipps System im ganzen ermöglichte. Seither hat die Erschließung von Zeugnissen bei Jamblich, Proklos und Porphyrios unsere Kenntnis der Philosophie Speusipps wesentlich erweitert und in wichtigen Punkten erstmals eine Kontrolle der kritischen Berichte bei Aristo­teles, Theophrast und den Aristo­teles-Kommentatoren ermöglicht, die uns vieles besser verstehen läßt.5 Ferner haben die Arbeiten von Ernst Hambruch, Eric Robertson Dodds, Julius Stenzel, Harold Cherniss, Cornelia de Vogel, Domenico Pesce, Walter Burkert, Heinz Happ, Harold Tarrant, Alain Metry, vor allem aber von Philip Merlan, Hans Joachim Krämer und John Dillon Rang und Wirkungsmacht des Speusippeischen Denkens deutlich werden lassophie, spez. 5–107 und 204–216; ders., „Aristo­teles und die akademische Eidoslehre“, spez. 161–187; Happ, Hyle, spez. 208–241; Tarrant, „Speusippus’ ontological classification“; W. K. C. Guthrie, A history of Greek Philosophy, Vol. V: The later Plato and the Academy, Cambridge 1978 (= History V), spez. 457–469; Hermann Schmitz, Die Ideenlehre des Aristo­teles, Bd. 1.2: Ontologie, Noologie, Theologie, Bonn 1985 (= Ideenlehre des Aristo­teles), 120–155; Richard M. Dancy, Two Studies in the Early Academy, Albany 1991, 63–119; Dillon, „Plotinus, Speusippus and the Platonic Parmenides“; ders., „Speusippus and the Ontological Interpretation of the Parmenides“; Lloyd P. Gerson, From Plato to Platonism, spez. 134–153. Siehe auch oben Kapitel VIII und XI. 4 Merlan, From Platonism to Neoplatonism, 86–118 (= 2. Aufl., 96–140): chap. V: Speusippus in Iamblichus. – Merlans Zuweisung von De comm. math. sc. IV ist von der Kritik weitgehend akzeptiert worden: vgl. Friedrich Wilhelm Kohnke, Gnomon 27 (1955), 160–161; Heinrich Dörrie, Philosophische Rundschau 3 (1955), 14 ff (= Platonica Minora, München 1976, 275 ff); Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, spez. 208–214 u.ö.; Happ, Hyle, 208– 241 und passim; Malcolm Schofield, Museum Helveticum 28 (1971), 14; Tarrant, „Speusippus’ ontological Classification“; Wolfgang Kullmann, Wissenschaft und Methode, Berlin 1974, 147 mit Anm. 37–38 und 150 mit Anm. 47–48; Guthrie, History V, 460 mit Anm. 3–5 und 462 mit Anm. 1–2. – Dagegen hat Tarán, Speusippus of Athens, 86–107 der Zuweisung von De comm. math. sc. IV an Speusipp widersprochen und behauptet, das Kapitel sei von einem Neupythagoreer verfaßt, während Isnardi Parente, Speusippo, Frammenti den Text als Fr. 72 und 88 in ihre Ausgabe aufnahm, ihn aber im Kommentar 297 ff, 325 ff wieder verdächtigte. Taráns Argumente für seine Zurückweisung von De comm. math. sc. IV als Text Speusipps wurden detailliert widerlegt von John M. Dillon, „Speusippus in Iamblichus“, in: Phronesis 29 (1984), 325–332 und von Schmitz, Ideenlehre des Aristo­teles, Bd. 1.2, 140–143. 5  Dazu Merlan, From Platonism to Neoplatonism, 86–118 (= 2. Aufl., 96–140); Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 351–369; ders., Die Ältere Akademie, 20–31. Zur Kon­ trollierbarkeit der Aristotelischen Berichte durch De comm. math. sc. IV Krämer ebd. 21: „Die Referate der aristotelischen Metaphysik werden … ergänzt durch das von Merlan … erschlossene anonyme Speusipp-Referat bei Jamblichus: De communi mathematica scientia liber c. IV …, das in die Argumentation Speusipps und in das Detail des metaphysischen Stufenbaus wesentlich genauere Einblicke bietet. Es kann zunehmend als erwiesen gelten, daß es sich dabei um eine von Aristo­teles unabhängige und in allem Wesentlichen authentische Überlieferung handelt.“

XII. Speusipp und die Unendlichkeit des Einen

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sen und seinen Ort innerhalb der Alten Akademie bestimmt. Krämer zufolge erwies sich dabei „Speusipp … neben Platon nicht nur als der konsequenteste, sondern auch als der originellste und folgenreichste ontologische Denker der Akademie“.6 Die altakademische Metaphysik, die von Platons innerakademischer Prinzipienlehre (περὶ τἀγαθοῦ) ausgeht und wesentlich von ihr bestimmt bleibt, ist von ihrer zentralen, das Ganze strukturierenden Problematik her als Metaphysik des Einen zu kennzeichnen.7 Das Eine (τὸ ἕν) ist dabei primär verstanden als das absolut Einfache (ἁπλοῦν), Unteilbare (ἀδιαίρετον) und Ununterschiedene (ἀδιάφορον),8 das aller Vielheit als ursprünglichstes Prinzip (ἀρχή) und Element (στοιχεῖον) vor­ausliegt und das darum absolut bestimmungslos ist, weil ihm keinerlei Vielheit von Bestimmungen zukommen kann und weil jede Bestimmung bereits Vielheit impliziert (vgl. Parmenides 137 C 4 – 142 A 8).9 Das Eine selbst ist darum nach den einander ergänzenden Zeugnissen des Sonnengleichnisses und der ersten Hypothesis des Parmenides „jenseits des Seins, es an Ursprünglichkeit und Mächtigkeit überragend“ (ἔτι ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος, Politeia 509 Β 9–10, vgl. dazu Parmenides 141 E 7–12) und „über Erkenntnis, Geist und Wahrheit erhaben“ (ὑπὲρ ταῦτα sc. ἐπιστήμη/ γνῶσις/νοῦς καὶ ἀλήθεια κάλλει ἐστίν, Politeia 509 Α 7, vgl. dazu Parmenides 142 Α 1–6).10 Platon wird damit zum Begründer der negativen Theologie, die für den gesamten späteren Platonismus charakteristisch ist. Sekundär ist das Eine aber zugleich das Umfassendste und Allgemeinste von allem, da es als der absolute und universale Ursprung (Politeia 510 B 7: ἀρχὴ ἀνυπόθετος; 511 Β 7: ἡ τοῦ παντὸς ἀρχή) die allgemeinsten Seins- und Denkbestimmungen (μέγιστα γένη, κοινὰ περὶ πάντων)11 begründet und entfaltet (vgl. Politeia 511 Β 7–11 zu Parme 6 Krämer,

„Aristo­teles und die akademische Eidoslehre“, 186. Dazu Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles; Gaiser, Platons Ungeschriebene ­Lehre; Wippern (Hg.), Das Problem der ungeschriebenen ­Lehre Platons; Halfwassen, Aufstieg zum Einen. Oben Kapitel VI und VIII.  8 Vgl. z.B. Platon, Parmenides 137 C 4 – D 3; 139 C 3 – 140 B 3; 159 C 5; Sophistes 245 A 5–9; ferner Aristo­teles, Metaphysik Δ 3, 1014 b 3 ff; Δ 6, 1016 b 23–24; I 1, 1052 b 31–35; Λ 7, 1072 a 32–34; Speusipp bei Jamblich, De comm. math. sc. IV (= Fr. 72 Isnardi Parente), 15, 7–8 mit 22: τὸ ἓν … διὰ τὸ ἁπλοῦν εἶναι … τὴν ἀδιάφορον καὶ ἄτμητον ἀρχήν.  9  Dazu ausführlich Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 265–405. 10  Zur Seins­t ranszen­denz des Agathon und zu seiner Gleichsetzung mit dem ἕν vgl. Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, bes. 541–551; ders., „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“. – Zur Erkenntnistranszendenz des ἀγαθόν = ἕν im Sonnengleichnis vgl. Cornelia J. de Vogel, „Encore une fois: Le Bien dans la Republique de Platon“, in: Zetesis. Festschrift Elisabeth de Strycker, Antwerpen 1973, 40–56. – Zu beidem Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 220–264. 11  τὰ μέγιστα γένη: Sophistes 254 CD, vgl. Politikos 285 Ε, 286 Ε; τὰ κοινὰ περὶ πάντων: Theai­tet 185 Ε. Dies sind die immer wiederkehrenden Bestimmungen: Einheit–Vielheit, Sein–Nicht­sein, Grenze–Unbegrenztheit, Ruhe–Bewegung, Identität–Andersheit, Ähnlichkeit–Unähnlichkeit, Gleichheit–Ungleichheit, wie sich z.B. aus Parmendies 129 D f; 136 A f; 145 E f; 146 A; 147 C; 149 D; 158 B f; 158 E ff; – Theaitet 185 C f; 186 A; – Sophistes 250 A ff; 254 D ff; – Politikos 285 E f, vgl. A; – Philebos 16 C; 19 B; – Tim. 35 A f ergibt. – Die gleichen  7 

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

nides 142 Β 1 – 157 Β 5); es ermöglicht noch die fundamentalsten logisch-ontologischen Gegensätze von Einheit und Vielheit, Sein und Nicht­sein, da „Vielheit“ und „Nicht­sein“ selber als einheitliche Bestimmungen gedacht werden müssen, sollen sie der Einheit und dem Sein entgegengesetzt werden.12 Einheit wird demgemäß von Platon zugleich als das Einfachste und das Allgemeinste, als ursprünglichstes στοιχεῖον und als umfassendstes γένος gedacht.13 Dem entspricht ein Methodenpluralismus im reduktiven Aufstieg zum Einen (ἀναγωγὴ εἰς ἕν):14 Neben die elementarisierende ἀνάλυσις alles Vielfältigen auf das absolut Einfache und Eine hin, das dabei via negationis von allem anderen „abgezogen“ wird (Politeia 534 Β 9: ἀπὸ τῶν ἄλλων πάντων ἀφελών zu Parmenides 137 C 4 – 141 E 12),15 tritt die generalisierende σύνοψις der obersten und allgemeinsten Seinsbestimmungen auf das Eine als das Alles Bestimmende und Umgreifende. Damit ergeben sich zwei Konzeptionen des Einen, eine negative und übergegensätzliche und eine positive und die Gegensätze in sich umfassende, die Platon in den ersten beiden Hypothesen des Parmenides durchgeführt und gegeneinander abgehoben hat. Schon Platon räumt aber der negativ-limitierenden Elementarabstraktion den Vorrang ein, vor allem bei der Erfassung des Prinzips, der ἀρχὴ τῶν ὄντων, an ihm selbst.16 Die synoptische Methode vermag dagegen den Seinsgrund nur von seinen Prinzipiaten her, in denen er sich manifestiert, zu begreifen. Die Philosophie Speusipps stellt nun die einseitige, aber konsequente Elementarisierung der altakademischen Metaphysik dar, in deren Folge das generalisierende Denken weniger methodologisch abgewertet als vielmehr ontologisch depotenziert wird. Der Entmächtigung des Allgemeinen bei Speusipp fällt Platons ontologische Ideenlehre zum Opfer.17 Dagegen hält Speusipp an PlaBestimmungen auch in den Aristotelischen Referaten, vgl. Metaphysik Γ 2, 1003 b 36, 1004 a 17 ff, 27; 1004 b 27 ff; 1005 a 12; I 3, 1054 a 31 ff; I 4, 1055 b 19 f; K 3, 1061 a 13 f; M 8, 1084 a 34 f; Δ 15, 1021 a 9 ff; Δ 9, 1018 a 7; B 1, 995 b 21 ff. 12  Daß Platons Material- und Vielheitsprinzip selber logisch und ontologisch als Einheit bestimmt war und darum dem Einen selbst nicht gleichursprünglich gegenüberstehen kann, bezeugt Aristo­teles ausdrücklich, vgl. Metaphysik N 1, 1087 b 9–12. Dazu oben Kapitel VII und zu den Schlußfolgerungen für das Verhältnis von Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienphilosophie Kapitel VIII. 13 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1084 b 18–32. 14 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1004 b 34 f mit 1004 a 1; 1061 a 11.13.16; Alexander, In Metaph. 56, 15 f Hayduck; Ps.-Alexander 615, 14 f H. 15  Dazu Krämer, „Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik“. – Zur Beziehung der Stelle auf die erste Hypothesis des Parmenides Proklos, In Rempubl. I 285, 5 – 286, 10 Kroll; In Parm. VII 64, 16–24 mit 58, 22 f Klibansky. 16  Das ergibt sich vor allem aus der ersten Hypothesis des Parmenides. Vgl. aber auch Aristo­teles, Nikomachische Ethik I 4, 1096 a 17 ff mit Metaphysik N 1, 1087 b 23 ff für das zweite Prinzip. 17 Fr. 42 e und 43 Lang = Fr. 77 und 80 Isnardi Parente = Fr. 35 und 36 Tarán. Dazu Aristo­teles, Metaphysik 1086 b 6–13. Die Argumentation, die Speusipp dazu veranlaßte, hat Krämer, „Aristo­teles und die akademische Eidoslehre“, 161 ff, bes. 164 ff anhand der analog strukturierten Eidoslehre des Xenokrates rekonstruiert.

XII. Speusipp und die Unendlichkeit des Einen

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tons ­Lehre vom überseienden Einen und seiner strikt negativen Erfassung – im Sinne der ersten Hypothesis des Parmenides – fest, auch wenn er die Platonische Gleichsetzung des Einen selbst mit dem Guten selbst – konsequent elementarisierend – aufgibt.18 Denn daß die Negation des Seinscharakters des absoluten Einen bei Speusipp, von der Aristo­teles berichtet (Metaphysik N 1092 a 14–15: ὥστε μηδὲ ὄν τι εἶναι τὸ ἓν αὐτό),19 nicht etwa privativ verstanden werden darf – wozu Kontext und Formulierung der Stelle verführen könnten 20 –, sondern ganz im Sinne des Platonischen ἐπέκεινα τῆς οὐσίας die Seins­transzen­denz des Prinzips meint, kann nach den diesbezüglich völlig eindeutigen Zeugnissen bei Jamblich und Proklos nicht mehr bezweifelt werden: Jamblich, De comm. math. sc. IV, 15, 7 ff = Fr. 72 Isnardi Parente: τὸ ἕν, ὅπερ δὴ οὐδὲ ὄν πω δεῖ καλεῖν, διὰ τὸ ἁπλοῦν εἶναι καὶ διὰ τὸ ἀρχὴν μὲν ὑπάρχειν τῶν ὄντων, τὴν δὲ ἀρχὴν μηδέπω εἶναι τοιαύτην οἷα ἐκείνα ὧν ἐστιν ἀρχή. 21 „Das absolute Eine darf man nicht einmal in irgend einem Sinne seiend nennen, weil Es absolut einfach und weil Es Urgrund des Seienden ist, der Urgrund aber niemals von der Art dessen ist, dessen Urgrund er ist.“ Proklos, In. Parm. VII, 40, 1 Klibansky = Fr. 62 Isnardi Parente = Fr. 48 Tarán = Test. Plat. 50 Gaiser: „Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens.“22 „Das Eine selbst halten sie für über das Sein erhaben und Vonwoher (Ursprung) des Seins.“ Speusipp hat demnach nächst Platon als der Begründer der vermeintlich erst neuplatonischen ­Lehre vom überseienden Einen und seiner Auslegung in negativer Theologie zu gelten. Nachdem bereits E. R. Dodds Speusipp als Vorläufer des Neuplatonismus in Anspruch genommen hatte, 23 haben Philipp Merlan und Hans Joachim Krämer die enge Verbindung zwischen altem und neuem Platonismus detailliert aufgewiesen 24 und dabei vor allem hinsichtlich 18 Vgl. Fr. 34 e–f Lang = Fr. 57–58 Isnardi Parente = Fr. 43–44 Tarán; De comm. math. sc. IV 15, 23 – 16, 11 und 18, 1 ff Festa = Fr. 72 Isnardi Parente – Gleichwohl ist das Eine für Speusipp – ebenso wie für Platon – Wertprinzip: De comm. math. scientia IV, 16, 2 ff, vgl. Fr. 37 a Lang = Fr. 63 Isnardi Parente = Fr. 47 Tarán – Zur Bewertung der Differenz zu Platon in diesem Punkt: Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 359 ff. 19 = Fr. 34 e Lang = Fr. 57 Isnardi Parente = Fr. 43 Tarán. 20  Dazu Merlan, From Platonism to Neoplatonism, 2. Aufl., 104 ff. 21 Vgl. ebd. 16, 10–11: τὸ δὲ ἓν οὔτε καλὸν οὔτε ἀγαθὸν ἄξιον καλεῖν διὰ τὸ καὶ τοῦ καλοῦ καὶ τοῦ ἀγαθοῦ ὑπεράνω εἶναι. „Es ist aber weder angemessen, das Eine selbst schön, noch Es gut zu nennen, weil Es sowohl über das Schöne als auch über das Gute hocherhaben ist.“ 22 Die – reichlich willkürlichen – Verdächtigungen, die Tarán, Speusippus of Athens, 352–356 auch gegen dieses Fragment vorbringt, wurden unabhängig voneinander zurückgewiesen von Isnardi Parente, „Speusippo in Proclo“; Schmitz, Ideenlehre des Aristo­teles, Bd. 1.2, 136–138 und Dillon, Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides, 485–486. Die Fälscherthese von Carlos Steel, derzufolge das Fragment eine neupythagoreische Fälschung sein soll, wurde ebenfalls überzeugend von Dillon widerlegt: siehe oben Kapitel X Anm. 106. 23 Dodds, „The Parmenides of Plato“, spez. 140 ff. 24 Merlan, From Platonism to Neoplatonism, 2. Aufl., passim, bes. 34–58, 96–140; ­K rämer, Ursprung der Geistmetaphysik, passim, bes. 193–223, 292–369.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

der ­Lehre vom Einen tiefergehende Unterschiede geleugnet: nach Merlan stammen die für „Neuplatonismus“ charakteristischen Motive25 und Denkformen spätestens aus der Schülergeneration Platons, nach Krämer stammen sie von Platon selbst. Krämer ließ nur noch eine mögliche Differenz zwischen altakademischer und neuplatonischer Metaphysik des Einen offen: die Frage nach der Unendlichkeit des Einen. 26

2. Plotin über die Unendlichkeit des Einen Nach Plotin ist das Eine unendlich nicht im extensiven Sinne, sondern durch sein absolutes Übermaß an Mächtigkeit: ληπτέον δὲ καὶ ἄπειρον αὐτὸν (sc. τὸ ἓν) οὐ τῷ ἀδιεξιτήτῳ ἢ τοῦ μεγέθους ἢ τοῦ ἀριθμοῦ, ἀλλὰ τῷ ἀπεριλήπτῳ τῆς δυνάμεως. (Enneade VI 9, 6, 10–12)

So muß man Ihn (sc. das Eine selbst) auch als unendlich auffassen, nicht weil Er an Größe oder Zahl unabschreitbar wäre, sondern weil die Überfülle Seiner Mächtigkeit unumfaßbar ist. (Übersetzung nach Richard Harder)

Diese „intensive“ Unendlichkeit des Einen selbst aber liegt gerade in seiner absoluten Einfachheit und reinen Einheit, die über jede begrenzende Bestimmung hin­ausliegt und sich so dem auf Bestimmtheit angewiesenen Denken entzieht: ὅταν γὰρ ἂν αὐτὸν (sc. τὸ ἓν) νοήσῃς οἷον ἢ νοῦν ἢ θεόν, πλέον ἐστί· καὶ αὖ ὅταν αὐτὸν ἑνίσῃς τῇ διανοίᾳ, καὶ ἐνταῦθα πλέον ἐστὶν ἢ ὅσον ἂν αὐτὸν ἐφαντάσθης εἰς τὸ ἑνικώτερον τῆς σῆς νοήσεως εἶναι. (Enneade VI 9, 6, 12–15)27

Denn wenn du Ihn (sc. das Eine selbst) denkst wie Geist oder Gott, so ist Er mehr, und selbst wenn du Ihn dir als absolut Eines denkst, so ist Er auch dann mehr Eines als du es dir vorstelltest: Er ist einfacher als dein Denkakt. (Übersetzung nach Harder, leicht ver­ ändert)

Diese das Denken transzendierende und so unendliche Einfachheit des Einen aber ist selbst keine Bestimmung, sondern die negative – nämlich als Aufhebung jeder Vielheit zu verstehende – Bedeutung des Einen selbst (Enneade V 5, 6, 26). Plotin überschreitet darum die Grenzen der negativen Theologie nicht, wenn er das Eine selbst, von dem nicht einmal gesagt werden kann, daß es Eines ist (Enneade V 4, 1, 8–9 nach Platon, Parmenides 141 E 12; vgl. V 5, 6, 28–34),

25 Vgl.

Merlans Zusammenstellung: From Platonism to Neoplatonism, 1 Anm. Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 361 ff. 27  Vgl. auch die Parallelstelle Enneade V 5, 10, 20 – 11, 4 mit genauer (wörtlicher!) Anknüpfung an Parmenides 137 D 3–8. 26 Vgl.

XII. Speusipp und die Unendlichkeit des Einen

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absolut einfach und unendlich nennt. Die Aussage, das Eine selbst sei absolut einfach (und darum unendlich), ist selbst eine negative Aussage. Die von Plotin somit negativ gedachte Unendlichkeit des Absoluten besitzt Parallelen bei Platon: Schon Hans Krämer28 hat zu Recht auf Parmenides 137 D 7–8: ἄπειρον ἄρα τὸ ἕν, εἰ μήτε ἀρχὴν μήτε τελευτὴν ἔχει – auch hier wird die Unendlichkeit des Einen aus seiner absoluten Einfachheit abgeleitet – und auf die Transzendenzformel ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος (Politeia 509 Β 9–10) hingewiesen, die kombiniert Plotins Begriff der Unendlichkeit als überseiender Überfülle an δύναμις ergeben. Der Sache nach kann die das Sein transzendierende δύναμις des ἀγαθόν = ἕν Politeia 509 Β auch gar nicht anders verstanden werden als bei Plotin, da die δύναμις des Absoluten mit dem Sein notwendig auch jede weitere begrenzende Bestimmtheit übersteigt und selbst erst alles andere ins Sein eint und dadurch zugleich begrenzt und bestimmt. 29 Trotz seines eigenen Hinweises, daß die Unendlichkeit des Platonischen Einen in Anaximander und – vor allem – im nachparmenideischen Eleatismus altgriechische Parallelen habe,30 empfiehlt Krämer dennoch, „bei der Dürftigkeit und bei der mangelhaften Präzision der Belege … die Entscheidung vorläufig offenzuhalten“,31 denn es sei zweifelhaft, inwiefern Parmenides 137 D 7–8 „systematisch ausgewertet und zur Ergänzung von Politeia 509 B herangezogen werden kann“.32 Indessen läßt sich die von Krämer immerhin als sehr wahrscheinlich herausgestellte Unendlichkeit des Absoluten schon bei Platon – und auch die systematische Bedeutung der Parmenides-Stelle – definitiv bestätigen, wenn es gelingt, ein weiteres Zeugnis für die Unendlichkeit des Einen im Bereich der Alten Akademie nachzuweisen. Ein solches Zeugnis liegt in einem anonymen Doxographon bei Proklos vor, das sich aufgrund von Parallelen bei Plotin und Porphyrios dem Speusipp zuweisen läßt.

28 

Ursprung der Geistmetaphysik, 363. Parmendies 157 B 6 ff, bes. 157 E 2 – 158 D 6: Begrenzung des ἄπειρον (= ἀόριστος δυάς), das durch die Teilhabe am ἓν αὐτό zu einem ἓν ὅλον τέλειον μόρια ἔχον (Ε 4) bestimmt wird, das sowohl in seiner Ganzheit wie in jedem seiner Teile an dem Einen partizipiert (Ε 3, Ε 5 ff, Α 6 ff), so daß die Teile gegeneinander und gegen das Ganze und das Ganze gegen die Teile Bestimmtheit (Grenze) haben (D 1 f). Die Konstitution der Ideenwelt durch die Prinzipien wird hier so exakt beschrieben wie an keiner anderen Stelle der direkten oder der indirekten Überlieferung. Dazu Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, 137 ff, 333 Anm. 170, 430, 517 f und passim sowie Halfwassen, Aufstieg zum Einen, passim. 30 Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 363 Anm. 634 verweist auf Melissos Fr. B 2, B 3, B 4 und B 7, 1 mit B 6 und Aristo­teles, Metaphysik 986 b 20 f. 31  Ursprung der Geistmetaphysik, 363 f. 32  Ursprung der Geistmetaphysik, 363 mit (Anm. 632) Verweis auf Francis M. Cornford, Plato and Parmenides, London, 2. Auflage 1957, 118 und Egil A. Wyller, Platons Parmenides, Oslo 1960, 86. 29 Vgl.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

3. Vier Deutungen der Unendlichkeit des Einen bei Proklos Proklos hat die Unendlichkeit des absoluten Einen (Parmenides 137 D 6–8) ausführlich kommentiert (In Parm. 1116, 25 – 1124, 37 Cousin = III 99–110 Steel). Nachdem er zunächst die formale Struktur der Platonischen Argumentation analysiert hat (1116, 25 – 1118, 2), fragt er, in welchem Sinne die Unendlichkeit des Einen zu verstehen sei. Zur Antwort führt er vier mögliche Interpretationen an: (I.) Die einen behaupten, daß das Eine in dem Sinne unendlich genannt wird, daß es unabschreitbar (ἀδιεξίτητον) ist und daß es Grenze von allem ist. Denn das Unendliche werde in doppelter Bedeutung ausgesagt: einmal als das Unbegreifliche und Unabschreitbare; und dann als das, was absolute Grenze ist, ohne eine andere Grenze zu haben. Und das Eine sei nun in beiden Bedeutungen unendlich, als unbegreiflich und unumschreibbar für alles Nachgeordnete, und als Grenze von allem und selbst keiner anderen Grenze bedürfend.33 (II.) Andere verstehen die Unendlichkeit des Einen so, daß es von grenzenloser Mächtigkeit ist und daß es Erzeuger von allem ist, und daß es Ursache aller Unendlichkeit in den Seienden ist und seine Gabe über alle Seienden hin erstreckt; denn alles wird in dem Einen umgriffen und existiert durch das Eine, und nichts könnte bestehen, wenn es nicht seinem eigenen Wesen gemäß Eines geworden ist.34 (III.) Wieder andere verstehen die Unendlichkeit des Einen so: da der Geist Grenze ist, und weil das Eine über den Geist hin­aus ist (ὑπὲρ νοῦν), deswegen haben sie es unendlich genannt. Denn Platon, so behaupten sie, setze nur diese beiden Bestimmungen für das Eine an: die Unendlichkeit und die Unbewegtheit; da der Geist Grenze und die Seele Bewegung ist, zeige er hierdurch, daß das Eine über Geist und Seele erhaben sei (κρεῖττον); denn es gebe drei ursprüngliche Hypostasen, von denen die erste die beiden anderen transzendiere.35

Proklos erkennt die grundsätzliche Berechtigung aller drei Interpretationen an (1118, 33 ff) und führt dann – nach einem langen Exkurs darüber, wie πέρας und 33 Proklos, In Parm. 1118, 10–19 = III 102, 8–14 Steel: καὶ οἱ μὲν οὕτω φασὶν ἄπειρον προσειρῆσθει τὸ ἕν, ὡς ἀδιεξίτητον καὶ ὡς πέρας τῶν ὅλων· διχῶς γὰρ λέγεται τὸ ἄπειρον, τὸ μὲν οἷον τὸ ἄληπτον καὶ ἀδιεξίτητον, τὸ δὲ οἷον ὃ πέρας ἐστὶ τὸ μὴ ἔχον ἄλλο πέρας. καὶ τὸ ἓν οὖν ἀμφοτέρως εἶναι ἄπειρον, ὡς ἄληπτόν τε καὶ ἀπεριήγητον πᾶσι τοῖς δευτέροις, καὶ ὡς πέρας τῶν ὅλων καὶ μὴ δεόμενον αὐτὸ πέρατος ἄλλου μηδενός. 34 Proklos, In Parm. 1118, 19–25 = III 102, 14–19 Steel: οἱ δὲ ὡς ἀπειροδύναμον καὶ ὡς πάντων γεννητικόν, καὶ ὡς πάσης τῆς ἐν τοῖς οὖσιν ἀπειρίας αἴτιον καὶ δι’ ὅλων τῶν ὄντων ἐκτεῖναν τὴν ἑαυτοῦ δόσιν· πάντα γὰρ τῷ ἑνὶ κατέχεται καὶ ἔστι διὰ τὸ ἕν, καὶ οὐδ’ ἂν ὑποστῆναι δύναιτο, μὴ ἓν γενόμενα κατὰ τὴν ἑαυτῶν φύσιν. 35 Proklos, In Parm. 1118, 25–33 = III 102, 19–24 Steel: οἱ δέ, ὡς ἐπειδὴ πέρας ὁ νοῦς, ὅτι ὑπὲρ νοῦν τὸ ἕν, διὰ τοῦτο καὶ ἄπειρον εἰρήκασι· δύο γάρ, φασί, ταῦτα μόνον τίθησιν ἐπὶ τοῦ ἑνὸς ὁ Πλάτων, τό τε ἄπειρον καὶ τὸ ἀκίνητον, ἐπειδὴ νοῦς μὲν πέρας, ἡ δὲ ψυχὴ κίνησις, ἐνδεικνύμενος ὅτι κρεῖττον ἐκεῖνο καὶ νοῦ καὶ ψυχῆς· τρεῖς γὰρ εἶναι τὰς ἀρχικὰς ὑποστάσεις, ὧν τὴν πρώτην ἐξῃρῆσθαι ταῖν δυοῖν. In Z. 32 übernehme ich mit Steel die Lesart ἐξῃρῆσθαι der Hs. D und des Cod. Harl.

XII. Speusipp und die Unendlichkeit des Einen

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ἄπειρον in zehnfacher Stufung das Seiende durchdringen (1118, 38 – 1123, 21 = III 102–108 Steel) – die Auslegung an, die er seinem ­Lehrer Syrian verdankt: (IV.) Es bleibt noch zu prüfen, ob das Eine in dem Sinne unendlich genannt wird, in dem wir die Unendlichkeit (ἀπειρία) im Bereich des Seienden affirmativ (καταφατικῶς) auffassen, oder in einem andern Sinn. Doch wenn die Unendlichkeit bei dem Einen so gemeint wäre, dann müßte man es eher „nicht unendlich“ nennen; denn bei jedem Gegensatz ist es notwendig, das Eine entweder aus beiden Entgegengesetzten herauszunehmen, so daß es keines von ihnen beiden ist, oder es eher mit dem Namen des Höheren anzusprechen. Denn man darf dem Vollkommensten von allem die Bestimmungslosigkeit zuschreiben, 36 aber keine Bestimmung, die in irgendeiner Weise Inferiorität ausdrückt. In diesem Sinne sprechen wir Jenes – da das Eine der Vielheit entgegengesetzt ist – als „das Eine“ an, und – da der Grund dem Begründeten entgegengesetzt ist – benennen wir Jenes als „Grund“; denn der Grund ist über das Begründete erhaben (κρεῖττον) und das Eine über die Vielheit. Es ist nötig, Jenes entweder den „Über-Grund“ und das „Über-Eine“ zu nennen oder „das Eine“ und „den Grund“, aber in keinem Fall „Vielheit“ oder „Begründetes“; denn wem könnten wir die erhabeneren Benennungen zuteilen, wenn wir die geringeren auf das Eine emporheben? Wenn also auch die Grenze über das Unbegrenzte erhaben ist, dürfen wir nicht die Bezeichnung des Unbegrenzten auf das Eine übertragen. Denn angemessen ist nicht, von dem Geringeren die Benennung auf das Eine emporzuheben, sondern eben – wie wir im oben Gesagten ausgeführt haben – durch die Negation von dem Höheren (κατὰ ἀπόφασιν ἀπὸ τοῦ κρείττονος); denn die „Unendlichkeit“ (ἄπειρον) in diesem Sinne ist gleichbedeutend mit dem Nichthaben von Grenze, so wie die „Unteilbarkeit“ (ἀμέριστον) mit dem Nichthaben von Teilen, wenn die Teillosigkeit (ἀμερές) auf das Eine bezogen wird. Und wenn das Eine nicht von irgendeiner anderen Ursache stammt und es auch keinen anderen Zielgrund für es gibt, so wird es zu Recht unendlich (ἄπειρον) genannt: denn ein Jedes wird von seinem Grund begrenzt und existiert, sofern es seine wesenseigene Vollendung erlangt hat. So ist das Eine, ob es sich um eine intelligible (νοητόν) oder um eine intellektuelle (νοερόν) Grenze handelt, jenseits der ganzen Reihe des Begrenzenden.37 36 Dillon, Proclus’ Commentary, 465 übersetzt καὶ γὰρ τῷ πάντων ἀρίστῳ χρὴ προσφέρειν τὸ ἀόριστον 1123, 30 f mit: „for one must apply the best term to that which is the best of all.“ Das Verlesen von ἀόριστον zu ἄριστον zerstört die von Proklos intendierte Übergegensätzlichkeit des Einen; Steel setzt ἄριστον sogar in den Text. 37 Proklos, In Parm. 1123, 22 – 1124, 15 = III 108, 16 – 110, 12 Steel: λοιπὸν δὲ ἐπισκεπτέον πότερον οὕτως ἄπειρον εἴρηται τὸ ἕν, ὡς τὴν ἐν τοῖς οὖσιν ἀπειρίαν λαμβάνομεν καταφατικῶς, ἢ ἄλλως πως. ἀλλ’ εἰ πρὸς τοῦτο λέγοιτο τὸ ἄπειρον, ἔδει μᾶλλον αὐτὸ λέγειν οὐκ ἄπειρον· ἐπὶ πάσης γὰρ ἀντιθέσεως ἀναγκαῖον ἢ ἐξῃρῆσθαι τὸ ἓν ἀμφοτέρων τῶν ἀντικειμένων καὶ μὴ εἶναι μηδέτερον αὐτῶν ἢ τῷ τοῦ κρείττονος αὐτὸ μᾶλλον ὀνόματι προσαγορεύεσθαι· καὶ γὰρ τῷ πάντων ἀρίστῳ χρὴ προσφέρειν τὸ ἀόριστον, ἀλλ’ οὐ τὸ ὁπωσοῦν καταδεέστερον. οὕτως ἀντιθέσεως οὔσης τοῦ ἑνὸς πρὸς τὸ πλῆθος, ἓν ἐκεῖνο προσείπομεν, καὶ αἰτίου πρὸς αἰτιατόν, αἴτιον ἐκεῖνο προσωνομάσαμεν· κρεῖττον γὰρ τοῦ μὲν αἰτιατοῦ τὸ αἴτιον, τοῦ δὲ πλήθους τὸ ἕν. δέον δὲ ἦν ἢ καὶ ὑπὲρ αἴτιον αὐτὸ καὶ ὑπὲρ ἓν ἀποκαλεῖν ἢ ἓν καὶ αἴτιον, ἀλλὰ μὴ πλῆθος καὶ αἰτιατόν· τίνι γὰρ [ἂν add. Steel] ἀπονέμοιμεν τὰ σεμνότερα, τὰ χείρονα αὐτῶν εἰς τὸ ἓν ἀναπέμποντες; εἰ τοίνυν καὶ τὸ πέρας τοῦ ἀπείρου κρεῖττον, οὐκ ἀπὸ τοῦ ἀπείρου τὸ ὄνομα ἐκείνῳ προσοίσομεν· οὐδὲ γὰρ ἦν θέμις ἀπὸ τοῦ χείρονος εἰς ἐκεῖνο τὰς ἐπωνυμίας ἀναπέμπειν, ἀλλ’ ὅπερ ἐνεδειξάμεθα καὶ πρότερον, κατὰ τὴν ἀπόφασιν ἀπὸ τοῦ κρείττονος· τὸ γὰρ ἄπειρον τοῦτο ταὐτὸν τῷ οὐ πέρας ἔχον, ὡς τὸ ἀμέριστον τῷ οὐ μέρη ἔχον, ὅταν τάττηται τὸ ἀμερὲς ἐπὶ τοῦ ἑνός. εἰ δὲ καὶ μήτε ἀπ’ αἰτίας ἄλλης ἐστί, μήτε ἔστιν αὐτοῦ ἄλλο τι τελικὸν αἴτιον, εἰκότως ἄπειρον· περατοῦται γὰρ ἕκαστον ὑπὸ τοῦ

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

Während Proklos IV expressis verbis auf Syrian zurückführt (1118, 35 f), referiert er I–III anonym. Doch II entspricht offensichtlich der oben dargestellten Auffassung Plotins von der Unendlichkeit des Einen als Überfülle an δύναμις und stimmt ferner überein mit der Auslegung des anonymen Turiner Parmenideskommentars, den Pierre Hadot als Werk des Porphyrios identifiziert hat.38 Wenn II also Plotin und Porphyrios wiedergibt, dann enthält III mit hoher Wahrscheinlichkeit die Auslegung Jamblichs.39 I muß dann die Auffassung eines vorplotinischen Autors sein, zumal Plotin offenbar genau gegen diese Auffassung polemisiert.40 Daß dieser vorplotinische Autor niemand anders ist als Speusipp, soll nun gezeigt werden.

4. Ein neues Speusipp-Fragment Plotin weist die Auslegung der Unendlichkeit des Einen als Unausmeßbarkeit nach Zahl oder Größe ausdrücklich ab, wenn er seinen Begriff der Unendlichkeit des Absoluten formuliert: ληπτέον δὲ καὶ ἄπειρον αὐτὸν οὐ τῷ ἀδιεξίτητῳ ἢ τοῦ μεγέθους ἢ τοῦ ἀριθμοῦ (Enneade VI 9, 6, 10–11). Plotin lehnt damit ganz offensichtlich die von Proklos unter I referierte Auffassung ab: οἱ μὲν οὕτω φασὶν ἄπειρον προσειρῆσθαι τὸ ἕν, ὡς ἀδιεξίτητον … διχῶς γὰρ λέγεται τὸ ἄπειρον, τὸ μὲν οἷον τὸ ἄληπτον καὶ ἀδιεξίτητον (In Parm. 1118, 10–14). Das seltene Wort ἀδιεξίτητον – unabschreitbar, unausmeßbar –, durch das Plotin und Proklos diese Auffassung kennzeichnen, begegnet in klassischer Zeit nur bei Aristo­ teles, und zwar im Zusammenhang seiner Widerlegung des Begriffs des aktual Unendlichen (Physik Γ 4–8); es bezeichnet Physik Γ 7, 207 b 28–2941 die unendliche Vermehrbarkeit der Zahlenreihe.42 Ἀδιεξίτητον und damit ἄπειρον ist aber nicht nur die potentiell unendliche Menge aller Zahlen, sondern in einem anderen Sinne auch ihr Prinzip und Element, die Zahlen-Monade als absolutes numerisches Minimum:43 sie ist „unausmeßbar“ nicht an Menge, sondern als Grenzfall der Abwesenheit von Menge und ist gerade darum Maß (μέτρον) jeder Menge. αἰτίου, καὶ ἔστι τοῦ οἰκείου τέλους τυγχάνον. εἴτε οὖν νοητόν ἐστί τι πέρας, εἴτε νοερόν, ἐπέκεινα τὸ ἕν ἐστι πάσης τῆς τοῦ πέρατος σειρᾶς. 38  Pierre Hadot, „Fragments d’un Commentaire de Porphyre sur le Parménide“, in: Revue des Études Grecques 74 (1961), 410–438 und ders., Porphyre et Victorinus. 39  So Dillon, Proclus’ Commentary, 461 Anm. 97 und General Introduction XXVIII. 40  So ebenfalls Dillon a.a.O., 460 Anm. 96 und General Introduction XXVIII. 41 Bonitz, Index Aristotelicus, 2. Auflage 1870, 9 verzeichnet nur diese eine Stelle. Liddell-Scott-Jones, 9. Aufl. 1940, 23 verweisen ebenfalls auf sie und danach erst wieder auf Alexander von Aphrodisias und Plotin. 42 Vgl. Physik 207 b 1–5. 43 Vgl. Physik Γ 4, 204 a 2–4: … ποσαχῶς λέγεται τὸ ἄπειρον· ἕνα μὲν δὴ τρόπον τὸ ἀδύνατον διελθεῖν τῷ μὴ πεφυκέναι διίεναι.

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Entsprechendes gilt für den geometrischen Punkt: er ist ἀδιεξίτητον nicht an Ausdehnung, sondern als Grenzfall der Abwesenheit von Ausdehnung. Ἄπειρον im Sinne von ἀδιεξίτητον ist demnach nicht nur das Maximum an numerisch-quantitativer Extensität, sondern ebenso das Minimum, sofern darunter der Grenzfall der vollständigen Abwesenheit von Extensität verstanden wird.44 Es ist evident, daß der Anonymus bei Proklos I diesen Gedanken auf das Eine selbst anwendet und daß Plotin gerade dies kritisiert. Daß dabei die Unendlichkeit des Einen tatsächlich in dieser mathematisierenden, subtraktiv-limitierenden Bedeutung verstanden ist, wird durch eine weitere Kritik Plotins zusätzlich gesichert. Plotin setzt das absolute Eine unmittelbar vor der zitierten Explikation seiner Unendlichkeit von seinen Analogien Punkt und Monas ab: ἢ πλεόνως τιθέμενον ἓν ἢ ὡς μονὰς καὶ σημεῖον ἑνίζεται. ἐνταῦθα μὲν γὰρ μέγεθος ἡ ψυχὴ ἀφελοῦσα καὶ ἀριθμοῦ πλῆθος καταλήγει εἰς τὸ σμικρότατον καὶ ἐπερείδεταί τινι ἀμερεῖ μέν, ἀλλὰ ὃ ἦν ἐν μεριστῷ καὶ ὅ ἐστιν ἐν ἄλλῳ· τὸ δὲ (sc. ἓν αὐτὸ) οὔτε ἐν ἄλλῳ οὔτε ἐν μεριστῷ οὔτε οὕτως ἀμερές, ὡς τὸ μικρότατον· μέγιστον γὰρ ἁπάντων οὐ μεγέθει, ἀλλὰ δυνάμει, ὥστε καὶ τὸ ἀμέγεθες (ἀμερὲς conj. Vitringa) δυνάμει· ἐπεὶ γὰρ καὶ τὰ μετ’ αὐτὸ ὄντα ταῖς δυνάμεσιν ἀμέριστα καὶ ἀμερή, οὐ τοῖς ὄγκοις. (Enneade VI 9, 6, 2–10) Es (sc. das Eine selbst) muß in vollerem Sinne als Einheit angesetzt werden, als es die Einheit der Eins oder des Punktes ist. Denn bei diesen gelangt die Seele, indem sie die Größe und die in der Zahl liegende Vielheit wegdenkt, schließlich zu einem Allerkleinsten, das, worauf sie dabei das Denken richtet, ist zwar unteilbar, war aber im Teilbaren und ist in einem Anderen; Jenes (sc. das Eine selbst) aber ist weder in einem Anderen (= Platon, Parmenides 138 A 2–3) noch im Teilbaren noch in dem Sinne unteilbar wie das Allerkleinste; denn Es ist das Größte von allem, nicht der Größe, sondern der Mächtigkeit nach; so ist Es auch das Unteilbare der Mächtigkeit nach; ist doch auch das, was auf Jenes folgt, der Mächtigkeit nach, nicht der Masse nach unteilbar und ungeteilt. (Übersetzung nach Harder, leicht verändert)45 44 Vgl. Physik Γ 5, 204 a 9–12: εἰ γὰρ μήτε μέγεθός ἐστιν μήτε πλῆθος, ἀλλ’ οὐσία αὐτό ἐστι τὸ ἄπειρον καὶ μὴ συμβεβηκός, ἀδιαίρετον ἔσται· τὸ γὰρ διαίρετον ἢ μέγεθος ἔσται ἢ πλῆθος. – „Denn wenn das Unendliche weder Größe noch Vielheit ist, sondern substantielles Sein an sich und nicht Akzidenz, dann muß es unteilbar sein; denn das Teilbare muß entweder Größe oder Vielheit sein.“ Aristo­teles referiert diese Auffassung nur, um sie zu widerlegen; es ist jene Platons und der Pythagoreer, vgl. 203 a 4–6 und 204 a 15–16 (Erwähnung der Prinzipienlehre), 204 a 14 nennt Aristo­teles das aktual Unendliche ἀδιεξίτητον. Die Bemerkung, das substantiell Unendliche sei unteilbar und ohne Quantität, ist keine Schlußfolgerung des Aristo­teles, sondern ­Lehre Platons, der dem Apeiron als Prinzip Einheitscharakter zuschrieb, vgl. Metaphysik 1087 b 9–12 und oben Kapitel VII. 45 Vgl. schon Enneade VI 9, 5, 41–46: οὐχ οὕτως ἓν λέγοντες καὶ ἀμερές, ὡς σημεῖον ἢ μονάδα λέγομεν· τὸ γὰρ οὕτως ἓν ποσοῦ ἀρχαί, ὃ οὐκ ἂν ὑπέστη μὴ προούσης οὐσίας καὶ τοῦ πρὸ οὐσίας· οὔκουν δεῖ ἐνταῦθα βάλλειν τὴν διάνοιαν· ἀλλὰ ταῦτα ὁμοίως αἰεὶ ἐκείνοις ἐν ἀναλογίαις τῷ ἁπλῷ καὶ τῇ φυγῇ τοῦ πλήθους καὶ τοῦ μερισμοῦ. – „Wir meinen aber ‚Eines‘ und ‚ungeteilt‘ nicht in dem Sinne, wie wir es beim Punkt und bei der Eins meinen; denn das in diesem Sinne Eine ist Ursprung des Wieviel, welches gar nicht zur Existenz gelangt wäre, wäre nicht zuvor das Sein und das, was vor (über) dem Sein ist; nicht hieran also soll man bei der Benennung

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Plotin kritisiert hier offenbar eine Auffassung, die das absolute Eine nach mathematischen Analogien als absolutes Minimum (σμικρότατον) versteht und demgemäß auch seine Unendlichkeit als ἀδιεξίτητον im limitativen Sinne faßt (vgl. VI 9, 6, 10 f). Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Plotins Schlußbemerkung (VI 9, 6, 8–10): τὰ μετ’ αὐτὸ ὄντα sind natürlich die Platonischen Ideen, die unteilbare Einheiten sind,46 deren Unteilbarkeit und Teillosigkeit aber gerade nicht quantitativ verstanden werden darf. Die kritisierte Auffassung kennt also offenbar keine Ideen, sondern setzt unmittelbar nach dem Einen quantitativ bestimmte – genauer: mathematische – Wesenheiten an. Das Eine kann dann von dort aus nur noch limitativ als Abwesenheit von quantitativer Bestimmung überhaupt verstanden werden und ist in diesem Sinne ἀδιεξίτητον und ἄπειρον. Diese Überlegungen führen aber im Horizont des antiken Platonismus von selbst auf Speusipp. Speusipp hat nicht nur auf die als Wesenheiten (οὐσίαι) verstandenen Ideen verzichtet und an ihrer Stelle die mathematischen Zahlen als höchste Seinsstufe unmittelbar nach dem Einen angesetzt47 und ferner die arithmetische Monade und den geometrischen Punkt als Regionalprinzipien der Zahlen und der Größen (der beiden obersten Seinsstufen) analogisch auf das ἕν bezogen.48 Die Aristotelischen Berichte legen es außerdem nahe, daß er das ἕν selber als absolutes Minimum auffaßte, wenn er den Seinsgrund mit dem σπέρμα der Lebewesen verglich, das die vollendete Wirklichkeit (τέλειον) „noch“ nicht ist.49 Die bei Plotin und Proklos greifbare Auslegung des Einen als Minimum absolutum, das gerade als absolute Grenze des Zählen- und Messen-Könnens unendlich ist – dieser Grenzbegriff entspricht exakt Speusipps konsequent elementarisierendem und mathematisierendem Denken. Daß tatsächlich Speusipp der Urheber dieser von Proklos anonym referierten und von ­ ehre ist, wird durch Zeugnisse bei PorphyPlotin ebenso anonym kritisierten L rios und Damaskios bestätigt, welche Speusipp die ­Lehre vom ἕν als Minimum ausdrücklich zuschreiben.

als ‚das Eine‘ denken; sondern diese Dinge sind jenen höheren immer nur ähnlich im Sinne von Analogien in Bezug auf ihre Einfachheit und ihr Freisein von Vielheit und Teilbarkeit.“ (Übersetzung nach Harder, leicht verändert) 46 Vgl. nur Philebos 15 AB, 16 DE. 47 Vgl. Speusipp, Fr. 42 a–g und 43 Lang = Fr. 73–80 Isnardi Parente = Fr. 31–36 und 45 a Tarán; ferner Fr. 33 a–e und 50 Lang = Fr. 48–52 und 86 Isnardi Parente = Fr. 29 a–d, 30 und 37 Tarán. 48  De comm. math. sc. IV, 17, 12–16 Festa = Speusipp, Fr. 88 Isnardi Parente: τὸ γὰρ ἁπλούστατον πανταχοῦ στοιχεῖον εἶναι … ὡς ἐν ἀριθμοῖς μονάδα κατὰ τὸ ἕν, οὕτως στιγμὴν ἐν γραμμαῖς τιθέναι. Vgl. Fr. 49 Lang = Fr. 84 Isnardi Parente = Fr. 51 Tarán; dazu Aristo­teles, Topik I 18. 49 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1072 b 30 – 1073 a 3 und 1092 a 11–17 (= Speusipp, Fr. 34 a und e Lang = Fr. 53 und 57 Isnardi Parente = Fr. 42 a und 43 Tarán); dazu etwa Metaphysik Δ 3, 1014 b 3–6: καὶ μεταφέροντες δὲ στοιχεῖον καλοῦσιν ἐντεῦθεν ὃ ἂν ἓν ὂν καὶ μικρὸν ἐπὶ πολλὰ ᾖ χρήσιμον, διὸ καὶ τὸ μικρὸν καὶ ἁπλοῦν καὶ ἀδιαίρετον στοιχεῖον λέγεται.

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Damaskios hebt die alles umgreifende und einende, dabei zusammenführend-reduzierende (συνανέλυσεν) und so in sich einbegreifende (καταπιόν) Einfachheit des ἕν kritisch gegen seine Auffassung als Minimum ab: οὐ γὰρ ἓν ὡς ἐλάχιστον, καθάπερ ὁ Σπεύσιππος ἔδοξε λέγειν, ἀλλ’ ἓν ὡς πάντα καταπιόν· τῇ γὰρ ἑαυτοῦ ἁπλότητι πάντα συνανέλυσεν καὶ ἓν τὰ πάντα ἐποίησεν. (De principiis I, 3, 9–11 Westerink = I, 2, 25 – 3, 2 Ruelle – Speusipp, Fr. 36 Lang = Fr. 60 Isnardi Parente = Fr. 49 a Tarán). „Denn (das Eine) ist nicht Eines im Sinne des Allerkleinsten, wie Speusipp zu lehren scheint, sondern es ist Eines im Sinne des Alles Einbegreifenden: durch seine Einfachheit nämlich führt es Alles in Eins zurück und macht die Totalität zur Einheit.“ Damaskios drückt sich freilich ein wenig unbestimmt aus (ἔδοξε λέγειν) – so daß man den Wert seiner Angabe bezweifeln und sie für ein Mißverständnis bestimmter Aristo­teles-Stellen halten konnte50 – und er macht keinerlei Angaben darüber, in welchem Sinne Speusipp das ἕν als Minimum konkret verstanden ­ ehre vom ἕν als hat. Immerhin beweist sein Zeugnis doch, daß Speusipp die L Minimum in neuplatonischen Kreisen zugeschrieben wurde. Wesentlich weiter führt das Zeugnis des ausgezeichnet informierten Porphyrios. Porphyrios diskutiert zu Beginn seines Kommentars zu Parmenides 137 CD (In Parm. I Fol. 91r) die Frage, in welchem Sinne das transzendente und unsagbare Absolute ,,τὸ ἕν“ genannt werden kann. Der Begriff des Einen entfernt von ihm jede Vielheit und indiziert seine reine Einfachheit und seine absolute Erstheit und Ursprünglichkeit: ἱκανῶς γὰρ ἀφίστησιν ἀπ’ αὐτοῦ (sc. τοῦ ἐπὶ πᾶσιν ὄντος θεοῦ) πᾶν πλῆθος καὶ σύνθεσιν καὶ ποικιλίαν καὶ τὸ ἁπλοῦν ἐννοεῖν δίδωσι καὶ τὸ μηδὲν πρὸ αὐτοῦ καὶ τὸ ἀρχὴν εἶναι τῶν ἄλλων τὸ ἕν πως. (In Parm. I 6–10; 64 Hadot). „Denn vollkommen zu Recht sprechen sie Ihm (dem Gott, der über Allem ist) jede Vielheit, Zusammensetzung und Mannigfaltigkeit ab und geben zu bedenken, daß das Eine absolut einfach ist, daß nichts vor und über Ihm ist und daß Es gewissermaßen der Urgrund alles anderen ist.“ Das so verstandene Eine übersteigt begrenzende Bestimmtheit, ist also unendlich: τοῦτο (sc. τὸ ἓν) γοῦν αὐτὸ ὑπέρ τινος ὅρου ὄν (ebd., I 14; 66 Hadot). Porphyrios wendet sich dann energisch gegen die Ansicht Speusipps, das Eine sei unendlich als absolutes Minimum: οἰκεία οὖν αὕτη πάσων τῶν ἄλλων προσηγοριῶν τῷ ἐπὶ πᾶσι θεῷ … εἰ μή τις διὰ σμικρότητα ὥσπερ Σπεύσιππος … διὰ τὸ πάνυ σμικρὸν καὶ μὴ διαιρετὸν εἶναι 50 Zeller, Die Philosophie der Griechen, II 1, 1002 Anm. und Lang, De Speusippi Academici scriptis, 70–71 denken an Metaphysik N 1, 1087 b 30–33, Tarán, Speusippus of Athens, 356–357 an Stellen wie Metaphysik M 8, 1084 b 23–28. Anders Westerink zur Stelle (Damascius, Traite des Premiers Principes, Vol. I, Paris 1986, 132 Anm. 1), der darauf hinweist, daß die Metaphysik-Kommentare von Alexander und Syrian den von Zeller und Lang herangezogenen Passus nicht auf Speusipp beziehen.

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καταφέροιτο ἐπὶ πρᾶγμα ἀλλοτριώτατον τοῦ θεοῦ ἀκούσας τὸ ἕν (ebd., I 17–24; 66 Hadot = Speusipp, Fr. 61 Isnardi Parente = Fr. 49 b Tarán).51 „Denn vor allem anderen, was man Ihm zusprechen kann, kommt dies (sc. die Unendlichkeit) dem Gott, der über Allem ist, zu … wenn man es nicht im Sinne des Minimums auffaßt wie Speusipp … du hast gehört, daß er das Eine aufgrund seiner absoluten Kleinheit und Unteilbarkeit von einem völlig anderen Sachgebiet aus auf Gott übertragen hat.“ Porphyrios faßt in Abgrenzung dagegen das Eine als (1) grenzenlose Mächtigkeit, (2) absolute Ursprünglichkeit und (3) den Begriff der Einheit transzendierend: τοῦ γὰρ ἑνὸς … ἐκείνῳ τὴν ἐπίνοιαν διανοηθέντες τὴν ἄπειρον δύναμιν καὶ πάντων τῶν ὄντων αἰτίαν καὶ ἀρχὴν τῶν μετ’ αὐτὸν πάντων … καὶ διὰ τὸ αὐτὴν καταλείπειν καὶ τὴν τοῦ ἑνὸς ἐπίνοιαν, οὐ διὰ σμικρότητα (ebd., I 24–31; 66 Hadot). „Denn Jenem (Gott) ist der Begriff des Einen angemessen, wenn man dabei an Seine unendliche Mächtigkeit denkt und daran, daß Er Grund alles Seienden ist und Ursprung alles dessen, was nach Ihm ist … und weil Er sogar den Begriff des Einen als solchen hinter sich läßt, aber nicht, weil Er Minimum wäre.“ Wir können hierzu Folgendes festhalten: ­ ehre vom ἕν als Minimum im Zusam1. A) Porphyrios kritisiert Speusipps L menhang der Auslegung der Einheit des Absoluten als Transzendenz über Begrenzung und Bestimmung, somit als Unendlichkeit. Speusipp hat also offenbar die Einfachheit des Einen als Unendlichkeit im Kleinen ausgelegt, d.h. als Abwesenheit von Teilbarkeit und Quantität52 – für Speusipp die Urform von Bestimmtheit überhaupt – im Sinne eines dialektischen Grenzbegriffs. Das ist aber exakt die Auffassung, die Plotin in Enneade VI 9, 6 kritisiert. Die von Plotin kritisierte Auslegung der Einheit und Unendlichkeit des Einen als quantitativ unausmeßbares (ἀδιεξίτητον) Minimum absolutum läßt sich also durch Porphyrios als ­Lehre Speusipps identifizieren. ­ ehre aber mit der von Proklos unter I refeB) Da die von Plotin kritisierte L rierten Auslegung der Unendlichkeit des Einen identisch ist, gehört auch diese Speusipp. Wir haben also bei Proklos, In Parm. 1118, 10–19 ein bisher nicht identifiziertes Speusipp-Fragment vorliegen, das die von Plotins und Porphyrios’ Kritik vor­ausgesetzte ­Lehre Speusipps unpolemisch-neutral referiert; dieses Referat ist deshalb besonders wertvoll, weil es 1118, 12–19 die elementenphilosophisch argumentierende Begründung der Position Speusipps enthält.

51  Ich zitiere den Text Hadots, ohne seine Konjekturen und Emendationen kenntlich zu machen. 52  Daß Teilbarkeit immer schon Quantität impliziert, das wesenhaft und nicht bloß akzidentell Unendliche also unteilbar, d.h. einfach und frei von Quantität sein muß, hält Aristo­ teles Physik 204 a 9–12 ausdrücklich fest (Text oben in Anm. 44).

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2. Die Zuweisung an Speusipp wird durch zwei Umstände zusätzlich erhärtet: A) Porphyrios’ eigene Auffassung entspricht – was nicht verwunderlich ist – der seines Meisters Plotin: übereinstimmend denken beide das absolut Eine als unendlich an Mächtigkeit und als jeden positiven, faßbaren Begriff von Einheit übersteigend.53 Wenn Porphyrios in diesem Zusammenhang die absolute Ursprünglichkeit des Einen als Seinsgrund und Ursprung alles Nachgeordneten (πάντων τῶν ὄντων αἰτίαν καὶ ἀρχὴν τῶν μετ’ αὐτὸν πάντων, In Parm. I 26–28) hervorhebt, so geschieht auch dies ganz im Sinne Plotins.54 Es ist dann aber von vornherein zu erwarten, daß beide ihre ­Lehre gegen eine und dieselbe ältere Auffassung abgrenzen; Plotin tut dies anonym, Porphyrios nennt den Kritisierten beim Namen. B) Porphyrios’ Auffassung stimmt ferner, wie Hadot notiert hat,55 sinngemäß mit der zweiten von Proklos (In Parm. 1118, 19–25) referierten Interpretation der Unendlichkeit des Einen überein: diese wird hier wie dort als grenzenlose Mächtigkeit und als absolute Ursprünglichkeit verstanden. Zwei kleinere Abweichungen, auf die Dillon aufmerksam gemacht hat,56 sollten dabei nicht irritieren. Nach der bei Proklos referierten Ansicht ist das Eine unendlich ὡς ἀπειροδύναμον57 καὶ ὡς πάντων γεννητικὸν καὶ ὡς πάσης τῆς ἐν τοῖς οὖσιν ἀπειρίας αἴτιον καὶ δι’ ὅλων τῶν ὄντων ἐκτεῖνον τὴν ἑαυτοῦ δόσιν (In Parm. 1118, 19–22) gegenüber Porphyrios: τὴν ἄπειρον δύναμιν καὶ πάντων τῶν ὄντων αἰτίαν καὶ ἀρχὴν τῶν μετ’ αὐτὸν πάντων … καὶ διὰ τὸ αὐτὴν καταλείπειν καὶ τὴν τοῦ ἑνὸς ἐπίνοιαν58 (In Parm. I 26–30). Diese Abweichungen beweisen indes nicht mehr, als daß Proklos seine Vorlage weder wörtlich noch ganz vollständig wiedergibt. Proklos kann sehr wohl die von Porphyrios hervorgehobene alles umfassende Ursprünglichkeit des Einen durch καὶ ὡς πάσης τῆς ἐν τοῖς οὖσιν ἀπειρίας αἴτιον anti-dualistisch pointiert haben; ausschlaggebend ist, daß Proklos’ Refe53 Vgl. Plotin, Enneade VI 9, 6, 10 ff, bes. 13 ff: … καὶ αὖ ὅταν αὐτὸν ἑνίσῃς τῇ διανοίᾳ, καὶ ἐνταῦθα πλέον ἐστὶν ἢ ὅσον ἂν αὐτὸν ἐφαντάσθης εἰς τὸ ἑνικώτερον τῆς σῆς νοήσεως εἶναι. Die Transzendenz des Einen über den Begriff der Einheit knüpft natürlich an Parmendies 141 E 12 und 142 A 4–6 an: τὸ ἓν οὔτε ἕν ἐστιν οὔτε ἔστιν, … οὐδ’ ὀνομάζεται ἄρα οὐδὲ λέγεται οὐδὲ δοξάζεται οὐδὲ γιγνώσκεται, οὐδέ τι τῶν ὄντων αὐτοῦ αἰσθάνεται. 54 Vgl. nur Plotin, Enneade VI 9, 1, 1: πάντα τὰ ὄντα τῷ ἑνί ἐστιν ὄντα. V 3, 15, 11–12: πᾶν γὰρ τὸ μὴ ἓν σώζεται καὶ ἔστιν, ὅπερ ἐστί, τούτῳ. Und oft. 55 Hadot, Porphyre et Victorinus, Vol. II, 67 Anm. 4. 56 Dillon, Proclus’ Commentary, General Introduction XXVIII (Dillon bekennt sich S. XXX mit Vorbehalt zu Porphyrios als Verfasser des Anonymus Taurinensis). 57 Dillon, Proclus’ Commentary, 461 Anm. 97 weist darauf hin, daß der Terminus ἀπειροδύναμος erstmals bei Porphyrios belegt ist: Sent. 37, 43, 9 Lamberz nennt er die Seele so. Doch schreibt schon Aristo­teles, Metaphysik 1073 a 5–11 seinem unbewegten Beweger δύναμιν ἄπειρον zu. 58  Dieser letzte Gedanke fehlt zwar in Proklos’ Porphyrios-Referat, aber nicht in seiner eigenen Interpretation: 1123, 37 f: δέον δὲ ἦν ἢ καὶ ὑπὲρ αἴτιον αὐτὸ καὶ ὑπὲρ ἓν ἀποκαλεῖν ἢ ἓν καὶ αἴτιον.

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rat die Unendlichkeit des Einen als grenzenlose Mächtigkeit und als universale Ursprünglichkeit versteht, das erste in Übereinstimmung mit Plotin und Porphyrios, das zweite in Übereinstimmung speziell mit Porphyrios, dessen Begründung dafür mit der von Proklos referierten übereinstimmt.59 Durch diese Übereinstimmungen ist gesichert, daß das Referat In Parm. 1118, 19–25 auf Plotin und Porphyrios – und zwar wohl primär auf den zweiten – zu beziehen ist. Dies spricht aber auch dafür, daß die von Proklos vorher 1118, 10–19 referierte ältere Ansicht die von Porphyrios ausdrücklich abgelehnte ­Lehre Speusipps ist. 3. Daß Proklos – wie andere Neuplatoniker auch – einen von den Berichten des Aristo­teles unabhängigen Zugang zu Lehrmeinungen Speusipps hatte, kann nicht bezweifelt werden. Bisher waren vier Speusipp-Fragmente bei Proklos bekannt, die inhaltlich alle von Aristo­teles unabhängig sind, darunter zwei der wichtigsten Zeugnisse überhaupt: In Eucl. 179, 12–22 Friedlein (= Fr. 30 Lang / Fr. 35 Isnardi Parente / Fr. 73 Tarán) über die Differenz von noetischer und dianoetischer Erkenntnis; und In Parm. VII 38, 32 – 40, 7 Klibansky (= Fr. 62 Isnardi Parente / Fr. 48 Tarán = Test. Plat. 50 Gaiser), das neben Platon, Politeia 509 B und Parmenides 141 E bedeutendste altakademische Zeugnis zur Seins­ transzen­denz des Absoluten.60 Ob Proklos Speusipps Schriften noch selber las oder ob Jamblich, Porphyrios oder Nikomachos als Zwischenquelle anzusetzen sind, ist für die Authentizität der Zeugnisse bei Proklos nicht entscheidend. Denn zumindest Jamblich – dessen Werke Proklos bestens kannte – las und exzerpierte altakademische Literatur, darunter mehrere heute verlorene Werke des Aristo­teles61 und mindestens eine Schrift Speusipps („Über die pythagoreischen Zahlen“); er hat in De comm. math. sc. IV (= Fr. 72 und 88 Isnardi Parente) und Theologumena arithmeticae, 82, 10 – 85, 23 De Falco (= Fr. 4 Lang / Fr. 122 Isnardi Parente / Fr. 28 Tarán) die beiden umfangreichsten und wichtigsten Frag59 Vgl. Proklos, In Parm. 1118, 22–25: πάντα γὰρ ἐν τῷ ἑνὶ κατέχεται καὶ ἔστι διὰ τὸ ἓν καὶ οὐδ’ ἂν ὑποστῆναι δύναιτο μὴ ἓν γενόμενα κατὰ τὴν ἑαυτῶν φύσιν. Dazu Porphyrios, In Parm. I 10–17; 65 f Hadot: εἰ διασπασθέντα γοῦν ἀφ’ ἑαυτῶν καὶ διαρτηθέντα καὶ πολλὰ καὶ πλῆθος ἐξ ἑνὸς γενόμενα, καὶ τὸ εἶναι ὅπερ τέως ἦν ἀποβέβληκεν, οὐκ ἂν οὐδὲ πλῆθος ὄντα εἶναι· τοῦτο γοῦν αὐτὸ ὑπέρ τινος ὅρου ὂν εἰ ἀπειλημμένον ἀπ’ αὐτῶν ἐτύγχανεν, εἴη ἂν ἄπειρα καὶ ἀόριστα, οὐδαμῶς ὄντα· ταῦτα δ’ εἰ ἔστιν, οὐκ ἂν εἴη ἦν ὄντα. – „Wenn also (das, was nach dem Einen ist), voneinander getrennt und zerstreut und somit Vieles und aus der Einheit zur Vielheit geworden ist, und wenn man währenddessen auf sein Sein als solches hinblickt, so kann es auch nicht Vielheit sein; wenn also dieses Eine selbst, das über Grenze und Bestimmtheit hin­ ausliegt, von ihm weggenommen wird, dann muß es unbegrenzt und unbestimmt sein und somit in keiner Weise seiend; und wenn es das ist, dann wäre es kein Seiendes.“ Der Sache nach ist das natürlich auch Plotin, z.B. Enneade VI 9, 1; V 6, 3 u.ö. Die Argumentation geht auf Parmenides 165 E, 166 C zurück. 60  Die beiden anderen Fragmente sind In Eucl. 77, 15 – 78, 10 = Fr. 46 Lang / Fr. 36 Isnardi Parente / Fr. 72 Tarán und In Eucl. 181, 16–17 und 21–23 = Fr. 47 Lang / Fr. 37 Isnardi Parente / Fr. 74 Tarán. 61 Der Protreptikos des Aristo­teles ist in der gleichnamigen Schrift Jamblichs erhalten; Jamblich kannte darüber hin­aus noch Περὶ ἐναντίων, Περὶ φιλοσοφίας, Eudemos und Politikos sowie den als Anonymus Jamblichi bekannten Sophisten des 5. Jhs.

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mente Speusipps überhaupt erhalten. Da Jamblich seitenlang Speusipp zitiert und referiert, könnte Proklos seine Speusipp-Kenntnis ihm verdanken. Möglich ist aber auch ohne weiteres, daß Proklos noch unmittelbaren Zugang zu Werken Speusipps hatte. Proklos zitiert jedenfalls wie Jamblich Speusipp wörtlich: In Parm. VII 40, 1–5 ist neben Fr. 4 Lang (und Passagen aus De comm. math. sc. IV)62 das einzige im Wortlaut erhaltene Speusipp-Fragment überhaupt. Dagegen ist In Parm. VI 1118, 10–19 wohl kaum ein wörtliches Zitat. Das ist indes nicht der Grund, warum Proklos hier – anders als In Parm. VII 38, 3263 – keinen Namen nennt; Proklos referiert an dieser Stelle Interpretationen zu Parmenides 137 D 6–8, und er unterdrückt in seinem gesamten Kommentar konsequent die Namen der referierten Interpreten.

5. Interpretation des neuen Speusipp-Fragments Wenn Proklos In Parm. 1118, 10–19 die ­Lehre Speusipps referiert, muß sich der Inhalt des Referats aus dem Kontext der Metaphysik Speusipps verstehen lassen. Nach Proklos denkt Speusipp das Eine in zweifachem Sinne (διχῶς) als unendlich: ὡς ἀδιεξίτητον καὶ ὡς πέρας τῶν ὅλων· διχῶς γὰρ λέγεται τὸ ἄπειρον, τὸ μὲν οἷον τὸ ἄληπτον καὶ ἀδιεξίτητον, τὸ δὲ οἷον ὃ πέρας ἐστὶ τὸ μὴ ἔχον ἄλλο πέρας· καὶ τὸ ἓν οὖν ἀμφοτέρως εἶναι ἄπειρον, ὡς ἀληπτόν τε καὶ ἀπεριήγητον πᾶσι τοῖς δευτέροις, καὶ ὡς πέρας τῶν ὅλων καὶ μὴ δεόμενον αὐτὸ πέρατος ἄλλου μηδενός (1118, 11–19). Charakteristisch für Speusipp ist zunächst, daß er mit einer Unterscheidung der Wortbedeutungen von ἄπειρον beginnt.64 „Unendlichkeit“ bedeutet danach in einem ersten Sinne Unfaßbarkeit (Unbegreiflichkeit), die Speusipp mathematisierend als numerisch-quantitative Unausmeßbarkeit konkretisiert. Da die Zahlen als höchste Stufe des Seienden in Speusipps paradigmatischer Ontologie Urform und Inbegriff von Sein schlechthin sind,65 ist quantitative Bestimmtheit für ihn die Urform und der Inbegriff von Bestimmtheit schlechthin;66 somit ist 62  Die Terminologie von De comm. math. sc. IV weist Anzeichen leichter peripatetischer Bearbeitung auf; daneben stehen aber Passagen mit offensichtlich älterem, originalem Wortlaut, z.B. 15, 10–14. Vgl. Merlan, From Platonism to Neoplatonism, 2. Aufl., 122 und Schmitz, Ideenlehre des Aristo­teles, Bd. 1.2, 128 Anm. 369 und 140. 63  Hier zitiert Proklos ausdrücklich Speusipp als Zeugen für den Platonischen Ursprung der L ­ ehre vom überseienden Einen. In einem analogen Fall nennt er 888, 36 Xenokrates namentlich (= Fr. 30 Heinze). 64 Die Hervorhebung und Systematisierung der πολλαχῶς λεγόμενα ist eine Leistung Speusipps, die für Aristo­teles wegweisend wurde; vgl. Fr. 32 a–c Lang = Fr. 45–47 Isnardi Parente = Fr. 68 a–c Tarán, wovon die vereinfachte Einteilung Cat. 1 abhängt. Zusammenfassend dazu Krämer, Die ältere Akademie, 19 f. 65 Vgl. De comm. math. sc. IV, 18, 4–5 zu Fr. 33 a und 50 Lang = Fr. 48 und 86 Isnardi Parente = Fr. 29 a und 37 Tarán. 66  Speusipp anerkennt als selbständig seiend nur quantitativ Bestimmtes: Zahlen, geo-

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das quantitativ Unbestimmbare – das ἀδιεξίτητον – das schlechthin Unbestimmbare und darum Unfaßbare und Unbegreifliche (ἄληπτον). Speusipp präzisiert also die umgangssprachlich wie philosophisch gleichermaßen geläufige Gleichsetzung von ἄπειρον mit ἄληπτον (vgl. z.B. Philebos 17 E) zu ἀδιεξίτητον. Dieses quantitierende Denken ist für Speusipp ebenso typisch wie das Bemühen um Differenzierung der Wortbedeutungen. Neben der Bedeutung als Unfaßbarkeit qua Unmeßbarkeit hat „Unendlichkeit“ sodann eine zweite, elementenphilosophische Bedeutung als absolute Grenze, d.h. als ursprünglich-erstes Begrenzendes, das selbst durch kein anderes Begrenzendes außer ihm mehr begrenzt wird. Gerade diese elementarisierende Denkweise aber, wonach das erste Begrenzende – als absolute Grenze (ὃ πέρας ἐστί) – selbst unbegrenzt sein muß, ist höchst charakteristisch für die Alte Akademie. Da Begrenztheit in diesem Zusammenhang soviel bedeutet wie Bestimmtheit, muß der Urgrund jeder Bestimmtheit selber unbestimmbar sein; von hier aus erklären sich Speusipps Grundsatz, wonach das Prinzip niemals die Bestimmungen seiner Prinzipiate haben kann,67 und seine damit begründete Negation des Seinscharakters des absoluten Einen;68 – dieses muß über alle Bestimmungen hin­ausliegen, weil absolute Ursprünglichkeit absolute Unbestimmbarkeit impliziert. Im Derivationszusammenhang der altakademischen Metaphysik fungiert die jeweils ursprünglichere Seinsstufe als „Grenze“ – d.h. als bestimmendes und einheitsstiftendes Prinzip – der ihr unmittelbar nachgeordneten Stufe,69 deren spezifische Bestimmungen ihr selbst nicht zukommen.70 So ist immer das Einmetrische Figuren, Seelen (= bewegte Figuren), sinnliche Körper. Das Allgemeine ist analog der Aristotelischen δεύτερα οὐσία hiervon ontologisch abhängig und Speusipps Systemati­ sierung der Gattungsverwandtschaften in den zehn Büchern der Ὅμοια intendiert „eine exakte Quantifizierung des Universalienbereichs und seiner logischen Verhältnisse“ (Krämer, Die ältere Akademie, 19). 67  De comm. math. sc. IV, 15, 9–10: τὴν δὲ ἀρχὴν μηδέπω εἶναι τοιαύτην οἷα ἐκεῖνα ὧν ἐστιν ἀρχή. 68  De comm. math. sc. IV, 15, 7–9: τὸ ἕν, ὅπερ δὴ οὐδὲ ὄν πω δεῖ καλεῖν, διὰ τὰ ἁπλοῦν εἶναι καὶ διὰ τὸ ἀρχὴν μὲν ὑπάρχειν τῶν ὄντων. Vgl. Aristo­teles Metaphysik 1092 a 14–15. 69  So definiert Platon z.B. im Menon die Fläche (σχῆμα = ἐπίπεδον) im Blick auf den derivativ verstandenen Dimensionszusammenhang als „Grenze des dreidimensionalen Köpers“ (πέρας στερεοῦ, 76 Α 7). Die systematischen Implikationen und der prinzipientheoretische Hintergrund der Stelle Menon 75 D – 76 A, 76 E –77 A wurden eingehend dargelegt von Konrad Gaiser, „Platons Menon und die Akademie“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 46 (1964), 241–292, bes. 247–257 – auch in: Wippern (Hg.), Das Problem der ungeschrie­ ehre Platons, 329–393, bes. 336–348 (ebenso in Gaiser, Gesammelte Schriften, 353– benen L 399, bes. 358–367). In den Referaten der innerakademischen L ­ ehre ist ferner die Definition des Punktes (στιγμή, σημεῖον) als „Grenze der Linie“ (πέρας γραμμῆς) überliefert: Alexander, In Phys. 454, 23 f Diels; Ps.-Aristo­teles, De lin. insec. 972 a 21 f und 25; dazu auch das Referat des Aristo­teles, Metaphysik 1028 b 16 ff und Topik Z 4, 141 b 19 ff. 70 Die Seinsstufen (οὐσίαι – φύσεις – γένη τῶν ὄντων) sind dadurch differenziert, daß jede nachfolgende Stufe ein spezifisches kategoriales Novum zu der vorangehenden hinzubringt und so ein Mehr an Bestimmungen aufweist (πρότερον-ὕστερον φύσει,

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fachere Bestimmungsgrund und Grenze des Komplexeren,71 das eine größere Vielheit von Bestimmungen aufweist, so daß das altakademische Stufensystem – wie das neuplatonische – eine Entfaltung der Einheit in die Vielheit darstellt. Absolut bestimmungslos und unbegrenzt ist dann nur das absolut Einfache, das Eine selbst, als ἀρχὴ τοῦ παντός und πέρας τῶν ὅλων: es ist ausschließende Grenze aller Bestimmungen im Sinne der Transzendenz über alle Bestimmtheit. Dagegen ist alles Nachfolgende schon doppelt bestimmt: 1. durch Einheit; 2. durch die spezifischen Charaktere seiner Seinsstufe, wobei es die jeweilige Transzendenzstufe zur bestimmenden Grenze hat. Anders als Platon und Xenokrates setzt Speusipp aber nicht die jeweils übergeordnete Seinsstufe als Ursprung der folgenden an, aus dem diese abgeleitet wäre, sondern er nimmt innerhalb jedes Seinsbereichs regionale Sonderprinzipien an,72 weshalb Aristo­teles seiner Ontologie „episodischen“ Charakter vorwirft.73 Jedes dieser Sonderprinzipien: die Monade im Bereich der Zahlen, der πρόσθεσις-ἀφαίρεσις-Relation). Bei Speusipp sind die kategorialen Spezifika der einzelnen „Hypostasen“ Vielheit und Sein + Ausdehnung + Bewegung + Materialität

= = = =

Zahlen Größen Seelen sinnliche Körper

Vgl. Pesce, Idea, numero e anima, 57; Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 210; ders., Die Ältere Akademie, 22 ff; Happ, Hyle, 210 und 223 f. 71 Vgl. Alexander, In Metaph. 55, 22 f Hayduck im Zusammenhang der dimensionalen Reduktion zu den Prinzipien: τὰ γὰρ ἁπλούστερά τε καὶ μὴ συναναιρούμενα πρῶτα τῇ φύσει. Speusipp bei Jamblich De comm. math. sc. IV, 17, 12 f: τὸ γὰρ ἁπλούστατον πανταχοῦ στοιχεῖον εἶναι. 72 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik Ζ 2, 1028 b 21–24 (= Fr. 33 a Lang / Fr. 48 Isnardi Parente / Fr. 29 a Tarán): Σπεύσιππος δὲ καὶ πλείους οὐσίας ἀπὸ τοῦ ἑνὸς ἀρξάμενος (sc. οἴεται εἶναι), καὶ ἀρχὰς ἑκάστης οὐσίας, ἄλλην μὲν ἀριθμῶν ἄλλην δὲ μεγεθῶν ἔπειτα ψυχῆς· καὶ τοῦτον δὴ τρόπον ἐπεκτείνει τὰς οὐσίας. – „Speusipp aber nimmt eine größere Anzahl von Seinsstufen von dem Einen als Urgrund absteigend an und eigene Prinzipien für jede Seinsstufe, verschieden für die Zahlen, die Größen und dann die Seele; und auf diese Weise zerdehnt er das Sein.“ Metaphysik Λ 10, 1075 b 37 – 1076 a 3 (= Fr. 33 e Lang / Fr. 52 Isnardi Parente / Fr. 30 Tarán): οἱ δὲ λέγοντες τὸν ἀριθμὸν πρῶτον τὸν μαθηματικὸν καὶ οὕτως ἀεὶ ἄλλην ἐχομένην οὐσίαν καὶ ἀρχὰς ἑκάστης ἄλλας, ἐπεισοδιώδη τὴν τοῦ παντὸς οὐσίαν ποιοῦσιν … καὶ ἀρχὰς πολλάς. – „Diejenigen (= Speusipp), welche die mathematische Zahl als erste Stufe des Seins lehren und daran anschließend immer weitere Seinsstufen und verschiedene Prinzipien für jede Seinsstufe, machen das Sein des Ganzen episodisch und vervielfältigen die Prinzipien.“ Speusipps Begründung für die Ansetzung der Sonderprinzipien ist De comm. math. sc. IV, 16, 18 – 17, 29 erhalten: Danach ist die kategoriale Differenzierung der abgestuften Seinsbereiche von einem einzigen Prinzipienpaar aus nicht hinreichend begründbar. Mit eben diesem Argument Speusipps operiert Aristo­teles wiederholt gegen die Derivation aller „Hypostasen“ aus den höchsten Prinzipien bei Platon und Xenokrates, z.B. Metaphysik 1001 b 21 ff, 1090 b 32 ff. 73 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik Λ 10, 1076 a 1 und N 3, 1090 b 19 f (= Fr. 33 e und 50 Lang / Fr. 52 und 86 Isnardi Parente / Fr. 30 und 37 Tarán). – Der Derivationszusammenhang des Stufensystems ist davon nicht betroffen, da Speusipp vom „Hervorgehen der Wirklichkeit“

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Punkt im Bereich der geometrischen Größen usw.74 ist dann aber insofern unbestimmt, als es nicht durch das kategoriale Spezifikum seiner Seinsstufe charakterisiert ist; denn die Monade ist nicht durch numerische Vielheit (πλῆθος) bestimmt75 und der Punkt nicht durch Ausdehnung (μέγεθος), und darum können beide analogisch auf das absolut bestimmungslose Eine selbst bezogen werden,76 wie wir schon bei Plotins Auseinandersetzung mit der Auffassung sahen, die sich als jene Speusipps erwies. Bei diesem ist jedes Sonderprinzip Grenze der spezifischen Bestimmungen seiner Seinsstufe und so als relativ (oder regional) Unbegrenztes auf die absolute Unbegrenztheit des Urgrundes, des Einen selbst, bezogen: ἄπειρον ὡς πέρας τὸ μὴ ἔχον ἄλλο πέρας ist also im absoluten Sinne nur das Eine selbst, regional aber auch die aus ihm generierten Einheitsprinzipien der einzelnen Seinsstufen.77 Von hier aus erhellt auch Speusipps Begriff des Minimums. Die regionalen Prinzipien Speusipps sind anders als die jeweils übergeordnete Seinsstufe nicht transzendent, sondern gehören derselben Seinsstufe wie ihre Prinzipiate an; deren spezifische Bestimmungen können ihnen aber nicht zukommen. Gleichzeitig sind für Speusipp alle Seinsstufen durch nach unten hin gradweise zunehmende Vielheit und Teilbarkeit charakterisiert. Es liegt dann nahe, daß das Prinzip und Element eines jeden Seinsbereichs für Speusipp als Kleinstes und Einfachstes auch Grenze der Teilung war.78 Der Punkt ist so als minimale Teilungsgrenze der Größen zu denken, sofern er durch seine Unausgedehntheit jede räumliche Teilung absolut begrenzt, ebenso die Monade als minimale Tei-

(προελθούσης τῆς τῶν ὄντων φύσεως) aus dem Seinsgrund, dem Einen, sprach: Aristo­teles Metaphysik N 4, 1091 a 35 (= Fr. 34 Lang / Fr. 58 Isnardi Parente / Fr. 44 Tarán), vgl. De comm. math. sc. IV, 16, 12: προϊούσης γὰρ πορρωτέρω ἀπὸ τῶν ἐν ἀρχῇ τῆς φύσεως … Aristo­teles vermißt offenbar die konkrete Verifikation der Abhängigkeit, so Merlan, From Platonism to Neoplatonism, 118 f, Happ, Hyle, 225 ff und Krämer, Die Ältere Akademie, 24. 74 Vgl. De comm. math. sc. IV, 17, 14 f – die Spezialprinzipien der übrigen Bereiche sind nicht überliefert. Krämer, Die Ältere Akademie, 23 erschließt Kreisbewegung und geradlinige Bewegung für die Seele. 75 Vgl. etwa Aristo­teles, Metaphysik M 9, 1085 b 15–17. 76  De comm. math. sc. IV, 17, 12–15 und dazu Aristo­teles, Metaphysik M 9, 1085 a 32 ff (= Fr. 49 Lang / Fr. 84 Isnardi Parente / Fr. 51 Tarán): ἕτεροι δὲ (sc. τὰ μεγέθη γεννῶσιν) ἐκ τῆς στιγμῆς· ἡ δὲ στιγμὴ αὐτοῖς δοκεῖ εἶναι οὐχ ἓν ἀλλ’ οἷον τὸ ἕν. Genauso übrigens Plotin, Enneade VI 9, 5, 41–46. 77  Die Erzeugung der regionalen Einheitsprinzipien aus dem absoluten Einen, das als generatives Prinzip in allen Seinsbereichen gleichermaßen wirkt, ist bei Jamblich überliefert (τοῦ ἑνὸς ὁμοίου ἐγγιγνομένου διὰ παντός, De comm. math. sc. IV, 17, 5). Speusipp hat demnach wie Platon und Xenokrates zwischen konstruktiven und generativen Prinzipien eines Bereichs unterschieden und das jeweilige Konstruktionsprinzip (Monade, Punkt usw.) aus dem Urprinzip ἕν und dem bereichsspezifischen Materialprinzip abgeleitet, so Krämer, Die Ältere Akademie, 23 f. 78  So Krämers ansprechende, auf Aristo­teles Metaphysik M 9, 1085 b 28 gestützte Vermutung: Die Ältere Akademie, 23.

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lungsgrenze der Zahlen, sofern sie durch ihre Einheit und Unteilbarkeit jede arithmetische Subtraktion und Division begrenzt. Mathematisch gesehen, erfordert dies einen Grenzübergang (μετάβασις, vgl. Platon, Nomoi X 894 A), da die Monade als unteilbare Einheit und Prinzip der Zahlen für die Akademie selbst keine Zahl ist (vgl. Aristo­teles, Metaphysik N 1 1088 a 6)79 und da der Punkt als Unausgedehntes und Prinzip der Größen selber keine Größe ist (vgl. Plotin, Enneade VI 9, 6, 2 f). Andererseits sind aber beide Elemente den Bereichen, die sie zusammen mit den spezifischen Materialprinzipien (Pluralität, Extension) konstituieren, insofern immanent, als die Monade selber pluralisch gegeben ist (vgl. Aristo­teles, Metaphysik M 9 1085 b 25) und der Punkt als μονὰς θέσιν ἔχουσα (vgl. Aristοteles, Metaphysik Δ 6 1016 b 26) selber räumlich fixiert ist, wobei die Definition der Monas als στιγμὴ ἄθετος (Aristo­teles, Metaphysik M 8 1084 b 26 f) beweist, daß der Punkt in der Akademie als ausdehnungslos gedacht war. Wie es scheint, war die mathematisch hochkomplexe Limes-Problematik, die im 17. Jh. Leibniz und Cavalieri beschäftigte, der Akademie also bereits als Problem bekannt; bei Speusipp stellt es sich aufgrund seiner allgemeinen Regel, daß das Prinzip niemals die Charaktere seiner Prinzipiate haben kann (De comm. math. sc. IV, 15, 9 f). Die elementenphilosophische Bestimmung der Einheitsprinzipien als Grenze, die allen Akademikern gemeinsam war, dürfte von Speusipp quantitierend als Minimum genauer gefaßt worden sein, hinter das (regional) nicht weiter zurückgegangen werden kann, weil es Subtraktion und Teilung begrenzt. Ein solches limitierendes Minimum aber ist nicht nur als letzte Grenze selber unbegrenzt, sondern auch in einem ganz exakten, quantitativen Sinne unausmeßbar (ἀδιεξίτητον), da es als unteilbare Maßeinheit seiner Prinzipiate von diesen nicht gemessen werden kann. Dieser elementenphilosophisch präzisierte Begriff des limitativen Minimums steht für die Unbestimmbarkeit des Prinzips, das innerhalb des von ihm prinzipiierten Bereichs nur negativ – als Grenze dessen, was es selbst nicht ist – definiert werden kann.80 Der Begriff des Minimums ist damit zum dialektischen Grenzbegriff erhoben. – Gleichzeitig liegt in der quantitierenden Fassung des elementenphilosophischen πέρας-Begriffs als limitierendes Minimum der sachliche Zusammenhang der beiden von Speusipp unterschiedenen Bedeutungen von ἄπειρον. Das Prinzip ist immer beides: ἄπειρον als unhintergreifbare Grenze und als unausschreitbares Minimum. Beide Unendlichkeitsbegriffe führen auf die Unbestimmbarkeit des Prinzips, doch impliziert nur der elementenphilosophische dessen Bestimmungstranszendenz.

79 Vgl.

auch Aristo­teles, Metaphysik M 1085 b 15–17. Solche negativ limitierenden Definitionen sind für die Akademie mehrfach überliefert, s.o. Anm. 69. Ganz in diesem Sinne noch Proklos, In Parm. 1124, 12: περατοῦται γὰρ ἕκαστον ἀπὸ τοῦ αἰτίου. 80 

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Speusipp versteht nun das Eine selbst als unendlich in beiden von ihm unterschiedenen Bedeutungen: also limitierend als absolutes Minimum und elementenphilosophisch als absolute Grenze. Um mit dem zweiten zu beginnen: Das absolute Eine ist als Urgrund alles Seienden, ἀρχὴ τῶν ὄντων (De comm. math. sc. IV, 15, 9), im absoluten Sinne Grenze von allem, πέρας τῶν ὅλων, (1) sofern es alles Seiende ins Sein eint und dabei aus der ins Unbegrenzte (= ἄπειρον und ἀδιεξίτητον im extensiven Sinne) zerfließenden Vielheit des Materialprinzips ausgrenzt,81 und (2) sofern es alle Seinsbestimmtheit aufgrund seiner absoluten Einfachheit von sich selbst strikt ausschließt82 und überseiend über alle Bestimmtheit hin­ausliegend selber keiner bestimmenden Grenze mehr bedarf, μὴ δεόμενον αὐτὸ πέρατος ἄλλου μηδενός. Anders formuliert: Weil Einheit die Bedingung und das Prinzip von Grenze schlechthin ist, darum kann das Eine selbst nicht mehr umgrenzt und bestimmt werden (vgl. De comm. math. sc. IV, 15, 8–10). Das Absolute ist somit im doppelten Sinne Grenze aller Bestimmtheit, (1) weil es alle Bestimmtheit in seinen Prinzipiaten setzt und (2) weil es an sich selbst alle Bestimmtheit aufhebt und jenseits von allem ist; es ist daher als Es Selbst unbegrenzt im Sinne der Transzendenz über jede Grenze. Speusipp denkt damit die Unendlichkeit des Einen im Grunde nicht anders als Proklos. Denn Proklos lehnt es ausdrücklich ab, die Unbegrenztheit des Absoluten καταφατικῶς zu verstehen, so daß ihr die Bestimmung der Grenze entgegengesetzt werden könnte;83 vielmehr muß das Eine gerade um seiner Absolutheit willen immer aus beiden Gegensatzbestimmungen herausgenommen werden, und dies geschieht nur, wenn seine Unendlichkeit ἀποφατικῶς als Verneinung der höheren der beiden entgegengesetzten Bestimmungen verstanden wird;84 sie besagt also genauer die Transzendenz über πέρας und ἄπειρον (vgl. In Parm. 1123, 22 – 1124, 15). Wenn das Eine im übergegensätzlichen Sinne grenzenlos ist (ἄπειρον οὖν ὡς ὑπὲρ πᾶν πέρας),85 dann liegt auch kein Widerspruch darin, daß es von seinen Prinzipiaten her als deren bestimmendes πέρας und μέτρον angesprochen wird, wie Proklos selber im Blick auf Nomoi IV 716 C hervorhebt;86 seine Ausführungen dazu entsprechen genau dem Sinn von Speusipps 81 Vgl. De comm. math. sc. IV, 15, 21 ff und 16, 17 f (= Fr. 72 und 88 Isnardi Parente). – Dies entspricht ganz der Platonischen Auffassung Parmenides 157 B – 158 D. 82  De comm. math. sc. IV, 15, 7–8. Vgl. Platon, Parmenides 141 E und Speusipp bei Proklos, In Parm. VII, 40, 1–5. 83 Vgl. Proklos, In Parm. 1123, 25 ff. 84 Vgl. Proklos, In Parm. 1124, 6 ff zu 1123, 26–29 und 37 f. 85 Proklos, In Parm. 1124, 24; vgl. 14 f: τὸ ἓν ἐπέκεινά ἐστι πάσης τῆς τοῦ πέρατος σειρᾶς. 86 Proklos, In Parm. 1124, 17–26 (III 110, 13–20 Steel): ἐκεῖ μὲν γὰρ ὡς πάντων ἐφετὸν καὶ ὡς ἀφορίζον πᾶσι τό τε εἶναι καὶ τὴν δύναμιν καὶ τὴν τελειότητα, μέτρον προσηγόρευται πάντων· ἐνταῦθα δὲ ὡς αὐτὸ πέρατος οὐδενὸς οὐδὲ ἄλλου μέτρου δεόμενον, ἄπειρον εἶναι δέδεικται … οὐδὲν γάρ ἐστιν ἐν αὐτῷ πρὸς αὐτὸ πέρας· οὐδὲ γὰρ ἀρχὴ … οὐδὲ μέσον οὐδὲ τέλος. – „Denn das Eine wird dort (Nomoi 716 C) als ‚Maß von allem‘ angesprochen, weil es von allem Seienden erstrebt wird und weil es allem sowohl das Sein als auch die Mächtigkeit und die Vollkommenheit bestimmt, hier (Parmenides 137 D) dagegen wird bewiesen, daß es unendlich ist,

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ἄπειρον ὡς πέρας τῶν ὅλων καὶ μὴ δεόμενον αὐτὸ πέρατος ἄλλου μηδενός. Daß nicht erst Proklos, sondern schon Speusipp das Absolute als übergegensätzlich konzipiert hat, folgt schon aus der Seins­transzen­denz des Einen: Was über die Alternative von Sein und Nicht­sein hin­ausliegt, transzendiert eo ipso alle Gegensätze – das Hinaussein über die axiologischen Urgegensätze „schön“ – „häßlich“ und „gut“ – „schlecht“ ist für das Eine Speusipps ausdrücklich überliefert (De comm. math. sc. IV, 16, 10–11).87 Somit bringt Speusipps elementenphilosophischer Unendlichkeitsbegriff die Seins­transzen­denz des Einen sehr prägnant zum Ausdruck. Wie steht es aber mit seiner Anwendung des quantitativ-limitierenden Unendlichkeitsbegriffs auf das Absolute, die Plotin als Transzendenzvergessenheit zurückweist? Nach Speusipp ist das Eine auch ἄπειρον ὡς ἄληπτόν τε καὶ ἀπεριήγητον πᾶσι τοῖς δευτέροις. Wenn das Eine unfaßbar und unbestimmbar „für (oder durch) alles Zweite“ (πᾶσι τοῖς δευτέροις) ist, so ist dieses Zweite im System Speusipps der Bereich der mathematischen Zahlen, also quantitativ bestimmter Wesenheiten; das Eine selbst ist dann unbestimmbar in quantitativer und numerischer Hinsicht, d.h. ἀδιεξίτητον. Speusipp versteht also die reine Einfachheit des Einen selbst als Negation jeder Vielheit und Teilbarkeit in einem quasi-mathematischen Sinne, nämlich als Subtraktion (ἀφαίρεσις) auf das absolute, unhinterschreitbare Minimum, das jede quantitative Bestimmtheit aufhebt und begrenzt, weil es selber quantitativ absolut unbestimmt ist. Das Eine ist das minimum absolutum kraft seiner als absolute Unbestimmbarkeit in quantitativer Hinsicht verstandenen Einfachheit und gerade darum unendlich. Entgegen der Tendenz der Aristotelischen Berichte und auch der Kritik von Plotin, Porphyrios und Damaskios liegt für Speusipp im Begriff des absolut limitierenden Minimums keinerlei Inferiorität und kein Mangel, was schon daraus erhellt, daß das Eine als Minimum unendlich sein soll. Das absolute Minimum ist für Speusipp gerade kein allerkleinstes Quantum, sondern ganz im Sinne des elementenphilosophischen Grenzbegriffs die Aufhebung von Quantität und Pluralität schlechthin und so das Unendliche. Da ferner das Sein und die fundamentalsten Seinscharaktere wie Ordnung und Schönheit nach Speusipp ursprünglich und in paradigmatischer Reinheit in den Zahlen realisiert sind,88 so ist für ihn quantitative Bestimmtheit offenbar mit Seinsbestimmtheit überhaupt koextensiv. Die quantitative Unbestimmbarkeit eines absoluten limitierenden Minimums besagt dann aber das Herausgeweil Es selbst keiner Grenze noch irgend eines anderen Maßes bedarf … denn nichts ist in Ihm Grenze (im Verhältnis) zu Ihm selbst: denn es hat weder Anfang (Ursprung) … noch Mitte noch vollendendes Ziel.“ 87  Die Übergegensätzlichkeit des Einen ergibt sich auch aus Aristo­teles, Metaphysik N 1087 b 28 f: τῷ ἑνὶ ἢ οὐθὲν ἐναντίον ἢ εἴπερ ἄρα μέλλει, τὸ πλῆθος. 88  De comm. math. sc. IV, 18, 5–9: πρώτοις δὲ ἐν τούτοις (sc. τοῖς ἀριθμοῖς) τὸ ὂν φαίνεται καὶ κάλλος … ἐν οἷς οὐδὲν οὔτε αἰσχρόν ἐστιν οὔτε κακόν.

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nommensein aus jeder Bestimmtheit des Seins schlechthin. So verstanden, ist die Unendlichkeit qua Unausmeßbarkeit des Einen geradezu die mathematisch exakte Fassung seiner Transzendenz und Unfaßbarkeit. Die Anwendung des limitierenden Unendlichkeitsbegriffs (ἄπειρον ὡς ἀδιεξίτητον) auf das Absolute widerspricht darum dessen Seins­transzen­denz in keiner Weise. So wie das Eine als Seinsgrund nicht weniger als das Seiende, sondern überseiend ist, und wie es als Wertprinzip nicht weniger als καλόν und ἀγαθόν, sondern das Über-Schöne und das Über-Gute ist,89 so ist es auch als absolutes, Vielheit und Quantität aufhebendes Minimum nicht weniger als die Zahlen, sondern von einer unendlichen, durch keine Vermehrung der Zahlenreihe auszuschöpfenden Mächtigkeit und Überfülle.90 Die ins Unendliche vermehrbare Reihe aller möglichen Zahlen ist nur die niemals erschöpfende Entfaltung der unbegrenzten δύναμις des absolut Einen, und auch die größte Quantität und Vielheit bleibt immer von der unendlichen Einfachheit des Einen umgriffen und begrenzt. Proklos hat also durchaus Recht, wenn er Speusipps Unendlichkeitsbegriff mit der neuplatonischen Konzeption der Unendlichkeit des Absoluten für vereinbar hält. Welcher spekulative Reichtum im Begriff des limitativ Unendlichen erschlossen ist, beweist die Speusipp ganz nahestehende Unendlichkeitsspekulation eines späteren Platonikers: des Nikolaus von Kues.91 Cusa­nus teilt mit Speusipp das Motiv einer mathematisierenden Metaphysik. So entwickelt er die Koinzidenz der Gegensätze in der unendlichen Einheit im 1. Buch der Docta ignorantia mit Hilfe des limitativen Unendlichkeitsbegriffs.92 Cusa­nus geht aus vom Begriff des Maximum und argumentiert dann folgendermaßen: Das Maximum ist dasjenige, dem gegenüber kein Größeres möglich ist. Die damit gemeinte Überfülle (abundantia) ist das Wesensmerkmal des Einen. Das Maximum ist also die unendliche Einheit; da sie absolut ist, d.h. losgelöst von 89 

De comm. math. sc. IV, 16, 10–11: τὸ δὲ ἕν … καὶ τοῦ καλοῦ καὶ τοῦ ἀγαθοῦ ὑπεράνω εἶναι. Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 352–355 im Blick auf Speusipps σπέρμα-Vergleich (Aristo­teles Metaphysik Λ 7, 1072 b 30 ff und N 5, 1092 a 11 ff) und auf seine Termini προελθεῖν und τέλειον gezeigt hat, hat Speusipp die Aristotelische Akt-Potenz-Unterscheidung vorweggenommen, allerdings mit metaphysischer Prävalenz der δύναμις vor der ἐντελέχεια (die Aristo­teles dann umkehrt). Als Metapher (παρεικάζει) für das Absolute in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit besagt der σπέρμα-Vergleich dann – genau wie bei Plotin, Enneade IV 8, 6, wo er wiederkehrt – die noch unentfaltete, gleichwohl grenzenlose δύναμις und Überfülle des Urgrundes im Sinne von Politeia 509 Β. 91  Auf die enge Verwandtschaft der Metaphysik des Cusa­nus speziell mit dem innerakademischen System Platons hat Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles, 569 mit Anm. 41 hingewiesen. Die Herkunft des Cusanischen Einheits-, Unendlichkeits- und Koinzidenzdenkens aus der Platonischen Henologie und Prinzipienlehre hat gerade die neuere Cusa­nusForschung betont, vgl. etwa Paul Wilpert, „Das Problem der coincidentia oppositorum in der Philosophie des Nikolaus von Kues“, in: Humanismus, Mystik und Kunst in der Welt des Mittelalters, Leiden 1953, 39–55; Joseph Koch, Die ars coniecturalis des Nikolaus von Kues, Köln 1956; Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. 92 Vgl. die Interpretation von Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, 158– 182; vgl. auch 182–232 über den Koinzidenzbegriff der späteren Schriften. 90 Wie

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jeder Beziehung und von jeder Begrenzung, läßt sich ihr nichts entgegenstellen, also auch nicht die Kleinheit; das absolut Eine ist darum zugleich das Minimum, das so mit dem Maximum koinzidiert (Docta ignorantia I 2 n. 5).93 Das Minimum ist dasjenige, demgegenüber kein Kleineres möglich ist; weil es das absolut Kleinste ist, koinzidiert es in der übergegensätzlichen Einheit mit dem absolut Größten.94 Cusa­nus hat diesen Gedanken mathematisierend präzisiert: Die Vielheit des Seienden ist durch die Zahl geordnet. Diese Ordnungsfunktion hätte die Zahl nicht, wenn sie unendlich wäre, da im Unendlichen alle Unterschiede aufgehoben sind. Es gibt darum keine absolut größte Zahl, zu welcher durch Addition nicht eine noch größere gedacht werden könnte; der Aufstieg in der Zahlenreihe ist aktuell begrenzt, aber potentiell unendlich (Docta ignorantia I 5 n. 13, 7–21). Aber beim Abstieg in der Zahlenreihe gilt nicht das Gleiche: er ist aktuell und potentiell begrenzt. Denn gäbe es kein absolut Kleinstes, zu welchem durch Subtraktion nicht ein noch Kleineres gedacht werden kann, so büßte die Zahl ihren Einheitscharakter ein, in dem auch ihre Ordnungsfunktion gründet. Also ist die Einheit als Element jeder Zahl das absolut Kleinste, zu dem kein Kleineres mehr möglich ist. Da es nichts Kleineres (= Einfacheres, wie bei Speusipp) geben kann als die Einheit, so ist das Eine das minimum absolutum,95 das mit dem Maximum koinzidiert (Docta ignorantia I 5 n. 13, 22–31). Ich denke, es könnte ein Gedankengang von dieser Art gewesen sein, der Speusipp zu seiner Konzeption des limitativ Unendlichen geführt hat:96 Denn ihr zufolge ist das Eine unendlich, weil es als Einfachstes das absolute Minimum ist; und da es nichts Größeres geben kann als das Unendliche, ist es auch 93 Vgl. bes. Docta ignorantia I 2 n. 5, 7–9 und 11–12: „… quod, si ipsa talis unitas ab omni respectu et contradictione universaliter est absoluta, nihil sibi opponi manifestum est, cum sit maximitas absoluta … et quoniam nihil sibi opponitur, secum simul coincidit minimum.“ 94 Vgl. Docta ignorantia I 4 n. 11, 13–18. Dazu Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, 158 ff. 95  Dies sagt Platon übrigens auch, aber von dem seienden – nicht dem absoluten – Einen, Parmenides 153 A 7 f: τὸ ὀλίγιστον ἄρα πρῶτον· τοῦτο δ’ ἔστι τὸ ἕν. 96  Cusa­nus kannte übrigens Speusipps Unendlichkeitsbegriff aus Proklos’ Parmenideskommentar, vgl. seine Randbemerkung zu 1118, 10 ff (ed. Karl Bormann, Heidelberg 1986, 125, Marg. 505): „nota de infinito quomodo dupliciter dicitur et deo utroque modo convenit.“ Den Begriff des limitativ Unendlichen im Sinne Speusipps erfaßt exakt die Marginalie 514 (Bormann, 127) zu 1124, 16 f (= Plat. Nomoi 716 C): „nota hic posset dubitatio oriri quomodo deus dicitur infinitus et cum hoc mensura omnium, videtur enim si est infinitus cum non habeat finem … oportet igitur considerare quomodo non habere finem est ante quantitatem, et ideo nec convenit ei esse maius nec esse minus, cui igitur non convenit esse maius, nec minus, est maximum pariter et minimum.“ Die Koinzidenz liegt hiernach schon in der limitativ verstandenen Unendlichkeit als solcher! Speusipp ganz nahe kommt schon Docta ignorantia I 25 n. 84, 2–3 die Erwähnung des Terminus infinitus, cuius non est terminus. Ebenso De venantione sapientiae, cap. 27 n. 80, 10–12: „Sed interminus terminus omnium finibilium finis est et omnium praecisionum praecisio et terminus“. Das entspricht genau Speusipps unendlichem πέρας τῶν ὅλων.

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das absolute Maximum und so πέρας τῶν ὅλων, für Speusipp primär πέρας τῶν ἀριθμῶν. Genau dies sagt Cusa­nus auch: Non potest autem unitas numerus esse, quoniam numerus excedens admittens nequaquam simpliciter minimum nec maximum esse potest. Sed est principium omnis numeri quia minimum. Est finis omnis numeri quia maximum. Est igitur unitas absoluta, cui nihil opponitur, ipsa absoluta maximitas … Haec unitas cum maxima sit, non est multiplicabilis … Non potest igitur ipsa numerus fieri … Quapropter non recipit ipsa unitas magis nec minus, nec est multiplicabilis.97 Die Einheit aber kann nicht Zahl sein, denn die Zahl läßt ein Mehr oder Weniger zu und kann deshalb unmöglich ein schlechthin Kleinstes oder Größtes sein. Die Einheit ist vielmehr Prinzip jeder Zahl, weil sie das absolut Kleinste ist; sie ist die Grenze jeder Zahl, weil sie das absolut Größte ist. Also ist die absolute Einheit, welche keinen Gegensatz hat, die absolute Größtheit selbst … Sie kann folglich nicht Zahl werden … Somit nimmt die Einheit selbst kein Mehr und kein Weniger in sich auf noch kann sie vervielfältigt werden.

Die Unendlichkeit der absoluten Einheit, in der Minimum und Maximum koinzidieren, wird hier ganz Platonisch-akademisch in ihrer Transzendenz über magis et minus, excedens et excessum gesehen, also in der Transzendenz über das zweite Prinzip der Akademie. Ebenso ist für Speusipp das Eine unendlich, weil es die in der doppelten Richtung auf das Mehr und auf das Weniger unbegrenzte Vielheit des Materialprinzips übersteigt, indem es sie in seiner absoluten Einfachheit umgreift und begrenzt (vgl. De comm. math. sc. IV, 15, 21 ff; 16, 17 f).

6. Die Bedeutung des neuen Speusipp-Fragments Wir können die Bedeutung des neuerschlossenen Speusipp-Testimoniums nun abschließend zusammenfassen: 1. Das Referat bei Proklos, In Parm. 1118, 10–19 läßt sich im Kontext der Metaphysik Speusipps restlos verstehen und bereichert zugleich unsere Kenntnis seiner Philosophie um einen spekulativ äußerst fruchtbaren limitativen Unendlichkeitsbegriff, der in seiner elementenphilosophischen Begründung höchst charakteristisch für Speusipps Denken ist. Danach ist das Eine doppelt unendlich: als unmeßbares minimum absolutum, das als Unendliches zugleich das Maximum ist, und als transzendierende Grenze von allem, als alle Bestimmtheit in seinen Prinzipiaten setzendes und in sich selbst aufhebendes Prinzip.98 Während dieser zweite Unendlichkeitsbegriff, den auch Proklos vertritt,99 repräsentativ für die Akademie insgesamt und vor allem auch für Platon in Anspruch zu nehmen ist, ist der erste für Speusipp spezifisch und kann erst von 97 

Nikolaus von Kues, Docta ignorantia I 5 n. 14, 1–8 und 12–13. in diesem Sinne Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus II 4: Das Eine ist ἡ πάντων θέσις καὶ ἡ πάντων ἀφαίρεσις καὶ ὑπὲρ πᾶσαν καὶ θέσιν καὶ ἀφαίρεσιν. 99 Vgl. Proklos, In Parm. 1124, 16 ff. 98 Vgl.

XII. Speusipp und die Unendlichkeit des Einen

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ihm entwickelt worden sein, da er den Verzicht auf die ontologische Ideenlehre vor­aussetzt und nunmehr die Unendlichkeit des Einen von den mathematischen Zahlen als seinen ersten Prinzipiaten her limitativ als Unmeßbarkeit faßt; er scheint eine mathematisierende Dialektik des Minimums, das koinzidierend das Maximum ist, zu implizieren, die in gewisser Weise den Koinzidenz- und Unendlichkeitsbegriff des Cusa­nus vorwegnimmt. Erst von diesem Unendlichkeitsbegriff und seiner Minimum-Maximum-Dialektik aus läßt sich jedenfalls die bei Porphyrios und Damaskios für Speusipp bezeugte Auffassung des ἕν als Minimum so verstehen, daß sie mit der für Speusipp ebenfalls sicher überlieferten Überseiendheit des Einen selbst vereinbar bleibt. Zugleich läßt gerade die limitierende Fassung der Unendlichkeit des Einen als Unmeßbarkeit ihre überquantitative Bedeutung profiliert hervortreten und hebt dadurch das absolute Eine in seiner Transzendenz von der immanenten mathematischen Monade deutlich ab.100 2. Durch den Nachweis eines metaphysischen Unendlichkeitsbegriffs bei Speusipp wird „der neuplatonische Charakter des Platonismus und der Platonische Charakter des Neuplatonismus“101 in einer Frage von höchster metaphysischer Relevanz erneut bestätigt. Der vermeintlich „typisch spätantike“ – nach manchen spezifisch gnostische, orientalische oder gar indische – Gedanke der Unendlichkeit des Absoluten erweist sich als in Wirklichkeit altakademisch und genuin Platonisch.102 Die aufgrund des Proklos-Referats mögliche Rekonstruktion des Speusippeischen Unendlichkeitsbegriffs hat Rückwirkungen auf unser Platon-Verständnis: sie bestätigt die systematische und prinzipielle Bedeutung der Parmenides-Stelle 137 D und damit ihre Verbindbarkeit mit Politeia 509 B. Da Platon die Unendlichkeit des Einen selbst damit begründet, daß es vermöge seiner absoluten Einfachheit ἀρχή und τελευτή transzendiert, steht der Parmenides im Horizont der gleichen στοιχεῖον-Metaphysik wie Speusipps zweiter, elementenphilosophischer Unendlichkeitsbegriff, was der Vergleich mit Nomoi 716 C, den Proklos vornimmt, zusätzlich bestätigt. Dagegen kann der mathematisierende erste Unendlichkeitsbegriff Speusipps, der auf dem Verzicht auf die Ideenlehre beruht, nicht für Platon beansprucht werden. Die Kritik von Plo 100  Unter diesem Aspekt relativiert sich auch die Differenz zu Plotins Unendlichkeitsbegriff ganz wesentlich, vgl. Enneade V 5, 11, 1–3: καὶ τὸ ἄπειρον τούτῳ (sc. τῷ ἑνὶ) τῷ μὴ πλέον ἑνὸς εἶναι μηδὲ ἔχειν πρὸς ὃ ὁριεῖ τι τῶν ἑαυτοῦ· τῷ γὰρ ἓν εἶναι οὐ μεμέτρηται οὐδ’ εἰς ἀριθμὸν ἥκει. V 5, 4, 13–14: μέτρον γὰρ αὐτὸ (sc. τὸ ἓν) καὶ οὐ μετρούμενον. I 8, 2, 5: μέτρον πάντων καὶ πέρας sc. τὸ ἕν. 101 Vgl. den berühmten Aufsatz dieses Titels von Cornelia J. de Vogel, in: Mind 62 (1953), 43–64. 102  Orientalischen Ursprung des Unendlichkeitsgedankens nimmt an z.B. Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. 1, Göttingen 1934, Bd. 2, 1954; die indische Herkunft von Plotins Einheitsmetaphysik behauptete Émile Bréhier, La philosophie de Plotin, Paris 1928. Für den griechischen Ursprung traten vor Krämer vor allem E. R. Dodds, Cornelia de Vogel, André-Jean Festugière und A. H. Armstrong ein.

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Teil II: Platons Metaphysik des Einen

tin, Porphyrios und Damaskios – die sich bezeichnenderweise nur gegen den ersten, nicht aber gegen den zweiten Unendlichkeitsbegriff Speusipps richtet – besteht von Platon her insofern zu Recht, als sie das quantitierende Denken für die Metaphysik des Einen zurückweist; sie verfehlt Speusipp aber, wenn sie ihm Transzendenzvergessenheit vorwirft. Bezüglich der Unendlichkeit des Absoluten bei Platon ist Plotins Auslegung als Überfülle an Mächtigkeit im Hinblick auf Politeia 509 B und als absolute, überseiende, selbst den Begriff des Einen transzendierende Einfachheit im Hinblick auf Parmenides 141 E / 142 A textlich wie sachlich von höchster Kongenialität. Proklos’ und Syrians dem Parmenides-Text exakt angemessene und den innerakademischen Hintergrund einbeziehende Hervorhebung der negativen und übergegensätzlichen Bedeutung der Unendlichkeit des Einen ist eine weitere Präzisierung innerhalb des von Plotin abgesteckten Interpretationshorizontes. Die Differenz zwischen der (ersten) Speusippeischen und der neuplatonischen, von Plotin bestimmten Konzeption der Unendlichkeit des Absoluten erweist sich damit als die innerakademische Differenz zwischen Platon und Speusipp, die innerhalb des gemeinsamen Rahmens der στοιχεῖον-Metaphysik bleibt. Proklos sieht darum mit Recht keine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen den Auslegungen Speusipps und Plotins bzw. Porphyrios’; eine solche wird schon durch die von Plotin nicht kritisierte zweite, elementenphilosophische Unendlichkeitskonzeption Speusipps ausgeschlossen, mit der ihrerseits die erste, mathematisch-limitative vereinbar sein muß, wenn beide von Speusipp auf das Eine angewendet werden. Die verbleibende Differenz erklärt sich aus den Besonderheiten der mathematisierenden Ontologie Speusipps, die die Neuplatoniker nicht mehr teilten, während Cusa­nus ihr wieder nahekam. 3. Proklos referiert die beiden Unendlichkeitskonzepte Speusipps als Auslegung zu der Ableitung der Unendlichkeit des Einen Parmenides 137 D 6–8. Ebenso bezieht er Speusipps Zeugnis über die Prinzipienlehre Platons (In Parm. VII 40, 1–7 = Test. Plat. 50 Gaiser) auf den Parmenides, wobei er das überseiende Eine selbst mit dem bestimmungslosen absoluten Einen der ersten Hypothesis identifiziert und die unbestimmte Zweiheit mit dem seienden Einen der zweiten Hypothesis (bzw. einem bestimmten Aspekt von ihm),103 beides wohl zu Recht. Wenn Proklos also beide Aussagen Speusipps über das Eine auf den Parmenides bezog, dann scheint ihm dies durch seine Quelle – entweder Speusipp selbst oder ein vermittelnder Autor wie Jamblich – nahegelegt worden zu sein. Das heißt natürlich nicht, daß Speusipp einen Kommentar zu diesem Dialog verfaßt hat. Es sollte aber sehr wohl mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Speusipp den Parmenides als ein wichtiges literarisches Zeugnis der Prinzi103  Zu denken ist vor allem an die ins Unendliche iterierte wechselseitige Implikation von ἕν und ὄν im ἓν ὄν Parmenides 142 D – 143 A. Auf die ἀόριστος δυάς bezieht die zweite Hypothesis auch Hösle, Wahrheit und Geschichte, 473 f und 490; ebenso Horn, „Der Platonische Parmenides“ und Dillon, „Plotinus, Speusippus and the Platonic Parmenides“.

XII. Speusipp und die Unendlichkeit des Einen

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pienlehre herangezogen hat, ähnlich wie Xenokrates dies nachweislich mit dem Timaios tat. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß die metaphysische Interpretation des Parmenides, die vor Plotin bei Moderatos und – wahrscheinlich – bei Eudoros, also in der stark altakademisch geprägten neupythagoreischen Tradition greifbar ist, ebenso auf Speusipp zurückgeht,104 wie die „neuplatonische“, eine zeitliche Weltentstehung ablehnende Timaios-Exegese nachweisbar auf Speusipp und Xenokrates zurückgeht.105 Dafür spricht jedenfalls der Umstand, daß Speusipp Platons in pythagoreischer Einkleidung referierte Position genetisch aus dem Eleatismus ableitet, wie Krämer gezeigt hat.106 Die Speusippeische Herkunft der „neuplatonischen“ Parmenides-Interpretation, die ohnehin die einzige philosophisch befriedigende Erklärung geblieben ist, ist aber ein durchschlagendes Argument für ihre historische Richtigkeit – denn Speusipp mußte wissen, was sein Onkel gelehrt hat. Sicher ist jedenfalls, daß Speusipp bei Proklos, In Parm. VII 40, 1–7 die ­Lehre vom überseienden und über alle Bestimmungen hin­ausliegenden Einen selbst für Platon bezeugt.107 Es ist darum ausgeschlossen, daß der einzige Dialog, in dem Platon unverhüllt über das Eine spricht, ohne positiven metaphysischen Gehalt sein soll. Die in mehreren Varianten vertretene nichtmetaphysische Parmenides-Auslegung setzt sich in unaufhebbaren Widerspruch zu Platons von den Schülern bezeugter innerakademischer Prinzipienlehre. Die Zeugnisse der Schüler und Platons eigene Aussagen im Parmenides ergänzen und bestätigen sich vielmehr gegenseitig und passen zusammen wie Schlüssel und Schloß. Platon hat die Prinzipienlehre in keinem anderen Dialog so weitgehend enthüllt wie im dialektischen Teil des Parmenides; dieser besitzt darum die höchste Verbindlichkeit von allen Schriften Platons.108

104 

Dazu oben Kapitel XI. Speusipp, Fr. 54 a–b Lang = Fr. 94–95 Isnardi Parente = Fr. 61 a–b Tarán; Xenokrates, Fr. 33 und 54 Heinze. – Dazu Baltes, Weltentstehung des platonischen Timaios I, 5–22 und 210–216. 106 Krämer, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“, 4 f und 11 ff. Daß sich Speusipp damit auf den Parmenides bezieht, glaubt Werner Beierwaltes, Art. „Hen“, in: RAC, Bd. XIV (1987), 450; ebenso Isnardi Parente, „Speusippo in Proclo“, spez. 307 ff, 309 f; Dillon, Proclus’ Commentary, 486 hält es nicht für ausgeschlossen. – Seit der Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes 1992 hat sich John Dillon meiner These angeschlossen, daß die metaphysische Deutung des Parmenides auf Speusipp zurückgeht und wir seine Deutung in Test. Plat. 50 vorliegen haben, und sie in mehreren Publikationen mit einer Reihe von weiteren Argumenten untermauert: „Plotinus, Speusippus and the Platonic Parmenides“ (2000); Heirs of Plato, 57 ff (2003); „Speusippus and the Ontological Interpretation of the Parmenides“ (2010); „Reconstructing the Philosophy of Speusippus“ (2012). 107  Die Beziehung auf Platon ist durch die „interminabilis dualitas“ in Z. 4 und 7 gesichert. 108  Dazu ausführlich Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282 ff. 105 Vgl.

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XIII.

Aufwachen zu sich selbst: Plotins Begriff der Einsicht 1. Einsicht und diskursives Denken Immer wieder, wenn ich aus dem Leib aufwache zu mir selbst, lasse ich das Andere hinter mir und werde mir selbst innerlich, schaue eine wunderbar gewaltige Schönheit und vertraue, in solchem Augenblick ganz eigentlich zum höheren Bereich zu gehören, verwirkliche höchstes Leben, bin identisch mit dem Göttlichen geworden und auf seinem Fundament gegründet, denn ich bin zur transzendenten Wirklichkeit (ἐνέργεια ἐκείνη) gelangt und gründe mich selbst hoch über allem, was sonst intelligibel (νοητόν) ist; nach diesem Stillstehen (στάσις) im Göttlichen, wenn ich da aus dem Geist (νοῦς) herniedersteige in das diskursive Denken (λογισμός), immer wieder muß ich mich dann fragen: wie ist dies mein jetziges Herabsteigen denn überhaupt möglich?1

So beschreibt Plotin seine Erfahrung der Einsicht. Er beschreibt sie als eine Erfahrung ganz eigener Art, die man durchaus in einem bestimmten Sinne „mystisch“ nennen kann, auch wenn sie für Plotin noch nicht die Erfahrung des ekstatischen Einsseins mit dem Absoluten ist, auf die sein Denken als ultimative Erfüllung hinzielt. 2 Plotin beschreibt die Erfahrung eines „Erwachens“ ins wahre Selbst,3 das identisch ist mit dem göttlichen oder absoluten Geist, der als das Höchste nach dem Einen selbst zugleich die All-Einheit des wahren, also des ewigen und intelligiblen Seins ist.4 Das wahre Selbst des Denkens nämlich 1 Plotin, Enneade IV 8, 1, 1–9: πολλάκις ἐγειρόμενος εἰς ἐμαυτὸν ἐκ τοῦ σώματος καὶ γινόμενος τῶν μὲν ἄλλων ἔξω, ἐμαυτοῦ δὲ εἴσω, θαυμαστὸν ἡλίκον ὁρῶν κάλλος, καὶ τῆς κρείττονος μοίρας πιστεύσας τότε μάλιστα εἶναι, ζωήν τε ἀρίστην ἐνεργήσας καὶ τῷ θείῳ εἰς ταὐτὸν γεγενημένος καὶ ἐν αὐτῷ ἱδρυθεὶς εἰς ἐνέργειαν ἐλθὼν ἐκείνην ὑπὲρ πᾶν τὸ ἄλλο νοητὸν ἐμαυτὸν ἱδρύσας, μετὰ ταύτην τὴν ἐν τῷ θείῳ στάσιν εἰς λογισμὸν ἐκ νοῦ καταβὰς ἀπορῶ, πῶς ποτε καὶ νῦν καταβαίνω. 2  Dazu bleibt grundlegend Beierwaltes, Denken des Einen, 123–147; ders., „Reflexion und Einung. Zur Mystik Plotins“, in: Werner Beierwaltes/Hans Urs von Balthasar/Alois M. Haas, Grundfragen der Mystik, Einsiedeln 1974, 9–36; vgl. auch Beierwaltes, Plotin, 82–88. 3  Zu Plotins Begriff des Selbst und des Geistes umfassend Beierwaltes, Das wahre Selbst, bes. 16–83 und 84–114. 4  Den Versuch einer Gesamtdeutung der Philosophie Plotins habe ich in Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus vorgelegt. Zu Plotins Mystik der Ekstasis dort 49–58. Zu Plotins Metaphysik des Geistes, von der hier nur einige Grundzüge entwickelt werden können, dort ausführlich 59–97. Zu Plotins Theorie des absoluten Einen und ihrer Herkunft von Platon, die hier ganz ausgespart bleiben muß, für den Kontext meiner Ausführungen aber wichtig ist, vgl. Halfwassen, Aufstieg zum Einen.

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ist die Totalität alles Intelligiblen und steht als solche über jedem besonderen Gehalt des Denkens; es ist die Fülle und der Inbegriff aller reinen Seinsgehalte und so eine „wunderbar gewaltige Schönheit“, deren Anschauung uns beseligt. Diese Erfahrung des wahren Selbst ist ein „Stillstehen im Göttlichen“, weil das Einssein mit dem Ganzen kein diskursives Hin und Her zwischen verschiedenen Gedankeninhalten mehr kennt. Dieses Ruhen in sich selbst ist aber gleichwohl nichts Passives, sondern ganz im Gegenteil die höchste und intensivste Selbsttätigkeit: die Tätigkeit des reinen Einsehens (νοεῖν) selbst. Diese reine Tätigkeit des Einsehens ist zugleich das ganz und gar ungegenständliche, nämlich rein tätige Wesens des Seins. Das Sein (ὄν, εἶναι, οὐσία) ist nämlich, so lehrt uns Plotin, kein außer uns Vorfindliches und dinglich Vorhandenes, es ist auch kein reiner Wesensbestand, den das Denken in sich selbst findet, sondern es ist die alle reinen Wesensbestände aktiv vollziehende und in sich selbst versammelnde Tätigkeit des Einsehens: das In-Eins-Sehen aller Seinsgehalte, das diese nicht vorfindet, sondern sie in ihrem In-Eins-Sehen allererst ins Sein entbirgt und hervorbringt.5 Als diese Alles in Eins versammelnde Tätigkeit ist das Sein bei sich selbst und weiß sich selbst. Das Sein selbst wird so von Plotin als absolutes Selbstbewußtsein gedacht, dessen einigende Tätigkeit alle Gehalte allererst ins Sein hervorbringt und in seiner eigenen Einheit umfaßt und erhält. In genau diesem Sinne ist das Sein für Plotin Geist. Dieses absolute Selbstbewußtsein des göttlichen Geistes ist unser wahres Selbst, insofern wir denkende Wesen sind. Es ist der ewig aktive Einheitsgrund unserer Identität mit uns selbst, der uns immer gegenwärtig bleibt und uns nie verläßt. Es ist der Grund unseres Selbstbewußtseins, der diesem allererst ermöglicht, sich in der bunten Vielheit und Verschiedenheit seiner Denkinhalte, Erfahrungen und Erlebnisse doch stets als mit sich identisches Selbst zu wissen und zu erfahren, das sich in all jener Mannigfaltigkeit als ein und dasselbe Selbst durchhält.6 Darum können wir unsere Einheit mit dem Geist auch wirklich erfahren: nämlich dann, wenn unser Denken sich von der Mannigfaltigkeit seiner inneren und äußeren Erfahrungen und Erlebnisse abkehrt und sich ganz in die einigende Tätigkeit des Einsehens hinein sammelt; als diese einigende Tätigkeit, die in ihrem Vollzug bei sich selbst ist, ist unser Selbstbewußtsein mit dem absoluten Geist identisch.7

5  Das ist stark abkürzend formuliert; für eine eingehende Analyse der Selbstkonstitution des Geistes in seinem Transzendenzbezug zum jenseitigen Einen vgl. Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 328–350 (zur Produktivität des Geistes dort auch 350–365) und ders., Plotin und der Neuplatonismus, 84–97. Zu Plotins Begriff des Seins ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 275 ff und ders., „Sein als uneingeschränkte Fülle“. 6 Vgl. dazu Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein und ders., Plotin und der Neuplatonismus, 132 ff. 7 Vgl. dazu eingehender Beierwaltes, Das wahre Selbst, 97 ff.

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Ebenso erstaunlich wie die Erfahrung der Identität mit dem absoluten Geist, aber nicht ebenso beglückend und erfüllend, sondern im Gegenteil befremdend und beunruhigend ist jene andere Erfahrung, die Plotin beschreibt: das Herausfallen aus dem absoluten Denken,8 der Abstieg in die Diskursivität unseres gewöhnlichen, alltäglichen Denkens, das zwischen distinkten Gehalten hin- und hergeht und dabei nicht mehr bei sich selbst und beim Sein selbst ist, sondern nur noch bei diesem oder jenem, nämlich bei eben dem Gehalt, der ihm gerade gegenwärtig ist und seine Aufmerksamkeit auf sich wendet. Dieses diskursive Denken des λογισμός oder der διά-νοια ist ein propositionales, d.h. satzförmiges und in Sätzen sich aussprechendes Denken. Denn im Hin- und Hergehen zwischen seinen Gehalten trennt es diese von sich selbst und von einander und verknüpft sie zugleich miteinander, indem es diesem jene Bestimmung zuspricht und jene andere abspricht; indem es also zugleich synthetisch und disjunktiv verfährt, hat es die Form des Urteilens. Genau diese Urteilsform des diskursiven Denkens, seine Propositionalität, ist für Plotin auch der Grund, warum das diskursive Denken fortwährend sich selbst verfehlt: indem es seine Gehalte von sich selbst und von einander trennt, ist es niemals bei sich selbst, sondern immer nur bei diesem oder jenem Gehalt. Aus demselben Grunde denkt das diskursive Denken auch niemals das Sein selbst, sondern immer nur dieses oder jenes besondere Seiende.9 Zwar ist das Denken als solches aufgrund seiner Intentionalität immer ein Aussein auf etwas, also auf Gehalt und damit letztlich auf Sein als den Inbegriff aller Gehalte; ebenso ist es aufgrund seiner Selbstbeziehung immer auch ein Aussein auf sich selbst, auf sein Wissen von sich selbst und sein Beisichselbstsein. Aber dieses doppelte Aussein auf das Sein und auf sich selbst bleibt im diskursiven Denken notwendig unerfüllt, und zwar eben aufgrund seiner diskursiven Struktur, aufgrund seiner Urteilsförmigkeit, seiner Propositionalität. Erfüllung finden die Suche nach dem Sein und die Suche nach sich selbst, die für das Denken als Denken konstitutiv sind, nur gemeinsam in der von Plotin beschriebenen Transformation des Denkens ins reine Einsehen, das als solches das Sein selbst ist. Die Einheit mit sich selbst im Einssein mit dem Sein selbst ist die Grundlage unseres Selbstbewußtseins und ermöglicht allererst unser bewußtes Leben und damit zugleich alles, was wir als distinkt erfassen und in Urteilen ausdrücken können. Plotin analysiert genau, wie die diskursive Struktur dessen, was er Seele (ψυχή) nennt, durch eine Selbstentäußerung des Geistes entsteht und wie sie durch ihre Herkunft aus dem Geist bestimmt bleibt.10 Aber das soll hier  8 Vgl.

dazu eingehend Beierwaltes, Plotin, 244 ff und bes. 248 ff. Struktur des diskursiven Denkens bei Plotin vgl. Beierwaltes, Plotin, 50–61 und Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 98–101. 10 Vgl. dazu eingehender Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 98–109; ders., „Die Seele und ihr Verhältnis zum Geist bei Plotin“, in: Katja Crone/Robert Schnepf/Jürgen Stolzenberg (Hgg.), Über die Seele, Berlin 2010, 56–76.  9  Zur

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nicht unser Thema sein. Hier soll es vielmehr darum gehen, wie Plotins Geistmetaphysik die Erfahrung des Einsseins mit dem Geist entfaltet, indem sie die nicht-propositionale Struktur des Geistes analysiert. In Plotins Analyse der Erfahrung der Einsicht lassen sich mindestens die folgenden Aspekte als wesentlich unterscheiden: (1) Sie ist eine Erfahrung der Verinnerlichung, der Einkehr des Denkens in sich selbst; (2) sie ist eine Erfahrung der Einheit mit dem Sein und der Einheit des Seins; (3) sie ist eine Erfahrung konkreter Totalität als absoluter Fülle; (4) sie ist eine Erfahrung absoluter Schönheit; und (5) sie ist ein absolutes Selbstbewußtsein, das alle Formen von Bewußtsein, Lebendigkeit und Selbstbeziehung zugleich ermöglicht, übersteigt und erfüllt.

2. Verinnerlichung Unser alltägliches diskursives Bewußtsein ist konstitutiv selbstvergessen. Ich betrachte z.B. einen Baum, ich höre ein Musikstück oder ich analysiere ein Argument. Indem ich das tue, bin ich nicht bei mir selbst, sondern bei dem Baum, den ich sehe, bei der Musik, die ich höre, oder bei der Gedankenverknüpfung, die ich analysiere. Zwar kann ich mir dabei jederzeit bewußt machen, daß ich es bin, der sieht, der hört und der nachdenkt. Aber dieses Selbstbewußtsein ist mir im Vollzug jener Tätigkeiten nur horizonthaft gegenwärtig und keineswegs jederzeit thematisch präsent.11 Im Gegenteil: Je intensiver und konzentrierter ich jene Tätigkeiten ausübe, umso mehr vergesse ich dabei mich selbst. Ich bin dann ganz bei den besonderen Weltinhalten, die sie mir präsentieren, so daß ich mich selbst an diese Gehalte geradezu verliere. Um mich selbst zu gewinnen, bedarf es darum einer Form des Denkens und bewußten Lebens, das sich nicht an distinkte Weltgehalte verliert, die im diskursiven Denken bloß nachträglich durch Urteile verknüpft werden. Es bedarf eines Denkens, das sich in sich selbst sammelt und dabei nicht entleert, sondern das erfüllt ist, aber ohne sich an distinkte Gehalte hinzugeben und sich so selbst zu vergessen. Es bedarf mit anderen Worten eines Denkens, das ursprüngliche Einheit ist und nicht bloße Synthesetätigkeit, also nachlaufende Versammlung von an sich Getrenntem. Dieses andere, nicht-diskursive und nicht-propositionale Denken nennt Plotin mit Platon und Aristo­teles Nous oder Noesis.12 Er beschreibt die Transfor11 

Eine eindrucksvolle Analyse derartiger endlicher Selbstbewußtseinsweisen, für die das „Horizontmodell von Selbstbewußtsein“ grundlegend ist, bietet Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle, 137–268. 12  Zum Begriff des noetischen Denkens und zu seiner Unterscheidung vom dianoetischen Denken bei Platon und Aristo­teles bleibt das Standardwerk von Oehler, ­L ehre vom Noetischen und Dianoetischen Denken unentbehrlich; zur darauf aufbauenden Geistmetaphysik des antiken Platonismus vgl. das umfassende Werk von Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik. Zur systematischen Tragweite des antiken Begriffs von Geist und Denken vgl. auch Klaus Oehler, Subjektivität und Selbstbewußtsein in der Antike, Würzburg 1997, zu

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mation des Denkens durch seine Selbstverinnerlichung bereits in seiner frühesten Schrift (Über das Schöne) als das Aufgehen eines anderen, nämlich geistigen Sehens: Du mußt alles dieses (d.h. alle Gehalte der äußeren Welt) von dir wegnehmen und nicht blicken, sondern gleichsam die Augen schließen und ein anderes Sehen statt des gewohnten in dir erwecken, welches jeder hat, aber wenige brauchens. Und was sieht jenes innere Sehen? …13 Kehre ein zu dir selbst und sieh dich an! …14 bist du rein und allein mit dir selbst zusammen, und nichts hemmt dich auf diesem Wege Eines zu werden, und keine fremde Beimischung hast du mehr in deinem Inneren, sondern bist selbst ganz und gar reines, wahres Licht, nicht durch Größe gemessen, nicht durch Gestalt umgrenzt und so vermindert (verendlicht), aber auch nicht durch Unbegrenztheit zu Größe erweitert, sondern in jeder Beziehung unmeßbar, größer als jedes Maß und erhaben über jedes Wieviel: wenn du so geworden dich selbst erblickst, dann bist du selber schon Sehen und dann verlaß dich auf dich selbst, denn du bist so hoch gestiegen und brauchst nun keinen mehr, der es dir zeigt, sondern blicke unverwandt und schau, denn allein ein solches Auge schaut die gewaltige Schönheit.15

Plotin vergleicht den Nous mit dem Sehen, weil das Sehen – anders als das Hören – keine nachträgliche Synthesis ursprünglich getrennt erfaßter Momente ist, sondern ein in sich einiges Ganzes auf einmal, mit einem Schlag präsentiert; die distinkten Momente, die es umfaßt, können allererst in diesem Rahmen unterschieden werden, so daß in der Simultaneität des Sehens das Ganze immer ursprünglicher ist als die Distinktheit der in ihm versammelten Momente.16 Während wir aber im sinnlichen Sehen immer auf etwas Äußeres bezogen sind, das von uns selbst verschieden ist, ist der Geist ein inneres Sehen, das sich nicht auf Plotin Enrico Peroli, Dio, uomo e mondo. La tradizione etico-metafisica del Platonismo, Milano 2003, bes. Kapitel I und II. 13  Plotin beschreibt in der hier ausgelassenen Passage den Stufenweg zum Schönen selbst aus Platons Symposion als Stufenweg der Verinnerlichung des Denkens; diese Deutung liegt insofern nahe, als bei Platon selbst die Seele und ihre Selbsterkenntnis die entscheidende Vermittlungsstufe zwischen der Betrachtung des sinnlich Schönen und der Schau des absoluten Schönen selbst ist. 14  In der ausgelassenen Passage interpretiert Plotin den berühmten – und für unseren Begriff der „Bildung“ grundlegenden – Bildhauervergleich aus Platons Gorgias und Phaidros im Sinne der Selbstvervollkommnung und Verinnerlichung des Denkens durch seine Reinigung von allen äußeren Gehalten. 15 Plotin, Enneade I 6, 8, 24 – 9, 25: ἀλλὰ ταῦτα πάντα ἀφεῖναι δεῖ καὶ μὴ βλέπειν, ἀλλ᾽ οἷον μύσαντα ὄψιν ἄλλην ἀλλάξασθαι καὶ ἀνεγεῖραι, ἣν ἔχει μὲν πᾶς, χρῶνται δὲ ὀλίγοι. τί οὖν ἐκείνη ἡ ἔνδον βλέπει; … ἄναγε ἐπὶ σαυτὸν καὶ ἴδε· … εἰ γέγονας τοῦτο καὶ εἶδες αὐτὸ καὶ σαυτῷ καθαρὸς συνεγένου οὐδὲν ἔχων ἐμπόδιον πρὸς τὸ εἷς οὕτω γενέσθαι οὐδὲ σὺν αὐτῷ ἄλλο τι ἐντὸς μεμιγμένον ἔχων, ἀλλ᾽ ὅλος αὐτὸς φῶς ἀληθινὸν μόνον, οὐ μεγέθει μεμετρημένον οὐδὲ σχήματι εἰς ἐλάττωσιν περιγραφὲν οὐδ᾽ αὖ εἰς μέγεθος δι᾽ ἀπειρίας αὐξηθέν, ἀλλ᾽ ἀμέτρητον πανταχοῦ, ὡς ἂν μεῖζον παντὸς μέτρου καὶ παντὸς κρεῖσσον ποσοῦ· εἰ τοῦτο γενόμενον σαυτὸν ἴδοις, ὄψις ἤδη γενόμενος θαρσήσας περὶ σαυτῷ καὶ ἐνταῦθα ἤδη ἀναβεβηκὼς μηκέτι τοῦ δεικνύντος δεηθεὶς ἀτενίσας ἴδε· οὗτος γὰρ μόνος ὁ ὀφθαλμὸς τὸ μέγα κάλλος βλέπει. 16 Vgl. dazu Hans Jonas, „The Nobility of Sight“, in: Philosophy and Phenomenological Research 14 (1953), 507–519.

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etwas anderes bezieht, sondern nur auf sich selbst: also ein Sehen seiner selbst. Dieses Sehen seiner selbst aber erfaßt sich selbst nicht als punkthaft isolierte Ich-Monade, nicht als ein distinktes Seiendes neben anderem Seienden, sondern als die Einheit des Ganzen des Seins. Denn als Sehen erfaßt es das Ganze in seiner simultanen Einheit, in der und durch die alles Besondere allererst seine besondere Bestimmtheit durch seine Abgrenzung gegen alles andere hat. Weil Sehen aber Vereinigen und Unterscheiden zumal ist, derart, daß im gesehenen Ganzen die in ihm versammelten Momente in ihrer Unterschiedenheit bewahrt sind, darum sieht das geistige Sehen in der Einheit des Ganzen des Seins sich selbst als die Tätigkeit, die in einem vereint und unterscheidet, also als die Einheit von Vereinigung und Unterscheidung. Die Einheit des Ganzen des Seins ist somit keine nachträgliche Zusammenfügung ursprünglich getrennter Gehalte, sondern eine ursprüngliche und tätige Einheit, aus deren Tätigkeit die Unterschiede allererst hervorgehen, die sie gliedern und mit Gehalt erfüllen.

3. All-Einheit Das Modell, nach dem Plotin die Selbsterfüllung der ursprünglich tätigen Einheit des Seins denkt, entnimmt er der zweiten Hypothese von Platons Parmenides.17 Platon beschreibt dort, wie sich das Eine, das ist, – das „seiende Eine“ – aufgrund seiner ursprünglichen Bestimmungszweiheit von Einheit und Sein in sich selbst in eine Vielheit seiender Einheiten unterscheidet, derart, daß es durch diese Selbstunterscheidung alle Grundbestimmungen der Ideen aus sich selbst und in sich selbst hervorbringt und so zum Ganzen aller Ideen wird. In dieser Selbstunterscheidung und Selbstentfaltung in die Ideentotalität aber verliert das seiende Eine nicht sich selbst, sondern es bleibt in jedem Entfaltungsmoment immer die ursprüngliche Einheit und kehrt so durch seine Entfaltung zugleich zu sich selbst zurück. Das seiende Eine, die Einheit des Seins, ist darum nicht bloß der Grund der Ideen, die es durch seine Selbstentfaltung hervorbringt, sondern es enthält die Ideen als die integrativen Momente eines holistischen Ganzen in untrennbarer Einheit in sich, wie Plotin eindrucksvoll hervorhebt: Vielleicht darf man gar nicht sagen, das (seiende) Eine sei der Grund (αἴτιον) der anderen Ideen (γένη), sondern man muß diese gleichsam als seine Momente (μέρη) und gleichsam als seine Elemente (στοιχεῖα) auffassen und das Ganze als eine einheitliche Wesenheit, die nur durch unser begriffliches Denken (ἐπίνοια) gleichsam zerteilt wird, während es selbst durch seine wunderbare Kraft Eines in Allem ist und als Vieles erscheint und zu Vielem wird, wenn es sich gleichsam bewegt, und diese Vielfältigkeit seiner Wesenheit bewirkt, daß das Eine nicht Eines ist. Wir heben gleichsam Teile von ihm heraus, setzen sie als je besondere Einheit und nennen sie Idee, ohne zu wissen, daß wir nicht das Ganze in eins 17 Vgl. dazu Beierwaltes, Denken des Einen, 193–225 (auch zur Wirkungsgeschichte bis Hegel) und Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 68–74.

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und zumal erblickt haben, sondern nur einen Teil herausheben und die Teile dann wieder verknüpfen, weil wir sie nicht lange Zeit festhalten können, denn sie streben zu sich selbst zurück. Darum entlassen wir sie wieder in das Ganze und lassen sie wieder Eines werden, oder vielmehr Eines sein.18

Es handelt sich also um eine Einheit, die sich als Einheit tätig selbst erfüllt, indem sie sich gliedert, aber ohne ihre Glieder voneinander zu trennen; aus dieser Gliederung gehen alle Ideen, also alle besonderen Gehalte des Seins, hervor, deren Inbegriff und Fülle die sie hervorbringende und in sich behaltende Einheit ­ egel darum ist. Was Plotin beschreibt, ist nichts anderes als jene Struktur, die H anderthalb Jahrtausende später die „Selbstbewegung des Begriffs“ in seiner konkreten Allgemeinheit nennen wird.19 Sie ist die allen Unterschieden vorhergehende ursprüngliche Einheit, die alle Unterschiede durch ihre Selbstunterscheidung erst hervorbringt und dabei zugleich in sich selbst behält und so in jedem Unterschied mit sich selbst identisch bleibt. Dieses Einssein mit sich selbst im Unterschied ist das tätige Wesen erfüllter Einheit, das als solches in einem das Wesen des Seins und das Wesen des Denkens ist. Es ist die Fundamentalstruktur denkender Selbstbeziehung, in der ­Hegel die Grundlage der absoluten Idee und des absoluten Geistes erkennt.20 Sie „produziert“ in einem nicht-handwerklichen Sinne alle Gehalte des Seins, indem sie sich selbst hervorbringt. Die durch die Selbstunterscheidung des Seins hervorgebrachten reinen Seinsgehalte, die einzelnen Ideen, lassen sich als je besondere Gehalte zwar voneinander und vom Ganzen unterscheiden, sie lassen sich aber nicht von dem Ganzen abtrennen und isolieren, innerhalb dessen sie allererst Bestimmtheit und Unterschiedenheit besitzen. Hebt man eine besondere Idee aus dem Seinsganzen her­aus und betrachtet sie für sich selbst, so zeigt sich sogleich ihre Verwobenheit mit allen anderen Ideen, also mit dem Ganzen; denn was sie ist, ist sie nur 18 Plotin,

Enneade VI 2, 3, 20–32: ὅλως δὲ ἴσως οὐδὲ τὸ ἓν φατέον αἴτιον τοῖς ἄλλοις εἶναι, ἀλλ᾽ οἷον μέρη αὐτοῦ καὶ οἷον στοιχεῖα αὐτοῦ καὶ πάντα μίαν φύσιν μεριζομένην ταῖς ἡμῶν ἐπινοίαις, αὐτὸ δὲ εἶναι ὑπὸ δυνάμεως θαυμαστῆς ἓν εἰς πάντα καὶ φαινόμενον πολλὰ καὶ γινόμενον πολλά, οἷον ὅταν κινηθῇ· καὶ τὸ πολύχνουν τῆς φύσεως ποιεῖν τὸ ἓν μὴ ἓν εἶναι, ἡμᾶς τε οἷον μοίρας αὐτοῦ προφέροντας ταύτας ἓν ἕκαστον τίθεσθαι καὶ γένος λέγειν ἀγνοοῦντας ὅτι μὴ ὅλον ἅμα εἴδομεν, ἀλλὰ κατὰ μέρος προφέροντες πάλιν αὐτὰ συνάπτομεν οὐ δυνάμενοι ἐπὶ πολὺν χρόνον αὐτὰ κατέχειν σπεύδοντα πρὸς αὐτά. διὸ πάλιν μεθίεμεν εἰς τὸ ὅλον καὶ ἐῶμεν ἓν γενέσθαι, μᾶλλον δὲ ἓν εἶναι. 19  Zu Hegels geschichtlichem und systematischem Verhältnis zu Plotin umfassend Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, bes. Kapitel IV und V. – Plotins Geistmetaphysik läßt sich ohne Rekurs auf ­Hegel kaum angemessen verstehen, ihre bis heute grundlegende Deutung durch Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos erfolgte ausdrücklich im Vorblick auf Hegels Geistbegriff; vgl. auch Beierwaltes, Platonismus und Idealismus. 20 Vgl. dazu auch Jens Halfwassen, „­Hegel und Plotin über Selbsterkenntnis und Denken seiner selbst: Zur Bedeutung des Neuplatonismus für Hegels Begriff des Geistes“, in: Andreas Arndt (Hg.), Geist? Zweiter Teil. Hegel-Jahrbuch 2011, 165–173 (= ­Hegel und Plotin über Selbsterkenntnis).

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dadurch, daß sie sich von allen anderen Ideen unterscheidet und darin konstitutiv auf sie bezogen ist: sie ist, was sie ist, nur durch ihre Stellung innerhalb des Ganzen, in dem sie auf alle anderen Ideen entweder positiv durch Teilhabe oder negativ durch Andersheit bezogen ist. Darum kehrt sie, wenn wir sie begrifflich aus dem Ganzen herausnehmen und als solche in ihrer Besonderheit thematisieren wollen, durch ihr eigenes Wesen immer wieder zum Seinsganzen zurück. Und weil sie in dieser Weise ein integratives Moment des Ganzen ist, so kehrt in ihr das Seinsganze zu sich selbst zurück und ist so Geist: ewige und vollendete Rückkehr zu sich selbst (ἐπιστροφὴ εἰς ἑαυτόν). Plotin zeigt zugleich die Herkunft des begrifflichen, diskursiven Denkens aus dem Selbstvollzug des Seins als Geist. Diskursivität entsteht nämlich gerade dadurch, daß eine Idee aus dem Seinsganzen so herausgenommen und isoliert wird, daß ihre konstitutive Verwobenheit mit dem Ganzen dabei abgeblendet wird. Die so vereinzelte Idee ist eigentlich keine Idee mehr, nämlich kein erfülltes Wesensganzes, sondern nur noch die Erscheinung einer Idee in einer vereinseitigten und verendlichten Denkgestalt: sie wird zum diskursiven Begriff (λόγος, ἐπίνοια). Diese zu Begriffen vereinseitigten und verendlichten Ideen erscheinen dann sekundär als die distinkten Gehalte einer äußeren Welt. 21 Die ursprüngliche Einheit und Verwobenheit aller Ideen aber bekundet sich noch darin, daß das diskursive Denken seine Gehalte nur dadurch denken kann, daß es sie in Urteilen miteinander verknüpft. Gerade der synthetische, urteilshafte Charakter des diskursiven Denkens bekundet so dessen Herkunft aus dem Nichtpropositionalen: aus der ursprünglich tätigen Einheit des absoluten Seins und Denkens. Das diskursive, begriffliche Denken verdankt alle seine Gehalte und seine synthetische Kraft der Verknüpfung jener Selbstunterscheidung, durch die das reine Sein ewig als Geist zu sich selbst zurückkehrt.

4. Konkrete Totalität Wenn die reinen Gehalte des Seins im diskursiven Denken vereinzelt und verendlicht und dadurch in ihrem wahren Wesen notwendig verfehlt werden, wie lassen sie sich dann auf eine ihrem Wesen angemessene Weise denken? Wie vollzieht sich nicht-propositionales, intellektuell anschauendes Denken? Plotin beantwortet diese Frage, indem er das nicht-propositionale Denken nicht 21  Dazu zusammenfassend Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 109–128. Daß Plotin grundsätzlich keinen Außenweltrealismus vertritt, zeigt völlig überzeugend Gabriel, Skeptizismus und Idealismus in der Antike; dazu, daß und wie Plotin die sinnliche Außenwelt und die dieser zugrundeliegende Materie aus der konstitutiven Selbstvergessenheit der Seele hervorgehen läßt, die ihrerseits aus deren Diskursivität folgt, vgl. bes. 203–254, vgl. auch Gabriels eingehende Analyse von Plotins idealistischer Wahrnehmungstheorie ebd. 254–285.

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nur von außen charakterisiert, durch Abgrenzung von der Diskursivität und Propositionalität des endlichen Denkens, sondern indem er es auch von innen her beschreibt, und zwar so, daß dabei ganz unverkennbar ist, daß er hier eine wirkliche Erfahrung beschreibt. Zu den am stärksten erfahrungsgesättigten Beschreibungen der intellektuellen Schau, die wir bei Plotin finden, gehört die folgende, berühmte Passage: Denn alles ist dort (d.h. im absoluten Geist) durchscheinend und nichts Dunkles und nichts Widerständiges ist dort, sondern Jeder und Alles ist Jedem durchsichtig bis ins Innere; denn Licht ist dem Licht durchsichtig. Denn Jeder hat Alles in sich selbst und sieht wiederum auch im Anderen Alles, so daß überall Alles ist und Alles ist Alles und Jedes ist Alles und unermeßlich ist der Glanz. Jedes einzelne von ihnen nämlich ist groß, denn auch das Kleine ist dort groß und die Sonne ist alle Sterne und jeder Stern ist die Sonne und alle Sterne. In jedem einzelnen ragt zwar etwas anderes hervor, aber zugleich scheint Alles in ihm auf. 22

Plotin beschreibt in diesem faszinierenden Passus, wie die Perspektivität des Sehens im Geist zu einer unendlichen Totalsicht entgrenzt wird. Die Perspektivität, die für das Sehen als solches konstitutiv ist, bleibt dabei durchaus erhalten, sie impliziert nur im Geist keine Beschränkung auf einen begrenzten Seh­ausschnitt mehr. Das Sehen des Geistes ist also keineswegs aperspektivisch, sondern all-perspektivisch. Plotin zeigt, wie sich Perspektivität ohne Verend­ lichung auf einen begrenzten Sehausschnitt denken läßt. Das Sehen des Geistes nimmt eine bestimmte Perspektive ein, die sich von anderen Perspektiven durch ihren besonderen Sehpunkt unterscheidet, die aber auf diesen Sehpunkt nicht eingeschränkt ist, sondern zugleich alle anderen Perspektiven in sich selbst umfaßt: so ist sie ein unendliches Sehen des unendlichen Ganzen, und zwar in der Weise, daß sie das Sich-Selbst-Sehen dieses Ganzen ist. Dieses alle besonderen Perspektiven in eine unendliche Totalsicht integrierende Sich-Selbst-Sehen des Ganzen wird dabei sowohl von dem Ganzen als solchem als auch von jedem einzelnen seiner Momente vollzogen. Indem nämlich jede Idee als integratives Moment im holistisch verfaßten Seinsganzen zugleich alle anderen Ideen, auf die sie sich in Teilhabe oder Abgrenzung bezieht, in sich selbst enthält, ist sie selbst nicht mehr nur Moment des Ganzen, sondern jede Idee ist als solche das Ganze des Seins selbst. Und darum ist jede einzelne Idee als solche nicht nur denkbare und im absoluten Geist immer schon gedachte Wesensgestalt, sondern zugleich selbst denkender und sich selbst denkender Geist: 22 Plotin, Enneade V 8, 4, 4–11: διαφανῆ γὰρ πάντα καὶ σκοτεινὸν οὐδὲ ἀντίτυπον οὐδέν, ἀλλὰ πᾶς παντὶ φανερὸς εἰς τὸ εἴσω καὶ πάντα· φῶς γὰρ φωτί. καὶ γὰρ ἔχει πᾶς πάντα ἐν αὑτῷ, καὶ αὖ ὁρᾷ ἐν ἄλλῳ πάντα, ὥστε πανταχοῦ πάντα καὶ πᾶν πᾶν καὶ ἕκαστον πᾶν καὶ ἄπειρος ἡ αἴγλη· ἕκαστον γὰρ αὐτῶν μέγα, ἐπεὶ καὶ τὸ μικρὸν μέγα· καὶ ἥλιος ἐκεῖ πάντα ἄστρα, καὶ ἕκαστον ἥλιος αὖ καὶ πάντα. ἐξέχει δ᾽ ἐν ἑκάστῳ ἄλλο, ἐμφαίνει δὲ καὶ πάντα. – Vgl. dazu Beierwaltes, Plotin, 25 ff und ders., Denken des Einen, 56 ff.

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Richtet sich also das reine Denken (νόησις) auf ein dem Geiste Innewohnendes, so ist eben dies Innewohnende Formbestimmtheit (εἶδος) und das ist die Idee (ἰδέα). Was ist nun diese Idee? Sie ist Geist, denkendes Sein (νοερὰ οὐσία), wobei die einzelne Idee nicht vom Geist verschieden ist, sondern jede einzelne ist der Geist. Und zwar ist der Geist als Ganzheit die Totalität aller Ideen, die einzelne Idee aber ist der Geist als einzelnes, so wie die ganze Wissenschaft die Totalität ihrer Lehrsätze (θεωρήματα) ist, jeder einzelne Lehrsatz aber ein Teil (μέρος) der ganzen Wissenschaft, nicht als wäre er räumlich von ihr getrennt, sondern er hat als einzelner seine Kraft und Bedeutung erst in dem Ganzen. 23

Weil jede Idee ihre eigene Bestimmtheit als besonderes Eidos ihrer Stellung im Seinsganzen verdankt, enthält sie das Ganze als ihren bestimmenden Grund und als ihr eigenes, bestimmtes Wesen in sich selbst. Darum enthält jede einzelne Idee auch die Tätigkeit des reinen Denkens und Einsehens als den Vollzug der Einheit des Ganzen in sich und ist so selber Geist. Dabei verschwindet die Eigentümlichkeit oder die je eigene Mächtigkeit (δύναμις ἰδία)24 jeder einzelnen Idee nicht in einem unterschieds- und konturlosen Einerlei, sondern sie ist in der Einheit des Ganzen „aufgehoben“, und zwar in jenem ganz besonderen Sinne, daß sie dabei zugleich bewahrt und ent-grenzt, also gesteigert ist; – dies ist genau der von ­Hegel später hervorgehobene Sinn von „Aufheben“. Aber Plotin nimmt nicht nur Hegels Begriff von dialektischer „Aufhebung“ vorweg, mit der von ihm analysierten wechselseitigen dynamischen Identität des Seinsganzen und aller in ihm enthaltenen Ideen konzipiert er genau jene Struktur sich selbst erfüllender Einheit, die ­Hegel die „konkrete Totalität“ des Begriffs nennen wird und die die Fundamentalstruktur erfüllter denkender Selbstbeziehung ist.25 Erst von Plotin her wird auch verständlich, daß ­Hegel nicht die reinen Gehalte des Denkens, sondern die alle Gehalte selbsttätig hervorbringende und vollziehende Einheit des absoluten Denkens seiner selbst „Idee“ nennt; denn schon für Plotin ist die Idee als solche bereits Geist und Denken seiner selbst.

23 Plotin, Enneade V 9, 8, 1–7: εἰ οὖν ἡ νόησις ἐνόντος, ἐκεῖνο τὸ εἶδος τὸ ἐνόν· καὶ ἡ ἰδέα αὕτη. τί οὖν τοῦτο; νοῦς καὶ ἡ νοερὰ οὐσία, οὐχ ἑτέρα τοῦ νοῦ ἑκάστη ἰδέα, ἀλλ᾽ ἑκάστη νοῦς. καὶ ὅλος μὲν ὁ νοῦς τὰ πάντα εἴδη, ἕκαστον δὲ εἶδος νοῦς ἕκαστος, ὡς ἡ ὅλη ἐπιστήμη τὰ πάντα θεωρήματα, ἕκαστον δὲ μέρος τῆς ὅλης οὐχ ὡς διακεκριμένον τόπῳ, ἔχον δὲ δύναμιν ἕκαστον ἐν τῷ ὅλῳ. 24 Plotin, Enneade V 9, 6, 9. 25 Vgl. dazu André Doz, La Logique de H ­ egel et les problèmes traditionnelles de l’onto­ logie, Paris 1987, bes. 178 ff (= Logique de Hegel).

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5. Schönheit Die Idee ist sich selbst denkender Geist, weil der Akt der Selbstunterscheidung des Seinsganzen, aus dem die Ideen in ihrer Besonderheit hervorgehen, als solcher zugleich Rückkehr zu sich selbst ist. Denn jeder der hervorgehenden Unterschiede, also jede einzelne Idee, ist selbst zugleich das Ganze. Diese Unterschiede spiegeln sich darum nicht nur ineinander, sondern sie sehen und denken sich wechselseitig in der Weise, daß dabei jeder in den anderen zugleich sich selbst sieht, weil jeder in jedem Alles und das Ganze sieht. Dieses wechselseitige Sich-Sehen der Ideen im Anderen ihrer selbst ist der tätige Vollzug ihrer Einheit: ihr Sich-Selbst-In-EinsSehen ins Ganze des Seins. Dieses In-Eins-Sehen ist ein Sich-Selbst-Sehen, weil jedes sehende Selbst selber das in Eins gesehene Ganze ist. Das Ganze des Seins ist die Tätigkeit, in der die verschiedenen Ideen sich wechselseitig in die Einheit des Ganzen zusammensehen und so miteinander identifizieren, aber ohne dabei ihre Unterschiedenheit zu verlieren. Dieses Sich-Sehen der Ideen ist der Einheitsvollzug des Seinsganzen, und dieser Einheitsvollzug ist selber In-Eins-Sehen, also Noesis, und zwar νόησις νοήσεως, das Sich-In-Eins-Sehen des Ganzen. Darum ist das Sein als die Einheit des Ganzen aller Ideen selber Denken und das Denken als das Sich-In-Eins-Sehen des Ganzen selber Sein; beide sind identisch, weil sie der Vollzug der Einheit des Ganzen sind. Und dieses Ganze ist in jedem seiner Momente mit sich selbst identisch, so daß auch jedes Moment des Ganzen Identität von Sein und Denken, also Geist ist. In dieser einheitlichen Fülle des Seins erkennt Plotin das eigentliche Wesen der Schönheit: Da es ursprünglich schön ist und als Ganzes schön ist und überall als Ganzes ist … wer wird es nicht schön nennen … es besitzt reines Sein und reines Schönsein. Denn wo wäre das Schöne, wenn ihm das Sein mangelte? Und wo wäre das Sein, wenn ihm das Schönsein fehlte? Denn indem ihm das Schöne fehlte, würde ihm auch das Sein fehlen. 26

Schönheit meint also – nicht ästhetisch, sondern metaphysisch gedacht – die Vollkommenheit des Seins als absolute Fülle aller Gehalte, die sich aus dessen Charakter als einheitlicher und Einheiten-bildender Selbsterfüllung ergibt. Sein meint für Plotin also nicht Faktizität, sondern Bestimmtheit, dies aber genauer im Sinne der Selbstbestimmung des absoluten Denkens, das sich tätig selbst mit Bestimmtheit erfüllt. Weil es seine Bestimmtheit selbsttätig hervorbringt und nicht von anderem her empfängt, ist es zugleich reine Freiheit. 27 Sein im absolu26 Plotin, Enneade V 8, 8, 1–3. 9, 36–40: καλὸν οὖν πρώτως, καὶ ὅλον δὲ καὶ πανταχοῦ ὅλον … τίς οὖν οὐ φήσει καλόν; … μόνον τὸ εἶναι ἔχει καὶ μόνον τὸ καλὸν εἶναι. ποῦ γὰρ ἂν εἴη τὸ καλὸν ἀποστερηθὲν τοῦ εἶναι; ποῦ δ᾽ ἂν ἡ οὐσία τοῦ καλὸν εἶναι ἐστερημένη; ἐν τῷ γὰρ ἀπολειφθῆναι τοῦ καλοῦ ἐλλείπει καὶ τῇ οὐσίᾳ. – Zu Plotins metaphysischem Begriff der Schönheit Beierwaltes, Das wahre Selbst, 53–70 sowie unten Kapitel XIV. 27 Vgl. dazu Plotins „Freiheitsschrift“ Enneade VI 8 und Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 135–141 sowie unten Kapitel XIX.

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ten Sinne meint darum die Totalität und den Inbegriff aller Bestimmtheit überhaupt, dem keine denkbare Bestimmtheit und kein denkbarer Seinsgrad fehlen kann, so daß es notwendig, nämlich durch sich selbst existiert, womit Plotin den ontologischen Gottesbeweis in der Sache vorwegnimmt. 28 Reines oder erfülltes Sein kann darum ohne Schönheit gar nicht gedacht werden; fehlte ihm die Schönheit, so fehlte ihm das Sein selbst, denn es wäre nicht erfüllt und als Unerfülltes und Leeres auch nicht Sein. Erfülltes Sein ist als absolute Schönheit zugleich Licht in einem absoluten, nicht-metaphorischen Sinne. 29 Denn Licht meint im eigentlichen Sinne Durchsichtigkeit, und die höchste und ursprünglichste Durchsichtigkeit ist die Selbstdurchlichtung des Seins, in der dieses sich als Geist selbst sieht: Das Leben im Geiste und seine Tätigkeit (ἐνέργεια) ist das ursprüngliche Licht, das sich selbst ursprunghaft leuchtet und auf sich selbst hin Erleuchtung (λαμπηδών) ist, leuchtend und erleuchtet in eins, das wahrhaft Intelligible, denkend und gedacht zugleich, von sich selbst gesehen …, denn was es sieht, ist es selbst.30

6. Selbstbewußtsein Die Tätigkeit des reinen Denkens, das Sich-In-Eins-Sehen des Ganzen des Seins in der konkreten Totalität der Ideen, ist reines Licht und absolute Schönheit. Sie ist zugleich absolutes Selbstbewußtsein und darum unser eigentliches Selbst, insofern wir denkende und selbstbewußte Wesen sind. Denn ein nicht bloß horizonthaft-unthematisches, sondern wahrhaft erfülltes, sich selbst ganz und gar durchsichtiges und von Grund auf unverborgenes Wissen von sich selbst kann anders gar nicht gedacht werden. Plotin macht das deutlich, indem er als erster in der Geschichte der Philosophie das „Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins“31 widerlegt, welches das Wissen von sich selbst durch eine nachträgliche Reflexion des Denkens auf seine eigene Tätigkeit erklären will. Ein solches Reflexionsmodell des Geistes hatte etwa ein Jahrhundert vor Plotin Numenios formuliert.32 Er hatte zwischen drei Stufen des Geistes unterschieden: der erste Geist ist der Ideenkosmos, er ist Geist nur im Sinne des Gedachten, denkt aber als solcher selber noch nicht; der zweite Geist ist jener 28 Vgl.

Plotin, Enneade III 6, 6 und dazu Halfwassen, „Sein als uneingeschränkte Fülle“. dazu Werner Beierwaltes, „Plotins Metaphysik des Lichtes“, in: Zintzen (Hg.), Philosophie des Neuplatonismus, 75–115 (= Plotins Metaphysik des Lichtes). 30 Plotin, Enneade V 3, 8, 36–41: ἡ δὲ ἐν τῷ νῷ ζωὴ καὶ ἐνέργεια τὸ πρῶτον φῶς ἑαυτῷ λάμπον πρώτως καὶ πρὸς αὐτὸ λαμπηδών, λάμπον ὁμοῦ καὶ λαμπόμενον, τὸ ἀληθῶς νοητόν, καὶ νοοῦν καὶ νοούμενον, καὶ ἑαυτῷ ὁρώμενον … καὶ γὰρ ὃ ὁρᾷ αὐτό ἐστι. 31 Vgl. zum „Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins“ und seinen Problemen grundsätzlich Düsing, Selbstbewußtseinsmodelle, 187–201. 32 Vgl. zum folgenden eingehender Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein, 36–57; dort auch weitere Belege und Literatur. 29 Vgl.

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Geist, der den Ideenkosmos in der Weise der Noesis intellektuell anschaut und im Denkvollzug mit ihm identisch wird; der dritte Geist ist der diskursiv denkende Geist, der seine Gehalte von sich selbst und voneinander trennt.33 Dabei vollzieht er offenbar zugleich einen Reflexionsakt auf seine eigene Tätigkeit. Plotin berichtet nämlich, daß Numenios unterschieden habe zwischen einem Geist, der Ideen denkt, dabei aber ein thematisches Wissen nur von den Ideen und kein thematisches Wissen von sich selbst und seiner eigenen Tätigkeit habe, und einem anderen Geist, der „denkt, daß er denkt“ (νοεῖ ὅτι νοεῖ), seiner eigenen Denktätigkeit also thematisch bewußt ist, und zwar durch eine Reflexion auf die Tätigkeit des Denkens als solche, die von dem inhaltlichen Denken der Ideen verschieden ist und dieses immer schon vor­aussetzt.34 Da die Selbstthematisierung des Denkens in diesem Modell erst durch einen Reflexionsakt und mithin diskursiv zustande kommt, ist jener Geist, der „denkt, daß er denkt“ offenbar der diskursive dritte Geist des Numenios; er denkt thematisch die Tätigkeit des zweiten Geistes, der die Ideen denkt, und zwar in nicht-diskursiver, intellektueller Anschauung. Numenios unterscheidet also innerhalb des Denkens drei Strukturmomente, die er zu drei Stufen des Geistes verselbständigt: erstens das Gedachte, auf das sich das Denken bezieht, zweitens das thematische Denken der gedachten Inhalte und drittens das thematische Denken des Denkvollzugs selber, das diskursiv ist, nämlich durch nachträgliche Reflexion auf das primäre Denken der Inhalte zustande kommt. Plotin wendet gegen diese reflexive Aufstufung und Aufspaltung des Geistes ein, daß sie unvermeidlich in eine unendliche Iteration führt: wenn nämlich der ursprüngliche Denkakt erst durch einen reflexiven zweiten Akt, ein Denken, daß man denkt, bewußt werden soll, dann bedarf es auch noch eines dritten Aktes, eines „Denkens, daß man denkt, daß man denkt“ (νοεῖ ὅτι νοεῖ ὅτι νοεῖ), damit man sich seines reflexiven Denkens der eigenen Denktätigkeit bewußt werden kann, denn andernfalls wüßte man zwar, daß man denkt, aber nicht, daß man davon auch weiß; die Reflexion auf den jeweils vollzogenen Denkakt, die diesen allererst bewußt machen soll, führt also in einen unendlichen Regreß, in dem das Denken hinter sich her läuft, ohne sich je einzuholen.35 Außerdem kommt durch die Trennung zwischen Gedachtem, Denkakt und Reflexion auf die Denktätigkeit ein Wissen von sich selbst im eigentlichen Sinne gar nicht zustande: Denn der Ideen denkende Geist denkt nicht sich selbst und seine eigene Tätigkeit, sondern nur die Ideen; und der Geist, der die Tätigkeit des Denkens denkt, denkt ebenfalls nicht sich selbst und seine eigene Tätigkeit, sondern nur das primäre Denken der Ideen, von dem er als sekundäres Denken der Denktätigkeit selbst immer verschieden bleibt.36 33 Numenios,

Fragment 22 des Places. Plotin, Enneade II 9, 1, 33 ff. 35 Plotin, Enneade II 9, 1, 54 ff. 36 Plotin, Enneade II 9, 1, 38 ff. 34 Vgl.

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Gegen die Aufspaltung des Geistes in Reflexionsstufen betont Plotin: Wenn der wahrhafte Geist in seinen Denkakten (νοήσεις) sich selbst denkt und somit sein Gedachtes (νοητόν) nicht außer ihm ist, sondern er selbst auch das Gedachte ist, dann erfaßt er notwendig in dem Vollzug seines Denkens auch sich selbst und sieht sich selbst; und indem er sich selbst sieht, sieht er sich nicht als undenkend, sondern als denkend. Darum erfaßt er in dem ursprünglichen Akt des Denkens zugleich das Denken, daß er denkt, und zwar als Einheit.37

Der Geist weiß sich selbst, wenn er die Ideen erkennt, weil die konkrete Totalität der Ideen selber schon Geist ist, nämlich das Sich-In-Eins-Sehen des Ganzen. Darum sieht der Geist im Einheitsvollzug der Ideen seine eigene Noesis und erfaßt damit zugleich, in der Einheit eines und desselben Aktes, sowohl was er denkt als auch daß er denkt. Die Frage, wie Inhaltswissen und Aktwissen, oder in anderer Wendung, wie Gedachtes und Denkendes in einem erfüllten Wissen von sich selbst zusammenkommen, beantwortet Plotin dadurch, daß er beide gar nicht erst auseinanderfallen läßt, weil sie nämlich in der tätigen Einheit des Geistes ursprünglich identisch sind. Die Noesis, die Tätigkeit des Denkens, ist kein Akt, der ein ursprünglich inhaltsleeres „Subjekt“ auf ein von ihm ursprünglich getrenntes, ungeistiges „Objekt“ bezieht. Sie ist auch keine eigene dritte „Instanz“, die zu Denkendem und Gedachtem als selbständiges Drittes erst hinzukäme. Sondern sie ist gerade die Einheit beider, und zwar in dem Sinne, daß sowohl der Geist als auch das Sein, sowohl das Denkende als auch das Gedachte jeweils in sich selbst Noesis ist. Der Geist steht darum dem Sein, das er denkt, auch nicht „gegenüber“, sondern er ist selber nichts anderes als der Einheitsvollzug des Seins selbst in der konkreten Totalität der Ideen. In seiner ursprünglich tätigen Einheit, die sich selbst in die Ideen entfaltet, dabei in jeder Idee zu sich selbst zurückkehrt und so in ihren Unterschieden mit sich selbst identisch ist, ist das Sein sich selbst als Einheit gegenwärtig; diese Selbstgegenwart des Seins ist Noesis,38 In-Eins-Sehen des Ganzen, und sie ist selbst das in Eins gesehene Ganze, sie ist also νόησις νοήσεως. Das und nichts anderes ist der Geist: „Eines ineins (ἓν ἅμα) ist dann Alles: Geist (νοῦς), Denken (νόησις) und das Gedachte (νοητόν).“39

37 Plotin, Enneade II 9, 1, 46–51: ὅταν δὲ δὴ ὁ νοῦς ὁ ἀληθινὸς ἐν ταῖς νοήσεσιν αὑτὸν νοῇ καὶ μὴ ἔξωθεν ᾖ τὸ νοητὸν αὐτοῦ, ἀλλ᾽ αὐτὸς ᾖ καὶ τὸ νοητόν, ἐξ ἀνάγκης ἐν τῷ νοεῖν ἔχει ἑαυτὸν καὶ ὁρᾷ ἑαυτόν· ὁρῶν δ᾽ ἑαυτὸν οὐκ ἀνοηταίνοντα, ἀλλὰ νοοῦντα ὁρᾷ. ὥστε ἐν τῷ πρώτως νοεῖν ἔχοι ἂν καὶ τὸ νοεῖν ὅτι νοεῖ ὡς ἓν ὄν. 38 Vgl. Plotin, Enneade V 3, 13, 12–14: κινδυνεύει γὰρ ὅλως τὸ νοεῖν πολλῶν εἰς ταὐτὸ συνελθόντων συναίσθησις εἶναι τοῦ ὅλου, ὅταν αὐτό τι ἑαυτὸ νοῇ, ὃ δὴ καὶ κυρίως ἐστὶ νοεῖν. „Es scheint nämlich ganz allgemein das Denken ein durch das Zusammentreten von Vielem zu einem mit sich Identischen sich vollziehendes Bewußtsein des Ganzen zu sein, jedenfalls wenn etwas sich selbst denkt, was ja das Denken im eigentlichen Sinne ist.“ 39 Plotin, Enneade V 3, 5, 43 f: ἓν ἅμα πάντα ἔσται, νοῦς, νόησις, τὸ νοητόν.

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7. Résumee Plotin entfaltet die nicht-propositionale Struktur des reinen Geistes in einer äußerst gehaltvollen und hochkomplexen Geistmetaphysik, von der hier nur einige wesentliche Grundzüge analysiert werden konnten. Dabei überschreitet er die Endlichkeit und Fallibilität des diskursiven, propositionalen Wissens entschlossen und nimmt ein unendliches und infallibles Wissen von der Struktur des absoluten Geistes in Anspruch. Aufgrund der diskursiven Struktur der Sprache ist dieses unendliche Wissen in Sätzen freilich immer nur vorläufig und mit Einschränkungen aussprechbar, in einer spekulativen Sprache, die den Gewohnheiten unseres alltäglichen, gegenstandsbezogenen Sprechens entgegenläuft, diese korrigiert und dabei auch vor Paradoxien nicht zurückscheut. Spekulative Metaphysik ist paradoxienfreundlich. In dieser besonderen Sprechweise, die kein Denker vor ihm so weit entwickelt hat wie Plotin, und in der er von kaum einem späteren übertroffen wird, gelingt es Plotin, das unendliche und ungegenständliche Wesen des absoluten Geistes so zur Sprache zu bringen, daß es nicht bloß von außen und ex negativo gegen die Endlichkeit und Diskursivität des propositionalen Denkens abgegrenzt wird; vielmehr wird es von innen heraus nachvollziehbar und geradezu erlebbar: im Denken des Geistes (Genitivus objectivus und subjectivus) erfahren wir sein absolutes und unendliches Wesen. Dies ist keine naive Metaphysik, die die Endlichkeit und Fehlbarkeit menschlichen Denkens und Wissens im Überschwang der Spekulation vergessen hätte. Plotins wahrhaft hochfliegende Geistmetaphysik verdankt sich vielmehr einer kritischen Analyse der Bedingungen der Endlichkeit des Denkens. Plotins Diagnose lautet, daß die Endlichkeit und Fehlbarkeit unseres Denkens notwendige Folgen seiner Diskursivität und Propositionalität sind. Zugleich ist es als Denken aber unvermeidlich immer der Ausgriff auf das Ganze des Seins. Dieser freilich gelingt dem diskursiven Denken nicht, das aufgrund seiner diskursiven Struktur immer nur Einzelnes und Endliches zu denken vermag. Das endliche, diskursive Denken ist darum ein Denken, dessen ursprüngliche Intention immer unerfüllt bleiben muß; es ist ein selbstverschuldeter Fehlgriff des Denkens, das sich selbst vereinzelt und verendlicht, wie sich bei Plotin zeigt. Im ursprünglichen Ausgriff auf das Ganze, der alles Denken leitet, auch das endliche, zeigt sich darum die Möglichkeit eines anderen, nicht-propositionalen Denkens. Dieses muß das ursprüngliche Denken sein, dem der Ausgriff auf das Ganze gelingt, weil es selbst das Ganze ist. Es ist notwendig frei von aller Endlichkeit und Fallibilität, wenn diese Folgen der Diskursivität und Propositionalität eines Denkens sind, das sich selbst vom Ganzen abgetrennt hat. Die Struktur eines unendlichen, nicht-propositionalen Denkens läßt sich in der diskursiven Sprache der Endlichkeit nur in einer extrapolierenden Weise umschreiben, also auf eine Weise, die kein Wissen von besonderen, begrenzten

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Gegenständen ausdrücken will (in diesem Sinne also auch nicht wissenschaftlich sein kann), sondern gezielt gegen die Gegenständlichkeit unserer Sprache arbeitet. Plotins philosophische Prosa, die streng begriffliches Denken mit einer Überfülle an Bildern und Metaphern verbindet, die sie spekulativ zum Sprechen bringt, ohne sie restlos ins Begriffliche auflösen zu wollen und zu können, ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie weit man mit der Entgegenständlichung des Sprechens im Sprechen selber kommen kann, und zugleich dafür, daß diese Entgegenständlichung alles andere als eine Entleerung des Denkens und Sprechens bedeuten muß. Zugleich lassen sich die Wesenszüge des nicht-propositionalen Denkens nicht beliebig extrapolieren. Wenn Plotins Diagnose zutrifft, daß die Endlichkeit der Preis der Propositionalität ist, dann ist Plotins Metaphysik des nicht-propositionalen Geistes wohl alternativlos. Die grundlegenden Übereinstimmungen mit Hegel, auf die hinzuweisen war, aber auch mit Fichte und Schelling, mit Meister Eckhart, Cusa­nus und Eriugena (worauf hier nicht eingegangen werden konnte), belegen das in eindrucksvoller Weise. Auch wenn sie nicht Wissenschaft im Sinne einer Gegenstandserkenntnis, die stets endlich ist, sein kann und will, beansprucht Plotins Geistmetaphysik doch ein Wissen. Sie beansprucht ein Wissen, das von derselben Art ist wie das ursprünglichste und zugleich gewisseste Wissen, das wir kennen: nämlich unser Wissen von uns selbst. Das Selbstbewußtsein kann, wie sich bei Plotin zeigt, kein endliches, diskursives und propositionales Wissen sein, weil solches Wissen konstitutiv selbstvergessen ist. Endliches Wissen hat sich selbst immer nur horizonthaft und thematisch nie vollständig und in absoluter Durchsichtigkeit, also nicht anders als es auch das Ganze hat, innerhalb dessen Einzelnes und Endliches allererst möglich ist, das dann auch zum Gegenstand eines endlichen Wissens werden kann. Selbstbewußtsein kann darum kein endliches Wissen sein. Es erweist sich bei Plotin als dasselbe Wissen, das auch das unendliche Wissen des Ganzen ist. Das ist kein Zufall: Denn das Selbst des Denkens, das als Ausgriff auf das Ganze nicht auf besondere Inhalte eingeschränkt ist, sondern sich auf Alles bezieht, ist eben jenes unendliche und ungegenständliche Wissen, in dem das reine Sein sich als absoluter Geist selbst weiß, also die Tätigkeit des reinen Einsehens selbst, die alle Ideen in sich selbst hervorbringt und versammelt und darin das einheitliche, vereinigende Wesen des Seins ist. Als Selbstbewußtsein sind wir darum keine endlichen Wesen, sondern Moment des absoluten Geistes und somit dieser selbst. Unser Selbstbewußtsein ist kein endliches, durch eine individuelle Biographie umschriebenes Ich, das sich vom Du als einem anderen, ebenfalls endlichen Ich abgrenzt, sondern die unverlierbare, ewige Präsenz des Geistes in uns, kraft der wir denken und dabei von uns selbst wissen; sie ist unser eigentliches und wahres Selbst. Indem Plotin dies festhält, genau wie später Hegel, Fichte und Schelling, und daraus die Konsequenzen zieht, bleibt seine Geistmetaphysik allen Theorien eines end­

XIII. Aufwachen zu sich selbst: Plotins Begriff der Einsicht

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lichen Selbstbewußtseins überlegen, die sich an diesem hölzernen Eisen (endliches Selbstbewußtsein oder endliche Vernunft) bis heute vergeblich abarbeiten. Geben wir darum zum Schluß noch einmal Plotin selbst das Wort, wenn er unsere Identität mit der Totalität ausspricht, in der wir nicht verschwinden, sondern entgrenzt erst wahrhaft wir selbst sind: Die Seele ist Vieles, ja Alles, das Obere wie das Untere bis dahin, wohin jegliches Leben reicht; jeder von uns ist eine intelligible Welt (ἐσμὲν ἕκαστος κόσμος νοητός); mit den unteren Seelenteilen berühren wir den hiesigen Bereich, mit den oberen, die in der intelligiblen Welt sind, das Intelligible; mit unserem geistigen Teil bleiben wir ganz in der oberen Welt, nur mit seiner letzten Stufe sind wir gefesselt an die untere Welt, wir vermitteln gleichsam aus dem Oberen ins Untere einen Ausfluß (ἀπόρροια), vielmehr eine Wirksamkeit (ἐνέργεια), wobei jenes Obere sich nicht vermindert.40

40 Plotin, Enneade III 4, 3, 21–27: ἔστι γὰρ καὶ πολλὰ ἡ ψυχὴ καὶ πάντα καὶ τὰ ἄνω καὶ τὰ κάτω αὖ μέχρι πάσης ζωῆς, καὶ ἐσμὲν ἕκαστος κόσμος νοητός, τοῖς μὲν κάτω συνάπτοντες τῷδε, τοῖς δὲ ἄνω καὶ τοῖς κόσμου τῷ νοητῷ, καὶ μένομεν τῷ μὲν ἄλλῳ παντὶ νοητῷ ἄνω, τῷ δὲ ἐσχάτῳ αὐτοῦ πεπεδήμεθα τῷ κάτω οἷον ἀπόρροιαν ἀπ᾽ ἐκείνου διδόντες εἰς τὸ κάτω, μᾶλλον δὲ ἐνέργειαν, ἐκείνου οὐκ ἐλαττουμένου.

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XIV.

Schönheit und Bild im Neuplatonismus 1. Schönheit und Bild, Metaphysik und Ästhetik Schönheit und Bild – für neuplatonisches Denken gehören diese beiden Begriffe eng zusammen. Ihrer Zusammengehörigkeit möchte ich im Folgenden nachgehen. Schönheit bedeutet griechisch gedacht immer ein Sich-Zeigen und Scheinen. Schon darin liegt ihr Bezug zum Bild. Denn Bild meint Sichtbarkeit, genauer die simultane Sichtbarkeit eines Ganzen, das sich in einem einzigen Hinblick auf einen Schlag erfassen läßt. Bild ist darum ohne Sich-Zeigen nicht denkbar, es ist ein eminenter Modus von Scheinen und Erscheinen. Schönheit wiederum zeigt sich auch und gerade so, daß sie im Bild scheint und erscheint. Im Kontext des Platonismus werden Schönheit und Bild noch enger dadurch verbunden, daß beide mit einem Zug in die Transzendenz versehen werden.1 Platon bestimmt das Bild im Sophistes als die Sichtbarkeit des an ihm selbst Unsichtbaren, ontologisch gewendet als die Anwesenheit des Abwesenden, als Erscheinung des an sich Verborgenen, das in seiner Erscheinung scheint, aber so, daß es in diesem Scheinen nicht aufgeht, sondern seine Erscheinung zugleich übersteigt (Platon, Sophistes 240 B ff). Bild (εἰκών) ist hier also gerade kein Abbild (εἴδωλον), das auf ein selber auch sichtbares Urbild verweist, sondern es ist die Sichtbarkeit dessen, was sonst, ohne Bild, unsichtbar bleibt. Es verweist über sich selbst hin­aus auf das, was die Sichtbarkeit transzendiert. Schönheit wiederum denkt Platon als das Sich-Zeigen und Vorscheinen des wahrhaft und eigentlich Seienden und Intelligiblen, das alle Erscheinungen übersteigt, sich aber in ihnen manifestiert (vgl. Symposion 210 A – 212 A; Phaidros 247 A ff). Schönheit öffnet die Erscheinungen gleichsam, so daß sie durchsichtig sind auf das Transzendente hin, das sie als das wahre Sein übersteigt (vgl. Phaidros 250 B ff). 2 Schönheit bedeutet hier also viel mehr und ganz anderes als bloß ästhetisches Wohlgefallen. Schönheit und Bild aber kommen darin überein, daß sie über das, als was sie sich unmittelbar zeigen, hin­ausweisen und zum Transzendieren anleiten. 1  Zur Bedeutung der Transzendenz und des Transzendierens im Platonismus siehe auch oben Kapitel II und III sowie Halfwassen, „Philosophie als Transzendieren“. 2  Dazu bleibt unentbehrlich Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des Platonischen Denkens, Frankfurt am Main 1939, 4. Aufl. 1973 (= Einsicht und Leidenschaft), 177–283.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

Aus dem Gesagten ist bereits deutlich, daß Schönheit und Bild hier nicht ästhetische, sondern metaphysische Bedeutung haben.3 Ihr Zusammenhang führt sogar direkt ins Zentrum der Platonischen und neuplatonischen Metaphysik. Denn das Schöne erweist sich zuletzt als das Erscheinen des Einen, als Vorschein des Absoluten, das alles Sein und alles Denken transzendiert, das aber als der universale Urgrund in allem und jedem sich manifestiert und erscheint, nicht obwohl, sondern gerade weil es in absoluter Transzendenz jenseits von Allem bleibt und sich als Es Selbst allem entzieht.4 Als Vorschein des jenseitigen Einen ist das Schöne selbst Bild in einem eminenten Sinne: Sichtbarkeit dessen, was an sich selbst das absolut Unsichtbare und Überunsichtbare ist: der reinen Tran­ szendenz selbst. Der eminente Bild-Charakter des Schönen ist zugleich der Grund dafür, daß die Schönheitsmetaphysik im Neuplatonismus zur Grundlegung einer Ästhetik dienen konnte, welche die Schönheit von Bildkunstwerken thematisiert und sie als Scheinen von Wahrheit und Anleitung zum Transzendieren interpretiert. Diese metaphysische Deutung von Bildkunst und ihrer Schönheit verdichtet einen Zug, der neuplatonisch gedacht für das Sein von Welt überhaupt konstitutiv ist: nämlich als Erscheinung über sich hin­aus zu verweisen auf Transzendenz. Bild, Kunst und Schönheit sind darum für neuplatonisches Denken eminent welthaft, weil in ihnen erfahrbar wird, was das Wesen von Welt überhaupt ausmacht;5 im Ergriffenwerden vom Schönen erfahren wir dies unmittelbar, auch sinnlich. Inspiriert ist der skizzierte Gedanke von Werner Beierwaltes, der anhand des Theophaniekonzepts des Johannes Eriugena gezeigt hat, wie dieses dem neuplatonischen Bildgedanken entsprungene Konzept zur Grundlegung einer metaphysischen Ästhetik wurde.6 Im Zentrum meiner Überlegungen steht freilich nicht Eriugena, sondern Plotin und seine Rezeption bei Ps.-Dionysius Areopagita.7

3 

Zum Metaphysikbegriff oben Kapitel I. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen; grundlegend bleiben für Platon Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles und für den Neuplatonismus Beierwaltes, Proklos. 5  Grundlegend für den neuplatonischen Bildbegriff und für den Zusammenhang von Bild, Welt und Schönheit ist Beierwaltes, Denken des Einen, 73–113. 6 Vgl. Beierwaltes, Eriugena, bes. 115–158. 7 Vgl. dazu meinen früheren Versuch: Jens Halfwassen, „Die Idee der Schönheit im Platonismus“, in: Méthexis XVI (2003), 83–96; ders., „Die Idee der Schönheit im Neuplatonismus und ihre christliche Rezeption in Spätantike und Mittelalter“, in: Raif Georges Khoury/Jens Halfwassen (Hgg.), Platonismus im Orient und Okzident. Neuplatonische Denkstrukturen im Judentum, Christentum und Islam, Heidelberg 2005, 161–173. 4 Vgl.

XIV. Schönheit und Bild im Neuplatonismus

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2. Schönheit als metaphysisches Konzept Beginnen möchte ich mit dem Begriff der Schönheit und seinen metaphysischen Implikationen. Auf eindrucksvollste Weise zusammengefaßt findet man diese im 4. Kapitel von Dionysius’ Schrift Über die göttlichen Namen.8 Dionysius behandelt „das Schöne“ (καλόν) und „die Schönheit“ (κάλλος) als Namen des Absoluten, das in seiner Transzendenz über alle Benennungen hin­aus ist, als Urgrund aber von seinen Prinzipiaten her in analoger und metaphorischer Weise benennbar wird: Das überwesentlich Schöne heißt Schönheit, weil von ihm jedem Wesen nach seiner Eigenart Schönheit mitgeteilt wird, weil es Ursache der harmonischen Ordnung und des Glanzes aller Dinge ist … weil es alles zu sich ruft (weshalb auch sein Name Kallos ist), und weil es alles in allem in eins und dasselbe zusammenführt. Schön wird es genannt, weil es ganz und gar schön und überschön (ὑπέρκαλον) ist, weil es ewig in derselben Beziehung und in derselben Weise schön ist, weil es kein Entstehen und kein Vergehen, kein Zunehmen und kein Abnehmen kennt, weil es nicht nur in einer Hinsicht schön und in einer anderen unschön ist, weil es nicht bald schön und bald nichtschön ist … Es wird vielmehr schön genannt, weil es an sich selbst und für sich selbst ewig eingestaltig schön ist, und die Schönheit als Quelle alles Schönen auf eminente Weise in sich vorwegbesitzt. Denn in der einfachen, überwesenhaften Wesenheit des Schönen hat jede Schönheit und jedes Schöne sein ursächliches Vorausbestehen in der Weise der Einheit … durch das Schöne bestehen die Harmonien des Alls, Freundschaften und Gemeinschaften. Durch das Schöne ist alles geeint … Von ihm stammen alle wesenhaften Existenzen der Dinge, die Einigungen und die Unterscheidungen, die Identitäten und die Verschiedenheiten, die Ähnlichkeiten und die Unähnlichkeiten, die Gemeinsamkeiten des Entgegengesetzten und die Unvermischtheiten des Geeinten, die Fürsorge des Höheren, der wechselseitige innere Zusammenhang des Gleichgeordneten, die Rückkehr des Tieferstehenden, das unveränderte, der Selbsterhaltung dienende Bleiben und Festbestehen aller Dinge.9

8  Zu Dionysius und seinem Verhältnis zum Neuplatonismus, speziell zu Proklos, zusammenfassend Beierwaltes, Platonismus im Christentum, 44–84. 9 Ps.-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV 7: τὸ δὲ ὑπερούσιον καλὸν κάλλος μὲν λέγεται διὰ τὴν ἀπ’ αὐτοῦ πᾶσι τοῖς οὖσι μεταδιδομένην οἰκείως ἑκάστῳ καλλονὴν καὶ ὡς τῆς πάντων εὐαρμοστίας καὶ ἀγλαΐας αἴτιον … καὶ ὡς πάντα πρὸς ἑαυτὸ καλοῦν, ὅθεν καὶ κάλλος λέγεται, καὶ ὡς ὅλα ἐν ὅλοις εἰς ταὐτὸ συνάγον, καλὸν δὲ ὡς πάγκαλον ἅμα καὶ ὑπέρκαλον καὶ ἀεὶ ὂν κατὰ τὰ αὐτὰ καὶ ὡσαύτως καλὸν καὶ οὔτε γιγνόμενον οὔτε ἀπολλύμενον οὔτε αὐξανόμενον οὔτε φθίνον, οὐδὲ τῇ μὲν καλόν, τῇ δὲ αἰσχρὸν οὐδὲ τοτὲ μέν, τοτὲ δὲ οὔ, … ἀλλ’ ὡς αὐτὸ καθ’ ἑαυτὸ μεθ’ ἑαυτοῦ μονοειδὲς ἀεὶ ὂν καλὸν καὶ ὡς παντὸς καλοῦ τὴν πηγαίαν καλλονὴν ὑπεροχικῶς ἐν ἑαυτῷ προέχον. τῇ γὰρ ἁπλῇ καὶ ὑπερφυεῖ τῶν ὅλων καλῶν φύσει πᾶσα καλλονὴ καὶ πᾶν καλὸν ἑνοειδῶς κατ’ αἰτίαν προϋφέστηκεν. … καὶ διὰ τὸ καλὸν αἱ πάντων ἐφαρμογαὶ καὶ φιλίαι καὶ κοινωνίαι, καὶ τῷ καλῷ τὰ πάντα ἥνωται, … ἐκ τούτου πᾶσαι τῶν ὄντων αἱ οὐσιώδεις ὑπάρξεις, αἱ ἑνώσεις, αἱ διακρίσεις, αἱ ταὐτότητες, αἱ ἑτερότητες, αἱ ὁμοιότητες, αἱ ἀνομοιότητες, αἱ κοινωνίαι τῶν ἐναντίων, αἱ ἀσυμμιξίαι τῶν ἡνωμένων, αἱ πρόνοιαι τῶν ὑπερτέρων, αἱ ἀλληλουχίαι τῶν ὁμοστοίχων, αἱ ἐπιστροφαὶ τῶν καταδεεστέρων, αἱ πάντων ἑαυτῶν φρουρητικαὶ καὶ ἀμετακίνητοι μοναὶ καὶ ἱδρύσεις. Übersetzung leicht modifiziert nach Joseph Stigelmayr (Des Heiligen Diony­sius Areopagita angebliche Schriften über „Göttliche Namen“, München 1933, 66–67).

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

Dieser barocke Text enthält eine Fülle von Bezügen, unter anderem einen wörtlichen Anklang an Platons berühmte Schilderung des Schönen selbst im Symposion (210 E ff). Inhaltlich macht er vor allem dreierlei deutlich: 1. Schönheit ist ein universaler Charakter alles Seienden. Sie ist keine besondere Bestimmung ganz bestimmter Dinge, die diese von anderen Dingen mit anderen Bestimmungen unterscheidet, sondern sie bestimmt alles insgesamt und jedes einzelne auf seine je besondere Weise. Bildern und Kunstwerken ist Schönheit darum auch nicht auf eine besondere Weise zueigen, sondern grundlegend in derselben Weise wie allem Seienden überhaupt. 2. Schönheit ist für das Sein alles Seienden konstitutiv. Sie ist nicht einfach eine Bestimmung neben anderen Bestimmungen, die ein Seiendes haben kann. Sie ist auch keine Bestimmung, die etwas entweder haben oder nicht haben kann. Wir erfahren vielmehr, daß Schönheit das Wesen eines jeden Seienden durchstimmt. Sie konstituiert und bewahrt seine Identität mit sich selbst und seine Verschiedenheit von allem anderem. Sie ordnet seine vielfältigen Beziehungen zu anderem Seienden und zum Ganzen des Seins, ohne die kein Seiendes bestehen könnte. Sie bezieht jedes Seiende in der ihm eigenen Weise auf den absoluten Ursprung zurück. Dadurch begründet und stabilisiert sie seine Existenz und seine Wesensbestimmtheit. 3. Schönheit ist Manifestation des überseienden Einen selbst: in ihr zeigt sich nämlich die seinsbegründende Macht des Einen. Denn Schönheit meint zuletzt, zuhöchst und zuerst Einheit. Sie zeigt sich in der Vereinigung des Vielen in eine Einheit, in welcher die Differenziertheit und der inhaltliche Reichtum des Vielen mit der Einheit zusammen bestehen. Sie vernichtet das Viele nicht, sondern bewahrt und steigert dessen Reichtum durch die Vereinigung in eine in sich differenzierte Einheit, eine Einheit, die den Unterschied in sich selbst enthält und bewahrt. Schönheit ist so die höchste Einheit, die in der Vielheit möglich ist. Darum manifestiert sich in ihr das seinsbegründende Eine, das in seiner Tran­ szendenz selbst „jenseits des Seins“ (Platon, Politeia 509 B) und frei von aller Vielheit bleibt (Platon, Parmenides 137 C ff; Test. Plat. 50).10 Das Schöne ist, so verstanden, das Sichzeigen des Absoluten, das erscheinende Eine, der Glanz des Ursprungs auf allem Seienden. Der Glanz des Ursprungs scheint in der notwendigen Einheit eines jeden Seienden, die seine Vielheit in die Einheit eines Wesens eint, und mehr noch in der Vereinigung alles Seienden in die Einheit eines umfassenden Ganzen, der Welt oder des Universums als der geeinten und einheitlichen Totalität des Seins. In der Schönheit als höchster Einheit in der Vielheit zeigt sich die Seinsbegründung des übergöttlichen Einen. Denn ohne Einheit könnte kein Seiendes bestehen; ohne sie wäre nichts das, was es jeweils ist. Nur dadurch, daß etwas 10 Vgl. dazu Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles und Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 265–405; zusammenfassend ders., Plotin und der Neuplatonismus, 43–58.

XIV. Schönheit und Bild im Neuplatonismus

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Eines ist, existiert es überhaupt und ist überhaupt etwas, d.h. ein bestimmtes Was oder Wesen. „Alles Seiende ist durch das Eine seiend“, hatte Plotin gesagt (Enneade VI 9, 1, 1). Einheitslose Vielheit zerstiebt dagegen ins grenzenlos Unbestimmte und ist darum auch keine Vielheit mehr, sondern gar nichts. Nichts (οὐδέν) hatte schon Platon gedeutet als das, „was nicht einmal Eines“ (οὐδὲ ἕν) ist (Politeia 478 B; Parmenides 166 C). Darum konstituiert sich das Sein eines jeden Seienden in seinem Einheitscharakter.11 In der höchsten Einheit, die einem Seienden möglich ist, erfüllt sich sein Wesen; sie ist für es das Gute,12 das es im Sein bewahrt, und das Schöne, in dem es sich vollendet, sich selbst genügt und so vollkommen ist. Als vollkommene Einheit ist das Schöne durchsichtig auf den Ursprung aller Einheit hin: das überseiende Eine selbst. Von seinen Prinzipiaten her kann Dionysius das seinsbegründende Eine darum auch selber „schön“ und „Schönheit“ nennen. Das überseiende Absolute ist freilich nicht in derselben Weise schön wie alles Seiende, denn es ist keine Einheit in der Vielheit mehr, sondern reine Einheit jenseits aller Vielheit. Als Quelle aller Einheit ist das Absolute darum nur in einem übertragenen und zugleich übersteigerten, transzendenten Sinne schön: es ist das Überschöne.

3. Plotins Begriff des Schönen Wenden wir uns nun dem Ursprung der neuplatonischen Schönheitsmetaphysik bei Plotin zu. Wenn Schönheit ein universaler und seinskonstitutiver Charakterzug alles Seienden ist, dann besagt das zwar, daß alles Seiende auf seine je eigene Weise schön ist; das heißt aber nun keineswegs, daß alles auch in gleicher Weise und im gleichen Maße schön ist. Weil Schönheit auf Einheitlichkeit beruht, ist sie graduierbar. So realisiert z.B. ein Organismus, dessen Glieder konstitutiv auf das Ganze bezogen sind, eine höhere Einheit und damit auch ein höheres Maß an Schönheit als ein bloßes Aggregat wie ein Heer oder ein Steinhaufen. Die immaterielle und unteilbare Seele wiederum realisiert einen höheren Grad an Einheitlichkeit und Schönheit als ein Organismus, der räumlich in seine Glieder und zeitlich in seine Entwicklungsphasen geteilt ist. Die Idee als ewige und unzeitliche Einheit eines reinen Wasseins realisiert wiederum eine höhere Stufe von Einheit und Schönheit als die sich verzeitlichende und ihr Le11 Vgl.

dazu Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 32–43; ders., Aufstieg zum Einen, 37–81; zu Platon siehe auch oben Kapitel VI. 12 Vgl. zum Begriff des Guten bei Platon Jens Halfwassen, „Platons Metaphysik des Guten“, in: Dietmar H. Heidemann/Kristina Engelhard (Hgg.), Ethikbegründungen. Zwischen Universalismus und Relativismus. Klaus Düsing zum 65. Geburtstag, Berlin/New York 2005, 13–34; zur Rezeption bei Proklos Werner Beierwaltes, „Proklos’ Begriff des Guten aus der Perspektive seiner Platon-Deutung“, in: ders., Procliana, 85–108; vgl. auch ders., „Das Eine als Norm des Lebens. Zum metaphysischen Grund neuplatonischer Lebensform“, ebd., 25–57.

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ben in der Zeit erstreckende Seele. Diese Grade und Stufen des Schönen hatte schon Platon unterschieden, der im Symposion einen Aufstieg von der Schönheit körperlicher Organismen über die Schönheit seelischer Tätigkeiten und Verfassungen und die rein geistige Schönheit der Erkenntnisse bis zur Schau des göttlichen Schönen selbst schildert (Symposion 210 A ff).13 Die Stufen des Schönen koinzidieren dabei mit den Stufen der Einheit und den Stufen des Seins. Die Stufung des Schönen erweist sich als ein eminenter Fall des ontologischen Komparativs. Je schöner etwas ist, desto „seiender“ (μᾶλλον ὄν) und desto einheitlicher ist es auch. Denn schön und seiend ist etwas ja aufgrund seines Einheitscharakters und im Maße seiner Einheitlichkeit. Diese Verbindung der Schönheit und ihrer Stufen mit dem ontologischen Komparativ ist grundlegend für Plotins Begriff von intelligibler Schönheit. Diese ist nämlich nichts anderes als der Inbegriff der Fülle des Seins.14 Wenn Schönheit Einheitlichkeit bedeutet, dann ist die höchste und vollkommenste Schönheit die vollkommene Durchdringung und Vermittlung von Einheit und Vielheit in einer All-Einheit, in der jede Vielheit im Hegelschen Dreifachsinne aufgehoben ist. Es handelt sich also um eine Einheit, die das Viele in seiner Unmittelbarkeit als getrenntes Vieles und Verschiedenes verneint, dabei aber den Seinsgehalt des Vielen, seinen inhaltlichen Reichtum, bewahrt und durch Vereinigung in eine ungeteilte und untrennbare Einheit ent-grenzt und in seine eigene Höchstform hinein steigert. Eine solche Form der Einheit, die alle Vielheit unter Bewahrung, Entgrenzung und Steigerung ihres Gehalts total in sich absorbiert, nannte ­Hegel „konkrete Totalität“.15 Dabei bedeutet „Totalität“ eine ganz besondere Form von Ganzheit, in welcher das Ganze nicht als Zusammenfügung elementarer und für sich bestehender Bestandteile aufgefaßt wird, sondern als ursprüngliche Einheit, die ihre artikulierenden Unterschiede aus sich selbst hervorbringt und sich in diesen Unterschieden zu sich selbst verhält. Derartige Unterschiede sind darum keine Teile, die auch getrennt voneinander bestehen und begriffen werden können, sondern Momente eines ursprünglich einigen Ganzen; sie sind konstitutiv aufeinander und auf das Ganze bezogen wie die Glieder eines lebendigen Organismus. Dieser Einheitssinn der Totalität wird noch verstärkt und intensiviert durch den Gedanken, daß jedes Moment des Ganzen die anderen Momente und damit auch das Ganze in sich selbst enthält, so daß jedes Moment selber wiederum den Charakter der Totalität besitzt.16 Erst eine Totalität, in der alle Momente selbst Totalitätscharakter haben, ist konkrete Totalität. 13 Vgl. zu den Stufen des Schönen bei Platon im einzelnen Krüger, Einsicht und Leidenschaft, 177 ff. 14 Vgl. zu Plotin Begriff intelligibler Schönheit Beierwaltes, Das wahre Selbst, 53–70; ders., Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus, Heidelberg 1980 (= Ficinos Theorie des Schönen) – auch in: ders, Fußnoten zu Plato, 231–278. 15 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik II, 252. 16 Vgl. Hegel, Enzyklopädie, §§ 160 und 164. Zur Anknüpfung von Hegels Begriff kon-

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Als konkrete Totalität begreift ­Hegel die spezifische Einheitsform der sich selbst wissenden Idee und des sich selbst erkennenden Geistes. Genau dieser Gedanke ist aber bei Plotin auf das deutlichste präformiert.17 Plotin begreift den göttlichen oder absoluten Geist (νοῦς) als die sich selbst denkende und intellektuell anschauende Einheit aller Ideen. Die denkende Selbstbeziehung des Geistes kommt für Plotin dadurch zustande, daß das, was der Geist denkt, nämlich das Ganze aller Ideen, eine holistische All-Einheit ist, deren Momente, die einzelnen Ideen, wechselseitig ineinander enthalten sind. Darum kehrt das Ganze des Seins durch seine Selbstentfaltung in die verschiedenen Ideen zu sich selbst zurück, vermittelt sich also als konkrete Totalität in seinen Momenten zu sich selbst; diese Selbstvermittlung des Seins in der konkreten Totalität der Ideen ist ein „seinshaftes“ oder im Sein selbst ausgesprochenes Denken (οὐσιώδης νόησις, Enneade V 3, 5, 37),18 ein intellektuelles Sehen und In-Eins-Sehen seiner selbst, also Geist. Die Selbstvermittlung der All-Einheit des Seins im Geist oder als Geist aber ist zugleich die uneingeschränkte Fülle des Seins. Plotin beschreibt sie in unvergeßlichen Wendungen: Durchscheinend nämlich ist dort (im Geist) Alles und nichts Dunkles und nichts Widerständiges ist dort, sondern Jeder und Alles ist Jedem durchsichtig bis ins Innere; denn Licht ist dem Licht durchsichtig. Denn Jeder hat Alles in sich selbst und sieht wiederum auch im Anderen Alles, so daß überall Alles ist und Alles ist Alles und jedes einzelne ist das Ganze und unermeßlich (unendlich) der Glanz. Jedes einzelne nämlich von ihnen ist groß, denn auch das Kleine ist dort groß und die Sonne ist dort alle Sterne und jeder Stern ist die Sonne und alle Sterne. In jedem einzelnen ragt etwas anderes hervor, aber zugleich scheint Alles in ihm auf.19

Diese einheitliche Fülle des Seins ist die höchste und ursprüngliche Schönheit: Da es ursprünglich schön ist und als Ganzes schön ist und überall als Ganzes ist … wer wird es nicht schön nennen? … es besitzt reines Sein und reines Schönsein. Denn wo wäre das Schöne, wenn ihm das Sein mangelte? Und wo wäre das Sein, wenn ihm das Schönsein fehlte? Denn indem ihm das Schöne fehlte, würde ihm auch das Sein fehlen. 20

kreter Totalität an den Neuplatonismus, speziell an Plotin, vgl. Doz, Logique de Hegel, 178 ff. 17 Vgl. zum folgenden Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 66–84, bes. 71–77; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 358 ff, 365 ff, 373 ff; ders., „Geist und Subjektivität bei Plotin“; ders., „­Hegel und Plotin über Selbsterkenntnis“. 18 Vgl. dazu Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein, 29 f, 44 f, 56. 19 Plotin, Enneade V 8, 4, 4–11: διαφανῆ γὰρ πάντα καὶ σκοτεινὸν οὐδὲ ἀντίτυπον οὐδέν, ἀλλὰ πᾶς παντὶ φανερὸς εἰς τὸ εἴσω καὶ πάντα· φῶς γὰρ φωτί. καὶ γὰρ ἔχει πᾶς πάντα ἐν αὑτῷ, καὶ αὖ ὁρᾷ ἐν ἄλλῳ πάντα, ὥστε πανταχοῦ πάντα καὶ πᾶν πᾶν καὶ ἕκαστον πᾶν καὶ ἄπειρος ἡ αἴγλη· ἕκαστον γὰρ αὐτῶν μέγα, ἐπεὶ καὶ τὸ μικρὸν μέγα· καὶ ἥλιος ἐκεῖ πάντα ἄστρα, καὶ ἕκαστον ἥλιος αὖ καὶ πάντα. ἐξέχει δ᾽ ἐν ἑκάστῳ ἄλλο, ἐμφαίνει δὲ καὶ πάντα. Vgl. dazu Beierwaltes, Denken des Einen, 56 ff; ders., Plotin, 25 ff; oben Kapitel XIII Abs. 4. 20 Plotin, Enneade V 8, 8, 1–3. 9, 36–40: καλὸν οὖν πρώτως, καὶ ὅλον δὲ καὶ πανταχοῦ ὅλον … τίς οὖν οὐ φήσει καλόν; … μόνον τὸ εἶναι ἔχει καὶ μόνον τὸ καλὸν εἶναι. ποῦ γὰρ ἂν εἴη τὸ καλὸν

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Hier wird deutlich, daß Schönheit die ontologische Vollkommenheit des Seins meint, die Plotin als vollkommene Einheitlichkeit auslegt. „Sein“ (εἶναι, ὄν, οὐσία) meint dabei nicht die nackte Faktizität bloßen Vorhandenseins, sondern bedeutet für Plotin wie schon für Platon und Parmenides wesentlich Bestimmtheit. 21 Sein im absoluten Sinne, reines Sein, ist darum der Inbegriff aller Bestimmtheit überhaupt, dem keine denkbare Bestimmtheit fehlen kann: die omnitudo realitatis (vgl. Enneade III 6, 6). Reines Sein kann darum ohne Schönheit gar nicht gedacht werden. Fehlte die Schönheit, so fehlte das Sein sich selbst. Daß Sein hiermit als Vollkommenheit gedacht wird, wurde konstitutiv für den ontologischen Gottesbeweis, der bei Plotin präformiert ist. 22 Die absolute Selbstdurchdringung und Selbstvermittlung des Seins als Geist ist für Plotin, wie schon anklang, Licht in einem ursprünglich-absoluten Sinne, intelligibles Licht: Das Leben im Geiste und seine Wirklichkeit (ἐνέργεια) ist das ursprüngliche Licht, das sich selbst ursprunghaft leuchtet und auf sich selbst hin Erleuchtung (λαμπηδών) ist, leuchtend und erleuchtet in eins, das wahrhaft Intelligible, denkend und gedacht zugleich, von sich selbst gesehen … denn was es sieht, ist es selbst. 23

Licht ist hier, wie Werner Beierwaltes betont hat, 24 keine Metapher, keine bloß uneigentliche und übertragene Charakterisierung des Geistes. Vielmehr bringt es die vollkommene Einheitlichkeit des Geistes, die seine Schönheit ausmacht, auf eine die Möglichkeiten begrifflichen Denkens überschreitende Weise intuitiv zur Anschauung. 25 Licht meint die vollkommene Einung des Vielen in die ungeteilte Einheit und Ganzheit des Geistes, der sich selbst als Ganzes auf einmal, mit einem Schlag sieht. Zugleich meint Licht die seinsstiftende und seinsmitteilende Entfaltung der Einheit in die Vielheit, die Sichtbarkeit des Seins in der zugleich entfalteten und geeinten Vielheit der Ideen. Wie das Licht in seiner Ausbreitung in sich bleibt, so geht die Einheit in ihrer Entfaltung nicht aus sich heraus. Beide Bedeutungen, die Einung des Vielen und die in sich bleibende Entfaltung der Einheit hat das Licht schon in Platons Sonnengleichnis (Politeia 508 A ff). 26 Der Bezug von Einheit und Vielheit, der das Sein alles Seienἀποστερηθὲν τοῦ εἶναι; ποῦ δ᾽ ἂν ἡ οὐσία τοῦ καλὸν εἶναι ἐστερημένη; ἐν τῷ γὰρ ἀπολειφθῆναι τοῦ καλοῦ ἐλλείπει καὶ τῇ οὐσίᾳ. Vgl. dazu Beierwaltes, Das wahre Selbst, 59 ff. 21  Siehe dazu die grundlegende Abhandlung von Hölscher, Sinn von Sein. 22 Vgl. dazu Halfwassen, „Sein als uneingeschränkte Fülle“; zum ontologischen Gottesbeweis generell Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. 23 Plotin, Enneade V 3, 8, 36–41: ἡ δὲ ἐν τῷ νῷ ζωὴ καὶ ἐνέργεια τὸ πρῶτον φῶς ἑαυτῷ λάμπον πρώτως καὶ πρὸς αὐτὸ λαμπηδών, λάμπον ὁμοῦ καὶ λαμπόμενον, τὸ ἀληθῶς νοητόν, καὶ νοοῦν καὶ νοούμενον, καὶ ἑαυτῷ ὁρώμενον … καὶ γὰρ ὃ ὁρᾷ αὐτό ἐστι. 24 Vgl. Beierwaltes, „Plotins Metaphysik des Lichtes“, bes. 90 ff. 25  Licht ist darum eine absolute Metapher im Sinne von Hans Blumenberg, der bei Plotin „die Struktur der Metapher selbst metaphysisch hypostasiert“ findet: Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, 176 und ff. 26 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 247 ff.

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den konstituiert, ist als Licht durchsichtig und anschaubar. Darum ist Licht das Medium des Schönen.

4. Das Absolute als Überschönheit Die eminente Schönheit des Geistes aber beruhigt sich nicht in sich selbst, sondern verweist über sich hin­aus auf das überseiende Absolute, das Eine selbst, als den Ursprung des Geistes, von dem her dem Geist seine Einheit und in einem damit seine Schönheit zukommt.27 Den Geist denkt Plotin als das „Bild des Einen“ (εἰκὼν ἐκείνου, Enneade V 1, 7, 1). „Bild des Einen“ ist der Geist genau darin, daß seine Einheit alle Vielheit in ihm aufhebt in die All-Einheit der konkreten Totalität, in der es zu keiner Verselbständigung des Vielen kommt; so ist der Geist Einheit, aber eine Einheit, die darum, weil sie in sich selbst artikuliert ist, intelligibel, dem Denken sichtbar ist. Diese Einheit des Geistes ist die Sichtbarkeit des Einen, das als „Es Selbst“, als absolute reine Einheit jenseits aller Bestimmungen und jenseits allen Seins bleibt und darum auch jenseits aller Denkbarkeit und Sichtbarkeit. Der Geist ist somit Bild in einem absoluten Sinne: an ihm wird sichtbar, was an sich selbst das absolut Unsichtbare und Überunsichtbare bleibt. Doch welcher Zug des Einen wird eigentlich am Geist sichtbar? Nicht die reine Einheit als solche, die als reine Transzendenz über alle Sichtbarkeit hin­aus ist. Was an der Einheit des Geistes sichtbar wird, das ist vielmehr die Einheit und Sein setzende Übermacht des Einen, sein absolutes „Übermaß an Mächtigkeit“ (ὑπερβολὴ τῆς δυνάμεως, Enneade VI 8, 10, 33), das sich nur an seinen Prinzipiaten zeigen kann. Die Übermacht des Einen zeigt sich in der Einheit des Geistes nämlich darin, daß der Geist die Macht ist, alle Vielheit der Ideen in die eigene All-Einheit hinein zu einen. Diese Einheitskraft des Geistes hatte sich aber gerade als das Wesen intelligibler Schönheit erwiesen. Der Geist ist also „Bild des Einen“ gerade kraft seiner Schönheit. Das, was von dem Einen selbst her im Geist sichtbar wird und sich zeigt, zeigt sich also als Schönheit. Das Schöne ist der Vorschein des Absoluten, in dem sich dessen Einheitsmacht zeigt. Der Zug des Einen, der sich am Geist als Schönheit zeigt, ist im eigentlichen Sinne nicht ein Zug des Einen, sondern ein Zug zum Einen hin: Plotin deutet die erotische Attraktivität des Schönen, sein unwiderstehlich anziehendes Faszinans, das uns in seinen Bann zieht, bezaubert und entrückt, als Angezogenwerden durch das Absolute. 28 Das letzte und höchste Ziel aller Anziehung ist darum das Eine selbst, dessen Übermacht allem Einheit verleiht und es da27 Vgl.

dazu Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, 84–97. zu Plotins Erosbegriff Christian Tornau, „Eros versus Agape? Von Plotins Eros zum Liebesbegriff Augustins“, in: Philosophisches Jahrbuch 112 (2005), 271–291, bes. 273– 281; ebenso ders., „Der Eros und das Gute bei Plotin und Proklos“, in: Matthias Perkams/ 28 Vgl.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

mit schön macht. 29 Das Schöne ist so durchsichtig auf die Transzendenz seines überseienden Ursprungs hin, es weist über sich selbst hin­aus: in der Schönheit scheint der Glanz des Einheit-verleihenden Absoluten. Die Anziehung durch das Absolute ist unendliche und unmeßbare Anziehung, ein ἄπειρος ἔρως und ἄμετρος ἔρως (Enneade VI 7, 32, 28 und 26), der auf das geht, was als absolute Transzendenz jede unmittelbare Präsenz und alles Sich-Zeigen und lichte Erscheinen, wie es das Schöne charakterisiert, absolut übersteigt. So ist sie ein Zug in die absolute Transzendenz und zieht darin auch noch über das Schöne hin­aus: „Denn alles Schöne ist später als das Eine selbst und kommt von Jenem so wie alles Tageslicht von der Sonne.“30 Dieser Zug in die Transzendenz, der über das Sein und über die Schönheit selber hin­auszieht, macht das Schöne zum Vorschein des Absoluten. Schönheit ist die Macht der Entrückung, die uns über uns selbst und über alles andere emporhebt. Sie ist darum für Plotin in einem letzten und höchsten Sinne auch kein Strukturcharakter des Geistes mehr, sondern ursprünglicher noch Durchsichtigkeit auf die Transzendenz hin, die sich nur uneigentlich als Glanz und Licht oder Überhelle umschreiben läßt,31 aber niemals begrifflich festgemacht werden kann. Der ekstatische, in die Transzendenz ziehende Zug der Schönheit erlaubt es Plotin sogar, das jenseitige Eine von seinem Vorschein her als Überschönheit anzusprechen: Seine Schönheit ist auf andere Weise (ἄλλον τρόπον) zu verstehen: als Schönheit über Schönheit hin­aus (κάλλος ὑπὲρ κάλλος). Denn weil das Eine selbst Nichts (οὐδέν) ist, wie könnte Es da Schönheit sein? Weil Es aber anziehend (ἐράσμιον) ist, muß Es das sein, was die Schönheit erzeugt. Als Mächtigkeit zu allem Schönen (δύναμις παντὸς καλοῦ) also ist Es Blüte der Schönheit, die Schönheit macht (ἄνθος κάλλους καλλοποιόν). Denn Es erzeugt die Schönheit und macht sie noch schöner (κάλλιον) durch die Überfülle an Schönheit (περιουσία τοῦ κάλλους), die bei Ihm ist, so daß Es Urgrund der Schönheit (ἀρχὴ κάλλους) und Grenze der Schönheit (πέρας κάλλους) ist.32

Rosa Maria Piccione (Hgg.), Proklos. Methode, Seelenlehre, Metaphysik, Leiden/Boston 2006, 201–229. 29  Plotin übernimmt auch diesen Gedanken von Platon, vgl. das Platon-Referat des Ari­ sto­teles, Eudemische Ethik I 8, 1218 a 15–32. 30 Plotin, Enneade VI 9, 4, 10–11: πᾶν γὰρ καλὸν ὕστερον ἐκείνου καὶ παρ᾽ ἐκείνου, ὥσπερ πᾶν φῶς μεθημερινὸν παρ᾽ ἡλίου. Vgl. Platon, Politeia 508 E 1 – 509 A 5: Das Gute (das Eine) ist ἄλλο καὶ κάλλιον als Schönheit, Wahrheit und Erkenntnis, die von ihm stammen, so wie das Licht und das Sehen von der Sonne. 31 Vgl. bes. Plotin, Enneade VI 7, 36, 13 ff; V 5, 7, 9 ff; VI 9, 9, 55 ff. 32 Plotin, Enneade VI 7, 32, 28–33: ὥστε καὶ τὸ κάλλος αὐτοῦ ἄλλον τρόπον καὶ κάλλος ὑπὲρ κάλλος. οὐδὲν γὰρ ὂν τί κάλλος; ἐράσμιον δὲ ὂν τὸ γεννῶν ἂν εἴη τὸ κάλλος. δύναμις οὖν παντὸς καλοῦ ἄνθος ἐστὶ κάλλους καλλοποιόν. καὶ γὰρ γεννᾷ αὐτὸ καὶ κάλλιον ποιεῖ τῇ παρ᾽ αὐτοῦ περιουσίᾳ τοῦ κάλλους, ὥστε ἀρχὴ κάλλους καὶ πέρας κάλλους. (In Z. 31 halte ich das κάλλους der Handschriften gegen die Konjektur von Creuzer und Henry-Schwyzer).

XIV. Schönheit und Bild im Neuplatonismus

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In diesem ganz besonderen Sinne ist das jenseitige Absolute das „Überschöne“ (ὑπέρκαλον, Enneade VI 7, 33, 20).33 Die Schönheit aber, die das Eine dem Geist verleiht, ist ursprünglich und d.h. von ihrem absoluten Ursprung her nicht Struktur und Form, μορφή und εἶδος wie das Sein, sondern als Glanz des Ursprungs selber gestaltlos (ἄμορφον, Enneade VI 7, 32, 36) und formlos (ἀνείδεον, Enneade VI 7, 33, 37) wie das jenseitige Absolute. Diese ursprünglichste Schönheit ist nämlich keine Bestimmtheit, sondern der Einheit verleihende Vorschein des Einen, der Bestimmtheit und Sein allererst ermöglicht und darum selbst aller Bestimmtheit und allem Sein vor­ausliegt und über sie hin­ausgeht; Plotin nennt gerade diese formlose Schönheit das „absolut Schöne“ (πάγκαλον, Enneade VI 7, 33, 11), weil sich in ihr erfüllt, was Schönheit am eigentlichsten ausmacht: der Zug in die Transzendenz.34 Das Schöne als Struktur und Form und damit als Inbegriff von Seinsfülle ist nur das Sichzeigen und Erscheinen dieser ursprünglich formlosen Schönheit, in welcher das Eine scheint wie die Sonne in ihrem Licht, das als solches ebenfalls formlos und unsichtbar ist, bevor es in den Farben Form und Sichtbarkeit annimmt. Plotin deutet darum Form als das Sichtbarwerden einer ursprünglich formlosen, unendlichen Einheitsmacht (τὸ γὰρ ἴχνος τοῦ ἀμόρφου μορφή, Enneade VI 7, 33, 30), die als formlose Schönheit von dem Absoluten ausgehend alle Bestimmtheit transzendiert und sie gerade dadurch erst ermöglicht. Form: Eidos meint so im ursprünglichsten Sinne Sichtbarkeit, nämlich das Erscheinen und Sichzeigen der an sich selbst formlosen und unsichtbaren Einheit, die aller bestimmenden Artikulation vorhergeht und ihr vor­ausliegt. Eidos ist also Bild im absoluten Sinne. Unter dem Aspekt seiner Schönheit aber, die als undifferenzierte Einheit ursprünglicher ist als jede Form, ist das Eidos selbst „formlose Form“ (ἄμορφον εἶδος, VI 7, 33, 4)35 und als solche nicht nur sichtbar, sondern vor allem durchsichtig auf das Unsichtbare hin, das alle Sichtbarkeit übersteigt. In dieser Durchsichtigkeit auf Transzendenz, die nur so gesehen wird, daß sie nicht gesehen wird, liegt ganz eigentlich der Zusammenhang von Schönheit und Bild. Schönheit meint hier die Durchsichtigkeit des Sichtbaren, des Bildes. Durchsichtigkeit aber ist die Bedingung von Sichtbarkeit und zugleich deren Aufhebung ins Unsichtbare. Um das Bild nicht nur als Sichtbarkeit, sondern als Sichtbarkeit des Schönen einzusehen, gilt es also, durch das Sichtbare an ihm hindurchzusehen auf das in ihm scheinende Unsichtbare.

33 Vgl. Platon, Politeia 509 A 6–7: Das Gute (das Eine) ist von seinen „schönen“ Prinzi­ piaten Sein, Wahrheit und Geist her ἀμήχανον κάλλος … ὑπὲρ ταῦτα κάλλει. 34 Vgl. zur Formlosigkeit dieser ursprünglichen Schönheit Beierwaltes, Das wahre Selbst, 61 ff; Pierre Hadot, Plotin. Traité 38. VI 7, Paris 1988, 329 ff; Georg Siegmann, Plotins Philosophie des Guten, 153 ff. 35 Vgl. dazu Frank Regen, Formlose Formen. Plotins Philosophie als Versuch, die Regreßprobleme des Platonischen „Parmenides“ zu lösen, Göttingen 1988.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

5. Plotins metaphysische Rehabilitation der Bildkunst Plotin unternimmt von dieser Grundlage aus nun eine metaphysische Deutung und Rechtfertigung der Bildkunst, die mit Platonischen Denkmitteln Platons ontologisch motivierte Abwertung der bildenden Kunst korrigiert und widerruft. Platon hatte die Bilder der Kunst bekanntlich als „Abbilder von Abbildern“ abgewertet, nämlich als Abbilder von Naturdingen, die ihrerseits nur schwache Abbilder von Ideen sind; das eigentlich Sichtbare, nämlich geistig Sichtbare ist das Eidos, die Idee und nicht ihre Abbilder, noch weniger deren Abbilder, die nur von der Wahrheit wegführen (Politeia 596 A ff, bes. 597 E). Plotin zieht dagegen gerade aus der Durchsichtigkeit des Bildes auf das Unsichtbare weitreichende Folgerungen, welche die Wahrheit der Bilder in den Blick bringen.36 In seiner Schrift Über die intelligible Schönheit (Enneade V 8, 1 und 5) betont Plotin, wahre Kunst ahme in ihren bildlichen Darstellungen keineswegs Naturgegenstände nach, sondern die Produktivität des Künstlers sei der Produktivität der Natur gleichursprünglich. Sie entspringe einer Intuition, einer intuitiven Einsicht in das Wesen der Dinge, die Plotin „Weisheit“ (σοφία)37 nennt. Diese Weisheit hat das Wesen (das εἶδος oder den λόγος), das der Künstler in seinem materiellen Produkt äußerlich darstellt, unmittelbar inne, ja sie ist mit dem ­Eidos identisch. Das Eidos wird darum im Kunstwerk nicht diskursiv begriffen, sondern unmittelbar angeschaut. So ist die intuitive Ideenschau des Künstlers die Grundlage für die Anschaulichkeit seiner Werke. Die berühmte Zeusstatue des Phidias etwa deutet Plotin als Ausdruck einer geistigen Schau des Gottes durch den Künstler. Die Schönheit einer Statue ist darum auch nicht der Schönheit eines bestimmten lebenden Menschen abgeschaut, der ihr etwa als Modell gedient hätte, sondern sie ist ebenfalls das Produkt einer Ideenschau, einer idealisierenden Intuition, in welcher der Künstler die Schönheit aller schönen Menschen auf ihr einheitliches Eidos hin zusammenschaut; dieses wird in der Statue sichtbar und genau darum ist sie schön. Diese an Schelling erinnernde Begründung der Kunst in einer intellektuellen Anschauung hat mindestens drei Implikationen. 1. Plotin betont, die Schönheit sei in der Kunst, in der geistigen Anschauung des Künstlers auf weit höhere und ursprünglichere Weise als in dem sinnlich erscheinenden Kunstwerk, nämlich als intelligible Form oder Struktur (λόγος), die in dem äußeren Werk nur gebrochen durch die Widerständigkeit der Materie erscheint (Enneade V 8, 1, 18–26).

36 Vgl. dazu Beierwaltes, Ficinos Theorie des Schönen, 43 ff; ders., Denken des Einen, 91 ff, 449 ff; ders., Das wahre Selbst, 64 ff, 212 ff. 37 Vgl. zu diesem Begriff Beierwaltes, Das wahre Selbst, 45 ff.

XIV. Schönheit und Bild im Neuplatonismus

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2. Die produktive Weisheit des Künstlers entspricht aufgrund ihres intuitiven Charakters der intellektuellen Selbstanschauung des göttlichen Geistes, des Schöpfers der Natur; sie ist es, die der Künstler in seiner Produktion nachahmt und genau darum sind die Werke seiner Kunst auf den Geist hin durchsichtig (Enneade V 8, 2, 1–6). 3. Es ist gerade der intuitive Charakter des Bildkunstwerks, das seinen Gehalt als Ganzes auf einmal zur Anschauung bringt, in dem Plotin dessen Durchsichtigkeit auf den Geist und das Scheinen der Idee im Kunstwerk erkennt. So wie die Ideen im absoluten Geist nicht diskursiv begriffen, sondern noetisch eingesehen, also intellektuell angeschaut werden und darum selber göttliche Bilder (ἀγάλματα) sind, so besteht die Wahrheit der Bildes in ihrer intuitiven Simultaneität (Enneade V 8, 4, 35–44. 5, 19–25). Plotin lobt in diesem Zusammenhang die ägyptische Bilderschrift, weil sie anders als die Buchstabenschrift nicht diskursiv sei und nicht Laute und das Aussprechen von Sätzen nachahme, sondern die bildhaften Hieroglyphen als unmittelbare Zeichen des Gemeinten den intuitiven Charakter des göttlichen Wissens zum Ausdruck brächten (Enneade V 8, 6, 1–9).38 So ist das Kunstwerk gerade aufgrund seines Bildcharakters ein Hervorscheinen der Idee, eine Vermittlung und Vergegenwärtigung der es selbst übersteigenden Schönheit des Intelligiblen. Plotins Rehabilitation der Wahrheit der Kunst und ihrer Bilder beruht also ganz auf seinem metaphysischen Bildbegriff, der Bild primär nicht als sichtbare Darstellung von an sich Sichtbarem denkt, sondern die Sichtbarkeit des Bildes als Durchsichtigkeit auf das es übersteigende Unsichtbare hin deutet; genau in dieser Durchsichtigkeit aufs Übersteigende besteht die Schönheit des Bildes. In dem der Schönheit eigenen Transzendenzbezug gründet für Plotin die Wahrheit des Bildes und darum liegt die Wahrheitsfähigkeit der Kunst auch gerade in dem Bildcharakter ihrer Werke. In der Durchsichtigkeit der Bilder auf die Ideen hin wiederholt sich der Transzendenzbezug der Ideen und des Geistes auf das jenseitige Eine selbst. Weil die Sichtbarkeit der Bilder in einem ihre Durchsichtigkeit auf Transzendenz ist, wird das Verhältnis von Bild und Idee selber durchsichtig auf das Verhältnis des Seins zum Absoluten hin. Darin besteht die Welthaftigkeit der Bilder und ihrer Schönheit: Schönheit ist das Wesen der Welt, weil Welt wesentlich Bild im Sinne der Durchsichtigkeit auf Transzendenz ist. Dieses welthafte Wesen ist in den Kunstwerken gleichsam konzentriert, nämlich in ihrer Schönheit. In dieser wird die Durchsichtigkeit der sinnlichen Welt auf die intelligible und durch diese hindurch auf die Transzendenz des Absoluten angeschaut und erfahren. Die schöne Welthaftigkeit der Bilder, die Plotin entdeckt hat, hat niemand konsequenter zuende gedacht als sechs Jahrhunderte später der Hofscholaster Kaiser Karls des Kahlen, Johannes Eriugena. Sein Theophaniekonzept denkt 38 Vgl.

dazu Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München 1996, 479 f.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

Welt als Bild und Metapher des überseienden Absoluten, wie Werner Beierwaltes eindrucksvoll gezeigt hat.39 Eriugena geht dabei wie Plotin aus von der sinnlichen Erfahrung der Schönheit eines materiellen Kunstwerks aus Stein oder Holz, also einer Statue oder eines Gemäldes, die er als „materielle Lichter“ deutet, in denen das intelligible Licht durchscheint und über alles Seiende hin­ausweist auf die Transzendenz des übergöttlichen Einen. Geben wir darum zum Schluß Eriugena selbst das Wort: Jedes Geschaffene, ob sichtbar oder unsichtbar, ist ein Licht, das durch den Vater der Lichter (d.h. Gott) ins Sein kommt … dieser Stein und dieses Stück Holz ist mir ein Licht … Denn ich sehe, daß ein jedes gut und schön ist, daß es gemäß der ihm eigenen Proportion existiert, daß es sich nach Art und Gattung von anderen Arten und Gattungen der Dinge unterscheidet, daß es bestimmt ist von seiner Zahl, durch die es Eines wird, daß es seine Ordnung nicht überschreitet … während ich solches und ähnliches an diesem Stein wahrnehme, werden sie mir Licht, d.h. sie erleuchten mich. Denn ich beginne darüber nachzudenken, woher der Stein solche Eigenschaften empfangen hat … und unter der Führung der Vernunft werde ich bald über alles hin­aus zu dem Grund aller Dinge geführt, der ihnen Ort und Ordnung, Zahl, Gattung und Art, Gutheit und Schönheit und Sein verleiht mit allen anderen Zuweisungen und Gaben.40

39 Vgl.

Beierwaltes, Eriugena, 115–158 („Negati affirmatio: Welt als Metapher“). Eriugena, Expositio super hierarchiam caelestem, ed. Heinrich J. Floss, in: Patrologia Latina Bd. 122, 129 A–C: „Est et alia ratio, quae luculenter edocet, omnino creaturam visibilem et invisibilem lumen esse conditum a Patre luminum. … Lapis iste vel hoc lignum mihi lumen est; … Eum quippe animadverto subsistere bonum et pulchrum, secundum propriam analogiam esse, genere specieque per differentiam a ceteris rerum generibus et speciebus segregari, numero suo, quo unum aliquid fit, contineri, ordinem suum non excedere, … Haec horumque similia dum in hoc lapide cerno, lumina mihi fiunt, hoc est, me illuminant. Cogitare enim incipio, unde ei talia sunt, … ac mox ratione duce super omnia in causam omnium introducor, ex qua omnibus locus et ordo, numerus et species genusque, bonitas et pulchritudo et essentia, ceteraque data et dona distribuuntur.“ Übersetzung leicht modifiziert nach Friedrich Uehlein (entnommen aus: Erwin Panofsky, „Zur Philosophie des Abtes Suger von Saint Denis“, in: Werner Beierwaltes (Hg.), Platonismus in der Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1969, 109–120, hier: 113). 40  Johannes

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XV.

Das Eine als Einheit und Dreiheit Zur Prinzipienlehre Jamblichs 1. Ein neues Jamblich-Fragment Vor einiger Zeit gelang Dominic O’Meara eine Entdeckung, die unsere Kenntnis des schillernden Neuplatonikers Jamblich um einen wesentlichen Aspekt bereichert: O’Meara fand in einer Schrift des byzantinischen Philosophen und Polyhistors Michael Psellos Über die Zahlen Exzerpte aus den verlorenen Büchern von Jamblichs umfassendem Werk Über die Pythagoreische Philosophie (Περὶ τῆς Πυθαγορικῆς αἱρέσεως).1 Von dieser „Enzyklopädie“ sind in einem Florentiner Codex (Laurentianus 86, 3) das vollständige Inhaltsverzeichnis und die vier ersten Bücher erhalten: die Pythagorasbiographie, der Protreptikos, der Traktat De communi mathematica scientia sowie der Kommentar zu Nikomachos’ Introductio arithmetica. Die von O’Meara identifizierten Exzerpte des Psellos Περὶ τοῦ φυσικοῦ ἀριθμοῦ, περὶ τῆς ἠθικῆς ἀριθμητικῆς καὶ θεολογικῆς stammen dagegen aus dem 5., 6. und 7. Buch von Jamblichs Werk, also aus dem verlorenen Teil. Die neu aufgefundenen Fragmente enthalten vor allem Zahlen-Spekulation, sind aber teilweise auch für die Ontologie und die Prinzipien1  Dominic

J. O’Meara, „New Fragments from Iamblichus’ Collection of Pythagorean Doctrines“, in: American Journal of Philology 102 (1981), 26–40. Kritische Edition der neuen Fragmente dort 35–40. O’Meara hat seine Entdeckung ausgewertet in dem Buch: Pythagoras Revived, Text der neuen Fragmente mit englischer Übersetzung und Testimonien, ohne kritischen Apparat, dort 217–229. Vgl. hierzu die Rezension von Walter Burkert, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 38 (1991), 502–506 (= Rezension O’Meara). – Kommentierte Ausgaben der Fragmente der Platonkommentare Jamblichs: Bent Dalsgaard Larsen, Jamblique de Chalcis. Exégète et Philosophe, 2 Bände, Aarhus 1972; John M. Dillon, Iam­ blichi Chalcidensis In Platonis Dialogos Commentariorum Fragmenta, Leiden 1973 (= Iam­ blichi Chalcidensis In Platonis Dialogos Commentariorum Fragmenta). – Verwiesen sei auf die jüngste Gesamtdarstellung der Philosophie Jamblichs durch John M. Dillon, „Iamblichus of Chalcis (ca. 240–325 A. D.)“, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt II, Bd. 36.2, Berlin 1987, 862–909 (dort auch weitere Literatur), ferner auf die Monographie von Gerald Bechtle, Iamblichus. Aspekte seiner Philosophie und Wissenschaftskonzeption. Studien zum späteren Platonismus, Sankt Augustin 2006 (= Iamblichus) sowie auf den Sammelband: Henry J. Blumenthal/E. Gillian Clark (Hgg.), The divine Iamblichus, London 1993. Für die Wirkungsgeschichte Jamblichs ist wichtig Stephen Gersh, From Iamblichus to Eriugena. An Investigation oft the Prehistory and Evolution oft the Pseudo-Dionysian Tradition, Leiden 1978.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

lehre Jamblichs aufschlußreich: sie belegen nämlich, daß Jamblich die „göttlichen Zahlen“ noch über dem intelligiblen Sein angesetzt hat. 2 Damit bestätigen sie John Dillons These, die von Saffrey und Westerink bestritten wurde, daß bereits Jamblich die dann von Proklos breit entfaltete Theorie von den zwischen dem reinen Einen und der Seinsvielheit vermittelnden Henaden vertreten hat.3 Die philosophisch erregendste Perspektive, die das neue Material eröffnet, liegt aber wohl darin, daß Jamblich, der den Neuplatonismus zu einer mit dem Christentum konkurrierenden Philosophen-Religion umformte,4 offenbar eine Trinität im göttlichen Einen angesetzt hat: ἔστιν οὖν τὸ πρῶτον καὶ κυρίως ἕν, ὃ δὴ φαίημεν ἂν ἡμεῖς ὁ θεός, ἑνὰς καὶ τριάς – „also ist das ursprüngliche und absolute Eine, das wir auch Gott nennen können, Einheit und Dreiheit“.5 Nach O’Meara stammt die Zwischenbemerkung von Psellos, der Rest des Satzes aber von Jamblich. Walter Burkert bemerkte dazu: „Wenn dies zutrifft, wäre eine der erstaunlichsten Parallelen mit der christlichen Theologie festzustellen. Leider läßt die Spärlichkeit des Exzerptes Sicherheit nicht zu.“ 6 Im folgenden soll nun untersucht werden, was Jamblich unter der „Einheit und Dreiheit“ des Einen verstanden haben könnte. Hierzu werden ein Referat im Parmenideskommentar des Proklos (1107, 9 ff Cousin) und ein Passus aus Marius Victorinus’ Schrift Adversus Arium (IV 23, 27–34) herangezogen, die wahrscheinlich Jamblich wiedergeben und die absichern können, daß der oben zitierte Satz wirklich Jamblich und nicht eine kommentierende Bemerkung des Psellos 2 Jamblich, De eth. theol. arithm. 53–58 (American Journal of Philology 102, 38): Ἰάμβλιχος δὲ ὁ φιλόσοφος καὶ κρειττόνων φύσεων ἀριθμητικὴν ἔγραψεν, … ὥσπερ τὸ τῶν κρειττόνων γένος ἐξῄρηται πάσης οὐσίας, οὕτω καὶ ὁ ἀριθμὸς αὐτῶν ἀπόλυτός ἐστι καὶ καθ’ ἑαυτόν. – „Der Philosoph Jamblich hat aber auch über die Zahlenlehre der höheren Wirklichkeiten geschrieben … daß nämlich die Gattung der höhreren Wirklichkeiten jedes Sein transzendiert in dem Sinne, daß ihre Zahl absolut und an sich selbst ist.“ – Hierzu O’Meara, Pythagoras Revived, 82–84. 3  John M. Dillon, „Iamblichus and the Origin of the Doctrine of Henads“, Phronesis 17 (1972), 102–106 – auch als Appendix B in: ders., Iamblichi Chalcidensis In Platonis Dialogos Commentariorum Fragmenta, 412–416; Saffrey/Westerink, Proclus. Théologie Platonicienne III, , „Introduction“, XVII–XL. – Zu dem von Saffrey und Westerink bestrittenen Ergebnis, daß die Henadenlehre älter als Syrian (von dem Proklos sie übernahm) sein muß, kam bereits Dodds, Proclus. The Elements of Theology, Addenda et Corrigenda 346. Vgl. auch Gerald Bechtle, „Göttliche Henaden und platonischer Parmenides. Lösung eines Mißverständnisses?“, in: ders., Iamblichus, 135–159 – ebenfalls mit dem Ergebnis, daß Jamblich der Urheber der Henadenlehre ist. 4 Vgl. hierzu Beate Nasemann, Theurgie und Philosophie in Jamblichs De Mysteriis, Stuttgart 1990. Vgl. ferner Clemens Zintzen, „Die Wertung von Mystik und Magie in der neuplatonischen Philosophie“, in: ders. (Hg.), Philosophie des Neuplatonismus, 391–426; ders., „Bemerkungen zum Aufstiegsweg der Seele in Jamblichs De mysteriis“, in: Platonismus und Christentum. Festschrift für Heinrich Dörrie ( Jahrbuch für Antike und Christentum, Ergänzungsbd. 10), Münster 1983, 312–328. 5 Jamblich, De eth. theol. arithm. 70–71 (American Journal of Philology 102, 39). – Hierzu O’Meara, Pythagoras Revived, 82 f. 6 Burkert, Rezension O’Meara, 506.

XV. Das Eine als Einheit und Dreiheit

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wiedergibt. Vorab sei jedoch daran erinnert, daß das Eine, von dessen Drei-Einheit die Rede ist, für Jamblich nicht das Absolute selbst ist, sondern nur dessen erste Manifestation. Deshalb sei zunächst die merkwürdige Prinzipientheorie Jamblichs in ihrem problemgeschichtlichen Zusammenhang kurz skizziert.

2. Der prinzipientheoretische Kontext Plotin hatte in engem Anschluß an Platon, speziell an das Sonnengleichnis und an die als konsequente theologia negativa gedeutete erste Hypothesis des Parmenides, die absolute Transzendenz des Absoluten, des Einen selbst, so stark betont, daß eine begrifflich explizierbare Ableitung des Seins und der für das Sein mit-konstitutiven Vielheit aus dem Übersein des Einen unmöglich wurde.7 Weil die absolute Transzendenz des Einen seine absolute Unbezüglichkeit einschließt, hat Plotin dem Absoluten sogar die Kennzeichnung als Urgrund, Ursprung oder Prinzip, welche eine Relation zum Prinzipiierten oder Entsprungenen ausdrückt, abgesprochen: Das Eine ist „Ursprung und doch auf andere Weise wieder nicht Ursprung … man darf Jenen (sc. das Eine) überhaupt nicht als zu etwas in Beziehung stehend ansprechen; denn Er ist das, was Er ist, und ist vor und über allem anderen; wir tun ja selbst das ,Ist‘ von Ihm fort und folglich auch jede Beziehung zu dem Seienden.“8 Plotin nennt das Eine darum konsequenterweise „das Vorursprüngliche“ (τὸ πρὸ ἀρχῆς)9 und betont nachdrücklich, daß die Kennzeichnung des Absoluten als Ursprung eine metaphorische Redeweise ist, die lediglich die konstitutive Beziehung der prinzipiierten Wirklichkeit zum Absoluten benennt: Denn auch, wenn wir das Eine als den Grund bezeichnen, so bedeutet das nicht, etwas Ihm, sondern etwas uns Zukommendes aussagen: daß wir nämlich etwas von Jenem her haben, während Es selbst in sich selbst bleibt. Ja selbst „ Jenes“ dürften wir Es im eigent­ lichen Sinne nicht nennen, wenn wir genau reden wollen, sondern es will das nur die Auslegung dessen sein, was wir selbst, die wir das Eine gleichsam von außen umspielen, dabei erfahren, indem wir Ihm bald nahe sind, bald aber ganz zurückgeworfen werden durch die Weglosigkeit um Es selbst.10  7  Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 12 ff, 61 ff, 89 ff, 107 ff, 151–182. Zur Paradoxie des absoluten Ursprungs bei Plotin dort 98–130.  8 Plotin, Enneade VI 8, 8, 9–15: τούτων γὰρ αὐτὸς ἀρχή· καίτοι ἄλλον τρόπον οὐκ ἀρχή. … δεῖ δὲ ὅλως πρὸς οὐδὲν αὐτὸν λέγειν· ἔστι γὰρ ὅπερ ἐστὶ καὶ πρὸ αὐτῶν· ἐπεὶ καὶ τὸ „ἔστιν“ ἀφαιροῦμεν, ὥστε καὶ τὸ πρὸς τὰ ὄντα ὁπωσοῦν. Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 107 ff.  9 Plotin, Enneade V 5, 9, 7 nach der überzeugenden Konjektur von Willy Theiler, die durch Parallelen bei Marius Victorinus und Proklos abgesichert wird: Victorinus, Adversus Arium I 3, 25: praecausa; ebd. I 49, 28: praeprincipium; Proklos, In Parm. 1210, 11: προαίτιον; ebd. 1123, 37: ὑπὲρ αἴτιον; Theol. Plat. II 9, 59, 24 Saffrey-Westerink: προαίτιος. 10 Plotin, Enneade VI 9, 3, 49–54: ἐπεὶ καὶ τὸ αἴτιον λέγειν οὐ κατηγορεῖν ἐστι συμβεβηκός τι αὐτῷ, ἀλλ’ ἡμῖν, ὅτι ἔχομέν τι παρ’ αὐτοῦ ἐκείνου ὄντος ἐν αὑτῷ· δεῖ δὲ μηδὲ τὸ „ἐκείνου“ μηδὲ

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

Die Aporie des Absoluten, die Plotin hier formuliert, ist die notwendige Konsequenz der absoluten Transzendenz des Einen. Plotin war keineswegs der erste, der sie gesehen hat. Sie folgt bereits aus dem ursprünglichen Ansatz Platons, demzufolge das Eine selbst in seiner Absolutheit „jenseits des Seins“ (ἐπέ­ κεινα τῆς οὐσίας) und damit jenseits von allem schlechthin steht.11 Wie Speusipp berichtet, hat darum bereits Platon dem Einen selbst die Relationsbestimmung als Ursprung abgesprochen: Sie glauben nämlich, das Eine selbst sei über das Sein erhaben und Vonwoher des Seins, und sie haben Es sogar von der Verhältnisbestimmung als Ursprung befreit. Weil sie aber meinen, daß nichts von den anderen Dingen entstünde, wenn man das Eine selbst, allein in sich selbst betrachtet, ohne weitere Bestimmungen, rein an Ihm selbst zugrunde legt, ohne Ihm irgend ein zweites Element hinzuzusetzen, darum haben sie die unbestimmte Zweiheit als Prinzip der Seienden eingeführt.12

Nach Speusipp, der hierbei vermutlich die ersten beiden Hypothesen des Parmenides im Blick hat,13 war die Aporie der absoluten Transzendenz für Platon also das Motiv zur Einführung der ἀόριστος δυάς, um mit deren Hilfe die Vielheit des Seienden ableiten zu können. Das Derivationssystem des Platonismus setzt darum die Vielheit als mit-konstitutives Prinzip des Seienden immer vor­ aus. Zwar konnte Plotin, dabei den monistischen Grundzug des Alten Platonismus aufnehmend und verstärkend, noch die ἀόριστος δυάς selber mit guten Gründen von dem Einen abhängen lassen, denn das Vielheitsprinzip muß selber Einheitscharakter haben.14 Den Hervorgang der Vielheit aus dem absoluten Einen konnte Plotin aufgrund der Erkenntnistranszendenz des Einen aber ebensowenig begreiflich machen wie Platon oder Speusipp.15 Plotin hat – wie schon ὄντως λέγειν ἀκριβῶς λέγοντα, ἀλλ’ ἡμᾶς οἷον ἔξωθεν περιθέοντας τὰ αὑτῶν ἑρμηνεύειν ἐθέλειν πάθη ὁτὲ μὲν ἐγγύς, ὁτὲ δὲ ἀποπίπτοντας ταῖς περὶ αὐτὸ ἀπορίαις. (Text nach der Editio maior von Henry-Schwyzer und Harder). Dazu Karl Jaspers, „Plotin“, in: ders., Die großen Philosophen I, 3. Aufl. München 1981, 669: „Es ist also ein ursächliches Verhältnis, in dem die Ursache nicht Ursache ist, sondern nur von der Folge her so erscheint. Es ist daher auch die Beziehung zu uns eine Beziehung, die keine Beziehung ist als nur eine von uns aus so gesehene.“ 11 Vgl. Platon, Politeia 509 B; Parmenides 137 C – 142 A; Test. Plat. 50 Gaiser. – Zur Transzendenz des Absoluten bei Platon Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 19 ff, 193 ff, 221 ff, 257 ff, 277 ff, 302–405. 12  Speusipp bei Proklos, In Parm. VII 40, 1–5 Klibansky-Labowsky = Speusipp, Fr. 62 Isnardi Parente / Fr. 48 Tarán = Test. Plat. 50 Gaiser: „Le unum enim melius ente putantes et a quo le ens, et ab ea que secundum principium habitudine ipsum liberaverunt. Existimantes autem quod, si quis le unum ipsum seorsum et solum meditatum, sine aliis, secundum se ipsum ponat, nullum alterum elementum ipsi apponens, nichil utique fiet aliorum, interminabilem dualitatem entium principium induxerunt.“ 13  Dazu oben Kapitel XI. 14 Plotin, Enneade V 1, 5, 6–8; II 4, 15, 17–20; V 6, 4, 11–13; auch VI 7, 17, 42 f; V 3, 16, 12 f. – Dazu oben Kapitel IX, zum monistischen Grundcharakter der Prinzipientheorie Platons Kapitel VII und VIII. 15 Vgl. hierzu Huber, Das Sein und das Absolute, 78 ff.

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Platon – die absolute Transzendenz des Einen selbst als absolutes Übermaß an Mächtigkeit (ὑπερβολὴ τῆς δυνάμεως) und Überfülle (ὑπερπλῆρες) gedeutet: Darum, weil nichts in Ihm (sc. dem Einen selbst) war, eben darum kann Alles aus Ihm kommen; gerade damit das Sein existieren kann, ist Jener selbst nicht Sein, ist aber dessen Erzeuger … da nämlich Jenes absolut vollkommen ist – denn Es sucht nichts, hat nichts und bedarf nichts –, so ist Es gleichsam übergeflossen und Seine Überfülle hat ein anderes hervorgebracht.16

Doch ist die Rede von der Überfülle und Übermächtigkeit des Einen ebenso metaphorisch und uneigentlich wie die Rede vom Einen als Ursprung und sie vermag wie diese nur zu zeigen, daß die Vielheit des Seienden ihren absoluten Ursprung im absolut Einen hat, nicht aber, wie oder warum die Vielheit aus dem Einen hervorgegangen ist. Die Vielheit gründet auf unbegreifliche Weise in dem absoluten Einen, das in seiner Transzendenz über jede Erkennbarkeit hin­ausliegt. Die Emanationsmetaphorik Plotins erläutert diesen Sachverhalt.17 Die Unbegreiflichkeit des Hervorganges der Wirklichkeit aus dem unerkennbaren Absoluten bildet seit Plotin die zentrale Paradoxie der neuplatonischen Prinzipientheorie; daß sie unauflösbar ist, hat Damaskios mit großer Klarheit herausgearbeitet.18 Porphyrios dagegen versuchte diese Paradoxie in einem energischen Zugriff zu lösen: Indem er das Absolute als zugleich unbezüglich in seiner Transzendenz und als auf die prinzipiierte Wirklichkeit beziehbar dachte, ermöglichte er einen kontinuierlichen Übergang vom überseienden Absoluten zum Seienden, der als Selbstentfaltung des Einen in die Vielheit, zuhöchst in die geeinte Vielheit des Intelligiblen, gedeutet werden konnte.19 Porphyrios dachte die Transzendenz des Absoluten demgemäß nicht mehr wie Plotin, Speusipp und Platon als reine Transzendenz jenseits aller Bestimmungen, sondern als Einheit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Für Porphyrios ist zwar das Absolute an sich bestimmungslos, in seiner Beziehung auf die prinzipiierte Wirklichkeit aber enthält es in sich die in der Sphäre der Vielheit getrennten Bestimmungen auf absolut einige Weise vorweg. Solche Einheit von 16 Plotin, Enneade V 2, 1, 5–9: ἢ ὅτι οὐδὲν ἦν ἐν αὐτῷ, διὰ τοῦτο ἐξ αὐτοῦ πάντα, καὶ ἵνα τὸ ὂν ᾖ, διὰ τοῦτο αὐτὸς οὐκ ὄν, γεννητὴς δὲ αὐτοῦ … ὂν γὰρ τέλειον τῷ μηδὲν ζητεῖν μηδὲ ἔχειν μηδὲ δεῖσθαι οἷον ὑπερερρύη καὶ τὸ ὑπερπλῆρες αὐτοῦ πεποίηκεν ἄλλο. Vgl. auch VI 8, 10, 33: ὑπερβολὴ τῆς δυνάμεως. VI 9, 6, 10–12: ληπτέον δὲ καὶ ἄπειρον αὐτὸν … τῷ ἀπεριλήπτῳ τῆς δυνάμεως. – Zur Herkunft des Gedankens des übermächtigen und unendlichen Absoluten von Platon und Speusipp Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 338–369 und oben Kapitel XII. 17  Hierzu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 118 ff. 18 Vgl. Damaskios, De principiis I, 1, 4–26, 8 Westerink; auch 99, 1–130, 8. Zum Problem auch Joseph Combès, „Négativité et procession des principes selon Damascius“, in: ders., Recherches sur la tradition platonicienne, Paris 1977, 119–141. 19  Hierzu ist grundlegend Hadot, „Metaphysik des Porphyrios“ sowie ders., Porphyre et Victorinus.

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Bestimmtheit und Unbestimmtheit erblickt Porphyrios in dem als reiner Akt verstandenen Sein selbst (αὐτὸ τὸ εἶναι, ὕπαρξις). 20 Das Sein kann nämlich in doppelter Weise betrachtet werden: einmal als das Sein des Seienden (τὸ εἶναι τῶν ὄντων) in seiner Beziehung zu diesem; zum anderen in seinem reinen Ansich, isoliert von allem Seienden, als reine oder absolute Aktuosität. In seinem reinen, unbezogenen Ansich ist der Seinsakt unbestimmbar wie das Eine und wird von Porphyrios darum mit diesem identifiziert. So ist das Sein doppelt: das eine präexistiert vor dem Seienden, das andere ist hervorgebracht von dem Einen, welches das Transzendente, das absolute Sein und gleichsam die Idee des Seienden ist; durch Teilhabe an diesem ist ein zweites Eines erzeugt worden, mit welchem das Sein, das aus jenem absoluten Sein hervorgeht, gleichursprünglich verbunden ist. 21

Der Seinsakt ist also zugleich unbezüglich und beziehbar und fällt unter seinem unbezüglichen Aspekt mit dem überseienden Absoluten zusammen. 22 Die aus dem Absoluten entfaltete intelligible Seinsfülle der Ideen im Nous gliederte Porphyrios wie schon Plotin triadisch. Beherrschend ist dabei der aus Platons Sophistes (248 Ε ff) und Timaios (39 E) entlehnte Ternar „Sein – Leben – Denken“ (ὄν – ζωή – νοῦς), dessen erstes Glied Porphyrios genauer faßt als ὕπαρ­ ξις, als Existenz oder Seinsakt.23 Das einheitstiftende Element der intelligiblen Triade ist nun ihr erstes Glied, das Sein, das in seinem unbezüglichen Ansich, isoliert von den beiden anderen Gliedern der Triade, mit dem Absoluten selbst zusammenfällt. 24 Porphyrios trug diese Prinzipientheorie – seinem Selbstverständnis als Platoniker gemäß – als Platon-Interpretation vor: in seinem Parmenideskommentar identifizierte er das überseiende absolute Eine der ersten Hypothese (137 C – 142 A) mit dem rein für sich genommenen, vom Sein (οὐσία) isolierten Moment des Einen innerhalb des seienden Einen der zweiten Hypothese (143 A). 25 Dieses isolierte Einheitsmoment des seienden Einen, d.h. nach neuplatonischer Deutung des Ideenkosmos oder der damit identischen intelli20 Vgl. Porphyrios, In Platonis Parmenidem XI–XII (hg. von Pierre Hadot, Porphyre et Victorinus II, 98–107). Zu dieser Konzeption des absoluten Seins Hadot, „Metaphysik des Porphyrios“, 217 ff; John M. Rist, „Mystik und Transzendenz im späteren Neuplatonismus“, in: Zintzen (Hg.), Philosophie des Neuplatonismus, 373–390 (= Mystik und Transzendenz); Beierwaltes, Identität und Differenz 61 ff; ders., Denken des Einen, 198 ff. 21 Porphyrios, In Parm. XII 29–35: ὥστε διττὸν τὸ εἶναι, τὸ μὲν προϋπάρχει τοῦ ὄντος, τὸ δὲ ὃ ἐπάγεται ἐκ τοῦ ὄντος τοῦ ἐπέκεινα ἑνὸς τοῦ εἶναι ὄντος τὸ ἀπόλυτον καὶ ὥσπερ ἰδέα τοῦ ὄντος, οὗ μετασχὸν ἄλλο τι ἓν γέγονεν, ᾧ σύζυγον τὸ ἀπ’ αὐτοῦ ἐπιφερόμενον εἶναι. Vgl. auch XIII 13–23; XIV 4–16. Vgl. Hadot, „Metaphysik des Porphyrios“, 227 ff. 22 Porphyrios, In Parm. XII 22–27. 23  Hierzu Pierre Hadot, „Être, vie, pensée chez Plotin et avant Plotin“, in: Les Sources de Plotin. Entretiens sur l’Antiquité classique V, Vandœuvres-Genève 1960, 107–141; ders., „Metaphysik des Porphyrios“, 216–228. 24 Porphyrios, In Parm. XIV 4–16; vgl. XIII 1–23. 25 Porphyrios, In Parm. XII 22–35; XIV 4–16.

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giblen Triade, bestimmt Porphyrios nun als den reinen Seinsakt in Abhebung vom eidetisch erfüllten Sein der οὐσία: τὸ ἓν τὸ ἐπέκεινα οὐσίας καὶ ὄντος ὂν μὲν οὐκ ἔστιν οὐδὲ οὐσία οὐδὲ ἐνέργεια, ἐνεργεῖ δὲ μᾶλλον καὶ αὐτὸ τὸ ἐνεργεῖν καθα­ ρόν, ὥστε καὶ αὐτὸ τὸ εἶναι τὸ πρὸ τοῦ ὄντος. – „Das Eine, das jenseits der Seiendheit und des wahrhaft Seienden ist, ist weder Seiendheit noch Tätigkeit, es tätigt vielmehr und ist das reine Tätigen selbst und so ist es auch das Sein selbst, das vor und über dem Seienden ist.“26 Das Eine jenseits des Seienden sei darum selber „das absolute Sein und gleichsam die Idee des Seienden“ (τὸ εἶναι τὸ ἀπό­ λυτον καὶ ὥσπερ ἰδέα τοῦ ὄντος).27 Porphyrios faßt also die Transzendenz des Absoluten nicht mehr in der kompromißlosen Radikalität Plotins, wenn er das jenseitige Eine mit dem absoluten Sein identifiziert, um es als Einheit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit fassen und so das Übersein des Absoluten mit dem Sein des Seienden vermitteln zu können. Porphyrios bestimmte das jenseitige Absolute aber nicht nur als „absolutes Sein“, sondern ebenso als „absolute Erkenntnis“, als unbezogenen reinen Erkenntnisakt ohne erkennendes Subjekt und ohne erkanntes Objekt (γνῶσις ἀπόλυτος οὐ γιγνώσκοντος οὖσα καὶ γιγνωσκομένου). 28 Die dreigliedrige Struktur des reinen Denkens und Erkennens seiner selbst hatte Plotin im Rückgriff auf den Platonischen Ternar ὄν – ζωή – νοῦς analysiert. 29 Das sich selbst denkende Denken, der Wesensakt des göttlichen Nous, ist die dreifaltige Einheit von Denkendem (νοοῦν), Gedachtem (νοητόν) und Denkakt (νόησις), deren Glieder oder Momente einander wechselseitig so durchdringen, daß jedes von ihnen zugleich das Ganze ist: ἓν ἅμα πάντα ἔσται, νοῦς, νόησις, τὸ νοητόν.30 Das einheitstiftende Element dieser Drei-Einheit des Sich-Denkens ist der Denkakt, der Denkendes und Gedachtes miteinander verbindet.31 Der Denkakt entspricht darin dem „Sein“ des Platonischen Ternars in der Deutung des Porphyrios. Plotin denkt dieses Sein allerdings nicht (primär) als Seinsakt, sondern – dem genuinen Sinn des Platonischen παντελῶς ὄν gemäß – als das in sich gegliederte Ganze des Ideenkosmos, dessen Struktur als intensivste Durchdringung von Einheit und Vielheit (ἓν πολλά, ὁμοῦ πάντα) in sich selbst Leben 26 Porphyrios,

In Parm. XII 23–27. In Parm. XII 32–33. 28 Porphyrios, In Parm. VI 8–10. 29 Vgl. hierzu Szlezák, Nuslehre Plotins, 120–135. 30 Plotin, Enneade V 3, 5, 43 f. Vgl. V 3, 5 ganz; V 1, 4, 26–33 u.ö. 31 Plotin, Enneade V 3, 5, 44–48: εἰ οὖν ἡ νόησις αὐτοῦ τὸ νοητόν, τὸ δὲ νοητὸν αὐτός, αὐτὸς ἄρα ἑαυτὸν νοήσει· νοήσει γὰρ τῇ νοήσει, ὅπερ ἦν αὐτός, καὶ νοήσει τὸ νοητόν, ὅπερ ἦν αὐτός. καθ’ ἑκάτερον ἄρα ἑαυτὸν νοήσει, καθότι καὶ ἡ νόησις αὐτὸς ἦν, καὶ καθότι τὸ νοητὸν αὐτός, ὅπερ ἐνόει τῇ νοήσει, ὃ ἦν αὐτός. – „Wenn also der Denkakt des Geistes das Gedachte ist, das Gedachte aber der Geist selbst ist, dann denkt er selbst folglich sich selbst; denn er denkt durch den Denkakt, welcher er selbst ist, und er denkt das Gedachte, welches er selbst ist. In beiden Hinsichten denkt er folglich sich selbst: insofern er selbst der Denkakt ist, und insofern er selbst das Gedachte ist, welches er durch den Denkakt denkt, der er selbst ist.“ – Hierzu Halfwassen, Geist und Selbstbewußtsein, 26–30. 27 Porphyrios,

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und Denken enthält.32 Ebenso enthält der Denkakt als solcher die Beziehung auf Denkendes und Gedachtes in sich. Als Vereinigungsgrund von νοῦς und ­νοητόν ist die νόησις als reiner Akt jedoch noch nicht selber denkend, sondern in sich einfacher Grund des Denkendseins;33 dieses erfüllt sich erst in der triadischen Struktur von νοῦς – νόησις – νοητόν. Porphyrios löst nun den einfachen Denkakt von seinen Relata ebenso ab, wie er den einfachen Seinsakt vom Seienden isoliert; diese „absolute Erkenntnis“ ist für ihn in ihrer Unbezüglichkeit das Eine selbst, dessen Entfaltung in die Vielheit der Ideen Porphyrios als die Selbstentfaltung des einfachen Denk-Prinzips in die geeinte Relationalität des Sich-selbst-Denkens deutet.34 Für Porphyrios fällt also die Monade oder das Einheitsmoment der intelligiblen Triade mit dem absoluten Einen zusammen; er identifiziert das transzendente Prinzip der Einheit mit dem einfachsten Element der ersten Vielheit, wenn dieses nur ohne die Vielheit für sich genommen wird.35 Das Motiv für diese Identifikation ist Porphyrios’ Versuch, das jenseitige Absolute mit seinen Prinzipiaten zu vermitteln. Der Preis für seine Lösung ist eine Relativierung der Transzendenz des Absoluten, an der Porphyrios zwar festhält, die aber bei ihm nicht mehr die reine und absolute Transzendenz Plotins ist. Porphyrios’ Lösung wurde darum von Jamblich und später von Proklos und Damaskios im Namen der platonischen Orthodoxie zurückgewiesen. Die Prinzipientheorie Jamblichs läßt sich nun als der Versuch verstehen, einerseits die absolute Transzendenz des Absoluten in ihrer uneingeschränkten Radikalität zu bewahren, damit andererseits aber das Porphyrianische Vermittlungsdenken zu verbinden. Das Resultat dieser gegenläufigen Tendenzen ist die merkwürdige Verdoppelung des Absoluten in der Prinzipientheorie Jamblichs, von der Damaskios berichtet: Hiernach wollen wir nun die Frage in Angriff nehmen, ob es zwei Erste Prinzipien vor und über der intelligiblen ersten Triade gibt, nämlich das absolut unsagbare Prinzip und das der Triade unzugeordnete Prinzip, wie der große Jamblich im 28. Buch seiner exzellenten Chaldäischen Theologie annahm, oder ob die erste Triade des Intelligiblen unmittelbar nach dem unsagbaren Prinzip – welches (dann) das einzige Prinzip ist – anzusetzen ist, wie die meisten Platoniker nach Jamblich glaubten; oder sollen wir diese Voraussetzung ganz aufgeben und mit Porphyrios behaupten, daß der Vater der intelligiblen Triade das einzige Prinzip der Totalität ist?36 32 Vgl.

z.B. Plotin, Enneade V 3, 5, 26–43; V 6, 6, 18–23; VI 7, 39, 28 ff; VI 9, 2, 24 ff u.ö. Plotin, Enneade V 6, 6, 9–10; VI 7, 37, 15–16; VI 9, 6, 53–54. Dazu René Arnou, „L’acte de l’intelligence en tant qu’elle n’est pas intelligence“, in: Mélanges Joseph Maréchal II, Paris 1950, 249–262. 34 Vgl. Porphyrios, In Parm. V 1 – VI 15; XIII 1–23; XIV 4–35. 35 Vgl. die Kritik des Damaskios, De princ. II 1, 11–2, 10 Westerink. 36 Damaskios, De princ. II 1, 4–13 Westerink: μετὰ δὲ ταῦτα ἐκεῖνο προβαλλώμεθα εἰς ἐπίσκεψιν, πότερον δύο εἰσὶν αἱ πρῶται ἀρχαὶ πρὸ τῆς νοητῆς πρώτης τριάδος, ἥ τε πάντῃ ἄρρητος καὶ ἡ ἀσύντακτος πρὸς τὴν τριάδα, καθάπερ ἠξίωσεν ὁ μέγας Ἰάμβλιχος ἐν τῷ κη’ βιβλίῳ τῆς 33 Vgl.

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Die Einführung der Chaldäischen Orakel in die neuplatonische Metaphysik geht auf Porphyrios zurück. Porphyrios hatte die göttliche Triade der Orakel: πατήρ – δύναμις – νοῦς mit dem Platonischen Ternar: ὄν – ζωή – νοῦς gleichgesetzt, zugleich aber angenommen, daß die drei Glieder der Triade sich wechselseitig so durchdringen, daß jedes die beiden anderen in sich enthält. Porphyrios kam so zu drei hierarchisch angeordneten Triaden, die sich durch das jeweilige Vorherrschen des ersten, des zweiten oder des dritten Gliedes der Triade unterscheiden.37 Porphyrios hatte nun den „Vater“ der ersten Triade, den „Transzendenten in der Weise der Einheit“ (ἅπαξ ἐπέκεινα) der Orakel, mit dem absoluten Sein und dem Einen gleichgesetzt.38 Er nannte das absolute Prinzip daher auch „den Gott, der über allem ist“ (ὁ ἐπὶ πᾶσιν ὢν θεός).39 Jamblich dagegen hatte jenseits der ersten Triade das Platonische Eine und Gute (ἓν ἀγαθόν) als Prinzip angesetzt, das der Triade unzugeordnet ist und nicht mit ihrem Einheitsmoment zusammenfällt.40 Unbeschadet der Transzendenz des ἓν ἀγαθόν hatte Jamblich es aber mit der intelligiblen Triade vermittelt, die für ihn genau wie für Porphyrios und Plotin die grundlegende Struktur des seienden Einen (ἓν ὄν) des Platonischen Parmenides, d.h. des Ideenkosmos darstellte. Jamblich setzte nämlich zwischen dem ἓν ἀγαθόν und dem ἓν ὄν die beiden entgegengesetzten Prinzipien πέρας und ἄπειρον oder ἕν und πολλά an,41 aus deren Zusammenwirken die überseienden „göttlichen Zahlen“ entstehen, also die zehn Ideenzahlen Platons oder die Henaden, die Jamblich entweder (gemäß der ­Lehre Platons und dem Text des Parmenides, 143 D ff) als oberste Strukturen im seienden Einen oder (gemäß ihrem überseienden Status) über diesem angesetzt hat. Peras und Apeiron sind also die konstituierenden Elemente der Ideenzahlen und des ganzen Ideenkosmos; für Jamblich sind sie aber, wie es scheint, auf gewisse Weise in dem überseienden Einen enthalten oder vorweggenommen. Denn das Eine ist nach Platon (Parmenides 137 D 7–8) unendlich (ἄπειρον), und nach einem Bericht des Proklos (In Parm. 1118, 25–33) hat Jamblich dem Einen nur Unendlichkeit und Unbewegtheit zugeschrieben, diese aber offenbar als poχαλδαϊκῆς τελειοτάτης θεολογίας, ἢ ὡς οἱ πλεῖστοι τῶν μετ’ αὐτὸν ἐδοκίμασαν, μετὰ τὴν ἄρρητον αἰτίαν καὶ μίαν εἶναι τὴν πρώτην τριάδα τῶν νοητῶν, ἢ καὶ ταύτης ὑποβησόμεθα τῆς ὑποθέσεως, κατὰ δὲ τὸν Πορφύριον ἐροῦμεν τὴν μίαν τῶν πάντων ἀρχὴν εἶναι τὸν πατέρα τῆς νοητῆς τριάδος. Vgl. I 84, 13 ff. 37 Vgl. das Referat des Proklos, In Tim. III 64, 8 ff Diehl sowie Johannes Lydos, De mensibus IV 122, p. 159, 5 ff Wünsch. – Zu Porphyrios und den Chaldäischen Orakeln ist grundlegend Willy Theiler, „Die chaldäischen Orakel und die Hymnen des Synesios“, in: ders., Forschungen zum Neuplatonismus, Berlin 1966, 252–301 (= Chaldäische Orakel); vgl. ferner Pierre Hadot, Porphyre et Victorinus I, 264 ff; ders., „Metaphysik des Porphyrios“, 219 ff. 38 Vgl. Johannes Lydos, De mens. IV 53, p. 110, 18 ff Wünsch. 39 Vgl. Porphyrios, In Parm. I 4–5; I 18–19; X 14; Vita Plotini 23, 16 u.ö. 40 Vgl. Damaskios, De princ. II 25, 1 ff Westerink. 41 Vgl. Damaskios, De princ. II 25, 1–27, 4 Westerink; Proklos, In Tim. I 77, 24–78, 11 Diehl = Jamblich, In Tim. Fr. 7 Dillon.

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sitive Bestimmungen (καταφατικῶς) aufgefaßt (vgl. In Parm. 1123, 22 ff).42 Zugleich war das Eine für Jamblich aber auch Ursprung, Mitte (= Maßstab) und Vollendung (ἀρχὴ καὶ μέσα καὶ τέλη) der „göttlichen Zahlen“, also begrenzendes Prinzip (πέρας) der Ideenzahlen, wie sich aus einem der Exzerpte bei Psellos ergibt;43 und da das Eine als ἀρχὴ καὶ μέσα καὶ τέλη ἑνὰς καὶ τριάς sein soll,44 hat Jamblich offenbar auch diese Bestimmungen καταφατικῶς als Bestimmungen des Einen in sich aufgefaßt. Das ἓν ἀγαθόν enthält also in sich selbst πέρας und ἄπει­ ρον in positiver Bedeutung, ist also nicht absolut transzendent, sondern Einheit von Bestimmtheit (πέρας) und Unbestimmtheit (ἄπειρον) analog dem „absoluten Sein“ des Porphyrios. Dies war wohl der Grund, warum Jamblich dann jenseits des so verstandenen ἓν ἀγαθόν das absolut Transzendente ansetzte, das ἓν ἄρρη­ τον, das als reine Transzendenz jenseits aller Bestimmungen schlechthin ist.45 Da das absolut Transzendente nach Platon (Parmenides 141 E 10–12) nicht einmal Eines ist, sondern als das Über-Eine über jede positive Einheit hin­ausliegt, nennt Jamblich das Absolute konsequenterweise „das absolut Unsagbare“ (τὸ πάντῃ ἄρρητον),46 wofür er sich wohl auf Platon berief (vgl. Parmenides 142 A; 7. Brief 341 C). Dieses unsagbare Absolute manifestiert sich in dem „einfachhin Einen“ (ἁπλῶς ἕν), das positiven Einheitscharakter besitzt47 und transzendenter Einheitsgrund der intelligiblen Triade bzw. des seienden Einen ist, liegt selbst aber noch über dieses positive Eine, das zugleich das Gute ist, hin­aus. Damaskios faßt demgemäß Jamblichs hochkomplexe Prinzipienlehre so zusammen: Vor und über den zwei Prinzipien steht nämlich das Eine Prinzip; dieses nun ist das „einfachhin Eine“, das Jamblich als Vermittlung zwischen den zwei Prinzipien und jenem schlechthin unsagbaren Absoluten ansetzt; diese zwei Prinzipien aber können „Grenze“ und „Unbegrenztes“ genannt werden oder auch, wenn man will, „Eines“ und „Vieles“, wobei dieses Eine dann aber als der Vielheit entgegengesetzt aufgefaßt wird, nicht jedoch als das einfachhin Eine vor beiden Prinzipien, das gegensatzlos ist.48

Der Prinzipiengegensatz von Einheit und Vielheit, Peras und Apeiron begründet die das Seiende bestimmenden Gegensatzpaare. Das der Prinzipien-Zweiheit vorgängige einfachhin Eine ist also gegensatzlos (ἀναντίθετον),49 und zwar, 42 

Hierzu oben Kapitel XII. Jamblich, De eth. theol. arithm. 64 ff (American Journal of Philology 102, 38–39). 44 Vgl. Jamblich, De eth. theol. arithm. 70–72 (American Journal of Philology 102, 39). 45 Vgl. Damaskios, De princ. I 84, 13 ff zu II 1, 4 ff; II 25, 16 ff; II 28, 1 ff Westerink. 46 Damaskios, De princ. II 1, 6. Vgl. II 3, 1; II 15, 8; II 25, 17; II 28, 3; I 84, 16: τὸ δ’ ἐπέ­ κεινα τοῦ ἑνὸς πάντῃ ἀπόρρητον. 47  So ausdrücklich Damaskios, De princ. II 4, 10: τεθεῖσαν διὰ καταφάσεως. Vgl. II 15, 11: τὴν ἑνοειδῆ sc. ἀρχήν. 48 Damaskios, De princ. II 28, 1–6 Westerink: καὶ γὰρ ἡ μία ἀρχὴ πρὸ τῶν δυεῖν· αὕτη μὲν οὖν τὸ ἁπλῶς ἕν, ὃ μέσον ὁ Ἰάμβλιχος τίθεται τῶν δύο ἀρχῶν καὶ τῆς παντάπασιν ἀπορρήτου ἐκείνης, αἱ δὲ δύο πέρας φέρε καὶ ἄπειρον, ἢ καὶ εἰ βούλεταί τις, ἓν καὶ πολλά, ἀλλὰ τὸ ἀντικείμενον ἓν τοῖς πολλοῖς, οὐ τὸ πρὸ ἀμφοῖν καὶ ἀναντίθετον. 49 Damaskios, De princ. II 28, 6 sowie II 25, 24 f: ὥστε καὶ τὸ ἓν αἴτιον εἶναι πρὸ τῆς ἀντι­ 43 Vgl.

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weil es als einfache, reine Einheit Peras und Apeiron auf nicht-entgegengesetzte, absolut einige Weise enthält; es ist die ursprüngliche Einheit dessen, was erst nach ihm entgegengesetzt ist. Das „schlechthin Unsagbare“, das Jamblich noch über dem einfachhin Einen ansetzte, ist dagegen absolut transzendent, steht also jenseits aller Gegensätze. Während das positiv Eine zugleich das Gute (τἀγαθόν) ist, liegt das absolut Transzendente auch über das Gute hin­aus.50 Historisch ist diese merkwürdige Verdoppelung des Absoluten bei Jamblich durch eine Kombination der Prinzipientheorien Platons und Speusipps zu erklären. Die Gleichsetzung des Guten mit dem Einen ist Platonisch;51 kein Platoniker konnte von ihr abgehen. Für Platon war – wie für Plotin – „das Eine“ ein negativer Begriff, der durch die Aufhebung jeder Vielheit die absolute Einfachheit und reine Transzendenz des Absoluten bezeichnet;52 „das Gute“ war für beide eine reine Metapher, die nicht das Absolute an sich, sondern das Streben seiner Prinzipiate – an erster Stelle der Ideenzahlen – nach dem absoluten Einen bezeichnet.53 Jamblich verstand jedoch „das Eine“ und „das Gute“ offenbar als positive Kennzeichnungen. Da er dem Einen darüber hin­aus Totalitätscharakter zuschrieb,54 kam er zu einer positiven Konzeption des „Einen“, die mit der konsequenten negativen Theologie, wie Platon und Plotin sie vertreten hatten, nur noch schwer vereinbar war. Da Jamblich die Kompromißlösung des Porphyrios verwarf, setzte er das unsagbare Absolute der konsequenten Theologia negativa über dem positiv verstandenen „Einen“ an. An diesem Punkt wird der Einfluß Speusipps, den Jamblich bestens kannte, deutlich: Speusipp hatte die absolute Transzendenz des Einen über alle Bestimmungen, und zwar ausdrücklich auch über das Gute, mit starkem Nachdruck betont.55 Er war also scheinbar über Platon hin­ausgegangen, der „das Eine“ und „das Gute“ gleichgesetzt hatte; diese Abweichung war allerdings bedingt durch Speusipps Reδιαιρέσεως. Vgl. zum folgenden ebd. II 26, 4–6: ἡ μὲν πρὸ τῶν δυεῖν ἀρχῶν ἑνὰς ὁμοῦ πάντα ἦν πρὸ πάντων, ἀλλὰ πάντα ἐπ’ ἴσης. Vgl. auch ebd. II 15, 1–20, bes. 19 f: ἓν πάντα ἑκάτερον, ἀλλὰ τὸ μὲν οἷον ἕν, τὸ δὲ οἷον πλῆθος. II 25, 12 ff. 50  Zur Gleichsetzung des positiv Einen mit dem Guten vgl. Jamblich, De mysteriis VIII 2; sie ergibt sich auch aus De eth. theol. arithm. 59–63 (American Journal of Philology 102, 38). 51 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1091 b 13–15; Eudemische Ethik 1218 a 19–26; Aristoxenos, Harmonika II 30–31 Meibom (nach Aristo­teles) sowie Platon, Phaidon 99 C 5–6. Dazu Krämer, „Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik“; ferner Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 238 ff. 52 Vgl. Platon, Parmenides 137 C 4–5 mit D 1–2; auch Parmenides 159 C 5, Sophistes 245 A 8–9. Plotin, Enneade V 5, 6, 24–34; VI 9, 5, 38–6, 16. 53  Für Platon vgl. Aristo­teles, Eudemische Ethik 1218 a 17–33, Nikomachische Ethik 1094 a 3. Plotin, Enneade VI 9, 6, 39–42. 55–57; VI 7, 41, 28–29; V 5, 13 ganz; vgl. V 3, 11, 23–25. 54 Vgl. Damaskios, De princ. II 26, 4–6 und dazu die Kritik des Damaskios ebd. II 28, 10 ff: ferner Proklos, In Parm. 1114, 1–10 und 1107, 9–20 (dazu unten). 55 Vgl. Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente = Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 7–10; ebd. 16, 10–11; Fr. 62 = Proklos, In Parm. VII 40, 1–5 = Test. Plat. 50; Fr. 57 = Aristo­teles, Metaphysik 1092 a 14–15.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

striktion der Bedeutung des Guten auf die Arete der Seele.56 Inbegriff der ontologischen Vollkommenheit ist für Speusipp „das Schöne“ (καλόν), über das er das Eine in seiner Transzendenz ebenfalls hin­aussetzte.57 Das überschöne und übergute Absolute ist aber auch für Speusipp Wertprinzip,58 und nichts anderes hatte seine Kennzeichnung als „das Gute selbst“ (αὐτὸ τὸ ἀγαθόν) bei Platon ausgedrückt; für beide stand das Absolute, das Eine selbst, jenseits aller Gegensätze.59 Da Jamblich an der Platonischen Gleichsetzung des Einen und des Guten festhielt, war das Absolute für ihn nicht nur das Übergute wie für Speusipp, sondern auch das Übereine, wofür er sich auf Parmenides 141 E berufen konnte. Der Einfluß Speusipps zeigt sich bei Jamblich auch sonst: So unterschied auch Speusipp zwischen dem absolut Einen, das gegensatzlos ist, und dem der Vielheit entgegengesetzten (zweiten) Einen, der „Monade“ (μονάς) als dem regionalen Prinzip der reinen Zahlen.60 Der Vermehrung der Hypostasen und Prinzipien bei Jamblich entspricht die von Aristo­teles kritisierte Vermehrung der Seinsbereiche und ihrer Prinzipien bei Speusipp,61 auch wenn Anzahl und inhaltliche Bestimmung der Seinsstufen bei beiden Denkern differieren. Beide nehmen eine durchgängige Analogizität der internen Strukturen der verschiedenen Seinsstufen an. Die höchste dieser Seinsstufen bilden bei Speusipp die reinen (mathematischen) Zahlen; die Dekas der Grundzahlen verwirklicht für ihn – analog den zehn Ideenzahlen Platons – das Höchstmaß an Einheit in der Vielheit und damit an ontologischer Vollkommenheit; die harmonische Ordnung der zehn Grundzahlen präformiert ferner alle nachfolgenden Seinsgehal­ ehre von den „göttlichen Zahlen“ zeigt neben dem Einfluß Plate.62 Jamblichs L tons auch den Speusipps: so bestimmt die Zahl bei Jamblich – als intelligible, intellektuelle, überhimmlische, kosmische und individuelle Zahl – alle Stufen des Seins wie in der mathematisierenden Ontologie Speusipps.63 Wie bei die56 Vgl.

hierzu Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 359 ff. Fr. 57–58 Isnardi Parente = Aristo­teles, Metaphysik 1092 a 9 ff und a 30 ff; Fr. 72 = Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 10–11: τὸ δὲ ἓν οὔτε καλὸν οὔτε ἀγαθὸν ἄξιον καλεῖν, διὰ τὸ καὶ τοῦ καλοῦ καὶ τοῦ ἀγαθοῦ ὑπεράνω εἶναι. Zum καλόν als Inbegriff der ontologischen Vollkommenheit ebd. 18, 3–9. 58 Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente = Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 12 ff; auch 18, 3 ff; Fr. 63 = Aristo­teles, Nikοmachische Ethik 1096 b 5 ff. 59 Vgl. Platon, Parmenides 137 C – 142 A; Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente = Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 10 ff; Fr. 48 Isnardi Parente = Aristo­teles, Metaphysik 1028 b 21–24; Fr. 39 Tarán = Aristo­teles, Metaphysik 1087 b 27 ff; Speusipp bei Proklos, In Parm. 1118, 10–19 mit 1124, 20 ff. 60 Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente = Jamblich, De comm. math. sc. IV 16, 12–16; vgl. Fr. 48 = Aristo­teles, Metaphysik 1028 b 21–24; vgl. auch Metaphysik 1085 a 13. 61 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1028 b 21–24 mit 1075 b 37 – 1076 a 3 und 1090 b 19–20 = Speusipp, Fr. 48, 52, 86 Isnardi Parente. 62 Speusipp, Fr. 122 Isnardi Parente = Jamblich, Theologoumena arithmeticae 82, 10 – 85, 23. 63 Vgl. Jamblich, De eth. theol. arithm. 77–80 (American Journal of Philology 102, 39): ἡ 57 Speusipp,

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sem, so nehmen auch bei Jamblich die „göttlichen Zahlen“ den höchsten metaphysischen Rang nach den Prinzipien ein, während Platon die Ideenzahlen den μέγιστα γένη unterordnete.64 Allerdings hatte auch Speusipp die Zahlen nicht als überseiend angesehen wie Jamblich. Diese Extravaganz erklärt sich jedoch daraus, daß Jamblich das eigentliche Sein auf die Ideen beschränkt und daß seine Henaden – wie die Ideenzahlen Platons – zwischen der Einfachheit des überseienden Einen und dem Seienden als entfalteter Ideenvielheit vermitteln. Die Theorie der überseienden Henaden und ihrer zwei Prinzipien, Peras und Apeiron, wurde von Syrian und Proklos aufgenommen und weiterentwickelt.65 Proklos deutete die Henaden als Einheitsprinzipien, welche die Entfaltung der Einheit in die Vielheit auf den verschiedenen Seinsstufen vorzeichnen, bestimmen und auf einfache, unentfaltete Weise präformieren; sie unterscheiden sich vom Absoluten dadurch, daß sie positiven Einheitscharakter besitzen, und von den seienden Ideen dadurch, daß sie keine aktuale Vielheit enthalten; da das Seiende die Entfaltung der Einheit in die Vielheit ist, sind die diese Entfaltung nur vorzeichnenden Henaden überseiend, aber nicht jenseits von allem wie das Absolute.66 Durch die entfaltete Henadenlehre des Proklos ist nun aber das positive Eine, das bei Jamblich zwischen dem absolut Transzendenten und den die Seinsvielheit ordnenden „göttlichen Zahlen“ vermittelt, überflüssig. Einheit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit ist das Wesen der Henaden, welche den Prinzipiengegensatz von Peras und Apeiron auf nicht-entgegengesetzte Weise enthalten.67 Jamblichs Verdoppelung des Absoluten wurde darum von den Neuplatonikern der Athener Schule: Plutarch, Syrian und Proklos, abgelehnt, die damit sowohl zur Platonischen Orthodoxie als auch zur Position Plotins zurückkehrten, der erst bei ihnen zur höchsten Autorität nach Platon avancierte, während „Pythagoras“ zumindest für Proklos keine Platon ebenbürtige Autorität mehr ist. In Jamblichs notorischem „Pythagoreismus“ zeigt sich dagegen einmal mehr der bestimmende Einfluß Speusipps: denn dieser war es gewesen, der die Prinzipienlehre Platons und insbesondere den in ihr zentralen Gedanken der absoluten Transzendenz des Absoluten den Pythagoreern zugeschrieben und dadurch erst die pythagoreische Maskierung des Platonismus ermöglicht hatte.68

γὰρ δυάς … καὶ τριάς· ἡ μὲν τίς ἐστι νοητή, ἡ δὲ νοερά, ἡ δὲ ὑπὲρ τὸν οὐρανόν, ἡ δὲ ἐν οὐρανῷ, ἡ δὲ ἐν τῷ κόσμῳ πάντῃ διαπεφοίτηκε. 64 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1084 a 31–36. 65  Dazu Dodds, Proclus. The Elements of Theology, 257 ff; Saffrey/Westerink, Proclus. Théologie Platonicienne III, IX–LXXVII. 66 Vgl. Proklos, Elem. theol. §§ 113–123; Theol. Plat. III 2–6; 6, 14–28, 21 Saffrey-­ Westerink. 67 Vgl. Proklos, Elem. theol. § 90; Theol. Plat. III 8; 30, 15–34, 19 Saffrey-Westerink. 68 Vgl. Speusipp, Test. Plat. 50 Gaiser. Zur Motivation vgl. Burkert, Weisheit und Wissenschaft, 55 ff; Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 53 ff.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

3. Die Trinität im Einen bei Jamblich Wir können nun die Bedeutung der „Trinität“ des Einen bei Jamblich klären. Dabei wird sich zeigen, daß sie die prinzipientheoretische Funktion des positiv Einen erst voll verständlich macht, weil sie dieses vom absolut Transzendenten unterscheidet und es in bestimmter Weise mit dem seienden Einen verbindet. Das Exzerpt bei Psellos begründet die ,Einheit und Dreiheit‘ des ursprünglich Einen damit, daß die Dreiheit das Eine in Ursprung, Mitte und Vollendung entfalte: ἡ γάρ τοι τριὰς ἀρχὴν καὶ μέσα καὶ τέλη περὶ τὸ ἓν ἀνελίσσει.69 Diese Begründung ist freilich nur dann einleuchtend, wenn Ursprung, Mitte und Vollendung Bestimmungen des Einen in sich selbst sind, also nicht lediglich seine Beziehung zu den „göttlichen Zahlen“ ausdrücken. Daß dies in der Tat Jamblichs Meinung war, beweist ein Referat im Parmenideskommentar des Proklos (1114, 1–10). Platon hatte im Parmenides (137 D 4 ff) dem absoluten Einen Ursprung, Mitte und Vollendung abgesprochen, weil seine absolute Einfachheit jede Vielheit von Strukturmomenten und mithin jedwede ontologische Struktur von ihm ausschließt.70 In den Nomoi (715 E) aber hatte er gesagt, Gott enthalte Ursprung, Mitte und Vollendung alles Seienden. Proklos berichtet nun, dies habe einige Interpreten zu der These veranlaßt, daß das Erste Prinzip Ursprung, Mitte und Vollendung sowohl enthalte als auch nicht enthalte: Denn es enthält sie auf verborgene Weise, aber es enthält sie nicht entfaltet und unterschieden; es enthält nämlich in sich selbst alles auf eine Weise, die unaussprechlich und unbegreiflich für uns ist, aber erkennbar für es selbst.71

Proklos weist diese Deutung zurück: sie trage Vielheit in das absolut Eine hinein; erst die Prinzipiate des Einen enthielten auf verborgene und unentfaltete Weise Vielheit (Proklos denkt an die Henaden), das Absolute selbst aber sei vollkommen frei von jeder Vielheit.72 Das zitierte Exzerpt bei Psellos beweist, daß ­ ehre Jamblichs hanes sich bei dieser von Proklos kritisierten Meinung um die L delt, wie John Dillon unabhängig von den neuen Fragmenten vermutete.73 Für Jamblich ist das Eine also Drei-Einheit, weil es Ursprung, Mitte und Vollen-

69 Jamblich,

De eth. theol. arithm. 71–72 (American Journal of Philology 102, 39). dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 309 ff. 71  Proklos, In Parm. 1114, 1–5: πάλιν δὴ πρὸς ταύτην τὴν ἀπορίαν φασί τινες ὅτι καὶ ἔχει τὸ πρῶτον ἀρχὴν καὶ μέσον καὶ τελευτὴν καὶ οὐκ ἔχει· κρυφίως γὰρ ἔχει, διῃρημένως δὲ οὐκ ἔχει· πάντα γὰρ ἀφράστως ἐν αὐτῷ καὶ ἀνεπινοήτως ἡμῖν, αὐτῷ δὲ γνωστῶς. 72 Proklos, In Parm. 1114, 6–10. Ebd. 14–16: τὸ δὲ ἓν πρὸ πάσης ἐστὶ διαιρέσεως καὶ πρὸ παντὸς πλήθους, τοῦ τε ἡνωμένου καὶ διακεκριμένου μόνως ἓν ὑπάρχον. – „Das Eine ist vor und über allem Unterschied und vor uns über jeder Vielheit, sowohl der geeinten als auch der entfalteten Vielheit, weil Es einfachhin nur Eines ist.“ 73 Dillon, Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides, 398 und 457 Anm. 93. 70 Vgl.

XV. Das Eine als Einheit und Dreiheit

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dung, die Strukturelemente alles Seienden, auf verborgene (κρυφίως),74 nämlich unentfaltet-ununterschiedene Weise enthält. Jamblich denkt das Eine damit als inhaltlich erfüllte, nicht-leere Einheit, die nur für unser unterscheidendes Denken unbestimmbar ist, aber nicht an und für sich selbst bestimmungstranszendent wie das absolut jenseitige Absolute Platons, Speusipps und Plotins. Dabei hat der Gedanke der Trinität schon bei Jamblich die gleiche Funktion wie im christlichen Platonismus von Victorinus bis Cusa­nus: er sichert die – für uns unbestimmbare – Erfülltheit des seinsbegründenden göttlichen Einen, das somit als Einheit von Bestimmtheit und Unbestimmtheit gedacht wird. Jamblich konzipiert das Eine als allumfassend, wenn es auf unbegreifliche Weise alles in sich enthalten soll;75 er denkt offenbar an die ganze Reihe der Fundamentalbestimmungen, die Platon in der ersten Hypothesis dem absoluten Einen abgesprochen und in der zweiten Hypothesis dem seienden Einen zugesprochen hatte. Aufschlußreich ist, daß Jamblich in diesem Zusammenhang sogar eine Selbsterkenntnis des Einen postuliert, während Plotin und Proklos dem Einen Selbsterkenntnis und Selbstbewußtsein absprechen.76 Gerade die Selbsterkenntnis des göttlichen Einen ist nun im christlichen Platonismus seit Victorinus mit dem Motiv der Trinität verknüpft. Victorinus konzipierte sie als die trinitarische Selbstdurchdringung der sich erkennend auf sich selbst beziehenden göttlichen Einheit, welche als „Sein“ in sich verharrt, als „Leben“ aus sich herausgeht und als „Denken“ in sich zurückkehrt.77 Die Herkunft dieses Trinitätsmodells von Porphyrios ist seit den Forschungen von Pierre Hadot bekannt.

74 Proklos, In Parm. 1114, 3. 7. Der Terminus entstammt den Chaldäischen Orakeln und wurde von Jamblich benutzt, vgl. Dillon, Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides, 398 und 457 Anm. 93. 75 Der Totalitätscharakter des positiv Einen bei Jamblich ist auch durch Damaskios mehrfach bezeugt: z.B. De princ. II 3, 3–5: τὸ ἓν πάντα δευτέρα ἀρχὴ μετὰ τὴν ἀπόρρητον, αὕτη δὲ οὐδὲν μᾶλλον τόδε ἢ τόδε, ἀλλὰ πάντα ἐπ’ ἴσης. Ebd. II 4, 9–12. 20: δεῖ μὲν εἶναι μετὰ τὴν μίαν τῶν πάντων ἀρχήν, ἤδη τεθεῖσαν διὰ καταφάσεως ὅπως δήποτε ἀνακαθαιρομένης καὶ πάντα ἓν λεγούσης εἶναι αὐτήν … τὴν ἁπλῶς πάντα ἓν τακτέον ἀρχήν. Ebd. II 15, 6–8: τὴν μὲν ὑπὲρ πάντα τιθεὶς ὡς μίαν, ἑτέραν δὲ μετὰ ταύτην πάντα καὶ αὐτὴν περιέχουσαν, οὐχ οὕτω δὲ πάντῃ ἀπόρρητον … Ebd. II 26, 4–6: ἡ μὲν πρὸ τῶν δυεῖν ἀρχῶν ἑνὰς ὁμοῦ πάντα ἦν πρὸ πάντων, ἀλλὰ πάντα ἐπ’ ἴσης. 76  Zur Negation von Selbsterkenntnis und Selbstbewußtsein des Einen bei Plotin Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 157–173. 77 Vgl. Marius Victorinus, Adversus Arium I 49, 9 – 51, 27; 52, 1 – 53, 6; 57, 7 – 58, 14; 60, 1–31. Zur trinitarischen Struktur der göttlichen Selbsterkenntnis vgl. bes. Victorinus, Adversus Arium I 57, 9–30 mit Porphyrios, In Parm. XIV 16–35. Hierzu Hadot, „Metaphysik des Porphyrios“, 217 ff; ders., Porphyre et Victorinus passim; Marius Victorinus. Christlicher Platonismus. Die Theologischen Schriften des Marius Victorinus. Übersetzt von Pierre Hadot und Ursula Brenke. Eingeleitet und erläutert von Pierre Hadot, Zürich 1967 (= Marius Victorinus). Vgl. ferner Beierwaltes, Identität und Differenz, 57–74; ders., Platonismus im Chri­ stentum, 25–43; Matthias Baltes, Marius Victorinus. Zur Philosophie in seinen theologischen Schriften, München/Leipzig 2002. Zu Porphyrios auch Theiler, „Chaldäische Orakel“, 261 ff.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

Die Frage liegt nahe, ob auch Jamblich die Trinität des Einen in analoger Weise geistphilosophisch expliziert hat oder ob er bei ihrer begrifflosen Behauptung als ἡμῖν μὲν ἄγνωστον, ἑαυτῷ δὲ γνωστόν78 stehengeblieben ist; die Denkbarkeit der Selbsterkenntnis des Einen hängt an der Antwort auf diese Frage. Diese Antwort gibt ein längeres Referat des Proklos, das kritisch über drei verschiedene Versuche berichtet, dem über alle Bestimmungen hin­ausliegenden Einen „eine bestimmte Wesenheit und Eigentümlichkeit“ (τινα φύσιν καὶ ἰδιότη­ τα)79 zuzuschreiben, es also als erfüllte Einheit zu denken; es handelt sich nach Dillons überzeugender Vermutung um die Theorien des Porphyrios, des Jamblich und eines dritten Neuplatonikers, entweder des Amelios oder des Theodoros von Asine (In Parm. 1105, 32 – 1108, 19).80 (1) Die erste dieser Theorien setzte über dem Geist (νοῦς) die „Geistigkeit“ (νοότης) an; diese sei einfacher (ἁπλουστέρα) als der Geist und sei „gleichsam der Zustand des Denkens“ (οἷον ἕξις τοῦ νοεῖν), d.h. wohl der aktuale Denkvollzug, denn die Akte (ἐνέργειαι) gingen den Substanzen (οὐσίαι) wegen ihrer größeren Einheitlichkeit vor­aus. Über der νοότης setzten sie das νοοῦν an, womit hier aber nicht das denkende Subjekt gemeint war, sondern das selber noch nichtdenkende Prinzip der Denktätigkeit, das „Bedenkende“ analog dem belebenden oder bewegenden Prinzip (τὸ ψυχοῦν ἢ τὸ κινοῦν): also der einfache Denkakt als Grund der Vereinigung von Denkendem und Gedachtem. Noch über diesen Grund der Denktätigkeit setzten sie als das erste, weil einheitlichste Prinzip das νόημα; da es sich hier ganz offensichtlich um die Theorie des Porphyrios handelt,81 ist damit wohl der von seinen Relata abgelöste, unbezügliche reine Denkakt gemeint, also die mit dem Einen zusammenfallende „absolute Erkenntnis“ (γνῶσις ἀπόλυτος). Wie Proklos berichtet, wurde diese „Methode der Paro­nyme“82 mit allen Ideen (ἐφ’ ἑκάστου τῶν εἰδῶν) durchgeführt; dabei sei die höchste Stufe: das ἀγάθωμα, κάλλωμα, ἀρέτωμα, ταύτωμα usf. jeweils als einfache Einheit verstanden worden (In Parm. 1106, 2–18). In seiner Kritik bemerkt Proklos zunächst, es sei unklar, ob diese Einheitsprinzipien nur dem Namen oder auch dem Sachgehalt nach verschiedene Aspekte des Einen anzeigen sollen; im ersten Fall seien sie leer (διακενῆς), bewiesen also nicht die inhaltliche Erfüllung des Einen (οὐδὲ λέγουσι τί τὸ ἕν), im zweiten Fall dagegen zeigten sie eine reale Vielheit innerhalb des Einen an, obwohl Platon dem Einen gerade die Viel78 Vgl.

Proklos, In Parm. 1108, 25 f mit Jamblich, In Tim. Fr. 88 Dillon. In Parm. 1105, 40 f. 80 Vgl. Dillon, Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides, 395–397 und 451 Anm. 86, 452 Anm. 91. Vgl. auch den ausführlichen Kommentar zu dem ganzen Passus bei Hadot, Porphyre et Victorinus I, 355–375, der alle drei Theorien für Porphyrios in Anspruch nimmt. 81  So übereinstimmend Hadot und Dillon mit Verweis darauf, daß der Terminus νοότης (zusammen mit ὀντότης und ζωότης) bei dem von Porphyrios abhängigen Victorinus (Adversus Arium IV 5, 33– 39) belegt ist. 82  Den Ausdruck prägte Hadot, Porphyre et Victorinus. 79 Proklos,

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heit vor allem anderen abspreche.83 Unplatonisch sei ferner die Prämisse, daß ­ ὐσίαι den ἐνέργειαι nachgeordnet seien. Platon lasse die ἐνέργεια vielmehr die ο von der δύναμις und diese von der οὐσία abhängen. Proklos merkt noch an, diese ­Lehre sei schon von anderen hinreichend widerlegt – möglicherweise ein Hinweis auf eine einschlägige Porphyrios-Kritik Jamblichs (In Parm. 1106, 18–32). (2) Die zweite Theorie unterscheidet zwischen Gott und „Gott-Sein“ und spricht dieses dem Absoluten zu: διακρίνειν ἠξίωσαν θεὸν καὶ τὸ θεῷ εἶναι καὶ ἀπο­ νέμειν τῷ πρώτῳ τὸ θεῷ εἶναι. Das Gott-Sein sei die ἰδιότης des Einen (In Parm. 1106, 33–35). Die Terminologie ist Aristotelisch, bringt aber die Platonische Differenz zwischen ideenhafter Wesenheit und ihrer individuellen Realisierung zum Ausdruck.84 Victorinus, der dieselbe ­Lehre referiert, sieht in ihr die Differenz zwischen Aktualität und vorgängiger, ermöglichender Potenz ausgedrückt (Adversus Arium I 33, 4–9). Proklos weist diese ­Lehre strikt zurück: Es sei unklar, was hier εἶναι in bezug auf das Eine bedeuten könne, da Platon dem Einen selbst das ἔστιν abspreche;85 ferner sei unklar, in welchem Sinne zwischen einer Bestimmtheit und dem Sein dieser Bestimmtheit unterschieden werde und ob diese Differenzierung vom Zusammengesetzten in die Sphäre des Einfachen übertragen werden dürfe. Schon im Falle der Seele sei die Differenzierung zwischen ψυχή und τὸ εἶναι ψυχῇ unstatthaft, wie bereits Plotin klargestellt hatte (Enneade I 1, 2),86 ebenso im Falle der Ideen, und in ungleich höherem Maße gelte dies für die absolut einigen Henaden. Vor allem aber: Wäre das Eine von τὸ ἑνὶ εἶναι unterschieden, so wäre das Eine als solches Nicht-Eines, insofern es von τὸ ἑνὶ εἶναι abgehoben wird, und hätte an diesem als an einem übergeordneten Prinzip teil (In Parm. 1106, 36 – 1107, 9). ­ ehre läßt sich kaum eindeutig zuordnen. Da Proklos sie deutlich von Diese L der vorher referierten unterscheidet, kann sie kaum wie diese dem Porphyrios gehören, wie Hadot meint.87 Dillon denkt dagegen an Amelios oder Theodoros von Asine, die beide von Proklos als Parmenides-Kommentatoren angeführt werden.88 Für Theodoros könnte sprechen, daß dieser sein höchstes Prinzip über dem Einen – das er mit dem Intelligiblen identifizierte – ansetzte, es aber wahrscheinlich mit dem Seinsakt (ὕπαρξις) gleichgesetzt hat.89 83  Proklos bezieht sich auf Platon, Parmenides 137 C 4 ff; dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 304 ff. 84 Vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1031 a 15 ff und 1043 b 2 ff. 85  Proklos bezieht sich auf Platon, Parmenides 141 E 9–10. 86  Plotin knüpft damit an Aristo­teles, Metaphysik 1043 b 2 (ψυχὴ μὲν γὰρ καὶ ψυχῇ εἶναι ταὐτόν) an. Vgl. auch Plotin, Enneade VI 2, 5, 10–26. 87 Vgl. Hadot, Porphyre et Victorinus I, 359. 88 Vgl. Dillon, Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides, 396. Dillon erwägt auch die Möglichkeit, die erste Theorie Amelios und diese zweite Porphyrios zuzuschreiben – was jedoch wegen der erwähnten Parallelstelle bei Victorinus wenig für sich hat. 89 Vgl. Theodoros von Asine, Test. 9, p. 37, 16 f Deuse. Zu Theodoros Werner Deuse, Theodoros von Asine. Sammlung der Testimonien und Kommentar, Wiesbaden 1973.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

(3) Die dritte Theorie betont stärker als die beiden anderen die Transzendenz des Einen; gleichwohl schreibt sie ihm als Prinzip die Eminenzmodi seiner Prinzipiate zu. Das Eine liege als Prinzip von allem zwar über Leben (ζωή), über Geist (νοῦς) und über das Sein selbst (αὐτὸ τὸ ὄν) hin­aus – transzendiere also die intelligible Triade –, es enthalte aber die Gründe aller dieser Bestimmungen (Leben, Denken, Sein) auf unaussprechliche, unbegreifliche und absolut einige Weise (ἀφράστως καὶ ἀνεπινοήτως καὶ τὸν ἑνικώτατον τρόπον) in sich, unerkennbar für uns, aber erkennbar für es selbst. Die verborgenen Gründe aller Bestimmungen im Einen seien παραδείγματα πρὸ παραδειγμάτων, das sie enthaltende Eine sei ὅλον πρὸ ὅλων, ohne Teile haben zu müssen; das Ganze vor den Teilen (τὸ πρὸ τῶν μερῶν ὅλον) bedürfe nämlich in gewisser Hinsicht der Teile zu seiner inhaltlichen Erfüllung (z.B. die Gattung der Arten), das dieser positiven Ganzheit vor­ausliegende Ganze (τὸ ὅλον πρὸ ὅλων) dagegen nicht – offenbar weil es die Momente ununterschieden, in absoluter Einheit (ἑνικώτατον) vorweg enthält; Platon habe dem Einen Parmenides 137 C 7 ff nur den Charakter der Ganzheit als Inbegriff der Momente abgesprochen, nicht aber diese überganze Ganzheit als Vorbegriff aller Bestimmungen (In Parm. 1107, 9–20). Diese dritte Theorie konzipiert das Eine selbst als Vorbegriff der Totalität im Unterschied zum ἓν ὄν als ihrem Inbegriff. Dillon hat sie mit überzeugenden Gründen Jamblich zugeschrieben.90 Sie stimmt vollkommen überein mit der von Proklos wenig später (In Parm. 1114, 1–10) referierten ­Lehre, der zufolge das Eine ἀρχή, μέσον und τέλος auf verborgene und unentfaltete Weise enthält, ­ ehre läßt sich aufgrund des Exzerpts bei Psellos mit Sicherheit Jambund diese L lich zuweisen. Die beiden Referate bei Proklos sichern zugleich die Authentizität des Psellos-Exzerpts. In den beiden Referaten bei Proklos heißt es übereinstimmend, das Eine enthalte die Gründe aller Bestimmungen auf verbor90 Vgl. Dillon, Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides, 396, 452 Anm. 91, vgl. 457 Anm. 93. – Zum Totalitätscharakter des Einen bei Jamblich vgl. die Belege bei Damaskios oben in Anm. 75. Auch die Differenzierung zwischen ἓν πάντα als Vorbegriff und ἓν ὄν als Inbegriff der Totalität ist bei Damaskios für Jamblich belegt: z.B. De princ. II 4, 15–21: ­πάντα γὰρ ἑκάστη (ἀρχή), ὅτι καὶ ἑξῆς ἔτι πάντα ἑκάστη ἀρχὴ νοητή … ἀλλ’ ὅμως ἐκεῖ πάντα ἀδιορίστως, καὶ ἤτοι κατὰ τὸ ἡνωμένον ἢ κατὰ τὸ ἕν, ὥστε χρή τινα ἄλλην διαφορὰν ἐπινοεῖν ἐν ταῖς ἀρχαῖς ἐκείναις. μετὰ ἄρα τὴν ἁπλῶς πάντα ἓν τακτέον ἀρχὴν τὴν κατὰ πάντα ἕν, καὶ μὴ ἁπλῶς, ὥστε προσθετέον ἤδη τινὰ ἰδιότητα. – „Denn jedes dieser (transzendenten) Prinzipien ist Alles, weil auch danach noch jedes intelligible Prinzip Alles ist … aber gleichwohl sind die transzendenten Prinzipien auf indifferente Weise Alles, und zwar entweder Alles im Modus des Geeinten oder Alles im Modus der einfachen Einheit, weswegen es notwendig ist, noch einen anderen Unterschied zwischen jenen transzendenten Prinzipien anzunehmen. Folglich ist nach dem Prinzip, das als unentfaltet-einfache All-Einheit anzusetzen ist, das Prinzip, welches entfaltete All-Einheit ist und nicht unentfaltet-einfache, weshalb ihm schon eine bestimmte Eigentümlichkeit zukommen muß.“ Vgl. ebd. II 15, 10–13: ὁμολογοῦμεν τήν τε μίαν (sc. ἀρχὴν) ἀπόρρητον καὶ τὴν ἑνοειδῆ μετ’ ἐκείνην καὶ τὴν πληθοειδῆ τρίτην ἐπ’ ἐκείναις zur Prinzipienfolge ἓν ἄρρητον, ἓν πάντα = ἁπλῶς ἕν = ἓν ἀγαθόν und πάντα ἕν = ἓν ὄν.

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gene und für uns unbegreifliche, für es selbst aber erkennbare Weise. Obwohl diese Selbsterkenntnis des Einen für uns unbegreiflich sein soll, gibt Jamblich ihr doch einen geistanalogen Charakter, wenn er dem Einen die verborgenen, unentfalteten Gründe des Seins, des Lebens und des Denkens zuschreibt – also eben jener triadischen Struktur, gemäß der sich die erfüllte Selbsterkenntnis des Geistes vollzieht. Wir erkennen hier den Einfluß des Porphyrios, denn bereits dieser hatte die „absolute Erkenntnis“ des Einen als die ursprüngliche Einheit gefaßt, in der Sein, Leben und Denken oder Nous, Noeton und Noesis ununterscheidbar und in sich selbst ununterschieden ineinander aufgehoben sind.91 Allerdings enthält diese „absolute Erkenntnis“ für Porphyrios keine Selbstbezüglichkeit, ist also auch keine Selbsterkenntnis – diese kommt erst durch die Entfaltung der in der Einheit der „absoluten Erkenntnis“ eingefalteten Strukturmomente des Denkens im Geist zustande.92 Jamblich scheint also die einfache und unentfaltete Einheit dessen, was erst in seiner Entfaltung ad extra als die geeinte Dreiheit denkender Selbstbeziehung und ihrer Strukturmomente erkennbar und unterscheidbar wird, selber als eine latente Selbstbezüglichkeit des Einen gedeutet zu haben, in der es sich auf eine für uns unbegreifliche Weise, nämlich ohne Auseinandertreten in die Zweiheit von Denkendem und Gedachtem und deren Vereinigung im Denkakt, selbst erkennt. Gleichwohl enthält das Eine die Struktur-Dreiheit des Sich-Wissens auf latente und verborgene Weise vorweg, und eben dies scheint der Sinn der Rede von seiner „Einheit und Dreiheit“ zu sein. Diese Deutung basiert zunächst auf der Kombination der knappen Angaben bei Proklos mit der analog strukturierten Theorie des Porphyrios; sie wird bestätigt durch einen aufschlußreichen Passus bei Victorinus, der das Referat des Proklos ergänzt. Der Passus enthält die Begründung, warum die Gründe der intelligiblen Triade im Einen für unser unterscheidendes Denken unerkennbar sind: Denn alles, was Worte bezeichnen, kommt nach Ihm; darum ist Er (sc. Gott) nicht das Seiende …, sondern eher das Vorseiende (προόν). Ebenso ergeben sich praeexistentia, praeviventia, praecognoscentia; Gott selbst ist vorseiend, vorlebend, vorerkennend, wobei alle diese Eigentümlichkeiten erst nach dem Sichtbarwerden der zweiten (sc. Eigentümlichkeiten: Sein, Leben, Denken) gedacht und benannt worden sind. Denn erst nach dem Sichtbarwerden der Erkenntnis ist die praecognoscentia gedacht und benannt worden; dasselbe gilt für die praeexistentia und die praeviventia – sie existierten zwar schon vorher (sc. in Gott), aber sie wurden noch nicht erkannt und benannt. Daher ist alles, was Gott ist, unerkennbar.93 91 Vgl.

Porphyrios, In Parm. V 7 – VI 12; XIV 4–16. Porphyrios, In Parm. XIII 1–23; XIV 16–35. 93  Marius Victorinus, Adversus Arium IV 23, 27–34: „Omnia enim quae voces nominant post ipsum sunt, unde nec ὄν, sed magis προόν. Eodem modo praeexsistentia, praeviventia, praecognoscentia, haec quae conficiuntur; ipse autem praeexsistens, praevivens, praecognoscens, sed haec omnia, apparentibus secundis, et intellecta sunt et nominata. Postquam enim apparuit cognoscentia, et intellecta et appellata est praecognoscentia; eodem modo et praeex92 Vgl.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

Weil das Eine die Gründe der intelligiblen Triade in sich vorwegnimmt, werden ihm von der entfalteten Triade des Geistes her deren Eminenzmodi zugeschrieben: praeexistentia, praeviventia, praecognoscentia – zurückübersetzt ins Griechische: προουσία, προζωότης, προνοότης –, was sowohl sachlich als auch terminologisch mit den Angaben des Proklos übereinstimmt (In Parm. 1107, 10–12: ὅτι πάντων αἴτιον ὂν τὸ πρῶτον ὑπὲρ ζωήν, ὑπὲρ νοῦν, ὑπὲρ αὐτὸ τὸ ὂν ἰδρυμένον ἔχει πως τὰς τούτων αἰτίας … „weil das Erste Prinzip der Grund von Allem ist und über Leben, über Geist, über dem Sein selbst gründet, enthält es in gewisser Weise deren Ursachen …“). Für das unterscheidende Denken sind diese Eminenzmodi von Leben, Denken und Sein im Einen aber nur via causalitatis von ihren entfalteten Prinzipiaten aus erkennbar, da sie im Einen in der Weise der absoluten Indifferenz (τὸν ἐνικώτατον τρόπον)94 eingefaltet sind; gleichwohl existieren sie im Einen als παραδείγματα πρὸ παραδειγμάτων, und zwar auf differenzlose Weise, die nur für unser unterscheidendes Denken unerkennbar, für das Eine selber aber erkennbar sein soll. Die Unerkennbarkeit des Einen soll also nur eine Unerkennbarkeit für uns, aber keine Unerkennbarkeit an und für sich selbst sein. Ebenso darf man vielleicht vermuten, daß auch die Indifferenz der παραδείγματα πρὸ παραδειγμάτων im Einen nur eine Indifferenz für uns ist, da das Eine zur Selbstunterscheidung fähig sein muß, wenn es sich als ὅλον πρὸ ὅλων erkennen soll. Man darf vielleicht annehmen, daß Jamblich die Selbsterkenntnis des Einen ähnlich konzipierte wie der frühe Plotin in Enneade V 4: Das Zu-Denkende (d.h. hier das Eine), indem Es in sich selbst bleibt und nicht bedürftig ist wie das Sehende und das Denkende – bedürftig nenne ich das Denkende nur im Verhältnis zum Zu-Denkenden –, ist dennoch nicht gleichsam bewußtlos, sondern alle Seine Inhalte sind in Ihm und bei Ihm, Es vermag sich selbst durchaus zu unterscheiden, es ist Leben in Ihm und Alles ist in Ihm, Es ist Selbst Sein eigenes Erfassen, vermöge eines Quasi-Selbstbewußtseins, indem Es ein Denken in ewigem Stillstehen ist, das anders denkt als das Denken des Geistes.95 sistentia et praeviventia; erant quidem haec, sed nondum animadversa, nondum nominata. Unde et incognoscibile omne quod deus est.“ Übersetzung leicht verändert nach HadotBrenke, Marius Victorinus, 301–302. 94 Proklos, In Parm. 1107, 13. Vgl. Damaskios, De princ. II 4, 17: ἐκεῖ πάντα ἀδιορίστως. 4, 20: τὴν ἁπλῶς πάντα ἓν τακτέον ἀρχήν. 95 Plotin, Enneade V 4 (= Schrift 7 der chronologischen Ordnung), 2, 13–19: τὸ νοητὸν ἐφ’ ἑαυτοῦ μένον καὶ οὐκ ὂν ἐνδεές, ὥσπερ τὸ ὁρῶν καὶ τὸ νοοῦν – ἐνδεὲς δὲ λέγω τὸ νοοῦν ὡς πρὸς ἐκεῖνο – οὐκ ἔστιν οἷον ἀναίσθητον, ἀλλ’ ἔστιν αὐτοῦ πάντα ἐν αὐτῷ καὶ σὺν αὐτῷ, ­πάντη διακριτι­ κὸν ἑαυτοῦ, ζωὴ ἐν αὐτῷ καὶ πάντα ἐν αὐτῷ, καὶ ἡ κατανόησις αὐτοῦ αὐτὸ οἱονεὶ συναισθήσει οὖσα ἐν στάσει ἀιδίῳ καὶ νοήσει ἑτέρως ἢ κατὰ τὴν νοῦ νόησιν. – In der Forschung ist umstritten, ob sich Plotin an dieser Stelle überhaupt auf das absolute Eine bezieht; dies verneinen Volkmann-Schluck, Plotin als Interpret der Ontologie Platos, 124 Anm. 1; Kevin Corrigan, „Plotinus, Enneads V 4, 2 and related passages“, in: Hermes 114 (1986), 196 ff; A. C. Lloyd, „Plotinus on the Genesis of Thought and Existence“, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 5 (1987), 157. Die arabische Paraphrase (Epistula de Scientia Divina § 172) bezieht die Stelle

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Ähnlich wie Jamblich expliziert Plotin hier die Selbsterkenntnis des Einen in Analogie zur triadischen Struktur des sich wissenden Geistes: Dem Einen kommen ζωή, κατανόησις und das μένειν ἐφ’ ἑαυτοῦ als νοητόν zu, die aber von den analogen Strukturmomenten der entfalteten νόησις des νοῦς verschieden sind (ἑτέρως) – dies entspricht der προζωότης, προνοότης und προουσία des Einen bei Jamblich. Da Sein, Leben und Denken erst im Geist in die Dreiheit des entfalteten Selbstbewußtseins auseinandertreten, bleibt die κατανόησις des Einen ἐν στάσει ἀιδίῳ im Unterschied zur sich aktualisierenden Bewegung der entfalteten νόησις. Gleichwohl bindet Plotin das Quasi-Selbstbewußtsein (οἱονεὶ συναίσθησις) des Einen an die Fähigkeit zur Selbstunterscheidung (πάντη δια­ κριτικὸν ἑαυτοῦ), welche die Bedingung der erkennenden oder vorerkennenden Selbstbeziehung des Einen ist, seines differenzlosen, prä-reflexiven In-sich- und Bei-sich-selbst-Seins. Diese Selbstunterscheidung ist aber eine unentfaltete VorForm der Andersheit im Einen selbst, das nur durch sie Lebendigkeit und Totalitätscharakter besitzt (ἔστιν αὐτοῦ πάντα ἐν αὐτῷ καὶ σὺν αὐτῷ … ζωὴ ἐν αὐτῷ καὶ πάντα ἐν αὐτῷ).96 Die Vermutung liegt nahe, daß auch Jamblich die Selbsterkenntnis des Einen mit dessen Selbstunterscheidung verknüpft hat; immerhin wirft Proklos Jamblich zweimal vor, er trage Vielheit in das absolut Eine,97 und mit genau diesem Argument hatte Plotin seine zitierte Position alsbald widerrufen und dem Absoluten nicht nur Selbsterkenntnis und Selbstbewußtsein, sondern sogar das einfache, prä-reflexive Beisichselbstsein abgesprochen, also jede Form der Selbstbezüglichkeit des Absoluten verneint.98 Daß auch Jamblich eine Selbst­ unterscheidung des Einen angenommen hat, ergibt sich aber vor allem aus dessen Trinität; ohne Selbstunterscheidung wäre das Eine nämlich nicht Drei-Einheit, sondern indifferent-einfache Einheit. Wenn wir die Referate bei Proklos und Victorinus mit dem Exzerpt bei Psellos zusammenhalten, können wir die quasi-noetische Struktur der Trinität bei Jamblich nunmehr versuchsweise rekonstruieren: Das ursprünglich oder positiv Eine ist Einheit und Dreiheit zumal, weil es sich in seiner Selbsterkenntnis selbst in Anfang, Mitte und Vollendung unterscheidet, jedoch so, daß diese Strukturmomente noch nicht in die entfaltete Viel-Einheit der Noesis auseinandertreten, sondern differenzlos ineinander eingefaltet bleiben und die auf den „Ersten Geist“. Vgl. zur Forschungskontroverse Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 158–159 Anm. 24 mit weiterer Literatur. 96 Plotin, Enneade V 4, 2, 15–17. 97 Vgl. Proklos, In Parm. 1108, 2 ff; 1114, 6 ff; vgl. 1107, 30 ff. 98  So schon Enneade VI 9 (= Schrift 9 der chronologischen Ordnung), 6, 42–52 und Enneade III 9 (= Schrift 13 chronologischen Ordnung), 9, 12–20. Ferner V 6, 5, 1–5; V 6, 6, 30– 32; III 8, 9, 5–15; III 8, 11, 13–15; VI 7, 37, 22–31; VI 7, 38, 10–25; VI 7, 39, 1–28; VI 7, 40, 35–56; VI 7, 41, 8–17. 25–37; V 3, 10, 16–52; V 3, 11, 15–30; V 3, 12, 47–52; V 3, 13, 6–24. 34–36; vgl. VI 8, 12, 28–37. Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 157 ff.

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Struktur der Noesis nur gleichsam vorzeichnen und unentfaltet vorwegnehmen. Die selbstbezügliche Noesis vollzieht sich triadisch: Ihre Momente sind das In-sich-Verharren oder Sich-Gleichbleiben des Seins, ohne welches kein Zu-Denkendes wäre; das Aus-sich-Heraustreten des intelligiblen Seins und seine Selbstentfaltung zur Relationseinheit der Ideenvielheit ist das sich von sich selbst unterscheidende Leben, das in die Zweiheit von Denkendem und Gedachtem auseinandertritt und sich zur geeinten Vielheit der gedachten und aufeinander bezogenen Ideen artikuliert. Die Rückkehr des sich als Leben von sich unterscheidenden Seins zu sich selbst ist das Denken, die Einheit von Leben und Sein, die sich auf sich selbst beziehende Noesis, in der sich das Denkende mit dem Gedachten und die entfaltete Ideenvielheit mit dem als Einheit in sich verharrenden Sein identisch weiß. Die Selbsterkenntnis des Einen aber ist die diese Struktur als ihr Vor-Begriff prinzipiierende Selbstbeziehung der Einheit: Ihr Anfang oder Ursprung ist die προουσία: ihr In-sich-Bleiben als Einheit; Mitte oder Vermittlung der Selbstbeziehung der Einheit ist die προζωότης: ihre artikulierende Selbstunterscheidung in die παραδείγματα πρὸ παραδειγμάτων, die Eminenzmodi der Ideen, so daß sie von sich selbst erfüllte, nicht-leere Einheit ist. Die Vollendung der Selbsterkenntnis des Einen aber ist die προνοότης, in der sich das die παραδείγματα πρὸ παραδειγμάτων unentfaltet in sich enthaltende Eine als ὅλον πρὸ ὅλων selbst weiß.99 Als Anfang, Mitte und Vollendung der Selbsterkenntnis des Einen bilden προουσία, προζωότης und προνοότης die unterschiedenen Hinsichten seiner Selbstbeziehung als erfüllte Einheit: sie sind die Momente der Selbstunterscheidung des Einen, ohne die keine erkennende Selbstbeziehung möglich ist, die aber im Selbstbewußtsein des Einen immer schon in die differenzlos-einfache Einheit seines Beisichselbstseins eingefaltet sind, so daß das Eine als die Drei-Einheit von προουσία, προζωότης und προνο­ ότης „gleichsam unentfaltet entfaltet“ ist (οἷον ἐξελιχθὲν οὐκ ἐξεληλιγμένον).100 Für uns aber ist diese paradoxe differenzlose Selbstunterscheidung des Einen in der Drei-Einheit ihrer Hinsichten nur von ihrer Entfaltung in der intelligiblen Triade aus erkennbar und unterscheidbar; das Eine in sich und sein Gehalt bleiben für uns unerkennbar. Wenn diese Rekonstruktion richtig ist, dann hat Jamblich das positive Eine in einer Transzendenz suggerierenden Eminenzterminologie doch so geist-ana 99 Vgl. immerhin das Jamblich-Referat bei Damaskios, De princ. II 26, 12–15: τάχα δὲ ἀμεῖνον οὕτω πως λέγειν, ὅτι ἡ μέν (sc. ἀρχή) ἐστιν ὡς μενόντων, ἡ περατοειδής, ἡ δὲ ὡς ἐπιστρεφομένων, ἡ τρίτη καὶ κατὰ τὸ ὂν ἱσταμένη. – „Vielleicht aber ist es besser, sich ungefähr in der folgenden Weise auszudrücken, daß nämlich das eine Prinzip, insofern es das In-sich-Verharrende begründet, von der Art der Grenze ist, das zweite, insofern es das Aus-sich-Herausgehende begründet, von der Art des Unbegrenzten ist, und das dritte, insofern es das Zu-sich-Zurückkehrende begründet, sich auch in der Weise des Seins konstituiert.“ Diese ἀρχαί des Verharrens, Hervorgehens und Zurückkehrens lassen sich leicht mit der προουσία, προζωότης und προνοότης des Einen identifizieren. 100  Die Formulierung findet sich bei Plotin, Enneade VI 8, 18, 18.

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log beschrieben, daß es zwischen dem absolut Transzendenten, das sich wie bei Plotin nur in Negationen umschreiben läßt, und dem entfalteten, sich selbst denkenden Ideenganzen im ἓν ὄν vermittelt. Offenbleiben muß vorläufig die Frage, ob die παραδείγματα πρὸ παραδειγμάτων im Einen mit den überseienden „göttlichen Zahlen“ identisch sind; diese Henaden, welche die viel-einheitliche Struktur des Ideenkosmos prinzipiieren, und ihre beiden Prinzipien Peras und Apeiron wären dann nur verschiedene Aspekte des Einen. Der Vorwurf des Proklos, Jamblich trage Vielheit in das Eine, würde zu einer solchen Deutung gut passen. Wir wissen ferner, daß Jamblich die erste Hypothese des Platonischen Parmenides auf „Gott und die Götter“, d.h. auf das Eine und die Henaden, bezogen hat.101 Diese Deutung kann wohl nur dann eine gewisse Plausibilität beanspruchen, wenn sie die Henaden als Aspekte des Einen selbst auffaßt. Proklos, der in den Henaden und ihren beiden Prinzipien nur die ersten Prinzipiate des absolut Einen sieht, findet sie nicht in der ersten, sondern in der zweiten Hypothese des Parmenides.102

4. Proklos’ Kritik an Jamblich Proklos kritisiert die Position Jamblichs in einer ungewöhnlich eingehenden Stellungnahme als Abweichung von Platon (In Parm. 1107, 20 – 1109, 20). Indem Jamblich dem absolut Einen die Eminenzmodi der Bestimmungen des seienden Einen zuschreibe, durchbreche er die negative Theologie, die Platon in der ersten Hypothese konsequent durchgeführt habe und die allein der absoluten Transzendenz des Einen selbst angemessen sei. Die Frage nach der inhaltlichen Erfüllung des Einen (ὁποῖόν τι τὸ ἕν) habe Platon selbst in seinem Zweiten Brief (312 Ε f) als sinnlos und unangemessen zurückgewiesen (1107, 20–29). Proklos wirft Jamblich vor, er hebe durch seinen Versuch, das Eine als inhaltlich erfüllt zu denken, das Eine als absolute oder reine Einheit gerade auf. Proklos verteidigt damit die negative Bedeutung der absoluten Einheit des Einen als absolute Negation jeder Vielheit, wie sie Platon und Plotin übereinstimmend konzipiert hatten, gegen ihre positive Umdeutung als absolute Totalität (ὅλον τῶν ὅλων bzw. ὅλον πρὸ ὅλων)103 bei Jamblich. Das Eine selbst transzendiere jede Totalität: αὐτὸ τὸ ἓν ἐξῄρηται καὶ ὑπερέχει πάσης ὁλότητος.104 Totalitätscharakter besitze erst das intelligible Sein, und zwar unter seinem mittleren Aspekt als „Leben“, d.h. als in sich artikulierte, entfaltete Ideenganzheit (während der höchste 101 Vgl.

Proklos, In Parm. 1054, 37 ff. Proklos, Theol. Plat. III 1–6. 103 Vgl. Proklos, In Parm. 1107, 30 f: τὸ γὰρ τῶν ὅλων ὅλον περιληπτικώτερόν ἐστι τῶν ὅλων ἑνοειδῶς. Dies entspricht der Formulierung im Referat des Damaskios, De princ. II 26, 5: ἑνὰς ὁμοῦ πάντα ἦν πρὸ πάντων. 104 Proklos, In Parm. 1107, 32 f. 102 Vgl.

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Aspekt des „reinen Seins“ für Proklos noch ungegliederte Einheit ist);105 diese intelligible Ganzheit des Seins übergreife die intellektuelle Ganzheit des Denkens, die sich auf sie bezieht und von ihr ermöglicht wird (1107, 29–36). Jamblich hatte den Totalitätscharakter des Einen damit begründet, daß es die unerkennbaren Gründe des Ternars ὄν – ζωή – νοῦς und weiterhin die unerkennbaren Gründe aller Ideen als deren Eminenzmodi in sich haben müsse. Proklos kritisiert dies als eine sinnlose Verdoppelung der Instanzen: man habe dann auf der einen Seite die Ideen im Geist und auf der anderen ihre verborgenen Einheitsgründe im Einen, das mithin eine ebenso große Vielheit enthalte wie der Geist. Damit sei das Eine keine absolute Einheit mehr. Da die Vielheit der Einheitsgründe in ihm nur geeint sei (ἥνωται), müsse man ein Prinzip ihrer Einheit jenseits des sie umfassenden Einen postulieren. Dieses Prinzip der Einheit des Einen und seiner Gehalte aber müsse als absolute Einheit über alle Bestimmungen hin­ausliegen, dürfe also selbst keinen Totalitätscharakter mehr haben; denn sonst enthalte es wiederum eine verborgene Vielheit und damit ergebe sich ein unendlicher Regreß (1107, 37 – 1108, 13).106 Proklos merkt an, einige Freunde Platons hätten sich zu dieser Verdoppelung des Einen verstiegen (ἐτόλμησαν), da jede Vielheit einen transzendenten Einheitsgrund vor­aussetze und eine Viel-Einheit wegen ihres Einheitsbedürfnisses nicht das Absolute sein könne (1108, 14–19). Gemeint ist unverkennbar Jamblich. Die Begründung, die Proklos hier für dessen Verdoppelung des Einen anführt, besagt wohl, daß Jamblich die Henaden als immanente Aspekte des positiven (zweiten) Einen aufgefaßt hat, so daß dieses eine verborgene Vielheit enthält. Wenn Jamblich dann über diesem einheitlich-vielheitlichen ἓν ἀγαθόν das absolut einfache ἓν ἄρρητον als absolut transzendentes Absolutes ansetzt, folgt er nur den prinzipientheoretischen Prämissen Plotins, die auch Proklos teilt. Das absolut transzendente ἓν ἄρρητον und nicht das positive, die Henaden enthaltende ἓν ἀγαθόν Jamblichs entspricht somit dem Absoluten Plotins, das nur metaphorisch „das Eine“ oder „das Gute“ genannt wird. Was Proklos an der Prinzipienlehre Jamblichs kritisiert, ist also nicht eine Übersteigerung des Transzendenzgedankens, sondern die Verdoppelung der Ideen durch Hen105 Vgl.

Proklos, Elem. theol. §§ 101, 160, 161. die gleiche Richtung zielt auch die Kritik des Damaskios, De princ. II 28, 10–15: εἰ μὲν γὰρ τὸ πρὸ τῶν δυεῖν ἕν, ἅτε συμφυοῦς, ἔσται καὶ αὐτὸ συμφυές, ὥστε οὐχ ἓν ἁπλῶς, ἀλλὰ τὸ συμφυὲς ἐκ δυεῖν, κἂν ᾖ πρὸ τῶν δυεῖν· ὥστε καὶ πρὸ αὐτοῦ ἔσται τὸ ἁπλῶς ἕν. εἰ δὲ ἁπλῶς ἕν, τοῦ ἑκασταχοῦ τοιούτου ἑνὸς αἴτιον ἔσται, ἀλλ’ οὐχὶ τῆς ἐκ δυεῖν συμφύσεως. – „Wenn nämlich das Eine vor den zwei Prinzipien (sc. Peras und Apeiron), da diese ja zusammengewachsen (konkret) sind, auch an sich selbst zusammengewachsen (konkret) wäre, so daß es nicht absolute Einheit wäre, sondern das aus beiden Prinzipien Zusammengewachsene (Konkrete), auch wenn es vor und über beiden wäre: dann müßte vor und über ihm das einfachhin (absolut) Eine sein. Wenn es aber absolute Einheit ist, so muß es Einheitsgrund eines jeden der beiden Prinzipien gleichermaßen sein, aber nicht aus beiden zusammengewachsen (konkret).“ 106  In

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aden, die als bloße Eminenzmodi der Ideen konzipiert zu sein scheinen, und die Ansetzung eines positiven zweiten Einen, das wie ein transzendenter Doppelgänger des Geistes wirkt. Proklos’ Kritik bestätigt im übrigen, daß seine eigenen Angaben über die Eminenzmodi der intelligiblen Triade im Einen und damit auch die Notiz bei Psellos über dessen Drei-Einheit auf das ἓν ἀγαθόν und nicht auf das absolut transzendente ἓν ἄρρητον zu beziehen sind; das absolut Transzendente hat Jamblich nach Damaskios nicht anders konzipiert als Proklos, Syrian und Plutarch. Man kann übrigens fragen, ob Proklos’ Verdoppelungsvorwurf die Henadenlehre Jamblichs wirklich trifft, und ferner ob er sich nicht auch gegen Proklos’ eigene Henadenlehre richten müßte. Proklos konzipiert jedoch seine Henaden als transzendente Einheitsprinzipien nicht der einzelnen Ideen, sondern der zehn verschiedenen, einander subordinierten Stufen der intelligiblen Welt: der drei intelligiblen Triaden, der drei intelligibel-intellektuellen Triaden, der drei intellektuellen Triaden und der transzendenten Seelen.107 Von einer Verdoppelung der Ideen kann also bei Proklos keine Rede sein. Obwohl die Henaden bei Jamblich noch nicht die Hierarchie der Hypostasen prinzipiieren, hat dieser doch keineswegs einfach für jede einzelne Idee einen transzendenten Einheitsgrund angesetzt, so daß es genau so viele Henaden wie Ideen geben würde, wie Proklos suggeriert. Jamblichs Henaden sind vielmehr, wie die neuen Fragmente bei Psellos beweisen, nichts anderes als die ins Übersein erhobenen Ideenzahlen Platons.108 Sie prinzipiieren die dihairetisch explizierbare Struktur der einzelnen Ideen und bestimmen damit das Gattungsgefüge des Ideenkosmos. So ist z.B. der Grund der Idee des Gerechten, den Proklos in seinem Referat erwähnt (1108, 2), die transzendente Vierheit.109 Dies entspricht der von der Alten Akademie rezipierten altpythagoreischen Erklärung der Gerechtigkeit als Quadratzahl (vgl. Aristo­teles, Magna Moralia 1182 a 14). Da die Tetraktys aber die Zehnheit der Ideenzahlen einfaltet und damit den gesamten Ideenkosmos bestimmt, hatte Platon dessen vollendete Ordnung als das transzendente Urbild (παράδειγμα) der Gerechtigkeit beschrieben (Politeia 500 C), und entsprechend scheint Jamblich im Einen eine Über-Gerechtigkeit als Prinzip dieser im Ideenkosmos verwirklichten paradigmatischen Gerechtigkeit angesetzt zu haben, nämlich eben die Tetraktys der überseienden „göttlichen Zahlen“. Wir haben demnach bei Jamblich nur mit zehn Henaden zu rechnen, welche keineswegs alle einzelnen Ideen, sondern nur die umfassendsten Charaktere des 107 Vgl. Proklos, Elem. theol. §§ 162–165 mit dem Kommentar von Dodds, Proclus. The Elements of Theology, 282 ff (die Stufen des Intelligibel-Intellektuellen fehlen in dieser Frühschrift noch). 108  Zu den Ideenzahlen Platons zusammenfassend am besten Gaiser, Platons Ungeschriebene ­Lehre, 115–145. 109 Jamblich, De eth. theol. arithm. 46–48 (American Journal of Philology 102, 38). Vgl. Theol. arithm. 29, 6–10.

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Ideenkosmos im ganzen, die obersten Metaideen (μέγιστα γένη) präformieren. Die von Proklos genannten παραδείγματα πρὸ παραδειγμάτων – neben den Prinzipien von ὄν, ζωή, νοῦς, ὄλον und δίκαιον werden die von κάλλος und ἀρετή genannt (1108, 3 f) – scheinen das ebenso zu bestätigen wie die Terminologie; denn παράδειγμα ist für Jamblich immer das Seinsganze aller Ideen (αὐτὸ τὸ ὅπερ ὄν), nicht eine einzelne Idee (vgl. In Tim. Fr. 35 Dillon). Jamblich scheint also die transzendentalen Bestimmungen des Ideenganzen, die in den Platonischen Spätdialogen und den Referaten der Aristotelischen Metaphysik über Platon übereinstimmend überliefert sind, auf die zehn „göttlichen Zahlen“ im (zweiten) Einen zurückgeführt zu haben. In den Exzerpten des Psellos ist neben der Zurückführung der δικαιοσύνη auf die Tetrade auch jene der νοερὰ ἐνέργεια auf die Hebdomade und der ζωή auf die δυάς bezeugt, ferner kann die der ἀρετή auf die Pemptade als die „richtige Mitte“ zwischen Monade und Enneade erschlossen werden.110 Vermuten kann man darüber hin­aus die Zurückführung des Seins auf die Monade und der Schönheit auf die Dekade als den Inbegriff der Vollkommenheit.111 Die Pythagoreisierung des Platonismus bei Jamblich zeigt sich hier darin, daß die „göttlichen Zahlen“ als die Prinzipien der μέγι­ στα γένη erscheinen, welche Platon seinen Ideenzahlen noch übergeordnet hatte (vgl. Aristo­teles, Metaphysik 1084 a 31–36). Ist Proklos’ Verdoppelungsvorwurf gegenüber den Henaden Jamblichs somit kaum stichhaltig, so ist er dies eher gegenüber der Ansetzung des zweiten überseienden Einen, das die Henaden auf verborgene Weise enthält. Denn der Ort der Entfaltung der Henaden ist auch nach Jamblich das seiende Eine als ­μικτόν aus πέρας und ἄπειρον. Das die Henaden unentfaltet vorwegbesitzende ἓν ἀγαθόν Jamblichs ist somit wirklich die in die Unfaßbarkeit der Tran­ szendenz erhobene Eminenzform des Platonischen ἓν ὄν. Gegen das Argument Jamblichs, dem Einen als Prinzip aller Bestimmungen müßten die Eminenz110 Jamblich, De eth. theol. arithm. 22: ἡ ἐβδομὰς ὥσπερ ἡ νοερὰ ἐνέργεια. – 75–77: ἔστι δὲ καὶ θεία δυὰς δύναμις ἄπειρος, ζωῆς προόδος ἀνέκλειπτος, ὑποδοχὴ τοῦ πρώτου ἑνὸς μέτρου. – 24–25: εἰ δὲ ἐν μετριότητι ζωῆς καὶ τελειότητι τὸ εἶδος τῆς ἀρετῆς ἀφώρισται. Dies entspricht der Platonischen und Aristotelischen Bestimmung der ἀρετή als μεσότης. An der korrupten Stelle in Zeile 48 darf man daher sinngemäß πέμπτος προσήκει τῇ ἀρετῇ ergänzen, da der Text fortfährt: μέσος κείμενος τῆς μονάδος καὶ τοῦ ἐννέα, καὶ ᾧ ὑστερεῖ ἀριθμῷ τοῦ ἐννέα, τούτῳ ὑπερέχων τῆς μονάδος (48–50). Unmittelbar vorher hatte Jamblich die Vier der Gerechtigkeit zugeordnet, so daß diese nicht zugleich mit der Fünf verbunden gewesen sein kann. 111  Die Verknüpfung von Sein und μονάς folgt aus derjenigen des Lebens mit der δυάς als ὑποδοχὴ τοῦ πρώτου ἑνὸς μέτρου (De eth. theol. arithm. 76–77). Den aus der Entzweiung in die Einheit zurückkehrenden νοῦς verknüpft Jamblich ebenfalls mit dem ἕν (ebd. 17), wobei er aus dem Platon-Referat bei Aristo­teles, De anima 404 b 22–24 zitiert. – Die Verknüpfung von Schönheit und δεκάς liegt nahe wegen der Bemerkung in De phys. num. 19–21: τὸ κάλλος τὸ ἐν τοῖς ἀριθμοῖς, ὃ ἐν τῇ συμμετρίᾳ αὐτῶν διαφαίνεται· τὸ αὔταρκες, ὃ ἀπὸ τῶν τελείων ἀριθμῶν ἐστι κατάδηλον – „Die Schönheit in den Zahlen zeigt sich in ihrer Zusammenstimmung: (sie ist) nämlich offenbar das Sich-selbst-Genügen, das sich aus der Vollständigkeit der Zahlen ergibt“ (American Journal of Philology 102, 35).

XV. Das Eine als Einheit und Dreiheit

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modi seiner Prinzipiate zukommen, wendet Proklos ein, gerade als absoluter Grund sei das Eine das Nichts aller seiner Prinzipiate: πάντων γὰρ ὂν αἴτιον ­οὐδέν ἐστι τῶν ­πάντων.112 Dies ist das von Plotin oftmals wiederholte und konsequent durchgeführte Axiom der negativen Theologie, das bei Jamblich selber zur Ansetzung des ἓν ἄρρητον als des Absoluten geführt hat. Ein Absolutes mit begrifflich positivem Gehalt ist nach diesem Grundsatz ein Widerspruch in ­ ehre Jamblichs, der positive Gehalt des Einen sei unerkennsich. Gegen die L bar für uns, aber erkennbar für es selbst, erklärt Proklos, dies sei denkunmöglich: „denn wenn es für uns vollkommen unerkennbar ist, so können wir von ihm nicht einmal dies erkennen, daß es für sich selbst erkennbar ist, sondern auch dies wissen wir nicht.“113 Für Proklos ist dagegen sogar die Bezeichnung des Einen als „Quelle aller Gottheit“ (πηγὴ θεότητος πάσης)114 und als „Gott selbst“ (αὐτόθεος)115 strenggenommen mit der Unsagbarkeit des Absoluten und seiner Transzendenz über alle Benennungen (nach Parmenides 142 A) unvereinbar. Jamblich dürfte beide Bezeichnungen für sein ἓν ἄρρητον gebraucht haben – für Proklos bleiben auch sie wie alle anderen dem „unerkennbaren Übermaß“ (ἄγνωστος ­ὑπεροχή) des Einen gegenüber absolut inferior und unangemessen (In Parm. 1108, 25 – 1109, 4). Wenn überhaupt καταφατικῶς über das Eine gesprochen werde, indem man es den Urgrund von allem und das Ziel allen Strebens nenne, so hätten solche Aussagen nur uneigentliche und metaphorische Bedeutung, da in ihnen gar nicht das Absolute als solches, sondern lediglich die konstitutive Beziehung des Späteren zum Absoluten zur Sprache komme: δι’ ὧν οὐκ αὐτὸ λέγομεν τί ἐστιν, ἀλλ’ ὅπως ἔχει τὰ μετ’ αὐτὸ πρὸς αὐτὸ καὶ ὧν ἐστιν αἴτιον – „durch diese Bezeichnungen sagen wir nicht Es selbst in dem, was Es ist, sondern wie sich das, was nach Ihm ist und dessen Grund Es ist, zu Ihm verhält“.116 112 Proklos, In Parm. 1108, 24 f. Vgl. Plotin, Enneade VI 9, 3, 39 f: γεννητικὴ

γὰρ ἡ τοῦ ἑνὸς φύσις οὖσα τῶν πάντων οὐδέν ἐστιν αὐτῶν. VI 9, 6, 55: τὸ δὲ πάντων αἴτιον οὐδέν ἐστιν ἐκείνων. III 8, 10, 28–31: ἐστι μὲν τὸ μηδὲν τούτων, ὧν ἐστιν ἀρχή, τοιοῦτο μέντοι, οἷον, μηδενὸς αὐτοῦ κα­ τηγορεῖσθαι δυναμένου, μὴ ὄντος, μὴ οὐσίας, μὴ ζωῆς, τὸ ὑπὲρ πάντα αὐτῶν (Corr. cod. Α: ταῦτα) εἶναι. Vgl. schon Speusipp, Fr. 72 Isnardi Parente = Jamblich, De comm. math. sc. IV 15, 7–10: τὸ ἓν ὅπερ δὴ οὐδὲ ὄν πω δεῖ καλεῖν, διὰ τὸ ἁπλοῦν εἶναι καὶ διὰ τὸ ἀρχὴν μὲν ὑπάρχειν τῶν ὄντων, τὴν δὲ ἀρχὴν μηδέπω εἶναι τοιαύτην οἷα ἐκεῖνα ὧν ἐστιν ἀρχή. Dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 12 f, 58 ff, 89–97, 118 ff, 151 ff, 175 ff. 113 Proklos, In Parm. 1108, 25–29: καὶ οὐχ ἡμῖν μὲν ἄγνωστον, ἑαυτῷ δὲ γνωστόν ἐστιν· εἰ γάρ ἐστιν ὅλως ἡμῖν ἄγνωστον, οὐδὲ αὐτὸ τοῦτο γιγνώσκομεν ὅτι ἑαυτῷ γνωστόν ἐστιν, ἀλλὰ καὶ τοῦτο ἀγνοοῦμεν. 114 Proklos, In Parm. 1108, 36; 1109, 7. 115 Proklos, In Parm. 1108, 36 f; 1109, 1. 116 Proklos, In Parm. 1109, 12–14. Vgl. Plotin, Enneade V 3, 14, 1–8: λέγομεν μέν τι περὶ αὐτοῦ, οὐ μὴν αὐτὸ λέγομεν … ὥστε περὶ αὐτοῦ μὲν λέγειν, αὐτὸ δὲ μὴ λέγειν. καὶ γὰρ λέγομεν ὃ μὴ ἔστιν· ὃ δέ ἐστιν, οὐ λέγομεν· ὥστε ἐκ τῶν ὕστερον περὶ αὐτοῦ λέγομεν. – „Wir sagen zwar etwas über Jenes (das Absolute), Jenes Selbst aber sagen wir nicht … so daß wir zwar über Jenes sprechen, aber nicht Jenes Selbst sagen. Wir sagen nämlich nur, was Jenes nicht nicht: und so sprechen wir von dem Späteren her über Jenes.“ Vgl. auch VI 8, 8, 3–8; VI 9, 5, 34; III 8, 10, 34–35; III 8, 11, 19–23 u.ö. Dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 34 ff, 177 ff.

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Für Proklos gibt es darum keine der Transzendenz des Absoluten angemessene via eminentiae, sofern auf diesem Wege positiv etwas über das Absolute ausgemacht werden soll: „Es ist also besser, wie dies Platon getan hat, bei den Negationen zu bleiben und durch diese die absolute Transzendenz des Einen zu zeigen.“117 Proklos weist somit jede Durchbrechung der negativen Theologie strikt zurück – ganz im Sinne des Plotinischen ἄφελε πάντα (Enneade V 3, 17, 38).

117 Proklos, In Parm. 1108, 19–22: κάλλιον οὖν, ὥσπερ ὁ Πλάτων πεποίηκεν, ἐπὶ τῶν ἀποφάσεων ἵστασθαι, καὶ διὰ τούτων ἐνδείκνυσθαι τὴν ἐξῃρημένην τοῦ ἑνὸς ὑπερβολήν. Proklos bezieht sich auf die erste Hypothesis des Parmenides, vgl. auch In Parm. 1109, 22 ff.

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XVI.

Wie rational kann die Rede vom Absoluten sein? Zu den Grenzen des Widerspruchsprinzips bei Dionysius Areopagita und im antiken Platonismus Der bedeutendste christliche Platoniker der Spätantike, den wir bis heute nur unter seinem Pseudonym Dionysius Areopagita kennen,1 spricht über das Absolute: Gott oder das Eine gewöhnlich so, daß er dabei das logische Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch offen – und offensichtlich gezielt – verletzt. So schreibt er z.B. mit gewollter Paradoxie: „Das Sein von allem ist die überseiende Gottheit“ (τὸ γὰρ εἶναι πάντων ἐστὶν ἡ ὑπερούσιος θεότης, De cael. hier. IV 1). Gemeint ist damit die Einsicht Platons, daß der Urgrund des Seins, durch den alles Seiende überhaupt ist, dem es sowohl seine Existenz als auch sein Wesen verdankt, selbst über das Sein – und d.h. über jede positiv denkbare Bestimmtheit – hin­ausliegen muß (vgl. Platon, Politeia 509 B; Parmenides 141 E; Test. Plat. 50 Gaiser). Dionysius spitzt diese alte Einsicht aber bewußt auf die Paradoxie zu, daß es das Übersein ist, welches das Sein von allem konstituiert. Damit aber stellt sich die Frage, wie rational die Rede von Gott oder dem Absoluten sein kann, wenn das Absolute negativ-theologisch als absolute Tran­ szendenz konzipiert wird? Denn die Grundregel logisch-rationaler Rede, der Grundsatz vom zu vermeidenden Widerspruch, wird von Dionysius in seiner Rede von Gott suspendiert – und diese Suspendierung erfolgt bewußt und methodisch: für Dionysius ist sie die einzige Möglichkeit, die Transzendenz des Absoluten, des übergöttlichen Einen, mit sprachlichen und logischen Mitteln auszudrücken, ohne das Absolute dabei prädikativ oder kategorial zu bestimmen, wodurch es sofort zu einem Seienden – und damit zu einem Nicht-Absoluten – würde.2 Die Suspendierung des Kontradiktionsprinzips bringt die Tran­ szendenz des Absoluten dadurch zum Ausdruck, daß sie seine Transrationali1  Für die philosophische Interpretation des Ps.-Dionysius Areopagita im Horizont des Neuplatonismus sind die Arbeiten von Werner Beierwaltes maßgebend: Identität und Differenz, 49–56; Denken des Einen, 147–154, 211–216 und 314 ff; Platonismus im Christentum, 44–84 und 229–247. – Vgl. auch Christian Schäfer, The Philosophy of Dionysius the Areopagite. An Introduction to the Structure and the Content of the Treatise On the Divine Names, Leiden 2006. 2  Zum Verhältnis der Metaphysik des Einen zur Logik und ihrem Prinzip, dem Satz vom Widerspruch, und zur Notwendigkeit von dessen Einschränkung, siehe das hochanregende

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tät ausspricht, und zwar eben durch die bewußte und gewollte Verletzung des Prinzips logisch-rationaler Rede. Daß die Suspendierung des Widerspruchsprinzips für ihn die methodische Maxime der Rede von Gott oder dem Absoluten ist, formuliert Dionysius ganz ausdrücklich: Gott oder das Eine, so sagt er, sei „die Setzung von allem und zugleich die Verneinung von allem und doch über alle Setzung und über alle Verneinung zugleich erhaben“ (ἡ πάντων θέσις καὶ ἡ πάντων ἀφαίρεσις καὶ ὑπὲρ πᾶσαν καὶ θέσιν καὶ ἀφαίρεσιν, De divinis nominibus II 4). Der Satz vom Widerspruch tritt also bezüglich des überseienden Einen in doppelter Weise außer Kraft: vom Absoluten gelten Bejahung und Verneinung zugleich, jedoch so, daß es in seiner Transzendenz zugleich über beide hin­aus ist, so daß Affirmation und Negation weder getrennt noch verbunden das Eine selbst, die reine Über-Gottheit, zu erfassen vermögen (vgl. De mystica theologia I 2). Affirmation und Negation sind bezüglich des Einen also sowohl gültig als auch nicht gültig, sie müssen darum ständig in einer dialektischen Schwebe gehalten werden, die jede Aussage nur macht, um sie sofort zu widerrufen, weil die Behauptungen, in denen wir über das Eine sprechen, es nicht kategorial bestimmen, und weil die Verneinungen, durch die wir es von seinen Prinzipiaten abheben, nicht seine sterile Leere und privative Nichtigkeit zum Ausdruck bringen, sondern die Überfülle (ὑπερβολή, ὑπερπλῆρες) des Überseins. Anders als durch solche transrationale Redeweise, welche die Paradoxie bewußt nicht vermeidet, sondern gerade sucht, kann die Transzendenz des Absoluten für Dionysius und die Tradition, aus der er kommt, sprachlich nicht formuliert werden. Rationale, vom Widerspruchsprinzip geleitete und geregelte Rede vermag immer nur Seiendes in dem, was es ist oder was es nicht ist, durch Affirmation oder durch Negation zum Ausdruck zu bringen. Sie ist notwendig gegenstandsgebunden und genau darum ungeeignet, das Überseiende, das absolut un-gegenständlich ist, sprachlich auszudrücken. Den paradoxen Gedanken der absoluten Transzendenz, des Überseins oder der Seins­transzen­denz hatte Platon zum ersten Mal formuliert (Politeia 509 B, 511 B, 534 BC; Parmenides 137 C – 142 A; 7. Brief 341 C; Test. Plat. 50). Er bestimmt schon in der Alten Akademie die Spekulation über das absolute Prinzip (vgl. Speusipp, Fr. 57, 62, 72, 88 Isnardi Parente; Aristo­teles, Περὶ εὐχῆς Fr. 1 Ross; Eudemische Ethik 1248 a 27 ff), ist also nicht erst neuplatonisch.3 Nachdem er im Mittelplatonismus eher in den Hintergrund getreten war, auch dort aber bei Platonikern wie Eudoros von Alexandria und Moderatos von Gades, auch bei Gnostikern wie Basilides präsent blieb,4 bildete die Seins­transzen­denz und zum Nachdenken provozierende Buch von Kurt Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. 3 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen und oben Teil II („Platons Metaphysik des Einen“). 4 Vgl. Whittaker, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΝΟΥ“ und oben Kapitel XI.

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des Absoluten seit Plotin das zentrale – und jetzt rigoros durchgeführte – Motiv der neuplatonischen Metaphysik des Einen.5 Diesen Platonischen und Plotinischen Grundgedanken der absoluten Transzendenz innerhalb des Christentums unverkürzt zur Geltung zu bringen, darf wohl als das wesentliche Anliegen des Ps.-Dionysius gelten. Sein Denken umkreist das absolut Transzendente in nicht-begreifender Weise, und das logische Mittel dieses nicht-begreifenden Denkens ist die Paradoxie, weil von Absoluten Behauptung und Verneinung zugleich gelten und auch nicht gelten. Dieses der Gegenstandsbezogenheit des rationalen Denkens entgegen denkende Denken setzt die Suspension des Kontradiktionsprinzips vor­aus, die für die paradoxale Denkform der negativen Theologie bei Dionysius darum konstitutiv ist. Das logische Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch wurde zum ersten Mal von Platon formuliert, und zwar im Zusammenhang mit der Ableitung der drei Seelenteile in der Politeia (436 B ff).6 Doch weist Platon unmittelbar vorher deutlich auf die begrenzte Tragweite und eingeschränkte Gültigkeit der in diesem Zusammenhang verwendeten Methoden hin (435 D 1–2: ἀκριβῶς μὲν τοῦτο ἐκ τοιούτων μεθόδων … οὐ μή ποτε λάβωμεν) und deutet eine μακροτέρα καὶ πλεῖον ὁδός an7 – damit ist, wie an späterer Stelle (504 B–E) deutlich wird, die Dialektik als Prinzipienwissenschaft gemeint, die bis zum „Unbedingten“ (ἀνυπόθετον), „dem Urgrund des Ganzen“ (ἡ τοῦ παντὸς ἀρχή) aufsteigt und absteigend die Entfaltung dieses absoluten Urgrundes (ἀνυπόθετος ἀρχή) im Ganzen des Ideenkosmos aufzeigt (511 B–E, 532 A – 534 D, vgl. Politikos 284 CD). Man könnte daraus schließen, daß der Widerspruchssatz nur das mathematisch-diskursive Denken der διάνοια als Prinzip bestimmt, nicht aber die Dialektik und das intuitiv-ganzheitliche Denken des νοῦς, das auf die Ideen und die Prinzipien selber gerichtet ist – Plotin hat es so verstanden. Bei Platon ist der Sachverhalt jedoch komplizierter: Platon hat das Widerspruchsprinzip auch in seiner Ideendialektik beachtet, es ist für sie sogar grundlegend, wie z.B. der ideentheoretische letzte Unsterblichkeitsbeweis im Phaidon (102 A ff) beweist: Entgegengesetzte Ideen wie „gerade“ und „ungerade“ schließen einander immer aus und können nicht aneinander teilhaben. Für die obersten, alle anderen Ideen und damit alles Seiende bestimmenden Metaideen, die μέγιστα γένη, gilt dies ebenfalls. Obwohl sich Ruhe und Bewegung, Identität und Andersheit nicht miteinander vermischen, verbindet Platon sie jedoch in allseitiger κοινονία miteinander, und zwar ausdrücklich auch „die am meisten entgegenge5 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, Teil I; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 257–273; ders., Plotin und der Neuplatonismus, Kapitel III. 6 Vgl. zum Widerspruchsprinzip bei Platon auch Schmitt, Denken und Sein bei Platon und Descartes, 96 ff. 7 Vgl. zur Bedeutung dieser Einschränkung und dieses Hinweises Szlezák, Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie, 306 ff.

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setzten (ἐναντιότατα) Ideen“ Ruhe und Bewegung (Sophistes 252 B ff, spez. 256 B).8 Denn die μέγιστα γένη gehen durch alle Ideen hindurch (Sophistes 254 B 9), also auch durch ihren eigenen Gegensatz, wobei Platon aber durch Unterscheidung der Hinsichten den Widerspruch vermeidet. Das Kontradiktionsprinzip basiert ontologisch auf der Disjunktion von Sein und Nicht­sein. Der Ideenkosmos als Ganzheit umfaßt aber auch das Nicht­sein in Gestalt der Andersheit – er ist eine koinzidentale Einheit, welche die Gegensätze, die sich in jeder einzelnen Ideen ausschließen, in sich selbst umgreift. Platon schränkt damit die Geltung des Kontradiktionsprinzips in gewisser Weise ein: es bestimmt zwar jede einzelne Idee – und darum auch alle Dinge, die an den Ideen teilhaben –, aber nicht das Ganze aller Ideen; diesem kommen die entgegengesetzten Fundamentalbestimmungen wie Ruhe und Bewegung, Identität und Andersheit, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Gleichheit und Ungleichheit zugleich zu (Parmenides 142 B – 155 E). Das Kontradiktionsprinzip versagt jedoch nicht nur bezüglich der allumfassenden Einheit des Ideenganzen, des „seienden Einen“. Die Prinzipien des Ideenganzen, das absolute Eine und die unbestimmte Zweiheit des Groß-Kleinen, ermöglichen allererst die Disjunktion von Sein und Nicht­sein, unterliegen ihr also selber nicht. Das Eine selbst, der absolute Ursprung aller Einheit und Bestimmtheit, liegt über alle Bestimmungen hin­aus: Es ist „jenseits des Seins, an Ursprünglichkeit und Mächtigkeit über das Sein hin­aus“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας πρεσβείᾳ καὶ δυνάμει ὑπερέχοντος, Politeia 509 B 9), weshalb Platon ihm in der ersten Hypothesis des Parmenides alle konträr und kontradiktorisch entgegengesetzten Fundamentalbestimmungen zugleich abspricht (137 C – 142 A)9 – und damit den Satz vom ausgeschlossenen Dritten verletzt, der unmittelbar aus dem Widerspruchssatz folgt. Das Prinzip der Vielheit, die unbestimmte Zweiheit, dagegen ist an sich selbst völlig leer und privativ nichtig (Test. Plat. 31 Gaiser mit Parmenides 159 B – 160 B; vgl. 165 E – 166 C), vermag aber in jeder Bestimmung und ebenso in ihrem Gegenteil zu erscheinen und ist darum in sich selbst widersprüchlich: klein ebenso wie groß, weniger ebenso wie mehr, Mangel ebenso wie Überschuß, unähnlich ebenso wie ähnlich, Identität und Differenz, Gleichheit und Ungleichheit in eins und zumal (Parmenides 158 E ff mit 164 B – 165 E, vgl. Test. Plat. 31 und 23 B Gaiser).10 „Es nimmt nur auf eine höchst unerklärliche Weise (ἀπορώτατα) am Intelligiblen teil und ist äußerst schwer zu erfassen (δυσαλώτατον)“ (Timaios 51 AB), so daß es sich rationaler Denkbarkeit entzieht und nur „durch eine Art unechten Gedankengang“ (λογισμῷ τινι νόθῳ, Timaios 52 B) erfaßt werden kann, durch ein Denken also, das gegen sich selbst denkt,  8  Siehe dazu Hans-Georg Gadamer, „Dialektik ist nicht Sophistik. Theaitet lernt das im ‚Sophistes‘“ (1990), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 7 (Griechische Philosophie III: Plato in Dialog), Tübingen 1991, 338–369, spez. 359 ff.  9  Dazu im einzelnen Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 220–405. 10  Dazu genauer oben Kapitel VII.

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gegen sein Wesen als Denken: nämlich Erfassung von Sein und Bestimmtheit zu sein, und das im Verschwindenlassen aller Gegensätze ineinander ein Trugbild von Unbestimmtheit vorstellt. Erst durch die Teilhabe an dem überseienden Einen wird die an sich selbst nichtige Vielheit geeint und dadurch bestimmt und zum Sein erhoben (Parmenides 157 C – 158 C). Das absolut Eine ist also der Einheit und Sein verleihende Urgrund von allem, selbst aber über Sein und Bestimmtheit schlechthin hin­aus. Platon sagt darum wie Plotin: „Das Eine ist Alles und doch nicht einmal Eines“ (Parmenides 160 B 2–3; Plotin, Enneade V 2, 1, 1) – in seiner Entfaltung ins Sein begründet es Alles, gerade weil es als „Es Selbst“ in absoluter Transzendenz über alles hin­aus ist, sogar über Sein und Einessein (Parmenides 141 E mit Test. Plat. 50). Das Eine selbst ist somit über den Gegensatz von Affirmation und Negation erhaben, die es weder getrennt noch verbunden zu erfassen vermögen. Daß diese paradoxe Dialektik des Einen im Parmenides das Vorbild für die negative Theologie des Ps.-Dionysius war, steht seit den Forschungen von Ettore Corsini und Endre von Ivánka fest.11 Abweichend von Platon hatte Aristo­teles das Kontradiktionsprinzip zum obersten Prinzip der Ontologie und Logik erhoben (Metaphysik IV 3–4): es sei die βεβαιοτάτη ἀρχὴ πασῶν (1005 b 11 f und 17 f). Plotin zitiert diese Aristotelische Formel (Enneade VI 5, 1, 9), bezeichnet damit aber nicht das Widerspruchs­ prinzip, sondern die göttliche Einheit, die ungeteilt überall ist (Enneade VI 5, 1). Deutlicher kann man die Absage an den Widerspruchssatz als oberstes Prinzip der Ontologie kaum formulieren. Trotzdem anerkennt Plotin Widerspruchsfreiheit als negatives Kriterium der Wahrheit einer Argumentation. Der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch ist für ihn das Prinzip des diskursiven, argumentativ begründenden Denkens; er gründet in der trennenden Natur der διάνοια, die nach Hinsichten unterscheidet und auseinanderlegt, was im νοῦς als dem Inbegriff aller Ideen ungetrennte Einheit ist; seine Geltung beschränkt sich auf die Sphäre der diskursiv durchlaufenen Einzelbestimmungen (λόγοι). Das Widerspruchsverbot ist für Plotin ein Verstandesprinzip und primär zur Erfassung der getrennten Einzeldinge in der Welt des Werdens bestimmt. Es ist nicht geeignet zur Erfassung der Struktur des intelligiblen Seins, an seine Stelle tritt hier das Prinzip der Einheit, die ungeteilt überall und in allem ist (Enneade VI 5, 2).12

11  Ettore Corsini, Il trattato De divinis nominibus dello Pseudo-Dionigi e i commenti neoplatonici al Parmenide, Torino 1962; Endre von Ivánka, Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964 (= Plato Christianus). 12  Zur Einzelerklärung von Enneade VI 5, 1–2 vgl. den vorzüglichen Kommentar von Christian Tornau, Plotin. Enneaden VI 4–5 (22–23), Stuttgart/Leipzig 1998, 320–346. – Zum Verhältnis von dianoetischem und noetischem Denken bei Plotin oben Kapitel XIII.

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Damit schränkt Plotin die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch ein: er gilt nicht universal, sondern nur regional, für die Sphäre des diskursiven Denkens und der von diesem erfaßten sinnlichen Einzeldinge und ihrer logischen und ontologischen Bestimmungen. Hier gilt er nicht nur als Denkregel, sondern auch ontologisch: er bestimmt die Endlichkeit der erscheinenden Einzeldinge, die immer nur dieses Bestimmte und alles andere nicht sind – und genau darum endlich. Er gilt aber nicht für das intuitiv-ganzheitliche Denken des νοῦς, dem Entgegengesetztes zugleich zukommt, und auch nicht für das absolute Eine. Weil es alle Gegensätze erst ermöglicht, ist das Eine selbst in absoluter Transzendenz über alle Gegensätze hin­aus, auch über den Gegensatz von Sein und Nicht­sein, von Bejahung und Verneinung: „Es ist in Wahrheit unsagbar“ (ἄρρητον τῇ ἀληθείᾳ, Enneade V 3, 13, 1; vgl. V 5, 6, 24; VI 8, 8, 6 f; VI 9, 4, 11 f); darum sind von ihm bejahende und verneinende Aussagen zugleich falsch. Auch wenn die negativ ausgrenzende Redeweise der reinen Transzendenz des Einen angemessener ist als jede Affirmation, selbst wenn diese nur in metaphorischer und analoger Bedeutung verstanden wird, bezieht sich auch die negative Redeweise nach Plotin strenggenommen nicht auf das Eine selbst in seiner Tran­ szendenz, sondern auf unser Transzendieren auf Es hin (Enneade VI 9, 3–6; VI 8, 8; VI 8, 21, 25 ff; V 5, 6, 15 ff. 30 ff; V 3, 14; vgl. V 3, 17, 38). Weil das Absolute ἄρρητον ist, unterliegt es nicht dem Gesetz des Sagens, dem Kontradiktionsprinzip. Aber auch der νοῦς unterliegt dem Widerspruchsverbot nach Plotin nicht, obwohl er für Plotin sagbar ist, wenngleich nur in der Paradoxie. Als die Totalität aller Ideen ist der Geist die allumfassende Einheit, in der alle Gegensätze zusammenfallen wie im „seienden Einen“ des Platonischen Parmenides (2. Hypothese), mit dem Plotin den νοῦς gleichsetzt.13 Vom Geist sind darum kontradiktorisch entgegengesetzte Aussagen zugleich wahr: in ihm als „All-Einheit“ (ἓν πάντα, Enneade III 6, 6, 23; V 3, 15, 23 – vgl. Platon, Parm. 160 B 2) ist das Kleine zugleich groß (Enneade V 8, 4, 9), in ihm ist das Viele zugleich Einheit und das Eine zugleich Vielheit (Enneade VI 2, 3, 24–26; VI 4, 11, 15 f; VI 5, 6, 1–3), er ist einfach (ἁπλοῦν) und nicht-einfach zugleich (Enneade V 6, 1, 13; VI 4, 11, 15 f), in sich ununterschieden und zugleich unterschieden (Enneade VI 9, 5, 16), in sich ruhende, stillstehende Bewegung (Enneade VI 9, 5, 14 f), er ist „gleichsam unentfaltet entfaltet“ (Enneade VI 8, 18, 18), weil er in seiner Selbstentfaltung in die Ideen als ungeteilte Einheit bei sich selbst bleibt. Eine Hinsichtenunterscheidung, welche die Paradoxie dieser Aussagen auflösen würde und die an sich durchaus möglich wäre, unterläßt Plotin bewußt. Denn das Unterscheiden nach Hinsichten ist das Wesen der διάνοια, es ist gerade nicht das In-Eins-Sehen des Ganzen, das der Geist ist, sondern dessen Auseinanderlegen, also das 13  Dazu Halfwassen, Plotin und der Neuplatonismus, Kapitel IV. Zur Einheit der Gegensätze spez. 77 ff.

XVI. Wie rational kann die Rede vom Absoluten sein?

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Verlassen der Einheit des Geistes, der Abstieg ins diskursive Denken des Verstandes. Dahinter steht Plotins Aufnahme der zweiten Hypothesis des Parmenides, in der Platon dem seienden Einen kontradiktorisch entgegengesetzte Bestimmungen wie Unterschied und Ununterschiedenheit (142 C–E), Grenze und Unbegrenztheit (145 A), Ruhe und Bewegung (146 A), Identität und Andersheit (146 B), Ähnlichkeit und Unähnlichkeit (147 C), Gleichheit und Ungleichheit (149 D) sowie Größe und Kleinheit (151 A) zugleich zuspricht. Platon leitet diese entgegengesetzten Bestimmungen des seienden Einen zwar jeweils aus unterschiedlichen Hinsichten ab, unter denen das seiende Eine betrachtet werden muß; insofern verletzt er das Widerspruchsverbot selbst hier nicht. Aber bei der zusammenfassenden Formulierung der Ergebnisse dieser Ableitungen läßt er die Hinsichtenunterscheidungen weg und formuliert bewußt widersprüchlich. Plotin interpretiert das so, daß gerade die Paradoxie die der allumfassenden Einheit des seienden Einen angemessene Aussageweise ist. Dieses Fallenlassen der unterschiedenen Hinsichten beim Zugriff auf die ungeteilte Einheit des Seins ist gerade die dem einheitlichen Wesen des Geistes angemessene Redeweise, der in eins und zumal Alles ist (ὁμοῦ πάντα, Enneade I 1, 8, 8; V 9, 6, 3; VI 6, 7, 4; VI 7, 33, 9 und oft) und in dem jedes Moment – jede einzelne Idee – selber zugleich das Ganze ist (Enneade I 8, 2, 17 ff; V 8, 4, 6 ff. 22 ff; V 9, 8, 2 ff und oft). So ist die Paradoxie die dem Wesen des Geistes als All-Einheit und konkrete Totalität angemessene Redeweise, weil sie den Gegenstandsbezug des rationalen Sprechens, in dem nur Einzelnes und Endliches gesagt werden kann, bewußt durchbricht und aufhebt. Proklos folgt Plotin bezüglich des Einen selbst, aber nicht bezüglich des Geistes. Die negative Dialektik des absolut Einen kulminiert bei Proklos in der Negation der Negation (ὑπεραπόφασις), die nicht in die Affirmation umschlägt, sondern in der sich das dialektische, negierende Denken selbst aufhebt und übersteigt.14 Das überseiende absolute Eine läßt als ἄρρητον weder Bejahung noch Verneinung zu. Proklos betont aber, das Kontradiktionsprinzip versage ausschließlich bezüglich des Einen selbst, und zwar nur in der Weise, daß vom Einen einander widersprechende Sätze zugleich falsch seien, aber nicht so, daß sie zugleich wahr seien; das letztere tritt nach Proklos niemals ein (In Parm. VII 72, 2–22 Klibansky).15 Die Koinonie der γένη und die kontradiktorischen Prädikate des seienden Einen deutet Proklos durch die Einführung von Hinsichtenunterscheidungen so, daß ein Widerspruch durchgängig vermieden wird. Die von Platon durch das Weglassen der Hinsichtenunterscheidungen formulierten Paradoxien des seienden Einen werden von Proklos somit rational, die Paradoxien auflösend ausgelegt. Auch die All-Durchdringung der Ideen in der 14 

Dazu Beierwaltes, Proklos, 357–366. zur universalen ontologischen Gültigkeit des Widerspruchsverbots bei Proklos auch Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 410 ff; zu Hegels Umdeutung des Proklos in diesem Punkt dort 429 ff. 15 Vgl.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

konkreten Totalität des Geistes ist für Proklos eine ἀσύγχυτος δι’ ἀλλήλων δίϊξις, aber keine Koinzidenz der Gegensätze wie bei Plotin (vgl. In Parm. 748, 9–760, 18 Cousin). Kehren wir nun zu Dionysius zurück, so zeigt sich, daß er mit der Zulassung des Widerspruchs in der doppelten Form, daß bezüglich des übergöttlichen Einen Affirmation und Negation zugleich gelten und nicht gelten (De mystica theologia I 2), nicht Proklos folgt, sondern Plotin, dessen Henologie und Noologie Dionysius dabei verbindet. Denn trotz des Vorherrschens der negativen Theologie sagt Dionysius von seinem Gott auch, was Plotin vom νοῦς und Platon vom seienden Einen gesagt hatte: so ist Gott zugleich ähnlich und unähnlich, zugleich bewegt und ruhend usw. (De divinis nominibus IX 1; vgl. IX 2; IX 3 und öfter). Das Eine enthält in sich alles, auch das Entgegensetzte (ebd. I 7). Wahrscheinlich ist Dionysius hierbei von einem verlorenen neuplatonischen Parmenides-Kommentar beeinflußt, der das überseiende absolute Eine der ersten Hypothese in bestimmter Hinsicht mit dem seienden Einen der zweiten Hypothese identifiziert haben dürfte. Wir wissen, daß Porphyrios dies getan hat und wir können vermuten, daß ihm andere Neuplatoniker darin gefolgt sind – so sehr wahrscheinlich Theodoros von Asine, der das Eine wohl mit dem Seinsakt (ὕπαρξις) gleichgesetzt haben dürfte (Test. 9, spez. p. 37, 16 f Deuse). Außerdem hat Jamblich gelehrt, das Eine habe die Gründe aller Bestimmungen auf absolut einfache und ununterschiedene Weise in sich, so daß es ὅλον πρὸ ὅλων sei und ihm προουσία, προζωότης und προνοότης zugesprochen werden (vgl. Proklos, In Parm. 1107, 9 ff Cousin; Marius Victorinus, Adversus Arium IV 23, 27 ff Hadot).16 Dionysius konnte also auf neuplatonische Theorien zurückgreifen, die dem Überseienden zugleich die Eminenzmodi der Fundamentalbestimmungen des Seins zusprachen. Indem Dionysius dies aufnahm und dem Einen die Urbestimmungen modo eminentior zuschrieb, wurde er zum Ausgangspunkt und Anreger der mittelalterlichen Transzendentalienlehre.17 Durch seine Einschränkung des Kontradiktionsprinzips und die Koinzidenz der Gegensätze, auch der Widersprüche, im unendlichen Einen aber weist er vor­aus auf Johannes Eriugena und Nikolaus von Kues, die Plotin nicht kannten und dieses Motiv von Dionysius bezogen.18 Von Cusa­nus aber gelangte der Gedanke der Koinzidenz der Gegensätze und Widersprüche, die der Verstand nicht denken kann, ohne zugrunde zu gehen, die aber das Wesen des Geistes ausmacht, auf dem Weg über Giordano Bruno und Hamann zu Hegel, der Cusa­nus nicht kannte (wohl aber Plotin, Dionysius und Eriugena). 16 

Dazu oben Kapitel XV. Jan A. Aersten, Art. „Transzendental II“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1360. 18  Dazu Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. 17 Vgl.

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XVII.

Nikolaus von Kues über das Begreifen des Unbegreiflichen Nikolaus von Kues, der bedeutendste und kraftvollste Denker der Renaissance, bestimmt Philosophie als das Begreifen des Unbegreiflichen. Denn Philosophie ist seit ihren griechischen Anfängen die denkende Suche nach dem Absoluten, das Grund und Ursprung alles Wirklichen ist. Weil das Absolute für Nikolaus aber über alles Begreifen hin­aus ist, darum kann die denkende Suche nach ihm nur als Begreifen des Unbegreiflichen gelingen. Cusa­nus steht damit in der Tradition des Neuplatonismus, der die Theorie des Absoluten in der Form der negativen Theologie ausgebildet hat. Grundlegend für die neuplatonische Form der negativen Theologie ist die Einsicht in die reine Transzendenz des Absoluten, das nicht nur alles Sein, sondern in einem damit auch alles Erkennen übersteigt. Darum nähert sich das Denken dem transzendenten Absoluten auch nicht begreifend, sondern gerade umgekehrt durch die Aufhebung alles Begreifens, nämlich dadurch, daß es das Absolute durch Verneinungen aus all jenen Bestimmungen herausnimmt, in denen das Denken das Seiende begreift. Damit wird das begreifende Denken aber nicht vernichtet, sondern es begreift gerade durch die Verneinung seiner eigenen Positivität die Transzendenz über alles Begreifen. Pseudo-Dionysius Areopagita, der für Cusa­nus neben Proklos der wichtigste Anreger überhaupt war, nannte dies ein „Wissen durch Nichtwissen“ (γνῶσις δι᾿ ἀγνωσίας, De divinis nominibus VII 4), das alles positive Wissen übersteigt. Johannes Eriugena, ebenfalls einer der wichtigsten Anreger des Cusa­nus, hatte vom „Begreifen des Unbegreiflichen“ gesprochen (Periphyseon III 4). Nikolaus nimmt diese neuplatonischen Formulierungen schon im Titel seiner ersten philosophischen Schrift auf, welche das „wissende Nichtwissen“, die docta ignorantia zum Thema hat. Deren Aufgabe ist es, wie gleich zu Anfang betont wird, das Absolute in seinem Hinaussein über alle Gegensätze „auf nicht-begreifende Weise einzusehen“ (incomprehensibiliter intelligere).1 Cusa­nus verbindet damit schon in De docta ignorantia das Programm einer Philosophie des Christentums, die sich nicht auf den subjektiven Glaubensvollzug, sondern auf die spekulative Vernunft stützt. 2 Ihr Ziel ist es, die zentralen 1 

Nikolaus von Kues, De docta ignorantia I cap. 4 Titel; cap. 5, nr. 13, 3. für mein Verständnis der Philosophie des Cusa­nus sind die Deutungen

2  Maßgebend

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Inhalte der christlichen Offenbarung – die Begründung der Welt durch den Einen Gott, die dreifaltige Einheit Gottes und seine Menschwerdung in Christus – aus dem spekulativen Tiefblick der Vernunft denkend einzusehen. Nikolaus folgt mit diesem Programm Meister Eckhart,3 der 1328 in Avignon als Ketzer verurteilt wurde; Cusa­nus dagegen wurde 120 Jahre später, 1448, Kardinal und wäre beinahe Papst geworden. Nikolaus’ Denken hat während seines ereignisreichen Lebens, das ihn von einem Winzerdorf an der Mosel ins Italien der Frührenaissance führte, mehrere Wandlungen durchgemacht.4 Ich analysiere es im Folgenden anhand eines Textes, der entwicklungsgeschichtlich seine letzte Stufe repräsentiert: De apice theoriae – Der Gipfel der Betrachtung.5 Es handelt sich um die letzte Schrift des Cusa­nus, in der der Kardinal auf seine Denkentwicklung zurückblickt und seine denkende Suche nach dem Absoluten resümiert. Nikolaus erhebt schon durch den Titel den Anspruch, eine letzte und höchste Einsicht mitzuteilen, die nicht mehr überboten werden kann. Dieser Text schließt die Entwicklung eines Denkens ab, das einen Höhepunkt metaphysischer Theoriebildung überhaupt bedeutet, der bleibende Faszination besitzt. von Kurt Flasch und Werner Beierwaltes: vgl. Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues; ders., Nikolaus von Kues; ders., Nicolaus Cusa­nus; Beierwaltes, Identität und Differenz, 105–175; ders., Eriugena, 266–312; ders., Platonismus im Christentum, 130–171; ders., Procliana, 165–222; ders., Fußnoten zu Plato, 143–229. Vgl. ferner Hans Gerhard Senger, Ludus sapientiae. Studien zum Werk und zur Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues, Leiden 2002. – Einen instruktiven Überblick über die moderne Interpretationsgeschichte des Cusa­nus gibt Hubert Benz, Individualität und Subjektivität. Interpretationstendenzen in der Cusa­nus-Forschung und das Selbstverständnis des Nikolaus von Kues, Münster 1999. 3 Vgl. dazu Kurt Flasch, Meister Eckhart. Philosoph des Christentums, München 2010. 4  Zur Spätphilosophie des Cusa­ nus ist außer den schon genannten Arbeiten von Kurt Flasch und Werner Beierwaltes maßgebend Dirk Cürsgen, Die Logik der Unendlichkeit. Die Philosophie des Absoluten im Spätwerk des Nikolaus von Kues, Frankfurt am Main 2007 (= Logik der Unendlichkeit); vgl. auch ders., „Die Metaphysik der Negativität und Identität bei Nikolaus von Kues“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 54 (2009), 341–369; vgl. ferner Rohstock, Der negative Selbstbezug des Absoluten. Vgl. zu De apice theo­r iae auch Alfons Brüntrup, Können und Sein. Der Zusammenhang der Spätschriften des Nikolaus von Kues, München/Salzburg 1972; Josef Stallmach, „Sein und Können selbst bei Nikolaus von Kues“, in: Kurt Flasch (Hg.), Parusia, 407–421 – auch in: Josef Stallmach, Suche nach dem Einen. Gesammelte Abhandlungen zur Problemgeschichte der Metaphysik, hg. von Norbert Fischer, Bonn 1982, 209–222. 5  Die maßgebliche historisch-kritische Ausgabe ist: Nicolai de Cusa, Opera omnia, vol. XII: De venantione sapientiae, De apice theoriae, ediderunt commentariisque illustraverunt Raymundus Klibansky et Iohannes Gerhardus Senger, Hamburgi 1982, 115–136. Siehe auch die ausführlich kommentierte zweisprachige Ausgabe: Nikolaus von Kues, De apice theoriae – Die höchste Stufe der Betrachtung. Auf der Grundlage des Textes der kritischen Edition übersetzt und mit Einleitung, Kommentar und Anmerkungen herausgegeben von Hans Gerhard Senger, Lateinisch-deutsch, Hamburg 1986 – Sengers Kommentar bietet die gründlichste vorliegende Analyse der Schrift.

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Entstanden ist die Schrift Vom Gipfel der Betrachtung in den Ostertagen des Jahres 1464 in Rom. Cusa­nus regierte damals als Legatus urbi in Abwesenheit des Papstes die ewige Stadt. Äußerlich war er damit auf dem Gipfel seiner Karriere, die den Sohn eines Moselschiffers zum Stellvertreter des Papstes aufsteigen ließ.6 Vier Monate später, am 11. August 1464, ist er in Todi in Umbrien gestorben, auf dem Weg zum Hafen von Ancona, von wo eine päpstliche Flotte zur Befreiung Konstantinopels von den Türken auslaufen sollte – das Unternehmen scheiterte kläglich, Papst Pius II., Nikolaus’ enger Freund Aenea Silvio Piccolomini, starb nur drei Tage nach seinem Kardinal.

1. Philosophie als Suche nach dem vor­aussetzungslosen Urgrund Die Schrift Über den Gipfel der Betrachtung ist ein Dialog zwischen dem Kardinal und seinem Sekretär Peter Wimmer aus Erkelenz. Wie die Dialoge Platons schildert sie ein Gespräch unter Ungleichen:7 Peter von Erkelenz dient dem Kardinal als Stichwortgeber für seine Gedankenentwicklung, der Fragen stellen und den zurückgelegten Weg des Gedankens zusammenfassen darf. Wie die begabten jungen Gesprächspartner des Sokrates in den Dialogen Platons wird er schrittweise zur Einsicht geführt, und wie sie vermag er auf den letzten Schritten dieses Weges nicht mehr recht zu folgen. Von einem Dialog Platons unterscheidet sich dieser des Kardinals aus Kues freilich dadurch, daß er die letzte Einsicht mitteilt, zu der das Denken des Cusa­nus gelangt war. Dagegen hatte Platon das Letzte und Höchste in keiner seiner Schriften, sondern nur in mündlicher ­Lehre mitteilen wollen (vgl. 7. Brief 341 C ff). Darin, was dieses Letzte und Höchste ist, stimmen Platon und Nikolaus von Kues aber grundsätzlich überein. Es ist der absolute Grund, der alles Sein und alles Denken erst ermöglicht und der selber eines ermöglichenden Grundes weder bedarf noch fähig ist (vgl. Politeia 508 E – 509 C, 510 B, 511 B, 533 B ff).8 Als absoluter Grund transzendiert er das Sein wie das Denken, er ist selbst „jenseits des Seins“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας), wie Platon gesagt hatte (Politeia 509 B). Platon 6 Vgl. zur Biographie des Cusa­nus Erich Meuthen, Nikolaus von Kues 1401–1464. Skizze einer Biographie, 5. Aufl. Münster 1982; ders., Die letzten Jahre des Nikolaus von Kues, Köln/Opladen 1958; Kurt Flasch, Nikolaus von Kues in seiner Zeit, Stuttgart 2004. Die umfassendste Darstellung ist immer noch Edmond Vansteenberghe, Le Cardinal Nicolas de Cues, Paris 1920, ND Frankfurt am Main 1963. 7  Daß Platons Dialoge durchgängig „Gespräche unter Ungleichen“ sind, hat Thomas Alexander Szlezák gezeigt, vgl. bes. Platon und die Schriftlichkeit der Philosophie und Platon lesen. 8  Zu Platons Philosophie und speziell zu seinem Begriff des absoluten Grundes bleibt unentbehrlich Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles sowie Gesammelte Aufsätze zu Platon. Dazu auch oben Kapitel III und Teil II ganz.

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hatte diesen absolut transzendenten Grund „das Eine selbst“ (αὐτὸ τὸ ἕν) genannt,9 Cusa­nus nennt ihn in unserer Schrift „das Können selbst“ (posse ipsum). Das Thema des Gesprächs zwischen Nikolaus und Peter ist also der absolute Grund. Aufschlußreich für die Philosophie des Cusa­nus ist die Art, wie dieses Thema am Beginn des Gesprächs eingeführt wird. Peter findet seinen Kardinal in tiefe Kontemplation versunken und fragt ihn, was er denn suche: quid quaeris? Darauf antwortet Nikolaus: „das sagst du ganz richtig“ (De apice theoriae nr. 1–2). Auf die Frage, was gesucht werde, lautet die Antwort: eben das. Die natürlich beabsichtigte Verblüffung löst sich dadurch, daß das, was gesucht wird, eben das Was (quid) selber ist, die „Washeit“ (quiditas) als das letzte und eigentlichste Wesen aller Dinge (ebd. nr. 2). Dieses Wesen aller Dinge ist ihr allumfassender Grund, der alles und jedes zu dem macht, was es jeweils ist (vgl. ebd. nr. 4–7). Der Grund und das Wesen aller Dinge ist aber nicht etwas, nach dem man suchen und fragen kann wie nach diesem oder jenem in der Welt, wie dem Wesen des Menschen oder der gerechten Ordnung des Staates. Es ist vielmehr dasjenige, was in allem Fragen und Suchen selber immer schon vor­ausgesetzt wird, weil es auch das Fragen als solches allererst ermöglicht. Die Frage nach dem Absoluten ist darum die Frage nach dem, was in der Frage selber schon vor­ausgesetzt ist, weil es das Fragenkönnen selbst ermöglicht. Sie ist die Frage nach der Bedingung des Fragenkönnens, die jede Frage schon vor­aussetzt (vgl. ebd. nr. 13). Insofern jedes Fragen immer danach fragt, was das Gefragte ist, ist eben das Was das in allem Fragen Vorausgesetzte, die Bedingung des Fragens und zugleich das in allen Fragen eigentlich Gefragte und Gemeinte. Damit wissen wir freilich noch nicht, was das Was selbst oder die Washeit denn ist. Wir wissen nur, daß sie nicht das Was dieses oder jenes Bestimmten sein kann. Das Was selbst ist dasjenige, was das Wesen oder die Bestimmtheit alles Bestimmten überhaupt ermöglicht (vgl. ebd. nr. 4). Cusa­nus erklärt uns, es sei schon immer und von allen Denkenden gesucht, aber niemals gefunden worden, auch wenn alle es von Ferne gesichtet hätten (ebd. nr. 3). Denn es ist kein bestimmtes Etwas (aliquid), das gefunden und begriffen werden kann, sondern der Grund aller Bestimmtheit, der eben als Grund alle Bestimmtheit übersteigt. Er liegt all unserem Fragen und Suchen gleichsam im Rücken. Wir wenden uns ihm zu, wenn wir die Blickrichtung unseres Suchens umkehren und nach dem fragen, was im Suchen und Fragen selbst vor­ausgesetzt wird. Aus dieser Umkehr der Blickrichtung gewinnt Cusa­nus auch seine Antwort: die Bedingung allen Fragens ist das Fragenkönnen und das Fragenkönnen wiederum setzt das Können selbst vor­aus (ebd. nr. 13, 5 ff). Darum ist das Können selbst, posse ipsum, die gesuchte Washeit, der Ur-Grund (primum principium) aller Dinge (ebd. nr. 4, 10–15; vgl. nr. 6–7). 9 Vgl. z.B. die Platon-Referate bei Aristo­ teles, Metaphysik 1091 b 13–15; Eudemische Ethik 1218 a 17–33; Speusipp bei Proklos, In Parm. VII 40, 1–10 (Test. Plat. 50).

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Diese Weise, in der Cusa­nus sein Thema einführt, zeigt uns seinen Begriff von Philosophie und damit zugleich die Tradition, in der er denkt. Der Kardinal fragt nicht etwa: „was ist Gott?“ und prüft dann verschiedene Gottesbegriffe. Er fragt nicht einmal direkt nach dem Urgrund des Seins, sondern er fragt nach dem, was im Fragen selber vor­ausgesetzt und insofern selber fraglos und zweifelsfrei gewiß ist.10 Philosophie ist für Nikolaus die denkende Untersuchung der Voraussetzungen unseres Denkens. Sie sucht nach dem, was in all unserem Denken so vor­ausgesetzt wird, daß wir nicht umhin können, es vor­ auszusetzen, und zwar so, daß dieses unabdingbar Vorausgesetzte selber nichts anderes mehr vor­aussetzt.11 Das unabdingbar und unhintergehbar Vorausgesetzte ist also das selber schlechthin Voraussetzungslose, das Un-Bedingte und Absolute, das wir nicht wegdenken können, weil wir ohne es überhaupt nicht denken können (ebd. nr. 13). Philosophie ist so verstanden die Suche nach dem vor­aussetzungslos Absoluten: dem ἀνυπόθετον. Dieser Begriff von Philosophie stammt von Platon (vgl. vor allem Politeia 511 B ff).12 Nikolaus übernimmt von Platon aber nicht nur die Bestimmung der Philosophie als Suche nach dem Anhypotheton, sondern auch die spezifische Methode und Vollzugsform dieser Suche. Die Methode, mit der das Absolute gesucht werden muß, ist die Untersuchung der Voraussetzungen unseres Denkens und Fragens. Voraussetzung heißt griechisch ὑπόθεσις – was mit unserem modernen 10 Vgl. De apice theoriae nr. 13, 5–17: „Nam cum posse ipsum omnis quaestio de potest praesupponat, nulla dubitatio moveri de ipso potest … Et ita posse ipsum omnem quae potest fieri dubitationem antecedere constat. Nihil itigur certius eo, quando dubium non potest nisi praesupponere ipsum.“ 11 Vgl. ebd. nr. 6, 14–23: „Praesupponit enim omnis potens posse ipsum adeo necessarium, quod penitus nihil esse possit eo non praesuppositio … sic nec prius nec fortius nec solidius nec substantialius nec gloriosius, et ita de cunctis. Carens autem ipso posse nec potest esse nec bonum nec aliquid quodcumque esse potest.“ Ebd. nr. 19, 1: „Nihil potest esse prius ipso posse.“ 12  Cusa­nus kannte die oben im Text genannten Schlüsselpassagen bei Platon nicht aus unmittelbarer eigener Lektüre – aber er war mit ihnen gleichwohl bestens vertraut, und zwar durch Proklos, der alle genannten Texte Platons in extenso zitiert und ausführlich kommentiert, vor allem in seinem Kommentar zu Platons ‚Parmenides‘ und seiner Platonischen Theologie, die Cusa­nus beide bestens kannte und die er mit zahlreichen für sein eigenes Denken und sein Platonverständnis gleichermaßen aufschlußreichen Randnotizen versehen hat. Siehe die Edition dieser Randnotizen: Cusa­nus-Texte. III. Marginalien – 2. Proclus Latinus. Die Exzerpte und Randnotizen des Nikolaus von Kues zu den lateinischen Übersetzungen der Proclus-Schriften. 2.1. Theologia Platonis – Elementatio theologica, hg. und erläutert von Hans Gerhard Senger, Heidelberg 1986; 2.2. Expositio in Parmenidem Platonis, hg. von Karl Bormann, Heidelberg 1986. – Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Platonforschung der „Tübinger Schule“ die seit dem 18. Jahrhundert beliebte Entgegensetzung zwischen Platon und seiner angeblichen „Umdeutung“ durch die Neuplatoniker definitiv obsolet gemacht hat. Vor diesem Hintergrund muß die Platondeutung des Proklos wenigstens in allen grundsätzlichen Aspekten als eine historisch und sachlich hochgradig akkurate und angemessene Interpretation gelten. Cusa­nus verfügte also über ein durchaus fundiertes Platonverständnis.

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Begriff von „Hypothese“ allerdings nichts zu tun hat –, Philosophie ist also Hypothesis-Forschung (vgl. Platon, Politeia 511 B ff, 533 B ff; Phaidon 99 E ff, 101 DE). Das setzt jene eigentümliche Umwendung der Blickrichtung vor­aus (Phaidon 99 DE, Politeia 518 CD), mit der Nikolaus seinen Gesprächspartner verblüfft: die Abwendung des Denkens von seinem unmittelbaren Weltbezug und seine Zuwendung zu sich selbst ist der Abschied von der Naivität unserer Befangenheit in der Welt – dies ist das Grundmotiv von Platons „Höhlen­gleichnis“. Das Absolute ist kein Seiendes in der Welt, kein Ding, das sich wie ein Gegenstand intendieren und begreifen läßt; wir finden es nicht als ein Anderes außer uns, sondern wir finden es nur in uns selbst, als den Grund unseres Denkens. Die Vollzugsform, in der wir uns dem vor­aussetzungslosen Urgrund nähern, ist das Hinausgehen über alle Inhalte, die das Denken in seiner Zuwendung zu sich selbst in sich findet, die aber nicht absolut sind und von denen das Denken darum absehen kann – also das Hinausgehen des Denkens über alle bestimmten Inhalte, denn das Denken vermag von jeder Bestimmtheit abzusehen (vgl. Parmenides 137 C – 142 A; Politeia 534 BC; Test. Plat. 50). Wir nähern uns dem Absoluten also durch Negation, durch die Wegnahme aller Inhalte und Bestimmungen. Der traditionelle Name dafür ist negative Theologie. Platon sprach vom „Übersteigen“ oder „Transzendieren“ (ἐκβαίνειν) aller Voraussetzungen, wodurch das Anhypotheton berührt wird (Politeia 511 A 5 f mit B 6 f). Cusa­nus spricht von einem Sehen des Geistes, das sich über alles Begreifen zum Sehen des Unbegreiflichen erhebt.13 Das Absolute ist der Grund aller Inhalte unseres Begreifens, der sie alle erst ermöglicht und genau darum selbst kein begreifbarer Inhalt sein kann. Philosophie ist so die Suche nach dem Absoluten im Transzendieren aller besonderen Inhalte, welche das Denken in der Zuwendung zu sich selbst in sich findet, der Überstieg des Denkens in sich selbst über sich selbst.14

2. Das Absolute als das Können selbst Folgen wir Nikolaus nun in der Entfaltung seiner Theorie des absoluten Könnens. Cusa­nus präsentiert uns seine Einsicht, die absolute Voraussetzung des Denkens und aller seiner Inhalte sei das Können selbst, nicht so, als ob die Philosophie damit neu anfinge. Seine Könnensmetaphysik artikuliert vielmehr zugleich ein explizites geschichtliches Selbstverständnis.15 Sie bezieht sich bewußt auf Platon, auf seine Methode der Hypothesis-Forschung und seine Einsicht 13 Ebd. nr. 10, 20–11, 3: „Posse igitur videre mentis excellit posse comprehendere. Unde simplex visio mentis non est visio comprehensiva, sed de comprehensiva se elevat ad videndum incomprehensibile.“ 14 Vgl. dazu oben Kapitel II und III. 15 Vgl. zu Nikolaus’ Traditionsbezug, speziell im Blick auf den Neuplatonismus, Werner

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in die Transzendenz des absoluten Grundes (De apice theoriae nr. 6, 14 ff; nr. 9–10). Pseudo-Dionysius Areopagita, die Bibel der negativen Theologie, wird als entscheidende Quelle der Inspiration genannt (ebd. nr. 8, 6 ff). Nikolaus zitiert auch Aristo­teles, der gesagt hatte, das Wesen – die οὐσία – sei das von allen Denkern immer schon Gesuchte, und es bleibe auch immer ein Gesuchtes (ebd. nr. 3, 4 f; Aristo­teles, Metaphysik 1028 b 2–4). Diesen berühmten Satz, mit dem Aristo­teles seine Analyse des Wesens beginnt, interpretiert Nikolaus freilich als das Eingeständnis des Scheiterns der Aristotelischen Substanzontologie, die das Wesen der Dinge in ihrer definierbaren Bestimmtheit gegenständlich begreifen wollte. Aristo­teles kam so zu vielen verschiedenen Wesenheiten, die jeweils in den Dingen selbst gegenwärtig sind – das Wesen des Menschen ist eben ein anderes als das Wesen des Ochsen oder der Giraffe. Dagegen geht es Nikolaus um das Eine Wesen aller Dinge, das als absoluter Grund alles übersteigt (ebd. nr. 4, 1–8); für ihn hat darum Aristo­teles nicht gefunden, was er eigentlich suchte, die ursprunghafte Washeit selbst. Gleichwohl hatte er sie im Blick, wenn er nach dem Wesen fragte.16 Das Absolute, das Können selbst, haben alle Denkenden immer im Blick, weil es die Voraussetzung ihres Denkenkönnens ist (vgl. ebd. nr. 11, 12 ff). Aber kein früherer Denker hat wirklich verstanden, wie dasjenige vom Denken gesehen werden kann, was als Prinzip des Denkens alles Sehenkönnen des Geistes zugleich ermöglicht und übersteigt (vgl. ebd. nr. 10, 11–18). Wer dies begreift, der begreift das Unbegreifliche in seiner Unbegreiflichkeit. Genau das zu leisten, beansprucht die Theorie des absoluten Könnens. Darum ist sie der Gipfel der Theoria, des Sehens des Geistes. Und mit diesem Gipfel beansprucht Nikolaus, alle früheren Denker zu überbieten. Er gibt in diesem Zusammenhang einen aufschlußreichen Rückblick auf seine eigene Denkentwicklung. Seit langem habe er eingesehen, so schreibt er, daß man das Absolute jenseits aller Erkenntniskraft vor aller Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit suchen müsse (ebd. nr. 4, 1 ff). Was einen Gegensatz hat und von anderem verschieden ist, kann nicht der Grund von allem sein; es ist immer nur ein bestimmtes Seiendes, das durch seine Verschiedenheit von seinem Gegenteil begrenzt, also endlich ist. Alles begreifende Erkennen bewegt sich in diesem Verhältnis der Gegensätze; wir begreifen etwas nämlich dadurch, daß wir es von seinem Gegenteil abheben und unterscheiden. Das Absolute aber ist das Eine, das alles begründet, auch das Entgegengesetzte, und alle Gegensätze zur umfassenden Einheit eines Ganzen, des Universums zusammenschließt; es muß darum im Hinausgehen über alle Gegensätze gesucht werden; wenn sich ihm irgendetwas entgegensetzen läßt, ist es nicht das Absolute. Dies Beierwaltes, „Nicolaus Cusa­nus: Innovation durch Einsicht in die Überlieferung. Paradigmatisch gezeigt an seinem Denken des Einen“, in: ders., Procliana, 166–189. 16 Vgl. auch die Aristo­teles-Kritik des Cusa­nus in De beryllo cap. 29. Zu Nikolaus’ Kritik am Substanzbegriff siehe Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, 276 ff.

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ist die Grundlage des Cusanischen Denkens, wie sie die ­Lehre von der coincidentia oppositorum, dem Ineinsfall der Gegensätze, formuliert.17 Cusa­nus akzentuiert die Koinzidenzlehre hier so, daß es zuletzt nicht um die Einheit der Gegensätze, sondern um die Transzendenz über alle Gegensätze geht; das Absolute ist nicht das eine und das andere, sondern über beide hin­aus.18 Nikolaus betont damit die negative Theologie. Aber er relativiert sie zugleich durch seine Deutung seiner eigenen Denkentwicklung. Er schreibt, früher habe er die Wahrheit eher im Dunkel des Unbegreiflichen gesucht. Dann aber habe er verstanden, daß sie sich zeigt, und zwar nicht in diesem oder jenem, sondern in allem; wer das begreift, der findet die Wahrheit leicht und kann sie gar nicht verfehlen (ebd. nr. 5, 13–18). Nikolaus verweist auf sein Buch über den Laien, in dem er geschrieben hatte, daß die Wahrheit in den Straßen ruft,19 und er betont die Leichtigkeit der Wahrheit: „Ganz sicher zeigt sie sich von überall her als leicht zu finden.“ (Ebd. nr. 5, 17 f) Der Denkweg des Cusa­nus führt also von der Unbegreiflichkeit des Absoluten zu dessen Sichzeigen in allem, was ist. Dies ist nicht unsere, sondern Nikolaus’ eigene Beschreibung seiner Denkentwicklung. Was sich uns zeigt, in der ganzen bunten Vielfalt der Welt wie in der Kraft unseres eigenen Geistes, der diese bunte Vielfalt denkend umfaßt und vereinigt, ist nicht ein Schleier, der das Absolute, den Grund von allem, verhüllt und verbirgt, sondern was sich uns zeigt ist eben die Macht oder das Können des absoluten Grundes selbst. Wäre es anders, wäre die Welt nicht das Sichzeigen, sondern die Verhüllung des Absoluten, dann wäre das Absolute ohnmächtig, und dann wäre es auch nicht der Grund von allem. Alles, was ist, und alles, was wir denken können, ist nur und kann nur gedacht werden durch die Macht des Einen. Denn wir können nur denken, indem wir das, was wir denken, immer schon als Einheit denken. Jede Bestimmung unseres Denkens und jeder Inhalt der Welt setzt das Eine schon vor­aus. Zugleich ist jede Denkbestimmung und jeder Weltinhalt das, was er jeweils ist, nur dadurch, daß er das Eine ins Viele entfaltet. Alle Denkbestimmungen und alle Weltinhalte sind also nichts anderes als Entfaltungen des absoluten Einen. Wenn wir das einsehen, dann sehen wir in allen Denkbestimmungen und allen Weltinhalten nur noch das sie alle ermöglichende Eine. 20 Wir sehen, wie das Eine sich in allem zeigt und dabei durch alle

17 Vgl. De docta ignorantia I cap. 2–6. Grundlegend und unentbehrlich für die Koinzidenzlehre bleibt Flasch, Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues, 155–232. 18 Vgl. in genau diesem Sinne auch schon De coniecturis I cap. 5, bes. nr. 21. 19  Idiota de sapientia I 3. Zur Bedeutung dieser Wendung im Denken des Cusa­nus vgl. Flasch, Nikolaus von Kues, 251 ff. 20 Vgl. z.B. schon De coniecturis II cap. 1, nr. 71: „Omnia autem participatione unius id sunt quod sunt. Ipsum vero, cuius participatio est omnium pariter et singulorum esse, in omnibus et in quolibet suo quidem modo resplendet. Quapropter non habes alia consideratione opus, nisi ut in diversitate rerum a te indagandarum identitatem inquiras aut in altertiate unitatem.“

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Inhalte der Welt und des Denkens hindurchwandert, so daß wir in allem, auch in allen Gegensätzen, nur noch das Eine sehen. Diese Einsicht in das Sichzeigen des göttlichen Einen hatte Cusa­nus in seinen Schriften seit 1450 immer deutlicher herausgearbeitet, angefangen von den drei Dialogen Über den Laien. Der Gipfel der Betrachtung schließt diese Denkentwicklung ab, weil er das Sichzeigen des Absoluten durch einen Gedanken von höchster Einfachheit einsichtig macht. Dies ist der Gedanke des Könnens. Wenn alles, was ist und gedacht werden kann, das Eine vor­aussetzt, das alles erst ermöglicht, dann ist das alles ermöglichende Eine das reine oder absolute Können. Denn Können bedeutet keine passive, bloße Möglichkeit, sondern die tätige Kraft oder Mächtigkeit, die etwas ermöglicht. Zugleich ist Können reines Sichzeigen; es zeigt sich nämlich in dem, was es kann; zeigte es sich nicht, so wäre es kein Können, sondern Unvermögen, Ohnmacht. Die Macht des Könnens zeigt sich in allem, und zwar als das eigentliche Wesen von allem. Cusa­nus bestreitet nicht, daß das Wesen des Menschen etwas anderes ist als das Wesen des Ochsen. Aber er zeigt uns, daß sie gerade in ihrer Verschiedenheit etwas vor­aussetzen, das nicht mehr verschieden ist. Menschsein ist etwas anderes als Ochsesein, aber beide sind nur möglich, weil sie jeweils einheitliche Bestimmungen sind. Diese Einheit, die sie in ihrer Verschiedenheit erst ermöglicht, ist ihr Können. Und dieses Können selber ist nicht verschieden im Menschen und im Ochsen. Weil das Können als die ermöglichende Einheit den Menschen zum Menschen und den Ochsen zum Ochsen macht, ist es das eigentliche Wesen von beiden, das sich im Menschen wie im Ochsen zeigt; es zeigt sich in ihnen in verschiedener Weise, ist aber selbst nicht verschieden. So betrachtet haben die verschiedenen Dinge keine verschiedenen Wesenheiten, sondern in allen zeigt sich dasselbe einheitliche Wesen, nämlich das Können als die alles ermöglichende Einheit (ebd. nr. 14, 19–29). Das Können des einen ist nicht verschieden von dem Können des anderen, insofern beide Können sind. Das reine Können, das Können allen Könnens, der absolute Einheitsgrund, der alle Inhalte ermöglicht, ist dann das Können selbst (ebd. nr. 6–7; Memoriale I–II). Es zeigt sich in allem und ist darum ganz leicht zu finden. Es ist für Cusa­nus die einfachste und zutreffendste Bezeichnung des Absoluten, eben weil nichts einfacher und zutreffender sein kann als das Können selbst, das alles Können ermöglicht (ebd. nr. 5, 1–9). Die Könnensmetaphysik schließt den Cusanischen Denkweg von der Unbegreiflichkeit des Absoluten zu dessen Sichzeigen ab. Sie zeigt zugleich, daß wir Nikolaus mißverstehen, wenn wir meinen, daß das Sichzeigen des Absoluten seine Unbegreiflichkeit aufhebt. Das absolute Eine, das Können selbst, zeigt sich in allem, was wir begreifen können; aber es wird dadurch nicht selbst begreifbar, es macht sich nicht zu einem bestimmten Inhalt, den wir begreifen könnten, sondern bleibt selber unbegreiflich. 21 Es zeigt sich in allem, was ist, 21 Vgl.

De apice theoriae nr. 19, 2–9: „Sic nihil ipso posse potest esse melius, potentius,

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aber es wird dadurch kein Seiendes, sondern bleibt jenseits der Alternative von Sein und Nicht­sein das Überseiende. 22 Die Einsicht in die Transzendenz des Absoluten über alles Begreifen bleibt darum die Grundlage der Cusanischen Philosophie. Sie ist der Ausgangspunkt seines Denkens, der durch dessen weitere Entwicklung nicht dementiert wird. Nikolaus macht das deutlich, indem er das absolute Können mit dem Licht vergleicht (ebd. nr. 8–11) und dabei Platons „Sonnengleichnis“ aufnimmt. Licht ist reines Sichzeigen: es macht alles Sichtbare sichtbar; das Sichtbarmachen ist das Wesen des Lichts. Alles Sichtbare ist durch das Licht sichtbar, weil das, was wir sehen, die Farben, eigentlich Licht ist, und zwar gebrochenes, eingeschränktes Licht. Insofern ermöglicht das Licht nicht nur Sehen und Sichtbarkeit, sondern in allem Sichtbaren sehen wir eigentlich immer nur das Licht, das sich in ihm zeigt. Gleichwohl sehen wir das Licht selbst niemals wie einen sichtbaren Gegenstand; das reine Licht bleibt in allem Gesehenen selbst unsichtbar. Es zeigt sich, aber dabei zeigt es gerade seine Unsichtbarkeit. Es ermöglicht Sichtbarkeit nämlich genau durch seine eigene Unsichtbarkeit. Würde es selbst sichtbar, wäre es nicht mehr das Licht selbst, sondern nur noch eine bestimmte Farbe. Also sehen wir in allem Sichtbaren zwar nichts als das Licht, aber wir sehen es nicht so, wie wir etwas Sichtbares sehen, sondern wir sehen es nur dadurch, daß wir durch alles Sichtbare gleichsam hindurchsehen auf das unsichtbare Licht, das es sichtbar macht. Es zeigt sich am Sichtbaren so, daß das Sichtbare durchsichtig ist auf seinen unsichtbaren Grund (De apice theoriae nr. 8, bes. 16–27). Anders als durch diese Durchsichtigkeit des Sichtbaren auf das Unsichtbare können wir das Licht nicht sehen. Ebenso schaut unser Geist das Können selbst, das unbegreifliche Absolute, in seiner Unbegreiflichkeit, wenn wir einsehen, daß das absolute Können in allem erscheint, was ist und von uns begriffen wird, aber so, daß keine dieser Erscheinungen das absolute Können selbst ist, weil „Es selbst“ alle seine Erscheinungen transzendiert. Wenn wir das einsehen, dann zeigt sich uns die Welt als das Erscheinen des Absoluten, das in ihr so erscheint, daß die Erscheinung durchsichtig ist auf die Transzendenz ihres nicht-erscheinenden Grundes, der gerade dadurch, daß er selbst nicht erscheint, alle Erscheinungen ermöglicht (ebd. nr. 10). Wer das begreift, der begreift das Unbegreifliche auf nicht-begreifende Weise. Und das zu begreifen ist der Gipfel der Theorie, es einzusehen ist die Vollendung des intellektuellen Sehens (ebd. nr. 11). perfectius, simplicius, clarius, notius, verius, sufficientius, fortius, stabilius, facilius, et ita consequenter. Et quia posse ipsum omne posse cum addito antecedit, non potest nec esse nec nominari nec sentiri nec imaginari nec intelligi. Omnia enim talia id, quod per posse ipsum significatur, praecedit.“ 22 Ebd. nr. 8, 1–3: „Hinc posse ipsum est omnium quiditas et hypostasis, in cuius potestate tam ea quae sunt quam quae non sunt necessario continentur.“ Vgl. nr. 13, 9 f: „Qui enim quaereret an posse ipsum sit, statim, dum advertit, videt quaestionem impertinentem.“

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3. Könnensmetaphysik als Geistmetaphysik Wieso ist diese Theorie des Könnens zugleich eine Theorie des Geistes? Das griechische Wort θεωρία bedeutet Sehen, und zwar das Sehen des Geistes, visio mentis. Der Gipfel der Theoria ist dasjenige Sehen, durch das der Geist seinen unsichtbaren Grund so sieht, daß er nicht gesehen wird. Mit seiner Formulierung vom apex theoriae nimmt Cusa­nus eine neuplatonische Konzeption auf, die in der mittelalterlichen Mystik eine zentrale Rolle gespielt hatte. Proklos hatte den Einheitsgrund in unserem Denken, in den das Denken alle Vielheit seiner Inhalte zurücknimmt, um sich selbst zu übersteigen, „das Eine in uns“ genannt und ihn auch als „Gipfel der Seele“ (ἀκρότατον τῆς ψυχῆς) und „Blüte des Geistes“ (ἄνθος νοῦ) bezeichnet. 23 In der mittelalterlichen Mystik wurde apex mentis zum festen Terminus für das Geistesvermögen, mit dem wir Gott schauen und uns mit der reinen Gottheit vereinigen. 24 Cusa­nus geht es in seiner Könnensmetaphysik aber nicht um eine Theorie der Mystik, 25 sondern um eine Theorie des Geistes, der mens, und ihres Sehens. Er hatte seit langem, spätestens seit seiner Schrift Über die Mutmaßungen, 26 eingesehen, daß wir eine Philosophie des Absoluten nur so entwickeln können, daß sie zugleich eine Philosophie des Geistes ist. Das ist die Konsequenz aus der Platonischen Bestimmung von Philosophie als Zuwendung des Denkens zu seinen eigenen Voraussetzungen. Die Metaphysik des Könnens ist darum zugleich eine Metaphysik der mens; sie begreift die mens als das Sichzeigen des absoluten Könnens in seiner Unbegreiflichkeit. Das Sehen des Geistes ist sein denkendes Begreifen. Begreifen können wir entweder diskursiv, schlußfolgernd und argumentierend, indem wir von einem Gedanken übergehen zum anderen; dabei zerlegen wir das, was wir begreifen wollen, in seine Aspekte, die wir nacheinander durchlaufen. Begreifen können wir aber auch intuitiv, indem wir das Begriffene auf einmal, mit einem einziges Schlag als Ganzes einsehen. Einsicht meint genau dieses In-Eins-Sehen des Ganzen, das lateinisch intellectus und griechisch νοῦς heißt. Erst dieses intuitive In-Eins-Sehen ist wirklich ein Sehen des Geistes, weil Sehen immer intuitiv ist – erst dies ist Theoria im antiken Sinne: anschauendes Denken. 27 Nun ist begreifendes Sehen immer ein Einsehen von etwas, das sich unserem Geist präsen23 Vgl.

Beierwaltes, Proklos, 367–382 mit Belegen. Zur Herkunft des Gedankens von Plotin und Porphyrios vgl. Rist, „Mystik und Transzendenz“. 24 Vgl. dazu Endre von Ivánka, Plato Christianus, 315–338. 25  Eine solche entwickelt er freilich in De visione Dei. Vgl. dazu Werner Beierwaltes, Visio facialis – Sehen ins Angesicht. Zur Coincidenz des endlichen und unendlichen Blicks bei Cusa­nus, München 1988 – auch in: ders., Fußnoten zu Plato, 181–229. 26 Vgl. dazu Burkhard Mojsisch, „Nikolaus von Kues: De coniecturis“, in: Kurt Flasch (Hg.), Interpretationen: Hauptwerke der Philosophie. Mittelalter, Stuttgart 1998, 470–486. 27  Dazu auch oben Kapitel XIII.

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tiert und gesehen wird. Begreifen ist immer gegenständlich; es ist niemals ohne Begriffenes. Von diesem begreifenden Sehen von Gegenständen unterscheidet Cusa­nus ein nicht-begreifendes, ungegenständliches Sehen des Geistes, das alles begreifende Sehen selber erst ermöglicht (De apice theoriae nr. 10, 15–11, 7). Alles begreifende Sehen von etwas setzt nämlich das Sehen-Können (posse videre) vor­aus, das ein Sich-Richten aufs Sehen ist, eine bloßes Sichten (a remotis videre) oder Vorblicken (praevidere), aber noch kein Gesehen-Haben von etwas wie das begreifende Sehen. Dieses ursprüngliche Sehenkönnen ermöglicht allererst das begreifende, gegenständliche Sehen, ist aber selber noch kein Begreifen, sondern ungegenständlich. Es ist wie das Sehen des Lichtes, ein einfaches Innesein der Helle, noch bevor wir etwas Bestimmtes artikuliert wahrnehmen. Dieses Innesein der Helle ist uns beim artikulierten Sehen horizonthaft immer mitgegenwärtig, aber wir achten gewöhnlich nicht darauf, weil unsere Aufmerksamkeit auf das gegenständlich Gesehene konzentriert ist. Wie das Innesein der Helle, das alles Sehen von etwas erst ermöglicht, ist das Sehenkönnen des Geistes ungegenständlich, es ist also kein Sichrichten auf etwas, auf einen bestimmten Gegenstand, sondern gerade als unbestimmtes Sichrichten reine Intention auf das Absolute, das Können selbst, das als Ungegenständliches und Überseiendes alles bestimmte Seiende, auf das man sich gegenständlich richten kann, erst ermöglicht. Das ursprüngliche Sehenkönnen des Geistes, die allem aktuellen Sehen vor­ausgehende reine Sehintention, ist darum ein nicht-begreifendes Sehen des Absoluten; weil es nicht von einem gesehenen Gegenstand bestimmt und begrenzt wird, ist es unbestimmt und unendlich (interminatum) wie das absolute Können selbst (ebd. nr. 11, 8–23). Der Geist sieht das absolute Können selbst in seiner Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit, wenn er sein artikuliertes, begreifendes Sehen zurücknimmt ins unendliche reine Sehenkönnen. Am reinen Sehenkönnen geht ihm auf, daß das Können selbst alles Sehenkönnen übersteigt, weil es auch das Sehenkönnen erst ermöglicht, von diesem also schon vor­ausgesetzt wird. In seiner Transzendenz wird das Absolute nur so gesehen, daß es nicht gesehen wird;28 darum bestimmt und begrenzt es die Sehintention auch nicht wie ein gesehenes Etwas, sondern läßt sie unendlich sein; dies ist der höchste Akt des Sehens, in ihm erfüllt sich die auf das Absolute gerichtete Intention des Geistes (mentis desiderium) in einem Sehen, das ein nicht-gegenständliches Sehen dessen ist, was alles Sehen übersteigt (ebd. nr. 11, 8–11 mit 23–26). Dieses nicht-begreifende Sehen des Absoluten ist ein mystischer Akt, aber es vollzieht sich zugleich am begreifenden Sehen des Seienden, so wie uns das Sehen des Lichts aufgeht am Sehen des Sichtbaren. Die Voraussetzung dafür ist, daß der Geist seine Aufmerksamkeit von dem ge28  De apice theoriae nr. 10, 11–18: „Sed in se posse ipsum supra omnem potentiam cognitivam, medio tamen intelligibilis posse, videtur verius, quando videtur excellere omnem vim capacitatis intelligibilis posse … Quando igitur mens in posse suo videt posse ipsum ob suam excellentiam capi non posse, tunc visu supra suam capacitatem videt.“

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genständlich Gesehenen und Begriffenen abwendet und sie auf sich selbst und die Voraussetzung seines Sehens und Begreifens konzentriert. Dann begreift er, daß er in allem nur das reine Können sieht, das in allem Seienden so erscheint, daß die Erscheinung zugleich durchsichtig ist auf die Transzendenz des überseienden Könnens selbst, so wie das Licht in allem Sichtbaren unsichtbar erscheint, so daß das Gesehene durchsichtig wird auf seinen unsichtbaren Grund. Das absolute Können erscheint in allem, also auch im Geist. Im Sehenkönnen des Geistes zeigt sich das Können selbst aber auf ganz besondere und einzigartige Weise (maxime se manifestat). Im unbestimmten und unendlichen Sehenkönnen manifestiert sich das absolute Können in seiner Übergegenständlichkeit, Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit (ebd. nr. 11, 8–11). In allen anderen Erscheinungen zeigt sich zwar auch das reine Können, aber in keinem Weltinhalt erscheint es so, daß es zugleich seine Unbegreiflichkeit, seine Transzendenz über alles Erscheinen manifestiert. Allein im Können des Geistes manifestiert sich das Können selbst in seiner Unendlichkeit. Weil alle Weltinhalte endlich sind, erscheint das absolute Können in ihnen nur so, daß es durch sie hindurchgeht, ohne in einem von ihnen zu bleiben. Im Können des Geistes dagegen, der alle Weltinhalte begreift und zugleich von ihnen allen absehen kann und genau darum selber kein bestimmter Weltinhalt ist, erscheint das absolute Können auf unvergängliche und bleibende Weise (ebd. nr. 23). Der Geist sieht in seinem Sehenkönnen das Können selbst als seinen Grund; darum bleibt das absolute Können in ihm und wandert nicht durch ihn hindurch wie durch alle Weltinhalte. Das Erscheinen des Absoluten in der Welt ist sein Erscheinen für den Geist, der in den Erscheinungen das Sichzeigen des Absoluten sieht. Der Geist ist darum der Zweck der gesamten Weltveranstaltung: „So besteht alles um des Geistes willen, der Geist aber, um das Können selbst zu sehen“ (Sic omnia propter mentem et mens propter videre posse ipsum, ebd. nr. 22, 6–8). Der Zweck der Welt ist das Erscheinen des Absoluten für den Geist, und zwar in der Selbsterkenntnis des Geistes. 29 Der Geist sieht in sich selbst die Welt als das Erscheinen des Absoluten. Dazu bedarf es der Umwendung des Blicks, weg vom naiven, unmittelbaren Weltbezug, der in den Dingen nur die Dinge sieht, und hin zu sich selbst und seinem Grund. Durch diese Blickwendung sieht der Geist in seinem Können das Können selbst. Zugleich sieht er, daß er nicht selbst das absolute Können ist, denn er ist nicht allmächtig, und damit sieht er sich selbst als das Bild (imago) des absoluten Könnens, in dem dieses so erscheint, daß es zugleich die Welt als sein eigenes Erscheinen (apparitio) weiß (ebd. nr. 24). Als Bild des absoluten Könnens ist der Geist keine Erscheinung neben anderen Erscheinungen, sondern er ist ein Erscheinen, das sich als Erscheinen selbst weiß. Genau darum ist es unvergänglich. Denn das Erscheinen und Sichzeigen ist das eigenste Wesen des Könnens selbst, zu dem darum sein Bild, der Geist, für den 29 Vgl.

ebd. nr. 24, 2: „Videt igitur mens se.“

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das Können erscheint, wesentlich dazugehört. So ist die Metaphysik des Könnens als solche eine Metaphysik der mens.

4. Philosophie des Christentums? In De apice theoriae fehlen auf den ersten Blick zwei Themen, die für Cusa­nus’ Programm einer Philosophie des Christentums zentral sind und die er in anderen Schriften ausführlich behandelt: Die Theorie der Trinität und die Theorie der Inkarnation. Beide fehlen allerdings nur auf den ersten Blick; in Wirklichkeit sind sie präsent, auch wenn Nikolaus es bei zwei knappen Hinweisen beläßt. Zur Trinität verweist Nikolaus auf Augustinus’ Analyse der dreifaltig-einigen Struktur des Geistes, in dessen Selbstvollzug sich Einsehen, Erinnern und Wollen (intellectus, memoria, voluntas) wechselseitig so durchdringen, daß keines dieser Momente ohne die beiden anderen sein kann (ebd. nr. 25, 29–32). In allen Akten unseres Geistes sehen wir etwas ein, das wir nicht von außen, sondern aus der Innerlichkeit unseres Geistes selbst, die Augustin Erinnerung (memoria) nennt, holen, denn wir wissen nur, was in unserem Bewußtsein ist, was uns also innerlich ist; und dieses aus unserem Bewußtseinsinneren in die Aufmerksamkeit gehobene Gewußte wissen wir so, daß wir es zugleich bejahen, also wollen, nämlich eben indem wir uns ihm zuwenden; – das ist die dreifaltige Einheit von Wissen, Erinnern und Wollen, die den Geist ausmacht.30 Der Geist ist aber das Bild des absoluten Könnens, in dem dieses so erscheint, daß es sich in seiner Unendlichkeit manifestiert. Darum ist das Können selbst, das in der Drei-Einheit des Geistes erscheint, der Dreifaltige und Eine Gott (ebd. nr. 28, 1). Zur Inkarnation fällt der Hinweis noch knapper aus. Wir erfahren nur, die vollkommenste Erscheinung des absoluten Könnens sei Christus, der uns zur Anschauung des Könnens selbst führe, die uns erfüllt und beseligt (ebd. nr. 28, 5–9). Vorher hatte uns Nikolaus aber doch ausführlich dargelegt, der Geist sei als das Bild des absoluten Könnens dessen vollkommenste Erscheinung; in ihm würde das Können selbst auf ungegenständliche Weise gesehen und so die Intention des Geistes erfüllt. Doch besteht hier gar kein Widerspruch: Christus ist der Mensch gewordene Gott. Die Menschwerdung Gottes aber begreift der Kardinal mit dem verurteilten Ketzer Eckhart als die Geistwerdung des Absoluten, denn das Wesen des Menschen ist der Geist. Geist aber ist für Eckhart wie für Cusa­nus das Erscheinen des unbestimmbaren und überseienden Einen, das im Geist Sein annimmt.31 Diese Menschwerdung Gottes vollzieht sich nicht 30 Vgl.

dazu Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, 342–352. dazu auch Jens Halfwassen, „Gott als Intellekt: Eckhart als Denker der Subjektivität“, in: Rolf Schönberger/Stephan Grotz (Hgg.), Wie denkt der Meister? Philosophische Zugänge zu Meister Eckhart, Meister-Eckhart-Jahrbuch 5 (2012), 13–25. 31 Vgl.

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einmalig zur Zeit des Kaisers Augustus, sondern immer und in jedem einzelnen Menschen. Christus ist das Wesen jedes Menschen, insofern er als Geist Bild des absoluten Könnens ist. Die Inkarnationsphilosophie von De apice theoriae ist darum die könnenstheoretische Deutung der mens; sie fehlt also nicht in der letzten Schrift des Cusa­nus, sondern bildet ihre eigentliche Pointe.

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XVIII.

Hegel und die negative Theologie 1. ­Hegel und die negative Theologie Hegels absolute Metaphysik erhebt den Anspruch auf unüberbietbare systematische Vollendung und abschließende, vollständige Vernunfterkenntnis des Absoluten. Sie erhebt diesen Anspruch ganz ausdrücklich auch in historischer Hinsicht, Hegels geschichtlichem Selbstverständnis als Vollender der Philosophie gemäß.1 Die gesamte Geschichte der Metaphysik soll mit dem vollständigen Bestand ihrer spekulativ relevanten Einsichten in Hegels absoluter Metaphysik positiv aufgehoben sein. Hegels Bestimmung des Absoluten als absolute Subjektivität, 2 wie sie systematisch in seiner „Logik des Begriffs“ vollzogen wird, soll also nicht nur die vollendete und systematisch abschließende Bestimmung des Absoluten darstellen, sondern sie soll darüber hin­aus die zentralen Gedanken über das Absolute in sich integrieren können, welche die Geschichte der Metaphysik von Parmenides bis zu Fichte und Schelling hervorgebracht hat. Hegels Logik versteht sich also als vollständige positive Erkenntnis des Absoluten in doppelter, nämlich systematischer und historischer Abschlußform; sie intendiert eine als Einheit von Logik, Ontologie und Prinzipientheorie zu verstehende philosophische Theologie, die alle vorhergehende philosophische Theologie in sich integriert. Angesichts dieses Anspruchs gewinnt die Frage besondere Brisanz, wie ­Hegel sich mit dem Absoluten der negativen Theologie auseinandersetzt. Denn negative Theologie oder auch negative Henologie bestimmt von Platon über Plotin und Proklos bis zu Nikolaus von Kues und darüber hin­aus gerade die platonische und neuplatonische Tradition einer Metaphysik des Absoluten, von der ­Hegel selbst seit seinen philosophischen Anfängen zutiefst beeinflußt wurde.3 Die negative Theologie erwächst dabei ursprünglich, d.h. im antiken Platonismus nicht aus einer kritischen Beschränkung der Erkenntnismöglichkei1 Vgl. dazu Düsing, ­Hegel und die Geschichte der Philosophie sowie ders., Aufhebung der Tradition im dialektischen Denken. Untersuchungen zu Hegels Logik, Ethik und Ästhetik, München 2012 (= Aufhebung der Tradition). 2  Dazu ist grundlegend Düsing, Problem der Subjektivität. 3  Siehe dazu Jens Halfwassen, „Die Bedeutung des spätantiken Platonismus für Hegels Denkentwicklung in Frankfurt und Jena“, in: Hegel-Studien 33 (1998), 85–131 (= Bedeutung des spätantiken Platonismus) und ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, Kapitel I.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

ten der menschlichen Vernunft, sondern ihr zentrales Anliegen ist die Tran­ szendenz des Absoluten.4 Wird Transzendenz radikal und konsequent gedacht, wie historisch zuerst von Platon, dann besagt sie nicht, daß die Bestimmung des Absoluten für unsere Vernunft unerkennbar oder unerreichbar sei, sondern vielmehr, daß das Absolute in seiner Transzendenz an sich selbst jenseits aller Bestimmungen liegt. Da Denken und Erkennen immer auf die Bestimmtheit des Zu-Denkenden und Zu-Erkennenden angewiesen sind, entzieht sich das Absolute in seiner Transzendenz nicht nur menschlicher Erkenntnis, sondern jeder Vernunft, auch einer göttlichen und unendlichen. Negative Theologie spricht so verstanden die prinzipielle Inkommensurabilität und Disproportionalität des transzendenten, überseienden und übervernünftigen Absoluten zum Denken überhaupt und in der Totalität seiner Bestimmungen und Erkenntnismöglichkeiten aus. Dieser prinzipiellen Inkommensurabilität gemäß kann sich ein Denken des Absoluten dann nur noch so vollziehen, daß es das Absolute in seiner absoluten Transzendenz aus allen Bestimmungen des Denkens negierend ausgrenzt, also vom Absoluten nichts mehr positiv aussagt, sondern nur alle Bestimmungen des Denkens verneint, die gemäß dem ontologischen Anspruch der Metaphysik zugleich Bestimmungen des Seins sind. Für die negative Theologie steht das Absolute darum jenseits des Seins und jenseits des Denkens. Negative Theologie erhebt damit einen prinzipiellen Einspruch gegen jede positive Vernunfterkenntnis des Absoluten, erst recht gegen eine philosophische Theologie wie diejenige Hegels, die das Absolute nicht nur als ein irgendwie positiv Erkennbares, sondern als den sich selbst begreifenden absoluten Begriff und die sich selbst denkende absolute Idee begreift, deren absolute Selbsterkenntnis von unserem dialektischen Denken in systematischer Vollständigkeit, ohne jeden Transzendenz-Überschuß mitvollzogen werden kann. Der Hegelsche Anspruch auf vollständige und erschöpfende Erkenntnis des Absoluten steht somit in dem größten denkbaren Gegensatz zu der Transzendenz des Absoluten über alle Erkenntnis, von der die negative Theologie spricht. Sie bilden allerdings nicht nur einen scharfen Gegensatz, sondern teilen zugleich ein zentrales Anliegen. Mit der negativen Theologie teilt ­Hegel nämlich die Einsicht, daß keine denkbare Bestimmung in ihrer von anderen Bestimmungen abgrenzbaren und insofern endlichen Besonderheit als solche das Absolute erfas4  Zu

Ursprung und Struktur der negativen Theologie und zur Transzendenz des Absoluten vgl. Halfwassen, Aufstieg zum Einen; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, bes. 257–273, 299–320, 414–431; ders., Plotin und der Neuplatonismus, bes. 43–58, 86–97, 156–163; Beierwaltes, Proklos, 339–366; ders., Denken des Einen, 130 ff, 286 ff, 342 ff; ders., Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, 129 ff, 149 ff, 218 f, 222 ff, 250 ff; Joseph Hochstaffl, Negative Theologie. Ein Versuch zur Vermittlung des patristischen Begriffs, München 1976; Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 316–357. – Zur Geschichte des Begriffs „Transzendenz“ vgl. Halfwassen, Art. „Transzendenz, Transzendieren“ I. – Siehe auch oben Kapitel II und III sowie VI, IX und X.

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sen kann, sondern daß es einer systematisch vollzogenen Entgrenzung des Denkens bedarf, die sich durch die Negation aller besonderen Inhalte vollziehen muß.5 Insofern beansprucht Hegels dialektische Vernunfterkenntnis des Absoluten in seiner alle besonderen Bestimmungen übergreifenden und übersteigenden Unendlichkeit, die negative Theologie als ein konstitutives Moment in sich aufgenommen zu haben, und zwar als dasjenige Moment der entgrenzenden Negativität, ohne welche das Absolute in seiner wahrhaften Unendlichkeit verfehlt und verendlicht würde. Weil Hegels vollständige Vernunfterkenntnis des Absoluten dieses nicht zu einem Inhalt neben anderen verendlichen soll, muß ­Hegel die negative Theologie in sein eigenes positives Begreifen des Absoluten integrieren können. Die Frage, ob diese Integration ­Hegel gelingt oder nicht, und das bedeutet genauer, ob und inwieweit er das eigene Anliegen der negativen Theologie aufzunehmen und zu bewahren vermag, ist darum von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob Hegels Vorhaben, das Absolute in seiner wahren Unendlichkeit vollständig positiv zu begreifen, ohne es zu verendlichen, selber gelungen ist.

2. Negative Theologie als Ausdruck absoluter Transzendenz Der Begriff des Absoluten stammt von Platon, und er führt schon Platon zur Grundlegung einer negativen Theologie. Platon prägt im Liniengleichnis der Politeia den Begriff des ἀνυπόθετον, das griechische Äquivalent zum lateinischen absolutum. Das ἀνυπόθετον ist dasjenige, was alles denkende Erkennen des Seienden als dessen ursprünglichste, nicht weiter hintergehbare und selber durch nichts mehr begründbare Voraussetzung ermöglicht und begründet: der absolute, weil „vor­aussetzungslose“ oder „un-bedingte Ursprung“, der „Urgrund des Ganzen“, die ἀνυπόθετος ἀρχή als ἀρχὴ τοῦ παντός (510 B, 511 B). Philosophisches Denken bestimmt Platon als die Untersuchung der in jedem Begriffsgebrauch implizierten und insofern auch als gültig angenommenen Vor­aus­setzungen (ὑποθέσεις).6 Da Platon sich die These des Parmenides von der Einheit von Denken und Sein zu eigen macht,7 sind die Bedingungen der Denkbarkeit des Seienden für ihn zugleich die Voraussetzungen seines Seins, also seine logischen und ontologischen Prinzipien. Diese Voraussetzungen als solche zu thematisieren und auf ihren Zusammenhang hin zu untersuchen, ist Aufgabe der Dialektik, die für Platon also Prinzipienwissenschaft ist.8 Sie ent5 Vgl. zu Struktur und Entwicklungsgeschichte der dialektischen Methode Hegels Rainer Schäfer, Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen, Hamburg 2001. 6 Vgl. Platon, Phaidon 101 DE; Politeia 511 B ff. 7 Vgl. Parmenides, Fr. 3 Diels-Kranz; Platon, Politeia 477 A. 8 Vgl. Platon, Politeia 511 B ff, 532 A ff, 533 C ff.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

hüllt den Fundierungszusammenhang der grundlegenden Bestimmungen unseres Denkens, die für Platon an sich selbst seiende Ideen sind. Dieser Zusammenhang der grundlegenden und allgemeinsten Ideen ist nun Platon zufolge in seiner Einheit nur dann einsehbar, wenn er nicht in der Wechselbeziehung allgemeinster Gegensatzverhältnisse wie Ruhe und Bewegung oder Identität und Andersheit aufgeht, sondern an einem Un-bedingten hängt, das an sich selbst keine Beziehung zu einer weiteren, es selbst erst ermöglichenden Bestimmung mehr impliziert: Dieses ἀνυπόθετον ist das Eine, das jede denkbare Bestimmung als solche erst ermöglicht, ohne selbst von irgendeiner anderen Bestimmung ermöglicht zu sein.9 Anders als Grundbestimmungen wie Ruhe und Bewegung, Identität und Andersheit oder Sein und Nicht­sein steht allein das Eine nicht mehr in einem Gegensatzverhältnis – denn auch das Viele, das scheinbare Gegenteil des Einen, denken wir notwendig immer schon als Einheit, nämlich als geeinte Vielheit oder als einheitliches Ganzes aus vielen elementaren Einheiten.10 Denn Einheit ist die grundlegende Bedingung von Denkbarkeit überhaupt, also auch der Denkbestimmung der Vielheit. Daraus schließt Platon, daß das wahrhaft und schlechthin Ursprüngliche das Eine ist, das wir in allem Denken immer schon vor­aussetzen müssen, über das wir im Denken aber niemals hin­ausgreifen können, weil mit der Aufhebung des Einen das Denken selbst aufgehoben ­wäre.11 Soll nun das Eine selbst in seiner Absolutheit gedacht werden, so zeigt sich eine Schwierigkeit, die zur Ausbildung einer negativen Theologie oder Henologie zwingt. Denn das Denken bewegt sich immer schon im Zusammenhang seiner allgemeinsten Bestimmungen und insofern in einer Vielheit. Also kann das Eine selbst als das Prinzip der Einheit dieses Zusammenhangs, das selber nicht mehr durch ihn bedingt ist, überhaupt nur noch so gedacht werden, daß Es selbst durch Verneinungen aus diesem Zusammenhang herausgenommen wird. Platon führt das in der ersten Hypothesis seines Spätdialogs Parmenides vor.12 Wird das Eine selbst nur in sich selbst betrachtet, dann weist es als reine Einheit jedwede Bestimmung von sich ab; das Eine selbst steht strikt jenseits aller Bestimmungen, weil jede denkbare Bestimmung es in die Vielheit hineinziehen würde. Man kann darum nichts von ihm aussagen, noch nicht einmal, daß es ist oder daß es Eines ist (141 E), weil es damit bereits eine Zweiheit wäre; die duale Struktur der Prädikation verfehlt prinzipiell die reine Einfachheit des Absoluten. Platon spricht ihm darum nach allen anderen Fundamentalbestimmungen auch Sein, Einssein, Erkennbarkeit und Sagbarkeit ab. Das Absolute  9 Vgl. dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 230 ff; Krämer, „Zusammenhang von Prinzipienlehre und Dialektik“. 10 Vgl. Platon, Parmenides 157 B ff, bes. 157 E – 158 B. 11 Vgl. Platon, Parmenides 165 E ff, 166 C. 12 Vgl. Platon, Parmenides 137 C – 142 A; Speusipp, Testimonium Platonicum 50 Gaiser; dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 282 ff, 298–405.

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ist so verstanden „das Nichts alles dessen, dessen Ursprung Es ist, und zwar in der Weise, daß Es – da nichts von Ihm ausgesagt werden kann, weder Sein noch Wesen noch Leben – das all diesem Transzendente ist“,13 so formuliert Plotin den Sachverhalt durchaus im Sinne Platons, der ja gesagt hatte, das Absolute sei „jenseits des Seins“ (ἐπέκεινα τῆς οὐσίας).14 Plotin hebt eigens hervor, daß die auf das jenseitige Eine bezogene Verneinung als Transzendenzaussage zu verstehen ist, also nicht bedeutet, daß dem Absoluten fehlt, was ihm abgesprochen wird, sondern die Transzendenz über das Verneinte meint. Plotin schreibt: So wie der, welcher die intelligible Wirklichkeit schauen will, keine Vorstellung von etwas Sinnenfälligem in sich haben darf, um das zu erschauen, was jenseits des Sinnenfälligen ist, so wird auch der, welcher das schauen will, was jenseits des Intelligiblen ist, Es nur schauen, wenn er alle Denkbarkeit wegnimmt.15

Der Sinn der Negation ist also die Aufhebung der Denkbarkeit in das Jenseits der absoluten Transzendenz. In einer eigenen Methodenreflexion unterscheidet auch Proklos die als Transzendenzaussagen verstandenen Verneinungen der negativen Theologie methodisch von anderen Weisen der Verneinung und bestimmt die verschiedenen möglichen Bedeutungen der Negation durch ihr je verschiedenes Verhältnis zu positiven Aussagen:16 Während sich Affirmationen immer auf das Sein, d.h. auf Ideen beziehen, kann das Nicht­sein, das die Verneinung aussagt, entweder den Mangel an Sein oder die Andersheit im Bereich des Seins selber oder aber die Transzendenz, das Jenseits des Seins meinen. Bedeutet die Verneinung einen Seinsmangel, so bezieht sie sich auf Unterseiendes, auf Veränderliches und Vergängliches, das hinter der Wesensfülle der Ideen, des wahrhaft Seienden, zurückbleibt, oder gar auf gänzlich Nichtiges wie die Materie und ist dann als privative Negation der entsprechenden Affirmation in ihrem semantischen Gehalt unterlegen. Bedeutet die Negation dagegen die Verschiedenheit eines Seienden von anderem Seienden, also z.B. der Ruhe von der Bewegung, so bezieht sie sich auf wahrhaft Seiendes, also auf Ideen, und ist dann als relationale oder andersheitliche Negation einer positiven Aussage an semantischem Gehalt gleichrangig, weil sie wie diese ein Ideenverhältnis ausdrückt. Bedeutet sie 13 Plotin, Enneade III 8, 10, 28–31: ἤ ἐστι μὲν τὸ μηδὲν τούτων ὧν ἐστιν ἀρχή, τοιοῦτο μέντοι, οἷον, μηδενὸς αὐτοῦ κατηγορεῖσθαι δυναμένου, μὴ ὄντος, μὴ οὐσίας, μὴ ζωῆς, τὸ ὑπὲρ πάντα αὐτῶν (Corr. cod. A: ταῦτα) εἶναι. 14 Platon, Politeia 509 B; dazu Krämer, „ΕΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ“; ders., Arete bei Platon und Aristo­teles, 541 ff. 15 Plotin, Enneade V 5, 6, 17–20: ἀλλ᾽ ὥσπερ τὴν νοητὴν φύσιν βουλόμενος ἰδεῖν οὐδεμίαν φαντασίαν αἰσθητοῦ ἔχων θεάσεται ὅ ἐστιν ἐπέκεινα τοῦ αἰσθητοῦ, οὕτω καὶ ὁ θεάσασθαι θέλων τὸ ἐπέκεινα τοῦ νοητοῦ τὸ νοητὸν πᾶν ἀφεὶς θεάσεται. 16 Vgl. Proklos, In Parm. 1072, 19 – 1074, 21 Cousin und In Parm. VII 44, 13 – 46, 18 Klibansky / 503, 37 ff Steel; vgl. auch Theol. Plat. II 5, 38, 13 ff und II 10, 63, 8 ff Saffrey-­ Westerink; In Rempubl. II 375, 5 ff Kroll; dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 319 f, 416 ff.

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aber das Übersein der Transzendenz, so bezieht sie sich auf das positiv unsagbare Absolute und ist als transzendierende Negation allen positiven Aussagen überlegen; sie intendiert dann die positiv unaussagbare Überfülle des Einen selbst, indem sie dieses aus allem Sein herausnimmt. Die so verstandene Negation spricht dem Absoluten ab, worüber es erhaben ist, was aber in ihm gründet. Die negative Transzendenzbehauptung steht darum für Proklos über dem Gegensatz von Bejahung und Verneinung (im Sinne der privativen oder relationalen Negation), während Affirmation und privative Negation einen kontradiktorischen, Affirmation und relationale Negation einen konträren Gegensatz bilden. Ferner haben privative und relationale Negationen kategoriale Bedeutung, sie bestimmen also das, von dem sie ausgesagt werden, wenigstens in dem, was es nicht ist, während transzendierende Negationen in rein semantischer oder endeiktischer Bedeutung zurückgehalten sind und daher keinen eigentlichen Aussagecharakter mehr haben; sie bestimmen nicht das Absolute in dem, was es ist oder nicht ist, sondern weisen das Denken vielmehr über alle Bestimmtheit hin­aus auf die reine Transzendenz jenseits von Sein und Nicht­ sein.17

3. Die Selbstaufhebung der negativen Theologie bei Hegel Hegels Auseinandersetzung mit der negativen Theologie ist von zentraler Bedeutung für sein Vorhaben, den Begriff, die denkende Selbstbeziehung der Subjektivität, selbst als die Wahrheit des Absoluten zu begreifen. Sie findet sich freilich nicht in der „Logik des Begriffs“ selbst, sondern unmittelbar davor am Ende der Wesenslogik in dem Kapitel „Das Absolute“.18 Die Kategorie des Ab­ egel die höchste Kategorie des Wesens, das sich in ihr vollensoluten ist für H det. Das Wesen vollendet sich im Absoluten in der Weise, daß im Absoluten alle Bestimmungen des Seins und des Wesens, denen noch Endlichkeit anhaftet ­ egel alle dem Absoluten systematisch vorangehenden Be– und dies sind für H stimmungen überhaupt –, aufgehoben werden in die unendliche und absolute Einheit des Absoluten. Die Vollendung des Wesens im Absoluten erfolgt also in Gestalt einer negativen Theologie, die ­Hegel in diesem Kapitel selbst entwickelt. Damit nimmt er die negative Theologie des Platonismus auf und gesteht zu, daß der negativ-theologische Leitgedanke vom Absoluten als bestimmungsloser absoluter Einheit der höchste Gedanke vom Absoluten ist, bevor dieses als absoluter, sich selbst begreifender Begriff und somit als absolute Subjektivität gedacht werden kann. Dies entspricht Hegels Hochschätzung der Henologie von 17 Vgl. Proklos, Theol. Plat. II 5, 39, 6 Saffrey-Westerink; In Parm. 1110, 6 Cousin; ebenso Plotin, Enneade V 5, 6, 25. 32; VI 7, 38, 4–5; VI 9, 5, 38 ff; V 3, 11, 24–25. 18 Hegel, Wissenschaft der Logik I, 370 ff.

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Plotin und Proklos,19 mit der er Spinozas ­Lehre von der Einen, absoluten und unendlichen Substanz als ihr vermeintliches neuzeitliches Pendant in Verbin­ egel darin vergleichbar, daß sie das dung bringt20 – beide Positionen sind für H Absolute als absolute Einheit denken, die absoluter Grund aller Bestimmungen ist, selbst aber von diesen Bestimmungen abgehoben wird und insofern an sich selbst unbestimmbar ist. Den systematisch entscheidenden Übergang vom negativ-theologischen Begriff des Absoluten als absoluter Einheit jenseits aller Bestimmungen zum positiv-theologischen Begriff des Absoluten als absoluter Subjektivität entwickelt ­Hegel in der Figur einer Selbstaufhebung der negativen Theologie. Diese vollzieht sich in dem Kapitel „Das Absolute“ in dem Dreischritt von „Auslegung des Absoluten“, „Attribut“ und „Modus“. 21 Sie soll die in der negativen Theologie vollzogene Entgrenzung des Absoluten durch seine Befreiung von allen Bestimmungen der Endlichkeit bewahren, zugleich aber über die Negativität der rein negativen Theologie hin­ausführen zum Gedanken eines sich auf sich selbst beziehenden Absoluten, das eben in seiner absoluten Selbstbeziehung der sich selbst begreifende Begriff ist. ­Hegel beansprucht damit, die negative Theologie in aller Konsequenz aufzunehmen und bis zu ihrer immanenten Selbstaufhebung durchzuführen. ­Hegel faßt das Absolute als die einfache Einheit des Seins und des Wesens. In ihr sind alle Kategorien des Seins und des Wesens „aufgelöst“, weil sie „in der einfachen gediegenen Identität des Absoluten“ ununterscheidbar sind, so daß sie nicht mehr vom Absoluten als dessen Bestimmungen prädiziert werden können: sie müssen ihm vielmehr abgesprochen werden. 22 Alle Bestimmungen sind – wie ­Hegel mit einer ihm wohlvertrauten Wendung der Valentinianischen Gnosis sagt – in dem „Abgrund“23 der absoluten Einheit versenkt worden. So kann ­Hegel sagen: „Aber das Absolute selbst ist die absolute Identität; dies ist seine 19  Auf sie ist ebd. I, 378 deutlich angespielt. ­Hegel hatte in seiner Frankfurter Zeit selber eine Variante der negativen Theologie vertreten, die sich freilich eher am Mittelplatonismus orientierte als an Plotin oder Proklos, siehe dazu Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 46 ff, 62 ff; ders., „Bedeutung des spätantiken Platonismus“, 90 ff, 104 ff. 20 Vgl. dazu Doz, Logique de Hegel, 131 ff. 21 Vgl. zum Folgenden Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 307–320; ferner Klaus Düsing, „Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein. Konzeptionen der Überwindung negativer Theologie bei Schelling und Hegel“, in: ders., Subjektivität und Freiheit. Untersuchungen zum Idealismus von Kant bis Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (= Subjektivität und Freiheit), 181–207, bes. 192 ff. 22 Hegel, Wissenschaft der Logik I, 370–371. 23 Ebd. I, 372. Vgl. dazu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungsmanuskripte I (1816– 1831), in: ders. Gesammelte Werke, Bd. 17, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1987, 228 f; ferner ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Bd. 19, 429, 527; Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, in: ders., Werke in Zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe, hg. von Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970 ff, Neuausgabe 1986, Bd. 17, 238.

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Bestimmung, indem alle Mannigfaltigkeit der ansichseienden und der erscheinenden Welt oder der innerlichen und äußerlichen Totalität in ihm aufgehoben ist.“24 Deshalb ist auch die Bestimmung des Absoluten als absolute Identität eine Bestimmung, die selber keine Bestimmung ist, sondern recht verstanden die Negation aller Bestimmtheit bedeutet: „Insofern fällt das Bestimmen dessen, was das Absolute sei, negativ aus und das Absolute selbst erscheint nur als die Negation aller Prädikate und als das Leere.“25 Wie Platon und die Neupla­ egel also davon aus, daß die reine Einheit jedwede Bestimmung toniker geht H von sich abweist. Diese negative Auslegung des Absoluten durch die Versenkung aller Bestimmungen im Abgrund seiner Bestimmungslosigkeit aber bleibt ein dem Absoluten selbst äußerliches Tun, indem sie die vielfältigen Bestimmungen des Seins und des Wesens nur aufnimmt, um sie im Abgrund des Absoluten zu versenken: „Sie ist das Jenseits der mannigfaltigen Unterschiede und Bestimmungen und deren Bewegung, welches dem Absoluten im Rücken liegt.“26 Die Auslegung des Absoluten hat aber insofern eine positive Seite, als sie die Bestimmungen, die sie durch Negation vom Absoluten fernhält, eben dadurch auf das Absolute bezieht, in dessen Abgrund sie zugrunde – und d.h. in ihren Grund zurück – gehen. Die Bestimmungen, die in der Bestimmungslosigkeit des Absoluten versenkt werden, sind von ihnen selbst her auf das Absolute bezogen, das ihr Grund und Abgrund zugleich ist, denn das Absolute als ihre „indifferente Identität“27 hat sich aus dem vor­ausgehenden Ganzen der Seins- und Wesensbestimmungen mit immanenter Notwendigkeit ergeben. Diese Positivität betrifft aber nicht das Absolute selbst, den Abgrund aller Bestimmtheit, sondern nur die in ihm versenkten Bestimmungen, „daß sie nämlich das Absolute zu ihrem Abgrund, aber auch zu ihrem Grunde haben oder daß das, was ihnen, dem Schein, ein Bestehen gibt, das Absolute selbst ist.“28 Indem die positive Auslegung die Bestimmungen des Seins und des Wesens, die im Abgrund der absoluten Einheit versenkt werden, zunächst in ihrer Vielheit und Unterschiedenheit betrachtet, um sie daraufhin dem Absoluten selbst abzusprechen, hält sie jene Bestimmungen und das in ihnen gedachte Endliche vor seinem „Verschwinden“ auf und denkt es als „Ausdruck und Abbild des Absoluten“. 29 Das Abbild ist durchsichtig auf das Urbild hin, das in ihm erscheint. Der Schein des Absoluten aber ist gerade kein Bild, in dem etwas erscheint, sondern was in ihm scheint, ist vielmehr der alle Bestimmtheit und darum auch alles Erscheinen verzehrende Abgrund des bestimmungslosen Absoluten: das 24 Hegel,

Wissenschaft der Logik I, 371. I, 370. 26 Ebd. I, 371. 27 Ebd. I, 375. 28 Ebd. I, 372. 29 Ebd. I, 372. 25 Ebd.

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Endliche kann sich darum gegen die Bestimmungslosigkeit des Absoluten nicht halten, sondern es „endigt in gänzliches Verschwinden … es ist ein Medium, das von dem, was durch es scheint, absorbiert wird.“30 Damit aber ist für ­Hegel der entscheidende Wendepunkt erreicht, an dem über die Negativität der nur negativen Theologie hin­ausgegangen werden muß. Der Gang der negativen Theologie von den Bestimmungen als Schein zu der sie verzehrenden Bestimmungslosigkeit des Absoluten erscheint zunächst als ein Tun, das dem Absoluten selbst äußerlich bleibt. Die absolute Indifferenz ist nur das Ziel, auf das die negative Dialektik mit ihrem Verneinen aller Bestimmungen zugeht, sie ist aber nicht selbst der Ausgangspunkt dieser verneinenden Bewegung; dieser ist vielmehr das Endliche in der Mannigfaltigkeit und Unterschiedenheit seiner Bestimmungen, die verneint werden. Die Bewegung der negativen Theologie erscheint so als Weg vom Endlichen zum Absoluten und Unendlichen. Ein Absolutes, „bei welchem nur angekommen wird“, ist aber für ­Hegel einseitig und darum gar nicht das wahrhaft Absolute oder – wie H ­ egel hier sagt – „das Absolut-Absolute“.31 – ­Hegel setzt dabei vor­aus, daß das Absolute allumfassend sein, also Totalitätscharakter haben muß, weil es sonst nicht wahrhaft unendlich wäre. Wahrhaft unendlich ist das Absolute nämlich nur dann, wenn sich ihm nichts als ein Anderes entgegensetzen läßt, an dem es seine Grenze fände und durch das es so verendlicht würde. Das Absolute ist darum für ­Hegel nicht das Eine selbst wie für den Platonismus, sondern das All-Eine. Unter der Voraussetzung der All-Einheit des Absoluten kann aber die Negation aller Prädikate ihm selber nicht äußerlich sein. Und zwar ist die positive Auslegung, die das Endliche in seinen Bestimmungen vor seinem Verschwinden im Abgrund des Absoluten aufhält und als Schein oder als Bild des Absoluten denkt, ein Scheinen des Absoluten in sich selbst, „denn das wahrhaft Positive, was sie und der ausgelegte Inhalt enthält, ist das Absolute selbst“.32 Denn als Schein des Absoluten ist der Inhalt der endlichen Bestimmungen auf den Abgrund der absoluten Einheit hin durchsichtig, gegen die er für sich selbst keinen Unterschied behalten kann, weil er alles, was er ist, nur dem Absoluten verdankt. Wenn somit die Positivität des Endlichen in der Vielheit und Unterschiedenheit seiner Bestimmungen nur ein Scheinen des Absoluten in sich selbst ist, dann ist notwendig auch die Aufhebung dieser Positivität und das Versenken der positiven Bestimmungen im bestimmungslosen Abgrund der absoluten Einheit die eigene Tätigkeit des Absoluten selbst, „das bei sich anfängt, wie es bei sich ankommt“.33 Durch diese Tätigkeit entzweit sich das Absolute in sich selbst und bestimmt eben dadurch sich selbst. Denn die Entgegensetzung des Absoluten der nega30 Ebd.

I, 372. I, 372. 32 Ebd. I, 372. 33 Ebd. I, 372. 31 Ebd.

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tiven Theologie, der indifferenten absoluten Einheit, gegen die positiven Bestimmungen des Endlichen, die in ihrem Abgrund versenkt werden, vollzieht sich nun in Wahrheit im Absoluten selber und als dessen eigenes absolutes Tun. Und dabei ist die absolute Indifferenz als der Abgrund, in dem alle Bestimmungen untergehen, „durch die Reflexion so gesetzt gegen die Entgegensetzung und Mannigfaltigkeit“ des Endlichen, „oder es ist nur das Negative der Reflexion und des Bestimmens überhaupt“; damit aber ist das nur negativ bestimmte Absolute „das Absolute in einer Bestimmtheit, oder es ist Attribut“.34 – ­Hegel setzt hierbei seine Methode der bestimmten Negation vor­aus: Durch die Entgegensetzung der vielfältigen Bestimmungen des Endlichen gegen das Absolute wird dieses selber bestimmt, d.h. es wird durch die Negation mit bestimmter Bedeutung erfüllt. Die Aufhebung aller Bestimmungen im Abgrund der „indifferenten Identität“35 erfüllt diese selber mit negativer Bestimmtheit, nämlich die Aufhebung der Bestimmungen des Endlichen zu sein. Diese Entgegensetzung zwischen den endlichen Bestimmungen des Mannigfaltigen und der sie aufhebenden indifferenten Identität „erscheint als der formellste Widerspruch“;36 dieser Widerspruch aber ist die dem Absoluten selbst immanente Negativität, durch die es sich mit Bestimmtheit erfüllt. Im absoluten Attribut wird das Absolute nun gedacht als die indifferente absolute Identität und als Bestimmtheit, die aber in der absoluten Identität wieder aufgelöst wird, da sie sich gegen diese nicht halten kann. Das Absolute nimmt also seine Entzweiung in sich zugleich wieder zurück in die indifferente Einheit, die aber eben dadurch bestimmt wird, daß sie die Selbstentzweiung des Absoluten und die in dieser der indifferenten absoluten Identität entgegengesetzten Bestimmungen des Mannigfaltigen als aufgehobene in sich enthält: „Aber weil die absolute Identität nur diese Bedeutung hat, nicht nur daß alle Bestimmungen aufgehoben sind, sondern daß sie auch die Reflexion ist, die sich selbst aufgehoben hat, so sind an ihr alle Bestimmungen gesetzt als aufgehobene.“37 Im Attribut werden somit zwei Momente gedacht: „erstlich das Absolute in der einfachen Identität mit sich“; das zweite Moment ist „das Negative als Negatives, die dem Absoluten äußerliche Reflexion“, also das Setzen und Aufheben der Bestimmungen des Endlichen und Mannigfaltigen, das der absoluten Indifferenz äußerlich ist.38 Dieses zweite Moment ist aber „ein an sich selbst Nichtiges, ein äußerlicher Schein“, der sich durch die Auslegung des Absoluten durch das Attribut ergibt, der sich aber durch sich selbst wieder aufhebt; denn indem diese Auslegung „das Endliche in seiner Schranke nicht als ein an und für sich Seiendes nimmt, sondern sein Bestehen in das Absolute auflöst … 34 Ebd.

I, 372. I, 375. 36 Ebd. I, 370. 37 Ebd. I, 373. 38 Ebd. I, 374. 35 Ebd.

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versenkt [sie] dasselbe und ihr unterscheidendes Tun in das einfache Absolute“. Damit aber ist das Absolute immer noch das Absolute der negativen Theologie und die Reflexion „nicht aus ihrer Äußerlichkeit heraus und zum wahrhaften Absoluten gekommen“.39 Das zweite im absoluten Attribut gedachte Moment, das Negative als Negatives, muß nun als der Modus des Absoluten gedacht werden – d.h. als seine „bloße Art und Weise zu sein“40 –, den das Absolute selbst setzt. Indem es nun die eigene Bestimmung des Absoluten ist, „sich als Modus zu setzen, so ist er das Außersichsein des Absoluten, … sein Übergegangensein ins Entgegengesetzte ohne Rückkehr in sich: die totalitätslose Mannigfaltigkeit der Form und Inhaltsbestimmungen.“41 Der Modus ist so der Hervorgang der absoluten Einheit in die Vielheit; diese aber ist selbst nur der Schein des Absoluten, den dieses selber setzt und in dem nur das Absolute selbst scheint, so daß es in ihm zugleich in sich selbst zurückkehrt. Indem aber im Schein des Absoluten nur dieses selbst scheint, hebt es die Negativität der Entgegensetzung zwischen der bestimmungslosen indifferenten Einheit und ihrem Außersichsein in der „totalitätslosen Mannigfaltigkeit“ der Bestimmungen des Endlichen auf und ist so als „sich auf sich beziehende Negativität, als Scheinen, das als Scheinen gesetzt ist“,42 d.h. aber als Negation der Negativität allererst positive Identität mit sich. Diese Identität des Absoluten mit sich ist nicht mehr die bloß negativ bestimmte „erste indifferente Identität“,43 sondern positive, selbsttätige Beziehung des Absoluten auf sich selbst. Der gesamte Vorgang der Auslegung des Absoluten in sich selbst, in Attribut und Modus ist somit das eigene Tun des Absoluten als die „reflektierende Bewegung selbst, als welche das Absolute nur wahrhaft die absolute Identität ist“.44 Die vom Absoluten selbst vollzogene Bewegung seiner Auslegung ist damit ein Bestimmen, „aber nicht wodurch es ein Anderes würde, sondern nur dessen, was es schon ist, die durchsichtige Äußerlichkeit, welche das Zeigen seiner selbst ist, eine Bewegung aus sich heraus, aber so, daß dieses Sein-nach-Außen ebensosehr die Innerlichkeit selbst ist.“45 Das positive Wesen des Absoluten besteht daher darin, „sich zu manifestieren“:46 es ist reines Sich-Zeigen, das aus seiner eigenen Mächtigkeit alle Bestimmungen des Endlichen setzt und aufhebt, in denen es sich als die Macht (δύναμις) zeigt, diese Bestimmungen zu setzen und wieder aufzuheben; es manifestiert sich als die Macht des Setzens und Aufhebens aller Bestimmungen nicht in einem Anderen, 39 Ebd.

I, 374. I, 374. 41 Ebd. I, 374. 42 Ebd. I, 375. 43 Ebd. I, 375. 44 Ebd. I, 375. 45 Ebd. I, 375. 46 Ebd. I, 375. 40 Ebd.

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sondern nur in sich selbst und für sich selbst „als absolutes sich für sich selbst Manifestieren“.47 Die damit erreichte positive Selbstbestimmung des Absoluten wird nun von ­Hegel in der weiteren Kategorienentwicklung in immer komplexere und inhaltsreichere Bestimmungen weiter entfaltet, und zwar zunächst zum Substantialitätsverhältnis, in dem das um die Modalbestimmungen bereicherte Absolute als die absolute Macht gedacht wird, die im Setzen und Aufheben ihrer Akzidentien in sich Negativität entwickelt, sich in sich selbst unterscheidet, was für das Selbstbewußtsein konstitutiv ist.48 Diese sich in immanenter Negativität in sich selbst unterscheidende und zugleich in sich einige absolute Macht entfaltet sich schließlich zu einem Totalitätsverhältnis, in dem sich das Absolute als absolute, in sich selbst relationale Totalität nur auf sich selbst bezieht, womit für ­Hegel die intellektuelle Selbstbeziehung des Begriffs erreicht ist, die ihrerseits ihre höchste Entfaltung in der absoluten Idee als der höchsten Kategorie und vollendeten positiven Bestimmung des Absoluten hat.

4. All-Einheit und absolute Transzendenz Was ­Hegel vorführt, ist die Selbstaufhebung einer konsequent vollzogenen negativen Theologie in positive Selbstbeziehung und Selbstbestimmung. Der verborgene Gott der negativen Theologie, das bestimmungslose Eine, die absolute Indifferenz, erweist sich selbst als Sich-Zeigen, als freie Manifestation seiner selbst, also als Deus revelatus bzw. Deus revelans. Die Frage ist nun, was Hegels Argumentation leistet und ob sie geeignet ist, das eigene Anliegen der negativen Theologie, die reine Transzendenz des Absoluten, positiv aufzuheben, also zugleich zu bewahren und in die Positivität der Selbstbestimmung des Absoluten zu überführen. Zunächst ist festzuhalten, daß Hegels Überwindung der negativen Theologie sich auf deren begriffliches Verfahren wirklich einläßt und insofern immanent erfolgt, die negative Theologie also nicht bloß von außen kritisiert. Gleichwohl gelingt diese Überwindung nicht vor­aussetzungslos und sie kommt auch nicht mit den Voraussetzungen aus, die die negative Theologie selber schon macht, sondern die Überwindung gelingt nur durch drei ganz spezifische Voraussetzungen, die ­Hegel ins Spiel bringt und die mit den eigenen Voraussetzungen der negativen Theologie unvereinbar sind. ­Hegel setzt in seiner Argumentation erstens, wie erwähnt, seinen eigenen Grundgedanken vor­aus, das Absolute müsse als die allumfassende Einheit der Totalität gedacht werden, der nichts äußerlich 47 Ebd.

I, 375. dazu und zum Folgenden Rüdiger Bubner, „Hegels Logik des Begriffs“, in: ders., Zur Sache der Dialektik, 70–123, spez. 82 ff. 48 Vgl.

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sein kann; für die Gültigkeit seiner Argumentation sind ferner zweitens die Methode der bestimmten Negation und drittens die positive Bedeutung der Negation der Negation als absolute Affirmation konstitutiv. Alle drei Voraussetzungen sind für Hegels Selbstaufhebung der negativen Theologie unverzichtbar. Und alle drei sind unvereinbar mit der reinen Transzendenz des Absoluten in der negativen Theologie Platons und der Neuplatoniker. Für Platon und die Neuplatoniker nämlich ist das Absolute nicht All-Einheit, sondern absolute Transzendenz, nicht allumfassend, sondern jenseits von allem (ἐπέκεινα πάντων).49 Das Eine selbst hat gerade keinen Totalitätscharakter wie das Absolute Hegels und Spinozas. Darum kann es auch nicht mit seinen Prinzipiaten in die gemeinsame Sphäre einer beide, das Absolute und seine Prinzipiate, umfassenden Totalität gefaßt werden, die erst das wahrhaft Absolute wäre. Absolute Transzendenz wird überhaupt nur dann gedacht, wenn das Transzendente mit dem, was es transzendiert, nicht mehr in eine gemeinsame höhere Einheit zusammengefaßt werden kann. Absolute oder reine Tran­ szendenz meint gerade kein graduelles Höhersein innerhalb eines Übersteigendes und Überstiegenes gemeinsam umfassenden All-Ganzen, sondern das Jenseits dieses allumfassenden Ganzen,50 eine radikale Jenseitigkeit, die selbst nicht mehr zu einem Diesseits werden kann, indem man ein größeres Ganzes in den Blick nimmt, das diese und jene Seite umfaßt, sondern das, was „aus jeder Ganzheit herausgenommen ist und sie transzendiert“.51 Deshalb wird das jenseitige Eine dadurch, daß ihm alle Bestimmungen des Seins und des Denkens abgesprochen werden, auch nicht beschränkt, so daß ihm das Sein in der Vielheit seiner Bestimmungen gegenüberstünde als das Andere seiner, an dem das Eine selber seine Grenze fände.52 Eine solche Entgegensetzung des Prinzips und seiner Prinzipiate läßt sich nämlich nur innerhalb eines beide umfassenden Totalitätshorizonts vornehmen, das Eine ist aber durch seine Transzendenz aus jedem Totalitätshorizont herausgenommen. Kraft seiner Transzendenz ist das Absolute jeder Beziehung zu seinen Prinzipiaten entnommen, kann ihnen also auch nicht entgegengesetzt werden.53 Hegels Aufweis der Einseitigkeit des Ab49 Plotin, Enneade V 1, 6, 13; V 3, 13, 2; V 4, 2, 39–40; vgl. auch V 5, 6, 8–11; I 7, 1, 19 ff; III 8, 9, 53 f; 10, 30 f; VI 8, 1, 9; VI 7, 37, 30; V 5, 12, 48–50. Dazu Huber, Das Sein und das Absolute, 58 ff; Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 65 ff, 81–97; ders., ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 266 ff, 282 ff. 50 Vgl. z.B. Proklos, Theol. Plat. II 5, 39, 9 ff Saffrey-Westerink; In Parm. 1070, 28 ff. 1107, 32 ff Cousin; Damaskios, De principiis II, 2, 1 ff Westerink. 51 Proklos, In Parm. 1107, 32–33 Cousin. 52 Vgl. z.B. Plotin, Enneade V 5, 11, 1–4. 53  Für Platon, Plotin und Proklos ist das Eine selbst in seiner reinen Transzendenz an sich selbst darum nicht einmal Prinzip, sondern Prinzip, Ursprung oder Urgrund ist es nur in einem uneigentlichen Sinne von seinen Prinzipiaten aus gesehen und für diese: Speusipp, Test. Plat. 50 Gaiser; Plotin, Enneade VI 9, 3, 49 ff; VI 8, 8, 9; Proklos, In Parm. 1115, 36 – 1116, 12. 1123, 37. 1124, 12 ff Cousin; Theol. Plat. II 5, 39, 20 ff Saffrey-Westerink. Dazu Halfwassen, Aufstieg zum Einen, 107 ff, 282 ff.

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soluten der negativen Theologie, bei dem nur angekommen wird, und das darum um die andere Seite, von der ausgegangen wird, ergänzt werden muß, verfehlt somit prinzipiell die reine Transzendenz des Absoluten, um die es der negativen Theologie Platons und des Platonismus ganz wesentlich zu tun ist. ­Hegel bestimmt ferner die Bedeutung der auf das Absolute bezogenen Ne­ egel zufolge in den gationen prinzipiell anders als Plotin und Proklos. Was H Negationen der negativen Theologie gedacht wird, ist die Bestimmungslosigkeit des Absoluten, diese aber gerade nicht als positiv unsagbare Überfülle und Transzendenz über alle Bestimmtheit verstanden, sondern – ganz im Gegenteil – „als das Leere“.54 Die Negation wird damit ihrer Bedeutung als Transzendenzaussage entkleidet und – mindestens tendenziell – privativ genommen. Zwar unterscheidet auch ­Hegel verschiedene Bedeutungen der Negation, unter denen Andersheit und Privation vorkommen, nicht aber die transzendierende Negation.55 So versteht ­Hegel die in der Verneinung vollzogene Aufhebung von Bestimmtheit einfach als Unbestimmtheit und nicht als Transzendenz. Die Bestimmung der Unbestimmtheit, in der die negative Theologie überwunden wird, erfolgt dann durch die Methode der bestimmten Negation, und diese faßt das Verhältnis zwischen einer positiven Bestimmtheit und der sie aufhebenden Negation durchgehend als wechselseitige Andersheit auf, das Nicht­sein als das vom Sein Verschiedene, das eben durch seine Verschiedenheit selber ein Bestimmtes ist. Die negative Transzendenzaussage, die das Nicht­sein des Absoluten nicht als Verschiedenheit innerhalb eines die Entgegensetzung von Sein und Nicht­sein umfassenden Totalitätshorizonts auffaßt, sondern als das Übersein der Transzendenz, jenseits des Gegensatzes von Sein und Nicht­sein, bleibt völlig außerhalb von Hegels Horizont. Solche transzendierende Negation ist aber die einzige Bedeutung der Verneinung, in der Plotin und Proklos die auf das Eine selbst bezogenen Negationen verstanden wissen wollen.56 Drittens bleiben Plotins ἔκστασις und Proklos’ ὑπεραπόφασις bei ­Hegel unberücksichtigt.57 Die Selbstaufhebung der negativen Theologie in die Positivi­ egel durch eine Negation tät der Selbstbeziehung des Absoluten kommt bei H der Negation zustande. Die Entgegensetzung zwischen dem Absoluten und den Bestimmungen der Vielheit bildet als „Widerspruch“ zwischen Bestimmungslosigkeit und Bestimmtheit eine Negation, die sich selbst negiert, weil die Bestimmungen selber nur der Schein des Absoluten sind, so daß sie sich als dem Absoluten entgegengesetzte nicht halten können; diese Negation der Negativität des Unterschieds von bestimmungslosem Absoluten und Bestimmungen 54 Hegel,

Wissenschaft der Logik I, 370. dazu Dieter Henrich, „Formen der Negation in Hegels Logik“, in: Hegel-Jahrbuch 1974, 245–256; ders., ­Hegel im Kontext, 145 ff. 56 Vgl. z.B. Proklos, Theol. Plat. II 10, 63, 13–20 Saffrey-Westerink; ebenso Plotin, Enneade V 5, 6. 57 Vgl. Plotin, Enneade VI 9, 11, 23; Proklos, In Parm. 1172, 35 Cousin. 55 Vgl.

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ist für H ­ egel selber absolute Affirmation. Dagegen vollzieht der Neuplatonismus eine Negation der Negation (ὑπεραπόφασις) ganz anderer Art. Weil das Eine selbst alle Denkbarkeit und Sagbarkeit transzendiert, darum bleiben ihm auch die Negationen unangemessen, insofern in ihnen immer noch etwas gedacht wird, wenn auch nicht das Eine selbst, sondern nur das, jenseits dessen das Eine ist. Darum müssen Proklos zufolge auch die Negationen selber wieder verneint werden.58 Diese Verneinung aller Verneinungen und des Verneinens selbst ist aber keine Affirmation, sondern die Selbstaufhebung des die Verneinungen vollziehenden Denkens selber. Indem die Negationen alle denkbaren Bestimmungen, also allen Gehalt des Denkens, aufheben, muß sich auch das Denken selber, das sich in ihrem Vollzug allen Inhalt wegnimmt, als Denken aufheben, indem es nach allen Denkinhalten zuletzt auch den reinen Denkvollzug des Verneinens selber verneint. Diese Selbstaufhebung des verneinenden Denkens ist als ein Akt des Transzendierens der Selbstüberstieg des Denkens auf das Jenseits allen Denkens hin: die unterschiedslose Einung mit dem Absoluten in der ἔκστασις, in der das Denken aus sich selbst herausgetreten ist, sich selbst als Denken also verlassen hat. Das absolute Eine Plotins und Proklos’, aber auch schon Platons, ist gar kein Absolutes, bei dem das verneinende Denken ankommt, wie ­Hegel meint, sondern reine Transzendenz, zu der das Denken gar nicht kommt, solange es Denken bleibt und nicht sich selbst in der ἔκστασις transzendiert.59

5. Das Absolute als negativer Selbstbezug: Eriugena und Cusa­nus Hegels Auseinandersetzung mit der negativen Theologie bleibt somit der philosophisch stärksten Version negativer Theologie bei Plotin und Proklos prinzipiell unangemessen, denn sie verfehlt vollkommen das, worum es der Platonischen und neuplatonischen negativen Theologie eigentlich geht: die reine Transzendenz des Absoluten. Gleichwohl gibt es innerhalb der neuplatonischen Tradition der negativen Theologie selber Überlegungen, die ­Hegel entgegenkommen und zentrale Aspekte seiner Selbstaufhebung der negativen Theologie vorwegnehmen. Den für ­Hegel entscheidenden Gedanken, daß die in der negativen Auslegung des Absoluten vollzogene Wegnahme aller Bestimmungen dem Absolu58 Vgl. Proklos, In Parm. VII 70, 5–76, 7 Klibansky / 518, 72–521, 69 Steel; Theol. Plat. II 10, 63, 20 ff Saffrey-Westerink. Dazu Beierwaltes, Proklos, 361–366. Zu Hegels Umdeutung der Proklischen Negation der Negation Halfwassen, ­Hegel und der spätantike Neuplatonismus, 425–431. – Vorbereitet ist die Negation der Negation bei Platon, Parmenides 142 A und bei Plotin, Enneade V 3, 14; V 5, 6; VI 8, 8. 59 Vgl. Plotin, Enneade VI 9, 11; vgl. auch Proklos, Theol. Plat. II 11.

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ten selbst nicht äußerlich bleiben könne, sondern dessen eigenes absolutes Tun sei, formuliert zuerst Johannes Eriugena. Eriugena denkt die Verneinung aller Bestimmungen als die Tätigkeit des überseienden Absoluten selbst, in der sich das unbestimmbare Eine selbst bestimmt, und zwar in der Weise, daß es die von ihm selbst verneinten Bestimmungen schöpferisch aus sich hervorbringt und in ihnen erscheint. Als die Negation allen Seins und aller Bestimmungen ist das Absolute überseiendes, transzendentes Nichts (nihil per superessentialitatem, per excellentiam).60 Das überseiende Nichts des bestimmungslosen Einen aber bringt gerade aus seiner eigenen Nichtigkeit alle Wirklichkeit hervor, in der es erscheint, ohne seine Transzendenz aufzuheben, so daß die Wirklichkeit „das Erscheinen des Nichterscheinenden, die Offenbarung des Verborgenen, die Bejahung des Verneinten“ 61 ist – dies entspricht ganz Hegels „Schein des Absoluten“. Eriugena beschreibt auch den Hervorgang des Seins aus dem Übersein des Absoluten als dessen eigenes Tun: Die göttliche Gutheit (d.h. das überseiende Eine), die angemessenermaßen Nichts genannt wird, weil sie jenseits von allem ist, was ist und nicht ist, und in keinem Sein gefunden wird, steigt aus der Negation allen Seins in die Affirmation des ganzen Alls des Seins von sich selbst her in sich selbst herab, gleichsam aus dem Nichts in Etwas, aus der Nicht-Seiendheit in die Seiendheit, aus der Formlosigkeit in die unzählbaren Formen und Gestalten.62

Der Abstieg aus dem Nichts des Überseins ins Sein vollzieht sich also im Absoluten selbst als dessen eigene Tätigkeit, als eine Schöpfung aus dem Nichts, die Eriugena als die Selbsterschaffung Gottes aus der überseienden Nichtigkeit seiner Transzendenz denkt. Wie ­Hegel faßt Eriugena den Hervorgang der Bestimmtheit aus dem bestimmungslosen Absoluten als die Selbstbestimmung des Unbestimmten, in der es sich in sich selbst und für sich selbst manifestiert und ­ egel hält Eriugena dabei dabei zuletzt sich selbst erkennt und weiß. Anders als H aber die Transzendenz des Absoluten über alle Bestimmtheit und die transzendierende Bedeutung der auf das Absolute bezogenen Negationen ausdrücklich fest: das Eine bleibt jenseits von allem, auch wenn es in allem erscheint, das Übersein hebt sich nicht in die Positivität des Seins auf, sondern bleibt deren transzendenter Grund.63 Das Selbstbewußtsein des Absoluten ist darum 60 Vgl. Johannes Eriugena, Periphyseon I 80, 35 ff. 84, 5 ff Sheldon-Williams; IV 5, 758 B; V 21, 897 D. 61  Johannes Eriugena, Periphyseon III 4, 58, 12 f Sheldon-Williams; vgl. dazu Beierwaltes, Eriugena, 120 ff, auch 129 ff, 287 ff. 62  Johannes Eriugena, Periphyseon III, 168, 10 ff Sheldon-Williams: „Divina igitur bonitas, quae propterea nihilum dicitur, quoniam ultra omnia, quae sunt et quae non sunt, in nulla essentia invenitur, ex negatione omnium essentiarum in affirmationem totius universitatis essentiae a se ipsa in se ipsam descendit, veluti ex nihilo in aliquid, ex inessentialitate in essentialitatem, ex informitate in formas innumerabiles et species.“ Vgl. dazu Beierwaltes, Denken des Einen, 358 ff. 63 Vgl. Johannes Eriugena, Periphyseon I 14; IV 5; dazu Beierwaltes, Denken des Einen, 343 ff; ders., Eriugena, 121 ff, 184 ff, bes. 188 ff.

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für Eri­ugena auch kein Wissen, sondern ein alles Wissen übersteigendes Nichtwissen, weil das Absolute kein Was oder Etwas ist, das positiv gewußt werden könnte; es weiß sich selbst nur als das überseiende Nichts der Transzendenz, das alles Seiende und Denkbare zugleich setzt und aufhebt.64 Einen Hegels Selbstaufhebung der negativen Theologie verwandten Gedanken vollzieht auch Nikolaus von Kues in seiner Spekulation über das Non-aliud.65 Das Nichtandere weist als das absolut Erste, das allen Bestimmungen unseres Denkens als das sie allererst ermöglichende Prinzip vorangeht, alle denkbaren Bestimmungen von sich ab, weil jede Bestimmung selbst etwas anderes als das Nichtandere ist, und zwar deshalb, weil sie eben kraft ihrer Bestimmtheit Anderes von sich ausschließt. Insofern ist das Nichtandere das Absolute der negativen Theologie. Diese Negativität des Abhaltens aller Bestimmungen ist aber das eigene Wesen des Nichtanderen, das sich eben dadurch, daß es alle Bestimmungen von sich abhält, selbst bestimmt: das Nichtandere ist nichts anderes als das Nichtandere (non-aliud est non-aliud quam non-aliud).66 Cusa­nus sieht darin den höchsten Ausdruck der Trinität, in der sich das Absolute negativ auf sich selbst bezieht. Indem es sich kraft seiner ihm selbst immanenten Negativität, durch die es alle Bestimmungen von sich abhält, selbst bestimmt, bestimmt das Nichtandere in sich selbst zugleich alles andere. Denn jede Bestimmung und jedes bestimmte Etwas ist das, was es jeweils ist, nur dadurch, daß es nichts anderes ist als es selbst, also eben durch das Nichtandere und dessen negative Selbstbestimmung. Das Nichtandere ist also der bestimmende Grund alles Bestimmten, dem dieses seine Bestimmtheit verdankt. Und es ist dieser bestimmende Grund aller Bestimmtheit gerade kraft seiner negativen Selbstbestimmung. Es ist Cusa­nus zufolge darum der „absolute Begriff “ (conceptus absolutus), der alle Begriffe in sich umfaßt, aber ohne dadurch selbst einen bestimmten Inhalt zu besitzen.67 Darum zeigt sich das Nichtandere in allen Bestimmungen und ist zugleich über jede Bestimmung hin­aus; die Bestimmungen, in denen sich das Nichtandere zeigt, sind nicht bloß als seine Prinzipiate nach ihm, sondern sie sind kraft seiner Selbstbestimmung in ihm selbst.68 Im Gedanken des Nichtanderen erweist sich das Absolute als Sich-Zeigen, das in jeder Bestimmung erscheint und zugleich mehr ist als jede Bestimmung, auch mehr als das Ganze aller Bestimmun64 Vgl. Johannes Eriugena, Periphyseon II, 142, 27 ff. 144, 1 ff. 160, 21 ff Sheldon-Williams; dazu Beierwaltes, Eriugena, 193 ff. 65 Vgl. dazu Beierwaltes, Platonismus im Christentum, 130–171; Cürsgen, Logik der Unendlichkeit, 91–126; Rohstock, Der negative Selbstbezug des Absoluten mit dem Nachweis, daß Cusa­nus durch Eriugena zur Selbstanwendung der negativen Theologie im Gedanken des non-aliud angeregt wurde. 66  Nikolaus von Kues, De li non-aliud, cap. 1 nr. 4; cap. 5 nr. 18. 67  Nikolaus von Kues, De li non-aliud, cap. 20. nr. 94; vgl. auch Idiota de sapientia II nr. 34 und dazu Flasch, Nikolaus von Kues, 259 ff. 68 Vgl. z.B. Nikolaus von Kues, De li non-aliud, cap. 5 nr. 15.

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gen. Denn das Nichtandere ist das Sich-Zeigen eines Verborgenen, das in allem Sich-Zeigen ewig verborgen bleibt, eben weil es die Einheit von Sich-Zeigen ­ egel hält also auch Cusa­nus die Transzenund Verborgenheit ist.69 Anders als H denz des Absoluten ausdrücklich fest. Das Nichtandere ist keine Durchgangsbestimmung, die in einer höheren positiven Bestimmung wie dem Begriff oder der Idee aufgehoben werden könnte, es ist selber überhaupt keine Bestimmung, sondern bezeichnet den unbestimmbaren Grund aller Bestimmtheit; es ist für Cusa­nus ein nicht mehr überbietbares aenigma, das das Denken dialektisch in der Schwebe hält.

6. Résumee Hegels Anspruch, das Absolute der negativen Theologie in seiner eigenen Konzeption des Absoluten als Subjektivität positiv aufheben zu können, scheitert also, und zwar gleich doppelt: Weder führt nämlich die negative Theologie in der Konsequenz ihres eigenen Vollzugs zwingend zu ihrer Selbstaufhebung in positive Selbstbeziehung und Selbstbestimmung, wie sich im Blick auf Plotin ­ egel vorgeführten Figur dialektiund Proklos zeigt. Noch folgt aus der von H scher Selbstaufhebung als solcher schon die absolute Positivität des sich selbst bestimmenden Begriffs, wie sich bei Eriugena und Cusa­nus zeigt. Der Grund für dieses Scheitern ist Hegels Leitgedanke der absoluten Totalität, der eine radikale Transzendenz gar nicht erst in den Blick kommen läßt. Den Horizont des Denkens auf sie hin zu öffnen, ist aber gerade der Sinn von negativer Theologie. ­ egel der genuinen Form negativer Theologie nirgendwo Gleichwohl kommt H so nahe wie in seiner Auslegung des Absoluten am Ende der Wesenslogik. Vor allem die innere Affinität des Hegelschen Gedankens zu Eriugenas und Cusa­ nus’ Selbstanwendung der negativen Theologie hat philosophische Gründe und Konsequenzen, die ich hier nur andeuten kann. Wenn die Aufhebung des negativ-theologisch gedachten transzendenten Absoluten in die selbstbezügliche All-Einheit der absoluten Subjektivität scheitert, man Hegels spekulative Theologie des All-Einen und die negative Theologie des jenseitigen Einen aber nicht einfach als alternative Formen, das Absolute zu denken, gegeneinander setzen will, dann legt sich eine andere Aufhebung nahe als jene, die ­Hegel versucht. Das transzendente Absolute der negativen Theologie ist offenbar kein Durchgangsgedanke, der sich in der autarken Selbstbeziehung der absoluten Subjektivität erfüllt, sondern ein Übergangsgedanke, der das Denken sich ekstatisch selbst transzendieren läßt. Die erfüllte Selbstbeziehung der Subjektivität aber entwickelt ­Hegel aus der Selbstanwendung der negativen Theologie, aus dem Setzen und Aufheben der Bestimmungen, in denen das bestimmungslose Ab69 Vgl.

vor allem Nikolaus von Kues, De li non aliud, cap. 3–4.

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solute scheint, ohne zu erscheinen. Der Umweg des sich begreifenden Begriffs ­ egel alterna­ zu sich selbst über das Absolute der negativen Theologie ist für H tivlos, um die Subjektivität vor jeder Vergegenständlichung zu bewahren. Wenn das Absolute der negativen Theologie aber nicht als Moment selbstbezüglicher Negativität in die Selbstbeziehung des Begriffs eingehen kann, dann bleibt, so scheint mir, nur ein Ausweg: Das Absolute muß als transzendent bleibender Grund und Ursprung des sich begreifenden Begriffs gedacht werden. Zumal Eriugenas Weiterführung und Selbstanwendung der negativen Theologie scheint mir das Potential zu haben, Hegels Begriffs-Theologie in die negative Theologie zu integrieren. Der sich begreifende Begriff, die sich auf sich beziehende Subjektivität, ist dann nicht selbst das Absolute. Er ist in seiner Übergegenständlichkeit aber der Schein des Absoluten, in dem dieses so scheint, daß es sich zeigt, indem es seine Verborgenheit, seine Transzendenz zeigt. Und dieser Schein des Absoluten ist der Grund der Welt, sowohl der ansichseienden als auch der erscheinenden. Das Sich-Wissen des Denkens ist dann kein absolutes Wissen als Selbsterkenntnis des Absoluten wie bei Hegel, sondern es ist das Wissen um die eigene Übergegenständlichkeit und um den sich darin bekundenden Transzendenzbezug: um die ekstatische Verfassung des Denkens selbst. Das Sich-Wissen des Denkens ist also keine systematisch in sich abgeschlossene Vernunft-Wissenschaft in Hegels Sinn, sondern Philo-Sophie im Sinne Platons: Sich-Wissen im liebenden Hinausgehen über sich. In genau dieser Richtung haben auch der späte Fichte und der späte Schelling Hegels Metaphysik der Subjektivität zu überbieten versucht.

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XIX.

Freiheit als Transzendenz Zur Freiheit des Absoluten bei Schelling und Plotin 1. Das Eine und die Freiheit Das metaphysische Denken Europas entfaltet sich geschichtlich in einer Vielfalt von Gestalten und Traditionszusammenhängen, die auf den ersten Blick verwirren kann. Wer es bei solcher Verwirrung nicht belassen will, der wird danach fragen müssen, was denn eigentlich metaphysisches Denken als solches grundlegend ausmacht; eine Grundgestalt der Metaphysik, nach der damit gefragt ist, wird sich aber auch historisch ausweisen lassen müssen. Die m.E. überzeugendste Antwort auf diese Frage hat Werner Beierwaltes gegeben, indem er metaphysisches Denken als Denken des Einen bestimmt hat.1 Solches Denken des Einen ist geschichtlich realisiert im antiken Platonismus, wie er sich von Platon bis zu Proklos und Damaskios historisch entfaltet hat. Aufgrund seiner unvergleichlichen Wirkungsgeschichte, besonders auf die denkende Selbstverständigung des Christentums von der Spätantike bis zur Renaissance, auf die Mystik aller drei monotheistischen Religionen und nicht zuletzt auf den nachkantischen deutschen Idealismus, kann der Platonismus als die sich durchhaltende Grundgestalt der europäischen Metaphysik angesehen werden. Nun kann eine im emphatischen Sinne Erste Philosophie keine bloße Theo­ ria bleiben, sondern muß eine die Lebensführung bestimmende Kraft entwickeln. Auch dafür ist der Platonismus paradigmatisch: für ihn war das Eine das Gute selbst, an dem die vernünftige Lebensgestaltung des Einzelnen wie der Gemeinschaft sich zu orientieren hatte.2 Im Zentrum der praktischen Philosophie der Neuzeit steht aber spätestens seit Kant das Thema der Freiheit. Läßt sich, so muß man fragen, auch der Freiheitsgedanke in die Metaphysik des Einen so integrieren, daß Freiheit im absoluten Einen ihre letzte Begründung und Rechtfertigung findet? Von der Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob die Metaphysik des Einen auch für die Moderne noch immer eine vergleichbare praktische und lebensbestimmende Bedeutung haben kann wie für den antiken Platonismus. Die Antwort auf diese Frage suche ich bei demjenigen unter den Idea­ 1 Vgl. 2 

Beierwaltes, Denken des Einen. Grundlegend dazu bleibt Krämer, Arete bei Platon und Aristo­teles.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

listen, dessen Denken die größte systematische Affinität zum Neuplatonismus aufweist: also bei Schelling.3 Der deutsche Idealismus ist seit Kant wesentlich Idealismus der Freiheit.4 Kants praktische Philosophie war für das neuzeitliche Freiheitsverständnis darum so grundlegend, weil sie die vielfältigen und schon in der Antike behandelten Aspekte des Freiheitsbegriffs wie Willensfreiheit, Handlungsfreiheit und Wahlfreiheit5 umfassend dem Grundgedanken der Autonomie ein- und unterordnet, also Freiheit grundlegend als Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung aus praktischer Vernunft begreift.6 Freiheit ist so eigentlich die reine Spontaneität der Vernunft selber: „Denn frei ist, was nur den Gesetzen seines eigenen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist“7 – so formuliert Schelling in der Freiheitsschrift diesen den Idealisten seit Kant gemeinsamen Grundgedanken der Freiheit des Selbstseins. Daß diese metaphysische Dimension der Freiheit, ihr intelligibler Charakter, das Fundament auch der praktischen Freiheit ist, hatte Kant ausgesprochen, aber diese Dimension selbst analysieren konnte er aufgrund seiner Metaphysikkritik nicht. Dagegen geht es Fichte, ­Hegel und Schelling in ihren Freiheitslehren wesentlich um die Aufhellung dieser metaphysischen Freiheit des Selbst­ egel begründen sie subjektivitätstheoretisch: nämlich in der seins. Fichte und H Tathandlung des sich selbst setzenden Ich bzw. in dem reinen Beisichselbstsein des sich selbst denkenden absoluten Begriffs.8 3 Vgl. zu Schellings Verhältnis zum Neuplatonismus Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, 67–82, 100–144 sowie die Auswahl der von Windischmann wohl 1805 für Schelling auf dessen Bitte übersetzten „Stellen aus Plotinos“ 210–214; ders., „Absolute Identität. Neuplatonische Implikationen in Schellings Bruno“, in: ders., Identität und Differenz, 204–240; ders., „Plotins Gedanken in Schelling“, in: ders., Das wahre Selbst, 182–227; ferner Thomas Leinkauf, Schelling als Interpret der philosophischen Tradition. Zur Rezeption und Transformation von Platon, Aristo­teles, Plotin und Kant, Münster 1998, 31–43. – In der mangelhaft nachgewiesenen Behauptung konkreter historischer Beeinflussung problematisch, aber dennoch anregend ist Harald Holz, Spekulation und Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling, Bonn 1970. 4 Vgl. dazu Düsing, Subjektivität und Freiheit. – Zur mittelalterlichen Vorgeschichte des idealistischen Freiheitsdenkens ist instruktiv Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, 2. Aufl. Darmstadt 1997. 5 Vgl. zu diesem antiken Hintergrund Hans Krämer, „Die Grundlegung des Freiheitsbegriffs in der Antike“, in: Josef Simon (Hg.), Freiheit. Theoretische und praktische Aspekte des Problems, Freiburg/München 1977, 239–270. 6 Vgl. dazu Dieter Henrich, „Ethik der Autonomie“, in ders., Selbstverhältnisse, 6–56. 7  Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), in: ders., Sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–1861 (= Sämmtliche Werke), Bd. VII, 384. – Vgl. zu Kants Freiheitsbegriff Klaus Düsing, „Spontaneität und Freiheit in Kants praktischer Philosophie“, in: ders., Subjektivität und Freiheit, 211–235. 8 Vgl. z.B. für H ­ egel Klaus Düsing, „Die Bestimmungen des freien Willens und die Freiheit des Begriffs bei Hegel“, in: ders., Aufhebung der Tradition, 265–277.

XIX. Freiheit als Transzendenz

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Auch Schelling begreift Freiheit zunächst subjektivitätstheoretisch, aber seit der Freiheitsschrift unterscheidet er die in der Struktur der Subjektivität verankerte endliche Freiheit des Menschen nicht bloß graduell, sondern prinzipiell von der Freiheit des Absoluten, und dabei entwickelt er einen Begriff von absoluter Freiheit, der nicht mehr in der Struktur der Subjektivität, sondern in der Transzendenz des absoluten Einen, des Grundes der Subjektivität, fundiert ist. Das heißt aber: Schelling denkt Freiheit zuletzt henologisch. Absolute Freiheit bedeutet für ihn Transzendenz, und zwar genauer Transzendenz über das Sein. Und genau darin berührt sich der späte Schelling mit Plotin, den er, wie Werner Beierwaltes gezeigt hat, seit etwa 1805 kannte.9

2. Schellings Bestimmung der menschlichen Freiheit Das spezifische Wesen der menschlichen Freiheit besteht Schelling zufolge darin, daß sie das Vermögen zum Guten und zum Bösen ist.10 Genau darin unterscheidet sich menschliche Freiheit von der Freiheit Gottes, die als reine Güte die Möglichkeit einer Selbstbestimmung zum Bösen ausschließt. Für Schelling folgt daraus, daß die menschliche Freiheit einen von Gott unabhängigen Grund haben muß. Dieser Grund kann jedoch nicht im Sinne eines manichäischen Dualis­mus ein Gott entgegengesetztes Prinzip des Bösen sein, da Schelling an der Allbegründung Gottes unbedingt festhält. Für ihn ist die Welt in Natur und Geschichte gar nichts anderes als die Selbstoffenbarung Gottes. Doch schließt die reine und uneingeschränkte Güte Gottes es auch aus, daß Gott selber der Ursprung des Bösen ist. Dies ist das klassische Theodizee-Problem, dessen klassische Lösungen von Plotin über Augustinus bis Leibniz Schelling indes nicht befriedigen.11 Schelling löst das Problem dadurch, daß er als Grund der Möglichkeit des Bösen und damit zugleich der menschlichen Freiheit ein Moment in Gott ansetzt, das zwar ein konstitutives Moment Gottes, das aber gleichwohl nicht Gott selbst ist. Dieses Moment in Gott, „was in Gott selbst nicht Er selbst ist“,12  9 Vgl.

Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, 100–110 mit 202–214. Schelling, Sämmtliche Werke VII, 352. – Das Folgende faßt Überlegungen zusammen, die ich eingehender entfaltet habe in Jens Halfwassen, „Die Bestimmung des Bösen in Schellings Freiheitsschrift und in der Moderne“, in: Mirhan Dabag/Antje Kapust/Bernhard Waldenfels (Hgg.), Gewalt. Strukturen – Formen – Repräsentationen, München 2000, 81–96, bes. 84 ff (dort auch weitere Literatur). Vgl. zum Freiheitsbegriff Schellings in der Freiheitsschrift auch Siegbert Peetz, Die Freiheit im Wissen. Eine Untersuchung zu Schellings Konzept der Rationalität, Frankfurt am Main 1995. 11 Vgl. zur klassischen Lösung dieses Problems durch die Privationstheorie des Bösen die ertragreiche Studie von Christian Schäfer, Unde malum? Die Frage nach dem Woher des Bösen bei Plotin, Augustinus und Dionysius, Würzburg 2002. 12 Schelling, Sämmtliche Werke VII, 359. 10 Vgl.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

nennt Schelling den „Grund“ in Gott, den er von Gott als existierendem unterscheidet, der aber zugleich als Grund der Existenz Gottes von Gott unabtrennbar ist. Für diese Unterscheidung von Grund und Existenz in Gott beruft sich Schelling auf die traditionelle Bestimmung Gottes als causa sui, die als Selbstbegründung zugleich eine Selbstunterscheidung in Gott selber impliziert.13 Den Grund denkt Schelling als das erste Moment innerhalb der trinitarischen Selbstkonstitution Gottes und zugleich – da die Welt die Selbstexplikation Gottes ist – als das erste Prinzip der Weltbegründung, die erste Potenz des weltbegründenden Absoluten. Schelling unterscheidet seit seiner Frühzeit drei derartige Potenzen, die er gleichermaßen als Wesensmomente Gottes wie als Prinzipien der Weltbegründung denkt.14 In der Freiheitsschrift entwickelt er die trinitarische Selbstvermittlung des Absoluten in drei Stufen, in denen jeweils dem Geist als dem Moment der Einheit in dieser Selbstvermittlung die Schlüsselrolle zufällt. Die erste und grundlegende Stufe ist die Selbstvermittlung des vor- und überweltlichen Gottes in sich, womit Schelling die christliche Trinitätsspekulation aufnimmt, die er durch die Prinzipientriade aus Platons Philebos auslegt. Das erste Moment der göttlichen Selbstvermittlung ist für Schelling der Grund, der als reine Spontaneität und d.h. als reines Aus-sich-Hervorbringen Realität überhaupt setzt, dabei aber als solcher noch völlig unbestimmt bleibt; er entspricht damit Platons Prinzip des ἄπειρον. Das zweite Moment ist die Existenz in Gott, die Platons begrenzendem Prinzip entspricht: dies ist die Idee als der Inbegriff reiner Bestimmtheit, die sich als das eigentlich oder wahrhaft Seiende zum Kosmos der Ideen differenziert und damit der die Welt bestimmende Logos ist; der Logos setzt aber die ursprüngliche Seinssetzung durch den spontan aus sich hervorbringenden Grund immer schon vor­aus und ist so erst das Zweite. Gott ist „Er Selbst“ aber erst als die Einheit der spontan hervorbringenden Kraft des Grundes und der reinen Seinsbestimmtheit der Idee; diese Einheit ist der νοῦς, der Geist als das dritte Moment der Trinität, in dem produktive Spontaneität und ideenhafte Bestimmtheit vereint sind. Als Geist kehrt Gott aus seiner Selbstunterscheidung in Grund und Existenz in die Einheit zurück und ist als erfüllte Selbstvermittlung und Selbstbeziehung allererst wahrhaft Gott. Die zweite Stufe der göttlichen Selbstoffenbarung ist sodann die Kosmogonie, die Schelling als das Auseinandertreten der Momente Gottes zu eigenstän13 Vgl.

Schelling, Sämmtliche Werke VII, 357 ff. gewinnt seine drei Potenzen bereits in seinem Kommentar zu Platons Timaios von 1794 durch eine spekulative Deutung der drei Prinzipien des ἄπειρον, des πέρας und des νοῦς (als der Einheit von πέρας und ἄπειρον) aus Platons Philebos 15 A–C, 23 C – 27 C. Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, „Timaeus“ (1794), hg. von Hartmut Buchner. Mit einem Beitrag von Hermann Krings: „Genesis und Materie – Zur Bedeutung der Timaeus-Handschrift für Schellings Naturphilosophie“, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, 27– 29, 35–37, 61–63 u.ö. 14 Schelling

XIX. Freiheit als Transzendenz

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diger Wirksamkeit denkt. Dieses Auseinandertreten der Momente des Grundes, der Idee oder des Logos und des Geistes zu eigenständigen weltbestimmenden Prinzipien und Mächten ergibt sich aber gerade aus ihrer vorweltlichen Einheit in Gott als Geist, da zum Geist gehört, daß er sich in einem von ihm verschiedenen Anderen manifestiert. Dieses Andere des Geistes ist die Welt, die nur als von Gott verschiedene der Schauplatz seiner Offenbarung und Selbstoffenbarung sein kann. Die Verschiedenheit der Welt von Gott entspringt dem, was in Gott nicht Gott selbst ist, also dem Grund, der als das ursprünglich weltsetzende Prinzip den Charakter des Platonischen Materialprinzips aus dem Timaios annimmt.15 Dieses Materialprinzip ist als das „Worin des Werdens“ kein bloß passiv aufnehmender Stoff, sondern das wirkende Prinzip der Veränderung und der Individuation aller Weltwesen. Schelling deutet es mit Plu­ tarch als ursprunghafte Lebendigkeit, die spontan hervorbringt, das Hervorgebrachte aber sogleich wieder in sich verschließt und damit Züge einer irrational-dämonischen Macht annimmt.16 Zur Entstehung einer gestalteten und geordneten Welt kommt es darum erst dadurch, daß der göttliche Logos die ihm innewohnenden Ideen in die unbestimmt fluktuierende Lebendigkeit jener Urmaterie hineinbildet und dadurch ans Licht und zur Entfaltung bringt, was in ihr verborgen ist. Dieses Zusammenwirken der spontan produzierenden Kraft des Grundes und der gestaltgebenden und entfaltend aufschließenden Kraft der Idee ist nur möglich aufgrund der Einheit dieser beiden Prinzipien im Geist; es ist darum der Geist, der die Welt als frei schaffender, allmächtiger Wille erschafft, um sich in ihr als frei über sich hin­ausgehende, sich mitteilende Güte oder Liebe zu offenbaren. Der Geist kann in seiner Einheit aber nur in einem Wesen offenbar werden, das selber Geist ist und das somit als die Identität der Spontaneität des Grundes mit der Bestimmungskraft der Idee wie Gott selber geisthafter Wille ist, der sich frei zu sich selbst bestimmt: dies ist der Mensch. Die dritte Stufe der göttlichen Selbstoffenbarung ist darum die Geschichte, in der sich die Selbstbestimmung des menschlichen Geistes als Wille vollzieht und die darum anders als die von Notwendigkeit bestimmte Natur eine Geschichte der Freiheit ist. Für Schelling ist im Menschen anders als in allen Naturwesen der Grund mit der Idee nicht bloß in einer bestimmten Konfiguration verbunden, sondern beide Prinzipien 15 Vgl. Schelling, Sämmtliche Werke VII, 360: „So also müssen wir die ursprüngliche Sehnsucht uns vorstellen, wie sie zwar zu dem Verstande sich richtet, den sie noch nicht erkennt, wie wir in der Sehnsucht nach unbekanntem namenlosem Gut verlangen, und sich ahndend bewegt, als ein wogend wallend Meer, der Materie des Platon gleich, nach dunkelm ungewissem Gesetz, unvermögend etwas Dauerndes für sich zu bilden.“ Schelling bezieht sich hier auf Platon, Timaios 52 D – 53 B. Vgl. zum Strebecharakter des Platonischen Mate­ rialprinzips Krämer, Ursprung der Geistmetaphysik, 326 ff; Happ, Hyle, 203 ff. 16 Vgl. zu Plutarchs Deutung der Platonischen Materie als einer irrationalen Urseele, die für Plutarch die Grundlage der Weltschöpfung ist, Werner Deuse, Untersuchungen zur mittelplatonischen und neuplatonischen Seelenlehre, Mainz/Stuttgart 1983, bes. 12 ff.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

sind in der Einheit des Geistes zu vollkommener Identität verschmolzen.17 Wie jedes Naturwesen ist auch der Mensch kraft des Grundes ein in sich zentriertes, selbständiges Individuum, das kraft der Idee ein sich entfaltendes, über seinen jeweiligen Zustand hin­ausgehendes Leben hat. Der Mensch realisiert in dieser Entfaltung aber nicht bloß einen Ausschnitt aus der Wesensfülle der Ideen, sondern den Logos selbst als die ganze Fülle der Ideen. Darum ist das zum Logos aufgeschlossene menschliche Selbst anders als das aller Naturwesen auch nicht bloß individuell, sondern selber logoshaft und geistig, d.h. fähig zum freien Hinausgehen über seine individuelle Besonderheit und Begrenztheit im vernünftigen Ausgriff auf das Ganze der Wirklichkeit. Auf dieser Geistigkeit beruht die Freiheit des Menschen. Sie ist aber noch nicht die spezifisch menschliche Freiheit. Das Spezifische der menschlichen Freiheit besteht vielmehr darin, daß im Menschen das Verhältnis von Logos und Selbst selber ein frei bestimmtes ist: „das Band der Prinzipien in ihm ist kein notwendiges, sondern ein freies“,18 so Schelling. An sich ist in der Einheit des Geistes der Logos als Inbegriff der Ideen von sich her das Bestimmende und das dem Grund entsprungene Selbst von sich her das Bestimmte. Schelling nennt dieses Verhältnis der Prinzipien den Universalwillen, der sich von der Allgemeinheit des Logos bestimmen läßt. Der Mensch ist aber frei, dieses Verhältnis der Prinzipien in sich umzukehren, also sein individuelles, begrenztes Selbst in sich bestimmend werden zu lassen und ihm den Logos als eine bloß noch instrumentelle Vernunft unterzuordnen. Eine solche Verkehrung der Prinzipien nennt Schelling den Partikularwillen und bestimmt sie als das Wesen des Bösen.19 In einer solchen Prinzipienverkehrung, in der Selbst und Logos die Rollen vertauschen, wendet sich der Geist gleichsam gegen sich selbst und verfehlt sein eigentliches Wesen, das gerade auf der Allgemeinheit des Logos beruht. Die Möglichkeit zu solcher Verkehrung und Selbstverfehlung liegt aber unaufhebbar in der Freiheit des Menschen. Der Mensch bleibt auch als Partikularwille Geist; er bleibt bestimmt durch das Hinausgehen der Vernunft über jede naturhafte Begrenzung im Ausgriff auf das Ganze. Aber gerade diesen vernünftigen Ausgriff auf das Ganze stellt der Partikularwille in den Dienst der Eigensucht seines begrenzten Ego. – Die spezifisch menschliche Freiheit liegt also für Schelling darin, daß der Mensch sich frei dazu bestimmen muß, entweder die Allgemeinheit der Vernunft oder den Eigenwillen seines individuellen Selbst zur Maxime seiner Handlungen und zum bestimmen17 Vgl. – auch zum Folgenden – Schelling, Sämmtliche Werke VII, 363 f. – Dazu auch Jens Halfwassen, „Die Bestimmung des Menschen und die Rolle des Bösen in Schellings Freiheitsschrift“, in: Lore Hühn/Philipp Schwab (Hgg.), System, Natur und Anthropologie. Zum 200. Jubiläum von Schellings Stuttgarter Privatvorlesungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 2014, 238–253. 18 Schelling, Sämmtliche Werke VII, 374. 19 Vgl. Schelling, Sämmtliche Werke VII, 363 ff, bes. 365.

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den Prinzip seines Lebens zu machen; darin besteht seine Freiheit zum Guten oder zum Bösen.

3. Schellings Begriff der absoluten Freiheit Den Gedanken einer absoluten Freiheit in Absetzung von dieser spezifisch menschlichen Freiheit entwickelt Schelling in der Freiheitsschrift noch nicht, sondern erst in den Weltalterfragmenten. Doch den entscheidenden Ansatz dazu enthält schon die Freiheitsschrift: nämlich die Transzendenz des Absoluten. Schelling deckt sie als die Voraussetzung des Potenzenverhältnisses auf, und er argumentiert dabei genuin henologisch. Als Selbstbestimmung beruht Freiheit auf dem Verhältnis der Prinzipien des spontan produzierenden Grundes und der bestimmenden Idee, und zwar genauer auf der Identität dieser Prinzipien im Geist. Gerade diese Identität der an sich entgegensetzten Prinzipien bedarf aber selber eines Grundes. Der Einheitsgrund, der das Verhältnis der Potenzen ursprünglich ermöglicht, kann aber nicht der Geist sein; denn die Identität von Grund und Idee setzt deren Unterschied ja schon vor­aus. Jede Unterscheidung aber setzt ihrerseits eine allem Unterschied ursprünglich vorgängige Einheit vor­aus: die reine Einheit, in der kein Unterschied mehr ist und die darum den Potenzen und ihren Verhältnissen transzendent bleibt. So schreibt Schelling: es muß vor allem Grund und vor allem Existierenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen sein; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar noch auf irgendeine Weise vorhanden seyn. Es kann daher nicht als die Identität, es kann nur als die absolute Indifferenz beider bezeichnet werden … Die Indifferenz ist nicht ein Produkt der Gegensätze, noch sind sie implicite in ihr enthalten, sondern sie ist ein eigenes von allem Gegensatz geschiedenes Wesen, an dem alle Gegensätze sich brechen, das nichts anderes ist als eben das Nichtseyn derselben, und das darum auch kein Prädicat hat als eben das der Prädicatlosigkeit, ohne daß es deßwegen ein Nichts oder ein Unding wäre. 20

Diese absolute Priorität der reinen Einheit der Indifferenz ist das henologische Fundament der Freiheit; und genau darin zeigt sich Schellings Verwandtschaft mit dem Platonismus am deutlichsten. Zwar stammt der Terminus „Ungrund“ von Jacob Böhme; doch Schelling benutzt ihn wohl nur, um auszudrücken, daß die reine Einheit der Indifferenz ursprünglicher ist selbst als der Grund, die erste Potenz. Das Absolute ist somit nicht selber Moment innerhalb der Relationalität der Potenzen, es ist auch nicht das Ganze der Potenzen, sondern deren transzendenter Ursprung, dem die Potenzen ihre relationale Einheit im Geist 20 Schelling,

Sämmtliche Werke VII, 406.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

verdanken. Mit dieser Begründung der Selbstvermittlung des Geistes in einem transzendenten Prinzip unterschiedslos einfacher Einheit nimmt Schelling unbeschadet seiner Kritik am Emanationsgedanken die Grundkonstellation der Metaphysik Plotins auf. Schellings Anknüpfung an den Platonismus wird noch deutlicher, sobald er die Transzendenz des Absoluten genauer expliziert. Bereits im ersten Weltalter-Druck von 1811 spricht Schelling nämlich mit Berufung auf die Tradition – und zwar unverkennbar die des Platonismus – die Seins­transzen­denz des Absoluten aus: „Es ist nur Ein Laut in allen höheren und besseren ­Lehren, daß das Seyn schon ein tieferer Zustand des Wesens, und daß sein urerster unbedingter Zustand über allem Seyn ist.“21 Schelling erläutert dies ganz im Sinne von Platons Gleichsetzung des Guten mit dem Einen: „Wir haben sonst das Höchste ausgesprochen als die wahre, die absolute Einheit von Subjekt und Objekt, da keins von beyden und doch die Kraft zu beyden ist … Ihr Wesen ist nichts als Huld, Liebe und Einfalt“ – Einfalt im Sinne von reiner, unterschiedsloser Einfachheit, Huld und Liebe aber, weil die reine Einfachheit sich allem Seienden neidlos mitteilt: „Sie ist im Menschen die wahre Menschheit, in Gott die Gottheit.“22 Denn jedes Seiende ist das, was es ist, nur kraft der Einheit, die es dem Übersein verdankt, das Schelling wie Plotin sogar „Nichts“ nennt. 23 Die Selbstmitteilung des Einen entspringt gerade seiner überseienden Nichtigkeit, die zugleich absolute Fülle ist, wie Schelling durch eine Methodenreflexion deutlich macht: „Die Bedeutung der Verneinung ist allgemein eine sehr verschiedene, je nachdem sie auf das Innere oder Aeußere bezogen wird. Denn die höchste Verneinung im letzten Sinn muß Eins seyn mit der höchsten Bejahung im ersten.“24 Gerade aufgrund seiner inneren Überfülle also kann das Eine keine Eigenschaften, keine ihm zukommenden Bestimmungen haben. Die Negation aller Prädi21  Friedrich

Wilhelm Joseph Schelling, Die Weltalter. Erstes Buch: Die Vergangenheit, Druck I, 1811, 26, hg. von Manfred Schröter, 4. Aufl. München 1993, 14 (= Die Weltalter). – Vgl. zum Übersein des Absoluten bei Schelling Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, 80 ff, 111 ff; ders., Das wahre Selbst, spez. 205 f (mit zahlreichen weiteren Belegstellen). – Zur neuplatonischen Konzeption der absoluten Transzendenz des Einen und zu ihrer Herkunft von Platon und Speusipp vgl. Halfwassen, Aufstieg zum Einen. – Ausgesprochen hat die Seinsstranszendenz des Absoluten als erster Platon, Politeia 509 B; Parmenides 141 E; Test. Plat. 50 Gaiser (Speusipp). Vgl. zu Platons Gleichsetzung des Guten mit dem Einen Aristo­ teles, Metaphysik 1091 b 13–15; Eudemische Ethik 1218 a 15–30. 22 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 28/ 15 f Schröter. 23 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 26 f/ 14 f Schröter: „Den meisten, weil sie jene höchste Freyheit nie empfanden, scheint es das Höchste, eine Seyendes oder Subjekt zu sein; daher fragen sie: was denn über dem Seyn gedacht werden könne? und antworten sich selbst: Das Nichts oder dem Aehnliches. Ja wohl ist es ein Nichts, aber wie die lautere Freyheit ein Nichts ist …“ Vgl. Plotin, Enneade III 8, 10, 28 (Creuzer hatte diese Schrift Plotins 1805 ins Deutsche übersetzt, Schelling hat sich Exzerpte aus ihr gemacht, siehe Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, 103 f). 24 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 27/ 15 Schröter.

XIX. Freiheit als Transzendenz

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kate meint so die reine Transzendenz dessen, dem sie abgesprochen werden; was Schelling intendiert, ist also eine transzendierende Negation im Sinne von Plotin und Proklos. 25 Wie für Plotin, Proklos und Pseudo-Dionysius Areopagita ist das überseiende Eine auch für Schelling nicht Gott, sofern Gott trinitarisch sich selbst vermittelnder Geist ist: „Daher wir gewagt, jene Einfalt des Wesens über Gott zu setzen, wie schon einige der Aelteren von einer Ueber-Gottheit geredet.“26 Inwiefern ist aber die Transzendenz des Einen die letzte Begründung der Freiheit? Und wieso kann sie selber als absolute Freiheit begriffen werden? Die Antwort auf beide Fragen ergibt sich aus Schellings eigenwilliger Argumentation für das Übersein, die nicht leicht zu durchschauen ist und nur von der Potenzenlehre der Freiheitsschrift her einleuchtet. Schelling behauptet nämlich: „Einem jeden von uns wohnt das Gefühl bey, daß die Notwendigkeit dem Seyn als sein Verhängniß folgt.“27 Gemeint ist wohl Folgendes: das ursprünglich Sein-setzende Prinzip ist der Grund, der als blind produzierende Kraft für sich das Gegenteil vernünftiger Freiheit, nämlich wie Platons Materie blinde, bewußtlose Notwendigkeit, ἀνάγκη ist; kraft seiner Herkunft aus dem Grund folgt dem Sein die Notwendigkeit als ein Verhängtes, ein der freien Wahl Entzogenes. Daß ich existiere, ist kein Akt meiner Freiheit, sondern ich muß mein Sein als ein unvorgreiflich vorgegebenes Faktum oder Fatum hinnehmen. Für den späten Schelling wird dies ein entscheidender Einwand gegen Hegel, der eine autonome Selbstbegründung der Vernunft, wie sie Hegels Logik intendiert, in Schellings Augen zum Scheitern verurteilt. 28 Aus dem Notwendigkeitscharakter des Seins folgt zugleich, daß allem Seienden immer nur eine eingeschränkte, aber keine absolute Freiheit möglich ist. Auch die sua sponte vollzogene Selbstentfaltung, durch die sich die Wesensfülle 25 Vgl.

zur Negation als Ausdruck der Transzendenz Beierwaltes, Proklos, 339–366, bes. 348 ff. – Vgl. zu Hegels Versuch einer spekulativen Aufhebung der negativen Theologie oben Kapitel XVIII. 26 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 28–29/ 16 Schröter. Schelling bezieht sich damit wohl auf Pseudo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus IV 1; XI 6 (diese Stelle ist zitiert bei dem von Schelling oft benutzten Johannes Gerhard, Locorum Theologicorum Tomus Tertius, Tübingen 1764, 72); XIII 3; De mystica theologia I 1. Daß das überseiende Absolute mehr als Gott ist, formuliert schon Plotin, Enneade VI 9, 6, 12 ff (Auszüge aus VI 9 fand Schelling in Windischmanns „Stellen aus Plotinos“); ebenso Proklos, In Parm. 1108, 29–1109, 7 Cousin und oft. 27 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 26/ 14 Schröter. 28 Vgl. dazu Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, passim; ferner z.B. Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, Frankfurt am Main 1975, bes. 135 ff; Michael Theunissen, „Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“, in: Philosophisches Jahrbuch 83 (1976), 1–29; ders., „Die Idealismuskritik in Schellings Theorie der negativen Philosophie“, in: Dieter Henrich (Hg.), Ist systematische Philosophie möglich? Bonn 1977, 173–191.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

des Logos im Seienden realisiert, ist kein reines Freiheitsgeschehen. Denn durch diese vom Logos bestimmte Entfaltung kommt Schelling zufolge nur ans Licht und zur Aktualität, was in der Unbestimmtheit des Grundes implicite und im Modus der Möglichkeit schon enthalten war. Der Grund ist keine leere Projektionsfläche der Ideen, sondern er enthält die Totalität aller Ideen schon in sich, nur unaufgeschlossen und verborgen. 29 Die Entfaltung des Seienden zur Aktualität seines vollen Wesens erfolgt darum zwar spontan, aber kraft einer ontologischen Intentionalität, die aller Selbstbestimmung vor­ausgeht und ihr gerade als ihre Ermöglichung ewig entzogen bleibt: „Wollen ist Urseyn“.30 Eben diese Intentionalität des Seins ist für Schelling Ausdruck eines Mangels: die unaufgeschlossene Latenz des Grundes hält es bei sich nicht aus, sie muß über sich hin­aus. Das Seiende ist aufgrund des Grundes nicht frei, sich zu entfalten oder nicht zu entfalten: „Alles Seyende hat den Stachel des Fortschreitens, des sich Ausbreitens in sich, Unendliches ist in ihm verschlossen, das es aussprechen möchte“,31 so Schelling. Dies ist das Wesensgesetz alles Seienden. Selbst die bewußte Selbstbestimmung des Geistes vollzieht sich immer schon eingelassen in ein Entfaltungsgeschehen, über das der Geist nicht Herr ist, weil es allem bewußten Beisichsein zuvor immer schon in Gang gesetzt ist. Reflexives Zusichkommen setzt somit ein Seinsgeschehen vor­aus, das nicht die Reflexion, sondern die blinde, unbewußte Intentionalität des Grundes in Gang setzt und in Gang hält. Für Schelling folgt daraus: „Nur über dem Seyn wohnt die wahre, die ewige Freyheit. Freyheit ist der bejahende Begriff der Ewigkeit oder dessen, was über aller Zeit ist.“32 „Ewigkeit“ heißt das überseiende Eine vor dem Hintergrund des ontologischen Zeitkonzepts der Weltalter,33 das Zeit nicht als Verlaufsform von Naturprozessen oder Bewußtseinsströmen versteht, sondern als das Ganze jenes Entfaltungsgeschehens, durch das sich das Seiende aus der Verschlossenheit des Grundes zu sich selbst und zu seiner Erfüllung im Geist vermittelt, wobei der Grund mit der Vergangenheit, der Logos mit der Gegenwart und der Geist mit der Zukunft assoziiert wird. Als Einheitsgrund der dieses Entfaltungsgeschehen konstituierenden Potenzen ist das Eine darum in keiner Zeit, sondern Ewigkeit über aller Zeit. Der positive Begriff dieses allein Überzeitlichen und Überseienden ist Schelling zufolge Freiheit, aber freilich nicht Freiheit im Sinne 29 Vgl. Schelling, Sämmtliche Werke VII, 361: „Weil nämlich dieses Wesen … nichts anderes ist als der ewige Grund zur Existenz Gottes, so muß es in sich selbst, obwohl verschlossen, das Wesen Gottes [d.h. die Einheit aller Ideen] gleichsam als einen im Dunkel der Tiefe leuchtenden Lebensblick enthalten.“ 30 Schelling, Sämmtliche Werke VII, 350. 31 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 26/ 14 Schröter. – Ähnlich Plotin, Enneade IV 8, 6, 6–16. 32 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 26/ 14 Schröter. 33 Vgl. dazu Wolfgang Wieland, Schellings L ­ ehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie, Heidelberg 1956.

XIX. Freiheit als Transzendenz

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des sich reflexiv selbst bestimmenden Willens, des Geistes. Freiheit ist das Absolute vielmehr gerade aufgrund seiner Überseiendheit, durch die es dem Ganzen des durch den blinden Grund initiierten und in Gang gehaltenen Geschehens der Seinsentfaltung entnommen ist. Weil alles Sein sich zuletzt der blinden Notwendigkeit des Grundes verdankt, darum ist absolut frei allein das, was über allem Sein ist. Absolute Freiheit meint also keine Erfüllung einer Intention und kein Wollen, sondern gerade umgekehrt das Freisein von aller Intentionalität, wie Schelling an der Paradoxie eines nicht-wollenden Willens erläutert: die lautere Freiheit ist ein Nichts, wie der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles. Er ist Nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewigen Freyheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird.34

Absolute Freiheit ist hier also gerade nicht als Selbstbestimmung gedacht, sondern als Freiheit von aller Bestimmtheit und eben darum auch zu aller Bestimmtheit. Diese Freiheit von aller Bestimmung ist aber keine Leere, sondern vielmehr die absolute Erfüllung, die gerade als absolute ohne reflexives Beisichsein und darum auch ohne Wissen von sich ist, wie Schelling deutlich macht: Es ist die reine Frohheit in sich selber, die sich selbst nicht kennt, die gelassene Wonne, die ganz erfüllt ist von sich selber und an nichts denkt, die stille Innigkeit, die sich freut ihres nicht Seyns.35

Die zitierte Formulierung macht zugleich deutlich, daß die absolute Freiheit in sich selbst Tätigkeit ist, aber eine reine oder absolute Tätigkeit, die gerade als absolute ohne ein Tätiges, ohne ein Subjekt ist, das sich in dieser Tätigkeit bestimmt. Diese absolute Tätigkeit hat darum, wie Walter Schulz zurecht betont hat, auch nicht mehr den Charakter der Subjektivität, sondern sie ist das, was die Subjektivität zu ihrer tätigen Selbstvermittlung allererst ermächtigt.36 Die von ihr ermächtigte Selbstvermittlung aber ist gerade aufgrund ihrer reflexiven Struktur keine reine, sondern nur noch eine derivierte Freiheit. Subjektivität, Sich-Wissen, Selbstbewußtsein, das durch seine Tätigkeit zu sich kommt, bestimmt darin sich selbst und ist so zwar frei, es kommt zu sich selber aber nur durch jenes ontologische Entfaltungsgeschehen, über das das Selbstbewußtsein nicht Herr ist. Es ist darum nicht frei, sich selbst zu setzen oder nicht zu setzen, sondern es muß sich in und vor aller Selbstbestimmung 34 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 27/ 15 Schröter. – Vgl. zum Einen als Nichts und Allem in diesem Sinne Plotin, Enneade V 2, 1, 1 ff; III 9, 4. 35 Schelling, Die Weltalter, Druck I, 28/ 16 Schröter. 36 Vgl. Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, 52–72 und passim.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

immer schon als ein bereits existierendes hinnehmen, es hat anders gesagt also nur sein Wassein als ein selbstbestimmtes, sein Daßsein, das Faktum seiner Existenz, aber als ein unvordenklich vorgegebenes. Dagegen ist das absolute Eine, wie Schelling dann in seiner Spätphilosophie weiter ausführt,37 gerade zufolge seiner Transzendenz über das Sein frei, das Sein zu setzen oder nicht zu setzen. Und in dieser Freiheit, das Sein zu setzen oder nicht zu setzen, ist es „Herr des Seyns“,38 Herr über den theogonischen und kosmogonischen Prozeß der Seinsentfaltung. Als die reflexionslos in sich wesende, seinslose reine Tätigkeit, die alle Selbstvermittlung allererst zu ihr selbst ermächtigt, ist das Eine auch über diese Ermächtigung selber noch mächtig, es ist frei, die Selbstvermittlung der Subjektivität zu ermächtigen oder nicht. Absolute Freiheit meint so ein Doppeltes: 1. das Herausgenommensein aus dem Entfaltungszusammenhang des Seins im Ganzen; 2. die freie Macht, diesen Entfaltungszusammenhang in seiner Totalität zu setzen oder nicht zu setzen. Diese freie, weil durch nichts, auch nicht durch sich selbst bestimmte Mächtigkeit zur Setzung des Seinszusammenhangs ist selber kein Setzen, sondern reiner Überschwang, „absolute Transscendenz“.39 Erst dies ist die absolute Freiheit. Diese absolute Freiheit der Transzendenz ist zugleich der absolute Ursprung jeder endlichen Freiheit. Denn das Übersein ermächtigt in einem Akt unvordenklicher und unvorgreiflicher Freiheit die Potenzen zu ihrer relationalen Einheit und damit zur prozessualen Entfaltung des Seins. Der letzte Grund der menschlichen Freiheit ist somit nicht der Grund, sondern jener Urgrund oder „Ungrund“, dessen erste, unbestimmteste und in jedem Sinne des Wortes vorläufigste Manifestation der Grund selber ist. Als Freiheit aber manifestiert sich der überseiende Urgrund nicht im Grund und auch nicht im Logos, sondern erst in der freien Selbstbestimmung des Geistes. Der Freiheitsschrift zufolge ist der Geist frei, weil in ihm das dem Grund entsprungene Selbst selber zum Logos aufgeschlossen und dadurch von der blinden Notwendigkeit des Grundes befreit ist; genau dies macht den Geist zur Person.40 Als das ermächtigende 37  Zu Schellings Spätphilosophie bleibt grundlegend Schulz, Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Vgl. auch die auf Schulz aufbauende, aber den Vorrang der positiven Philosophie bedenkende Neudeutung von Gabriel, Der Mensch im Mythos. 38 Vgl. z.B. Schelling, Sämmtliche Werke X, 260 ff; XI, 564. 571; XII, 33; XIII, 160; XIV, 350 und öfter. – Analog dazu ist Platons Benennung des Einen als „König von Allem“ (2. Brief 312 E 1–2) und der mit dem Einen identischen Idee des Guten als „Herrin, die Wahrheit und Geist gewährt“ (Politeia 517 C 4). 39 Schelling, Sämmtliche Werke XIII, 128. 132. 165. 215. 240. 256. 40 Vgl. Schelling, Sämmtliche Werke VII, 364: „Das aus dem Grunde der Natur emporgehobene Princip, wodurch der Mensch von Gott geschieden ist, ist die Selbstheit in ihm, die

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Prinzip dieser geistigen Freiheit der Person kann Schelling das überseiende Eine selber den „absolut freien Geist“ und die „absolute Persönlichkeit“ nennen.41 „Absoluter Geist“ oder „absolute Persönlichkeit“ sind analoge oder metaphorische Benennungen des Absoluten, welche die Negativität und Unbestimmbarkeit seiner Transzendenz nicht aufheben. Denn die Freiheit dieses absoluten Geistes besteht für Schelling gerade in seiner Transzendenz über das Sein, die zugleich seine Transzendenz über sein eigenes Geist-Sein ist: denn der absolute Geist geht über jede Art des Seyns hin­aus, er ist das, was er will. Der absolute Geist ist der auch von sich selbst, von seinem als Geist Seyn wieder freie Geist; ihm ist auch das als-Geist-Seyn nur wieder eine Art des Seyns; – dieß – auch an sich selbst nicht gebunden zu seyn, gibt ihm erst jene absolute, jene transscendente, überschwengliche Freiheit, deren Gedanke erst alle Gefässe unseres Denkens und Erkennens so ausdehnt, daß wir fühlen, wir sind nun bei dem Höchsten, wir haben dasjenige erreicht, worüber nichts Höheres gedacht werden kann. – Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache aller Dinge.42

In Schellings Metaphysik der Freiheit des Überseins erreicht das idealistische Freiheitsdenken seine äußerste Möglichkeit und insofern seine Vollendung. Sie denkt Freiheit nicht nur als Autonomie des Selbstseins und seiner Selbstbestimmung, sondern darüber hin­aus als den Herrn des Seins, der alles selbstbestimmte Selbstsein kraft seiner eigenen Überseiendheit allererst frei zu sich ermächtigt. Sie begreift damit Freiheit als Transzendenz. Damit ist der Beweis erbracht, daß die Metaphysik des Einen den modernen Freiheitsgedanken nicht nur zu integrieren vermag, sondern daß gerade sie die letzte metaphysische Begründung und Rechtfertigung der Freiheit leistet. Weil das so ist, kann das Denken des Einen auch unter den philosophischen Bedingungen der Moderne noch den Anspruch erheben, mehr zu sein als bloße Theorie und den vernünftigen Gebrauch der Freiheit zu leiten. Ein vom Denken des Einen geleiteter Freiheitsgebrauch vermag der Eingelassenheit der endlichen, menschlichen Freiheit in Seinszusammenhänge, die unserer Freiheit entzogen sind, besonnen Rechnung zu tragen und dadurch vor dem der Moderne so naheliegenden und ihr so verhängnisvollen Machbarkeitswahn zu schützen; vielaber durch ihre Einheit mit dem idealen Princip Geist wird. Die Selbstheit als solche ist Geist, oder der Mensch ist Geist als ein selbstisches, besonderes (von Gott geschiedenes) Wesen, welche Verbindung eben die Persönlichkeit ausmacht.“ 41 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42 (Paulus-Nachschrift), hg. von Manfred Frank, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1993 (= Paulus-Nachschrift), 174 f; ders., Urfassung der Philosophie der Offenbarung. Teilband 1, hg. von Walter E. Ehrhardt, Hamburg 1992, 78 f. 42 Schelling, Sämmtliche Werke XIII, 256. Vgl. Paulus-Nachschrift, 174: „Gott ist der absolut freie Geist, der auch über das, worin er Geist ist, sich schwingt, auch an sich als Geist nicht gebunden ist oder sich als Geist nur als eine Potenz von sich behandelt: das ist erst das Überschwengliche.“ (Bei Paulus kursiv).

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

leicht ebenso wichtig ist es, daß der Gedanke der Freiheit als Transzendenz uns auffordert, Herr über unsere eigenen Freiheitsmöglichkeiten zu bleiben, also unsere autonomen Selbstentwürfe nicht für unsere ultimative Erfüllung zu halten und so auch ihnen gegenüber frei zu sein. Ist nun diese freiheitstheoretische Wendung der Metaphysik des Einen, wie sie Schelling vollzieht, eine spezifische Entwicklung des neueren Idealismus und wäre der antike Platonismus in dieser Hinsicht für die Bedürfnisse der Moderne defizitär? Daß das nicht der Fall ist, soll ein abschließender Blick auf Plotin zeigen.

4. Die Freiheit des Absoluten bei Plotin In seiner Schrift Über den freien Willen und das Wollen des Einen (Enneade VI 8) begründet Plotin die endliche menschliche Freiheit in dreifacher Schrittfolge in der absoluten Transzendenz des Einen, die er wie Schelling selber als absolute Freiheit auslegt.43 In einem ersten Schritt begründet er die praktische Freiheit des Willens (βούλησις) und des von ihm geleiteten Handelns (πρᾶξις) in der Freiheit des Geistes, des νοῦς.44 Denn frei ist eine Handlung Plotin zufolge nicht schon dann, wenn sie frei von äußerem Zwang erfolgt, sondern erst und ausschließlich dann, wenn sie aus vernünftiger Einsicht vollzogen wird. Handlungen, die ohne äußeren Zwang aus blinder Leidenschaft oder sonst aus einem nicht vernunftgeleiteten Impuls des Handelnden erfolgen, sind dagegen nicht freigewollt (ἑκούσιον) und selbstbestimmt (αὐτεξούσιον) zu nennen, weil das sie Bewirkende nicht unser eigentliches Selbst ist, als das Plotin mit Platon die Vernunftseele ansieht. Das Prinzip des freien Willens ist somit die Einsicht, und darum ist der eigentliche Ort der Freiheit der νοῦς als der Inbegriff aller Einsicht. Der Geist selber ist darum im eminenten und paradigmatischen Sinne frei. Der absolute Geist aber ist ewig und unveränderlich, so daß seine eminente Freiheit nicht mehr als einsichtsgeleitete Wahl zwischen Handlungsalternativen begriffen werden kann. Vielmehr besteht die eminente Freiheit des Geistes darin, daß er sein eigenes Wesen ungehindert verwirklicht oder zeitlos immer schon verwirklicht hat. Die Tätigkeit des absoluten Geistes, das ewige Denken seiner selbst, ist selber das Sein und Wesen des Geistes. Und insofern diese Tätigkeit wie jede Tätigkeit eine Intention vor­aussetzt, die aber in ihr als ewiger Tätigkeit 43 Vgl. zur Interpretation dieser Schrift Werner Beierwaltes, „Einführung“, in: ders. (Hg.), Plotin. Geist – Ideen – Freiheit. Enneade V 9 und VI 8, Hamburg 1990, XI-XLII, bes. XXIX ff; aufschlußreich waren für mich ferner Paul Henry, „Le problème de la liberté chez Plotin“, in: Révue Néoscolastique 33 (1931), 50–79, 180–215, 318–339; Georges Leroux, Plotin. Traité sur la Liberté et la Volonté de l’Un, Paris 1990; Dominic O’Meara, „The Freedom of the One“, in: Phronesis 37 (1992), 145–156. 44 Vgl. Plotin, Enneade VI 8, 1–6.

XIX. Freiheit als Transzendenz

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immer schon erfüllt ist, sind im Geist sein Sein (οὐσία), seine Tätigkeit (ἐνέργεια) und sein Wollen (βούλησις) identisch: „sein Wille ist sein Denken“ (ἡ δὲ βούλησις ἡ νόησις),45 so Plotin. So ist die Freiheit des Geistes die Freiheit des Selbstseins, die zugleich die Grundlage der praktischen Freiheit der vernünftigen Seele bildet. Freiheit ist sie, weil der Geist in seiner Tätigkeit, die er selbst ist, nur sich selbst bestimmt, indem seine Tätigkeit sein eigenes Sein vollzieht.46 Mit diesem Gedanken der Freiheit des Geistes als intelligibler Selbstbestimmung erreicht Plotin die Dimension der idealistischen Freiheitslehren. In einem zweiten Schritt begründet Plotin die freie Selbstbestimmung des Geistes sodann in der absoluten Transzendenz des Einen.47 Als Selbstbestimmung ist die Freiheit des Geistes eine sich zu sich selbst vermittelnde Einheit; ihr Vollzug schließt die Selbstunterscheidung in Bestimmendes und Bestimmtes und deren Vereinigung in die Einheit des sich bestimmenden Selbst ein, so daß sie eine „Zweiheit als Einheit“ (δύω ὡς ἕν)48 ist, die als solche die reine Einheit immer schon vor­aussetzt und von ihr zu ihrem Selbstvollzug als Einheit allererst ermächtigt wird. Vollendete Freiheit ist der Geist ferner auch darum, weil er das in allem freien Handeln angestrebte Ziel, das Gute, immer schon realisiert hat und immer schon besitzt. Das wahrhaft Gute aber ist nichts dem ­ ehre die vollenHandelnden selber Äußerliches, sondern gemäß Platonischer L dete Einheit des Handelnden mit sich selbst, in der sich sein Wesen erfüllt, im Falle des Geistes also sein vollkommenes Beisichselbstsein, seine ewige intellektuelle Selbstanschauung. Indem der Geist das Gute als seine vollkommene Einheit mit sich selbst realisiert, bestimmt er sich selbst als das, was er sein soll und ist dabei zugleich – da sein Denken sein Wille ist – das, was er selbst sein will. Diese Selbstbestimmung zum Guten aber setzt immer schon den leitenden Vorblick auf das Eine selbst als das Gute schlechthin vor­aus, um sich vollziehen zu können. So verdankt der Geist seine Freiheit, die in seinem absoluten Selbstbezug liegt, seinem Transzendenzbezug auf das absolute Eine. Im dritten Schritt legt Plotin nun die absolute Transzendenz des Einen selbst als absolute Freiheit aus.49 In ungeheuer dichten und intensiven Meditationen schlingt er dabei drei Gedankenreihen ineinander, von denen die erste gemäß der Methode der transzendierenden Negation das Eine selbst als das absolute Prinzip von Freiheit und Selbstbestimmung in seiner reinen Transzendenz auch über Freiheit und Selbstbestimmung hin­aushebt, wie sie als Seinsbestimmungen zuhöchst im Geist gedacht werden.50 Dagegen schreibt die zweite Gedankenreihe gemäß der Methode der Analogie und unter dem immer wieder erneut 45 Plotin,

Enneade VI 8, 6, 36. Plotin, Enneade VI 8, 4, 26–32; 6, 32–45. 47 Vgl. Plotin, Enneade VI 8, 4, 4 ff; 6, 38 ff; 7, 1 ff. 27 ff; 12, 13 ff. 48 Plotin, Enneade VI 8, 12, 35. 49 Vgl. Plotin, Enneade VI 8, 8–21. 50 Vgl. Plotin, Enneade VI 8, 7, 6–10; 8, 1–15. 19–21; 12, 17–37; 15, 11–23. 46 Vgl.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

eingeschärften Vorbehalt der Uneigentlichkeit – angezeigt jeweils durch οἷον – dem Einen selber Freiheit und Selbstbestimmung, ja Selbstliebe, Sich-selbstWollen und absolute Selbstbegründung zu,51 und zwar in der Weise, daß sie den Selbstbezug im Sich-selbst-Lieben, Sich-selbst-Wollen und Sich-selbst-Begründen bis zur unterschiedslos einfachen Einheit seiner Relata steigert und intensiviert und dadurch gerade jene Unterschiedenheit der Momente übersteigt, die den Selbstbezug des Geistes als Selbstbeziehung im eigentlichen Sinne konstituiert. So erscheint die Freiheit des Absoluten in analogischer Perspektive als „Quasi-Geist im Einen, der nicht Geist ist, weil er absolute Einheit ist“ (οἷον ἐν ἑνὶ νοῦν οὐ νοῦν ὄντα· ἓν γάρ).52 Die dritte Gedankenreihe hebt sodann diese uneigentliche und transzendente Quasi-Selbstbeziehung, Quasi-Selbstbegründung und Quasi-Selbstbestimmung des Absoluten erneut in die allumfassende Negation des ἄφελε πάντα auf,53 aber nicht, um die in jenem Quasi-Selbstbezug intendierte Freiheit des Absoluten nun schlußendlich zurückzunehmen, sondern vielmehr um die reine und absolute Transzendenz selbst, wie sie nur in radikaler Negation ausgrenzbar ist, gerade als die absolute, die überschwengliche Freiheit einzusehen. Jene affirmativen Quasi-Prädikationen, die Plotin dem Einen in der zweiten Gedankenreihe zuspricht, erweisen sich damit als ein Durchgangsstadium seiner Argumentation, das die negative Theologie weder durchbricht noch einschränkt. Aber dieses Durchgangsstadium erweist sich gerade in seiner Vorläufigkeit als aufschlußreich und unentbehrlich, um die reine Transzendenz selber als absolute Freiheit einzusehen.54 Wenn der Quasi-Selbstbezug des Einen auch nur unter Vorbehalt behauptet und in der Negation wieder zurückgenommen wird, so könnte er darum doch keineswegs ebenso gut ganz unterbleiben, weil erst die Übersteigerung der Selbstvermittlung des Geistes zur Ununterscheidbarkeit ihrer Momente in einem absolut einfachen Selbstbezug, der eben durch seine absolute Einfachheit kein Selbst-Bezug mehr ist, im Scheitern dieses Gedankens an seiner eigenen Unvollziehbarkeit die absolute Transzendenz in ihrer jede Relationalität übersteigenden A-relationalität oder Trans-relationalität als absolute Freiheit einsehen läßt.

51 Vgl. Plotin, Enneade VI 8, 7, 47–53; 9, 44 f; 13 ganz; 14, 40–42; 15, 1–10; 16, 12–39; 17, 24–27; 18, 38–53; 20 ganz; 21, 7–24. Vgl. dazu im einzelnen die eindringliche Auslegung von Werner Beierwaltes, „Causa sui. Plotins Begriff des Einen als Ursprung des Gedankens der Selbstursächlichkeit“, in: ders., Das wahre Selbst, 123–148. 52 Plotin, Enneade VI 8, 18, 21 f. Im gleichen Sinne sagt Plotin vom Einen, es sei οἷον ἐγρήγορσις … καὶ ὑπερνόησις … ἐγρήγορσίς ἐστιν ἐπέκεινα οὐσίας καὶ νοῦ καὶ ζωῆς ἔμφρονος … ἐνέργεια ὑπὲρ νοῦν καὶ φρόνησιν καὶ ζωήν – „gleichsam Erwachen … und Über-Denken … ein Erwachen, das jenseits des Seins und des Geistes und des vernünftigen Lebens ist … eine Tätigkeit, die über Geist und Einsicht und Leben hin­ausgeht“ (VI 8, 16, 31–36). 53 Vgl. Plotin, Enneade VI 8, 9, 45–47; 10, 18–38; 11 ganz; 12 ganz; 19 ganz; 21, 24–33. 54  Ähnlich deutet den Sachverhalt Beierwaltes, Das wahre Selbst, 143–148.

XIX. Freiheit als Transzendenz

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Denn gerade die reine Transzendenz und allein sie vollendet oder überbietet, was Freiheit schon auf der Stufe des Geistes und der vernünftigen Seele ausmacht. Plotin denkt die Freiheit als dasjenige, wodurch Geist und Seele jeweils sie selbst sind: also als Selbstsein.55 Positiv gedacht bedeutet dies Selbstbestimmung, also Sich-selbst-Bejahen, Sich-selbst-Wollen und zuletzt Sich-selbst-Begründen. Als Selbstbestimmung hat positive Freiheit somit den Charakter einer vollkommenen Selbstbeziehung. Freiheit aber ist sie für Plotin offenbar nicht aufgrund des Beziehungscharakters dieser Selbstbeziehung, gemäß der sie sich selbst in Bestimmendes und Bestimmtes unterscheidet, sondern vielmehr aufgrund der in dieser Beziehung tätigen Selbstheit, die Bestimmendes und Bestimmtes zur Selbstbestimmung eint. Doch ist gerade das sich selbst bestimmende Selbst kraft seiner Selbstbeziehung sowohl es selbst als auch relational ein anderes. Also begreifen wir absolute Freiheit erst dann und gerade dann, wenn wir das Selbst von der Beziehungshaftigkeit der Selbstbestimmung ablösen und in seiner Absolutheit transrelational für sich allein nehmen. Nur in dieser reinen Transzendenz liegt die absolute, die überschwengliche Freiheit. Genau diese transzendierende Herauslösung des relationslosen absoluten Selbst aus der Relationalität des Selbstbezugs vollzieht Plotin mit seiner Argumentation für die absolute Freiheit der Transzendenz; und dazu wird der Quasi-Selbstbezug des Einen zunächst unter Vorbehalt eingeführt und dann negierend überstiegen. Denn einzig die reine Einheit in ihrer absoluten Transzendenz enthält nicht mehr den Unterschied von bestimmendem Selbst und mindestens relational davon unterschiedenem bestimmtem Selbst. Als das aus jedem Selbstbezug herausgenommene absolute Selbst ist das jenseitige Eine „ursprünglich Es Selbst und über das Sein hin­aus Es Selbst“ (πρώτως αὐτὸς καὶ ὑπερόντως αὐτός),56 und allein kraft seiner absoluten Transzendenz „ist Es als einziges in Wahrheit frei, weil Es auch sich selbst nicht dient, sondern nur Es Selbst und absolut Es Selbst ist (μόνον αὐτὸ καὶ ὄντως αὐτό), wo doch alles andere sowohl es selbst als auch ein anderes ist“.57 – Blicken wir von Plotin zurück auf Schelling, so zeigt sich jetzt ihre präzise Übereinstimmung darin, absolute Freiheit als reine Transzendenz über das Sein zu denken: Liegt sie für Schelling darin, daß das Absolute als „Herr des Seins“ auch an sich selbst nicht gebunden ist, so besteht sie für Plotin darin, daß das Eine selbst „auch sich selbst nicht dient“. Schellings absoluter Geist, der von seinem eigenen Geist-Sein frei ist, entspricht so Plotins „Quasi-Geist im Einen,

55 Vgl. Plotin, Enneade VI 8, 4, 4–12. 24–32; 5, 30–34; 6, 3–10. 32–43; 7, 36–37; 12, 3–17; 13, 20–24; 15, 23–26; vgl. 20, 30–36 (analogisch übertragen auf das Eine). 56 Plotin, Enneade VI 8, 14, 42. 57 Plotin, Enneade VI 8, 21, 30–33: ἀλλ᾽ ὑπεράνω κείμενον μόνον τοῦτο ἀληθείᾳ ἐλεύθερον, ὅτι μηδὲ δουλεῦόν ἐστιν ἑαυτῷ, ἀλλὰ μόνον αὐτὸ καὶ ὄντως αὐτό, εἴ γε τῶν ἄλλων ἕκαστον αὐτὸ καὶ ἄλλο.

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Teil III: Geschichtliche Entfaltungen

der nicht Geist ist“:58 beide meinen das absolute, transzendente, vom Sein wie vom Selbstbezug gelöste und genau darum schlechthin freie Selbst,59 das gerade weil es nicht auf sich selbst bezogen ist, frei ist, alles andere zu setzen, und zwar so zu setzen, daß es dies andere zu seinem eigenen Freiheitsvollzug ermächtigt. Darin aber zeigt sich die eminente praktische Bedeutung der Metaphysik des Einen als einer Metaphysik der Freiheit.

58  Schelling kannte Auszüge aus Plotins „Freiheitsschrift“ VI 8 durch Windischmanns „Stellen aus Plotinos“. Er beruft sich in einer Münchener Vorlesung über das System der Weltalter von 1827/28 sogar auf eine zentrale Aussage Plotins in dieser Schrift zur Bestätigung seiner eigenen Auffassung von absoluter Freiheit, derzufolge Gott als „Herr des Seins“ auch an sein eigenes Sein nicht gebunden sei: „Daraus läßt sich auch das Wort eines Platonikers verstehen: ‚Gott ist nicht wie er sich trifft, sondern wie er selbst wirkt und wollende Ursache seiner selbst ist.‘ Er ist vor sich selbst und durch sich selbst. Ursache seines Seins will er selbst sein und er ist, was er will. Der Wille, das zu sein, was er ist, ist er selbst, er selbst ist eben nur der Wille, er selbst zu sein; er ist nicht ohne seinen Willen.“ (System der Weltalter. Münchener Vorlesungen 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx, hg. von Siegbert Peetz, Frankfurt am Main 1990, 135). Vgl. dazu Beierwaltes, Das wahre Selbst, 223 ff. 59 Vgl. auch Plotin, Enneade VI 9, 11, 34 f. 38–42: τὸ δὲ λοιπὸν τῷ ὑπερβάντι πάντα τὸ ὅ ἐστι πρὸ πάντων … τὴν ἐναντίαν δὲ δραμοῦσα ἥξει οὐκ εἰς ἄλλο, ἀλλ᾽ εἰς αὑτήν, καὶ οὕτως οὐκ ἐν ἄλλῳ οὖσα ἐν οὐδενί ἐστιν, ἀλλ᾽ ἐν αὑτῇ· τὸ δὲ ἐν αὑτῇ μόνῃ καὶ οὐκ ἐν τῷ ὄντι ἐν ἐκείνῳ· γίνεται γὰρ καὶ αὐτός τις οὐκ οὐσία, ἀλλ᾽ ἐπέκεινα οὐσίας ταύτῳ, ᾗ προσομιλεῖ. – „Und das Ultimative ist für den, der über Alles hin­ausgegangen ist, das, was vor und über Allem ist … läuft die Seele aber in die (dem absoluten Nicht­sein) entgegengesetzte Richtung, so kommt sie nicht zu einem Anderen, sondern zu sich selbst, und so ist sie, da sie nicht in einem Anderen ist, nicht im Nichts, sondern nur in sich selbst – und ist sie allein in sich selbst und nicht im Sein, so ist sie in Jenem (dem Absoluten): denn insofern man mit Jenem (dem Absoluten) umgeht, ist man Selbst nicht mehr Sein, sondern Jenseits des Seins.“

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Nachweise Alle Beiträge wurden für diesen Band durchgesehen und überarbeitet.

Teil I Profile der Metaphysik I.

Was ist Metaphysik in Vollendung? Unveröffentlicht. – Antrittsvorlesung an der Universität Heidelberg, gehalten am 24. Mai 2000.

II.

Metaphysik und Transzendenz Erstmals veröffentlicht in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 1 (2002), 13–27. (Vit­ torio Klostermann)

III.

Jenseits von Sein und Nicht­sein: Wie kann man für Transzendenz argumentieren? Erstmals veröffentlicht in: Thomas Buchheim, Friedrich Hermanni, Axel Hutter, Christoph Schwöbel (Hgg.), Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft (Collegium metaphysicum Band 4), Tübingen 2012, 85–98. (Mohr ­Siebeck)

IV.

Gott im Denken Erstmals veröffentlicht unter dem Titel: „Gott im Denken – Warum die Philosophie auf die Frage nach Gott nicht verzichten kann“, in: Christoph Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongreß für Theologie (11.–15. September 2011 in Zürich) (Veröffentlichungen der wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie Band 38), Leipzig 2013, 187–196. (Evangelische Verlagsanstalt)

V.

Die Unverwüstlichkeit der Metaphysik Erstmals veröffentlicht in: Philosophische Rundschau 57 (2010), 97–124. (Mohr Siebeck)

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Nachweise

Teil II Platons Metaphysik des Einen VI.

Platons Metaphysik des Einen Erstmals veröffentlicht in: Marcel van Ackeren (Hg.), Platon verstehen. Themen und Perspektiven, Darmstadt 2004, 263–278. (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)

VII.

Platons unbestimmte Zweiheit Unveröffentlicht.

VIII. Monismus und Dualismus in Platons Prinzipienlehre Erstmals veröffentlicht in: Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 2 (1997), 1–21. (B. R. Grüner – John Benjamins Publishing Company) IX.

Plotins Interpretation der Prinzipientheorie Platons Erstmals veröffentlicht in: Ulrike Bruchmüller (Hg.), Platons Hermeneutik und Prinzipiendenken im Licht der Dialoge und der antiken Tradition. Festschrift für Thomas Alexander Szlezák zum 70. Geburtstag (Spudasmata Band 148), Hildesheim 2012, 223–244. (Georg Olms)

X.

Proklos über die Transzendenz des Einen bei Platon Erstmals veröffentlicht in: Matthias Perkams und Rosa Maria Piccione (Hgg.), Proklos. Methode, Seelenlehre, Metaphysik. Akten der Konferenz in Jena am 18.– 20. September 2003 (Philosophia Antiqua Band 98), Leiden/Boston 2006, 363– 383. (Brill)

XI.

Speusipp und die metaphysische Deutung von Platons Parmenides Erstmals veröffentlicht in: Ludwig Hagemann und Reinhold Glei (Hgg.), ΕΝ ΚΑΙ ΠΛΗΘΟΣ – Einheit und Vielheit. Festschrift für Karl Bormann zum 65. Geburtstag (Religionswissenschaftliche Studien Band 30), Würzburg/Altenberge 1993, 339–373. (Echter und Oros Verlag)

XII.

Speusipp und die Unendlichkeit des Einen Erstmals veröffentlicht in: Archiv für Geschichte der Philosophie 74 (1992), 43–73. (Walter de Gruyter)

Nachweise

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Teil III Geschichtliche Entfaltungen XIII. Aufwachen zu sich selbst: Plotins Begriff der Einsicht Erstmals veröffentlicht unter dem Titel: „Plotin als Denker des Nichtpropositionalen“, in: Joachim Bromand und Guido Kreis (Hgg.), Was sich nicht sagen läßt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Festschrift für Wolfram Hogrebe zum 65. Geburtstag, Berlin 2010, 691–707. (Akademie Verlag – Walter de Gruyter) XIV. Schönheit und Bild im Neuplatonismus Erstmals veröffentlicht in: Verena Olejniczak Lobsien und Claudia Olk (Hgg.), Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen (Transformationen der Antike Band 2), Berlin/New York 2007, 43–57. (Walter de Gruyter) – Dem Andenken an Rüdiger Bubner gewidmet. XV.

Das Eine als Einheit und Dreiheit. Zur Prinzipientheorie Jamblichs Erstmals veröffentlicht in: Rheinisches Museum für Philologie 139 (1996), 52–83. (J. D. Sauerländer’s Verlag) – Hans Krämer zum 65. Geburtstag.

XVI. Wie rational kann die Rede vom Absoluten sein? Die Grenzen des Widerspruchs­ prinzips bei Dionysius Areopagita und im antiken Platonismus Unveröffentlicht. XVII. Nikolaus von Kues über das Begreifen des Unbegreiflichen Erstmals veröffentlicht unter dem Titel: „Nikolaus von Kues“, in: Christine AxtPiscalar und Joachim Ringleben (Hgg.), Denker des Christentums, Tübingen 2004, 67–89. (Mohr Siebeck) XVIII. ­Hegel und die negative Theologie Erstmals veröffentlicht unter dem Titel: „Hegels Auseinandersetzung mit dem Absoluten der negativen Theologie“, in: Anton Friedrich Koch, Alexander Oberauer und Konrad Utz (Hgg.), Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen „Subjektiven Logik“, Paderborn 2003, 31–47. (Schöningh) XIX. Freiheit als Transzendenz. Zur Freiheit des Absoluten bei Schelling und Plotin Erstmals veröffentlicht unter dem Titel: „Freiheit als Transzendenz bei Schelling und Plotin“, in: Burkhard Mojsisch und Orrin F. Summerell (Hgg.), Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie, München/Leipzig 2003, 175–193. (K. G. Saur)

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Literatur Aufgeführt sind nur mehrfach zitierte Arbeiten. Baltes, Matthias, Die Weltentstehung des Platonischen Timaios nach den antiken Interpreten, Teil I, Leiden 1976. Baltes, Matthias, Der Platonismus in der Antike, Bd. 4, hg. von Heinrich Dörrie/Matthias Baltes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. Baltes, Matthias, ΔΙΑΝΟΗΜΑΤΑ. Kleine Schriften zu Platon und zum Platonismus, hgg. von Annette Hüffmeier, Marie-Luise Lakmann und Matthias Vorwerk, Stuttgart/ Leipzig 1999. Bechtle, Gerald, Iamblichus. Aspekte seiner Philosophie und Wissenschaftskonzeption. Studien zum späteren Platonismus, Sankt Augustin 2006. Beierwaltes, Werner, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik, Frankfurt am Main 1965, 2., erw. Aufl. 1979. Beierwaltes, Werner, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit. Enneade III 7, Frankfurt am Main 1967, 5., erg. Auflage 2010. Beierwaltes, Werner, Platonismus und Idealismus, Frankfurt am Main 1972, 2., erw. Aufl. 2004. Beierwaltes, Werner, „Plotins Metaphysik des Lichtes“, in: Clemens Zintzen (Hg.), Die Philosophie des Neuplatonismus, Darmstadt 1977, 75–115. Beierwaltes, Werner, Identität und Differenz, Frankfurt am Main 1980. Beierwaltes, Werner, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus, Heidelberg 1980. Beierwaltes, Werner, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt am Main 1985. Beierwaltes, Werner, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3, Frankfurt am Main 1991. Beierwaltes, Werner, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt am Main 1994. Beierwaltes, Werner, Platonismus im Christentum, Frankfurt am Main 1998, 2., verb. Aufl. 2001, 3. erw. Auflage 2014. Beierwaltes, Werner, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des ­Einen, Frankfurt am Main 2001. Beierwaltes, Werner, Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren, Frankfurt am Main 2007. Beierwaltes, Werner, Fußnoten zu Plato, Frankfurt am Main 2011. Blumenberg, Hans, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main 1998. Bubner, Rüdiger, Zur Sache der Dialektik, Stuttgart 1980. Burkert, Walter, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962. Charrue, Jean-Michel, Plotin. Lecteur de Platon, Paris 1978.

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Literatur

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379

Namensregister Aersten, Jan A. 314 Alexander Polyhistor 133, 193 Alexander von Aphrodisias 42, 97, 99, 103, 112, 121, 125, 138, 190, 195, 208, 210, 218, 224, 227, 232 f (Pseudo-)Alexander 198 f, 218 Amelios 165, 294 f Anaxagoras 2, 54 Anaximander 2–4, 33, 52, 221 Anaximenes 3 Angehrn, Emil 149 Anselm von Canterbury 37, 70 f Antiochos von Askalon 198 Archainetos 192, 198, 203 (Pseudo-)Archytas 198 Areios Didymos 198 Aristoteles 1–4, 14, 18, 23, 29, 42, 52–54, 62 f, 83, 96 f, 99, 102 f, 105 f, 110, 112, 116–121, 125 f, 128–130, 136, 138–140, 142–144, 146–148, 153, 156, 160, 170, 172, 179–182, 185 f, 189–191, 193, 195– 197, 199, 201–208, 210, 212, 215–219, 221, 224–235, 237 f, 250, 274, 289–291, 295, 303 f, 308, 311, 318, 321, 358 Aristoxenos 93, 136, 193, 199, 289 Armstrong, Arthur Hilary 189, 241 Arndt, Andreas 253 Arnou, René 286 Assmann, Jan 2, 27, 277 Augustinus 28 f, 72, 74, 142, 328, 353 Baltes, Matthias 169, 189, 194, 198, 204, 243, 293 Balthasar, Hans Urs von 247 Baumgartner, Hans-Michael 24 Bechtle, Gerald 279 f Becker, Oskar 124 Beierwaltes, Werner 15, 23 f, 35, 37, 43, 55, 59, 73–78, 83 f, 91, 155, 157, 162 f, 176,

191, 210, 243, 247–249, 252 f, 255, 257 f, 266 f, 269–272, 275–278, 284, 293, 307, 313, 315 f, 320, 325, 332, 345–347, 351– 353, 358 f, 364, 366, 368 Bellut, Clemens 65 Benz, Hubert 315 Blumenberg, Hans 162, 272 Blumenthal, Henry J. 279 Boethius 74 Böhm, Thomas 169 Böhme, Jacob 357 Bonaventura 74 Bonitz, Hermann 185, 224 Bonsiepen, Wolfgang 186 Bormann, Karl 185–187, 239, 319 Bos, Egbert P. 166 Bréhier, Émile 241 Brenke, Ursula 293, 297 Brisson, Luc 166 Bröcker, Walter 83 Broek, Roelof van den 194 (Pseudo-)Brotinos 188, 192, 198–200, 203, 212 Bruchmüller, Ulrike 151 Bruno, Giordano 74, 91, 314 Brüntrup, Alfons 316 Bubner, Rüdiger 65, 94, 342 Buchheim, Thomas 71 Buchner, Hartmut 354 Burkert, Walter 103, 165, 180, 182, 198, 201, 207, 210, 212, 215 f, 279 f, 291 Cavalieri, Bonaventura Francesco 235 Charrue, Jean-Michel 149, 187 Cherniss, Harold 215 f Clark, E. Gillian 279 Combès, Joseph 283 Cornford, Francis M. 221 Corrigan, Kevin 182, 188, 298

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Namensregister

Corsini, Ettore 311 Cramer, Konrad 35 Cramer, Wolfgang 35, 65 Creuzer, Friedrich 274, 358 Crone, Katja 249 Cürsgen, Dirk 316, 347 Dabag, Mirhan 353 Dalsgaard Larsen, Bent 279 Damaskios 5, 17, 39, 226 f, 237, 241 f, 283, 286–289, 293, 296, 298, 300–303, 343, 351 Dancy, Richard M. 215 Dangel, Tobias 54 De Vogel, Cornelia J. 92, 133 f, 166, 216 f, 241 Derkylides 110 f, 121 Descartes, René 64, 69, 71, 81 Deuse, Werner 295, 314, 355 Dillon, John M. 133, 151, 165, 167, 182, 189–194, 196, 198, 201, 210, 213, 215 f, 219, 223 f, 229, 242 f, 279 f, 292–296 Diogenes Laertios 193 (Pseudo-)Dionysius Areopagita 5 f, 28 f, 57, 74, 240, 266 f, 269, 307–309, 311, 314 f, 321, 353, 359 Dodds, Eric Robertson 43, 139, 166 f, 188–193, 196, 199, 201, 215 f, 219, 241, 280, 291, 303 Dörrie, Heinrich 189, 191, 194, 197 f, 216 Doz, André 256, 270, 337 Düsing, Klaus 19, 47, 65, 94, 187, 250, 258, 331, 337, 352 Eckhart von Hochheim (Meister Eckhart) 5, 37 f, 74, 262, 316, 328 Ehrhardt, Walter E. 363 Engelhard, Kristina 269 Eriugena 5, 17, 35, 59, 68, 74, 76 f, 84 f, 262, 266, 277 f, 314 f, 345–349 Eudoros 133, 135, 147 f, 167, 187 f, 192– 203, 207, 212, 243, 308 Eudoxos 185 Eusebius von Caesarea 169 Festugière, André-Jean 241 Feuerbach, Ludwig 78

Fichte, Johann Gottlieb 5, 14, 17, 24 f, 35, 59, 62–64, 69, 80, 87, 91, 107, 262, 331, 349, 352 Ficino, Marsilio 74, 91, 150 Findlay, John N. 134 Fischer, Norbert 316 Flasch, Kurt 23, 35, 55, 77, 91, 133, 187, 238 f, 307, 314–317, 321 f, 325, 328, 347 Flashar, Hellmut 133 Floss, Heinrich J. 278 Frank, Manfred 359, 363 Franz, Michael 91 Frede, Michael 193 Freud, Sigmund 78 Gabriel, Markus 45, 53, 84, 254, 362 Gadamer, Hans-Georg 94, 106, 185, 310 Gaiser, Konrad 92, 103–106, 109, 112, 124 f, 133 f, 137, 151, 167, 189, 195, 206 f, 212, 217, 232, 303 Gerhard, Johannes 359 Gersh, Stephen 279 Gerson, Lloyd P. 134, 215 Girgenti, Giuseppe 111 Graeser, Andreas 119 Grotz, Stephan 328 Gründer, Karlfried 28, 314 Guthrie, William Keith Chambers 215 f Haas, Alois M. 247 Hadot, Pierre 191, 224, 229, 275, 283 f, 287, 293–295, 297 Hager, Fritz-Peter 189, 191 f Halfwassen, Jens 16, 22–24, 28, 30–33, 38–40, 43, 46–48, 52, 55, 57, 62, 68, 83, 91, 93–96, 100–103, 135–137, 139, 141 f, 144 f, 147, 149–156, 158, 160–162, 165 f, 168 f, 172, 175, 177 f, 186 f, 191, 194, 201, 207 f, 210 f, 215, 217, 221, 243, 247–249, 252–254, 257 f, 265 f, 268 f, 271–273, 281–283, 289, 292 f, 295, 298 f, 305, 308– 310, 312 f, 328, 331 f, 334 f, 337, 343, 345, 353, 356, 358 Hambruch, Ernst 215, 216 Happ, Heinz 92, 105, 109, 118, 134, 190, 203, 215 f, 232 f, 355 Heede, Reinhard 186

Namensregister

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 5 f, 11 f, 16 f, 19–24, 32–35, 37 f, 45–47, 51, 53, 55 f, 59, 61–64, 67–69, 74–78, 80, 85, 87, 91, 93 f, 105, 127, 135, 145, 156, 158, 160 f, 186 f, 252 f, 256, 262, 270 f, 313 f, 331–333, 336–340, 342–346, 348 f, 352, 359 Heidegger, Martin 14, 70, 79, 81, 84 Heidemann, Dietmar H. 24, 269 Henrich, Dieter 13, 15, 35, 37, 47, 51, 53, 56, 63–69, 72, 86 f, 272, 344, 352, 359 Henry, Paul 153, 163, 274, 281, 364 Heraklit 2, 15, 54 f, 120 Hermanni, Friedrich 71 Hermodor 110–112, 114 f, 119, 121 f, 136, 139, 142, 154, 189 f, 195, 199 Hesiod 2, 85 Hindrichs, Gunnar 37, 54, 63, 70–73, 84, 86 Hinske, Norbert 55 Hochstaffl, Joseph 332 Hofer, Michael 56 Höffe, Otfried 40 Hogemann, Friedrich 11, 21 Hogrebe, Wolfram 84–86 Hölderlin, Friedrich 64 Hölscher, Uvo 2, 99, 114, 272 Holz, Harald 352 Homer 85 Horn, Christoph 139, 242 Hösle, Vittorio 105, 134, 242 Huber, Gerhard 24, 39, 57, 168, 282, 343 Hüffmeier, Annette 169 Hühn, Lore 356 Hutter, Axel 71 Isnardi Parente, Margherita 210, 215 f, 219 Ivánka, Endre von 311, 325 Jaeschke, Walter 11, 21, 337 Jamblich 6, 137 f, 146 f, 151, 165 f, 187, 195, 197, 201–204, 208, 211, 216 f, 219, 224, 230 f, 233 f, 242, 279–281, 286–305, 314 Janke, Wolfgang 24, 78–85 Jaspers, Karl 5, 35, 57, 281 Johannes Eriugena siehe Eriugena

381

Johannes Lydos 287 Jonas, Hans 241, 251 Jüngel, Eberhard 72, 332 Kant, Immanuel 11, 17, 35, 62, 64, 70 f, 75, 80, 86, 351 f Kapust, Antje 353 Khoury, Raif Georges 266 Kierkegaard, Søren 81 Klibansky, Raymond 187, 201, 316 Kobusch, Theo 91, 352 Koch, Anton Friedrich 5 Koch, Joseph 238 Kohnke, Friedrich Wilhelm 216 Krämer, Hans Joachim 14, 16, 19, 39 f, 42, 46, 62, 83, 92 f, 95 f, 100, 109, 112, 114, 118, 131, 133–136, 138, 147, 149, 152, 158, 162, 166 f, 175, 178, 180, 185, 189–192, 194, 199, 201–203, 205–208, 215–221, 231–234, 238, 241, 243, 250, 266, 268, 283, 289–291, 317, 334 f, 351 f, 355 Krantor 198 Krings, Hermann 354 Kronios 193 Krüger, Gerhard 265, 270 Kullmann, Wolfgang 135, 138, 216 Künne, Wolfgang 187 Lakmann, Marie-Luise 169 Lang, Paul 215, 227 Langthaler, Rudolf 56 Lasaulx, Ernst von 368 Leibniz, Gottfried Willhelm 15, 54, 68, 71 f, 80, 235, 353 Leinkauf, Thomas 352 Leroux, Georges 364 Lloyd, Anthony Charles 298 Longinos 193 Luck, Georg 198 Mansfeld, Jaap 194 Marius Victorinus siehe Victorinus Markschies, Christoph 83 Marx, Karl 78 Mau, Jürgen 133 Meijer, Pieter A. 166

382

Namensregister

Merlan, Philip 92, 133, 166, 189, 191–193, 195, 201, 206, 215 f, 219 f, 231, 233 Metry, Alain 133, 201, 215 f Meuthen, Erich 317 Michael Psellos 279 Michael von Ephesos 199 Michel, Karl Markus 12, 51, 337 Migliori, Maurizio 135, 138 Mirbach, Dagmar 19 Moderatos 133, 167, 187–195, 197–200, 203, 207, 212, 243, 308 Mojsisch, Burkhard 91, 325 Moldenhauer, Eva 12, 51, 337 Morrow, Glenn R. 210 Movia, Giancarlo 135 Müller-Scholl, Ulrich 65 Napolitano, Linda M. 194 Nasemann, Beate 280 Neschke-Hentschke, Ada B. 141 Nietzsche, Friedrich 13, 78 f, 81 Nikolaus von Kues 5 f, 17, 23, 35, 43, 45 f, 55, 59, 68, 74, 77, 87, 91, 107, 135, 187, 238–242, 262, 293, 314–323, 325 f, 328 f, 331, 345, 347 f Numenios 167, 170, 193 f, 258 f Oehler, Klaus 18, 250 O’Meara, Dominic J. 165, 279 f, 364 Oort, Johannes van 83 Origenes (Neuplatoniker) 169 f, 178 f Origenes (Theologe) 169 Panofsky, Erwin 278 Parmenides 2 f, 15, 33, 67, 100 f, 103, 116 f, 131, 173–175, 177, 179, 181, 201, 272, 331, 333 Pascal, Blaise 69 Peetz, Siegbert 353, 368 Perkams, Matthias 273 Peroli, Enrico 250 Pesce, Domenico 215 f, 232 (Pseudo-)Philolaos 192, 198, 200, 203 Piccione, Rosa Maria 273 Pindar 27, 85 Platon 1–6, 13–19, 22 f, 27–31, 33, 35 f, 39–44, 46, 48, 53, 55–57, 62 f, 67–69, 78,

80–84, 87, 92–107, 109–131, 133–145, 147–154, 156, 158–162, 165–183, 185– 213, 215, 217–222, 225–227, 229–236, 238–243, 247, 250–252, 265 f, 268–270, 272, 274–276, 279, 281–285, 287–296, 301–314, 317–320, 324 f, 331–335, 338, 343–345, 349, 351, 354 f, 358 f, 362, 364 Plotin 4–6, 16 f, 19, 22–25, 28–31, 33–35, 39, 45 f, 48, 57, 59, 62 f, 68 f, 74–76, 83– 85, 91 f, 99, 101 f, 106, 134, 136, 144 f, 147–156, 158–170, 177 f, 181–183, 187 f, 191–193, 197, 199, 204, 208, 211, 213, 220 f, 224–226, 228–230, 234 f, 237 f, 241–243, 247–264, 266–278, 281–287, 289, 291, 293, 295, 298–302, 305 f, 309, 311–314, 325, 331, 335–337, 343–345, 348, 353, 358–361, 364–368 Plutarch 136, 198 f, 291, 303, 355 Porphyrios 6, 110 f, 121 f, 125, 138 f, 143, 151, 165, 169 f, 188, 190 f, 193, 196, 208, 216, 221, 224, 226–230, 237, 241 f, 283– 289, 293–295, 297, 314, 325 Proklos 5 f, 17, 24, 29 f, 39, 43, 46 f, 57, 62, 74 f, 83, 103, 136, 139, 141, 143 f, 147, 150 f, 165–173, 176–183, 185 f, 201, 203 f, 206–208, 211, 216, 218 f, 221–226, 228– 231, 235–243, 267, 269, 280–282, 286 f, 289–306, 313–315, 318 f, 325, 331, 335– 337, 343–345, 348, 351, 359 Przywara, Erich 73 Pythagoras 165 f, 198, 291 Reale, Giovanni 40, 93–95, 105, 109, 134 f, 138, 140 f Regen, Frank 275 Richard, Marie-Dominique 109, 151 Rist, John M. 133, 196, 284, 325 Ritter, Joachim 28, 55, 314 Robin, Léon 92, 109, 166 Rohstock, Max 59, 77, 316, 347 Rumbach, Friedrich 103, 144, 151, 180, 207 Saffrey, Henri Dominique 166, 169 f, 179, 186 f, 280, 291 Schadewaldt, Wolfgang 106 Schäfer, Christian 307, 353

Namensregister

Schäfer, Rainer 333 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 2, 5 f, 17, 24 f, 35, 53, 59, 62 f, 65–67, 70 f, 73–76, 78, 81, 84 f, 91, 107, 262, 276, 331, 349, 351–364, 367 f Schelling, Karl Friedrich August 352 Schmidt, Ernst Günther 133 Schmitt, Arbogast 98 f, 309 Schmitz, Hermann 215 f, 219, 231 Schnepf, Robert 249 Schofield, Malcolm 216 Schönberger, Rolf 328 Schröter, Manfred 358 Schulz, Walter 24, 35, 66, 359, 361 f Schwab, Philipp 356 Schwöbel, Christoph 71 Senger, Hans Gerhard 315 f, 319 Sextus Empiricus 84, 106, 112–114, 133, 136–138, 142, 153, 161, 167, 192 f, 195, 199, 208, 210 Siegmann, Georg 157, 275 Simon, Josef 352 Simplikios 13, 52, 103, 109–111, 119, 121, 125 f, 129, 136, 138, 142 f, 147, 188–191, 194, 196 f, 199, 208 Sokrates 83 Speusipp 6, 14, 22 f, 29, 39, 44, 56 f, 103, 107, 119, 133, 135, 137–139, 144, 146– 148, 151–153, 165, 167, 180–183, 185 f, 188, 191, 193, 195, 197, 200–213, 215– 219, 221, 224, 226–243, 282 f, 289–291, 293, 305, 308, 318, 334, 343, 358 Spinoza, Baruch de 13, 59, 71, 93, 337, 343 Stallmach, Josef 316 Stanzel, Karl-Heinz 92 Steel, Carlos 182, 213, 219, 222 f Stemmer, Peter 94 Stenzel, Julius 124, 138, 215 f Stigelmayr, Joseph 267 Stobaios 198 Stolzenberg, Jürgen 249 Summerell, Orrin F. 91 Syrian 165, 198–200, 223 f, 227, 242, 280, 291, 303 Szlezák, Thomas Alexander 92 f, 95, 118 f, 135, 147, 149, 152, 155, 166, 170 f, 285, 309, 317

383

Tarán, Leonardo 208, 215 f, 219, 228, 230 f, 233 f, 243, 282, 290 Tarrant, Harold 189, 205, 215 f Tegtmeyer, Henning 37, 54, 65 Thales 2 f, 15, 52 Theiler, Willy 133, 142, 153, 190, 194 f, 197, 281, 287, 293 Theodoros von Asine 165, 294 f, 314 Thesleff, Holger 198 Theunissen, Michael 13, 27, 53, 85, 359 Thiel, Detlef 112, 133, 161 Thomas von Aquin 32, 54, 73 Thrasyllos 193 Töplitz, Otto 124 Tornau, Christian 273, 311 Turner, John D. 182, 188 Uehlein, Friedrich 278 Vansteenberghe, Edmond 317 Victorinus 28, 74, 280 f, 293–295, 297, 299, 314 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 16, 81, 149, 155, 160, 186, 253, 298 Vorwerk, Matthias 169 Waldenfels, Bernhard 353 Weber, Karl-Otto 169 f Weischedel, Wilhelm 35, 53 Weizsäcker, Carl Friedrich von 134 Wendte, Martin 68 Westerink, Leendert Gerrit 169 f, 179, 186 f, 227, 283, 286–288, 291, 335 f, 343– 345 Whittaker, John 167, 189, 191 f, 196, 198 f, 308 Wiehl, Reiner 65 Wieland, Wolfgang 360 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 186 Wilpert, Paul 92, 105, 134, 238 Windischmann 352, 359, 368 Wippern, Jürgen 19, 92, 217, 232 Wundt, Max 186, 209 Wyller, Egil A. 221

384

Namensregister

Xenokrates 106, 112, 118, 133, 138, 161, 165, 167, 192 f, 195, 198, 202–208, 218, 231, 233 f, 243 Xenophanes 2, 52, 194

Zeller, Eduard 191, 215, 227 Zenon von Elea 123, 181 Zintzen, Clemens 167, 191, 194, 258, 280, 284

385

Sachregister Akademie, platonische 6, 29, 43, 100–103, 111 f, 129, 133, 138 f, 142, 146 f, 149 f, 165–167, 182, 185 f, 188, 191, 193, 195, 197–199, 201, 204 f, 207, 210, 212 f, 215, 217 f, 220 f, 230, 232 f, 235, 238, 240– 243, 303, 308 All-Einheit 17, 34, 45–48, 55–59, 67–69, 93, 100, 187, 247, 252–254, 270 f, 273, 296, 312 f, 339, 342 f, 348 Analogie, Analogik 23, 30, 73, 82, 95, 106 f, 162, 171, 202, 225 f, 234, 267, 297, 299, 312, 363, 365 f Anhypotheton 38, 41 f, 68, 82, 95, 98, 104, 137, 145, 154, 309, 319 f, 333 f Anschauung, intellektuelle siehe Einsicht Aufstieg 28, 40, 94–96, 136 f, 144 f, 148, 218, 270, 309 Begriff, absoluter 38, 46, 68, 160, 253, 256, 331 f, 336 f, 342, 347–349, 352 Bestimmung, Bestimmtheit 18–20, 22, 31, 33, 37–48, 52, 55–58, 62, 72, 76 f, 83 f, 95–104, 107, 109, 113–118, 125–131, 136–139, 152–154, 163 f, 172–175, 187, 209, 217 f, 220 f, 227, 231–238, 240, 252 f, 256–258, 268, 272, 283, 288, 291, 301, 304, 311, 314, 320–323, 332, 334, 336–348, 354 f, 361, 365–367 Bild 52, 72, 106 f, 145, 162, 262, 265 f, 268, 273, 275–278, 328 f, 338 f Bipolarität 111, 138, 142, 148, 169 Christentum, christlicher Platonismus 5 f, 27, 35, 53, 68, 74–78, 85, 188, 280, 293, 307, 309, 315 f, 328 f, 351, 354 Christus, Christologie 68, 316, 328 f Denken – diskursives (διάνοια), rationales 18 f,

69 f, 72, 140, 144–148, 187, 205 f, 247– 250, 254 f, 259, 261 f, 276 f, 307–313, 325 – noetisches siehe Einsicht – spekulatives 17, 19–21, 23–25, 55, 67, 69, 71, 74, 94, 238, 240, 261 f, 315 f, 331, 354, siehe auch Theologie, spekulative – Denken des Denkens, νόησις νοήσεως 5, 25, 75, 83, 156, 256 f, 260, 285, 364 – Einheitsvorgriff des Denkens 17, 33 f, 47–49, 98 f, 157–159 Dialektik 18–20, 23, 32 f, 35, 40 f, 44 f, 55, 72, 76 f, 80, 82, 93–95, 107, 131, 134–137, 145, 166, 173, 180, 185–188, 191, 201, 205, 228, 235, 241, 256, 308 f, 311, 332 f, 348 – negative 75, 100, 313, 339 – spekulative siehe Denken, spekula­ tives; Theologie, spekulative Differenz, Andersheit, Verschiedenheit 2–4, 16, 21 f, 33, 39, 41–47, 55, 68, 99, 101, 111, 129 f, 142, 156 f, 160, 190, 192, 217, 248, 254, 267 f, 299, 309 f, 313, 321, 334 f, 344 Dualismus 104, 111, 119, 133–138, 140 f, 145 f, 148, 154, 193, 196, 201, 203, 353 Einsicht, νόησις 3, 5 f, 18 f, 24, 31, 33, 37, 41, 62, 68–70, 79, 155, 171, 205 f, 230, 247, 250, 254–263, 271, 276 f, 285, 299, 324 f, 364 f Ekstasis, unio mystica 4–6, 25, 30–32, 34, 38, 40, 47 f, 59, 71, 73, 83, 102, 247, 274, 325 f, 345, 348 f Emanation 106 f, 145, 147, 162, 171, 283, 358 Eminenz 296, 298, 300–304, 314 Erscheinung, Theophanie 3, 29 f, 34 f, 54, 77, 111 f, 120, 127–129, 131, 254, 265 f, 273–277, 324, 327 f, 338 f, 346 f

386

Sachregister

Freiheit – absolute 25, 353, 357, 359–368 – menschliche 351–357, 359–364, 367 – des Geistes 164, 257, 352, 354–367 Ganzes, Ganzheit, 1–4, 12–21, 23, 28–30, 32 f, 43–47, 51–59, 66–70, 72, 75, 82, 87, 91, 95, 97, 100, 106, 138, 150, 160, 164, 174 f, 221, 248, 251–258, 260–262, 265, 268–272, 277, 285, 296, 301 f, 311–313, 325, 334, 343, siehe auch Totalität Gegensatz; Übergegensätzlichkeit 2, 23, 35, 39 f, 42, 45 f, 55 f, 112 f, 115 f, 130, 133 f, 141, 143, 146 f, 173, 194–198, 200 f, 204, 211 f, 218, 223, 236 f, 240, 288 f, 291, 310–312, 315, 321–323, 334, 336, 344, 357 Geist, νοῦς 4–6, 17 f, 22–25, 33–35, 38, 46–48, 54, 56, 58 f, 61–63, 65, 68 f, 72, 75–77, 82, 84, 95 f, 102, 106, 131, 150, 155–164, 168–173, 176–178, 187, 198, 217, 220, 222, 247–263, 270–278, 285, 294, 296–303, 312–314, 320–322, 324– 329, 354–368 Geschichte 3–6, 11 f, 21, 27–29, 33, 35, 51–54, 56–59, 70 f, 73 f, 78–82, 85–87, 91, 213, 331, 351, 353, 355 Gott, das Göttliche (θεῖον) 1 f, 18, 32, 35, 37 f, 40, 43, 51–59, 62, 65, 68–73, 76–81, 83, 147, 165 f, 169 f, 212, 220, 227 f, 247 f, 258, 272, 276–278, 280, 287, 292 f, 295, 297, 301, 305, 307 f, 314, 316, 319, 325, 328, 342, 353–355, 358–360, 362 f, 368 Gottheit 57, 59, 305, 307, 325, 358 siehe auch Übergottheit Grenze (πέρας) 28, 32–34, 82, 104, 122– 127, 137, 140 f, 147, 196, 201, 204, 207, 210–212, 221–223, 226–240, 274, 287– 289, 291, 300–302, 304, 313, 354 Grund siehe Urgrund Hervorgang, πρόοδος 20–22, 104–107, 125, 127, 145–149, 159–163, 182, 202 f, 282 f, 341, 346 Hinwendung, ἐπιστροφή 147, 162–164, 254, siehe auch Rückkehr zu sich; Transzendenzbezug; Urakt des ­Denkens

Idee, Ideen, Ideenkosmos 13, 19, 21, 29– 31, 33, 38, 41–46, 58, 75, 80, 82, 95, 99, 101, 104, 111–114, 120–131, 137 f, 141– 144, 150, 154–156, 158–160, 162, 172– 175, 185–192, 201, 205 f, 208–210, 218, 221, 226, 241, 252–260, 262, 269, 271– 273, 276 f, 284–291, 294–295, 300–304, 309–313, 332, 334 f, 354–357, 360 Identität 21, 25, 39, 41–45, 55, 62, 75, 97, 100 f, 130, 142, 156 f, 217, 248, 256 f, 263, 267 f, 309 f, 313, 334, 337 f, 340 f, 355– 357 Indifferenz 67 f, 76, 174, 298–300, 339 f, 342, 357 Innerlichkeit 328, 341 Intention, Intentionalität 40, 117 f, 164, 249, 261, 326, 328, 360 f, 364, siehe auch Hinwendung Koinzidenz der Gegensätze 19, 23 35, 45, 55, 77, 134 f, 238 f, 241, 314, 322 Licht 106, 171–173, 251, 255, 258, 271– 275, 278, 324, 327 Logos 80, 82, 354–356, 360, 362 Materie 110 f, 116–118, 126–129, 131, 147, 188–192, 194 f, 254, 276, 335, 355, 359 Mensch 2, 35, 65, 68–70, 78–80, 82, 176, 198, 212, 261, 316, 328 f, 332, 353, 355– 358, 362–364 Metapher 23, 106 f, 141, 145, 162 f, 238, 258, 262, 267, 272, 278, 281, 283, 289, 302, 305, 312, 363 Metaphysik – des Einen, Henologie 1 f, 4–6, 15–17, 20, 28, 31, 34, 39, 43 f, 47, 57, 62 f, 75 f, 83, 91–94, 96, 99, 101, 107, 134, 145, 151, 167 f, 177, 180, 186–188, 191, 198–201, 213, 217, 220, 238, 241 f, 307, 309, 314, 331, 334, 336, 351, 353, 357, 363 f, 368 – Geistmetaphysik, Noologie 4 f, 15, 17, 20, 28, 43, 46, 62 f, 75, 84, 247, 250, 253, 261 f, 314, 325–328 – Seinsmetaphysik, Ontologie 1–5, 14, 35, 37 f, 52, 61 f, 64 f, 70–72, 77, 92, 99 f, 104, 114, 173, 175, 186, 202, 231, 233, 242, 279, 290, 311, 321, 331

Sachregister

– Ursprungsmetaphysik 1–4, 51 f, 58 f, 85 – Vollendungsformen 4–6, 12 f, 15–25, 59, 73–76, 78, 331, 363 Monismus 15, 54, 93, 104–107, 133–148, 150, 155, 161, 173 f, 182, 193–197, 199– 201, 204, 208, 211 f, 282 Monotheismus 52 f Mystik siehe Ekstasis Mythos, Mythologie 2 f, 33, 52 f, 78–82, 85, 166 Negation, Negativität 1 f, 4, 22, 31 f, 38 f, 42, 44, 47 f, 52, 68, 76 f, 82 f, 94, 99, 179 f, 191, 208, 218, 223, 232, 237, 301, 306, 308, 311, 313 f, 333, 338–346 – andersheitliche 335 f, 344 – privative 56, 139, 219, 335 f, 344 – selbstbezügliche (negativer Selbst­ bezug) 47 f, 76 f, 345–349 – transzendierende 56, 101 f, 139, 150, 152, 177 f, 204 f, 219, 301, 320, 325, 335 f, 344–346, 358 f, 365 f, siehe auch ­negative Theologie – Negation der Negation (ὑπεραπόφασις) 119, 313, 343–345 Nichts, Nichtsein 14, 22, 31 f, 37–44, 56, 58, 76 f, 97, 99, 102, 114–118, 130, 138– 140, 142, 154, 189–192, 203, 205, 211, 218, 237, 269, 274, 305, 310, 335, 344, 346 f, 357 f, 361, 368 Nichtwissen (docta ignorantia) 5 f, 20, 23, 35, 48, 77, 84, 87, 315, 347 Ordnung 72 f, 128, 166, 237, 239, 267, 278, 290, 303 Paradoxie 16, 23, 30 f, 35, 55, 61, 123, 153, 261, 281, 283, 300, 307–313, 361 Prinzip siehe Urgrund Reduktion siehe Aufstieg Religion, Religionsgeschichte 2, 27, 52 f, 69, 74–76, 78–80, 85 f, 280, 351 Rückkehr zu sich 4, 20, 33 f, 46 f, 55, 58, 73, 75, 157–162, 206, 254, 257, 260, 267, 293, 300, 304, 341, siehe auch Selbstbeziehung

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Schönheit, das Schöne 6, 81, 247 f, 250 f, 257 f, 265–278 Schöpfung 77, 82, 346, 355 Seele 82, 112, 131, 176, 187–189, 191 f, 202 f, 205 f, 232–234, 249, 251, 254, 263, 269 f, 290, 295, 303, 309, 325, 364 f, 367 f Sein, Seiendes 1–5, 14, 17 f, 22, 25, 28–31, 33–35, 37–45, 48, 51–59, 62, 71, 75–77, 81–84, 91, 95–107, 109–118, 127, 129– 131, 136–138, 142–148, 149, 152–156, 163 f, 168, 171–178, 181, 190, 207, 209– 211, 231, 236 f, 248–250, 254–258, 260, 262, 266, 268–272, 281, 284 f, 287 f, 291, 299–301, 307, 310 f, 328, 333, 343, 346, 359–362, 364 f Seinsmangel, Privation 14, 22, 39, 57, 102, 114–118, 127, 130 f, 139, 142, 154, 335, 344 Selbst 16, 247 f, 257 f, 262 Selbstbewußtsein, Selbsterkenntnis 5, 16 f, 20 f, 24, 35, 48, 61–70, 72, 77, 86, 95, 248, 250 f, 258–260, 262 f, 293 f, 297–300, 327, 332, 342, 346, 349, 361 Selbstbeziehung, Selbstverhältnis, Selbstvermittlung 3 f, 6, 15–25, 28, 33 f, 38, 46–48, 59, 63, 67 f, 72, 75–77, 157–159, 164, 249 f, 253, 256, 271, 297–300, 336 f, 342, 344, 348 f, 354, 366 f Selbstüberstieg siehe Ekstasis Sprache 64, 80, 261 f, 308 Subjekt, Subjektivität 25, 56, 63–73, 86, 331, 336 f, 348 f, 352 f, 361 f Substanz 112, 120, 294, 337 Theologie 1 f, 12, 18, 53 f, 58 f, 61 f, 71–74, 81, 83, 165–167, 280 – affirmative 32, 54, 57 – negative 5 f, 22 f, 31–35, 39, 57 f, 71, 73, 76, 83 f, 101, 136, 139, 177 f, 180, 204, 211 f, 217–220, 289, 301, 305 f, 309, 311, 314 f, 320–322, 331–349, 366 – spekulative 57, 348 – Ontotheologie 37 f, 70 f, 73 Totalität 20–22, 29 f, 33, 37–39, 43, 45 f, 48, 58, 62, 77, 91, 100, 104, 127–129, 153, 164, 167–169, 196, 227, 248, 250, 252–256, 258, 263, 268, 280, 293, 296,

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Sachregister

299, 301 f, 312, 332, 338 f, 342–344, 348, 360, 362, siehe auch Ganzheit – konkrete 21, 24 f, 33, 37, 46, 68 f, 75, 160, 254–256, 258, 260, 270 f, 273, 313 f Transzendenz – absolute 1 f, 22–25, 27, 29–33, 38 f, 42 f, 48, 56–59, 68, 75–77, 83, 93 f, 96, 100– 102, 104 f, 140, 144, 150, 152–154, 161, 164, 168, 175, 177, 180 f, 183, 187, 191, 205, 208, 211, 266, 273 f, 282 f, 286, 288 f, 301, 306–309, 311 f, 315, 317–320, 332–336, 342–345, 348, 359, 364, 365– 367 – graduelle 29 f, 33, 343 – Transzendenzbezug 4, 22, 34, 47 f, 59, 71, 153 f, 158, 160, 164, 248, 277, 349, 365, siehe auch Ekstasis Trias, Trinität 6, 55, 58 f, 75–77, 280, 284–288, 292–301, 303, 328, 347, 354, 359 Überfülle 22, 57, 102, 104–106, 145, 159, 161–163, 209, 220 f, 224, 238, 242, 274, 283, 308, 336, 344, 358, siehe auch Transzendenz Übergottheit, 57, 59, 76 f, 308, 359 Unendlichkeit (ἄπειρον) 2, 33, 52, 119 f, 122 f, 125–128, 145, 204, 211, 220–226, 228–232, 235–242, 287, 326–328, 333 Unerkennbarkeit, Unsagbarkeit 6, 25, 32, 38, 45, 48, 77, 82, 84, 101 f, 126 f, 138, 145, 147, 152, 179 f, 227, 283, 286, 288 f, 292, 296–300, 302, 305, 312, 332, 335 f, 344 Ungrund 73, 84, 357, 362 Unterschied siehe Differenz Unvordenklichkeit 25, 65, 71, 80, 105 f, 162 f, 362 Urakt des Denkens 161–164, siehe auch Einheitsvorgriff des Denkens

Urgrund, Ursprung, Prinzip 1–4, 12–15, 17–19, 22 f, 25, 28–35, 41–44, 51–57, 59, 63 f, 66, 68, 70, 80, 82–84, 91, 93, 95 f, 98–103, 106, 109, 115, 119, 126, 135, 137 f, 141–144, 146 f, 149, 151–155, 157– 159, 162 f, 168, 173, 176–178, 180, 186, 194, 196, 199, 200–203, 206–209, 217, 219, 223, 227–238, 252, 266–269, 273– 275, 281–283, 288, 292, 305, 307–311, 315, 317 f, 320–325, 327, 333–335, 337, 343, 346–349, 353, 357, 362 Vernunft 11 f, 18, 24 f, 35, 40, 62, 71, 73, 75, 263, 315 f, 331–333, 349, 352, 356, 359, 364–366, siehe auch Einsicht, Geist Vielheit 2 f, 14, 19, 22, 31, 33 f, 38, 40 f, 43– 48, 75, 83, 96–107, 111, 113 f, 118, 124, 127, 137–140, 143–147, 150–154, 158– 161, 169, 172–175, 177, 181 f, 186 f, 189 f, 196, 202–210, 212, 218, 234, 236, 238– 240, 252, 268–270, 272 f, 282 f, 285, 288, 290 f, 294, 299, 310 f, 334 Wahrheit, ἀλήθεια 3, 21, 76, 78 f, 85–87, 94, 99, 106, 165 f, 171–173, 217, 266, 276 f, 322 Wahrnehmung, αἴσθησις 15, 206 Widerspruch 55, 307–314, 340, 344 f Wille, βούλησις 355, 361, 364 f, 368 Wissen, absolutes 20, 23, 35, 67, 77, 81, 87, 349 Zahl 112, 118, 122–126, 129, 137, 142, 146, 158, 192, 202 f, 205 f, 212, 226, 231, 233– 235, 237–241, 278–280, 287–292, 301, 303 f Zweiheit, unbestimmte (ἀόριστος δυάς) 103–107, 109–131, 133, 137, 142–144, 147 f, 150–154, 158–161, 163 f, 180–182, 189–201, 205–213, 221, 242, 282, 310