Nationalstaat und Interdependenz -: kooperative Interaktionsmuster in der EG-Handelspolitik. Ergebnisse eines Forschungsprojekts des Instituts für Europäische Politik und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung [1 ed.] 9783428473809, 9783428073801


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German Pages 251 Year 1992

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Nationalstaat und Interdependenz -: kooperative Interaktionsmuster in der EG-Handelspolitik. Ergebnisse eines Forschungsprojekts des Instituts für Europäische Politik und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung [1 ed.]
 9783428473809, 9783428073801

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DEUTSCHES INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSFORSCHUNG

SONDERHEFT 147 · 1992

Christian Siebert und Eirik Svindland

Nationalstaat und Interdependenz kooperative Interaktionsmuster in der EG-Handelspolitik Ergebnisse eines Forschungsprojekts des Instituts für Europäische Politik und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Schwerpunktprogramm der DFG "Die Interdependenzproblematik im gegenwärtigen internationalen System als Aufgabe internationaler und innerstaatlicher Politik: Die Bundesrepublik Deutschland im Verflechtungssystem der westlichen lndustrienationen" Projektverantwortung: Dr. Fritz Franzmeyer (DIW) Dr. Wolfgang Wessels (IEP)

· BERLIN

Herausgeber: Deutsches lnstitul für WirlschafiSforschung, Königin·Luise·Sir. 5, 0.1000 Berlin 33 Telefon (0 30) 82 99 10- Telelax (0 30) 82 99 12 00 Verlag Duncker & Humblot GmbH, Dietrich·Schäfer· VIIeg 9. D·1000 Berlin 41. Alle Rechte vorbehalten Druck: 1992 bei ZIPPEL·Druck, Oranienburger Str. 170, [).1000 Berlin 26 Printed in Germany

ISBN 3· 428 · 07380·0

INHALT Seite 1

Untersuchungsrahmen ............................. 6

1.1

Einleitung ...................................... 6

1.2

Interdependenz .................................. 9

1.3

Interaktion, Verflechtung und Betroffenheit ...... . .. ... 18

1.4

Interaktionsmodell ............................. . . 21

1.5

Leitfrage und Arbeitshypothesen .................... 26

1.6

Vorgehensweise ........ ..... ........... ...... .. . 33

2

Objektive Betroffenheit: Statistische Grundlagen der Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . 35

2.1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

2.2

Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

2.3

Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

2.4

Extremfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

2.4.1

Bemerkenswert gleichbleibende Eigenversorgung . . . . . . . . 49

2.4.2

Bemerkenswerte Entwicklung der Differenz zwischen Ein- und Ausfuhr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

2.4.3

Bemerkenswerte lmportpenetration .... .... ... ... .... 85

2.5

Wahl der Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

3

Seite

3

Außenhandelspolitik der Bundesrepublik Deutschland in der EGgegenüber den OECD-Staaten: Kompetenzen, Instrumente, beteiligte Akteure und Verfahrensregeln ........................... 115

3.1

Verteilung außenhandelspolitischer Kompetenzen zwischen nationaler und EG-Ebene im Überblick ....... 116

3.2

Handelspolitische Instrumente der EG . . . . . . . . . . . . . . . 123

3.3

Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

3.4

Verfahrensregeln ............................... 145

3.5

Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

4

Einsatz handelspolitischer Instrumente und ordnungspolitische Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

4.1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

4.2

Einsatz handelspolitischer Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . 158

4.3

Handelspolitische Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

5

Fallstudien zur Nutzung von Interaktionssträngen . ... .. 183

5.1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

5.2

Ausgangslage: Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

5.3

Mögliche Interaktionsstränge der betroffenen Verbände .. 191

4

5.4

Zur Wahl der Interaktionsstränge von Industrieverbänden 193

5.5

Interaktionsmuster von Verbänden des Handels ........ 211

Seite 6

Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220

6.1

Schlußfolgerungen in bezugauf die Arbeitshypothesen ... 220

6.2

Schlußfolgerungen in bezug auf das Interaktionsmodell

6.3

Handelspolitische Interaktionsmuster in der EG:

227

Reaktion der Akteure auf das Vorliegen von Interdependenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

Anhänge Al

Liste wichtiger Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

A.2

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

A.3

Verzeichnis wichtiger Dokumente .................. 241

A.4

Frageleitfaden (Kurzfassung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

A.5

Liste der Expertengespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

A6

Zum technisch-organisatorischen Ablauf der Projektbearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

5

1

Untersuchungsrahmen

1.1

Einleitung

Der vorliegende Bericht bildet den Abschluß eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts, das im Rahmen des DFGSchwerpunktprogramms "lnterdependenzproblematik im gegenwärtigen internationalen System" entwickelt wurde. Ausgangspunkt des Projekts sind diejenigen Interdependenzen in der Handelspolitik der EG, die auf dem grenzüberschreitenden Warenverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den übrigen OECD-Ländern beruhen. Die Volkswirtschaften der westlichen Industrieländer sind in erheblichem Maße über Leistungs- und Kapitalströme miteinander verzahnt. Im Bereich des Handels zwischen Industrieländern wird die intra-industrielle Arbeitsteilung immer wichtiger. Für diewirtschaftliche Entwicklung jedes Landes ist der Außenhandel deshalb ein wichtiger Einflußfaktor, und die internationale Wettbewerbsfähigkeit ist ein zentrales unternehmens- wie wirtschaftspolitisches Ziel. Zu der Internationalisierung des Wirtschaftsprozesses hat die Öffnung der nationalen Märkte im Rahmen der EGIntegration und des weltweiten Abbaus von Zöllen beigetragen. Untersuchungen zum internationalen Handel zeigen indes, daß in den letzten Jahren die Bedeutung nicht-tarifärer Handelsbeschränkungen zugenommen hat. Technische Handelsschranken, Selbstbeschränkungsabkommen, bilaterale Handelsverträge, Anti-Dumping-Verfahren und eine protektionistischere Handelsgesetzgebung bilden das Arsenal zum Schutz

6

heimischer Märkte vor (zu starker) Auslandskonkurrenz, und in der Handelspolitik der westlichen Industrieländer wird davon - in unterschiedlichem Maß - auch Gebrauch gemacht, obwohl dies in gewissem Widerspruch zu dem meist artikulierten Credo für ein liberales Weltwirtschaftssystem steht. Damit ist die Frage aufgeworfen, unter welchen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen handelspolitische Aktionen/Reaktionen an die Stelle einer internen Anpassung treten. Von besonderem Interesse ist dabei, welche Wege der Einflußnahme die Betroffenen und Beteiligten beschreiten. Die Untersuchung dieser Fragen muß vor dem Hintergrund der gegebenen nationalen und internationalen institutionellen Strukturen geschehen und setzt ein interdisziplinäres Vorgehen voraus. Das primäre Ziel der vorliegenden Arbeit ist es also, Aufschluß über die Interaktionsmuster beteiligter Akteure aus der Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen, mit denen sie auf Interdependenzen im OECDRahmen reagieren. Zur Informationssammlung wurden Fallstudien zu handelspolitischen Problembereichen durchgeführt. Das Augenmerk liegt auf den Einfluß-, Anpassungs- und Gegenstrategien, die die Akteure aufgrund von Änderungen im Außenhandel auf deutscher, EG- und OECD-Ebene entfalten. Insbesondere wird untersucht, welche Strategien sich auf die Nutzung des handelspolitischen Instrumentariums (z.B. AntiDumping~Regelung)

der EG beziehen, da dies in unmittelbarem

Zusammenhang mit der Fragestellung der Studie steht und auch empirisch vergleichsweise gut überprüft werden kann. Es wird dabei auch untersucht, ob die Entscheidungsverfahren de jure und de facto in der

7

nationalen (hier deutschen) Handlungsautonomie verblieben sind. oderanders formuliert - ob und inwieweit der reale Handlungsspielraum der Bundesrepublik in der Handelspolitik eingeschränkt ist. Damit will die Studie einen Beitrag zur Erforschung von Auswirkungen gegebener Interdependenz auf ein politisches System (s. DFG, 1984, Forschungsdesiderata, S. 12 f.) liefern. Eine solche Untersuchung muß wegen der großen Zahl der beteiligten unterschiedlichen Akteure (staatliche Akteure, Unternehmen, Verbände) zwangsläufig mehrschichtig sein (s. ebda). Die vorliegende Analyse der Auswirkungen von Interdependenz auf Interaktionsmuster beteiligter Akteure sollte aus Sicht der Autoren nicht als Alternative zu ökonomischen oder politikwissenschaftlichen Analysen aufgefaßt werden, sondern als eine ergänzende Betrachtungsweise, deren Ansatz darin liegt, typisch ökonomische und typisch politikwissenschaftliche Vorgehensweisen zu verbinden. Kennzeichen der Kombination beider Perspektiven in der Studie ist es, daß aufgrund einer Außenhandelsanalyse mögliche handelspolitische Problemfelder identifiziert werden, ein politikwissenschaftliches Modell für die Interaktionen beteiligter Akteure formuliert und dieses am Fallbeispiel der Problemfelder empirisch überprüft wird. Der

wesentli~he

Unterschied zur üblichen ökonomischen Analyse von

Handelsbeziehungen besteht darin, daß die Aufmerksamkeil sich nicht hauptsächlich auf das mengenmäßige Ergebnis (im Außenhandel) und dessen ökonomische Bestimmungsgrößen richtet. Im Blickfeld stehen vielmehr die institutionellen Wege der Einflußnahme auf politisch 8

bestimmte Rahmenbedingungen für international wirksame Entscheidungen. Wie sich zeigen wird, beinhaltet die Handelspolitik der EG, verankert im EWG-Vertrag, zahlreiche Regelungen und Instrumente zur politischen und rechtlichen Beeinflussung des Handels; zudem sind auf nationaler Ebene Teilkompetenzen verblieben, die ebenfalls eine solche Einflußnahme ermöglichen. An diesen Möglichkeiten setzt die Analyse an. Um die festgestellte Nutzung der handelspolitischen Kompetenzen erklären zu können, wird ermittelt, welche Struktur der politische Prozeß hat, der in Verbindung mit handelspolitischen Änderungen idealtypisch (im Sinne

von: üblich, stilisiert) abläuft. Das hier vorliegende Problem ist, die "determination of relevant groups and their relation to total processes in real and definite societies" (Johan Akerman, 1960, S. 278) zu erkennen.

1.2

Interdependenz

Um den Begriff der "Interdependenz" hat sich eine große Zahl unterschiedlicher Interpretationen und theoretischer Konzepte entwickelt. Da die vorliegende Arbeit auf dem Tatbestand der Interdependenz aufbaut, sind daher einige begriffliche Klärungen notwendig. In der volkswirtschaftlichen Außenhandelstheorie steht ganz allgemein die Frage im Vordergrund, wie und in welchem Umfang der Handel von Gütern und Dienstleistungen zwischen Ländern zustande kommt. Formal läßt sich das Ergebnis darstellen als

9

wobei 0 1 •. •0 0 die Determinanten der mengenmäßigen Kaufentscheidung (X) symbolisieren. Diese Beziehung wird in volkswirtschaftlichen Analysen üblicherweise funktional und auf der Grundlage der Annahme interpretiert, daß die Individuen selbst ihre Interessen am besten kennen und wahrnehmen können (methodologischer Individualismus). Die identifizierten, gewöhnlich auch quantifizierten Determinanten sind meistens Preise, Einkommensgrößen, Transportkosten, Zölle, Subventionen und ähnliches. In der traditionellen Außenhandelstheorie werden die politisch bestimmten Determinanten, wie Zölle, nur im Hinblick aufihre Bedeutung für die Erklärung des Handels betrachtet. Typisch ist die Diskussion über das sogenannte Optimalzollargument (Rose, 1986), wonach eine Nation ihren Wohlstand auf Kosten der übrigen Welt mittels eines Einfuhrzolles erhöhen kann, weil der Zoll das Austauschverhältnis der aus- und eingeführten Güter (die Terms of Trade) so ändert, daß eine bestimmte Menge Importe mit weniger Exporten bezahlt wird. Im Geiste dieser Betrachtungsweise schrieb Cooper (1972) über "wirtschaftliche Interdependenz": Die Behauptung, daß "Interdependenz" vorliegt, "normally refers to the dollar value of economic transactions among regions or countries, either in absolute terms, or relative to their total transactions." (S. 159) Seit einem Jahrzehnt haben die Ökonomen sich auch der Erklärung der politischen Determinanten des Außenhandels zugewandt und wenden dabei im Prinzip dasselbe Erklärungsmuster an, wie im Falle der 10

endogenen ökonomischen Variablen (Handelsströme, Preise etc.). Es handelt sich um eine Anwendung der sogenannten "ökonomischen Theorie der Politik" (Public Choice ), die als neue "Internationale Politische Ökonomie" (Political Economy of Protection) bezeichnet wird. Die diesbezüglichen Beiträge von Baldwin (1976, 1982), Broch und Magee (1980) Findlay und Wellisz (1982, 1983), Frey (1984) und Mayer (1984a, 1984b) usw. interpretieren die beobachteten Zölle und andere protektionistische Maßnahmen als Gleichgewichtspreise auf einem Markt für Protektion. Interessengruppen werden als Nachfrager gesehen, die Ressourcen für den Kauf einer Protektion einsetzen, und die Regierung wird als ein optimierender Anbieter aufgefaßt, der mit Erträgen und Kosten im Sinne einer Zielfunktion (z. B. Stimmenmaximierung unter finanziellen Nebenbedingungen) rechnet. Diese Erweiterung des Horizonts der Außenhandelstheorie färbte auch auf Stellungnahmen zur internationalen Interdependenz ab - zum Beispiel schrieb Marina von Neumann Whitman (1979):

"... as generally understood by economists, the term interdependence refers to the sensitivity of economic behavior in one country to developments or policies originating outside its own borders." (S. 265) In diesem Gebrauch hat Interdependenz eine zu allgemeine, zu vielseitig verwendbare Bedeutung bekommen, um als Theoriesprache für Theorien über internationale Beziehungen nützlich zu sein. Das zeigen die folgenden vier eingeschlossenen Fälle von sensitiver Abhängigkeit des ökonomischen Verhaltens infolge ausländischer Entwicklungen: 11

1)

Die Regierung des Landes A möchte Handelshemmnisse einführen, die eine Reduktion der Importe aus B verursachen sollen. Um dies zu verhindern, gibt die Regierung von B bekannt, daß sie eine Vergeltung in der Form eigener Beschränkungen von Importen aus A üben würde.

(2)

Die Regierung des Landes A reduziert die Einfuhr vom Gut X aus B. Daraufhin schränken die X-Hersteller in B ihre Produktion ein, entlassen einige Arbeitnehmer und verstärken ihre Bemühungen um den Markt in C.

(3)

Das Land A ist der einzige Lieferant des Rohstoffs Y, der für die XProduktion benötigt wird. Die Regierung von A verbietet die Ausfuhr von Y. Daraufhin stoppt die X-Produktion in B.

(4)

Infolge einer Rezession in A geht die Nachfrage nach Importen zurück. Das hat zur Folge, daß die Unternehmen in B ihre Produktion und damit die Beschäftigung einschränken müssen, obwohl sie auch die Exportpreise senken. Dieser Rezessionsimport hat wiederum eine Rückwirkung auf A in der Form eines weiteren Rückganges der Nachfrage nach A-Produkten.

Im ersten Falle liegt ein strategisches Problem vor: Wenn die Regierung in A sich entscheidet, dann berücksichtigt sie (auch) ihre Erwartungen bezüglich des Verhaltens ausländischer Akteure. Im zweiten Falle hingegen wird aufgrund einer Datenänderung - optimierend - reagiert; man kann von Ursachen und Wirkung, also von Kausalität sprechen. Im dritten Falle ist eine funktionale Reaktion der Technik als Restriktion 12

wirksam dazugekommen. Im vierten Falle werden diejenigen Zusammenhänge von Einkommen, Konsum, Beschäftigung etc. ersichtlich, die makroökonomisch gesehen als Einkommenskreislauf bekannt sind. Mikroökonomisch gesehen, kommt der gesamtwirtschaftliche Einkommenskreislauf dadurch zustande, daß die unzähligen Wirtschaftseinheiten durch ihre zielorientierten Käufe von Gütern und Dienstleistungen miteinander vernetzt sind. Die übliche wirtschaftswissenschaftliche Analyse dieses Netzwerkes folgt dem methodologischen Individualismus. Sie berücksichtigt technische und budgetmäßige Restriktionen und nimmt an, daß jeder Akteur autonom handelt. Ein strategisches Verhalten, das auf Rückwirkungen von Kaufentscheidungen auf eigene Einnahmen basiert, ist im allgemeinen Marktmodell nicht relevant, wenn dieses, wie üblich, auf der Annahme basiert, daß kein Akteur einen Preis alleine beeinflussen kann. Internationale "wirtschaftliche Interdependenz" kann selbstverständlich als der beobachtete grenzüberschreitende Teil der Käufe definiert und mittels der Außenhandelsstatistik gemessen werden. "Interdependent" wird aber in der deutschen Umgangssprache mit "von einander abhängend" und im Englischen mit "depending on each other" übersetzt. Folglich kann es irreführend sein, die Existenz einer internationalen Handelsbeziehung mit wirtschaftlicher Interdependenz gleichzusetzen. Denn im dritten der erläuterten vier Fälle deckt der Exportstopp eine "Dependenz" ohne "Inter-" auf. Auch

die

politikwissenschaftlichen

lnterdependenzdeutungen,

die

Beachtung fanden, als diskutiert wurde, ob die Existenz der Interdependenz ein "internationale Politik"-Paradigma begründen kann, sprechen 13

gegen die Gleichsetzung von Handelsströmen mit "wirtschaftlicher Interdependenz". Rosencrance et al. (1977) lehnen sich an vorangegangene ökonomische Analysen an und unterscheiden zwischen "horizontaler Interdependenz", die sie wie "wirtschaftliche Interdependenz" (Cooper), also am Volumen von Außenhandelsströmen messen, und - ''vertikaler Interdependenz", die sie an den Reaktionen "of one economy to another in terms of changes in factor prices" (S. 428/429) feststellen wollen. In dieser Auffassung begegnen wir einer nach wie vor mangelhaften Unterscheidung zwischen Dependenz und Interdependenz sowie einer in der Wirtschaftswissenschaft hervorgehobenen Unterscheidung zwischen status quo ante und der ereignisbedingten marginalen Zustandsänderung. Theoreme der Außenhandelstheorie, die sich mit dem internationalen Zusammenhang von Löhnen und Preisen sowie mit den quantitativen Folgen dieses Zusammenhangs befassen, standen bei der Wahl dieses "vertikalen" Meßkonzepts Pate. Rosencrance et al. hätten ebensogut die marginalen Änderungen der Handelsströme im Blick behalten und damit den Unterschied zwischen durchschnittlicher

und

marginaler

"horizontaler

Interdependenz"

hervorheben können, um das - im übrigen auch von Cooper (1972) beachtete - Problem zu erfassen, daß die Handelsströme lediglich handelsmäßige Verflechtungen, nicht die dazugehörigen Abhängigkeiten

14

wiedergeben - wirtschaftliche Interdependenzen der Länder A und B entstehen im Zuge der Entwicklung von Handel in beiden Richtungen. Es besteht demnach, wie Baldwin (1980) hervorhebt, eine Verbindung zwischen wirtschaftlich bedingter politischer Interdependenz und "Wohlstandsgewinnen durch Außenhandel". Diese Verbindung läßt die Möglichkeit einer Ausübung von Macht durch Handelspartner vermuten. Die Kategorie der "Macht" wird insbesondere von politikwissenschaftlichen Arbeiten zur Interdependenz berücksichtigt. Keohane und Nye (1977 und 1985) heben zwei Formen der Abhängigkeit hervor: - "sensitivity" (Empfindlichkeit): Grad der Reaktionsfähigkeit innerhalb eines gegebenen politischen Rahmens (Verursachung kostspieliger Effekte in Land B nach Veränderungen in Land A: z.B. Effekte von Ölpreissteigerungen ); - "vulnerability" (Verwundbarkeit): Relative Verfügbarkeil und Kostspieligkeit von Alternativen zum gegebenen Rahmen (im gleichen Beispiel: Möglichkeit und Kosten der Umstellung auf andere Energiequellen). Eine Symmetrie der Länder (A und B) hinsichtlich der gegenseitigen Empfindlichkeit und Verwundbarkeit beinhaltet entweder den Idealfall einer Interdependenz oder die gegenseitige Autarkie. Der Unterschied zwischen diesen beiden Extremfällen führt zu einem zentralen Problem der bisher angeführten Konzepte: der Vorstellung von Quantifizierbarkeit.

15

Als

Grundlage

für

die

Problemlösung sollten

die

folgenden

wissenschaftstheoretischen Grundsätze beachtet werden: i)

Die Bedeutung eines theoretisch genutzten Begriffs soll eindeutig sein.

ii)

Die Verwendung eines Begriffs soll sich entweder nach einer (fachspezifischen) Konvention richten oder sich auf eine zuvor präzisierte Definition stützen.

iii) Die Freiheit, eine ungewöhnliche Definition zu nutzen, kann be-

ansprucht werden, wenn es analytisch zweckmäßig ist. Als Interdependenz wird unter diesen Voraussetzungen eine gegenseitige Abhängigkeit von zwei oder mehreren Akteuren aufgefaßt, die dadurch gekennzeichnet ist, daß - die Zielerfüllung jedes Akteurs vom Verhalten des anderen abhängt, - die Akteure Informationen über ihre direkten und indirekten Beziehungen haben und - die Akteure diese Vorstellungen in ihren Handlungsweisen berücksichtigen. Im vorliegenden Text sollte mit anderen Worten gelten, wie Czempiel (1981) hervorhebt. daß keiner der Akteure seine Ziele ohne Kooperation der anderen Akteure verwirklichen kann, wenn Interdependenz vorliegt. 16

Demnach ist Interdependenz zwar keine quantitativ meßbare Größe, aber eine empirisch widerlegbare Behauptung über die Art einer Situation. & liegt auf der Hand, daß die Möglichkeiten und die Dringlichkeit einer

Kooperation bzw. eines strategischen Verhaltens mit quantifizierbaren Merkmalen der jeweiligen Situation zusammenhängen. Diese Merkmale, wie Umfang und Art von Handelsströmen, müssen aber begrifflich von der Situationsbezeichnung getrennt werden, da sie allein keine hinreichende Situationsbeschreibung darstellen. Denn zur Situation gehören auch qualitative institutionelle Gegebenheiten, wie Verträge und Verfahrensvorschriften über das Vorgeben im Falle eines Konflikts. Die obige allgemeine Definition läßt sieb durch Bezeichnung wesentlicher Merkmale und Wirkungen von Interdependenz (vgl. DFG, 1984, S. 17 ff.) ergänzen: . Wie gera