»Moderne Kunst« in Taiwan: Betrachtung eines Topos im Kontext der Globalisierung des Kunstdiskurses 9783839452561

What is "modern art"? The question is pursued from a Taiwanese perspective, thus questioning the Eurocentric n

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German Pages 324 Year 2020

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Inhalt
I. Einleitung
II. Eröffnung der die Analyse leitenden Problemhorizonte des Sprechens von ›moderner und zeitgenössischer Kunst‹ in Taiwan im globalen Rahmen
III. Die Suche nach einer Weltkunst. Liu Kuo-sungs 劉國松 Blick auf die moderne Kunst der 50er/60er Jahre
IV. Das Begehren der Moderne. Chen Chuan-xings 陳傳興 Analyse der Kunstszene der beginnenden 90er Jahre
V. Verspätung als Chance. Gong Jow-jiuns 龔卓軍 Blick auf die Moderne Taiwans (2012)
VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung der Analysen in die taiwanische Erzählung von Kunstgeschichte
VII. Forschungsperspektiven für die globale Kunstwelt
Anhang
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»Moderne Kunst« in Taiwan: Betrachtung eines Topos im Kontext der Globalisierung des Kunstdiskurses
 9783839452561

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Lisa Bauer-Zhao »Moderne Kunst« in Taiwan

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Lisa Bauer-Zhao (Dr. phil.), geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum für Neue Kunst in Freiburg im Breisgau. Die Kulturwissenschaftlerin wurde an der Universität Hildesheim am Institut für Philosophie promoviert. Ihre Forschungsinteressen liegen im Gebiet der taiwanischen Moderne, der ostasiatischen Ästhetik und ihrer Verflechtungsgeschichte sowie in Fragen nach dem musealen und wissenschaftlichen Umgang mit zeitgenössischer und moderner Kunst im globalen Kontext.

Lisa Bauer-Zhao

»Moderne Kunst« in Taiwan Betrachtung eines Topos im Kontext der Globalisierung des Kunstdiskurses

Die vorliegende Publikation wurde als Dissertation vom Fachbereich Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation der Stiftung Universität Hildesheim angenommen und am 7. Juli 2018 verteidigt. Die Begutachtung erfolgte durch Prof. Dr. Rolf Elberfeld und Prof. Dr. Birgit Mersmann. Die Feldforschung für diese Arbeit wurde durch das Taiwan Fellowship des taiwanischen Ministry of Foreign Affairs gefördert. Außerdem wurde die Arbeit gefördert durch ein Doktorandenstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie durch ein Abschlussstipendium der Chiang Ching-kuo Foundation for International Scholarly Exchange.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Liu Kuo-sung, Wintry Mountains Covered with Snow (寒山雪霽) (Ausschnitt), 1964; Credit: Harvard Art Museums/Arthur M. Sackler Museum; Photo: ©President and Fellows of Harvard College Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5256-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5256-1 https://doi.org/10.14361/9783839452561 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Anmerkung zur Transkription von Schriftzeichen und Eigennamen sowie zur Übersetzung............................................................................................................9 Dank....................................................................................................................................... 11

I. Einleitung.................................................................................................................. 13 1. Eröffnung des Problemfeldes.........................................................................................13 2. Zu Vorgehen, Aufbau und Gegenstand der Arbeit...........................................................18 2.1 Bemerkungen zum methodischen Vorgehen und zum Forschungsstand............18 2.2 Anmerkungen zum Kunstbegriff der vorliegenden Arbeit...................................21 2.3 Zur Wahl des Zeitrahmens der Untersuchung.....................................................22 2.4 Zur Gliederung der vorliegenden Arbeit..............................................................28

II. Eröffnung der die Analyse leitenden Problemhorizonte des Sprechens von ›moderner und zeitgenössischer Kunst‹ in Taiwan im globalen Rahmen................................................................................................ 31 1.

›Kunst‹ – eine fragende Positionierung aus globaler Perspektive................................ 31 1.1 Zur Bezeichnung ›Moderne‹ im zeitgenössischen Kunstdiskurs........................33 1.2 Betrachtung der Bezeichnung ›Moderne‹ in der zeitgenössischen Kunstszene Taiwans............................................................................................ 45 2. Zum historischen Hintergrund des Aufkommens des modernen Kunstverständnisses Ostasiens............................................................ 52 2.1 Die Bedeutung der Kunst im China an der Schwelle zur Moderne.......................54 2.2 Die Modernisierung der Kunst Taiwans als Kolonie Japans................................60 3. Die Bedeutungsverschiebung von ›Kunst‹ im modernen ostasiatischen Verständnis...........................................................................................65 3.1 Ästhetische Grundlagen des traditionellen Kunstverständnisses......................66 3.2 Die moderne Verschiebung der Bedeutung von Kunst und die Frage der Analogisierung..............................................................................................68 4. Zusammenfassung und Ausblick................................................................................... 75 4.1 Zusammenfassung.............................................................................................. 75 4.2 Einführung in die Analysen.................................................................................. 76

III. Die Suche nach einer Weltkunst. Liu Kuo-sungs 劉國松 Blick auf die moderne Kunst der 50er/60er Jahre..................................................... 79 1. Übersetzung von Liu Kuo-sungs 1962 veröffentlichtem Text........................................ 79 2. Einordnung des Textes.................................................................................................100 2.1 Umgebung des Textes........................................................................................100 2.2 Zur Kunstszene...................................................................................................104 2.3 Bedeutung des Textes........................................................................................105 3. Analyse.........................................................................................................................107 3.1 Einführung..........................................................................................................107 3.2 Zum Verständnis von ›moderner Kunst‹............................................................108 3.3 Reine Malerei: Das Schreiben der Sinneshaltung (xieyi 寫意) und das Abstrakte.............................................................................................. 112 3.4 Modernes China: Zur Bedeutung der Tradition im Kulturaustausch................... 115 3.5 Einordnung in die Kunstszene der Welt.............................................................. 119 3.6 Zu den Begriffen xihua 西畫 und xiyanghua 西洋畫.......................................126 3.7 Tradition Ostasiens als Motor für die Entwicklung der modernen Kunst? Gegenüberstellung der Lesweisen.....................................................................128 3.8 Resümee............................................................................................................. 131

IV. Das Begehren der Moderne. Chen Chuan-xings 陳傳興 Analyse der Kunstszene der beginnenden 90er Jahre.................................................. 133 1. Übersetzung von Chen Chuan-xings 1992 veröffentlichtem Text................................ 133 2. Einordnung des Textes.................................................................................................152 2.1 Umgebung des Textes........................................................................................152 2.2 Zur Kunstszene und dem Kunstverständnis der 70er und 80er.........................154 2.3 Die Debatte um das ›Taiwan-Bewusstsein‹.......................................................157 3. Analyse.........................................................................................................................160 3.1 Zusammenfassende Einführung in den Text......................................................160 3.2 Zum Kunst- und Moderneverständnis Chen Chuan-xings................................... 161 3.3 Das Verhältnis von ›Moderne‹ und ›Westen‹: Zum Referenzrahmen Chens......167 3.4 ›Taiwan-Bewusstsein‹ und ›Postmoderne‹ als Abgrenzung: Chens Kritik am Moderneverständnis der Kunstszene Taiwans......................... 171 3.5 Zur ›verspäteten Moderne‹ und dem ›Modernismus an diesem Ort‹................. 176 3.6 Moderne als universales Konzept? Die Diskussion Habermasʼ, Jamesons und der regionalen Situation.....................................................................................179 3.7 Die Melancholie angesichts des widersprüchlichen Begehrens von Moderne. Zum psychoanalytisch-postkolonialen Blick Chens...........................................184 3.8 Kritisches Resümee............................................................................................187

V. Verspätung als Chance. Gong Jow-jiuns 龔卓軍 Blick auf die Moderne Taiwans (2012)......................................................................... 189 1. Übersetzung von Gong Jow-jiuns 2012 veröffentlichtem Text ....................................189 2. Einordnung des Textes.................................................................................................216 2.1 Umgebung des Textes........................................................................................216 2.2 Zur Einbettung des Textes..................................................................................217 2.3 Zur zeitgenössischen Kunstszene......................................................................221

3. Analyse........................................................................................................................ 224 3.1 Einführung und diskursive Verortung der Diskussionen des Textes................ 224 3.2 Zum ›Wann‹ des Modernismus: Befragung der zeitlichen Verortung............... 227 3.3 Zur stilistischen Definition und zur Bedeutung ›modern(istisch)er Kunst‹......230 3.4 Zur Frage der ›Verspätung‹...............................................................................234 3.5 Die Diskussion Chen Chuan-xings: Das Positiv-Wenden der Verspätung......... 237 3.6 Zur Funktion der Selbstbezeichnung ›Dritte Welt‹ und zum Referenzrahmen................................................................................. 240 3.7 Zur Möglichkeit der Einbettung des ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ in einen globalen Kontext................................................................................................ 245 3.8 Xieshizhuyi 寫實主義 – wie ist ein so bezeichneter Realismus zu verstehen?.................................................................................................... 250 3.9 Schlussbetrachtung: Pluralisierung der Moderne?........................................... 252

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung der Analysen in die taiwanische Erzählung von Kunstgeschichte....................................... 257 1. Zusammenfassung der Analysen................................................................................. 257 2. Vergleich der konzeptuellen Einordnung, der Referenzrahmen und Konnotationen der Zuschreibung ›modern‹........................................................................................260 3. Konzeption des ›Eigenen‹: Betrachtung des rückblickenden Ausschlusses der ›Bewegung der modernen Malerei‹ der 1950er/1960er Jahre aus der Erzählung der Kunstgeschichte Taiwans...................................................................................... 267 4. Konzeption des zeitgenössischen Eigenen vor dem Hintergrund der globalen Wende im Kunstdiskurs der beginnenden 1990er Jahre......................................................... 272 5. Zum globalen Ausschluss der Moderne und der Etablierung des Parallelnarrativs.... 278 6. Resümee und schlussfolgernde Überlegungen........................................................... 282

VII. Forschungsperspektiven für die globale Kunstwelt.......................................285 Anhang............................................................................................................................293 Glossar 1: Schriftzeichen der im Text in Hanyu Pinyin geschriebenen relevanten chinesischen Termini........................................................................................293 Glossar 2: Bewegungen und zeitgeschichtliche Begriffe................................................... 295 Personenregister (20. und 21. Jahrhundert Taiwan und China).......................................... 298 Institutionenregister...........................................................................................................300 Literatur- und Quellenverzeichnis....................................................................................... 301

Anmerkung zur Transkription von Schriftzeichen und Eigennamen sowie zur Übersetzung Zur Transkription chinesischer Termini wird in der vorliegenden Arbeit das festlandchinesische Hanyu Pinyin genutzt, wobei auf die Angabe der diakritischen Zeichen (Tonangaben) verzichtet wird. Da in Taiwan das Transkriptionssystem Hanyu Pinyin nicht genutzt wird, wird dieses hier für die Transkription der Eigennamen nur bedingt genutzt. So wird beispielsweise der im Hanyu Pinyin als x geschriebene Anlaut in Taiwan meist mit der lateinischen Buchstabenkombination hs wiedergegeben. Dieser Schreibweise werde ich bei Namen folgen, etwa bei den Familiennamen Hsieh (Hanyu Pinyin: Xie) oder Hsiao (Hanyu Pinyin: Xiao). Es werden weiter international übliche Umschriften – wie beispielsweise die Ortsnamen Taipei oder Kaohsiung oder Personennamen wie Chiang Kai-shek oder Sun Yat-sen – genutzt. Weiter soll angemerkt werden, dass bei Eigennamen der Familienname an der ersten Stelle steht, wobei – insbesondere bei Personen, die im internationalen Kontext arbeiten oder einen ›englischen‹ Namen nutzen – Ausnahmen bestehen. Da es im Chinesischen nur vergleichsweise wenige Familiennamen gibt, werden Namen immer ausgeschrieben und nicht einfach auf bspw. Lin oder Wang referiert. Eine Ausnahme bilden die in den Analysen schwerpunktmäßig besprochenen Autoren: Liu, Chen und Gong stehen, wenn nicht weiter ausgeführt, für Liu Kuo-sung, Chen Chuan-xing und Gong Jow-jiun. Der Arbeit angehängt ist ein Personenregister der im Text genannten Akteure der taiwanischen (und chinesischen) Kunst- und Kulturszene des 20. und 21. Jahrhunderts, das ein Nachschlagen der Namen in Schriftzeichen ermöglicht, welche nach der ersten Nennung nicht mehr im Text stehen. Gleiches gilt für wichtige chinesischsprachige Begriffe: Außer in Teilen, in denen explizit Sprachliches besprochen wird, stehen Schriftzeichen nur neben der ersten Nennung des Begriffes im Text, danach in Hanyu Pinyin. Im angehängten Glossar 1 können die Schriftzeichen nachgeschlagen werden. Glossar 2 erklärt die wichtigsten zeitgeschichtlichen Begriffe, die dort ebenfalls mit chinesischen Schriftzeichen angeführt werden. Alle Institutionen sind im Institutionenregister mit chinesischen Schriftzeichen aufgelistet und werden im Fließtext nicht in solchen angeführt. Alle Übersetzungen aus dem Chinesischen sind, soweit nicht anders vermerkt, meine eigenen. Ist bei der Übersetzung der bibliografischen Angaben aus dem Chinesischen ein englischer Titel angegeben, so ist dies die vom Autor oder Verlag vorgeschlagene (häufig sehr freie) Übersetzung des meist komplett auf chinesisch geschriebenen Textes/Buches, der ich meiner eigenen Übersetzung gegenüber den Vorzug gebe. Dies gilt ebenso bei Ausstellungstiteln.

Dank Eine Rucksackreise nach Taiwan im Jahr 2004 und die absolute Faszination für dieses Land und das Chinesische, das ich in der Folge dieser Reise kontinuierlich zu erlernen begann, waren wohl die ersten Schritte in Richtung der vorliegenden Arbeit. Als ich während meines Studiums der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Stiftung Universität Hildesheim im Jahre 2008 die ersten Seminare bei meinem späteren Doktorvater Herrn Prof. Dr. Rolf Elberfeld besuchen konnte, öffnete sich mir ein Weg, die Erfahrungen, die ich beim Erlernen des Chinesischen gemacht hatte, wissenschaftlich und philosophisch zu ref lektieren und befragen. Ihm gilt mein tiefer Dank für all die eröffneten Perspektiven und Wege des Denkens und für die dauerhafte Unterstützung und wertvollen Hinweise beim Verfassen der vorliegenden Arbeit. Sehr dankbar bin ich außerdem meiner Zweitgutachterin Frau Prof. Dr. Birgit Mersmann, deren Kommentare und Gedanken mir insbesondere in Bezug auf die Disputation wichtige Denkanstöße gaben. Begonnen wurde die vorliegende Publikation, die im November 2017 im Fachbereich Kulturwissenschaften und ästhetische Kommunikation der Stiftung Universität Hildesheim als Dissertation eingereicht und im Jahr 2018 ebenda angenommen und verteidigt wurde, im Jahr 2012 mit einem Forschungsaufenthalt an der Tainan National University of the Arts in Taiwan, wo ich dank des Taiwan Fellowships des Ministry of Foreign Affairs einen elfmonatigen Forschungsaufenthalt absolvieren konnte. Die Arbeit beruht zu großen Teilen auf den Diskussionen, Gesprächen, Begegnungen und Erfahrungen, die ich in dieser Zeit machen durfte, sowie auf Ausstellungs- und Atelierbesuchen, Konferenzteilnahmen und vielen Stunden der Material- und Literaturrecherche in zahlreichen Bibliotheken und Archiven Taiwans. Ich danke insbesondere Herrn Prof. Dr. Gong Jow-jiun für die Gespräche und Diskussionen, die umfassende Unterstützung und die Möglichkeit, an allen Veranstaltungen der Doktorklasse der Tainan National University of the Arts teilzunehmen. Weiter gilt mein Dank den Studierenden der Doktorklasse – besonders möchte ich Dr. Wang Pinhua, Dr. Chiu Chunta, Dr. Kao Jun-honn, Dr. Maru Cheng und Dr. Yuan Shu nennen – und des Fachbereichs Kunstgeschichte der Tainan National University of the Arts, die mich bei meiner Recherche unterstützten und mich sehr herzlich aufnahmen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Fabian Heubel für die vielen Gespräche, die mir wichtige neue Perspektiven eröffneten. Wichtige Gesprächspartner waren außerdem Dr. Chiang Poshin, Prof. Dr. Chen Kuan-hsing, Prof. Dr. Moon Junghee, Chen Chieh-jen und Yuan Goang-ming; ihnen allen herzlichen Dank für die Begegnungen, Diskussionen und inspirierenden Gespräche. Für die Unterstützung bei der Materialrecherche und die Bereitstellung der Texte und Abbildungen danke ich weiter Liu Kuo-sung, Dr. Chen Chuan-xing, Prof.

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Dank

Hsiao Chong-ray, Lin Liyun, Li Xianwen, Chen Jui-hua, der Eslite Gallery und der Familie von Wu Yaozhong. Möglich wäre die Realisierung dieser Arbeit nicht gewesen ohne die finanzielle Unterstützung, die ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland von der Studienstiftung des deutschen Volkes in Form eines Promotionsstipendiums und von der Chiang Ching-kuo Foundation for International Scholarly Exchange in Form eines Abschlussstipendiums erhalten habe. Danken möchte ich außerdem von Herzen Lin Sinyi und Dr. Désirée Remmert für die Ermutigungen und die vielen Gespräche. Auch ist diese Arbeit mit dem Gedenken an Anna Berres verbunden, deren so kluge Gedanken und Perspektiven immer eine große wissenschaftliche, ebenso wie persönliche Bereicherung bleiben werden. Zuletzt und doch an erster Stelle geht mein Dank an meine Familie und meine Freunde, vor allem an meinen Mann Lidong, der mich immer unterstützt (und ertragen) hat, auch in den schwierigen letzten Monaten der Arbeit.

I. Einleitung 1. Eröffnung des Problemfeldes »Ich bin kein Performance-Künstler.« Im September 2012 saß ich im Atelier Kao Junhonns 高俊宏 in Shulin, Taipei, das gleichzeitig als Wohnraum seiner kleinen Familie dient. Wir sprachen über Kao Jun-honns künstlerisches Schaffen, über seine wissenschaftlich-künstlerische Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen Koreas, Japans, Chinas und Okinawas, die er, eingebunden ins Doktorprogramm Art Creation and Theory der Tainan National University of the Arts verfolgte. Wir sprachen über seine Auslandsaufenthalte in Europa im Rahmen von Artist Residencies und auch darüber, was eine Kunst Taiwans ausmache. Während dieses einen ganzen Nachmittag und Abend umspannenden Gesprächs, eingebettet in all diese Themen, sagte er, dass er nicht als Performance-Künstler bezeichnet werden wolle. Nun ja, kein Performance-Künstler – über Bezeichnungen und kategorisierende Einteilungen kann man streiten, so mag man denken, besonders angesichts des Werkes Kao Jun-honns, das in großen Teilen aus Videoarbeiten und Videodokumentationen von Aktionen besteht. Doch dass der Kern dieser Aussage tiefer liegt, zeigt sich in der Frage, unter die Gong Jow-jiun 龔卓軍 die im Dezember 2012 im Taipei Fine Arts Museum stattfindende Diskussion um den taiwanisch-amerikanischen Künstler Tehching (Sam) Hsieh 謝德慶 stellte, der vor allem durch seine von 1978 bis 1985 entstandenen radikalen One Year Performances bekannt wurde: Kann man die Bezeichnung, Kategorisierung ›Performance-Kunst‹ (xingwei yishu 行為藝術) nutzen, um Hsiehs Arbeiten zu diskutieren? Und wie muss man im Zeitgenössischen solche grundlegenden Fragen überlegen?1 In diesem Jahr 2012, das ich als Forschende im Doktorprogramm Art Creation and Theory der Tainan National University of the Arts verbrachte, hatte ich mit vielen Kunstschaffenden, Kuratorinnen und Kuratoren, Kunsthistorikern und Kunstwissenschaftlerinnen, Philosophinnen und Philosphen sowie Galeristinnen und Galeris1 Diskussion zur 24. Ausgabe des Journal of Taipei Fine Arts Museum (xiandai meishu xuebao 現代美術學 報) mit dem Titel »Contemporary Art and Changing Trends in Performance Art« (xingwei biaoyan zhuanxiang yu dangdai yishu 行為表演轉向與當代藝術) am 8.12.2012 von 14-17 Uhr im Taipei Fine Arts Museum mit geladenen Gästen. Das transkribierte Gespräch ist online verfügbar unter: www.tfam. museum/File/Book%5CMain%5C826%5C20140521183526779368.pdf, Stand: 21.1.2017. Die Frage Gongs findet sich auf S. 24 dieses Dokuments.

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»Moderne Kunst« in Taiwan

ten2 gesprochen, hatte vielfältige Eindrücke von und Einblicke in eine vielschichtige Kunstszene bekommen, hatte ausführliche, stundenlange Gespräche geführt. Doch es ist diese Frage nach der Einordnung in die Kategorie ›Performance-Kunst‹, es ist diese Aussage Kao Jun-honns, die mir vor allem im Gedächtnis blieb, über die ich viel nachdachte und die den Rahmen der vorliegenden Untersuchung bilden wird. In Auseinandersetzung mit der Feststellung Kao Jun-honns, die mich – die ich dies angesichts Kao Jun-honns Text The Body, the Archive and the Multitude: An Examination of the Turns of Performance Art in dem er schreibt, dass Taiwans Performance-Kunst ›anders‹ sei als die des ›Westens‹3 und einen »eigenen speziellen Hintergrund« habe,4 zunächst als einfache, nationalistische Züge tragende Identitätskonstruktion einordnete, die das ›Taiwanische‹ übermäßig hervorhebt, eine ›Tradition erfindet‹5, um über Symbole eine Abgrenzung zum ›Westen‹ zu manifestieren, die über formale Charakteristika kaum zu finden ist – nicht losließ, begann ich darüber nachzudenken, welches Verständnis von ›Performance-Kunst‹ den zeitgenössischen Diskussionen in Taiwan zugrunde liegt. Woher kommt diese Einschätzung Kao Jun-honns, worauf beruht eine solche Abneigung gegenüber der Kategorisierung als Performance-Künstler? Auf was für einem Verständnis von ›Moderner Kunst‹, von einer ›Kunstgeschichte der Moderne‹ baut eine solche Einschätzung auf? Und weiter: Auf welcher Vorstellung von Definitionsmöglichkeiten von und -macht über Termini, Begriffe und Kategorien der modernen und zeitgenössischen Kunst fußt diese Einordnung? Wie steht dieses Verständnis zu jenem globalisierten Kunstdiskurs des Westens, wo doch das Auf brechen und Hinterfragen der ehemals rein westlichen Kategorien seit den späten 1980er Jahren geschieht? So ist es die Beobachtung des Diskurses um die Globalisierung der Kunstwelt, die Ausgangspunkt und Hintergrund der Forschung zur vorliegenden Arbeit ist. Seit 1989 im Centre Pompidou die Ausstellung Magiciens de la terre erstmals sogenannte nicht-westliche zeitgenössische Kunst in einem explizit als nicht-kolonial bezeichneten Gestus gezeigt wurde,6 vollzog sich nach und nach eine Öffnung des vormals streng auf das künstlerische Geschehen Europas und Nordamerikas ausgerichteten Kunstdiskurses des Westens. Die Annahme, dass die zeitgenössische Kunst seit 2 Der besseren Lesbarkeit wegen schließt im Folgenden – soweit nicht explizit angeführt – die männliche Form weibliche Personen ein. Da an dieser Stelle konkrete Personen impliziert sind, sei hier eine Ausnahme gemacht. 3 ›Westen‹ und ›westlich‹ nutze ich hier als in Taiwan benutzte Formulierung (xifang 西方), an der sich die anhaltende Auseinandersetzung mit der als diskursiv produktiv verstandenen Kategorie ›Westen‹ zeigt. Diese Begrifflichkeit sei also nicht als im Gegensatz zu einem essentiell verstandenen ›Taiwan‹ (als ›nicht-westlicher Anderer‹) stehend verstanden. 4 Kao Jun-honn, Xingwei yishu zhuanxiang guocheng zhong shenti, dang’an yu zhuzhong wenti tantao 行為藝 術轉向過程中身體, 檔案與諸眾問題探討 [The Body, the Archive and the Multitude: An Examination of the Turns of Performance Art], in: Journal of Taipei Fine Arts Museum (xiandai meishu xuebao 現代美 術學報), Nr. 24, 11/2012, S. 31-56, S. 33. 5 Hiermit sei schon an dieser Stelle auf Hobsbawms »invented traditions« verwiesen, auf die in Kapitel II.1.1 genauer eingegangen wird (Hobsbawm/Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge/New York 1983). 6 Magiciens de la terre wurde als Antwort und Gegenpol zur Ausstellung ›Primitivism‹ in 20th Century Art. Affinities of the Tribal and the Modern, die 1984 im MoMA New York gezeigt wurde, gedacht. Ausführlicher hierzu siehe auch II.1.1.

I. Einleitung

den späten 1980er Jahren ›anders‹ sei, »als es ›moderne Kunst‹ war«7, wie Hans Belting im Jahre 2010 formulierte – ein ›Anderssein‹, das sich in der Globalität und in der Abgrenzung von den geografischen und hegemonial-definitorischen Grenzen der Moderne der Kunst ausdrückt, ein ›Anderssein‹, das nach jenem als ›Tradition‹ oder ›Eigenes‹ Bezeichneten sucht und so die Auf lösung des Peripherie-Zentrum-Schemas zu erreichen anstrebt –, kann stellvertretend für diese Veränderung gesehen werden. Das Hinterfragen der ›Westlichkeit‹ (wie James Elkins schreibt) der Form der Kunstgeschichtsschreibung und des Diskurses um das zeitgenössische Globale, kann gar als Paradigmenwechsel im Umgang mit zeitgenössischer Kunst bezeichnet werden. So ist zeitgenössische Kunst heute, vor allem in den westlichen Großausstellungen wie der documenta, nicht mehr nur westlich, sondern explizit global; Publikationen über und Sammlungen und Ausstellungen von zeitgenössischer Kunst wenden sich immer selbstverständlicher auch dem künstlerischen Schaffen zu, das außerhalb der etablierten Zentren Europas und Nordamerikas entsteht.8 Und auch die Biennalen, die inzwischen überall auf der Welt stattfinden und von internationalen Kuratoren zusammengestellt werden, werden weltweit registriert. Museen zeitgenössischer Kunst entstehen überall auf der Welt.9 Der globale Kunstdiskurs scheint von den früheren Zentren entbunden, seine Akteure global aktiv zu sein.10 7 Hans Belting, Was bitte heißt ›contemporary‹?, in: DIE ZEIT vom 20.05.2010, Nr. 21, S. 56. 8 Erwähnenswert ist hier die Reihe Art Now des Taschen-Verlags, in welcher die zahlenmäßige Präsentation nicht-westlicher Künstler seit der ersten Ausgabe Art at the turn of the millenium, die 1999 erschien, extrem gesteigert wurde, bzw. erst in Art Now 2 überhaupt nennenswert ist und in der Ausgabe Art Now 4, erschienen 2013, einen beträchtlichen Teil ausmacht und begleitet wird von einem Sonderteil zum Kunstboom in Ostasien. Interessant ist dieser Trend auch zu beobachten am Beispiel chinesischer Künstler: Während in Art Now 2 mit Yang Fudong erstmals ein chinesischer Künstler präsentiert wird – fälschlicherweiser unter F eingeordnet –, findet er sich im 3. Band alphabetisch deutlich weiter hinten und in guter Gesellschaft der inzwischen so bekannten chinesischen Künstler Ai Weiwei, Cai GuoQiang und anderen. 9 Als jüngstes Beispiel sei das Zeitz Museum of Contemporary Art Africa in Kapstadt genannt, das als größtes Museum für zeitgenössische afrikanische Kunst im September 2017 eröffnet wurde. Ein weiteres Beispiel ist das Mathaf: Arab Museum of Modern Art, das 2010 in Doha als erstes Museum für moderne Kunst auf der arabischen Halbinsel eröffnet wurde. Auf Taiwan bezogen ist das Museum of Contemporary Art Taipei, eröffnet 2004, zu nennen. Die folgenden, im Rahmen des maßgeblich von Hans Belting initiierten Projektes GAM – Global Art Museum erschienenen Publikationen bieten einen Überblick über das Phänomen: Peter Weibel; Andrea Buddensieg (Hg.), Contemporary Art and the Museum: A Global Perspective, Ostfildern 2007; Hans Belting; Andrea Buddensieg (Hg.), The Global Art World: Audiences, Markets, and Museums, Ostfildern 2009. Weiter ist The Biennal Reader zu nennen: Elena Filipovic, Marieke van Hal, Solveig Övstebö (Hg.), The Biennial Reader, Ostfildern-Ruit/Bergen 2009. In Bezug auf Asien hierin vor allem auch: John Clark, »Biennials as Structures for the Writing of Art History: The Asian Perspective«, S. 164-183. 10 Einen Einblick in und Überblick über die Entwicklungen des global-orientierten Kunstdiskurses bieten zahlreiche Sammelbände. Neben den oben genannten Publikationen sind weiter im Kontext des Projektes GAM zu nennen: Hans Belting; Jacob Birken; u.a. (Hg.), Global Studies: Mapping Contemporary Art and Culture, Ostfildern 2012; Hans Belting; Peter Weibel; Andrea Buddensieg (Hg.), Global Contemporary and the Rise of New Art Worlds, Karlsruhe, Cambridge (Massachusetts) 2013. Weiter ist das von James Elkins herausgegebene Art and Globalization zu nennen: Elkins; Valiavicharska; u.a. (Hg.), Art and Globalization (The Stone Art Theory Institutes), University Park PA, 2010. Weitere wichtige Beiträge sind: Alexander Dumbadze, Suzanne Hudson (Hg.), Contemporary art. 1989 to the present. Chichester

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»Moderne Kunst« in Taiwan

Die Vorstellung einer gleichberechtigten und zu gleichen Teilen global sichtbaren Kunstwelt, die in dieser Bewegung erstrebt und angenommen wird, steht jedoch in starkem Kontrast zu Kao Jun-honns Annahme und zu Gong Jow-jiuns Frage, die doch Fragen um (Nicht-)Zugehörigkeit implizieren und die doch über die Suche nach der eigenen Tradition hinausgeht. Angesichts dieser hervorscheinenden Diskrepanz bleibt 30 Jahre nach Magiciens de la terre erneut zu fragen, welches Verständnis von Kunst im zeitgenössischen Globalen diskutiert wird – explizit nachdem all die Ref lexion des Themas geschehen ist und der Einbezug der ›nicht-westlichen Kunst‹ weitgehend als Normalität bezeichnet werden kann. Denn wenn also auch die zeitgenössische Kunst Taiwans zunehmend einen Platz in der globalen Kritik und in Ausstellungen findet und auch die westliche Rolle in dieser ausschließenden Praxis ref lektiert wird, so ist doch die Frage, wie die Thematik von Taiwan aus zu sehen und welche Bedeutung ihr beizumessen ist, im europäischen Kontext bisher so gut wie ungestellt.11 Kao Jun-honns Festellung und die Wiederholung 2013; Nancy Condee, Okwui Enwezor, Terry Smith (Hg.), Antinomies of art and culture. Modernity, postmodernity, contemporaneity, Durham 2008. Wichtig ist auch die Monografie Contemporary art. World currents von Terry Smith (Smith, Contemporary art. World currents, Upper Saddle River 2011), sowie die in der Reihe Exhibition Histories erschienenen beiden Bände Making Art Global: Lucy Steeds, Rachel Weiss (Hg.), Making Art Global (Part 1). The Third Havana Biennial 1989. Bienal de La Habana, London 2011; Lucy Steeds (Hg.), Making Art Global (Part 2). Magiciens de la terre 1989, London 2013. Zur Frage nach dem Weg der Kunstgeschichtsschreibung aus der Perspektive des Globalen sind folgende Sammelbände und Ansätze zu nennen: Elkins (Hg.), Is Art History Global?, New York 2007; Kitty Zijlmans und Wilfried van Damme (Hg.), World art studies: Exploring concepts and approaches, Amsterdam 2008; van Damme; Zijlmans: »Art History in a Global Frame: World Art Studies«, in: Rampley (Hg.), Art History and Visual Studies in Europe: Transnational Discourses and National Frameworks, Leiden 2012, S. 217-229. (2014 auf Chinesisch veröffentlicht); Jill H. Casid, Aruna DʼSouza (Hg.), Art history in the wake of the global turn, New Haven 2014. Weiter sei der 2017 veröffentlichte Sammelband Art and its global histories. A reader (Manchester 2017), herausgegeben von Diana Newall genannt. Auf Ostasien bezogen sei an dieser Stelle auf zwei umfassende Studien verwiesen, die die Betrachtung, Rolle und Position der zeitgenössischen Kunst Chinas im globalen Kontext beleuchten: Franziska Kochs Dissertationsschrift stellt eine umfassenden Akteursanalyse des Ausstellens chinesischer zeitgenössischer Kunst dar (Franziska Koch, Die »chinesische Avantgarde« und das Dispositiv der Ausstellung. Konstruktionen chinesischer Gegenwartskunst im Spannungsfeld der Globalisierung, Bielefeld 2016). Weiter sei Birgit Hopfeners Studie Installationskunst in China. Transkulturelle Reflexionsräume einer Genealogie des Performativen (Bielefeld 2013) erwähnt, in welcher die zeitgenössische Installationskunst Chinas jenseits von kultureller Essentialisierung im Globalen betrachtet wird. 11 Hier sei vor allem auch an die sprachliche Ebene gedacht: Die außerhalb der Regionalwissenschaften mangelhaft vorhandene sprachliche Kompetenz lässt die auf Chinesisch geschehende Auseinandersetzung und Diskussion im westlichen Kunstdiskurs weitgehend unsichtbar bleiben. Zur chinesischen Kunst erschien 2010 ein Sammelband von Wu Hung und Peggy Wang mit Übersetzungen von Originaltexten der zeitgenössischen Kunst Chinas seit den späten 1970er Jahren (Wu Hung; Peggy Wang (Hg.), Contemporary Chinese art. Primary documents, New York, Durham, N.C 2010). Dies sollte ein wegweisendes Unterfangen sein, durch das Zugang zu einer wichtigen Diskussion über Kunst gefunden werden kann und auch die modernen und zeitgenössischen Stimmen, die sich nicht in den von Europa aus ›sicht- und hörbaren‹ Sprachen zu Wort melden, anzuhören, und dadurch einen Weg zu bereiten, diese Diskurse auch außerhalb der Regionalwissenschaften sichtbar zu machen und ihren Status als Spezialfall von nicht-allgemeiner Bedeutung zu beenden. In viel kleinerem Maßstab schließt meine Arbeit daran an.

I. Einleitung

derselben durch Gong Jow-jiun zeigt, dass es notwendig ist, den Diskurs um die Globalisierung der Kunstwelt ausgehend von Taiwan in seinen Bezügen zu verstehen und zu analysieren. Denn es bleibt, auch vor dem Hintergrund des im zeitgenössischen globalen Kunstdiskurs geschehenden Versuch des Einbezugs, doch eine Asymmetrie in der Erfahrung, die in der normativen und diskursiv produktiven Konnotation von ›Moderne‹ als ›westlich‹ begründet liegt.12 So soll hier nun im deutschsprachigen Kontext eine Studie vorgelegt werden, die von konkreten Texten der Kunstkritik Taiwans ausgehend analysierend und beobachtend vorgeht. Am konkreten Fall der Kunstkritik Taiwans wird ein möglicher Weg der Betrachtung erprobt und so aufgezeigt, welchen Einf luss die Erfahrung des Umgangs mit kulturellen Übersetzungsprozessen und die Diskussionen um die Globalisierung der Kunst auf das moderne und explizit auch auf das zeitgenössische Verständnis von Kunst außerhalb Europas und Nordamerikas hat. Entlang dreier zentraler Texte der Kunstkritik Taiwans seit den 1950/60er Jahren13 wird diskursanalytisch erarbeitet, wie sich das heutige Verständnis von Kunst in Taiwan herausbildete und welche Position dieses im zeitgenössischen, global-orientierten Kunstdiskurs einnimmt. Anhand der Betrachtung der beschriebenen Bedeutung von ›moderner Kunst‹ und ihrer Kontextualisierung wird gefragt, welche Implikationen mit dem Sprechen von ›moderner Kunst‹ im modernen und zeitgenössischen Taiwan verbunden sind. Mit Blick auf die Kunstkritik wird unter Einbezug der Globalisierung des Kunstdiskurses das Selbstverständnis in der Kunstszene Taiwans historisch eingebettet befragt. Wechselbeziehungen und Verf lechtungen werden betrachtet und die Frage nach der Rolle von Identitätszuschreibungen, der Sprecherposition und Akteursmöglichkeiten in der Definition von ›Moderner Kunst‹ befragt. So wird ein Zugang zu kulturellen Übersetzungsprozessen14 und ihren Verf lechtungen geöffnet. Der Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, dass die Verlagerung des Betrachtungszentrums zu einer Möglichkeit des Sprechens über Kunst im heutigen globalen Kontext führen kann. Ein Weg kann so aufgewiesen werden, über zeitgenössische Kunst zu sprechen, der aufgrund des Perspektivenwechsels Probleme

An dieser Stelle soll die zunehmend geschehende Umgliederung kunsthistorischer Institute positiv angemerkt werden: Vor allem die FU Berlin sei im deutschsprachigen Raum genannt, wo Ostasiatische Kunstgeschichte und die Kunst Afrikas als Teilbereiche studiert werden können. Weiter ist die Universität Heidelberg zu erwähnen, wo Prof. Dr. Monica Juneja die deutschlandweit erste Professur für Globale Kunstgeschichte innehat. Hier deutet sich ein Weg an, Sprachen-/Regionenwissen und Kunstgeschichte miteinander zu verknüpfen. 12 Die stark normative Prägung des Begriffs/Konzepts ›Moderne‹ zeigt sich schon hier als auch in der Verhandlung von ›Moderner Kunst‹ mitschwingend. Im sich in diesem ersten Einblick in die Diskussionen um Kunst in Taiwans Kunstszene andeutenden Verständnis von ›Moderner Kunst‹ vermischen sich also, wie auch im Begriff der ›Moderne‹, die normative und die deskriptive Ebene, die sich als kaum voneinander trennbar zeigen. 13 Zur Auswahl des Zeitraumes siehe I.2.3. 14 Angelehnt an Ryōsuke Ōhashi soll Übersetzung im Bereich der kulturellen Übersetzung hier als Über-Setzung, also im Sinne des lateinischen trans-ferre, des Übertragens, verstanden werden und bezieht sich demnach nicht (nur) auf die sprachliche Übersetzung. Vgl. Ryōsuke Ōhashi, »Übersetzung als Problem der japanischen Moderne«, in: Ders.: Japan im interkulturellen Dialog, München 1999, S. 129-145.

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der Asymmetrie und den daraus resultierenden Fragestellungen berücksichtigt und zu einer Erweiterung des Kunstverständnisses führen kann.

2. Zu Vorgehen, Aufbau und Gegenstand der Arbeit 2.1 Bemerkungen zum methodischen Vorgehen und zum Forschungsstand Texte der Kunstkritik sind ein Medium, das mit Bezug auf die Kunst das jeweilige Zeitgeschehen und den Zeitgeist ref lektiert. Zumeist in Kunstzeitschriften veröffentlicht, ist Kunstkritik breit zugänglich. Anders als in der Ausstellung – das weitere Medium der Auseinandersetzung mit der aktuell die Zeitgenossen beschäftigenden Kunst – geschieht in der Kunstkritik eine auch begriff liche Ref lexion, die weniger das explizite Zeigen und Aufzeigen zum Ziel hat, sondern den Hintergrund des Geschehens ref lektiert, be- und mitschreibt. Kunstkritik steht weiter im direkten Kontext des Kunstdiskurses und wird in Taiwan nicht selten auch von Künstlern selbst verfasst. Die Nähe zum künstlerischen Schaffen und dem jeweils Geschehenden selbst macht sie zu einer wichtigen Grundlage für die kulturelle Analyse des Kunstverständnisses. Die drei den Mittelpunkt bildenden Texte der Kunstkritik Taiwans aus verschiedenen zeitlichen Abschnitten seit den 1950/60er Jahren stehen in der vorliegenden Untersuchung in Übersetzungen. Alle Texte wurden in jeweils wichtigen, die Diskussion prägenden Kunstzeitschriften Taiwans veröffentlicht und – mit Ausnahme des neuesten Textes – in Textsammlungen wiederveröffentlicht. Die ausgewählten Texte stehen als in ihrer Zeit einf lussreiche, die jeweilige Diskussion anheizende. Die Arbeit an einzelnen Primärtexten wird natürlich einzelne Positionen und auch einzelne Diskussionen und Strömungen herausheben und gegenüber anderen den Vorzug geben.15 Mit dieser Herangehensweise ist keinesfalls eine Wertung der Bedeutung der betreffenden Künstler, Kunstkritiker oder Strömungen verbunden. Vielmehr soll durch diese – im Rahmen der vorliegenden Arbeit notwendige – Einschränkung die Möglichkeit einer für den Leser nachvollziehbaren Analyse gegeben werden.

15 Die Auswahl geschah nach umfassender Lektüre und Quellenforschung. So wurden insbesondere die seit den 1950er Jahren erscheinenden Kunstzeitschriften Taiwans herangezogen. Zu nennen sind vor allem die Zeitschriften ›Artist‹ (yishujia 藝術家), ›Hsiung Shih Art Monthly‹ (xiongshi meishu yuekan 雄獅美術月刊), ›Wenxing‹ (wenxing 文星), ›Journal of Taipei Fine Arts Museum‹ (xiandai meishu xuebao 現代美術學報), ›ACT‹ (yishu guandian 藝術館點), sowie ferner die Zeitschrift ›Zeitgenossenschaft‹ (dangdai 當代). Auch die jeweils das aktuelle Kunstgeschehen dokumentierenden Ausstellungskataloge und vor allem folgende gesammelte Neuveröffentlichungen kunstkritischer Texte und Essays waren wertvolle Primärliteratur: Guo Jisheng 郭繼生 (Hg.), Dangdai Taiwan huihua wenxuan, 1945-1990 當代台灣繪畫文選 1945-1990 [Ausgewählte Texte zur zeitgenössischen Malerei Taiwans 1945-1990], Taipei 1991; Hsiao Chong-ray (Hg.), Li zhongsheng wenji 李仲生文集 [A collection of articles by Li Chunshan], Taipei 1994; Ye Yujing 葉玉靜 (Hg.), Taiwan meishu zhong de taiwan yishi 台灣美術中的台灣意識 [Das Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans], Taipei 1994; Chen Chuan-xing, Mu yu ye shu chang 木與夜孰長 [Ist ein Baum länger als eine Nacht?], Taipei 2009, sowie weitere im Text/in den Fußnoten genannte. Weiter beruht die Auswahl der diskutierten Texte auf zahlreichen Gesprächen mit wichtigen Kunstkritikern, Kunsthistorikern, Philosophen, Kuratoren und Künstlern in Taiwan.

I. Einleitung

Die Untersuchung gibt keinen kunsthistorischen Überblick der Kunst Taiwans, sondern betrachtet und diskutiert die Bedingungen und Verhältnisse, unter denen die ›moderne Kunst Taiwans‹ verhandelt wird und daraus folgend vor welchem Hintergrund und unter welchen Voraussetzungen künstlerisches Schaffen in Taiwan heute geschieht. So soll nach Gedankengängen, implizitem Verständnis, dem Sprachgebrauch gesucht werden, um so einen Zugang und eine Argumentationsgrundlage zu schaffen, besteht doch sonst die Gefahr, die Kunst zu schnell in einem Modus des Zeigens einer kulturellen Identität zu verorten oder sie einer westlichen/abendländischen Kunstgeschichte zuzurechnen. Anders gesagt: weder westliche noch chinesische Ansätze einer Beschreibung sind unangemessen – aber auch nicht angemessen. Erst eine in den Kontext gestellte Analyse eröffnet dieses moderne Sprechen über die Kunst Taiwans. Als erster Schritt steht daher im deutschsprachigen Kontext, in dem Texte und Diskussionen zur Kunst Taiwans fast vollständig fehlen und jegliches Sprechen über Kunst im luftleeren Raum schweben würde, daher eine Diskursanalyse des Sprechens über Kunst anhand dreier zentraler Texte der Kunstkritik. Angesichts der im europäischen Kontext kaum vorhandenen sprachlichen und der im allgemeinen Wissenshorizont nahezu als nicht-existent zu beschreibenden Voraussetzungen,16 scheint es mir notwendig, durch die Übersetzungen einzelner Texte eine Argumentationsgrundlage als Zugang zum in der Arbeit analysierten Thema zu geben. Die Übersetzungen können so auch unabhängig von der Untersuchung rezipiert werden und bieten eine wichtige Ergänzung zu den wenigen vorhandenen Schriften zur modernen und zeitgenössischen Kunst Taiwans in westlichen Sprachen und im westlichen Kontext.17 16 Immer wieder wird auch die europäische Perspektive dargestellt und befragt werden. Damit soll gerade kein Gegensatz impliziert werden, doch kann zu vieles an Wissen und insbesondere an Verständnis in Europa nicht vorausgesetzt werden. So bilden die Theorien der Postcolonial Studies einen wichtigen Hintergrund für die in der Arbeit aufgeworfenen Fragen und auch die in der Pädagogik anzusiedelnde Frage nach der Sprecherposition muss als Ausgangspunkt der hier verhandelten Fragen mitgedacht werden. Angesichts des Unwissens im europäischen Kontext ist diese Untersuchung von Anfang an in einem interdisziplinären Bereich zwischen der Kunstwissenschaft, der philosophischen Ästhetik und der Kulturwissenschaft angesiedelt und wird ebenfalls sinologische, historische und politische Fragen mit einbeziehen (müssen). 17 Im außertaiwanischen und besonders im westlichen Kontext bildet die Arbeit des an der Universität Sydney lehrenden Kunsthistorikers John Clark eine Ausnahme in der kunsthistorischen Aufarbeitung der Kunst Taiwans. Er begann schon Ende der 1980er Jahre, die Arbeit des ersten bedeutenden Chronisten der taiwanischen Kunstgeschichte zur Zeit der japanischen Besatzung, Hsieh Lifa 謝里法, für einen englischsprachigen Rezipientenkreis aufzuarbeiten. Bis heute arbeitet John Clark zur südund ostasiatischen modernen und zunehmend auch zur zeitgenössischen Kunst, sowie zur Frage nach der Rolle des Kurators und von Großausstellungen im Globalen. Insbesondere ist in diesem Kontext der zweite Teil des Sammelbandes mit allen Texten zu nennen, die Clark zu den ›chinesischen‹ Modernen schrieb, in dem er die Texte zu Taiwan und Hongkong versammelte, die er seit den 1980er Jahren geschrieben hatte: John Clark, Modernities of Chinese Art, Leiden 2010. Auch in Michael Sullivans Art and Artists in Twentith Century China findet die moderne Kunst Taiwans Einlass, ebenso im Kapitel »Alternative Chinas« in Julia F. Andrewsʼ und Kuiyi Shens 2012 erschienenen The Art of Modern China. (Michael Sullivan, Art and Artists of twentith century China, Berkeley, Los Angeles, London 1996, S. 178-190; Julia F. Andrews; Kuiyi Shen, The Art of Modern China, Berkeley 2012, S. 225-256.)

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Anzumerken bleibt, dass die vorliegende Untersuchung den Kunstdiskurs Taiwans in einem beweglichen Bedeutungsgef lecht verortet, wo er keinen passiven Untersuchungsgegenstand, sondern eine mögliche Ausgangsperspektive darstellt. So ist, ist von der ›Kunst Taiwans‹ die Rede, dies – anschließend an das oben erörterte Problemfeld – nicht kulturessentialistisch oder national-orientiert zu verstehen. Die Arbeit schließt nicht an den Diskurs einer Suche nach einem essentiell verstandenen Taiwanischen an: Die ›Taiwaneseness‹ (Taiwanxing 台灣性), von der – explizit den englischen Begriff nutzend – der an der National Taiwan University of Art lehrende Kunsthistoriker und Soziologe Liao Hsin-tien 廖新田 schreibt, oder die vor allem in den 1990er Jahren diskutiere ›Taiwan-Subjektivität‹ (Taiwan zhutixing 台灣主題性) und das ›Taiwan-Bewusstsein‹ (Taiwan yishi 台灣意識) werden vielmehr als diskursive Kategorien verstanden, die befragt werden. Es geht explizit nicht darum zu bestimmen, was sie denn nun sei, die ›taiwanische Kunst an sich‹, sondern vielmehr, wie sie wann verstanden wurde und wird.

Zur Modernisierung der Kunst zur Zeit der japanischen Besatzung (1895-1945) ist auf englisch der Sammelband Refracted Modernity. Visual culture and identity in colonial Taiwan erschienen [Yūko Kikuchi (Hg.), Refracted modernity. Visual culture and identity in colonial Taiwan, Honolulu 2007]. Der Sammelband Re-writing Culture in Taiwan befragt aus einer postkolonialen und poststrukturalistischen Perspektive kulturelle Phänomene und ihre Rezeption. Im Kontext dieser Arbeit sind dabei die Texte Re-writing museums in Taiwan (Edward Vickers) und Re-writing art in Taiwan: secularism, universalism, globalization, or modernity and the aesthetic object (Felix Schoeber) von Bedeutung [in: FangLong Shih, Stuart Thompson, Paul-François Tremlett (Hg.), Re-writing Culture in Taiwan, London 2008, S. 69-101, sowie S. 154-181]. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst arbeitet neben John Clark vor allem die Australierin Sophie McIntyre kunsthistorisch und kuratorisch explizit zur Kunst Taiwans. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Frage nach Identitätskonzepten. Auch die französische Kunsthistorikerin Marie Laureillard arbeitet am Ostasieninstitut der Universität Lyon zu einzelnen zeitgenössischen Künstlern Taiwans und Chinas. In Taiwan selbst bietet nahezu jeder Ausstellungskatalog und auch jeder die Ausstellungen begleitende Flyer (rudimentäre) englische Übersetzungen. Auch Texte zur Kunstkritik und Kunstgeschichte bieten häufig einen kurzen Abstract und einen Titel in englischer Sprache an. Zunehmend gibt es auch englische oder zweisprachige (chinesisch-englisch) Publikationen [zu nennen sind hier: Chen Wen-ling 陳文坽 (Hg.), Taiwan Pavilion at the Venice Biennale. A retrospective 1995-2007 威尼斯雙年展 台灣館回顧, Taipei 2010; Weng Chih-Tsung (Hg.), The search for the avant-garde 1946-1969, Taipei 2011 (es erschien je ein Band auf Englisch und auf Chinesisch); Tchen Yu-chiou 陳郁秀 (Hg.), The Beauty of Contemporary Taiwanese Art 台灣當代藝術之美, Taipei 2004; vor allem bleibt die aus Beiträgen der zweimonatig erscheinenden Zeitschrift des TFAM entstande Publikation Artist Navigators. Selected writings on contemporary Taiwanese Artists (Chen Shuling 陳淑鈴 (Hg.), Artist Navigators. Selected writings on contemporary Taiwanese Artists. 旗艦巡航. 台灣當代藝術選粹, Taipei 2007) zu nennen, die also auf Englisch Texte bietet, die ursprünglich für eine innertaiwanische Leserschaft gedacht waren]. Auch Ausstellungskataloge sind – nicht nur, wenn sie im Ausland stattfinden – immer häufiger mit englischen Übersetzungen der Begleittexte ausgestattet (so bspw. Wu Dakun 吳達坤 (Hg.), Hou minguo 後民國 [Republic without people], Taipei 2011 oder Hsieh Pei-ni Beatrice 謝佩霓 (Hg.), Yiji yiqie. Xiang dashi zhijing xilie: Lin Shouyu 50 nian chuangzao zhan 一即一切. 向大師致敬系列: 林壽宇 50年創作展 [One is everything. Homage to the Master: 50 Years of Work by Richard Lin], Kaohsiung 2010).

I. Einleitung

2.2 Anmerkungen zum Kunstbegriff der vorliegenden Arbeit Der Begriff ›Kunst‹ wird in dieser Untersuchung als eine ›Kunst‹ unter den ›Künsten‹ verwendet. Es wäre zu fragen, ob – traditionell an die abendländische Kunstgeschichte anschließend – nicht konkreter von Bildender Kunst (ein Begriff, der im Chinesischen neben der shijue yishu 視覺藝術, was als Übersetzung der ›Visual Arts‹ zu sehen ist, als zaoxing yishu 造型藝術 einging) zu sprechen wäre. Da das künstlerische Schaffen jedoch schon seit der Moderne und spätestens seit der Postmoderne nicht mehr klar ein Gebilde oder Objekt hervorbringt, ist der Ausdruck ›Bildende Kunst‹ irreführend. Das Ephemere der Kunst (bspw. der Klangkunst), der Prozess, die Performativität des Schaffens (bspw. des Action Painting Jackson Pollocks oder Yves Kleins) oder die konzeptuelle Natur der künstlerischen Arbeit (bspw. in den Arbeiten der Fluxuskünstler), die Betonung der Körperlichkeit/des Künstlerkörpers (insbesondere in der Performance oder im Happening), der Aspekt der Zeitlichkeit (bspw. in der Videokunst) oder aber auch schon früher das Readymade und Dada lassen die Bezeichnung ›Bildende Kunst‹ nicht mehr angemessen scheinen. Angesichts der sich (auch im abendländischen Verständnis) auf lösenden Grenzen zwischen den Disziplinen und auch zwischen Kunst und Nicht-Kunst ist der Begriff der ›Kunst‹ heute als f ließend zu verstehen. Insofern ziehe ich in der vorliegenden Arbeit den entgrenzten Begriff der ›Kunst‹ dem der ›Bildenden Kunst‹ vor, da hiermit keine kategorisierenden Grenzen mehr zwischen den Künsten gezogen werden, aber auch eine Diskussion der möglichen Auf hebung oder Verschiebung der Grenzen zwischen Kunst und dem vormals nicht zur Kunst Gezählten eher möglich ist.18 Trotzdem wird eine Eingrenzung vorgenommen, wenn hier und im Folgenden mit Kunst das bezeichnet wird, was von den Schaffenden, die sich selbst als Künstler verstehen, und von der Gesellschaft, in welcher sie sich bewegen im weitesten Sinne auch als Kunst verstanden wird.19 18 An dieser Stelle ist der zur Frage von Kunst und ästhetischer Erfahrung arbeitende, von der DFG geförderte Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« (2004-2013) an der FU Berlin zu nennen, sowie die hiermit verbundene Publikation Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste: epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich. [Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste: epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg 2004.] 19 In Bezug hierauf sei auf Hans Beltings Bemerkung in Das Ende der Kunstgeschichte – eine Revision nach zehn Jahren verwiesen, dass die Kunstgeschichte »eine Erfindung mit begrenztem Nutzen und für eine begrenzte Idee von Kunst« sei: »Anders gesagt, gibt es in einer Stammeskultur – ja ich wage es zu sagen – keine Kunst, aber nicht deswegen, weil dort die Bilder kunstlos wären. Sie sind nur nicht im Hinblick auf Kunst entstanden, sondern haben der Religion oder sozialen Ritualen gedient, was vielleicht bedeutsamer ist, als Kunst in unserem Sinne zu machen.« (Hans Belting, Das Ende der Kunstgeschichte – eine Revision nach zehn Jahren, München 1995, S. 74, Herv.i.O.). Weiter verweist Michel Espagne in seinem Aufsatz Cultural Transfers in Art History darauf, dass die Bezeichnung ›Kunst‹ im globalen Kontext mit Vorsicht zu gebrauchen sei, da es sich bei der Betrachtung einer globalen oder transnationalen Kunstgeschichte auch um ein semantisches Problem handele, da verschiedene Konzepte hinter der übersetzten und gleichgesetzten Bezeichnung stecken könnten. Beispielsweise könnten indianische Masken oder afrikanische Skulpturen andere Bedeutungen im Originalkontext gehabt haben, als im Museum, in dem sie in Europa als ›afrikanische Kunst‹ bezeichnet werden (vgl. Michel Espagne, »Cultural Transfers in Art History«, in: Thomas DaCosta Kaufmann, Catherine Dossin, Béatrice Joyeux-Prunel (Hg,), Circulations in the Global History of Art, Surrey 2015, S. 97-112, S. 97). In diesem

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Nicht ausschließlich jenes, was in Räumen der Kunst wie Museen oder Galerien gezeigt wird oder das, was in der Kunstwissenschaft oder Kunstgeschichte auftaucht, kann ›Kunst‹ sein: Auch im öffentlichen Raum oder in Orten des Dazwischen kann ›Kunst‹ zu sehen sein, herrscht nur ein gewisser gesellschaftlicher – auch von sogenannten Experten bestimmter – Konsens über die Definition als ›Kunst‹.20 Trotz dieser Festsetzung, die Kunst als rein in einem Diskurs als solche erkennbar definiert und die Wahrnehmung von und das Sprechen über Kunst also als diskursiv bestimmt festlegt, außerdem viele Formen ästhetischen Ausdrucks von vornherein ausschließt – wie beispielsweise Popkulturelles oder Grafik, Kunsthandwerk, sowie kulturelle Ausdrücke, die nicht im Rahmen ›Kunst‹ entstehen – und eine klare Definition der Kunst als an gewisse (institutionelle) Konventionen gebunden zeigt, soll jedoch Raum bleiben zu fragen, welche möglichen Abweichungen sich von einem solchen Verständnis ergeben. Denn wird die Frage nach der Kunst über den westlichen Rahmen hinaus gestellt, gewinnt sie eine weitere Dimension. Die Betonung eines f ließenden Kunstbegriffes ist daher nicht nur der unklar gewordenen westlichen Bedeutung geschuldet, der sich in moderner Übersetzung auch im Chinesischen als yishu 藝術 (im Gegensatz zum enger gefassten meishu 美術) findet, sondern ist vor allem auch als methodische Entscheidung meinerseits zu sehen: Es besteht die Möglichkeit, über Aspekte der künstlerischen Ausdrucksformen zu sprechen, die im traditionellen abendländischen werkästhetischen Kunstverständnis – das ich im Ausdruck der Bildenden Kunst vertreten sehe – unbeachtet bleiben, wie beispielsweise die Leiblichkeit der ostasiatischen Schreibkunst21 oder der Aspekt des Energie-Atems Qi (氣).22 Vor allem aber hält das Auf lösen der Grenzen auch eine mögliche Erweiterung des Kunstbegriffs bereit, der die in dieser Arbeit besprochene hybride Disposition der Kunst fassen könnte. Gleichwohl, bzw. daran anschließend berührt die Arbeit durch die Verortung im nicht-westlichen Kunstdiskurs auch die im modernen und postmodernen Kunstdiskurs diskutierten Fragen, wie ein nicht bemerkbarer Unterschied einen Unterschied in der ästhetischen Erfahrung machen kann (hier sei vor allem auf Arthur C. Dantos Bezug auf Nelson Goodman verwiesen) und daraus folgend, wie und ob Kunsterfahrung jenseits des Wissens um die vorgegebene Bedeutung möglich sei.

2.3 Zur Wahl des Zeitrahmens der Untersuchung Insbesondere da diese Untersuchung ein taiwanisches Kunstverständnis im globalen Kontext untersucht, ist es notwendig, den größeren Kontext der Politik, Kultur und Geschichte als gedanklichen, jedoch nicht explizit diskutierten Hintergrund einzuSinne sei an dieser Stelle dezidiert hervorgehoben, dass die ethnologisch verstandene, in Völkerkundemuseen ausgestellte ›Kunst fremder Völker‹, welche nicht unter der modernen Vorstellung von ›Kunst‹ geschaffen wurde, in der vorliegenden Untersuchung nicht unter ›Kunst‹ verstanden wird. 20 Ob man angesichts der formalen Ähnlichkeit des globalen künstlerischen Schaffens im Globalen von einer weitestgehend geschehenen Angleichung der kategorisierenden Begriffe sprechen kann, wird – insbesondere angesichts der eingangs gestellten Frage Kao Jun-honns und Gong Jow-jiuns – im Folgenden zu diskutieren sein. 21 Im Folgenden wird die Bezeichnung ›Schreibkunst‹ der geläufigeren Bezeichnung ›Kalligrafie‹ als Übersetzung des chinesischen Terminus shufa 書法 vorgezogen. 22 Im zweiten Kapitel werde ich hierauf genauer zu sprechen kommen.

I. Einleitung

beziehen. Von diesem Hintergrund zeugt auch der gewählte Zeitrahmen der Untersuchung ab der Zeit Taiwans als Republik China, der in grober Anlehnung an das Ende der japanischen Besatzungszeit 1946 und dem Auf bau der Republik China auf Taiwan durch die vom chinesischen Festland gef lohenen Anhänger Chiang Kai-sheks23 gewählt ist. Wenn Taiwan auch nach wie vor einen völkerrechtlich unentschiedenen Status hat, so erscheint doch ab den 1950er Jahren eine Betrachtung der modernen Kunst Taiwans als sinnvoll, beginnt hier ein neuer Abschnitt der Auseinandersetzung, der insbesondere auch sprachlich für das heutige Taiwan prägend ist: Unter den Kuomintang wurde guoyu 國語 – Mandarin-Chinesisch, die wörtlich übersetzte ›Landes- oder Nationensprache‹ – zur offiziellen, verpf lichtenden Sprache der ›Republik China auf Taiwan‹. Das Sprechen des Taiwanischen wurde in öffentlichen Bereichen wie Schulen oder den Medien verboten und das Chinesische als Schriftsprache (im Gegensatz zum mündlichen Taiwanischen) ersetzte das Japanische, das – hatte doch die japanische Kolonialmacht das Bildungs- und Regierungssystem Taiwans aufgebaut – bis dato die offizielle Sprache des modernen Taiwans seit 1895 darstellte. Der Beginn des untersuchten Zeitrahmens ist also grob in Anlehnung an die bedeutende Zäsur des Endes der Kolonialzeit gewählt, als die ›eingewanderte‹ Republik China mit dem gerade nicht mehr kolonialen Taiwan zusammenkam und dem heutigen Taiwan sein Gesicht gab. Im Folgenden soll durch einen kurzen historisch-orientierten Überblick mit dem wichtigsten Erzählstrang der taiwanischen Kunstgeschichte vertraut gemacht werden, um einen äußerst groben Rezeptionshorizont für die konkrete Analyse, wie Kunst diskursiv verstanden wird und wie die Auseinandersetzung mit Konzepten wie ›Kunst‹, ›Moderne‹ und ›Avantgarde‹ im Kontext Taiwan zu sehen ist, überhaupt zu ermöglichen. Diese Darstellung orientiert sich an den Schriften des an der National Cheng Kung University in Tainan lehrenden Historikers Hsiao Chong-ray 蕭瓊瑞, der seit den frühen 1990ern einer der wichtigsten Akteure der Kunstgeschichtsschreibung Taiwans ist. Mit seinen zahlreichen, weitestgehend unaufgearbeitete Quellen aufbereitenden Publikationen dominiert er die Kunstgeschichtsschreibung. Seine eher 23 Inwieweit die Übersiedlung der Kuomintang nach Taiwan als Besatzung/kulturelle Kolonisierung zu sehen ist, soll hier nicht weiter diskutiert werden, jedoch soll angemerkt werden, dass diese Sicht besonders seit den beginnenden 1990er Jahren in Taiwan eine immer stärker werdende Rolle spielt, während gleichzeitig die historische Kolonisierung durch Japan immer weniger als Kolonisierung dargestellt wird (dazu auch Kap. IV.): ob man von der ›japanischen Verwaltung‹ (rizhi 日治) oder der ›japanischen Besatzung‹ (riju 日據) sprechen sollte, wird in Taiwan diskutiert. Es sei jedoch nicht nur aus dieser Perspektive kritisch hinterfragt, ob, wie Yang Wen-I in ihrer Dissertation feststellt, die 50er Jahre unter der Kuomintang als willkommene Möglichkeit zur Entkolonisierung zu sehen sind, sondern vor allem angesichts der den 1950ern vorausgehenden begonnenen Terrorherrschaft der Kuomintang in Taiwan: Der ›Vorfall des 28. Februars‹ (er er ba shijian 二二八事件) bei dem der sich so für die Republik China einsetzende Künstler Chen Cheng-po 陳澄波 ermordet wurde, sowie die scharfe Unterdrückung jeglicher kritischer Stimmen in der Kunst – seit den späten 1930er wurden vermehrt das arme Volk Taiwans und die sozialen Missstände in realistischer Manier und im Austausch mit Festlandkünstlern auch im seit Käthe Kollwitzʼ Erfolg in Ostasien so klar links-konnotierten Holzschnitt dargestellt – lassen es fraglich erscheinen, ob mit Übernahme Taiwans durch die Kuomintang ein Gefühl der Befreiung in der Kunst herrschte. [Vgl. Wen-I Yang, Negotiating Traditions. Taiwanese Art Since the 1980s, Universität Heidelberg; Philosophische Fakultät. Kunsthistorisches Institut, 2001.]

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unkritische und an der gesellschaftlichen und vor allem politischen Entwicklung Taiwans orientierte Kunstgeschichtsschreibung trägt maßgeblich zur Kanonisierung des Blickes auf die Entwicklung der Kunstgeschichte Taiwans bei. Um den Diskurs nachvollziehbar zu machen, werde ich mich in der Einteilung der Diskussionen in den zeitlichen Abschnitten vorerst an die in der taiwanischen Kunstgeschichtsschreibung üblichen Schlagworte und Erzählweisen halten, um diese dann auf bauend auf den den Hauptteil der Arbeit bildenden Analysen zu ref lektieren und hinterfragen. Die 50er Jahre waren zunächst geprägt von der beginnenden Herrschaft der Kuomintang und dem nach Aufständen gegen die Unterdrückung durch die Kuomintang ausgerufenen Kriegsrecht: »Der Freiraum, in dem künstlerisches Schaffen geschehen konnte, erfuhr unter den Schatten und im Käfig des Systems des Kriegsrechtes in der Nachkriegszeit starke Einschränkungen. […] Dann aber entwickelten sich allmählich – ausgehend von den Strömungen der japanischen Besatzungszeit abseits des Mainstreams und den Avantgardemalern, die vom Festland nach Taiwan gekommen waren – innovative Kräfte heraus, die aus der reinen Ästhetik kamen. Diese Kräfte gewannen Ende der 50er Jahre an Einfluss […].«24 Es waren, so schreibt Hsiao Chong-ray weiter, die im Gegensatz zur traditionellen chinesischen Malerei (guohua 國畫) und dem seit der japanischen Besatzungszeit verbreiteten Stil der ›westlichen Malerei‹ (xihua 西畫)25 stehenden Konzepte ›Neuheit‹ und ›Moderne‹, die in den 1950er Jahren allmählich Form annahmen und an Bedeutung für das künstlerische Schaffen gewannen.26 Junge Künstlergruppen bildeten sich heraus – allen voran sind hier die 1957 gegründeten, hauptsächlich aus vom Festland kommenden jungen Künstlern bestehenden Gruppen ›Fifth Moon‹ (wuyue huahui 五月畫會) und ›Eastern Painting Group‹ (dongfang huahui 東方畫會) zu nennen –, die die Bewegung der modernen Malerei der 60er Jahre durch ihr künstlerisches Schaffen maßgeblich prägten. Als Verbindung einer chinesischen traditionellen Ausdrucksweise und eines vom Abstrakten Expressionismus beeinf lussten Stils wird ihre Kunst zumeist dargestellt.27 In Festlandchina nicht dem Mainstream zugehörig, waren es im Taiwan der Nachkriegszeit die Künstler der Ende der 1950er Jahre gegründeten Künstlergruppen, die 24 Hsiao Chong-ray, Liu Yichang 劉益昌, Gao Yerong高業榮, Fu Chaoqing傅朝卿, Taiwan meishu shigang 台灣美術史綱 [A History of Fine Arts in Taiwan], Taipei 2009, S. 358. Da die Teile zur Kunst alle von Hsiao Chong-ray geschrieben wurden und die anderen Autoren die anteilsmäßig weniger gewichtigen und für diese Arbeit nicht relevanten Teile zu Architektur oder im Bereich des Kunsthandwerks wie Schmuck und Bekleidung geschrieben haben, wird im Folgenden nur Hsiao Chong-ray als Autor genannt. 25 Im englischsprachigen Kontext ist für xihua oft auch die Übersetzung ›western-style painting‹ zu lesen. Diese grenzt zwar die eventuell bestehenden Zweifel aus, ob die Zuschreibung ›westlich‹ (xi 西) nun geografisch oder stilistisch gemeint ist, jedoch werden auf diese Weise auch die dem Begriff inhärenten Doppeldeutigkeiten ausgeschlossen, deren Betrachtung ich im Kontext der Aushandlung des modernen Kunstverständnisses jedoch als wichtig erachte, worauf insbesondere in Kapitel III. und VI. eingegangen wird. 26 Vgl. Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 358. 27 Vgl. beispielsweise ebenfalls in Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 388.

I. Einleitung

auch kulturell Taiwan als die ›Republik China‹ definierten, also die künstlerische chinesische Tradition als Grundlage des kulturellen Selbstverständnisses Taiwans festigten und den Avantgarde-Gedanken mit der malerischen Tradition Chinas in der ›Bewegung der modernen Malerei‹ (xiandai huihua yundong 現代繪畫運動) verbanden.28 Die 70er Jahre in Taiwans Kunst waren geprägt von der sogenannten ›Heimaterde-Bewegung‹ (xiangtu yundong 鄉土運動), deren Entstehung eingebettet zu sehen ist in die außenpolitische Marginalisierung Taiwans durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der meisten Nationen mit der Volksrepublik China und dem offiziellen Abbruch derselben mit der Republik China. Durch den Verlust des UN-Sitzes 1971 begannen die Menschen »eine tiefe Ref lexion und einen neuen Anfang.«29 Im selben Jahr veröffentlichte die neugegründete Kunstzeitschrift Hsiung Shih Art Monthly30 den Text Meine Kunst und Taiwan31 des Künstlers Xi Dejin 席德進, der »nahezu als Gründungsmanifest der Heimaterde-Bewegung gesehen werden kann.«32 Xi Dejins Preisen des ursprünglichen Taiwans, der Farben der Tempel, der Form der Wolken und der Gesichtszüge der einfachen Menschen initiierte eine Art Suche der jungen Künstler nach dem ›ursprünglichen Taiwan‹: Es ist das ländliche Taiwan, das Leben der Bauern, der traditionellen Handwerker, worin dieses echte Taiwan gefunden zu werden schien, stilistisch waren es die Aquarelle Xi Dejins und der Fotorealismus, aber auch die als ›Naive Kunst‹ eingeordnete Kunst des Amateurmalers Hong Tongs 洪通 oder die aus der traditionellen Handwerkskunst stammenden Skulpturen Ju Mings 朱銘. Auch für das Besinnen auf jene Künstler, die vor der Übernahme Taiwans durch die Kuomintang zur Zeit der Kolonialzeit durch Japan aktiv waren und die damalige Kunstszene bestimmten, stehen die 1970er Jahre. Das Referieren auf das ›ursprüngliche Taiwan‹ wurde in großem Maße von Künstlern und Kunstkritikern initiiert, die einige Zeit im Ausland verbracht hatten, so beispielsweise Hsieh Lifa 謝里法 (ebenso wie der oben genannte Xi Dejin), der die erste Kunstgeschichte Taiwans Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung in New York schrieb.33 Inwieweit diese Glorifizierung und Idealisierung Taiwans noch immer (oder wieder) einf lussreich im Sprechen über eine künstlerische Identität Taiwans ist und in welchem Maße ein selbstexotisierendes Bild

28 Es bleibt zu fragen, inwieweit die Frage nach dem traditionell Chinesischen in der Kunst damals in welcher Intensität schon diskutiert wurde, oder ob diese Interpretation eine nachträgliche darstellt. 29 Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 430. 30 Die hier genutzte Umschrift des Originaltitels xiongshi meishu yuekan 雄獅美術月刊 ist die von der Zeitschrift selbst genutzte. Hsiung Shih Art Monthly erschien von 1971-1996. Im Online-Archiv der Zeitschrift sind sämtliche Artikel (kostenpflichtig) aufrufbar: http://km.lionart.com.tw/Monthly. aspx, Stand: 13.10.2017. 31 Xi Dejin, Wode yishu yu taiwan 我的藝術與台灣 [Meine Kunst und Taiwan], in: Hsiung Shih Art Monthly, 4.1971, Nr. 2, S. 16-18. Xi Dejin findet man auch unter der Umschrift Shiy De-jinn. 32 Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 430. 33 Hsieh Lifa, Riju shidai taiwan meishu yundongshi 日據時代臺灣美術運動史 [Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung], Taipei 1992. Hsieh verbrachte 24 Jahre hauptsächlich in Amerika, aber auch Frankreich, wo er von 1964-1968 Kunst studierte. Ab 1976 wurde die Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung in Serie in der Kunstzeitschrift Artist veröffentlicht. [Der englische Titel ›Artist‹ wird von der Zeitschrift, die seit 1975 monatlich erscheint, selbst genutzt.]

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Taiwans gezeichnet wird, das von dem kolonialen Bild Japans von Taiwan geprägt ist, bleibt zu beobachten. Die 80er Jahre werden in Taiwan als die ›Ära des Kunstmuseums‹ (meishuguan shidai 美術館時代) bezeichnet. Die Institutionalisierung der Kunst geschah: das Taipei Fine Arts Museum34 eröffnete 1983 als erstes Kunstmuseum Taiwans, es folgten 1988 das National Taiwan Museum of Fine Arts35 in Taichung und schließlich 1994 das Kaohsiung Museum of Fine Arts. Es entwickelte sich eine Off-Szene neben den tendenziell konservativ orientierten offiziellen Museen. Insbesondere ist die 1988 gegründete und bis heute aktiv die taiwanische Kunstszene gestaltende Galerie ITPark zu nennen. Viele Künstler und Kunstwissenschaftler gingen ins Ausland zum Studium; viele, die in den repressiven 70ern oder früher ins Ausland gegangen waren, kamen zurück und wurden zu Lehrern an den sich etablierenden und neu gegründeten Kunstakademien und -instituten oder gründeten Künstlergruppen. Hsiao Chong-ray beschreibt die Kunst der 1980er Jahre mit ihrem Fokus auf Materialität, Installationskunst und Minimalismus – nach dem Impressionismus zur Zeit der japanischen Besetzung und dem Abstrakten Expressionismus in den 50er/60er Jahren –, als »dritte westliche Welle«, die über Taiwans Kunstszene schwappte.36 ›Moderne Kunst‹ wurde zum Synonym für ›Avantgarde-Kunst‹, so schreibt Hsiao weiter. Die große Beachtung, die Künstlern, die im Westen studiert und gearbeitet hatten, zuteil wurde, sowie die zahlreichen Ausstellungen internationaler (westlicher) Kunst im neugegründeten Taipei Fine Arts Museum, sind Anzeichen für die gewollte Internationalisierung und den Anschluss an die Moderne der Kunst Taiwans.37 Die 90er bezeichnen dann das Taiwan nach dem Ende des 36 Jahre anhaltenden Kriegsrechts, »[d]ie Lockerung der Politik trieb die wirtschaftliche und gesellschaftliche Kraft an und stieß die künstlerischen Aktivitäten und die Pluralisierung des kreativen Ausdrucks an.«38 Die »neue Generation« (xin shengdai 新生代) wurden die Künstler genannt, die um 1950 herum (und damit in Taiwan) geboren waren, die ein »avantgardistisches Kunstverständnis und kreativen Ausdruck«39 hatten. Diese Künstler, die im repressiven Taiwan aufgewachsen waren, konnten nun, nach der Öffnung, erstmals politisch kritische Themen behandeln und, so Hsiao Chong-ray, taten dies auch: »[E]ine Ref lexion der Geschichte und ein Verspotten der Politik kam in der Kunst auf; Kunst, die doch ehemals als das ›Schöne‹ oder das ›Wesen der Kunst‹ verfolgend gesehen wurde, begann in eine Diskursform des diskursiven Sprechens, des Entlehnens, der Metaphern einzutreten.«40 So waren die 1990er Jahre geprägt von dem auch künstlerischen Entdecken eines ›Taiwans‹ jenseits der Identität als ›China‹. Von Bedeutung ist hierbei auch, dass es in den 90er Jahren erstmals wieder für Taiwaner möglich war, Festlandchina zu be34 Das Taipei Fine Arts Museum wird häufig als TFAM abgekürzt, eine Abkürzung, die auch in der vorliegenden Arbeit verwendet wird. 35 Dieses wurde zunächst als Kunstmuseum der Provinz Taiwan eröffnet, was auch auf Taiwans damaliges offizielles Selbstverständnis als Provinz anstatt als Nation verweist. 36 Vgl. Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 462. 37 Vgl. Hsiao Chong-ray, Zhanhou Taiwan meishushi, S. 144. 38 Ebd., S. 173. 39 Ebd. 40 Ebd.

I. Einleitung

suchen, wodurch Fragen der kulturellen Zugehörigkeit an Brisanz gewannen, die beispielsweise Yao Jui-chung 姚瑞中 in seiner Serie Recover Mainland China (fangong dalu xingdong 反攻大陸行動) (1994-1996) bearbeitete. Auch Mei Dean-Es 梅丁衍 politische Symbole nutzenden Installationen zur Identität Taiwans, Yang Maolin 楊茂林, der mit seiner Made in Taiwan-Serie politische Slogans polemisierte oder Wu Tian-chang 吳天章, dessen verschiedene Materialen collage-artig nutzenden Arbeiten (an denen er bis heute weiterarbeitet, zuletzt auf der Venedig-Biennale 2015 ausgestellt) ein visuelles Gedächtnis der frühen Moderne Taiwans erschaffen, arbeiten mit diesen Identitätsfragen. Die Frage nach ›Taiwan‹ bekam also eine neue Dimension, was sich besonders an der fast zwei Jahre anhaltenden lebhaften Debatte um das ›Taiwan-Bewusstsein‹ (taiwan yishi) in der ›Kunst Taiwans‹ (taiwan yishu 台灣藝術) zeigt, die 1991 von dem Künstler und Kritiker Ni Tsai-chin 倪再沁 durch seinen Text Westliche Kunst – Made in Taiwan41 losgetreten wurde. Taiwans Kunstszene trat nun in einen globalen Diskurs ein: 1995 war die erste Teilnahme an der Venedig-Biennale zu verzeichnen. Ebenfalls 1995 wurden die Arbeiten von dreißig Künstlern als Wanderausstellung nach Australien entsandt, 1992 wurden die Arbeiten mehrerer Künstler in Kassel in der parallel zur documenta 9 stattfindenden Ausstellung Begegnung mit den Anderen gezeigt. Die Auswahl traf bei all diesen Ausstellungen das Taipei Fine Arts Museum, das als Institution als Kurator fungierte. Auch die seit 1998 stattfindende, international ausgerichtete Taipei Biennale wird vom Taipei Fine Arts Museum durch die Wahl des Kurators geleitet.42 Die 2000er-Jahre überschreibt Hsiao Chong-ray mit »Konstruktion des Selbsts am Rande des Imperiums«.43 Er erinnert damit an die bedeutende Videoserie Chen Chieh-jens 陳界仁, die mit Empireʼs Borders I (2008-2009) und Empireʼs Borders II – Western Enterprises, Inc (2010)44 betitelt ist, die vorgestellten Arbeiten in diesem Kapitel sind jedoch größtenteils popkulturell orientiert und können kaum als kritische Auseinandersetzung mit der Situation Taiwans als Peripherie bezeichnet werden. So müssen die 2000er Jahre als im Globalen stehend betrachtet werden. Der Titel suggeriert, dass Kunstschaffen einerseits global eingebettet stattfindet: vor allem staatlich massiv geförderte Artist Residencies junger Künstler auf der ganzen Welt45 sowie künstlerische und wissenschaftliche Kooperationen mit Festlandchina, mit Japan, Korea, Indien und Südostasien verweisen auf eine globale Praxis, die sich nicht nur Richtung Westen orientiert. Doch die Suche nach der Identität Taiwans als Peripherie des Globalen bekommt durch diesen Titel einen nahezu alles überschattenden Stellenwert zugeschrieben. Vor diesem Hintergrund muss erwähnt werden, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Democratic Progressive Party (DPP; minzhu jinbu dang 民主進步黨) und damit die erste Nicht-Kuomintang-Regierung Taiwans gewählt wurde, die expli41 Ni Tsai-chin, »Xifang meishu – Taiwan zhizao. Taiwan xiandaimeishu de pipan« 西方美術–台灣製造. 台灣現代美術的批判 [Westliche Kunst – Made in Taiwan. Kritik an der modernen Kunst Taiwans], in: Ye Yujing, Taiwan meishu zhong de taiwan yishi, S. 37-87. 42 Vgl. Hsiao Chong-ray, Zhanhou Taiwan meishushi, S. 203. 43 Ebd., S. 231. 44 Chinesische Originaltitel: diguo bianjie I 帝國邊界 I; diguo bianjie II – xifang gongsi 帝國邊界 II – 西方公 司. 45 Taiwan hat feste Plätze in Artist Villages der ganzen Welt, auf die sich Künstler nicht direkt bewerben, sondern über eine staatliche Stelle Taiwans, die diese dann zuteilt.

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zit die offizielle Unabhängigkeit Taiwans von Festlandchina fordert. Die Frage nach dem ›Taiwanischen‹ bekommt so auch eine politische Dimension, was sich auch daran zeigt, dass Ausstellungen von Künstlern, die (eher) der Tuschemalerei zugeschrieben werden, kaum Platz bekamen, handelt es sich hierbei doch um eine ›chinesische‹ und nicht ›taiwanische‹ künstlerische Praxis.46 Die Medienkunst, zu der seit Anfang der 1990er an der Taipei National University of the Arts geforscht wird, etablierte sich fest als eine der wichtigsten Richtungen in der Kunst, in deren Rahmen die Kunst Taiwans zunehmend als popkulturelle dargestellt wird. Die 2008 in Brno, Tschechien, gezeigte, von der Künstlerin und Professorin an der Tainan National University of the Arts Ava Pao-Shia Hsueh 薛保瑕 kuratierte Ausstellung Bubble Tea: Art of Taiwan and its contemporary mutations, zeigte dieses popkulturelle Bild Taiwans sehr eindrücklich schon am Namen, der dem beliebten Getränk entlehnt ist, das damit als Symbol für Taiwans Kunst steht. Doch nicht nur die Außendarstellung stärkt ein solches Bild: auch die ausschließlich aktuelle Kunst von taiwanischen Künstlern zeigende (und mit der Taipei Biennale nicht zu verwechselnde) Taiwan Biennale und das 2004 eröffnete Museum of Contemporary Art Taipei setzen ihren Schwerpunkt auf Arbeiten, die sich an Mangas, Comics und der Konsumwelt orientieren. Blickt man allerdings auf den wohl außerhalb Taiwans berühmtesten Künstler Taiwans Chen Chieh-jen, so findet sich eine tiefgehende Ref lexion der historischen peripheren Situation Taiwans, die sich abseits der popkulturellen Erschaffung einer eigenen Identität mit der Frage nach der ins Globale eingebetteten Identität auseinandersetzt. Für eine solche Richtung steht vor allem auch der Kunstkritiker und Philosoph Gong Jow-jiun, dessen Text Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf?47 im Kapitel V besprochen wird. Es zeigt sich, dass somit zwei größere Richtungen verfolgt werden, die zum Teil sehr eng beieinander liegen und sich auch berühren.

2.4 Zur Gliederung der vorliegenden Arbeit Vor diesem Hintergrund gliedert sich die vorliegende Arbeit in sieben Kapitel, deren grobe Skizzierung hier vorgenommen wird. Das nach diesem ersten einführenden Kapitel folgende Kapitel II zeigt die Problemhorizonte auf, die dem Nachdenken über moderne Kunst als yishu zugrunde liegen. Befragt wird vor allem, wie Kunst heute im zeitgenössisch-globalen Rahmen verstanden wird und welche Fragestellungen und Probleme im historischen Rückblick mit diesem Verständnis verbunden sind. So bette ich in diesem Kapitel die folgende Untersuchung in einen vielschichtigen Zusammenhang ein, der zwischen kulturwissenschaftlichen, (kunst)historischen, philosophischen und gesellschaftlichen Be-

46 So die Künstlerin Yuan Shu 袁澍im Gespräch in Taipei Mai 2012. Der Frage, wie im heutigen Taiwan, das sich mehr und mehr als Nicht-China darstellt, mit traditionellen chinesischen künstlerischen Ausdrucksformen umgegangen wird, wird auch im Kapitel VI.3 begegnet. 47 Gong Jow-jiun, Taiwan yishu zhong de xiandaizhuyi qi yu he shi? Yi Wu Yaozhong yu 70 niandai wei xiansuo台 灣藝術中的現代主義起於何時? 以吳耀忠與七○年代為線索 [Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf? Wu Yaozhong und die 70er Jahre als Anhaltspunkte], in: Art Critique in Taiwan 藝術觀點, Nr. 51, 7/2012, S. 66-80.

I. Einleitung

zügen steht. Damit bildet das Kapitel die Grundlage, auf deren Fragestellungen die Untersuchung auf baut. Die Kapitel drei bis fünf stellen dann eine detaillierte kulturhistorische Diskursanalyse des modernen Kunstverständnisses Taiwans dar. Konkret werden drei im Zusammenhang dieser Arbeit übersetzte Texte der Kunstkritik aus verschiedenen Etappen der Entwicklung der Kunst Taiwans analysiert: einerseits werden die benutzte Sprache, Wortwahl und die verwendeten Konzepte beleuchtet, weiter werden aber vor allem Bezüge hergestellt und nach der impliziten Bedeutung der Konzepte gefragt. Ausgehend von diesen Texten und ihrer diskursiven Umgebung wird ein Horizont der Betrachtung des Kunstdiskurses Taiwans geöffnet. Es wird dabei ein Schwerpunkt gelegt auf die Betrachtung, wie im Kontext Taiwan seit den 1950er Jahren über die (taiwanische) Moderne und Kunst als Eigenes und als Importiertes ref lektiert wird und in welche Fragestellungen und Diskurse (politisch, ästhetisch, gesellschaftlich, …) ›Kunst‹ und das Verständnis davon eingebettet sind. So ist nicht eine kunsthistorische Aufarbeitung Absicht dieses Teils der Arbeit. Vielmehr sollen durch die Analyse der verschiedenen Konnotationen und Bezüge von Konzepten wie ›Moderne‹, ›Kunst‹ und ›moderne Kunst/Modernismus‹48 in den ausgewählten kunstkritischen Texten die Implikationen des modernen Kunstverständnisses Taiwans zunächst nachvollzogen und analysiert werden. Als Ausblick auf die Frage, welche Folgerungen aus der Analyse für das globale Kunstverständnis gezogen werden können, soll beobachtet werden, welche Gedankengänge sich hier also finden und wie die modernen Begriff lichkeiten zur Kunst in einem nicht-westlichen Umfeld zu verstehen sind. In diesem Kontext wird auch besonders die Frage beachtet, wie Taiwans Bezug zur und Rolle in der ›Welt‹ in den Texten dargestellt wird, und als was wiederum ›Welt‹ verstanden wird. Wird Taiwan dargestellt als Teil der Welt, des Internationalen, des Globalen? Und welche Bedeutung hat das Sprechen vom ›Westen‹, welche Positionierung dazu findet sich? Besonders wird auch die weit diskutierte ›verspätete Moderne‹ Beachtung finden und in diesem Kontext die Normativität der Moderne sowie das moderne Paradigma der Neuheit in der Kunst. Aus der Analyse ergibt sich somit auch ein Bild, wie die verschiedenen Akteure die Diskussion prägen: Die Rollen in der Kunstszene – von Kunstkritikern, Künstler/ Kunstschaffende, über Kunstmuseen und -galerien sowie das offizielle Ausstellungssystem und das Universitätssystem bis zu Zeitschriften und Publikationen – werden als Gef lecht sichtbar.49 Die Analysen des dritten bis fünften Kapitels setzten sich implizit auch mit der in großen Teilen an politischen Ereignissen entlang erzählten Kunstgeschichte auseinander, distanzieren sich aber durch die fokussierende Lektüre der gewählten Texte von einer erneuten und damit festigenden Erzählung dieser. In einem weiteren Schritt, der das sechste Kapitel bildet, werden die Ergebnisse der Analyse dann vergleichend diskutiert und kritisch reagierend in den Kunstdiskurs 48 In Taiwan wird sowohl ›moderne Kunst‹ (xiandai yishu 現代藝術) als auch – seit den 1980er Jahren in Anlehnung an Greenberg – ›Modernismus‹ (xiandaizhuyi 現代主義) verwendet. Es besteht meist keine klare Trennung und unterschiedliche Konnotation zwischen beiden Termini. Genauer wird in den jeweiligen Analysen und den Anmerkungen zu den Übersetzungen auf die Bedeutungsebenen eingegangen, weiter wird in Kapitel VI.3 die Änderung im Sprachgebrauch betrachtet. 49 Dass im Rahmen dieser Arbeit eine Akteursanalyse nur ›mitlaufen‹ kann, ist aus Platzgründen klar.

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und die Kunstgeschichtsschreibung rückeingebettet. Das sechste Kapitel ref lektiert also vor den aus der Untersuchung gewonnenen Erkenntnissen die veränderte Disposition der zeitgenössischen Kunst Taiwans theoretisch und reagiert somit auch auf die Problematiken des zeitgenössischen Kunstdiskurses Taiwans, wie sie im zweiten Kapitel (II.1.2) erarbeitet werden. So wird der Vermutung nachgegangen, dass die zeitgenössischen Problematiken im Kunstdiskurs Taiwans eng mit der Globalisierung des Kunstdiskurses seit Ende der 1980er Jahre verbunden sind, die Anforderungen an das sogenannte nicht-westliche Kunstschaffen stellt, aber gleichzeitig die historische Auseinandersetzung des Nicht-Westens mit der Moderne und ihren Paradigmen ignoriert. Dabei verbleibt das sechste Kapitel anfänglich in Taiwan, um dann aber die Perspektive zu öffnen und die Verf lechtungen im Globalen zu zeichnen. Das Schlusskapitel greift diese Verf lechtungen auf und richtet den Blick vor dem Hintergrund der aus den Analysen gewonnenen Erkenntnisse auf den westlichen Kunstdiskurs und fragt, wie eine zukünftige Forschung zum Kunstverständnis im Globalen aussehen kann. So ist die Arbeit eingebettet in den globalen Kunstdiskurs, diskutiert diesen aber vom heutigen Taiwan aus und möchte so die noch immer herrschende Diskrepanz zwischen dem (scheinbar) westlichen Konzept der Kunst und der Praxis des nicht-westlichen Kunstdiskurses befragen. Die Arbeit hat also zum Ziel, den Rezeptionshorizont für zeitgenössische Kunst zu weiten, indem Problematiken und Perspektiven, die von Europa aus nicht unbedingt in den Blick treten, aufgezeigt werden: Wie wird diese Disposition (die Übersetzung und die Asymmetrie, also die Chance und die Probleme, die wohl voneinander abhängige Gegenspieler sind) in Taiwans Sprechen über Kunst verhandelt und was bedeutet das für das Kunstverständnis in Europa?

II. Eröffnung der die Analyse leitenden Problemhorizonte des Sprechens von ›moderner und zeitgenössischer Kunst‹ in Taiwan im globalen Rahmen 1. ›Kunst‹ – eine fragende Positionierung aus globaler Perspektive Was Kunst sei, wie über sie zu schreiben und sprechen sei, von welcher Perspektive aus sie zu betrachten und zu befragen sei und welchen Platz sie in der Gesellschaft einnehme und einzunehmen habe, nun, da alle Selbstverständlichkeiten verloren sind, fragen die Kunstwissenschaft, die Kunstgeschichte und die philosophische Ästhetik schon länger (oftmals auch interdisziplinär). Und dass Kunst nicht mehr ›einfach‹ als nach Schönheit oder Wahrheit strebend zu definieren ist, ist kein Problem, dass sich erst heute, im 21. Jahrhundert, stellt. Doch diese nach wie vor frei schwebenden, oft versuchten Fragen stellen sich abermals, da die Kunst erneut einem Bruch in der Definition und Fassbarkeit gegenübersteht: der Globalisierung des westlichen Kunstdiskurses. Nicht die Weltkunst, das Ethnologische ist das, womit sich die vorliegende Untersuchung befassen wird, sondern jenes globale moderne und zeitgenössische ›künstlerische Schaffen‹, das von den sich als Künstler bezeichnenden Schaffenden auch als solches geschaffen wurde. Das von den Schaffenden in der Haltung, Teil des Diskurses um moderne und zeitgenössische Kunst zu sein, geschaffen wurde und somit nicht nur in jeweils lokalen Ausstellungskontexten rezipiert werden kann, sondern weltweit Interesse erzeugen soll: das also in Serbien, England, Hongkong, Polen oder Mexiko gleichermaßen gezeigt wird.1 In dieser Haltung geschaffene Kunstwerke sind auf Biennalen, in Museen und auf Kunstmessen weltweit zu sehen, sie sind Gegenstand einer globalen Kunstkritik und werden also zunächst nicht unterschiedlichen Kategorien der Bewertung unterzogen. Sie stehen nicht mehr in Weltregionen aufgeteilt nebeneinander in Museen und erheben dabei gleichermaßen Anspruch auf Einzigartigkeit, Echtheit und auf die Zuordnung zu einem Künstlernamen.2 Das gebildete 1 Diese eher willkürliche Auswahl spiegelt einige Orte, an denen der taiwanische Künstler Wu Chi-tsung 吳季璁 2013 in internationalen und taiwanischen Gruppen- und Einzelausstellungen seine Arbeiten präsentierte. 2 Die verschiedenen künstlerischen Praktiken der Moderne und Postmoderne, die jene Konzepte unterlaufen – Beispiele sind insbesondere das Werk Duchamps, Warhols oder schließlich das Sturtevants – könnten zwar als diese Ansprüche verändernd gesehen werden. Ich gehe aber davon aus, dass sie

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Publikum kann dem selben Diskurs überall auf der Welt gleichermaßen folgen, kann gleichermaßen diskutieren.3 Zunächst also liegt hier die Beschreibung eines Konzeptes des künstlerischen Schaffens und der Präsentation desselben vor, dessen Paradigmen sich seit der frühen Neuzeit in Europa allmählich herausentwickelten und als dessen Ideengeber weithin die europäische Moderne gesehen wird. So sehr eine solche Sicht auf Kunst vielfältiger (Institutions-)Kritik ausgesetzt ist, so bleibt angesichts der globalen Biennalisierung und des weltweit agierenden Kunstmarktes festzuhalten, dass Kunst unter diesen Vorzeichen heute kein Konzept mehr ist, das nur in Europa und Nordamerika vorkommt und in anderen Weltregionen als von hier (meist ›verspätet‹) »hergeholt«4 gesehen werden kann. Es sind nicht mehr einzelne Stile, die in Wellen – meist durch aus Europa oder Amerika heimkehrende Studenten, durch Ausstellungen (zuerst hauptsächlich von Repliken europäischer Meisterwerke) oder durch Medienberichte und Übersetzungen von Publikationen – die verschiedenen Weltregionen erreichen und lokale Trends (die dann nur mehr in losem Bezug zu Entwicklungen im Westen weiter entwickelt wurden) auslösen, so wie es beispielsweise im Meiji-Japan die Plein Air-Malerei (zu nennen ist hier insbesondere Kuroda Seiki) Ende des 19. Jahrhunderts getan hatte oder aber knapp hundert Jahre später die Installationskunst im Taiwan der 1980er Jahre, die vor allem von dem britisch-taiwanischen Künstler Richard Lin/Lin Shou-yu 林壽宇 nach dessen Rückkehr aus England nach Taiwan in den beginnenden 1980er Jahren verbreitet wurde.5 Zeitgenössische Kunst entsteht im 21. Jahrhundert weltweit und zeitgleich und explizit für die globale Rezeption. Dies verweist auf eine wirklich globale Praxis des künstlerischen Schaffens und des Kunstdiskurses. Oder wie Hans Belting bemerkt: »Nun aber, im 21. Jahrhundert, entsteht weltweit eine Kunst mit dem Anspruch auf globale

durch das Infragestellen vielmehr suggerieren, das Kunstverständnis habe sich grundlegend verändert und so den Zugang zu einer weiteren Reflexion eher verstellen. Denn dadurch, dass sie doch weiter unter einem Künstlernamen veröffentlicht und ausgestellt werden und dadurch zu Kunstwerken deklariert werden, verändern sie diese Form der Kunstauffassung nicht grundlegend, sondern verfestigen sie im Akt des Hinterfragens. 3 Franziska Koch referiert in Bezug auf diese zeitgenössische Vereinheitlichung des Kunstdiskurses auf John Clark, der den »Wandel in diesem Bereich kritisch auf den Nenner [bringt], wenn er von einer unerhörten Machtzunahme und Machtfülle des ›Kuratoriums‹, gar eines weltweit herrschenden ›Kuratoriats‹ spricht. Mit diesen Begriffen umschreibt er einen überschaubaren, eng vernetzten internationalen Personenkreis, der bei der Organisation der großen Biennalen global tonangebend sei. Das ›Kuratoriat‹ habe sich in der letzten Dekade in seiner Position als entscheidender Kanon-Macher etablieren können, insofern fast immer aus demselben Personenkreis ein Kurator gewählt werde, wenn es um die Besetzung der nächsten internationalen Großveranstaltung geht.« (Koch, Die »chinesische Avantgarde«, S. 501f.) 4 Hier wird auf Lu Xuns Aufruf »Herholismus« (nalaizhuyi 拿來主義) verwiesen. Auf dieses Pamphlet wird in II.2.1 genauer eingegangen. 5 Mit Vorsicht zu nennen wäre auch noch der Abstrakte Expressionismus, der in den 50er und 60er Jahren von den modernen Künstlern Taiwans gefeiert wurde. Da sich diese jedoch, wie in der folgenden Analyse (Kap. III) besprochen werden wird, selbst nicht als den Stil des Abstrakten Expressionismus ›hergeholt‹ verstehen, sei die vor allem in den frühen 1990er Jahren in Taiwan verbreitete Lesweise, die in der Bewegung um die Künstlergruppen Fifth Moon und Eastern Painting Group in den 50er/60er Jahren eine Nachahmung der amerikanischen abstrakten Strömungen sieht, nur mit Vorbehalt anzubringen.

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

Zeitgenossenschaft ohne Grenzen und ohne Geschichte. Diese Kunst ist nicht mehr synonym mit moderner Kunst.«6 Was aber ist, so pauschal stellt sich die Frage wohl, die ›moderne Kunst‹, auf die Belting hier referiert und welche Rolle spielt deren Kunstverständnis, das, so zeigt die unausweichliche Referenz auf selbige, bis heute die – wenn auch in weiten Teilen abgelehnte – Grundlage des Diskurses bildet? Und in welchem Verhältnis steht diese Moderne zum Zeitgenössischen?

1.1 Zur Bezeichnung ›Moderne‹ im zeitgenössischen Kunstdiskurs Zur Beantwortung der Frage, was die Moderne in der Kunst ist, würde meist wohl auf die klassische Moderne verwiesen werden – angefangen vielleicht auch schon beim Realismus à la Courbet oder auch schon in der Romantik, als sich die Perspektive und die Regeln der Malerei aufzulösen begannen. Sicherlich wird aber die Rede von Cézanne, von den Impressionisten und dann vom Kubismus sein.7 Es waren die Avantgarden des Expressionismus, des Bauhauses, der Dadaisten, die Fauvisten oder die Surrealisten, die voller Pathos und Ideologie in Manifesten die Idee der Universalität der Kunst erklärten. Es sind diese Absolutheit der Avantgarden und der unbedingte Fortschrittsglaube, welche die Moderne der Kunst ausmachen. Und es ist auch vor allem der Anspruch der absoluten Autonomie der Kunst, der wegweisend für die Moderne in der Kunst war. Die moderne Kunst stellt den Anspruch, nicht auf die Abbildung einer Realität ausgerichtet zu sein, sondern selbst zu schöpfen. Sie ref lektiert dadurch ihr Schaffen selbst und von innen heraus und wirft die Kunst auf sich selbst zurück. So schreibt Clement Greenberg in seinem 1939 veröffentlichten Text Avant-garde and Kitsch: »It has been in search of the absolute that the avant-garde has arrived at ›abstract‹ or ›nonobjective‹ art – and poetry, too. The avant-garde poet or artist tries in effect to imitate God by creating something valid solely on its own terms, in the way nature itself is valid, in the way a landscape – not its picture – is aesthetically valid; something given, increate, independent of meanings, similars or originals. Content is to be dissolved so

6 Belting, Was bitte heißt ›contemporary‹?, S. 56. 7 Dass schon Julius Meier-Graefe in seiner Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst zwar mit der ›Entstehung des Malerischen‹ beginnt, jedoch hauptsächlich die zu Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Kunst bespricht, in der er die moderne Kunst vollendet sieht, verweist darauf, dass die Bezeichnung der um das Ende des 19. Jahrhundert entstandenen Gegenwartskunst als ›moderne Kunst‹ keine rein nachträgliche Kategorisierung ist, sondern auch damals schon als ›modern‹ bezeichnet wurde. (Vgl. Julius Meier-Graefe, Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, Band 1 und 2., München 1987 [Neuausgabe, Hg. v. Hans Belting].) Hieran anknüpfend sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass in diesem Kapitel mit ›Moderne‹ die Moderne in der Kunst bezeichnet wird und daher weniger auf die geistesgeschichtliche Moderne seit der Renaissance oder seit der Aufklärung oder auf die ökonomische Moderne des 18./19. Jahrhunderts verwiesen sei. Gleichwohl sei angemerkt, dass aufgrund des normativen Gehalts des Modernebegriffs diese Verständnisebenen von Moderne in einer Diskussion von ›Moderner Kunst‹ immer mitgetragen werden.

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completely into form that the work of art or literature cannot be reduced in whole or in part to anything not itself.« 8 Eine umfassendere Antwort auf die Frage, was die Moderne der Kunst sei, würde wohl noch auf die Postmoderne verweisen, auf deren Suche nach einer Abkehr von den Extremen, nach Pluralität, deren explizit gewollter Abgrenzung von der Moderne durch deren Ref lexion – was sie jedoch dann, so Jean-François Lyotard, erst selbst zur Moderne werden ließ.9 Die Moderne ist vorbei, als abgeschlossene Epoche deklariert – der Kunstdiskurs diskutiert diese nur mehr im Rückblick, in Abgrenzung. Die Zeiten der pathetischen Manifeste sind vorbei und der künstlerische Rückgriff auf die Moderne geschieht nur mehr mit einem ironischen Zwinkern, höchstens gespickt mit gespielt ernsthaften Verweisen auf die Moderne ist die Kunst der Gegenwart. Spielt also in einer heutigen Diskussion die Frage, was die Moderne sei, abseits einer historischen Ref lexion selbiger, noch eine Rolle? Eine sehr umfassende Antwort auf die Frage nach der Moderne in der Kunst würde dies heute wohl bejahen und zunehmend auch das Nicht-Genannte der Moderne betrachten. Denn die Moderne, von der bisher die Rede war – und das ist ein entscheidender Punkt für diese Untersuchung –, ist eine ausschließende Moderne, in der kein Platz ist für die, die außer als exotische Inspirationsquelle10 für Van Gogh, Gauguin und Picasso oder als Randnotiz nicht in die europäische Erzählung passen: Diese Moderne ist wie eine »glass wall, that Asian artists come up against«11. Denn: »Yet the academic discourse of modernism continues, to a large extend, to see the avant-garde as an art movement that originated in Europe in the late nineteenth century and animated artistic creations of the twentieth, during which period it also ›spread‹ to the rest of the world.« 12 Auch die Postmoderne, die die Pluralität suchte, suchte nach ihr nicht in Regionen, die außerhalb der Zentren der modernen Kunstgeschichte – zuerst Paris, dann, nach dem

8 Clement Greenberg, »Avant-garde and Kitsch«, in: Ders., Art and Culture. Critical Essays, Boston 1961/1989, S. 3-21, S. 5f. 9 Vgl. Jean-François Lyotard: »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«, in: Charles Harrison; Paul Wood (Hg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Ostfildern-Ruit 1998, S. 1243-1250. 10 Die Kunstwissenschaftlerin Jean Fisher schreibt: »During the early 1980s, modernism was still being portrayed as a European innovation with no influence from other cultures other than stylistic ›affinity‹.« (Jean Fisher, The Other Story and the Past Imperfect, Tate Papers 12, 2009; online verfügbar unter: www.tate.org.uk/research/publications/tate-papers/no-12/the-other-story-and-the-past-imperfect, Stand 2.5.17). Als ›Affinität‹ beschrieben, wird der Einfluss beispielsweise der Ukiyo-e auf Van Gogh oder afrikanischer Masken auf Picasso auf ein persönliches Interesse verkürzt, während die weitreichenden Verflechtungen nicht betrachtet werden. 11 Monica Juneja; Franziska Koch, Series on Multi-Centred Modernisms. Introduction, in: Transcultural Studies, 2010 Nr. 1, S. 38-41, S. 39. DOI: 10.11588/ts.2010.1.6181 12 Juneja; Koch, Multi-Centred Modernisms, S. 38.

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

zweiten Weltkrieg, New York – entstanden, sondern nur in der Ref lexion der abendländischen Geschichte der Moderne.13 So stellt sich erst im heutigen14 Kunstdiskurs, der sich postkolonial ref lektiert, antikolonialistisch gibt, ganz konkret die Frage, wie eine Ref lexion der westlichen Moderne aussehen kann und ein Einbezug des bisher Vernachlässigten möglich ist. Und doch bleiben bestimmte Formen der Kunst, wie beispielsweise die dezidiert als Kunst innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Kunstdiskurs entstandene zeitgenössische oder moderne Tuschemalerei, im Kunstdiskurs dann ausgeschlossen, wenn sie nicht als ›abstrakt‹ eingeordnet werden können und folglich – die Anforderung einer formalen Ähnlichkeit erfüllend – Sichtbarkeit erreichen können.15 So stellt sich nicht 13 Betrachtet man bspw. Wolfgang Welschs Unsere postmoderne Moderne, 1987 erstveröffentlicht, so zeigt sich klar, dass die Reflexion von Moderne durch die Postmoderne und die Ausweitung der Definition nur auf den Westen bezogen ist. Selbst im mit »Mehrsprachigkeit« betitelten Kapitel werden die ›Sprachen‹ innerhalb der Architektur und damit Stilrichtungen besprochen (Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 1997). 14 Dass es sich um ein neues Forschungsfeld handelt, zeigt vor allem die Publikation A New Vocabulary for Global Modernism, die Ende November 2016 erschien und mit dem Satz beginnt, dass dieses Buch vor zehn Jahren noch nicht hätte geschrieben werden können. (Eric Hayot; Rebecca L. Walkowitz, »Introduction«, in: Dies. (Hg.), A new vocabulary for global modernism, New York 2016. S. 1-10, S. 1.) Auch in der Ausstellungsarbeit zeigt sich die Aktualität der Frage: erst in den letzten Jahren geschieht hier die Reflexion der nicht-westlichen modernen Kunst: So gestaltete beispielsweise das Centre Pompidou seine Moderneabteilung für die Ausstelleung Modernités plurielles 2013 komplett um: eine Ausstellung, die das Nicht-Beachtete der Moderne zu zeigen sucht. Im seit 2015 laufenden Forschungsprojekt ›museum global‹ u.a. gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, werden in verschiedenen großen Museen/Sammlungen Deutschlands – der Kunstsammlung NRW, dem Hamburger Bahnhof, dem Haus der Kunst und dem MMK – die jeweils eigene Sammlung auf globale Referenzen hin hinterfragt. Weiter ist die Jahreskonferenz Global Modernisms (1905-1965) des Forums Transregionale Studien und der Max Weber Stiftung zu nennen, die vom 5.-7.11.2015 im Haus der Kulturen der Welt stattfand und nach den Verflechtungen und der zeitgenössischen Aufarbeitung der nicht-westlichen Modernen fragte. Auch der 2013 erschienene Sammelband Modern Art in Africa, Asia and Latin America sei erwähnt, in dem Studien zu modernen nicht-westlichen Strömungen vorgestellt werden (Elaine O’Brien (Hg.), Modern art in Africa, Asia and Latin America. An introduction to global modernisms, Malden, MA 2013). Anzumerken bleibt die unterschiedliche Auffassung oder Ausgangslage – wird von ›Moderne‹/›Modernismus‹ im Singular gesprochen oder wird der Plural ›Modernen‹/›Modernismen‹ verwendet? –, deren Implikationen im Einzelfall zu analysieren wären. 15 Interessant ist die weithin bestehende Unsichtbarkeit der Tuschemalerei als ›modern‹ zu beobachten im Titel der Ausstellung Peintures chinoises traditionnelles 1975-1980, die im Musée Cernuschi 1981 zu sehen war, die auf Chinesisch den Titel Tendenzen der modernen chinesischen Malerei (xiandai zhongguo huihua quxiang zhan 現代中國繪畫趨向展) trug. Die sich hier auftuende Diskrepanz verweist auf eine vollkommen verschiedene Lesweise und Einordnung der Kunstwerke. Eine solche Einteilung zeigt, dass diese Werke, die alle in dem Sinne als ›traditionell‹ einzuordnen sind, als dass sie »traditionelles Werkzeug und Material« (vgl. Jiang Mingxian 江明賢: Sanshi nian lai de zhenhan – chuxi bali ›xiandai zhongguo huihua quxiangzhan‹ yougan 三十年來的震撼 – 出席巴黎‘現代中國繪畫趨向展‘有感 [Dreißig Jahre lang zutiefst bewegt – Gedanken zur Teilnahme an der Ausstellung ›Tendenzen der modernen chinesischen Malerei‹], in: Artist, Nr. 75, 8/1981, S. 182-185, S. 184), also chinesische Pinsel, Tusche und Reispapier oder Seide als Malgrund nutzten, in der französischen Lesweise als Ausdruck der Tradition Chinas, als genealogische Fortführung einer jahrtausendealten Tradition gelesen werden und damit nicht die Forderung nach einem formal zu definierenden ›Neuen‹ erfüllen, was nötig wäre, um den hier gezeigten künstlerischen Ausdruck als ›modern‹ zu kategorisieren.

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nur die Frage, welche äußeren strukturellen und institutionellen Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Kunst global sichtbar sein kann, sondern was überhaupt sichtbar sein kann: Welche implizit vorhandenen Kriterien bestehen (fast) unverändert innerhalb der Ordnung der Künste für das Erreichen von Sichtbarkeit? Die implizit zugrunde liegende Ordnung der Künste zeigt, dass der hier dargestellte Blick auf die Moderne, den Modernismus, die Postmoderne und gar die der Ref lexion unterzogene zeitgenössische Disposition – selbst wenn die zeitgenössische Frage James Elkinsʼ, wie »writing about modernist painting outside Western Europe and North America«16 geschehen sollte und die Sorge, es noch immer mit einer ausschließenden Moderne und durch diese beeinf lusste Zeitgenossenschaft zu tun zu haben, einbezogen werden –, ein Blick ist, der sich auf die Disposition der westlichen Moderne und insbesondere auf ihre zeitgenössische Kritik und Ref lexion bezieht. So zeigen die meisten Ansätze der Ref lexion, dass die Position, von der aus die selbstkritische Betrachtung geschieht, die alten Zentren doch über das Kunstverständnis, über die Art, wie über Kunst gesprochen wird und wie Kunst präsentiert wird, weiterträgt. Die implizite Dominanz der westlichen Vorstellung von Kunst zeigt sich somit auch darin, dass, wenn heute – egal ob in Taiwan, in China, in den USA oder in Deutschland – von ›Kunst‹ ohne weiteren Zusatz die Rede ist, hiermit nahezu ausnahmslos dezidiert die westliche, also europäisch-amerikanische Kunst bezeichnet wird.17 Zwar soll hier nicht argumentiert werden, das Hinzufügen einer näheren geografischen Bezeichnung sei in allen Fällen kulturessentialistisch zu lesen, jedoch verweist dieser Fakt darauf, dass die westliche moderne Vorstellung von Kunst als das Normale, als das ›Nicht-zu-Bezeichnende‘‘18 dem Nachdenken über Kunst zugrunde Auch wenn dieses Beispiel schon viele Jahre zurückliegt, kann davon ausgegangen werden, dass der Titel nicht nur eine Einladung und Hilfestellung an das europäische Publikum ist, das so eher weiß, was es erwartet und das bei ›modern‹ einen formal modernen Ausdruck erwarten würde, sondern dass die Kategorisierung auch als durch die Ausstellungsmacher zutiefst so empfunden wird. Ein zeitgenössischer oder moderner Ausdruck kann nur das sein, was – um hier den Direktor des Musee d’art Moderne de la Ville Paris, Fabrice Hergott, in einem von mir durchgeführten Interview im Oktober 2013 für das chinesische Kunstmagazin 99 Artweb (jiujiu yishuwang 99艺术网) zu zitieren – »new formal propositions« erfüllt. Ignoriert wird die moderne und zeitgenössische Tuschemalerei im westlichen Kontext nur dann nicht, wenn sie in Begriffen der europäischen Avantgarde gefasst werden kann, wenn sie also als ›abstrakt‹ oder als »new formal propositions« aufweisend kategorisiert werden kann, was sich auch daran zeigt, dass ein Künstler wie Liu Kuo-sung sowohl als moderner (und dann abstrakter), als auch als traditioneller (dann als chinesischer) Künstler eingeordnet wird. 16 James Elkins, Writing About Modernist Painting Outside Western Europe and North America, in Transcultural Studies 2010.1, S. 42-77. DOI: 10.11588/ts.2010.1.1928 17 Als ein Beispiel sei hier Moderne Kunst 1870-2000. Vom Impressionismus bis heute des Taschen-Verlags zu nennen, in dem mit ›moderne Kunst‹ ausschließlich und nicht weiter kommentiert die westliche Entwicklung beschrieben wird. Erst im Kontext des ›Post-Modernismus‹ wird mit Ai Weiwei ein ›nicht-westlicher‹ Künstler genannt. Hans Werner Holzwarth, Moderne Kunst 1870-2000. Vom Impressionismus bis heute, Köln 2011. 18 Im Anschluss an Michel Foucaults Arbeit zu den impliziten Ordnungen der Diskurse, seien an dieser Stelle die Postcolonial Studies und ihre Vorgänger genannt, die – wie der Gender-Diskurs – in ihrem Aufarbeiten der Normalitätsdiskurse und der Frage nach dem, was nicht weiter bezeichnet wird und dadurch implizit das Denken lenkt, eine wichtige Grundlage der Gedanken dieser Untersuchung darstellen. Besonders zu nennen sind Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken (Wien 2015), Orientalism von Edward Said (New York 1978), sowie Homi Bhabhas Die Verortung der Kultur (Tübingen 2000).

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liegt und eine Anlehnung an dieses Verständnis oder deren formale Gegebenheiten nötig ist, um Sichtbarkeit überhaupt erst zu erreichen. Man könnte einwenden, dass sich all dies auf den Diskurs um die moderne, jedoch nicht auf jenen um die seit 1989 entstehende, global-gleiche (und häufig mit der Kritik der Homogenisierung konfrontierten) zeitgenössische Kunst beziehe. Sich nicht auf jene Kunst beziehe, die seit der häufig als ›postkolonial‹ bezeichneten documenta 11 im Jahre 2002 entstand, denn allerspätestens zu diesem Zeitpunkt bekam die Ref lexion der Rolle des ausschließenden, westlich geprägten Kunstdiskurses einen festen Platz in der Diskussion um Kunst und die explizite Beschäftigung mit der Thematik der Sichtbarkeit und Bedeutung nicht-westlichen, zeitgenössischen Kunstschaffens im globalen Kontext. Die diskursive Beschäftigung mit Kunst, die nicht einem europäischen oder amerikanischen Hintergrund19 entspringt, hat also im Vergleich zum ehemals vollständigen Ignorieren zugenommen und sicherlich besteht im globalisierten Kunstdiskurs nicht mehr das Problem der völligen Ignoranz des künstlerisch Geschaffenen von Künstlern außerhalb der etablierten und zur Norm gewordenen Zentren. Von einer »hyper-visibility«20 nicht-westlicher Kunst im Kunstdiskurs der 2000er Jahre spricht gar Monica Juneja: Die Unsichtbarkeit kann heute – angesichts zahlreicher Ausstellungen, Kataloge, weltweiter Biennalen und ebenso weltweit agierender Kuratoren und Kunstkritiker – kaum mehr angenommen werden. Man könnte so Hans Beltings Sprechen von der ›Global Contemporary‹, der global gleichzeitigen und gleichen Zeitgenossenschaft, deren Intention es sei, das Zentrum-Peripherie-Schema der hegemonialen Moderne zu ersetzen,21 folgend feststellen: »Moderne Kunst besaß immer ein Merkmal der Unterscheidung. Der Verzicht auf den Begriff ›modern‹ soll Raum schaffen für eine nicht mehr moderne Kunst. Die moderne 19 Diese (problematische) Bemerkung (was bezeichnet dieser europäische oder amerikanische Hintergrund? Die Herkunft der Eltern des Kunstschaffenden, der Geburtsort des Kunstschaffenden oder der Entstehungsort des Kunstwerkes? Die Einstellung oder die Materialien, mit denen das Werk geschaffen wurde?) verweist auf eine Veränderung in der diskursiven Praxis im heutigen, globalisierten Kunstdiskurs: Interessanterweise scheint der betonende Verweis auf jene Herkunft eine relativ neue Praxis im Kunstdiskurs darzustellen. So wurde bspw. der Künstler Richard Lin/Lin Shou-yu in den 60er Jahren fast ausschließlich als britischer Künstler bezeichnet, wobei dies damals kaum eine Rolle spielte in der Bewertung seiner Arbeit. Heute ist es hingegen die Betonung seiner ›chinesischen Wurzeln‹, die die Art und Weise, wie über seine Kunst geschrieben wird, bestimmt. Als Richard Lin, als Minimal Artist, wurde er ausgestellt und als solcher auch von seiner Galerie vertreten. Heute schreibt jene Marlborough Galerie, dass sie schon in den 60er Jahren chinesische Kunst vertreten hätte, nämlich den Künstler Lin Shou-yu (vgl Marlborough Gallery, »About us«; www.marlboroughlondon.com/ about/, Stand: 17.10.2017). Hervorgehoben werden muss, dass die Erzählung in Taiwan diesem Muster folgt: In den 80er Jahren war Lin einer der führenden Vertreter der damals in Taiwan neuen Minimal Art und der Installationskunst und wurde als solcher gelesen. Heute – besonders ist die Ausstellung One is everything. Homage to the Master: 50 Years of Work by Richard Lin 一即一切. 向大師致敬系列: 林 壽宇50 年創作展, 2010 im Kaohsiung Museum of Art zu nennen – wird er auch in Taiwan als chinesischer/taiwanischer Künstler dargestellt, der zwar vom westlichen Modernismus beeinflusst wurde, aber hauptsächlich aus seinem traditionell chinesischen Wissen schöpft. 20 Monica Juneja: »Global Art History and the ›Burden of Representation‹«, in: Belting; Birken; Buddensieg, Global Studies: Mapping Contemporary Art and Culture, S. 274-297, S. 292. 21 Vgl. Hans Belting, »From World Art to Global Art. View on a New Panorama«, in: Belting; Buddensieg; Weibel, The Global Contemporary and the Rise of New Art Worlds, S. 178-185, S. 178.

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Geschichte hat die Welt getrennt, denn sie war nicht jedermanns Geschichte. So dient der Begriff ›zeitgenössisch‹ als Axiom, um alte Grenzen zu überschreiten.«22 Es ist also eine Ref lexion des westlich zentrierten Kunstverständnisses der Moderne, die Belting geschehen sieht: Möglichkeiten sieht er sich öffnen seit dem Beginn der Diskussion um die nicht-westliche Kunstpraxis, deren Beginn meist auf 1989 datiert wird,23 als im Centre Pompidou die für den weiteren Verlauf der Diskussion wegweisende Ausstellung Magiciens de la terre stattfand, die hier nun genauer betrachtet werden soll. Die Entscheidung des Kurators Jean-Hubert Martins, auf das Wort ›Kunst‹ (›art‹) im Titel der Ausstellung bewusst zu verzichten, da dieses das Schaffen der Gesellschaften, die das Konzept nicht kennen, unweigerlich markieren würde, und stattdessen von ›Magie‹ zu sprechen, die doch »gemeinhin den lebendigen und unerklärlichen Einf luss, den Kunst ausübt, kennzeichnet«24, zeigt, dass seine Vorstellung dessen, was Kunst im Innersten ausmacht, sehr klar auf einer »humanist, universalist conception of the act of artistic creation«25 beruht, obwohl er gerade die Arroganz des Westens in Bezug auf die Annahme, dass nur der Westen Kunst schaffe, zu hinterfragen sucht.26 Sein bewusster Einbezug nicht-westlicher religiöser Objekte und der – wie später bekannt und kritisiert wurde27 – häufigen Entscheidung der Aufnahme von Kunsthandwerkern anstatt sich als Künstler im westlichen Sinne sehende Schaffende in die Ausstellung (dies gilt nicht für die westlichen Werke und Künstler, die alle Künstler im Sinne des modernen Verständnisses sind und sich als solche bezeichnen) und die damit verbundene angebliche Ref lexion und Erweiterung des Verständnisses von Kunst, festigt die Idee des Nicht-Westlichen als des Anderen. Auch wird deutlich, dass nur jenes künstlerische Schaffen einen Platz haben kann in diesem neuen globalen Diskurs, das die Zuschreibung des positiv besetzten, »authentischen« (Martin) ›Andersseins‹ bedient und sich vom künstlerischen Schaffen der Region Europa und Amerika unterscheidet. Lucy Steed zitiert Gayatri Spivaks Kritik an der inhärenten Bedeutung der Bezeichnung von ›Künstlern‹ als ›Magier‹: »[…] when agents of the Third Worlds were 22 Belting, Was bitte heißt ›contemporary‹?, S. 56. 23 Die konstant wiederholte Referenz auf die – wenn auch weithin kritisiert, so doch wichtige – Ausstellung Magiciens de la terre macht es nötig zu betonen, dass der Diskurs über die Rolle der nicht-westlichen Kunst im globalisierten Kunstdiskurs in weiten Teilen aus der Ausstellungspraxis heraus entstand und weiter durch internationale Großausstellungen (wie Biennalen) entwickelt wurde. 2011/2012 definierte die von Hans Belting kuratierte Ausstellung The Global Contemporary. Art Worlds After 1989 im ZKM das Jahr 1989 als das Jahr, in dem das Globale im Kunstdiskurs aufkam. Obwohl ich also zustimme, dass die Ausstellung Magiciens de la terre ein definierendes Moment in der Rezeption und Wahrnehmung nicht-westlicher Kunst darstellt, so geht Belting doch erneut von einer Perspektive aus, die im Westen und in dessen Blick ihr unverrückbares Zentrum hat. So beginnt Beltings Erzählung in jenem Moment, in dem der Westen beginnt, sich dessen gewahr zu werden. 24 Jean-Hubert Martin, Préface, in: Ders. (Hg.), Magiciens de la terre, Paris 1989, S. 8-11, S. 9. 25 Pablo Fuente, »From the Outside In – ›Magiciens de la terre‹ and Two Histories of Exhibitions«, in: Lucy Steeds, Making Art Global (Part 2), S. 8-22, S. 11. 26 Martin, Préface, S. 8. 27 Vgl. Maureen Murphy, From Magiciens de la Terre to the Globalization of the Art World: Going Back to a Historic Exhibition, in: Critique d’art [Online], Nr. 41, Printemps/Eté 2013, Absatz 5; online verfügbar unter: http://critiquedart.revues.org/8308, Stand: 22.5.17.

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finally admitted into the First Worldʼs frame of reference, it was not as worldly subjects, as global artists, but as mediums tied to the ground, magicians of the earth.«28 Franziska Koch schreibt in Bezug auf die Auswahl chinesischer Künstler – die, im Gegensatz zu den meisten afrikanischen Schaffenden, sich selbst als Künstler im modernen Sinne verstanden und denen auch eine den europäischen Künstlern ähnliche Ausstellungspraxis gewährt wurde –, dass Martin deren avantgardistischem Anspruch nicht gerecht werde, »wenn er explizit den Begriff der ›Kunst‹ umgeht und durch ›Magie‹ ersetzt. Denn für nichts hatten diese Künstler in der Volksrepublik mehr gekämpft als für die breite und offizielle Anerkennung ihrer Arbeiten als neue wirkmächtige Kunstformen.«29 Magiciens de la terre, dieser erste umfassende Versuch des Verlassens des kolonialen Blickes (in expliziter Anlehnung an und Abgrenzung von der Ausstellung ›Primitivism‹ in 20th Century Art. Affinities of the Tribal and the Modern, 1984 im Museum of Modern Art in New York) im westlichen Kunstdiskurs, der sich als Korrektur und als (Selbst-) Kritik am modernen ›ver-andernden‹ kolonialen Blick versteht,30 reproduziert durch das Verständnis von Kunst als magisch und der reinen gefühlsgeleiteten Suche nach ›Aura‹ als Ausgangspunkt die Anforderungen der Moderne nach Individualität und Originalität an künstlerisches Schaffen und fügt die Anforderung des ›Anderssein‹ – der Repräsentation der Region, Kultur, Tradition – hinzu. Die schiere Menge an ausgestellten Werken und Künstlern, die von Martin in Reisen und Recherchen fast ausnahmslos selbst ausgesucht wurden, macht klar, dass Martin weitestgehend visuell vorgegangen sein muss und das aussuchte, was er erwartete, was in seine westlichen Kategorien passte. So sind die ausgestellten Werke weitestgehend formal-modern, gleichzeitig erfüllen sie auf verschiedenen Ebenen das ›Anderssein‹.31 Die humanistische Grundannahme der Ausstellung, Kunstschaffen sei zutiefst menschlich, die ein bestimmtes Bild des ›kreativen Menschen‹ mitträgt, zeigt sich also auf formalen Vorannahmen beruhend.32

28 Lucy Steeds, »›Magiciens de la terre‹ and the Development of Transnational Project-Based Curating«, in: Dies., Making Art Global (Part 2), S. 24-92, S. 39. 29 Koch, Die »chinesische Avantgarde«, S. 147. 30 Vgl. Benjamin Buchloh, Interview mit Jean-Hubert Martin, in: Third Text 6 (1989), S. 19-27, S. 20. 31 Das ›Andere‹ zeigt sich hier sehr klar als das erwartete Andere, als ein ›konkret Anderes‹. Damit sei auf Georg Simmels Exkurs über den Fremden verwiesen, in dem Simmel den Fremden als »Element der Gruppe selbst« vorstellt, der im Gegensatz zum völlig Fremden, Unbekannten steht, das in unserer Wahrnehmung überhaupt nicht existieren kann (Georg Simmel, »Exkurs über den Fremden«; in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin 1968, S. 509-512). 32 Das auf klaren Vorannahmen beruhende Kennzeichnen einer Gruppe als ›anders‹ (das Gayatri C. Spivak als ›othering‹ – Ver-anderung – bezeichnet) muss als Akt der Differenzierung und Selbstversicherung gesehen werden, das den als ›anders‹ Gekennzeichneten die Artikulation unmöglich macht. So hängt die Feststellung des ›Andersseins‹ eng mit dem ›Sprechen für‹ zusammen, wie es Spivak in ihrem wichtigen Text Can the subaltern speak? erarbeitete: In der wohlwollenden Anerkennung des ›Andersseins‹, des ›Eigenen‹, der ›Tradition‹ geschieht eine Vereinnahmung, die die hierarchischen Strukturen festigt. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008.

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Besonders die ›Authentizität‹ und damit verbunden das Vertreten von ›Tradition‹33, auf welche von den Künstlern zurückgegriffen werden soll, sind zentrale Punkte dieses Andersseins. ›Tradition‹ wird dabei zum Gegenüber von Moderne, zum essentiell dem Nicht-Westen zugehörig. Was Monica Juneja in Anlehnung an die Künstlerin Kobena Mercer als »burden of representation«34 bezeichnet, ist der Anspruch an das künstlerische Schaffen, eine ›Andersartigkeit‹ zu erfüllen. Eine Art ›magische‹ Weise des Kunstschaffens wird verlangt, die durch ›traditionelle‹ Elemente dieses ›Andere‹ erfüllt und den Künstler zur »spokespersons for a culture in its entirety«35 macht. Der künstlerische Ausdruck des ›Rests‹ (so Stuart Halls polemische Bezeichnung in seinem Text Der Westen und der Rest)36 wird in der Folge von Magiciens de la terre im Westen zwar endlich wahrgenommen, jedoch leiten auf der klassischen Moderne des Westens beruhende Paradigmen und die gleichzeitige implizite Idee der unbedingten ›Andersheit‹ und des Vertretens einer nicht näher bestimmten ›Tradition‹ diese Wahrnehmung, die dann erst die Möglichkeit der Inklusion bestimmter, passender Formen und deren Kanonisierung bestimmt. Auch wenn in der Folge von Magiciens de la terre in Ausstellungen, die die Inklusion der ehemaligen Peripherie suchen, das Ausstellen von Werken, die nicht von den Schaffenden – die sich selbst als Künstler im modernen Sinne sehen – als solche geschaffen wurden, kaum mehr zu finden ist, so werden doch die Paradigmen weitergeschrieben, die Jean-Hubert Martin in seiner wegweisenden Ausstellung als Zugangscode zum Kanon auf baute.37 Die Vorstellung, nun endlich den ›Anderen‹, dem ›Rest‹, einen gleichberechtigten Platz einzuräumen, das auszugraben, was unter einer Schicht der Verwestlichung noch da ist an ›authentischer Tradition‹38, war auch Grundlage der ersten taiwanische

33 Monica Juneja kritisierte auf der Tagung Universalität der Kunstgeschichte an der FU Berlin am 12.10.2010 James Elkins Aufruf, die Texte und Ansätze der nicht-westlichen Tradition zu nutzen, um Kunst zu interpretieren als unreflektiert, da Elkins völlig ausblende, was denn diese ›Traditionen‹ seien. Er blende aus, dass diese – das Beispiel des Bengalischen nennt er – kanalisiert wurden, eine moderne Re-Interpretation erfuhren und nicht jenes ›Ursprüngliche‹ darstellen, das Elkins imaginiert und dadurch kreiert. 34 Juneja, Global Art History and the ›Burden of Representation‹, S. 274. 35 Ebd., S. 247. 36 Stuart Hall, »Der Westen und der Rest: Diskurse und Macht«, in: Ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 137-180. 37 In diesem Kontext ist vor allem die schon zitierte ausführliche Studie zur Repräsentation chinesischer Kunst in westlichen Ausstellungen seit den 1980er Jahren von Franziska Koch zu nennen. Sie arbeitet den Vorgang der Kanonisierung und Diskursivierung der Kunst und des Sprechens über sie durch das Medium Ausstellung auf. Vgl. Franziska Koch, Die »chinesische Avantgarde«. 38 An dieser Stelle sei auf Hobsbawms »erfundene Traditionen« verwiesen: Die Suche nach einem Ursprünglichen, die hier vollzogen wird, geschieht aus dem Anspruch heraus, »to establish continuity with a suitable past.« (Hobsbawm/Ranger, The Invention of Tradition, S. 1). Tradition wird – als kategorisierbare Identitäten konstituierendes Konzept – von der Position einer Gegenwart aus erfunden. In diesem Zuge wird die Vorstellung einer Gemeinschaft, die durch eben jene Traditionen verbunden ist, geschaffen. Auch Shalini Randeria schreibt, dass »›traditional‹ ideas, values and institutions are not residual traces of a vanishing colonial past in postcolonial settings; they are constitutive features of modern life.« Shalini Randeria, »Entangled Histories of Uneven Modernities: Civil Society, Case Councils, and Legal Pluralism in Postcolonial India«, in: Heinz-Gerhard Haupt; Jürgen Kocka (Hg.), Comparative and Transnational History, New York 2009. S. 77-104, S. 100. Hierzu auch von Bedeutung

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Künstler im Ausland darstellenden Ausstellung Begegnung mit den Anderen, die den Untertitel »zeitgenössische Kunst in den nicht-europäischen Ländern« trug:39 »In der Tat ist aber die Kunst in diesen Ländern noch nicht verwestlicht, weil die Wurzeln ihrer Kultur und Zivilisation viel tiefer liegen, als man denkt«40, so schreibt Kurator Hamdi el Attar im Vorwort und stärkt hier die Vorstellung, dass das Moderne, nach dem, so el Attar, die junge Generation in Abwendung von Geschichte und Tradition ihres Landes strebe, zum Westen gehöre, während in der nicht näher definierten ›Tradition‹ die Wurzeln der nicht-europäischen Länder liege.41 Das schon im Titel genutzte ›die Anderen‹ erfuhr hier keinerlei kritische Ref lexion, sondern wurde positiv verwendet, im Sinne der ref lektierenden Beachtung der Vielfalt jenseits eines ethnologischen Blickes. Im Sinne der Frage also, »ob die europäische Kunstauffassung auf andere Kontinente überhaupt übertragbar ist«42, wodurch ›Europa‹ und seine Kunstauffassung zu einer regionalen Angelegenheit erklärt wird. Bezeichnend ist es, wenn der Einführungstext Hamdi el Attars mit der Beobachtung, »daß die Zivilisation seit ihrer Existenz ewig auf Erfahrungen der ›Anderen‹ aufgebaut und weiterentwickelt worden ist« endet und er mit folgender, sich doch nur um die zeitgenössische Situation des Westens drehenden Frage schließt: »Wie weit ist die westliche Kultur, und in welchem Stadium befindet sie sich heute?«43 In einem rebellischen Geiste (»spirit of rebellion«) geschehe dieser Versuch, den Kunstdiskurs zu öffnen, schreibt Dipesh Chakrabarty in Bezug auf die Ausstellung New Narratives: Contemporary Art from India, die 2007 in Chicago stattfand.44 Chakrabarty verweist in seinem Aufsatz Belatedness as possibility auf diese Ausstellung ›indischer zeitgenössischer Kunst‹, in deren Katalog die zeitgenössische Kunst in einem ähnlichen Geiste wie bei Belting als »truly contemporary« bezeichnet wird und als »of the world« – und damit für amerikanische Museen als global relevant definiert nun als sammelns- und ausstellungswert betrachtet wird.45 Er zeigt damit, wie die Kategorisind: Benedict Anderson, Imagined Communities, London/New York 2006 [überarb. Aufl.]; sowie das Kapitel DissemiNation in Homi Bhabhas Die Verortung der Kultur (S. 207-254). 39 In Nationen aufgeteilt, war auch Taiwan, als eigenständige Sektion neben der Volksrepublik China und Hongkong, mit sieben Künstlern vertreten: Jinn-Her HWANG [Huang Jinhe] 黃進河, Tien-Chang WU [Wu Tianzhang] 吳天章, Jen-Chang KUO [Guo Zhenchang] 郭振昌, Huai-Shuo HO [He Huaishuo] 何懷碩, Grace Yang-Tze TONG [Dong Yangzi] 董陽孜, Peng YU [Yu Peng] 于彭, Pang-Ling CHOU [Zhou Bangling] 周邦玲. Anmerkung: Die Umschrift der Namen folgt der des Katalogs, gefolgt von Hanyu Pinyin. Liu Kuo-sung, von dem ein wichtiger Text der 60er Jahre in der folgenden Analyse übersetzt und analysiert wird, war als Hongkonger Künstler vertreten, wo er damals lebte und lehrte. 40 Hamdi el Attar, »Vorwort«, in: Projektgruppe Stoffwechsel (Hg.), Begegnung mit den Anderen. Die zeitgenössische Kunst in den nicht-europäischen Ländern, Kassel 1992. S. 4-5 S. 4. 41 Vgl. Hamdi el Attar, »Begegnung mit den Anderen. Zeitgenössische Kunst in Afrika, Asien und Lateinamerika«, in: Projektgruppe Stoffwechsel, Begegnung mit den Anderen, S. 6-8, S. 8. 42 el Attar, »Vorwort«, in: Projektgruppe Stoffwechsel (Hg.), Begegnung mit den Anderen. Die zeitgenössische Kunst in den nicht-europäischen Ländern. Bildband/Katalog, Kassel 1992. S. 12. 43 el Attar, Begegnung mit den Anderen, S. 8. 44 Vgl. Dipesh Chakrabarty, »Belatedness as possibility. Subaltern histories, once again«, in: Elleke Boehmer; Rosinka Chandhuri (Hg.), The Indian Postcolonial. A critical Reader, New York, 2011, S. 163-176, S. 164. 45 Vgl. Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 163f.

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sierung als ›zeitgenössisch‹ als neue, die ›modernen‹ Anforderungen ersetzende Norm genutzt wird. Dieses ›truly contemporary‹ muss also formal festgestellt werden können. Dies kann aber, so scheint hier durch, erst gelingen, wenn von einer gemeinsamen Basis, dem Globalen, aus gearbeitet wird, indem ein ›Auf holen‹ (»catching up«) der indischen Kunst geschieht, ein Entkommen aus der ›Verspätung‹. Dass dieser im 19. Jahrhundert entstandene Topos die Diskussion der Kunstgeschichte noch immer weithin informiert, zeigt sich hier.46 So ist diese gemeinsame Definitionsbasis von einem Punkt aus definiert, der – so schreibt Chakrabarty in Bezug auf oben genannte Ausstellung – »is recognized in the West as ›contemporary‹«47. Der ›Westen‹ wird dabei erneut zum unsichtbaren Standard, der sich nicht an den eigenen Vorgaben messen muss und die moderne ›Neuheit‹ als wichtigstes Paradigma erhält und so einen Kanon des globalen Zeitgenössischen, das die hegemoniale ›Moderne‹ zugunsten des inklusiven ›contemporary‹ aufzugeben scheint, auf baut. Die Forderung des ›truly contemporary‹ wird so zur neuen, das ›Moderne‹ ersetzenden Messmarkierung der möglichen Inklusion ins Globale. Obgleich der Katalogtext anmerkt, dass heute ein »ethnographic mode of self-comparison«48 verlassen wurde, so dient doch die scheinbar unverzichtbare Kategorisierung ›Indisch‹ als das essentielle kulturelle Andersartigkeit bezeugende Narrativ, das nach wie vor explizit gesucht wird. So ist es diese Forderung eines im ›Zeitgenössischen‹ greif baren ›Ethnischen‹, die eine Form der Selbstexotisierung befeuert.49 Die zeitgenössische nicht-westliche Kunst wird beschrieben als ein Zusammenschluss, als postkoloniales Hybrid, das aus einer ›ureigenen‹ Tradition und der als rein westlich dargestellten Moderne schöpft. Die Beschreibung – vor dem Hintergrund der Annahme, dass zeitgenössisch-globales nicht-westliches künstlerisches Schaffen erst seit Ende der 1980er Jahre überhaupt besteht – versteht diese Einf lüsse als sich nun, im Zeitgenössischen, zu einem additiven Hybrid verbindend.50 46 Vgl. ebd., S. 165. Auch in der Ausstellung Begegnung mit den Anderen spielt der Topos des ›Noch-nicht‹ eine wichtige Rolle. 47 Ebd, S. 163. 48 Ebd. Könnte man gar sagen, dass in der Feststellung, dass endlich das Ethnografische verlassen wurde und ein ›echtes Zeitgenössisches‹ erreicht wurde, der Global Contemporary eine Minderwertigkeit im Vergleich zu einer Zeitgenossenschaft, wie Arthur Danto sie in Andy Warhols Brillo-Boxen oder Peter Osborne in der von ihm 2013 als ›postconceptual‹ definierten Gegenwartskunst findet, mitschwingt? Zeigt sich nicht in einer solchen Bemerkung, dass es zwei Definitionen des Zeitgenössischen gibt – das ›magisch-ethnografische‹ Globale seit 1989 und das in der ohne weitere Bezeichnungen auskommenden Kunstgeschichte seit den 1960er Jahren – wobei Letzteres das eigentliche, weil unbezeichnete ist, das den Maßstab für das ›truly contemporary‹ vorgibt? Und wird somit nicht auch deutlich, dass das ›Globale‹ ein Zusatz darstellt, der additiv zur Norm, dem westlichen Kunstdiskurs, gesetzt wird, wie dies auch in der Betrachtung der ›Global Art History‹ oder den ›Global Modernisms‹ deutlich wird, in denen Dürer oder Picasso höchstens als Vergleichsgrößen, als Referenzen auftauchen? 49 Von einer »ethical responsibility« spricht Monica Juneja, die aus der Sichtbarkeit gar entstehe. Vgl. Juneja, Global Art History and the ›Burden of Representation‹, S. 293. 50 Monica Juneja spricht in ihrem Text Circulations and Beyond – The Trajectories of Vision in Early Modern Eurasia den geradezu inflationären Gebrauch von Ausweichkonzepten in der Beschreibung außereuropäischer Kunst kritisch an (vgl. Monica Juneja: »Circulations and Beyond – The Trajectories of Vision in Early Modern Eurasia«, in: DaCosta Kaufmann; Dossin; Joyeux-Prunel, Circulations in the Global History of Art, S. 59-77, S. 60). Die Kritik des inflationären Gebrauches lässt sich auf die Beschreibung

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

Vor dem Hintergrund der Forderung des ›truly contemporary‹ wird so jene dem »spirit of rebellion« innewohnende Suche der Neubetrachtung von Kunst konterkariert und lässt anklingen, wie sehr die Mechanismen der Moderne, deren Regeln und Grundannahmen, auch die Möglichkeiten der zeitgenössischen Kunst leiten. Deren Diskurs führt also implizit die modernen Paradigmen mit, allen voran die Forderung nach unbedingter ›Neuheit‹. Dass diese in der Ref lexion geschehende Rezentrierung51 des eurozentrischen Kunstverständnisses keinesfalls nur auf die Anfänge der Globalisierung des Kunstdiskurses Ende der 1980er Jahre beschränkt ist, macht vor allem der Zeitpunkt, zu dem Chakrabarty seine Kritik verfasst, deutlich. Wie sehr die Bezeichnung ›moderne Kunst‹ die zeitgenössische Kunst einschließt und so eine Genealogie zumindest doch unterschwellig vorhanden ist, wird auch auf institutioneller Ebene deutlich, schaut man sich beispielsweise die Bezeichnung von Kunstmuseen an, die, als ›Museum für Moderne Kunst‹ bezeichnet, selbstverständlich ebenso zeitgenössische Kunst zeigen, an die somit ähnliche Forderungen des Schaffens eines Neuen gestellt wird.52 Und auch wenn der Begriff Zeitgenossenschaft schon längst von verschiedenen Kunstkritikern und -historikern mit der Kunst seit Ende der 1980er Jahre in Zusammenhang gebracht wird und damit als eine Art Epochenbezeichnung dient, die getrennt von der ›trennenden und hegemonialen Moderne‹ zeitlich und ideengeschichtlich mit der Globalisierung einhergeht (und damit rückblickend auch die sogenannte Postmoderne einschließt), so bleibt doch die konzeptionelle und gedankliche Verbundenheit mit dem Konzept der (westlichen) Moderne und Avantgarde bestehen.53 des zeitgenössischen Diskurses übertragen: ›Entangled Modernity‹, ›Multi-centered modernities‹, ›Hybridität‹, ›Kreolisierung‹, ›Transkulturalität‹, oder ›Dritter Raum‹ sind nur einige Termini, die in der Beschreibung zeitgenössischer und moderner nicht-westlicher Kunst verwendet werden. Besonders seit der oft als ›postkolonial‹ bezeichneten documenta 11 unter Okwui Enwezor ist der Bezug auf postkolonial inspirierte Bezeichnungweisen zu finden. Dass dies häufig auch recht oberflächlich geschieht zeigt die schiere Anzahl der Ausweichbegriffe und der diese nutzenden Texte und Konzepte. Ein Ausdruck des übermäßigen Gebrauchs und Anzeichen, dass die postkolonialen Theorien nicht unbedingt ein Allheilmittel in der Reflexion der nicht-westlichen Kunst sind, ist der Titel der Guangzhou Triennale 2008: Farewell to Post-colonialism. 51 Zur De- und Rezentrierung des europäischen Kunstdiskurses, siehe auch: Oliver Marchart, Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Köln 2008. 52 Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, MMK Frankfurt, MUDAM Luxemburg, Musée d’art moderne de la ville Paris, das MOMA New York – all diese Museen, die die Moderne schon im Titel tragen, zeigen auch zeitgenössische Kunst. 53 Alexander Alberro stellt beispielsweise fest: »New forms of art and spectatorship have crystallized in the past two decades. These new forms have come to be discursively constructed as ›the contemporary‹. There is no question that they owe a great deal to their modernist forbearers, and that there is much that carries over into the present. However, since the late 1980s these new modes have outstripped their debt to the past, and the hegemony of the contemporary now must be recognized.« (Alexander Alberro in October 130 (Herbst 2009), S. 55, hier zitiert nach Richard Meyer, What was Contemporary Art?, Massachusetts 2013, S. 14). Obgleich das Zeitgenössische hier von der Moderne abgegrenzt wird, ist es bezeichnend, dass die Frage nach der Zeitgenossenschaft nicht ohne den Hinweis auf die Moderne auskommt. Es lohnt hier auch einen Blick auf die Überlegungen der Soziologie zu werfen, in denen vor allem Ulrich Beck, Zygmunt Bauman und Anthony Giddens (auch mit Blick auf die globale Situation) die Meinung vertreten, dass sich die Moderne im Zeitgenössischen fortsetzt, das dann eher den Charakter

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Moderne und Zeitgenossenschaft54 können im Verständnis von Kunst also kaum als voneinander getrennt gesehen werden. Die Frage stellt sich, inwiefern die Einführung eines neuen Begriffes oder Konzeptes – des Zeitgenössischen – eine wirkliche Ref lexion des impliziten Kunstverständnisses im Globalen mit sich bringt. Vielmehr scheint es, als sei die Deklarierung als ›zeitgenössisch‹ ein Versuch, die westliche Legitimation zu retten, denn die ihren Ursprung historisch im Westen habende, ausschließende Moderne als universal zu begreifen, kann vor dem Hintergrund der Ref lexion der Moderne und der erklärten Inklusion des vormals Peripheren kaum mehr als legitim gesehen werden und sie wird somit – mit ›westlich‹ gleichgesetzt – ausgeschlossen aus dem sich egalitär gebenden globalen Diskurs der zeitgenössischen globalen Kunst. In der Abgrenzung gegenüber der in ihren Ausschließungs-mechanismen als hegemonial gekennzeichneten ›Moderne‹ im ›Zeitgenössischen‹ scheint daher eine Möglichkeit zu liegen. Folglich ist ›moderne Kunst‹ als ein Konzept zu sehen, das zunächst nicht frei vom Kontext des ›Westlichen‹ wahrgenommen werden kann. Es soll hier die These unterstützt werden, dass die ›Moderne‹ in der Kunst noch lange nicht als maßgebendes Konzept ausgedient hat – trotz oder gerade aufgrund der Kritik an ihr.55 Die Ideen des Modernismus und der Moderne in der Kunst und folglich auch deren Ausschließungsmechanismen sind allgegenwärtig und machen vor der zeitgenössischen Kunst nicht halt. Die Kunst scheint also – um Arthur C. Dantos Anlehnung an Whitehead hier zu bemühen – weiter definiert als »Fußnote zu Platon«56 und damit klar in einer

der Spätmoderne, einer zweiten Moderne bekommt. Die Moderne wurde demnach – trotz der geschehenen massiven Veränderungen – nie wirklich verlassen und das Zeitgenössische oder Postmoderne kann daher nicht als neue Ära einer Postmoderne bezeichnet werden. Vgl. bspw. Ulrich Beck; Edgar Grande (Hg.), Special Issue: Varieties of second modernity: extra-European and European experiences and perspectives, in: British Journal of Sociology, 2010, 61(3); Ulrich Beck; Anthony Giddens; Scott Lash, Reflexive Modernisierung – Eine Kontroverse, Frankfurt a.M. 1996. 54 Dass ›zeitgenössisch‹ in der Kunst nicht immer die Bedeutung des Neuen, Avantgardistischen hatte, zeigt Richard Meyer in What was Contemporary Art? (S. 15ff.). Vielmehr stand ›zeitgenössisch‹ im Kontrast zu ›modern‹, was ein Werk bezeichnete, das »original, progressive, and forward-looking« war und das »was not so much of its time as ahead of it.« ›Zeitgenössisch‹ hingegen »described a neutral condition of temporal coexistence between two or more entities.« (S. 16) 55 Es scheint auch nicht übertrieben zu behaupten, dass eine große Zahl zeitgenössischer, international erfolgreicher europäischer Künstler ihre Arbeit in Anschluss an die Moderne sehen und schaffen – erfolgreiche Beispiele im deutschen Kontext sind Thomas Schütte oder Anselm Reyle. (Als Dolmetscherin für Reyle in Taipei im Juni 2012 konnte ich erleben, wie sehr er die klassische Moderne als Grundlage seiner Kunst als Selbstverständlichkeit versteht und davon ausgeht, dass die Bezüge universell lesbar und klar sind. Als die taiwanischen Journalisten ihm nicht folgen konnten, fiel es ihm extrem schwer, die unhinterfragte Grundlage – also die Bedeutung der klassischen Moderne – zu erklären.) 56 In diesem Zusammenhang ist die Anmerkung Arthur C. Dantos in Anbetracht der ›Bett‹- Arbeiten von Robert Rauschenberg und Claes Oldenburg, ob denn die Kunst »eine Reihe von Fußnoten zu Platon« sei, von großer Bedeutung, zeigt sie doch, dass der platonische Gedanke der Kunst als reine Nachahmung die moderne und postmoderne Diskussion um Kunst nach wie vor – und sei es in expliziter Abwendung – bestimmt (ein Blick auf Tracey Emins Arbeit My Bed genügt, um die Bedeutung auch nach Dantos Schrift zu zeigen): »Man kann die gesamte Geschichte der späteren Kunst als Antwort auf diese dreifache Anklage [die Anklage Platons, Anm. d. Verf.] lesen und sich vorstellen, daß die Künstler sich um eine Art ontologischer Beförderung bemühten, die natürlich bedeutet, die Distanz zwischen

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westlichen Tradition zu stehen, nach wie vor auf deren gedanklichem Fundament zu stehen und aufzubauen. Vor diesem Hintergrund ist Hans Beltings Feststellung, dass nun weltweit eine Kunst mit dem Anspruch auf globale Zeitgenossenschaft ohne Grenzen und ohne Geschichte entstehe, die nicht mehr synonym mit moderner Kunst sei und »clearly differs from modernity whose self-appointed universalism was based on a hegemonial notion of art«57, kritisch zu betrachten. Synonym mag sie vielleicht nicht sein, doch ist die proklamierte Geschichtslosigkeit und die damit einhergehende Unabhängigkeit dieser ›Global Contemporary‹ von der Moderne und deren hegemonialer Konzepte – die Belting gar als »the sudden and worldwide production of art that did not exist or did not garner attention until the late 1980s« beschreibt58 – eine Illusion, die die Probleme, die der Umgang mit dem Konzept der Moderne für Kunstschaffende außerhalb der zur Norm erhobenen Zentren des modernen Kunstschaffens hervorbringt, ignoriert und gar negiert.

1.2 Betrachtung der Bezeichnung ›Moderne‹ in der zeitgenössischen Kunstszene Taiwans Es ist unter diesen Voraussetzungen zu fragen, wie die Frage, was die Moderne in der Kunst sei, zu beantworten ist, wird sie heute von Taiwan aus gestellt. Auf welche Art und Weise prägt das Konzept ›Moderne‹ das Kunstverständnis Taiwans und wie wird ›Kunst‹ verhandelt? Was muss beachtet werden, was von Europa aus nicht in den Blick tritt? »Der Ausdruck Moderne Kunst hat sich aus der westlichen Kunstgeschichte entwickelt. Manchmal wird sie vom Impressionismus beginnend beschrieben, das wird dann als unumstößlicher wissenschaftlicher Fakt dargestellt. Manche Menschen meinen auch, dass die wirklich moderne Kunst vom Dadaismus ausgehend beginnt, denn die Kunst nach Dada – egal ob es sich um Text, Musik oder Malerei handelt – fügt der Kunst eine gedankliche Ebene außerhalb der Form hinzu, so dass die ursprünglichen Regeln sich sehr veränderten und keine Spuren hinterließen.« 59 Angesichts dieser (aus einem Text zur Kunst Taiwans stammenden) oder ähnlicher Definitionen im taiwanischen Kontext ist zunächst naheliegend anzunehmen, dass ›moderne Kunst‹ ähnlich wie oben beschrieben definiert wird und die Notwendigkeit nicht bestehe, die Frage zu stellen, was ›Moderne Kunst‹ von Taiwan aus gesehen sei. Auch die Struktur der künstlerischen, kunsttheoretischen, kunsthistorischen und Kunst und Realität zu überwinden und in der Skala des Seins eine Stufe höher zu kommen.« (Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt a.M. 1991, S. 33.) 57 Hans Belting, »Contemporary Art as Global Art: A Critical Estimate«, in: ifa – Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.), fragrance of dif ference. Räume der Kunst und der kulturellen Diversität, Stuttgart 2009, S. 89-120, S. 91. 58 Belting, From World Art to Global Art, S. 178. 59 Huang Guangnan 黃光男, »Taiwan xiandaimeishu de guoqu, xianzai yu weilai« 台灣現代美術的過 去, 現在與未來 [Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der modernen Kunst Taiwans], in: Taipei Fine Arts Museum (Hg.), Taiwan diqu xiandai meishu de fazhan 台灣地區現代美術的發展 [Die Entwicklung der modernen Kunst in der Region Taiwan], Taipei 1990, S. 270-279, S. 270.

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philosophisch-ästhetischen Ausbildung in Taiwan, deren Grundstrukturen während der japanischen Kolonialzeit gelegt wurden und die vor allem aber in den 1980er Jahren ausgebaut und die heutige, internationalen Standards gleichende Form bekam, orientiert sich weitestgehend an europäischen und nordamerikanischen institutionellen Vorbildern. So weisen Universitäten und Akademien, Museen, Galerien und Ausstellungsformate ähnliche (nur tendenziell konservativere) Strukturen auf wie in Europa und Nordamerika. Insbesondere im Bereich der Kunstgeschichte, die Disziplin, die maßgebend ist für die Beantwortung der Frage, was die Moderne in der Kunst denn sei, wird größtenteils sehr klassisch und konservativ die abendländische Kunstgeschichte gelehrt. Moderne müsste demnach ähnlich verstanden werden und unter ähnlichen Voraussetzungen definiert werden. Doch müsste die Antwort, die von Taiwan aus auf die Frage, was die Moderne sei, gegeben wird, nicht die Problematik der ausschließenden Moderne behandeln, also auf die Moderne der Kunst Taiwans eingehen und ihr einen Platz einräumen? Die – betrachtet man die Größe der taiwanischen Kunstszene – erstaunliche Menge an Kunstgeschichten und umfassenden Buchreihen zur Kunst Taiwans, die im taiwanischen Kontext publiziert werden, scheint Ausdruck der Auseinandersetzung mit der Frage der ausschließenden Moderne zu sein. Diese beschreiben größtenteils eine moderne taiwanische Kunstgeschichte, die von Ereignissen und Künstlernamen erzählt und die dann im Gegensatz oder ergänzend zur westlichen Kunstgeschichte mit dem Zusatz ›Taiwan‹ präsentiert werden.60 Wie denn in der Lehre der Kunstgeschichte einige wenige Kurse in ostasiatischer oder taiwanischer Kunstgeschichte die ›eigentliche‹, die nicht-bezeichnete Norm der Kunstgeschichte ›vervollständigen‹, so ist auch im Schreiben über Kunst das Taiwanische das, was als Ergänzung geführt wird und gleichzeitig die Funktion, etwas nicht näher definiertes Eigenes zu repräsentieren, zugeschrieben bekommt, dessen Einteilung meist recht strikt dem aus dem abendländischen Kontext bekannten Vokabular und Schemata folgt.61 Wird ›Moderne‹ – und folglich auch das, was ›moderne Kunst‹ sein kann – zunächst per se auf Europa bezogen, und erst in 60 Es existiert in Taiwan eine für die Größe der taiwanischen Kunstszene erstaunlich große Anzahl an Publikationen zur Kunst Taiwans, die einzelne Künstler, Stile und die taiwanische Kunstgeschichte präsentieren. Neben den bereits erwähnten Kunstgeschichten von Hsiao Chong-ray (Taiwan meishu shigang 台灣美術史綱 [A History of Fine Arts in Taiwan]; Zhanhou Taiwan meishushi 戰後台灣美術史 1945-2012 [History of fine art in postwar Taiwan]) und Hsieh Lifa (Riju shidai taiwan meishu yundongshi 日據時代臺灣美術運動史 [Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung]) sind vor allem das 24 Bände umfassende Handbuch der modernen Kunst Taiwans (Artist Verlag (Hg.), Taiwan xiandai meishu daxi 台灣現代美術大系, Taipei 2004) sowie das ebenfalls 24 Bände umfassende Handbuch zur zeitgenössischen Kunst Taiwans (Artist Verlag (Hg.), Taiwan dangdai meishu daxi, 台灣當代美術大系, Taipei 2003) zu erwähnen. Dass all diese Publikationen komplett auf Chinesisch erscheinen, muss erwähnt werden, da hierdurch deutlich wird, dass sie für eine taiwanische Leserschaft gedacht sind und nicht im globalen Kontext erscheinen. 61 Die Publikation, die dies wohl am eindeutigsten darstellt, ist das auch in Taiwan harscher Kritik unterzogene Taiwan Contemporary Art 1980-2000 (Taiwan dangdaiyishu 1980-2000 台灣當代藝術 1980-2000), herausgegeben von Hsieh Tung-Shan 謝東山 (Taipei, 2002). Hier werden Künstler und Werke strikt Kategorien wie Neo-Expressionismus, Realismus, Neo-Dadaismus, Arte Povera oder Neo-Klassizismus zugeordnet und im Eingangstext jedoch das spezifisch Taiwanische betont. Es ist bezeichnend, dass diese Publikation zweisprachig (englisch-chinesisch) ist und sich also auch als an ein nicht-chinesischsprachiges Publikum gerichtet versteht, dem das explizit Taiwanische damit nähergebracht werden soll.

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einem zweiten Schritt über eine alternative Beschreibung von Moderne nachgedacht, die dann nach dem gleichen Muster funktioniert, jedoch gleichzeitig auch als von der als klar westlich wahrgenommenen Moderne recht strikt getrennt dargestellt wird? Wird in Mustern eines ›Besseren‹ und ›Schlechteren‹ vorgestellt, wie die Bemerkung des Kunstkritikers Liao Hsin-tiens, dass »die Geschichte/Erzählung Taiwans visueller Kunst (shijue yishu), auch wenn es so ›aussieht‹ als sei sie nicht so umgreifend, tief und reich wie die Erzählung der Kunst des Westens, trotzdem viele Bereiche hat, die es lohnen, schriftlich aufgearbeitet zu werden«62 impliziert?63 Ein solches Bild von einem ›anderen‹ Taiwan findet sich im zeitgenössischen, global ausgerichteten Kunstdiskurs Taiwans, in dem häufig die Sprache von verschiedenen Quellen als Ursprung der modernen und zeitgenössischen Kunst Taiwans ist. So spricht Liao Hsin-tien von mindestens fünf verschiedenen Quellen, aus denen die taiwanische künstlerische Identität zusammengesetzt sei, nämlich die traditionelle chinesische Kultur, das japanische koloniale Erbe, die ursprüngliche Kultur Taiwans, der westliche Kapitalismus und die Globalisierung.64 Diese oder ähnlich bezeichnete Einf lüsse – David Teh-yu Wang 王德育 spricht von der »festlandchinesischen traditionellen Kultur, der japanisch-ostasiatischen Kultur und der amerikanischen als Hauptvertreter der westlichen Zivilisation«65 – werden im Kunstdiskurs Taiwans als Taiwans kultureller Hintergrund bezeichnet. Nicht »Reinheit« sondern »Hybridität« sieht Liao Hsin-Tien als Ursprung der Kunst Taiwans, jenes Bewusstsein und Wissen, das im Zuge der Debatte um das ›Taiwan-Bewusstsein‹ zu Beginn der 1990er Jahre entstand, forme das künstlerische Schaffen seit damals.66 Wie weit diese Vorstellung einer aus verschiedenen Einf lüssen zusammengesetzten Kunst Taiwans seither verbreitet und fortgetragen wurde, zeigen nicht nur die in den 2000er Jahren veröffentlichen Texte David Tehyu Wangs und vor allem Liao Hsin-tiens, sondern besonders Ausstellungen wie Time Games: Contemporary Appropriations of the Past67, die 2012 im Taipei Fine Arts Museum gezeigt wurde und eben ein Bild der Kunst Taiwans zeigte, die als eine Verbindung der von Liao Hsin-Tien und David Teh-yu Wang genannten Komponenten gesehen wer62 Liao Hsin-Tien, Yishu de zhangli 藝術的張力 [Die Kraft der Kunst], Taipei 2010, S. 25. 63 Ist die Moderne das unbedingt westliche, den Rang des Ersten einnehmende, das beispielsweise Hee-young Kim in der Nicht-Bezeichnung bezeichnet, wenn sie ihren Text »Informel in Korea: A Postcolonial Justification« mit den Worten »come as a belated form of modern art […]« in Bezug auf die koreanische Kunst beginnt? Vgl. Hee-young Kim, Informel in Korea: A Postcolonial Justification, Vortrag auf der Tagung 2012 DELTA: The Living Gesture in Asia II, November 2012, Tainan, Taiwan, hier zitiert nach gleichnamigem Text, von der Autorin zur Verfügung gestellt. 64 Vgl. Liao Hsin-tien, »Chuncui/hunza. Jinxiang qingqie: taiwan jinxiandai shijueyishu fazhanzhong bentu yishi de sanzhong mianmao« 純粹/混雜. 近鄉情怯:台灣近現代視覺藝術發展中本土意識的 三種面貌 [Pureness/Hybridity. Hesitating to Approach the Homeland: Three Facets of Native Consciousness in the Development of the Modern Taiwan Visual Art], in: Ders, Taiwan yishu silun. Manhuang/wenming ziran/wenhua rentong/chayi chuncui/hunza 台灣藝術四論. 蠻荒/文明 自然/文化 認同/ 差異 純粹/混雜 [Four Theses on Taiwanese Art: Barbarianism/Civilisation Nature/Culture Recognition/Difference Pureness/Hybridity], Taipei 2008, S. 123-156, S. 150f. 65 Vgl. David Teh-yu Wang, Taiwan yishu xiandai fengge yu wenhua chuancheng de duihua 台灣藝術現代風 格與文化傳承的對話 [Dialogue between Modernism and Cultural Heritage in Taiwanese Art], Taipei 2004, S. 5. 66 Liao Hsin-tien, Chuncui/hunza, S. 150. 67 Chinesischer Originaltitel: Taiwan dangdai. wangu yujin 臺灣當代. 玩古喻今.

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den muss: Seien es Chen Chun-Haos 陳浚豪 mit kleinen silbernen Nägeln auf weißen Platten geschaffene oder Yao Jui-chungs mit Kugelschreiber gemalte Aneignungen klassischer chinesischer Malerei, die – im Einklang mit dem Ausstellungstitel – als Spielereien mit einer maskenhaften Symbolik gesehen werden müssen. Oder Wu Tianchangs seit den 1990ern immer aufs Neue wiederholten Deklinationen der Bildsprache der frühen Moderne Taiwans zur japanischen Besatzungszeit – Kunstwerke, die damit als Hybrid aus dem japanischen und westlichen Einf luss dargestellt wird. Auch jene Kunst, die im vom Taipei Fine Arts Museum kuratierten Taiwan-Pavillon auf der Venedig-Biennale ausgestellt wird, zeigt (meist) ein Bild Taiwans, das dieses Bild eines heutigen Taiwans zwischen den additiv verstandenen Einf lüssen bestätigt.68 Die Taiwan Biennale, die im Gegensatz zur Taipei Biennale nur die aktuelle Kunst Taiwans der jeweils vergangenen zwei Jahre zeigt, macht im Vergleich mit der Ausstellungspolitik auf der Venedig-Biennale deutlich, dass sich Innen- und Außendarstellung Taiwans kaum unterscheiden.69 So sind es nicht nur die Schaffenden, deren Arbeiten die Erwartungen einer Taiwan-Kunst erfüllen, sondern auch Kritiker, Wissenschaftler und vor allem Kuratoren und ausstellende Institutionen folgen jenem Bild, nach dem Taiwan das diffus bleibende ›Andere‹ des Westens ist. Es bleibt zu fragen, ob eine solche Haltung, die ein ›Gegen‹ impliziert, nicht hochgradig kontraproduktiv ist: Können unter solchen Voraussetzungen Fragen der Bedeutung der globalen Asymmetrie überhaupt noch gestellt, geschweige denn, bearbeitet werden?70 In China – und ich sehe diese Feststellung Yolaine Escandes auch für Taiwan relevant – deckt sich das Verständnis von Moderne und Westen insbesondere vom heutigen Blickwinkel aus gesehen weitestgehend:

68 Die Kunstkritikerin und Kuratorin Lu Peiyi 呂佩怡 vertritt in ihrer Masterarbeit An exploration of ›Local/ Global‹ in the Post-ʼ90s Curatorial Strategies of the Taipei Fine Arts Museum die These, dass der Taiwan-Pavillon in Venedig als Export und also als Außendarstellung zu sehen ist. Lin Chi-ming 林志明 fügt hinzu, dass diese These zwar logisch nachzuvollziehen wäre, jedoch vergisst, dass der Taiwan-Pavillon nicht nur ein Statement an die internationale Kunstszene sei, sondern auch die Kunstszene und den Blick auf Kunst innerhalb Taiwans beeinflusse. Vgl. Lin Chi-ming, »Reading the ›Taiwan Pavilion‹ at the Venice Biennale« in: Chen Wen-ling, Taiwan Pavilion at the Venice Biennale, S. 78-90, S. 83; sowie Lu Peiyi, Hou 90 niandai taibei shili meishuguan guoji cezhan de ›bentu/guoji‹ celüe tantao 後90年代台北市立 美術館國際策展的‘本土/國際‹ 策略探討 [An exploration of ›Local/Global‹ in the Post-ʼ90s Curatorial Strategies of the Taipei Fine Arts Museum], Tainan: Tainan National University of the Arts, Graduate Institute of Museology, 2001. Nach Anmeldung online verfügbar unter: http://hdl.handle.net/11296/ ndltd/84785314338571793794, Stand 10.9.17. Aufgrund des komplizierten politischen Statusʼ Taiwans ist der Taiwan-Pavillon offiziell kein Länderpavillon, sondern ein Parallel-Event. 69 Siehe auch V.2.3. 70 Ansätze, die ›den Westen‹ wie ›den Osten‹ als Entitäten sehen, die unterschiedliche, jeweils ›bessere‹ Modernen entwickelten, gibt es zuhauf. Auch wenn die Kritik an diesem Entitätendenken – sowohl in Europa, als auch in Ostasien – unbedingt nötig ist, so ist die Ausführung der Problematik der Hierarchisierung und des Wettbewerbs nicht sehr hilfreich in der Diskussion der Globalisierung der Kunst. Um zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung zu gelangen, müssen reflektiert-kritische Ansätze diskutiert werden.

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»Soulignons d’abord que, vus de la Chine et plus particulièrement de nos jours, modernité (xiandai) et Occident (xifang) se recouvrent largement, pour la simple raison que l’histoire les a associés dans l’expérience chinoise. Cette conjonction demeure essentielle.« 71 Hier findet sich ein Hinweis darauf, dass die Bezeichnung ›modern‹ also mit der historischen Erfahrung der Modernisierung um 1900 eng verknüpft ist, die in der Diskussion um die Moderne und das, was modern sein kann und was darunter verstanden wird, unweigerlich mitgedacht wird. Dass dies insbesondere heute so sei, betont Escande in ihrer zunächst nicht wertenden Feststellung, und verweist so darauf, dass diese Erfahrung nicht als historisch abgeschlossen gesehen werden kann und sollte, sondern auch eine ideologisierte und unklare Erfahrungsperspektive bezeichnet und die ›Moderne‹ damit immer eine gefühlte Nähe zum Westlichen als normative Größe einnimmt.72 Ähnlich stellt auch Ryōsuke Ōhashi fest, dass die Moderne wesentlich europäisch sei »und die Moderne in den nicht-europäischen Ländern im Grunde eine Übersetzung der europäischen Moderne.«73 So ist es ein Hinübertragen und Neuverpf lanzen, das die Bewegung der kulturellen Übersetzung prägt. Dabei handelt es sich um einen aktiven Aneignungsprozess – denn sind es nicht erst die Gebrauchsweisen von Dingen wie von Worten, die etwas zu dem machen, als das wir sie wahrnehmen? Die Idee der Moderne als Über-Setzung unterläuft das Sprechen von der außereuropäischen Moderne als ›Kopie‹ oder ›Import‹ und es unterstreicht, dass Moderne schon historisch gesehen Teil von Taiwan ist. Es verweist jedoch darauf, dass die europäische Moderne ihren konstruierten, aber wirkungsmächtigen Status als Norm, als ›Master Narrativ‹ (so Homi Bhabha) behauptet und eine Selbstkategorisierung als Zweites dem Nachdenken über die Moderne in Taiwan inhärent ist. Die unbedingte Auseinandersetzung mit der Über-Setzung der Moderne als Europäisches resultiert in einer Identitätskrise und so »steht die Identität vor allem der nicht-europäischen Länder immer in Frage.«74 Das Sprechen von der ›modernen Kunst‹ bewegt sich also immer in dieser paradoxen und teils widersprüchlichen Situation zwischen der Möglichkeit und dem Zwang der Auseinandersetzung. Moderne Kunst ist, so meine These, die es im Zuge der Analyse zu belegen gilt, im taiwanischen Kontext also einer doppelten Wahrnehmung ausgesetzt, bezeichnet zwei zutiefst miteinander verbundene Diskussionen, bezeichnet Last und Chance: die Moderne als ein Stil, als eine bestimmte Art, künstlerisch zu arbeiten und zu denken, in der sich Möglichkeiten (auch im Bereich der Identitätssuche) eröffnen, aber eben auch Moderne als westlich konnotiert, als das, gegenüber dem man sich immer positionieren muss.75 Innerhalb 71 Yolaine Escande, LʼArt en Chine. La résonnance intérieure, Paris 2001, S. 271. 72 So sei hier erneut hervorgehoben, dass ein normativer und ein deskriptiver Modernebegriff hier sehr stark ineinanderfließen und sich kaum trennen lassen. 73 Ōhashi, Übersetzung als Problem der japanischen Moderne, S. 129. 74 Ebd., S. 137. 75 Arjun Appadurai beschreibt diese doppelte und widersprüchliche Bedeutung von ›Moderne‹ in Modernity at large als »modernity as embodied sensation« und »modernity as theory«. Einerseits ist da die begeisterte Aufnahme des Kosmopolitischen im Indien seiner Jugend, das er als eine Moderne beschreibt, die »synaesthetic and largely pretheoretical« verlief. »I saw and smelled modernity« schreibt

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dieser Wahrnehmung ist es nicht per se als Widerspruch zu sehen, wenn in Taiwan einerseits westliche Kunstgeschichte als Kunstgeschichte ›an sich‹ gelehrt wird und andererseits die Sprache von der ›eigenen‹ Moderne (orientiert an westlichen Kategorien) ist. Anstatt also die geschehende fragwürdige Selbstbeschreibung und -zuschreibung zu kritisieren scheint es ergiebiger, zu bemerken, dass es sich hierbei um Identitätsbemühungen handelt, die als Teil der Probleme, die mit der Moderne als Über-Setzung des Westlichen zusammenhängen, zu sehen sind. Kulturelle Übersetzung bedeutet hier also – auch wenn von einer taiwanischen Moderne und damit also grundsätzlich nicht von der Moderne als Kollektivsingular ausgegangen wird – immer auch Asymmetrie angesichts der wahrgenommenen Identität des Zweiten, die sich im zeitgenössischen, mit der Globalisierung konfrontierten Kunstdiskurs fortsetzt. Wenn also der Künstler Kao Jun-honn, wie zu Beginn dieser Untersuchung beschrieben, darauf beharrt, nicht als Performance-Künstler bezeichnet zu werden, da ›Performance-Kunst‹ eine der Moderne der Kunst des Westens zugehörige Kunstform sei und er sich nicht in dieser stilistischen und genealogischen Folge sehe, so zeigt sich, dass die kritisch zu betrachtenden Identitätsbemühungen Hand in Hand gehen mit der ref lektierenden und unermüdlichen Bearbeitung der Frage, wie mit der Moderne als immer dem Westen zugehörig und gleichzeitig als nicht zu trennender Teil Taiwans umgegangen werden kann. Ein solches ständiges Abarbeiten, ein Ringen mit der Problematik findet sich auch in der Diskussion eines ›Minderwertigkeitsgefühls‹ (zibeigan 自卑感) von dem neben Kao Jun-honn auch Huang Chien-hong 黃建宏 spricht oder in der Diskussion einer mentalen Kolonisierung durch Chen Kuan-Hsing 陳光興 und Wang Molin 王墨林:76 Es ist ein Hangeln zwischen vielen Fragen wie der, wie eine taiwanische Moderne betrachtet werden kann, ohne essentiell zu werden. Es ist die implizite Frage Kao Jun-honns, ob man die Bezeichnung ›Performance-Kunst‹ nutzen kann, darf und sollte, um einen künstlerischen Ausdruck zu beschreiben, dessen formale Ähnlichkeit es möglich macht, die moderne und zeitgenössische Kunst weltweit mit denselben Begriffen und Konzepten zu beschreiben. Oder rückt man diesen dann unweigerlich in die Nähe der Performance-Kunst, die in der westlichen Kunstgeschichte Einlass fand er und stellt diese Moderneerfahrung der Auseinandersetzung mit Moderne in den Soziologiekursen an der Universität in Chicago gegenüber. Der Widerspruch, der sich in dieser Gegenüberstellung eröffnet, ist in ähnlicher Weise in der Auseinandersetzung mit ›Moderner Kunst‹ im taiwanischen Kunstdiskurs zu erkennen. Vgl. Arjun Appadurai, Modernity at large. Cultural dimensions of globalization, Minneapolis 1996, S. 1f. 76 Siehe beispielsweise: Kao Jun-honn, »Ziwo zuojianlun: taiwan dangdai yishu de fanshi huayu« 自我 作踐論: 台灣當代藝術的反式話語 [The Theory of Self-Abasement: Contrary-paroles in Taiwan Contemporary Art], in: Doctoral Program in Art Creation and Theory TNNUA (Hg.), DELTA – The Living Gesture in Asia 亞洲生活手勢, Tainan 2011, S. 91-110; Chen Kuan-Hsing im Gespräch mit Gong Jow-jiun u.a. in Kaohsiung am 2.6.2012. Nachzulesen in ACT Nr. 51, 7/2012, Zusatzheft, S. 34ff. Die Übertragung des Motivs des Minderwertigkeitskomplexes, das in Anlehnung an Frantz Fanon die Postcolonial Studies diskutieren, oder allgemein postkolonialer Theorien auf das (insbesondere) zeitgenössische Taiwan muss differenziert geschehen. Doch ist in diesem Zusammenhang wichtig zu bemerken, dass alle hier Genannten sich auf die Postcolonial Studies berufen und eine so weitgreifende Auseinandersetzung mit selbiger stattfindet. Zu dieser Übertragung ist im Kontext China auch zu beachten: Shumei Shih, The Lure of the Modern, S. 22.

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

und diskreditiert ihn in der Folge als nur ›verspätete‹ und damit minderwertige Form dieser? Die vielstimmigen und vielschichtigen Bestrebungen in Taiwans Kunstszene kreisen um diese Fragen, arbeiten sich an solchen und ähnlichen Fragen ab und stoßen immer wieder an die Grenzen, die die Auseinandersetzung mit der ›Moderne‹, die »letztlich immer irgendwie westlich«77 sei, mit sich bringt. Es bleibt im jeweiligen Kontext genau zu beobachten, was jeweils mit ›modern‹ bezeichnet wird – eine historische Zeitspanne oder aber eine Geisteshaltung – und wie der Bezug zum Verständnis des Westlichen ist.78 Wird also von ›Moderne‹ gesprochen, ist es nicht einfach der Bezug zu einem (nicht näher bestimmten) Westlichen, der hier gedacht werden muss, ist Moderne doch immer schon historisch gesehen Teil Taiwans. Es ist aber (und das wird auch in Escandes Bemerkung deutlich) nie losgelöst davon. Es gilt also in einem nächsten Schritt zu fragen, vor welchem Hintergrund das moderne Kunstverständnis Taiwans zu verstehen ist. So wird im Folgenden die Verf lechtungs- und Rezeptionsgeschichte des Modernisierungsprozesses Taiwans über Japan und Chinas zu betrachten sein, um zu einem Verständnis von Kunst, das der zeitgenössischen Kunst Taiwans zugrunde liegt, zu gelangen. Um die Grundvoraussetzungen eines Nachdenkens über Kunst in Taiwan sichtbar zu machen, scheint es notwendig, weiter einen genaueren Blick auf die moderne Übersetzung von Kunst als yishu und meishu und deren Implikationen zu werfen.79 77 Gong im persönlichen Gespräch am 8.11.12 in der temporären Installation Happiness Building I (xingfu dalou I 幸福大樓I) in New Taipei City, die als Filmset für die gleichnamige Videoarbeit von Chen Chieh-jen diente. 78 Dass die Implikationen dessen, was mit ›Moderne‹ im jeweiligen Kontext gemeint ist, genauerer Betrachtung benötigen, zeigt eine interessante Beobachtung von Franziska Koch in ihrem Artikel ›China‹ on Display for Euopean Audiences?: Die 1989 in Beijing stattgefundene, legendäre Ausstellung 中国现 代艺术展 (Zhongguo xiandai yishuzhan) mit dem englischen Titel China/Avant-Garde nutzt im englischen Titel den Begriff ›Avantgarde‹, während im chinesischen Titel ›Moderne‹ (xiandai 现代) verwendet wird. Diese Entscheidung, so der Kunstkritiker und Kurator Gao Minglu 高明潞, läge denn in der Konnotation, die die beiden Begriffe im jeweiligen sprachlichen Umfeld hätten. Würde im Englischen ›Moderne‹ im Titel stehen, so würde das Verständnis der ausgestellten Kunst unweigerlich in die Nähe der europäischen/westlichen Moderne gerückt. ›Avantgarde‹ hingegen, zwar auch »out of fashion in the West«, impliziere eher den Aufbruchgedanken als es ›modern‹ tue, was im westlichen Kontext sonst wiederum als ›Modernismus‹ verstanden werden könne. Im chinesischen Kontext allerdings ist der Begriff ›Avantgarde‹ ein tendenziell selten genutzter, während mit ›Moderne‹ (現代) weniger eine historische Zeitspanne in Europa bezeichnet wird, sondern vielmehr eine bestimmte Auffassung des künstlerischen Schaffens – nämlich »new and radical art«, eine Beschreibung, die passender sei, für »its own cultural context.« Vgl. Franziska Koch: ›China‹ on Display for European Audiences?, in: Transcultural Studies 2011.2, S. 66-81f. DOI: 10.11588/ts.2011.2.9129 Auch Birgit Hopfener beschreibt Ähnliches in Installationskunst in China. Transkulturelle Reflexionsräume einer Genealogie des Performativen (Bielefeld 2013, S. 40ff.): ›Moderne Kunst‹ sei in China »nicht als Epochenbezeichnung, in der im Westen übereingekommenen Abfolge vormoderner, moderner und postmoderner Kunst zu verstehen, sondern vielmehr gleichbedeutend mit ›zeitgenössischer Kunst‹ oder ›Gegenwartskunst‹ (dangdai yishu)«. Sie beruft sich dabei ebenfalls auf Gao Minglu, der schreibt, dass in China Moderne »not as a marker of temporal logic« funktionieren würde, sondern eher auf den »spirit of the times« referieren würde. 79 Es scheint mir wichtig, noch einmal auf die häufige Kritik einer ›falschen Übersetzung‹, des ›falschen Verständnis‹ der europäischen Moderne in Nicht-Europa hinzuweisen und den Gedanken einzuwer-

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2. Zum historischen Hintergrund des Aufkommens des modernen Kunstverständnisses Ostasiens Wenn im Kontext Taiwan (und hier wiederum auf Deutsch) von ›Kunst‹ gesprochen wird, stellt sich die Frage, von welchem Begriff und Verständnis gesprochen wird. So muss die Entstehung der Begriffe yishu 藝術 und meishu 美術, die im Wörterbuch als Übersetzungen von ›Kunst‹ oder der ›Schönen Kunst‹ (›fine art‹) fungieren (und damit zunächst als bedeutungsgleich zu sehen sind), betrachtet werden.80 Die moderne, bis heute bedeutungstragende Wortprägung der Kombination yishu 藝術 (oder jap. gei-jutsu 芸術) für das im 19. Jahrhundert nach Ostasien gelangte europäische Konzept ›Kunst‹ geschah durch den japanischen Philosophen Nishi Amane, von dem auch die geläufige Übersetzung für Philosophie mit den Schriftzeichen 哲學 (chin. zhexue, jap. 哲学 tetsugaku; etwa: Weisheitslehre) stammt.81 Diese wurde dann – ebenso wie der Begriff Ästhetik als meixue 美學, ›Lehre vom Schönen‹, oder shenmei 審美, die ›Untersuchung des Schönen‹, sowie der Begriff meishu 美術 für die ›Schöne Kunst‹ – um die Jahrhundertwende in das chinesische Verständnis übernommen.82 »Weil die Japaner das Wort Yishu nutzen, das eine Übersetzung des englischen, französischen Art [im Original auf Englisch, bzw. Französisch, Anm. d. Verf.] darstellt, entfernte sich in den letzten Jahrzehnten das, was in der Neuzeit als Art bezeichnet wird, vom Konzept der Technik, des Vermögens. Wenn wir folglich diese Bezeichnung nutzen, hat sie die neuzeitliche Bedeutung.« 83 Diese Bemerkung des Philosophen Xu Fuguans 徐復觀84 – ebenso wie die Bemerkung Lu Xuns 鲁迅85, der 1913 schrieb, das Wort meishu sei dem alten China unbekannt, es fen, dass Verstehensprozesse immer einem produktiven Missverstehen ausgesetzt sind, also nie ›falsch‹ sind, was dann eine hierarchische Legitimation und Illegitimität der Nutzung implizieren würde. 80 So z.B. im Handwörterbuch Deutsch-Chinesisch. Chinesisch-Deutsch. Jingxuan dehan hande cidian 精 选德汉汉德词典, Beijing, Berlin/München 1994; Deutsch-Chinesisches Wörterbuch dehan cidian 德漢 辭典, Hongkong 1969/1973. 81 Vgl. Günter Seubold, Inhalt und Umfang des japanischen Kunstbegrif fs; in: Philosophisches Jahrbuch 101:2, 1993, S. 380-398; oder Ōhashi, Übersetzung als Problem der japanischen Moderne, S. 129-138. 82 Aufgrund der historischen Grundlage der Modernisierung Taiwans wird im Folgenden auf Japan und China referiert – dies ist also keinesfalls als Verallgemeinerung Ostasiens zu verstehen. 83 Xu Fuguan 徐復觀, Zhongguo yishu jingshen 中國藝術精神 [Der Geist der chinesischen Kunst], Taipei 1966, S. 49. 84 Der Philosoph Xu Fuguan (1902/1903-1982) ist ein wichtiger Vertreter des Neukonfuzianismus. Geboren in der Provinz Hubei, folgte er der Kuomintang 1949 nach Taiwan. Er lehrte von 1955-69 an der Tunghai Universität chinesische Philosophie. Mit den Philosophen Tang Junyi 唐君毅, Mou Zongsan 牟宗三, Zhang Junmai (Carsun Chang) 張君勱 veröffentlichte er 1958 das »Manifest zur chinesischen Kultur, gerichtet an die Menschheit« (Wei zhongguo wenhua jinggao shijie renshi xuanyan 為中國文化敬 告世界人士宣言). 85 Der Schriftsteller und Intellektuelle Lu Xun (1881-1936) gilt in der Volksrepublik China als Begründer der modernen Literatur, vor allem, da er für das Schreiben in der Umgangssprache (baihua 白話) eintrat. Er setzte sich äußerst kritisch mit dem Konfuzianismus und dessen Moral- und Wertvorstellungen auseinander.

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sei eine Übertragung des Englischen ›Art‹ (ai-te 愛忒, wie er phonetisch überträgt)86 – verweist darauf, dass ein nahtloses Anschließen an das vormoderne Kunstverständnis Ostasiens nicht einfach möglich war und ist. Die Betrachtung des Übersetzungs- und Rezeptionsprozesses zeigt, dass es sich um ein explizit modernes Konzept handelt, das eine neue Begriffsprägung nötig machte.87 Die Bezeichnung yishu 藝術 findet sich also schon in frühen chinesischen Texten, hat hier aber eine andere Bedeutung: yishu bezeichnet Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit oder das Handwerk – wobei yi 藝 die Kunst eher im Sinne eines Könnens88 bezeichnet und shu 術 im Sinne der Technik, der Methode. Etymologisch sei auch auf das im Schriftzeichen yi an das lateinische Wort ›cultura‹ erinnernde Radikal »›Gras‹ und ›mit der Hand pf lanzen‹«89 verwiesen. Die sechs Künste (liu yi 六藝) der konfuzianischen Tradition gehören zur höheren Bildung: Sie beinhalten Ritual, Musik, Bogenschießen, Wagenlenken, Schreiben und Rechnen.90 So hat dieser Kunstbegriff einen ähnlich breiten Verwendungshintergrund wie der Begriff der Kunst oder der Künste in der abendländischen Tradition.91 Yi verweist im chinesischen Verständnis also auch immer auf die konfuzianische Tradition, wo Kunst – insbesondere die Musik – eng mit dem Ideal der Pf lege und Kultivierung des Selbst (xiuyang 修養) und dem Ideal der moralischen Integrität (dexing 德行) zusammenhängt. 86 Lu Xun, »Ni bobu meishu yijianshu« 拟播布美术意见书 [Vorschlag für die Verbreitung von Kunst], in: Ders.: Lu Xun wenji. Di ba juan 鲁迅文集. 第八卷 [Gesammelte Werke Lu Xuns, 8. Band], Beijing, S. 45-47. 87 Welche enorme Anzahl an Begriffen und Konzepten in China zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde, zeigt Shen Guowei 沈國威in seinem Text »Ciyuan« und die neuen Worte im modernen Chinesisch in dem er die Eintragungen neuer Begriffe in das Wörterbuch ›Ciyuan‹ [Etymologie] und deren Bedeutung für das moderne Chinesisch aufarbeitet. Vgl. Shen Guowei, »Ciyuan« yu xiandai hanyu xinci »辭源«與現代漢語新詞 [ ›Ciyuan‹ und die neuen Worte im modernen Chinesisch], in: Wakumon 或問 Nr. 12, 2006, S. 35-58; online verfügbar unter http://www2.ipcku.kansai-u.ac.jp/~shkky/data/2006 Ciyuan.pdf, Stand 9.5.2016. 88 Vgl. Kangxi-Wörterbuch 康熙字典 [zweites wichtiges historisches Zeichenlexikon aus dem beginnenden 18. Jahrhundert, Qing-Dynastie], Eintrag yi 藝. Außerdem schreibt Xu Fuguan: »[…] das Zeichen yi verweist hauptsächlich auf Fähigkeiten des alltäglichen Lebens.« (Xu Fuguan, Zhongguo yishu jingshen, S. 48.) Auch Mathias Obert übersetzt in seiner Diskussion des älteren Wang Weis tu hua fei zhi yi xing 圖畫非止藝行 als »gemalte Bilder bleiben nicht auf den Kreis der Kunstfertigkeiten beschränkt«: yi wird hier als Kunstfertigkeit, nicht als ›hohe Kunst‹ verstanden (Mathias Obert, Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-WasserMalerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg/München 2007, S. 244). 89 Seubold, Inhalt und Umfang des japanischen Kunstbegriffs, S. 381. Vgl. auch Helmut Brinker, Die chinesische Kunst, München 2009, S. 7; sowie im Kangxi-Wörterbuch 康熙字典, Eintrag yi 藝. 90 Vgl. Brinker, Die chinesische Kunst, S. 7; sowie Kangxi-Wörterbuch (kangxi zidian 康熙字典), Eintrag yi 藝. 91 Hier sei auf die als Vorläufer des abendländischen modernen Kunstbegriffes gesehenen Begriffe ›technē‹ und ›ars‹ verwiesen, die »auch Tätigkeiten einbeziehen, die seit Bestehen des modernen Kunstbegriffs dem Handwerk oder der Wissenschaft zugeschlagen werden.« (Wolfgang Ullrich: »Kunst/Künste/System der Künste«, in: Karlheinz Barck; Martin Fontius; Dieter Schlenstedt (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe Bd. 3, Stuttgart 2010, S. 556-616, S. 571.) Angemerkt sei weiter, dass der moderne abendländische Sammelbegriff der Künste erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts gebildet wurde. Unter dem Aspekt der Schönheit versammelt, fanden hierin nun auch erst die bildenden Künste einen festen Platz. Vgl. ebd., besonders S. 577-581.

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Während es die Bezeichnung yishu im alten China also gibt, jedoch die moderne Wortbedeutung eine tiefgreifende Veränderung erfuhr, stellt die Bezeichnung meishu 美術 (japanisch: bi-jutsu), die ›Schöne Kunst‹, einen Neologismus dar. Dem deutschen ›Kunstgewerbe‹ – welches eine Sektion der Weltausstellung 1872 in Wien darstellte – wurde die Zeichenkombination im Meiji-Japan entlehnt.92 Zunächst bezeichnete sie die aus dem Westen importierten Techniken der Fotografie und der Ölmalerei. Doch schon bald verfestigte sich die Nutzung hin zur heutigen, verallgemeinernden Bedeutung: »es verweist auf die Kunstwerke, die im Kunstmuseum bewundert werden.«93 Die Bezeichnung erhielt 1876 mit der Errichtung der Technical Art School (Kobu Bijutsu Gakko 工部美術学校) – es wurden die beiden Fächer ›Malerei‹ und ›Skulptur‹ eingerichtet – eine gefestigte Grundlage.94 Durch chinesische Kunststudenten in Japan wurde die Bezeichnung bald auch in China bekannt.

2.1 Die Bedeutung der Kunst im China an der Schwelle zur Moderne China95 stellte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein völlig aus den Fugen geratenes Land dar: 92 Qiu Linting 邱琳婷, Taiwan meishushi 臺灣美術史 [Geschichte der Kunst Taiwans], Taipei 2015, S. 21f. 93 Chen Zhenlian 陈振濂, Jindai zhong ri huihua jiaoliushi bijiao yanjiu 近代中日绘画交流史比较研究 [Vergleich der Transfergeschichte der Malerei im neuzeitlichen China und Japan], Hefei 2000, S. 360. 94 Vgl. bspw. Li Qinxian 李欽賢, »Lianjie meishu yundong de guiji – beimeiguan su shidai diancang« 連 接美術運動的軌跡 – 北美館溯時代典藏 [Mapping Art Movements – Turning Back Time through the TFAM Collection], in: Lin Yu-chun 林育淳 (Hg.), Taiwan meishu jindaihua licheng: 1945 nian zhi qian 台灣美術近代畫歷程: 1945年之前. [The modernization of Taiwanese art before 1945], Taipei 2009, S. 8-13, S. 9. Li Qinxian nennt das Jahr 1877 als Errichtungsjahr der Technical Art School, häufiger findet sich in entsprechenden Quellen jedoch 1876, bspw. bei Chen Zhenlian, Jindai zhong ri huihua, S. 361. 95 Ich verweise an dieser Stelle noch einmal explizit darauf, dass die längeren Ausführungen zur Situation Chinas nicht den Eindruck erwecken sollen, Taiwan würde hier mit der Volksrepublik China gleichgesetzt und das koloniale Erbe solle in der Betrachtung größtenteils wegfallen. Doch ist – insbesondere, was das Kunstverständnis von heute aus gesehen anbelangt – der chinesische kulturelle und sprachliche Hintergrund für eine Betrachtung von Bedeutung, gehörte Taiwan – zwar stiefkindlich behandelt – doch seit der späten Ming-Dynastie zum Kaiserreich China und wurde seit dem Ende der europäischen Kolonisierung in der frühen Qing-Dynastie systematisch sinisiert. Von Bedeutung für den weiteren Verlauf dieser Untersuchung ist darüber hinaus die 1911 in Festlandchina gegründete Republik China, die von den Anhängern der Kuomintang in Taiwan 1949 errichtet wurde, die vor den Kommunisten flohen, und die die kulturelle Identität Taiwans als Republik China durchsetzten. Insbesondere in der Sprache schlägt sich dies nieder, sowie auch in der klassischen chinesischen Kunst und in den verwandten Institutionen: So werden seither die Schätze aus der Verbotenen Stadt, die die Nationalisten aus China mitgenommen hatten, als gemeinsames kulturelles Erbe präsentiert. Ebenfalls sind die wichtigen kultur- und gesellschaftstragenden Institutionen wie das Forschungsinstitut Academia Sinica und diverse renommierte Universitäten wie beispielsweise die Fu Jen Catholic University oder die National Chengchi University, die ursprünglich in Festlandchina gegründet worden waren und ab den 1950ern in Taiwan als Republik China wieder aufgebaut wurden, für das Selbstverständnis Taiwans von Bedeutung. Auch die enormen Einwanderermassen (unter denen auch viele die moderne Kunstszene prägende Künstler wie Liu Kuo-sung waren), die im Gefolge Chiang Kai-Sheks aus China kamen, veränderten das Bild der Bevölkerung Taiwans, die nach anfänglichen Rebellionen und Aufständen insbesondere in den letzten zwei Dritteln der japanischen Kolonialherrschaft eine zunehmende kulturelle Identifikation mit Japan vorzuweisen hatte.

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»Das Bild Chinas 1911 ist denkbar traurig: die europäischen Staaten, Amerika und Japan betrachteten China als ein Spielfeld ihrer eignen Pläne und bezogen in diese Rechnung die chinesische Regierung kaum mehr ein. […] Wäre nicht der Widerstreit der Mächte gegeneinander gewesen, so wäre China längst von einer der Mächte annektiert worden.«96 China stand also vor einer immensen Herausforderung: Wie kann ein Weg gefunden werden, mit den verheerenden Auswirkungen auf das kulturelle Selbstverständnis durch die Teilkolonisierung durch den Westen seit dem ersten Opiumkrieg (1839/401842), dem Taiping-Aufstand (1851-1864), dem Krieg mit Japan (1894-95) und dem daraus hervorgehenden Verlust Taiwans und des Protektorats über Korea und schließlich mit dem Boxeraufstand 1900/1901 umzugehen? Es stellte sich die Frage, wie es sein konnte, dass Japan – wie China vom Westen unterdrückt und in den Augen Chinas das schwächere Land – durch die Meiji-Restauration dem Westen fast ebenbürtig geworden war, gar Imperialmacht werden konnte.97 Das sind Fragen, die im zerrütteten und gebeutelten China der späten QingDynastie und der frühen Republik China, dessen bisheriges sinozentrisches Weltbild in seinen Grundfesten wankte und drohte, komplett zusammenzustürzen, die Intellektuellen zutiefst bewegten und so »mussten sich die Intellektuellen, die Politiker und die eben entstehende chinesische Öffentlichkeit fragen, wie sie sich zum alten System stellen sollten.«98 In der geistigen Krise war es die ›Bewegung des 4. Mai‹ (wusi yundong 五四運動), deren Vertreter mit aller Klarheit feststellten, das alte China der Tradition, der Kaiser und Dynastien, das mit einer Politik der verschlossenen Türen am Sinozentrismus festhalte, müsse der Vergangenheit angehören, aus dem Westen müsse neben Wissenschaft und Technik auch Kultur, Kunst, Denken – das Neue – hergeholt werden, eine umfassende Modernisierung sei von Nöten. Für die Suche nach den in der radikalen Erneuerung der Kunst liegenden Möglichkeiten steht insbesondere Cai Yuanpei 蔡元培, der von 1908 bis 1911 in Leipzig unter anderem Philosophie, Psychologie und Ästhetik99 studierte. Seine Revolutions-Freundschaft mit Sun Yat-sen und die vielfältigen Positionen, die er innehatte, darunter die als erster Erziehungsminister der gerade gegründeten Republik China, 1917 als Direktor der Peking-Universität, sowie 1918 als Mitinitiator der National Beiping Art

Wenn von Taiwans moderner und zeitgenössischer Kunst die Rede ist, kann folglich nicht nur der Bezug auf ein geografisches Taiwan gemeint sein, das denn Modernisierung über Japan und größtenteils auch auf Japanisch erfuhr. Ebenso muss das historische und kulturelle und somit identitätsstiftende Taiwan berücksichtigt werden. Dies bedeutet insbesondere auch, dass – wird von einem heute chinesischsprachigen Taiwan als Republik China ausgegangen – dieser Hintergrund auch als Teil der (kunstgeschichtlichen) Selbstreflexion Taiwans gesehen werden muss. 96 Wolfram Eberhard, Chinas Geschichte, Bern 1948, S. 342. 97 Vgl. Wang Peili, Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei: eine vergleichende Analyse zweier klassischer Bildungskonzepte in der deutschen Aufklärung und in der ersten chinesischen Republik, Münster/New York 1996, S. 107. 98 Jean François Billeter, Gegen François Jullien, Berlin 2015, S. 22. 99 Vgl. Wang Peili, Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei, S. 111.

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School (der heutigen Central Academy of Fine Arts Beijing, CAFA)100, 1927 der ersten Musikakademie in Shanghai (Nationale Musikakademie) und 1928 der Academia Sinica, sowie seine Einführung wichtiger Schriften westlicher Philosophie, zeigen seinen Einf luss und seine Bedeutung für das moderne China.101 Die Erneuerung Chinas sah er, der als Kind die klassische chinesische Bildung erfahren hatte und dem die klassische chinesische Beamtenlauf bahn offenstand, nur durch die konsequente Neugestaltung des chinesischen Erziehungssystems nach abendländischem Vorbild – wie auch Meiji-Japan sein Schulsystem nach deutschem Vorbild neu gestaltet hatte – möglich.102 Insbesondere dem Konzept der ästhetischen Erziehung (übersetzt von ihm als meiyu 美育: der ›Erziehung/Bildung im Schönen‹), maß er dabei große Bedeutung bei: »Die Bildung einer transzendentalen Weltanschauung kann weder durch täglichen Unterricht erfolgen, noch kann ihr Verhältnis zur Welt der Erscheinung durch einfache und trockene Erläuterung gedeutet werden. Der beste Weg ist die ästhetische Erziehung. Das ästhetische Empfinden umfaßt Schönheit und Erhabenheit und schlägt somit die Brücke von der sinnlichen zur transzendentalen Welt.«103 In seinem 1919 veröffentlichten Aufsatz Die Kulturbewegung darf die ästhetische Erziehung nicht vergessen schreibt er: »Ein Volk, dessen Kultur fortschrittlich ist, da sie wissenschaftliche Bildung umsetzt, muss besonders die künstlerische Bildung (meishu jiaoyu 美術教育) verbreiten.«104 Eine Gesellschaft müsse spezialisierte Kunst- und Musikakademien, öffentliche Museen und Kunstmuseen einrichten, die aus öffentlichen und privaten Geldern zu fördern seien. Auch die städtische Raumgestaltung, Parks und Straßen, finden Erwähnung in ihrer Bedeutung für die ästhetische Bildung. Die traditionelle chinesische Schreibkunst und Malerei105 sei doch nur für die Reichen, für eine Elite und nicht öffentlich zugänglich. Andere Kunstformen, wie Skulptur oder Musik würden übersehen. Die Straßen Chinas seien geprägt von aufgewirbeltem Staub und von rücksichtslos drängelnden Wagen – wie könne in einer solchen Umgebung das Leben diskutiert werden, wie könnten so lebendige, noble Gefühle entstehen? Und deshalb, so Cai, dürfe die ästhetische Erziehung nicht vergessen werden.106 Denn es sei die Kunst, die den Fortschritt des Abendlandes möglich gemacht habe, da sie ein offenes 100 Michael Sullivan hat die Namenwechsel der wichtigsten Kunstakademien in Modern Chinese Artists: A Biographical Dictionary seit der Entstehung aufgelistet. Vgl. Michael Sullivan, Modern Chinese artists. A biographical dictionary, Berkeley 2006, S. XVII. 101 Vgl. CAFA (Hg.), Zhongguo meishu jianzhi 中國美術簡史 [Kurze Kunstgeschichte Chinas], Beijing 1990, S. 247. 102 Vgl. Wang Peili, Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei, S. 105ff. 103 Zitiert nach: Wang Peili, Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei, S. 123. Vgl. auch Gong Pengcheng 龔鵬程, Meixue zai Taiwan de fazhan 美學在台灣的發展 [Die Entwicklung der Ästhetik in Taiwan], Taipei 1998, S. 5. 104 Cai Yuanpei, Wenhua yundong bu yao wangle meiyu 文化运动不要忘了美育 [Die Kulturbewegung darf die ästhetische Erziehung nicht vergessen], in: Ergänzungsteil der Morgenpost (chenbao fukan 晨报副刊) vom 1.12.1919; online verfügbar unter: www.cqvip.com/Read/Read.aspx?id=41571668, Stand 21.11.2013. 105 Cai nutzt an dieser Stelle die Bezeichnung shuhua 書畫, deren Konnotationen in II.3.2 genauer besprochen werden. 106 Vgl. Cai Yuanpei, Wenhua yundong bu yao wangle meiyu.

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Denken ermögliche, so Cai in seiner berühmten, 1917 erschienenen Schrift Über den Ersatz der Religion durch die ästhetische Erziehung.107 Eine ähnliche Einstellung – und auch die zutiefst empfundene Dringlichkeit – kommt in Lu Xuns Aufruf zum Herholismus (nalaizhuyi 拿來主義) (erstmals 1925 erwähnt, als so betitelter Text dann 1934 veröffentlicht)108 sehr eindrücklich zum Ausdruck. Er vertritt mit aller Deutlichkeit die Notwendigkeit einer Öffnung zur Welt und des ›Herholens‹ der (westlichen) Kultur: China solle nicht nur den Weg gehen, im Westen sein Licht durch alte und neue Malereien sogenannter großer Meister zu verbreiten.109 Stattdessen müsse hergeholt werden. Die vielen Dinge, die China geschenkt bekommen habe, hätten verschreckt: Englands Opium, Deutschlands ausrangierte Feuerwaffen, später dann Frankreichs Puder, Amerikas Filme oder die vielen kleinen japanischen Dinge. Sogar die nüchternen jungen Leute verspürten Angst angesichts westlicher Waren. Dies sei genau deshalb, weil es ein ›Geschenkt-Bekommen‹ und kein ›Herholen‹ sei. »Deshalb müssen wir unser Hirn anstrengen, unsere Augen öffnen, und selbst herholen!« Und so schließt Lu Xuns Text mit der Warnung: »Wenn es kein Herholen gibt, kann der Mensch nicht aus sich heraus ein neuer Mensch werden, wenn es kein Herholen gibt, können Kunst und Kultur nicht aus sich heraus zur neuen Kunst und Kultur werden.«110

107 An dieser Stelle verbleibt darauf zu verweisen, dass Cai insbesondere in dieser Schrift (mit dem chinesischen Originaltitel Yi meiyu tidai zongjiao 以美育代替宗教) betont, dass er die Überzeugung vieler Missionare und zum Christentum konvertierter Chinesen, »daß die Fortschritte des Abendlandes allein der Religion zu verdanken sind« (zitiert nach: Wang Peili, Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei, S. 138) und folglich die modernen Bestrebungen, den Konfuzianismus zur Staatsreligion zu erheben, nicht teilt. Der Grund für den Fortschritt läge nicht in der Religion, sondern in der Kunst, die freies Denken ermögliche, im Gegensatz zur einschränkenden und zwanghaften Religion. Die Wirkung, die Religion erziele, läge vielmehr darin, dass sie die Kunst – in der Architektur der Kathedralen, durch die Musik oder Wandmalereien, nutze. Vgl. Cai Yuanpei ins Englische übersetzt von Julia F. Andrews: »Replacing Religion with Aesthetic Education«, in Kirk A. Denton, Modern Chinese Literary Thought: Writings on Literature, 1893-1945, Stanford 1996, S. 182-189. Diese klare Abgrenzung von der die europäische Moderne prägende Vorstellung in Hinblick auf die Bedeutung des Christentums für die Herausbildung der Moderne halte ich insbesondere in Hinblick darauf, wie stark Cais Vorstellung der ästhetischen Erziehung von der abendländischen geprägt ist, von großer Bedeutung. Hier ist mehr als nur eine klare Abgrenzung vom Westen (die schnell nationalistisch gelesen werden könnte) eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Implikationen des Modernisierungsprozesses Chinas zu vermerken. 108 Lu Xun, Nalaizhuyi 拿來主義 [Herholismus], in: Chinesische Tageszeitung. Tendenz (Zhonghua ribao. Dongxiang 中華日報. 動向), 7.6.1934. Es finden sich verschiedene, vor allem englische Übersetzungen des Konzeptes nalaizhuyi, wie bspw. ›Take-ism‹, ›grabbism‹, ›appropriatism‹. Auf Deutsch ist neben ›Herholismus‹ auch die Variante ›Herhol-ismus‹ oder auch ›Her-damit-ismus‹ zu finden. Die ungelenken Übersetzungen versuchen, den Charakter des im Chinesischen längst zum Schlagwort gewordenen nalaizhuyi nachzubilden und dabei das Umgangssprachliche des nalai, was ein einfaches ›Holen‹ oder ›Herholen‹ bezeichnet, mit dem zhuyi, dem ›Ismus‹, zu verbinden. 109 Den Ausdruck »Verbreitens des Lichtes des Landes« (fayang guoguang 發揚國光) hatte die ›Große Abendzeitung‹ (dawanbao 大晚報) im Mai 1934 genutzt, um die Ausstellungen Xu Beihongs 徐悲鴻 und Liu Haisus 劉海粟, die beide damals in Europa gezeigt wurden, zu beschreiben. Lu Xun greift diesen hier ironisch auf. 110 Lu Xun, Nalaizhuyi.

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Wenn in einem solchen Zustand des Landes (und insbesondere Lu Xun ist für seine kämpferische Gesinnung und den revolutionären Geist bekannt) trotzdem über Kunst geschrieben wird, so wird deutlich, dass dieser eine große Bedeutung beigemessen wird. Michael Sullivan schreibt: »Western art came to be seen by many as the expression of all that was useful, progressive, and outward-looking.«111 In der weitgreifenden Kritik des Alten und dem radikalen Aufgreifen großer Teile eines neuen Verständnisses von Kunst wurde eine Möglichkeit gesehen, durch die radikale Selbstkritik den ›heilenden‹ Weg hin zu einem modernen China zu beschreiten.112 Andererseits ist Anfang des 20. Jahrhunderts auch die Wiederbelebung der traditionellen Malerei, das Auf kommen der guohua113, zu beobachten – eine Strömung, die sich als explizit vom Westen abgrenzend zeichnet. Erst durch die (erzwungene) Auseinandersetzung mit dem Westen, so merkt Michael Sullivan an, sei eine Besinnung auf die eigene Kultur geschehen, die das Überleben der traditionellen Malerei gesichert habe, die doch zunächst durch die neu hereinbrechende westliche Malerei bedroht worden sei.114 Diese abgrenzend komparatistische Haltung gegenüber dem Westlichen und das daraus resultierende Berufen auf das Eigene lässt das (bis heute einf lussreiche und fortgetragene) Bild des ganz anderen China, das in seinen Grundsätzen als dem abendländischen Denken entgegengesetzt gezeichnet wird, entstehen.115

111 Sullivan, Art and Artists of Twentieth Century China, S. 4. 112 Shu-mei Shih schreibt dazu: »A partial explanation for the willing self-criticism of modern Chinese intellectuals lies in the intensity of the crisis of consciousness they experienced as their country confronted Japan and the West, and their passionate belief that societal ills needed to be properly diagnosed before cures could be devised.« (Shu-mei Shih, The Lure of the Modern, S. 23.) Laut Fabian Heubel wurde erst nach der kommunistischen Revolution von 1949 eine traditionsfeindliche Haltung vorherrschend, die auf die frühe Republikzeit rückprojiziert wurde (vgl. Heubel, Chinesische Gegenwartsphilosophie, S. 38f.). Insofern ist die starke Tendenz zur Selbstkritik dezidiert nicht als Traditionsfeindschaft zu sehen. 113 Zur guohua 國畫, siehe auch II.3.2 sowie III.2. 114 Vgl. Michael Sullivan, Studies in the Art of China and South-East Asia. Vol. II, London 1992, S. 25. Diese neue Art der chinesischen Malerei kann besonders in den Arbeiten des Malers Xu Beihong (1895-1953) beobachtet werden, der – in Europa ausgebildet – eine neue Form der chinesischen Malerei aufzubauen suchte, die nach der Natur malte. Seine Verbindung der Techniken, theoretischen und praktischen Grundlagen und Herangehensweisen der westlichen Ölmalerei und der chinesischen Tuschemalerei sind ein wichtiges Beispiel der Neubewertung und -definition chinesischer traditioneller Kunst, das zeigt, dass keine einfache Verwestlichung der modernen chinesischen Kunst zugrunde liegt, sondern vielmehr eine tiefgehende Auseinandersetzung. (Liu Kuo-sung, der in Kap. III diskutiert wird, kritisiert Xu Beihongs Malerei allerdings heftig als oberflächliche Auseinandersetzung.) 115 Chinesische Kunst wurde zu Beginn der Republikzeit auf die Lehrpläne der neuen Kunsthochschulen gesetzt, wobei die Lehrbücher größtenteils aus dem Japanischen übersetzt wurden. Sullivan schreibt über den in Japan studierenden chinesischen Künstler Fu Baoshi (was er ebenfalls auf Huang Binhong überträgt), dass er »seems to have been less influenced in Tokyo by Japanese painting than he was by the great seventeenth-century individualists Shitao and Zhu Da, who had long been studied and collected in Japan.« Wie sehr auch Rückwirkungen Teil dieser wiederbelebten guohua sind, zeigt sich auch an der Rezeption von beispielsweise Steven Bushells Chinese Art, das ins Chinesische übersetzt das Wissen um die Geschichte der chinesischen Malerei prägte. Vgl. Sullivan, Art and Artists of Twentieth Century China, S. 25.

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

So zeigt sich, dass die Herausforderung des Umgangs mit dem hereinbrechenden Westlichen und dem Zerfall des Althergebrachten verschiedene Positionen und Wege des Aushandelns hervorbrachte, die sich zwar teils bekämpften, jedoch in weiten Teilen auch vereinigten. Jean François Billeter nennt die »radikalen Ikonoklasten«, die »die chinesische Zivilisation vollständig verwarfen«; die »kritischen Intellektuellen«, die kritisch die Entstehungsgeschichte und Funktionsweisen des Kaiserreichs zu erarbeiten suchten; die komparatistische Position versuchte die »chinesische Identität neu zu definieren« und »[definierten] die chinesische Identität als ein Gegenstück zu einer vermeintlichen abendländischen Identität«. Als letzte Position nennt Billeter die »puristische«, die »in ihrer extremen Ausprägung […] die gesamte ›chinesische Kultur‹ letztlich als eine einzige unvergleichbare, unaussprechliche Wesenheit [betrachtet].«116 Doch können die verschiedenen Haltungen zur chinesischen Vergangenheit nur schwer voneinander getrennt betrachtet werden, basieren sie doch alle auf der (bis heute anhaltenden)117 Suche nach einer Form des Umgangs mit der schweren geistigen Krise. Trotz der teils eklatanten Entgegengesetztheit ergänzen sich die Positionen, wie sich vor allem in der Wiederbelebung der traditionellen Tuschemalerei zeigt, die auch von ihren Vertretern selbst starker Kritik unterzogen wurde: sie sei einer akkuraten Darstellung nicht imstande und stelle nur generalisierte Typen dar, sie könne aufgrund ihrer nur imaginierten Sujets die wahre Gestalt der heutigen Welt nicht darstellen, weiter seien ihre Techniken aufgrund der fehlenden Perspektive irrational und unwissenschaftlich.118 Es verweist auf die vielschichtige, umfassende und lang andauernde Auseinandersetzung mit dem Umbruch, den die Modernisierung darstellt, dass die westliche Malerei auch von vielen Vertretern der traditionellen Tuschemalerei als Mittel zur Modernisierung Chinas gesehen wurde.119 Es zeigt sich auch, dass der Kampf zwischen dem Chinesischen und dem Westlichen, dem Modernen und dem Traditionellen, dem Neuen und dem Alten, dem Eigenen und dem Fremden nicht zwischen unverrückbaren Grenzen verlief und verläuft und zum Teil paradoxe Bewegungen im Rückbezug auf klassische Konzepte hervorbringt. An dieser Stelle sei auch betonend hinzugefügt, dass es dezidiert um den Westen ging, in dem die Moderne gesucht wurde, wie Shu-mei Shih in Bezug auf Lu Xuns und Guo Moruos Schriften und Artikel feststellt:

116 Billeter, Gegen Jullien, S. 22ff. 117 Billeter macht in jener Schrift Gegen François Jullien auf die chinesische Historikerin Li Dongjun aufmerksam, die die »gesamte intellektuelle und politische Geschichte des 20. Jahrhunderts vom Konflikt zwischen dem Willen, sich vom System loszusagen, und dem Bestreben, es in der einen oder anderen Form zu bewahren, geprägt« (S. 31) sieht. 118 Vgl. Sullivan, Art and Artists of Twentieth Century China, S. 25. 119 So ruft beispielsweise auch der traditionelle, die kaiserliche Ordnung unterstützende Reformer Kang Youwei 康有為 nach einer umfassenden Erneuerung der Auffassung von Kunst als einzig möglichen Weg, die Situation Chinas zu verbessern: »Today, industry, commerce and everything else are related to art. Without art reform those fields cannot develop. …Chinese painting has declined terribly because its theory is ridiculous.« Hier zitiert nach Sullivan, Art and Artists of Twentieth Century China, S. 28.

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»[…] seeking modernity in the West (and the honorary West, Japan) meant simultaneously the exclusion of the other non-West (India) and of the Other within the West (Hebraism); the supranational relationship is limited to only that between China and the Hellenic West. This West remains the sole proprietor of modernity qualified to enter into a supranational relationship with China; hence this supranationalism reveals its cosmopolitan outlook to be based not on a horizontal, egalitarian conception, but on one with reified hierarchies which reiterate the geography of political and cultural power distribution in its historical moment.« 120 Die Konfrontation mit dem Westen machte dieses als stark erfahrene Vorbild zum wichtigsten Gegenüber in der Auseinandersetzung um die Möglichkeit der Modernisierung Chinas. Es zeigt sich hier noch einmal sehr deutlich die Grundlage der untrennbaren historischen Verbindung der Vorstellungen von ›Moderne‹ und ›Westen‹, wie sie Yolaine Escande feststellt. Die Modernisierung Chinas und damit einhergehend der gesuchte Auf bau einer Nation China geschah also vorwiegend am westlichen Vorbild entlang.121

2.2 Die Modernisierung der Kunst Taiwans als Kolonie Japans Die Moderne westlichen Vorbilds hielt nach dem Opiumkrieg, als China genötigt worden war, Taiwans Häfen zu öffnen, langsam Einzug in das in Bezug auf ökonomische und technische Entwicklungen, aber auch in Bezug auf literarische Bildung als rückständig beschriebene Taiwan.122 Doch erst als japanische Kolonie seit 1895 begann die Modernisierung in großem Umfang. Aus der der Modernisierung Japans nach europäischem Vorbild in allen gesellschaftlichen Bereichen (Staatstheorien, Bildungs- und Rechtssystem, Wissenschaft, Technik) zugrundeliegenden Vorstellung eines ›japanischen Geists und westlicher Technik‹ (wakon yōsai 和魂洋才)123 entwickelte sich allmählich ein Nationendenken, das als Grundlage der Imperialpolitik Japans gesehen werden kann und sich in der Art widerspiegelt, wie jene modernen Errungenschaften

120 Shu-mei Shih, The Lure of the Modern, S. 101. 121 Inwiefern ›der Westen‹ bis heute in der Konzeption einer modernen Kunst als Hauptreferenzpunkt zu sehen ist, wird in den folgenden Analysen Thema sein. 122 Seit jeher Einwanderungsland, diente Taiwan vor der Kolonisierung durch Japan immer wieder als Arbeits- und auch Fluchtort der als ungebildet und arm geltenden Gruppen Festlandchinas. Zwar wurde die in der traditionellen chinesischen Gesellschaft hochgehaltene Bildung geachtet und gefördert, sodass mehr und mehr junge Taiwaner an der kaiserlichen Beamtenprüfung teilnehmen konnten, doch blieben Bildung, Kultur und Kunst nebensächlich. Die also verhältnismäßig wenigen Beispiele taiwanischer Tuschemalerei aus der Ming- und Qingzeit weisen im Vergleich zu der chinesischen »distinkten, feinen traditionellen Tuschemalerei eine Art aggressive und direkte, dicke, schwere und nicht kultivierte Stimmung« (Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 138) auf. Vgl. John Clark: Taiwanese painting under the Japanese occupation, in: Journal of Oriental Studies 25, 1 (1988), S. 63-104, S. 86. 123 Vgl. Kawamura Nozomu: »The Historical Background of Arguments Emphasizing the Uniqueness of Japanese Society«, in: Social Analysis: The International Journal of Social and Cultural Practice, Japanese Society: Reappraisals and New Directions, Nr. 5/6, 1980, S. 44-62.

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

und eben auch Kunst in Taiwan als japanischer Kolonie verbreitet wurde.124 Zunächst galt es, die Modernisierung der Kolonie Taiwan in den Bereichen Landwirtschaft und Infrastruktur voranzutreiben, ab 1919 wurde dann im Zuge der ›Politik der Assimilation‹ (dōka seisaku 同化政策) auch die Modernisierung von Kunst und Bildung angestrebt. Diese verringerte die ethnische Trennung und trieb das Ziel der Japanisierung der größtenteils aus Han-Chinesen bestehenden Gesellschaft Taiwans deutlich voran. Taiwan wurde nicht mehr nur wie zuvor als minderwertiges Land der Ressourcen aufgefasst und ausgebeutet. Die Infrastruktur Taiwans wurde nun nicht nur in für Japan wirtschaftlich lohnender Weise ausgebaut.125 Taiwans moderne Kunst – und damit auch die Idee eines modernen Kunstschaffens – entwickelte sich somit unter der und durch die japanische Kolonialherrschaft. Obgleich es einige japanische und später auch in Japan ausgebildete taiwanische Kunstlehrer in Taiwan gab – insbesondere der Aquarell-Landschaftsmaler Ishikawa Kinichiro ist als Lehrer und als den Blick auf Taiwans Landschaft prägend von Bedeutung –, war doch insgesamt an eine weiterführende Ausbildung im Bereich Kunst in Taiwan nicht zu denken. Wer also Kunst studieren wollte, ging bald fast ausnahmslos nach Japan, um dort entweder westliche Ölmalerei, Skulptur oder Nihonga126 zu studieren und auch mit der alternativen Szene Japans in Kontakt zu kommen. In Japan als Künstler Erfolg zu haben, sicherte die Anerkennung im künstlerisch bisher kaum institutionelle Strukturen bietenden Taiwan. So ist beispielsweise Huang Tu-Shui 黃 土水, einer der ersten drei Künstler Taiwans, die in Japan studierten und der erste Künstler Taiwans, dessen Werk 1920 in die japanische Imperiale Ausstellung (jap.: teiten 帝展) aufgenommen wurde, noch heute eine wichtige Person für das – nicht nur künstlerische – Selbstverständnis Taiwans. Durch seinen Erfolg wurde in Taiwan Kunst erstmals als von Bedeutung angesehen, so schrieb der Künstler Li Mei-Shu 李 梅樹 an den wohl wichtigsten Chronisten der taiwanischen Kunstgeschichte Hsieh Lifa.127 Die in Japan erfolgreiche Kunst taiwanischer Künstler formte Taiwans künstlerisches Selbstverständnis – so sind es Arbeiten, die sehr stark einen kolonialen ro-

124 Vgl. Robert Eskildsen: Of Civilization and Savages: The Mimetic Imperialism of Japanʼs 1874 Expedition to Taiwan, in: The American Historical Review, Vol. 107, Nr. 2, 2002, S. 388-418, S. 388. 125 Vgl. Stefan Fleischauer, Der Traum von der eigenen Nation. Geschichte und Gegenwart der Unabhängigkeitsbewegung Taiwans, Wiesbaden 2008, S. 36-39. 126 Der amerikanische Philosoph und Volkswirtschaftler Ernest Francisco Fenollosa, der u.a. an der Kaiserlichen Universität Tokyo unterrichtete, bedauerte die Modernisierung und Verwestlichung der Kunst Japans. Er war es dann auch, der mit Okakura Kakuzō (岡倉覚三) die Nihonga (日本画, wörtlich: japanische Malerei) als eigene Stilrichtung überhaupt erst als solche definierte (und damit erfand). Dieses moderne Phänomen wurde im Gegensatz zur Yōga (洋画), der Malerei westlichen Stils, gesehen. Vgl. Aida Yuen Wong, A New Life for Literati Painting in the Twentieth Century: Eastern Art and Modernity, A Transcultural Narrative? In: Artibus Asiae 60. 2 (2000), S. 297-326; Wu Pei-Jung 巫佩蓉, Ershi shiji chu xiyang yanguang zhong de wenrenhua: feinuoluosha de lijie yu wujie 二十世紀 初西洋眼光中的文人畫: 費諾羅沙的理解與誤解 [A Western View of Literati Painting in the Early 20th Century: Fenollosaʼs Understanding and Misunderstanding], in: Yishuxue yanjiu 藝術學研究, Nr. 10, 5/2012, S. 87-132. 127 Vgl. Hsieh Lifa: »Huang Tu-Shui zai jingzhong suo jian de lishi dingwei« 黃土水在鏡中所見的歷史 定位 [Positioning Huang Tu-shui in Western Art History], in: Lin Yu-chun, Taiwan meishu jindaihua licheng: 1945 nian zhi qian, S. 34-39, S. 34.

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mantisch-exotischen Blick auf Taiwan zeigen und in der Folge bis heute als Ikonen der taiwanischen Moderne gefeiert werden. Die der japanischen Imperialen Ausstellung nachempfundene und von der Kolonialmacht im Rahmen der Assimilationspolitik errichtete Ausstellung ›Taizhan‹ (台 展, eigentlich Taiwan meishu zhanlanhui 臺灣美術展覽會), die ab 1927 jährlich gehalten wurde, gab Künstlern mehr Möglichkeiten der Präsentation. Sie war Bestätigung und Motivation innerhalb einer Gesellschaft, die Künstlern erst allmählich gesellschaftliche Anerkennung zuerkannte. Die Rolle der offiziellen Ausstellungen in der Formierung des Verständnisses dessen, was Kunst ist, ist bedeutend. So war die von der 1934 gegründeten Taiyang-Kunstvereinigung (taiyang meixie 台陽美協) TaiyangAusstellung (taiyangzhan 台陽展) sehr stark an deren Strukturen orientiert und auch die wichtigen Personen, hier wie dort, waren dieselben. Die Kunstszene wurde relativ fest und konservativ etabliert, ein sehr an Institutionen und konkreten Personen orientiertes Bild etablierte sich, das erst sehr langsam aufgebrochen wurde: Als mit Chen Dewang 陳德旺, Hong Ruilin 洪瑞麟 und Zhang Wanchuan 張萬傳 drei wichtige Künstler sich 1938 öffentlich von der Struktur der Taiyang-Ausstellung distanzierten, »gab es endlich eine provozierende Stimme.«128 Die darauf hin gegründete Künstlergruppe MOUVE bildete eine wichtige erste Gegenströmung zur konservativen Kunstszene und konnte der sehr akademischen Malerei und Bildhauerei – die hauptsächlich die japanischen akademischen Stile, den Realismus, die Pleinair-Malerei etc. kannte und akzeptierte – neue Stile und Motivmöglichkeiten hinzufügen. Beeinf lusst von den Gedanken der japanischen proletarischen Kunstbewegung, betonten sie das freie Schaffen und wollten sich dem Bourgeoisen der Kunst entledigen, um sie den Massen zugänglich zu machen.129 Und doch war es die offizielle Taizhan, die die Grundlagen der öffentlichen Vorstellung von moderner Kunst legte. Diese teilte sich in die Bereiche ›westliche Malerei‹ (xiyanghua 西洋畫) und der dominierenden ›östlichen Malerei‹ (dongyanghua 東洋畫). Doch war im Bereich der ›östlichen Malerei‹ die traditionelle Literatenmalerei von taiwanischen Malern vollkommen ausgeschlossen – langsam etablierte sich der in Japan Nihonga genannte Malstil unter der eine Abgrenzung von Japan suggerieren wollenden Bezeichnung ›östliche Malerei‹ in Taiwan.130 So hatte sich das Bild dessen, was Kunst ist und welche gesellschaftliche Bedeutung ihr zugemessen wird, auch abseits der Bedeutungsänderung, die durch den westlichen Einf luss nach Ostasien kam, geändert. Die japanische Kolonialzeit behinderte weitestgehend den direkten kulturellen Austausch zwischen Festlandchina und Taiwan. Unter der kolonialen Besatzung 128 Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 268. 129 Vgl. Hsiao Chong-ray, Zhuangji yu shengfa – zhanhou taiwan xiandai yishu de fazhan (1945-1987) 撞擊與 生發 – 戰後台灣現代藝術的發展 (1945-1987) [Kollisionen und Entwicklung – die Entwicklung der modernen Kunst im Nachkriegstaiwan (1945-1987)], Vortrag im März 2005 im National Taiwan Museum of Fine Arts, Taichung; online verfügbar unter: http://taiwaneseart.ntmofa.gov.tw/b4_1.html, Stand 22.5.17. 130 Vgl. Clark, Taiwanese painting, S. 69. Anzumerken bleibt hier, dass dongyang 東洋im chinesischen Sprachgebrauch auch als alter Name für Japan genutzt wird. Die taiwanische Bezeichnung dongyanghua wäre demnach die entsprechende Übersetzung von Nihonga. Im modernen Kontext allerdings ist meist eher Ostasien/der ferne Osten vor allem im Gegensatz zum Westen/Abendland (xiyang 西洋) bezeichnet, sodass Clarks Übersetzung als »›Eastern‹ painting« (ebd.) so stehen bleiben kann.

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hatte also die traditionelle Literatenmalerei (die in der Ming- und Qingzeit, wenn auch nicht sehr ausgeprägt, so doch praktiziert wurde)131 an Bedeutung verloren. John Clark schreibt: »Ink painting was elitist and amateur, whereas painting in the colonial development would have to be more public and professional if it was to appeal to an enlarged merchant class and re-educated landowning gentry.«132 Laut Hsiao Chong-ray wurde die traditionelle Tuschemalerei auch deshalb ausgeschlossen, weil ihre Einstellung zum künstlerischen Schaffen nicht als dem entsprechend gesehen wurde, was die ›Neue Kunstbewegung‹ (xin meishu yundong 新美術運動), die seit Ende der 1920er Jahre das erste Mal in der Entwicklung der Kunst Taiwans das ›Neue‹ dem ›Alten‹ gegenüberstellte, als fortschrittlich erachtete: eine realistische Herangehensweise, die konkret die reale Szenerie Taiwans widerspiegele.133 Die Bedeutung der Identität als Kolonie in der Formung des Kunstverständnisses spiegelt sich auch in einer Selbstexotisierung der Künstler Taiwans wider. Taiwan wurde von Japan aus als die Kolonie im Süden gesehen: rückständiges, raues, heißes Land der ungebildeten Bauern, des roten Staubes, der Bananenstauden und des Zuckerrohrs. Dieser typisch koloniale Blick, der sich in den japanischen Illustrationen und Kunstwerken über Taiwan findet, wurde von den Künstlern Taiwans aufgenommen. Einerseits konnte so eine eigene – im Gegensatz zu Japan, dem eleganten Norden stehende – Identität in einer eigenen Kunst zum Ausdruck gebracht werden,134 andererseits ließ sich mit solcher Kunst besser Anerkennung in den offiziellen Ausstellungen erlangen. Im japanisch besetzten Taiwan wurde also eine Abgrenzung von Japan gesucht – eine Abgrenzung vom ›Westen‹ spielte kaum eine Rolle. Trotz der Abgrenzung von der traditionellen Tuschemalerei, muss angemerkt werden, dass die Suche nach einer modernen Kunst, verstanden als sich einerseits von der eigenen Tradition abgrenzend oder befreiend und andererseits in ständiger widersprüchlicher Auseinandersetzung mit der künstlerischen Entwicklung Europas und der Frage nach einer ›Verwestlichung‹ stehend, im kolonisierten Taiwan – im Gegensatz zu China oder Japan – keine große Rolle spielte.135 Die Suche einer Identität über den künstlerischen Ausdruck ist hier weniger eine Suche nach Modernisierung, sondern eher eine Auseinandersetzung 131 Vgl. Li Shuzhen李淑珍, Anshen liming. Xiandai huaren gongsilingyu de tansuo zu chongjian 安身立命. 現 代華人公私領域的探索與重建 [Das Aufbauen der Existenz. Forschung zum und Rekonstruktion des öffentlichen und privaten Feldes der modernen Chinesen], Taipei 2013, S. 325. 132 Clark, Taiwanese painting, S. 67. 133 Vgl. Hsiao Chong-ray, Zhuangji yu shengfa. 134 Vgl. Xie Shi-Ying 謝世英, Rizhi taizhan xin nanhua yu difang secai: dadongya kuangjia xia de taiwan wenhuarentong 日治臺展新南畫與地方色彩: 大東亞框架下的臺灣文化認同 [New Nanga and Local Color in Art under Japanese Rule: Taiwanʼs Cultural Identity Within the Greater East Asian Framework], in: Yishuxue Yanjiu 藝術學研究, Nr. 10, 5/2012, S. 133-208; Zhuang Bohe 莊伯和, »Rizhi shidai taiwan tuxiang de jianli« 日治時代台灣圖像的建立 [Iconography of Colonial Taiwan], in: Lin Yuchun, Taiwan meishu jindaihua licheng: 1945 nian zhi qian, S. 14-16. 135 Vereinzelt lassen sich Beispiele für diese Auseinandersetzung, ausgehend von taiwanisch-stämmigen Künstlern, finden: So beispielsweise Wang Yuezhi 王悅之 und Guo Bochuan 郭柏川, die beide nach Abschluss des Kunststudiums in Japan nach China gingen und dort eine ostasiatische Ölmalerei (Wang) oder eine chinesische Literatenölmalerei (Guo) zu entwickeln suchten (vgl. Hsiao Chongray, Taiwan meishu shigang S. 271ff.). Dass beide in Japan ihre künstlerische Ausbildung erhielten und in China arbeiteten, zeigt jedoch, dass die Diskussion in Taiwan keine große Relevanz hatte.

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mit der Möglichkeit des zwischen Abgrenzung und Orientierungspunkt liegenden Umgangs mit der japanischen Kolonialmacht. Dies könnte als große Freiheit und Unabhängigkeit von der Verpf lichtung eines als ›eigen‹ im Sinne des ›östlichen‹ definierten kulturellen Erbes in der künstlerischen Entwicklung der Moderne gesehen werden, wie John Clark dies im Gegensatz zu China in Taiwan sieht.136 Es ist jedoch zu beachten, dass trotz der japanischen Assimilationspolitik das kulturelle Zugehörigkeitsgefühl Taiwans zu China stark war und sich die Frage nach einer eigenen Identität in der Kunst durchaus stellte – doch nicht explizit im Bezug zur westlichen Moderne, die zu jener Zeit in Taiwan nicht als ›Direktimport‹ zur Diskussion stand – nur sehr wenige taiwanische Künstler studierten in Europa –, sondern über die japanische Moderne nur indirekt Einlass fand.137 Deutlich wird, dass eine Suche nach dem ›Eigenen‹, das sich durch Abgrenzung bildet, gesucht wird und eine Orientierung an China konstatiert wird.138 136 John Clark bezeichnet die taiwanische Malerei zur Zeit der japanischen Besatzung als modern im begrenzten jedoch kritischen Sinne, als dass sie nicht besessen davon war, wie sie das Erbe einer diskreditierten und restriktiven Vergangenheit fortführen könne, wohingegen es die Tragödie des modernen Chinas gewesen sei, »that the claims of such an artistic heritage were felt when the social base of the art world was not secure enough to allow assimilation and transformation of the new.« (Clark, Taiwanese painting, S. 90) Ich sehe diese Einschätzung als sehr problematisch an. Clark mag richtig in der Betonung liegen, dass sich Taiwan nicht mit der gleichen Intensität wie China mit einem künstlerischen Erbe der im Zusammenbruch begriffenen Vergangenheit auseinandersetzen musste: Die Kunst Taiwans habe freie Entwicklungs-möglichkeiten gehabt, freie Möglichkeiten, das Leben Taiwans darzustellen. Er schreibt: »The criteria established by the Japanese, and later Taiwanese assessors, permitted expression of some essential aspects of Taiwan life or landscape.« Dies hätte dann das Befolgen verschiedener japanischer Stile oder die Abweichung von selbigen erlaubt und hätte den »advent of a quite definite Taiwanese sentiment in both content and expression« (Clark, Taiwanese painting, S. 89f.) zugelassen. Clark leitet die taiwanische kritische Modernität demnach von von einer relativen Unabhängigkeit von westlichen Einflüssen und Anforderungen und der weitestgehenden Unabhängigkeit von der problembehafteten Auseinandersetzung mit der chinesischen Vergangenheit ab, er vergisst hier jedoch die koloniale Identität Taiwans und die Auseinandersetzung mit selbiger als Hauptverhandlungspunkt der taiwanischen Moderne zu betrachten. Insofern halte ich es für zu weit gegriffen, aus der scheinbaren Unabhängigkeit (die man bis zu einem gewissen Grad auch als Unbedarftheit bezeichnen kann) eine kritische Modernität abzuleiten. Clark ist jedoch darin beizupflichten, dass sich mit Blick auf die – erschwerte, aber doch anhaltende – Beziehung zu China der Schluss ziehen lässt, dass Taiwans künstlerische Entwicklung nicht einfach einen verspäteten Abkömmling der japanischen Moderne darstellt (vgl. Clark, Taiwanese painting, S. 88f.). 137 Als gebrochene (refracted) Moderne, wie Yūko Kikuchi in der Einführung zum Sammelband Refracted Modernity. Visual Culture and Identity in Colonial Taiwan schreibt und Gong es aufnimmt (siehe auch Kap. V). Vgl. Yūko Kikuchi: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Refracted modernity. Visual culture and identity in colonial Taiwan. Honolulu 2007. S. 1-17. S. 9f. 138 Zum Gefühl der Zugehörigkeit zu China siehe auch: Fleischauer, Der Traum von der eigenen Nation, S. 38f. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass die taiwanische Nihonga, also die in Taiwan als ›östliche Malerei‹ bezeichnete ›japanische Malerei‹ direkt nach dem Krieg, also nach dem noch informellen Ende der Kolonialzeit in Taiwan, in guohua, in ›Nationale Malerei‹ umbenannt wurde, wobei guo 國auf das ›Mutterland‹ China (zhongguo 中國) verweist. Vgl. Liao Xuefang 廖雪芳, Wei dongyanghua zhengming: Jianjie Lin zhizhu de jiaocaihua 為東洋畫正名: 兼介林之助 的膠彩畫 [Die Richtigstellung des Namens Ostasiatische Malerei: Vorstellung der Klebfarbmalerei

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Auch der Maler Chen Cheng-po, der sich dafür einsetzte, guoyu – die Sprache der Nation und damit Chinesisch – in Taiwan zu verbreiten, malte schon 1946, ziemlich direkt nachdem Taiwan der Republik China zugesprochen worden war, ein Bild, auf dem über seiner Heimatstadt Chiayi die Flagge der Republik China weht und das den Titel Celebration day (qingzhu ri 慶祝日) trägt. Er, der erst in Tokyo studierte, später dann zwischen Shanghai und Taiwan lebte und lehrte, unterstützt also klar das moderne China: die Republik China nach 1911, nach der Xinhai-Revolution, nach dem Sturz des Kaiserreiches – diese Republik, derer Taiwan bis dato offiziell kein Teil gewesen war, also auch keine Identifikation im Sinne einer Nostalgie als Ursache rechtfertigt. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Kunst in Taiwan unter japanischer Besatzung überhaupt erst in einer gesellschaftlich relevanten Weise in Erscheinung trat – also als meishu und damit klar als modernes Phänomen zu werten ist.

3. Die Bedeutungsverschiebung von ›Kunst‹ im modernen ostasiatischen Verständnis Die Bezeichnung der Kunst als ›schön‹, die die Übersetzungen meishu und meiyu und die Übertragungen von ›Ästhetik‹ in meixue (die Lehre des Schönen) oder shenmei (die Untersuchung des Schönen) prägen, sowie die Zeit und Umstände des Auf kommens der Bezeichnung, machen deutlich, dass dieses moderne ostasiatische Kunstverständnis – unabhängig davon, ob man es wie François Jullien als »Import«139 bezeichnet oder im Stil Lu Xuns als »hergeholt« betrachtet – vom europäischen Kunstverständnis vor allem des 19. Jahrhunderts geprägt ist, insbesondere von der hegelschen Idee, der Ästhetik als »Philosophie der schönen Kunst« nachzugehen. Auch dass Cai Yuanpeis Konzept der ästhetischen Erziehung von einem Ästhetikverständnis des deutschen Idealismus, insbesondere von Kant und Schiller, geprägt ist, ist kaum zu übersehen – sei es die Vorstellung, die Anschauung des Schönen könne die Brücke zwischen der Welt der Substanz (shiti shijie 實體世界) und der sinnlichen Welt (xianxiang shijie 現象世界) darstellen oder die Annahme, die Wissenschaft beruhe auf Konzepten, die Kunst aber auf der Anschauung.140 Auch die Vorstellung des Kunstwerks als ästhetisches Objekt sowie dem das Werk betrachtenden Menschen als ästhetisches Subjekt als Grundlage der ästhetischen Erziehung verweist auf ein werkästhetisches Kunstverständnis.141 Lin Zhizhus], in: Hsiung Shih Art Monthly, Nr. 72, 1977, S. 45-53. Da mit diesem Begriff aber auch die moderne festlandchinesische Tuschemalerei bezeichnet wird, kam es in den 1950er Jahren bald zur Debatte um die richtige Bezeichnung (正統國畫論爭). 1977 schlug der Künstler Lin Zhizhu 林之助 die Bezeichnung jiaocaihua 膠彩畫 (wörtlich übersetzt: ›Klebfarbmalerei‹ – die englische Übersetzung ›Gluecolor Painting‹ findet sich oft –, das National Taiwan Museum of Fine Arts übersetzt als ›Eastern Gouache‹) vor, die in der Folge allmählich Akzeptanz findet. Vgl. auch: Liao Hsin-Tien, Yishu de zhangli, S. 23; sowie Hsiao Chong-ray, Wuyue yu dongfang. Zhongguo meishu xiandaihuayundong zai zhanhou taiwan zhi fazhan (1945-1970) 五月與東方. 中國美術現代化運動在戰後臺灣之發展 (19451970) [Fifth Moon und Eastern Painting Group. Die Entwicklung der Bewegung der Modernisierung der chinesischen Kunst im Nachkriegstaiwan (1945-1970)], Taipei 1991. S. 136. Siehe auch Kap. III. 139 François Jullien, Die fremdartige Idee des Schönen, Wien 2012, S. 16. 140 Vgl. Gong Pengcheng, Meixue zai Taiwan de fazhan, S. 5f. 141 Vgl. Wang Peili, Wilhelm von Humboldt und Cai Yuanpei, S. 133f.

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3.1 Ästhetische Grundlagen des traditionellen Kunstverständnisses Die Bezeichnung von Kunst als ›schön‹ spielt in China historisch kaum eine Rolle. Der an der University of Chicago lehrende Kunsthistoriker Wu Hung 巫鴻betont, dass ›schön‹ im klassischen Chinesisch »Gerichte, Menschen (hauptsächlich Frauen, aber auch Männer), moralische Integrität oder gar Politik beschreiben konnte, jedoch sehr selten als Auszeichnung für Kunstwerke genutzt wurde.«142 Die Literatenmalerei seit der Song- und Yuan-Dynastie (960-1279, bzw. 1279-1368 n. Chr.) hätte gar die nur mit Sinnesorganen wahrnehmbare Anziehungskraft bekämpft und ihre Hauptidee stehe in krassem Widerspruch zur visuell wahrnehmbaren Schönheit.143 Dass Schönheit oder das Schöne in China nie eine der abendländischen Tradition nur annähernd vergleichbare Rolle spielte – und schon gar nicht in Bezug auf die Kunst – zeigt François Jullien in seiner Studie Die fremdartige Idee des Schönen. Das Monopol des Schönen gebe es in China – vor dem Kontakt mit Europa – nicht, schon allein deshalb, weil das Chinesische »keine morphologische Unterscheidung zwischen Adjektiv und Substantiv kennt«144. Vor allem aber stellt Jullien fest, dass China das ›Schöne‹ nicht nötig gehabt hätte: »warum hätte dieses für sie eine Streitfrage darstellen sollen? Denn wenn es keine prinzipielle Trennung zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren und dem Geistigen gibt, wozu bedarf es dann der Intervention des Schönen als Bindeglied zwischen dem einen und dem anderen, welches sie vereint und zwischen ihnen vermittelt: […]?«145 So wird im alten China »das ›Geistige‹ oder das ›Leben‹ der Landschaft in keiner Weise ›geliehen‹« – im Gegensatz zur abendländischen Vorstellung, wo Jullien in Anlehnung an Hegel bemerkt, dass die ›Schönheit‹ von dem Echo abhängt, »das die Innerlichkeit eines Subjekts im äußerlichen Schauspiel findet« und die aus einer »zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven wirksamen Vereinigung und Vermittlung« heraus entsteht.146 Die ideale, schöne Form »gehört nicht mehr dem Werden an, sie ist einzig im Sein verankert.«147 Diese die Schönheit ausmachende Form gehe auf eine Notwendigkeit zurück, die nichts Empirisches mehr habe; es decke sich in der Feststellung der Schönheit »das sinnlich Wahrnehmbare vollständig mit dem Verstehbaren«148. In der schönen Gestalt manifestiere sich dann eine Essenz, die »isoliert [ist] vom kontinuierlichen Fluss der Aktualisierungen«149. Kunst macht insofern »›schön‹, indem sie sie festhält (sie verewigt). So wie Midas Gold macht, so macht das Schöne vermittels der Form aus allem, womit es in Berührung kommt, Essenz; […].«150 Das alte chinesische Verständnis von Form (xing 形) bezeichnet hingegen »Form im Sinn einer Formation von Energie, in der die Dynamik der Dinge, im Prozess ihres

142 Wu Hung, Bing bu chuncui de meishu, S. 34. 143 Vgl. ebd. 144 Jullien, Schöne, S. 16. 145 Ebd., S. 58. 146 Ebd., S. 59. 147 Ebd., 64. 148 Ebd. 149 Ebd. 150 Ebd., S. 71.

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

Werdens, gerinnt«151. So hält die Form nicht fest, sondern Interaktionen werden hervorgebracht. In einem Bereich von Abstufungen und dem Zwischen, wird nicht mehr das Eindeutige dargestellt, sondern malt »der chinesische Maler Modifikationen: zwischen Auseinanderf ließen und Konzentration; zwischen dem Auftauchen, das verdeutlicht, und dem Eintauchen, das verschwimmen lässt; zwischen dem ›Vorhandensein‹ der Ausformung und dem ›Nichtvorhandensein‹ der Rückkehr ins Unterschiedslose (you/wu 有无).«152 So wird Kunst – also nicht die meishu oder die modern verstandene yishu – im alten China unter Aspekten der Interaktion, der Transformation angeschaut, wobei die Gestimmtheit des ›Atmens‘‘153 (qiyun 氣韻) eine bedeutende Rolle einnimmt: »›Gestimmtheit im Atmen‹, das bedeutet eine lebendige Selbstbewegung« (qiyun shengdong shi ye 氣韻生動是也)154. Diese erste der sechs Verfahrensweisen der Malerei (hua liufa 畫六法) ist, so Obert, »seit Xie Hes berühmter Vorrede zum wichtigsten Leitsatz in der chinesischen Ästhetik geworden.«155 Es ist die »Bewegtheit des ›Atmens‹«156, die Ausgangspunkt des Schaffens des künstlerischen Werkes ist, wobei das ›Atmen‹ die Verbindung zwischen dem Künstler und der Welt und zwischen anfänglicher künstlerischer Gestimmtheit und dem fertigem Werk darstellt.157 Nicht in der Ähnlichkeit mit einem Realen liegt der Bezug zwischen Kunstwerk und Welt, sondern vielmehr in der Responsivität und der korrespondierenden Zugehörigkeit, die »eine Bewegung [bewirkt], die auf eine gegenseitige Durchdringung vermittels des ›Atmens‹ zurückzuführen ist.«158 Kunst wird also in Bewegung, in der »Anrührung«159, immer in Zusammenhang mit dem Qi-Gedanken gedacht: »Das ›Atmen‹ stellt überhaupt jene Vermittlungsleistung her, die das vielschichtige Wesen der Kunst durchzieht.«160 Die Bedeutung des qi als Leitgedanken in der chinesischen Malerei verweist insbesondere in Bezug auf seine Leiblichkeit und damit auf seine transformative Wahrnehmung von Malerei auf eine Verschiedenheit in der Rezeption und im Schaffen von Kunst im Vergleich zur tradierten abendländischen Vorstellung. »Der Qì-Gedanke steht für ein grundsätzliches Bemühen, das der parmenideisch-platonisch-aristotelischen Erarbeitung einer Wesensontologie für das Abendland entgegengesetzt scheint.«161

151 Ebd., S. 61. 152 Ebd., S. 73. 153 In der Übersetzung von qi 氣als ›Atmen‹, mit der Obert arbeitet, wird qi in der Bewegung verstanden und diese Komponente betont, ebenso wie die damit einhergehende Leiblichkeit, die dem qiGedanken innewohnt. Vgl. Obert, Welt als Bild. 154 Zitiert nach Obert, Welt als Bild, S. 182, sowie 449f. 155 Ebd., S. 182. 156 Ebd., S. 164 [Herv. i. O.]. 157 Vgl. ebd., S. 164f. 158 Ebd., S. 156. 159 Ebd., S. 158. 160 Ebd., S. 168. 161 Ebd., S. 183 [Herv. i. O.].

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Kunst ist in diesem Verständnis im körperlichen Vollzug und in Zugehörigkeit zu sehen und nicht als Festes, wie es – wie Julliens Ausführungen zeigen – das Denken des Schönen in der europäischen Tradition festlegte.162

3.2 Die moderne Verschiebung der Bedeutung von Kunst und die Frage der Analogisierung »Lʼart existe-t-il en Chine?« fragt Yolaine Escande in ihrer Studie Lʼart en Chine.163 Eine provokante Frage, schaut man sich die reiche künstlerische Tradition Chinas (und Ostasiens) und die Auseinandersetzung damit in Traktaten an. Doch sie ist so provokant wie – angesichts der vorausgehenden Ausführungen – gerechtfertigt. Gerechtfertigt ist Escandes Frage demnach, wenn man fragt, was denn mit dem europäischen Konzept ›art‹ oder ›Kunst‹ bezeichnet und was darunter verstanden wird – und ob es nicht eine problematische Verkürzung darstellt, die künstlerischen Ausdrucksformen des vormodernen China mit diesem teleologischen, werkästhetischen Konzept zu fassen. Es gab, so schreibt Xu Fuguan, »davor nur separate Bezeichnungen, wie Malerei, Schnitzerei, Literatur etc., aber keinen einfachen Sammelbegriff« für das, was in der chinesischen Moderne als ›Kunst‹ (also als yishu 藝術) verstanden und aufgeführt wird.164 Bezieht man also das implizite Verständnis von ›art‹ oder ›Kunst‹ – worauf doch auch Xu Fuguans Kommentar, yishu sei die Übersetzung des französischen ›art‹, verweist – auf die traditionelle chinesische Kunst, so ist Escandes Frage zu verneinen: Auch in der für diese Arbeit notwendigen Kürze scheint klar geworden zu sein, dass sich das traditionelle Kunstverständnis Ostasiens und das des Abendlandes sehr unterschiedlich entwickelten und auf verschiedenen Grundannahmen und theoreti-

162 An dieser Stelle sei in aller Kürze der sinologische Diskurs Europas zur zeitgenössischen Rezeption des klassischen China erwähnt: In seiner Streitschrift Gegen François Jullien kritisiert Billeter Julliens Grundannahme, China sei das ›ganz Andere‹ Europas, auf der Jullien all seine Arbeiten verfasse. Jullien setze »a priori, dass das Abendland und China in ihrem Denken zwei nicht nur verschiedene, sondern einander entgegengesetzte Welten bilden.« Billeter zeigt, dass in dieser komparatistischen Herangehensweise »alles von der Wahl der Vergleichsobjekte« abhängt und dass in der chinesischen und der europäischen Geistesgeschichte sich ähnelnde Positionen gefunden werden könnten, die die Vorstellung des einen, einheitlichen Chinas, das Jullien entwickelt und in seinen vielen Schriften zementierte, zum Wackeln bringen. Zur Konstruktion Chinas als des ›ganz Anderen‹ zeigt Billeter, dass dieses bis heute lebendige – und maßgeblich im zeitgenössischen Kontext durch François Jullien belebt, gestützt auf poststrukturalistischen Gedanken – Bild ursprünglich von den jesuitischen Missionaren zu Zwecken der Rechtfertigung ihrer Missionspolitik in den europäischen Kontext getragen wurde und von den Denkern des 17./18. Jahrhunderts wie Voltaire oder Leibniz aufgenommen und weitergetragen wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts sind es dann Texte wie Marcel Granets Das chinesische Denken, die diesen – auch im modernen China selbst lebendigen – Mythos nähren (siehe auch II.2.1). Vgl. Billeter, Gegen Jullien, S. 12ff., S. 38, S. 40f., S. 56f. Dass der Annahme der absoluten Gegensätzlichkeit des chinesischen/ostasiatischen und europäischen/westlichen Kunstverständnis mit Vorsicht zu begegnen ist, zeigt in Bezug auf die Kunst bspw. Craig Clunas, der darauf verweist, dass es sehr wohl auch werkästhetische und der Mimesis verpflichtete Formen des Kunstverständnisses im klassischen chinesischen Verständnis gibt. Vgl. Craig Clunas, Pictures and Visuality in Early Modern China, Princeton 1997. 163 Escande, Lʼart en Chine, S. 11. 164 Xu Fuguan, Zhongguo yishu de jingshen, S. 49.

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schen Grundlegungen beruhen, auch in Bezug darauf, was gesellschaftlich Bedeutung im Sinne von ›Kunst‹ zuerkannt bekommen kann.165 Yolaine Escande bemerkt, dass beispielsweise Skulptur im alten China nicht zu dem gezählt habe, was unter Kunst verstanden wurde, denn: »Les arts sont toujours des activités reliées à l’écriture.«166 Dass die Schrift oder das Schreiben eine bedeutende Rolle in der chinesischen Tradition spielt und viel eher das zu beschreiben vermag, was traditionell in China unter Kunst verstanden wird – ein weghaftes Verständnis – als es das moderne yishu, das tendenziell teleologisch auf ein Werk verweist und künstlerische Formen wie die Skulptur einschließt, wird auch durch den Begriff shuhua 書 畫 (was häufig als ›Schreibkunst und Malerei‹ übersetzt wird)167 deutlich, der eben jene – in der Übersetzung zu Zweien gewordene – Disziplinen als nicht voneinander getrennt versteht. Doch als die Grundlage des modernen ostasiatischen Kunstverständnisses gelegt wurde, war es die Vorstellung des ›Schönen‹ der Kunst und damit also auch ein tendenziell werkästhetisches Kunstverständnis, das der Leiblichkeit und dem Qi-Gedanken keinen besonderen Platz einräumt, das die Übersetzungen und Übertragungen prägte. In der Folge veränderte sich also sehr rasch die Vorstellung von und das Sprechen über chinesische Kunst, die zunehmend ebenfalls unter dem Aspekt des 165 Zum Vergleich lässt sich hier auch die Diskussion darüber, was eine ›chinesische Philosophie‹ sei, bzw. ob man von einer solchen sprechen könne, anführen, wie sie beispielsweise Wolfgang Bauer im Einführungskapitel seiner Geschichte der chinesischen Philosophie in Anbetracht seiner eigenen Nutzung der Bezeichnung »chinesische Philosophie« bespricht. Ist ›Philosophie‹ nicht ein genuin griechisch-abendländischer Begriff und die Bezeichnung ›chinesische Philosophie‹ nicht eine »contradictio in adjecto«, wie Bauer fragt? Handelt es sich in der Bezeichnung der Schriften und Gedanken Laozis, Menziusʼ, Konfuziusʼ oder Zhuangzis als ›Philosophie‹ um eine Vereinnahmung und kann man dem Denken gerecht werden, wenn man es in die »systematische Wahrheitssuche« der abendländischen Philosophie einreiht? (Vgl. Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie. München 2001, S. 17.) Die Frage, was eine ›chinesische Philosophie‹ ist, stellt sich in der Diskussion der modernen Philosophie erneut, jedoch unter anderen Vorzeichen: Das, was heute unter dem Namen ›Philosophie‹ auf Chinesisch und in den chinesischsprachigen Ländern betrieben wird und das denn auch explizit als Philosophie betrieben wird (oftmals in Auseinandersetzung mit den über-setzten Begriffen der abendländischen Philosophie) muss explizit als ›Philosophie‹ bezeichnet werden, auch wenn Konfuziusʼ oder Laozis Denken besprochen werden. Hier von einem ›chinesischen Denken‹ (sixiang 思想 – dies ist, wie Bauer zeigt, auch eine moderne Bezeichnung, die ein Ausweichen des abendländischen Terminus sucht) zu sprechen, käme einem Verleugnen der modernen Entwicklung Chinas im Bereich der Wissenschaft gleich. 166 Escande, Lʼart en Chine, S. 11 [Herv. i. O.]. Auch Mathias Oberts Untersuchung lässt auf diese Nähe schließen, bspw. wenn er an den Bezeichnungen shuxie 書寫, schreiben, und xiehua 寫畫, ein Bild malen, auf die Bedeutung von xie 寫, schreiben, als ›darstellen‹ im Sinne eines »schreibend-bildnerische[n] Bewegungsvollzug eines ›Herausbringens‹, […]« hinweist (Obert, Welt als Bild, S. 96). 167 In der Übersetzung des Textes von Liu Kuo-sung (III.1) ergibt sich aus dem Kontext heraus eine Übersetzung von shuhua als ›Schreiben und Malen‹, was darauf verweist, dass shuhua nicht werkästhetisch gedacht werden kann, sondern der Vollzug mitgedacht werden muss. Anzumerken ist an dieser Übersetzung, dass die als ›Schreibkunst und Malerei‹ oder ›Schreiben und Malen‹ übersetzte Bezeichnung shuhua im Deutschen ein ›und‹ benötigt, was im Chinesischen in einem Begriff gefasst wird und somit das Schreiben und »[das Malen] in Linienzeichnungen« (so Oberts Übersetzung von hua 畫 bei Han Zhuo; vgl. Obert, Welt als Bild, S. 538ff.) zusammengefasst versteht.

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›Schönen‹ betrachtet und diskutiert wurde: »Nachdem das Wort ›Meishu‹ aus dem Westen über Japan in die chinesische Sprache aufgenommen worden war, setzte es dem künstlerischen Schaffen sofort eine neue Serie von Regeln und Zielen.«168 Für den japanischen Kontext zeigt etwa Günter Seubold auf, wie die moderne Kombination gei-jutsu 芸術 für ›Kunst‹ – dieser ursprünglich chinesische Begriff, der in der japanischen Neuprägung dann in China übernommen wurde – dem Kunstverständnis einen Zielcharakter verleiht: der mit jutsu 術 gedachte Weg ist bloßes Mittel zum Zweck, um an ein Ziel – das autonome Kunstwerk – zu gelangen, während das Wegverständnis, das die Wendung gei-dō 芸道 vermittelt, einen Weg (dō 道) beschreibt, dessen Beschreiten die Kunst selbst ist.169 Auch wenn die Wendung geido 芸道 in China auch traditionell kaum Verwendung findet, so ist doch charakteristisch, dass es in der Moderne der jutsu-Begriff war, der ins chinesische Verständnis übernommen wurde. Auch der Begriff huihua 繪畫 (jap. kaiga) – im Meiji-Japan als Reaktion auf die vollkommen verschiedene Vorstellung von Malerei, die durch die Einführung der westlichen Kunst vermittelt wurde, als alle Arten der Malerei umfassender Begriff geprägt – stellt eine moderne japanische Prägung dar und ersetzte weitestgehend die Nutzung des Begriffes shoga (chin.: shuhua):170 Die somit vollzogene Trennung der Schreibkunst von der Malerei markiert einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einem werkästhetischen Kunstverständnis. So wurde, was zunächst in Japan konkret nur die westliche Kunst und die Kunst westlichen Stils bezeichnete, bald zu einer allgemeinen Bezeichnung, auch für dasjenige künstlerische Schaffen, das zuvor mit ostasiatischen Konzepten bezeichnet worden war171 und fand als solch allgemeine Bezeichnung Einlass in das Verständnis in China. So hatte sich das Kunstverständnis vom traditionell prozesshaften hin zu einem ergebnisorientierten verschoben, beurteilt man doch mit der veränderten Begriff lichkeit eine andere Ebene der Kunst. Zweifellos ist es möglich, die modernen Begriffe yishu oder meishu zu nutzen, um ein vormodernes Werk der Schreibkunst zu betrachten, so wie man das Konzept der Lʼart pour lʼart nutzen oder von Abstraktion sprechen kann, wenn man chinesische Berg-Wasser-Malerei betrachtet – der Schwerpunkt der Betrachtung wird sich dadurch allerdings verschieben und es besteht die Gefahr, dass traditionelle ostasiatische Konzepte übersehen werden. Die Leiblichkeit und Prozesshaftigkeit des Schaffensprozesses und der Rezeption fallen in einer solchen werkästhetischen Betrachtungsweise beispielsweise aus dem Blick und unter der Idee der ›Technik des Schönen‹ wird gefasst, was nicht als solche geschaffen worden ist, was nicht unter dem Paradigma gedacht und vorgestellt worden ist und entsprechend nicht die Funktion jenes Bindeglieds zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren und dem Geistigen hatte, was nicht als Kunst im modernen Sinne zu seiner Entstehungszeit geschaffen und gedacht worden ist.

168 Wu Hung, Bing bu chuncui de meishu, S. 34 [Herv. d. Verf.]. 169 Seubold, Inhalt und Umfang des japanischen Kunstbegriffs, S. 398. 170 Vgl. Dōshin Satō, Modern Japanese Art and the Meiji State, Los Angeles 2011, S. 189; John Clark, »Okakura Tenshin and Aesthetic Nationalism«, in: Thomas Rimer (Hg.), Since Meiji. Perspectives on the Japanese visual arts, 1868-2000, Honolulu 2011, S. 212-256, S. 236. 171 Vgl. Seubold, Inhalt und Umfang des japanischen Kunstbegriffs, S. 395ff.

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Eine solche Analogisierung lässt sich sowohl in den Schriften zu Beginn des modernen China finden – beispielsweise wenn in Zhu Guangqians 朱光潛 1932 erschienener Schrift Diskussion über das Schöne vom Naturschönen (ziranmei 自然美) und dem Kunstschönen (yishumei 藝術美) in Bezug auf daoistische Ideen die Rede ist172 –, als auch in den heutigen: Wenn Li Zehou 李澤厚 von der ›chinesischen Ästhetik‹ (huaxia meixue 華夏美學) spricht, oder in seinem Werk Der Weg des Schönen173 eine Geschichte der traditionellen chinesischen Kunst entwirft – begonnen bei prähistorischen Totembildern, über die Schreibkunst, bis hin zur Kunst und Literatur der Ming- und QingZeit – und deren Entwicklung entlang am Konzept des ›Schönen‹ (mei 美) erklärt und dabei immer wieder den Terminus yishu174 und gar den Begriff der ›Bildenden Kunst‹ (zaoxing yishu) als Kategorisierung im Sinne einer modernen Kunstgeschichte heranzieht, so ist dies eine sowohl anachronistische als auch analogisierende Beschreibung. Es zeigt sich somit, dass die neue Form des Kunstverständnisses nicht nur ›vorwärts‹ verläuft, also für die in Chinas Moderne geschaffene Kunst und deren Kritik gilt, sondern auch ›rückwärts‹, also in der heutigen, anachronistischen Bewertung der traditionellen chinesischen Kunst angewendet wird.175 172 Zhu Guangqian, Tan mei 談美 [Diskussion über das Schöne], Guilin 2011. 173 Li Zehou, Mei de licheng 美的歷程 [Der Weg des Schönen], Taipei 1984. 174 Als Beispiel soll hier ein kurzer Auszug zur Architekturkunst (jianzhu yishu 建築藝術) dienen: »All diese Merkmale erscheinen in einem gewissen Maße und in gewisser Bedeutung auch in der Kunst der Architektur, die die abstrakte Linie und den abstrakten Raum zum Gegenüber der ästhetischen Kontemplation macht.« (Li Zehou, Mei de licheng, S. 77; deutsch: Der Weg des Schönen. Wesen und Geschichte der chinesischen Kultur und Ästhetik. Freiburg 1992, eigene Übersetzung angelehnt an S. 109f.) Es zeigt sich in diesem Auszug, dass Li Zehou den Begriff yishu hier nicht in der alten, ursprünglichen Bedeutung eines technischen Könnens verwendet, sondern ein modernes Verständnis von Kunst und der Kontemplation von Kunst und der Bedeutung selbiger zugrundelegt. Ein zugrundegelegtes modernes Kunstverständnis zeigt sich auch an der Einordnung von Architektur als ›Kunst‹: Die Architektur, ebenso wie die Bildhauerei, hatte den Status eines Handwerks, einer Technik, die von anonymen Handwerkern geschaffen wurde (vgl. u.a. Escande, Lʼart en Chine, S. 11; Brinker, Die chinesische Kunst, S. 14). 175 In diesem Zusammenhang bleibt zu bemerken, dass es nicht nur die chinesische Kunstkritik und Ästhetik seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist, die in einer vergleichenden Analogisierung die Rede vom Schönen befeuert, sondern wie François Jullien und auch Mathias Obert zeigen, sind es auch die Übersetzungen und Diskussionen im westlichen (sinologischen und kunstwissenschaftlichen) Kontext, die diese Entwicklung bis heute nähren, indem vereinfachend eine »Analogisierung mit scheinbar ›verwandten‹ Erscheinungen aus der abendländischen Geschichte« (Obert, Welt als Bild, S.  109) vollzogen wird. Dies geschieht bis heute beispielsweise dann, wenn Helmut Brinker die Kritik an Wang Qias (Wang Mos) um 800 entstandene ›Technik der gespritzten Tusche‹ (pomo 潑墨, von Brinker als »aufgespritzte oder hingekleckste Tusche« übersetzt) mit folgenden Worten beschreibt: »Was die Kritiker an solchen ›action paintings‹ störte, […]« (Brinker, Die chinesische Kunst, S. 42). Dass dieses Bild auf die chinesische und taiwanische Erzählung und das Verständnis des eigenen traditionellen Kunstverständnisses rückwirkt und das Sprechen beeinflusst, zeigt sich, betrachtet man, dass beispielsweise Steven Bushells Chinese Art (1904) von Dai You ins Chinesische übersetzt wurde und somit zum Lehrmaterial über die chinesische Kunst in China selbst wurde (vgl. Sullivan, Art and Artists of Twentieth Century China, S.  25). Inwieweit sich diese Form des Sprechens verselbstständigt hat, zeigt sich, wenn beispielsweise der taiwanische Kunsthistoriker Hsiao Chong-ray ganz selbstverständlich von dem taiwanischen ›meigan‹ 美感, dem Schönheitsempfinden, spricht oder kunstwissenschaftlich-sinologische Texte, etwa von Craig Clunas, James Cahill oder Michael

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Hier könnte die Kritik einer Okzidentalisierung laut werden, die die traditionellen chinesischen Formen der Kunst176 im Vokabular der europäischen Moderne analogisierend neu erfindet und angesichts dieser anachronistischen Geste allmählich vergisst. Einer solchen Analogisierung sollte kritisch begegnet werden, sie sollte herausgestellt und im jeweiligen Falle hinterfragt werden. Es besteht die Gefahr, dass der Blick auf etwas verstellt wird und dass durch die neue Weise Kunst zu denken, etwas verschwindet. Mathias Obert fragt insofern berechtigterweise »inwieweit die von Europa her übernommene Kunstphilosophie des Idealismus überhaupt als tauglich und sinnvoll für die philosophische Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Denken im vormodernen China anzusehen ist«177, wobei er jedoch ebenfalls bemerkt, dass dies wohl »einen längst unverzichtbaren ›Denkraum‹ darstellt«178. Hieran anschließend ist festzuhalten, dass eine solche anachronistische Analogiebildung nicht einfach als ›falsch‹ oder ›unpassend‹ und daher per se als ›uninteressant‘‘179 und nicht beachtenswert abgestempelt werden sollte. Vielleicht zeigt sich das am schon zitierten Beispiel Xu Fuguans recht deutlich: Denn obgleich er sehr klar macht, dass yishu neuzeitlich Sullivan, übersetzt ins Chinesische als Unterrichts- und Referenzmaterial zur chinesischen Kunstgeschichte (die wiederum folglich als meishushi, als ›Geschichte der schönen Kunst‹, bezeichnet wird) dienen. 176 Man könnte einwenden, dass die in Bezug auf die Vorstellung des Schönen und damit auf die im Zuge der Modernisierung geschehene Veränderung des Kunstverständnisses ausgeführten Probleme, sich zwar auf die Begriffe meishu und meixue beziehen, jedoch nicht den Begriff yishu, der schon in traditionellen chinesischen Texten eine Rolle spielte, betreffen. Jedoch lässt sich hiergegen sagen, dass beide Begriffe (inzwischen) ähnlich diffus verwendet werden, wie dies im deutschen Sprachgebrauch für die Begriffe ›Kunst‹ oder ›Schöne Kunst‹ der Fall ist. So wird von shijueyishu, den Visual Arts, oder der zaoxingyishu, der Bildenden Kunst, gesprochen. Dies geschieht nicht nur im populären Kontext, sondern ist auch im akademischen Kontext gang und gäbe. Es ist denn auch von Kunstgeschichte mal von meishushi, dann wieder von yishushi die Rede – egal ob es sich auf traditionelle chinesische Kunst oder auf moderne Kunst bezieht –, wobei beides denn in etwa das Gleiche bezeichnet. Die vormoderne Bedeutung von yishu ist im heutigen Verständnis nicht mehr – oder nur noch marginal – von Bedeutung. Inwieweit die abendländische Idee des Schönen auch die Vorstellung der modernen yishu dominiert, zeigt das Sprechen vom Kunstschönen (als yishumei 藝術美bezeichnet), im Gegensatz zum Naturschönen (ziranmei 自然美). Es kann also davon ausgegangen werden, dass die abendländische Vorstellung von Kunst – vermittelt über die Idee des Schönen – auch im modernen Gebrauch der Bezeichnung yishu steckt, auch wenn es sich nicht explizit in der Bezeichnung niederschlägt. Dies zeigt sich auch darin, dass es sich um eine Begriffsprägung handelt, die aus dem Japanischen übernommen wurde, wo die Bezeichnung yishu traditionell nicht genutzt wurde, und damit klar ein abendländisches, also auf die Schönheit verweisendes Verständnis bezeichnet. 177 Obert, Welt als Bild, S. 108. 178 Ebd. 179 Diese Kritik bringt François Jullien beispielsweise in einem Interview zum Ausdruck (Détour d’un grec par la Chine. Entretien avec François Jullien; online verfügbar unter: www.lacanchine.com/ChCL_ Jullien1.html, Stand: 12.8.2014): »J’ai le sentiment, d’une part, que la pensée européenne, ou les catégories de la pensée européenne, tendent à recouvrir le monde, à l’époque de la mondialisation. C’est ce que j’évoquais tout à l’heure : la pensée standard. Donc la pensée chinoise explicite, aujourd’hui, est très peu intéressante. Elle est quasiment nulle. […] Et puis, quand ils commentent leurs textes classiques, ils les commentent souvent avec une langue formée à la nôtre: subjectif, objectif, vérité, esthétique etc., tout notre outillage, et rendent souvent illisible ou inintéressante leur propre pensée.«

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verstanden werden muss, so benennt er doch in seiner Schrift Der Geist der chinesischen Kunst180 die traditionelle chinesische Kunst, deren Verständnis er vom Konfuzianismus und Daoismus her aufrollt, bewusst als yishu. So findet einerseits eine Neubewertung durch die sprachliche Verschiebung statt, die man als problematisch bezeichnen könnte. Andererseits eröffnen sich in der hybriden Bezeichnung Denkmöglichkeiten, die einen erweiterten Blick auf Kunst erlauben. Betont werden muss daher, dass das abendländische Verständnis die traditionellen Vorstellungen durchdringt und zum Teil tiefgreifend verändert – sie aber nicht einfach ersetzt. Um sich der Frage der Nutzung moderner Konzepte und der Hybridität der chinesischen Moderne anzunähern, hilft es, den Blick auf eine künstlerische Form zu richten, die in der (westlichen) Definition von moderner und zeitgenössischer Kunst kaum einen Platz hat: die moderne und zeitgenössische Tuschemalerei. Auch oder gerade wenn sie als scheinbar traditionelle Form von der Diskussion um die moderne Bedeutungsverschiebung von Kunst ausgeschlossen zu sein scheint, ist sie unweigerlich vor diesem Hintergrund und in Auseinandersetzung mit ihm entstanden. Ist sie stilistisch keine ›moderne Kunst‹ im Greenbergʼschen Sinne, so ist sie doch in Auseinandersetzung mit der modernen Idee der ›Kunst‹ geschaffen. Sie ist nicht zu denken ohne die Auseinandersetzung mit der Frage nach ihrer Position oder aber Nicht-Position im modernen eurozentrischen Kunstverständnis einerseits und den Fragen, die die erzwungene Modernisierung Chinas in Bezug auf die Bedeutung der chinesischen Tradition andererseits ergab. Es entwickelte sich hier also eine moderne Form des Kunstschaffens, das vermeintlich das alte, traditionelle chinesische Kunstverständnis bezeichnet, jedoch in dieser Ausprägung erst in der Moderne, aus der Erfahrung der erzwungenen Modernisierung entstehen konnte. Das drückt sich schon in der modernen Bezeichnung guohua aus, eine Bezeichnung, die explizit die in der Moderne geschaffene chinesische (verstanden im Sinne einer geografisch und kulturell definierten Nation) Malerei in Abgrenzung zur westlichen Malerei meint. Eine Beschreibung der guohua rein mit Begriffen und Konzepten der chinesischen Tradition, als den Eurozentrismus kritisierende Geste, »die – im Namen der vermeintlichen Achtung vor der Eigenart chinesischer Kultur – jede Anwendung westlicher Begriffe auf China als ›geistigen Imperialismus‹ zurückweist«, erwiese sich »als fruchtlose und falsche Rücksichtnahme […].«181 Es würde 180 Der chinesische Originaltitel sei an dieser Stelle nochmal hervorgehoben: zhongguo yishu jingshen 中國藝術精神. 181 Heubel, Chinesische Gegenwartsphilosophie, S. 25. Guohua muss also als dezidiert modernes Phänomen gesehen werden – worauf auch schon der Begriff selbst verweist, der aber häufig in Bezug auf die traditionelle Tuschemalerei verwendet wird. So beispielsweise bei Michael Sullivan, der von »[…] traditional Chinese painting (guohua) […]« (Michael Sullivan, Art and Artists of Twentieth Century China, S. 5) spricht und somit die traditionelle chinesische Malerei als guohua, als nationale Malerei, bezeichnet. Er vollzieht nebenbei und unbewusst eine Gleichsetzung der Literatenmalerei oder Tuschemalerei mit der modernen Bezeichnung der nationalen Malerei, die doch erst im Gegensatz zur westlichen Malerei diesen Namen bekam. Es ist kein Wunder, wenn in der Folge dann beispielsweise die niederländische Sinologin Lucien van Valen in einer Buchbesprechung von Aida Yuen Wongs Parting the Mists: Discovering Japan and the Rise of National-Style Painting in Modern China (Honolulu 2006) Wongs Bemerkung, guohua 國畫 käme von der japanischen modernen Bezeichnung kokuga als falsch ›entlarvt‹, verweise guo 國 doch auf zhongguo 中國, China. Van Valen versteht guohua damit als traditionelle Bezeichnung (vgl. Lucien van Valen, Parting the Mists. Review, in: IIAS Newsletter, Nr. 44, 2007, S. 36; online verfügbar unter:

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so ignoriert werden, dass die Auseinandersetzung mit der Modernisierung – und damit zusammenhängend auch die Abgrenzung von einem westlichen Kunstverständnis – essentieller Teil derselben ist. Auch die bei Xu Fuguan deutlich werdenden, innerchinesischen Entwicklungen würden so ignoriert. Das moderne Nachdenken über yishu muss – auch in der oftmals widersprüchlichen und unref lektierten analogisierenden und anachronistischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit – als ein Teil Chinas gesehen und anerkannt werden. Denn es ist in der Entwicklung einer solchen Eigendynamik, wie sie bei Xu Fuguan oder aber in der Entwicklung der guohua deutlich wird, dass das ›Hergeholte‹ auch als eine aktive und fruchtbare Auseinandersetzung über transkulturelle Prozesse provozierend gesehen werden muss, und nicht nur als ein passiver »Import« (wie von Jullien bezeichnet)182. Es entstand in der chinesischen Moderne eine Art, über Kunst nachzudenken, die als ›hybrid‹183 bezeichnet werden könnte und deren Wert eben nicht darin liegt, das ›ganz Andere‹ zu sein – sie ist weder ganz anders als das abendländische Kunstverständnis noch ganz anders als das chinesisch traditionelle.184 Es ist keine Art des Verstehens, zu dem kein Zugang gefunden werden kann, weil es – vom westlichen Standpunkt aus gesehen – vollkommen fremd wäre. Wir begegnen hier keinen Kategorien, die vor die »schiere Unmöglichkeit, das zu denken«185 stellen. Es scheint zunächst nicht nötig, den Weg der Akkulturation zu gehen, um ihr zu begegnen (wie Jullien für das vormoderne chinesische Denken konstatiert).186 Ich gehe davon aus, dass es eben dieser Prozess einer Aushandlung, einer Neubewertung und Neudefinition im Modernen und Zeitgenössischen ist, der lohnt, genauer betrachtet zu werden und der unbedingt in die Betrachtung des modernen und zeitgenössischen Kunstverständnisses einbezogen werden muss. Denn es ist hier, dass eine möglicherweise fruchtbare Transformation der Begriffe und Konzepte für ein globales Sprechen über Kunst gefunden werden kann, dessen Besonderheit nicht im Anderssein liegt, sondern dass sich hier dem Problem der formalen Ähnlichkeit und dem konstatierten ›trotzdem Anderssein‹ genähert werden kann. www.iias.asia/nl/44/IIAS_NL44_37.pdf, Stand 3.12.2013). Ihre »falsche Rücksichtnahme« (so Heubel, dessen Bezeichnung ich hier folge) übersieht somit die modernen Implikationen und die Stellung als Gegensatz zum ›Westlichen‹, die dieser Begriff aufgrund seiner Entwicklungsgeschichte trägt und damit auf die Idee des Nationalstaates verweist. 182 Jullien, Schöne, S. 16. 183 Dass das hier genutzte Konzept der ›Hybridität‹ als Beschreibung des ›Nicht-Westlichen‹ mit Vorsicht geschehen muss, wird – neben Monica Juneja, siehe Kap.II.1.1 – auch von Yūko Kikuchi angesprochen (vgl. Kikuchi, Introduction. S. 8f.). So ist es einerseits der inflationäre Gebrauch der postkolonial inspirierten Konzepte, der die Nutzung problematisch macht, aber vor allem auch die Vorstellung des nicht-hybriden und reinen Westens, der mit ›hybrid‹ eine hegemoniale Zuschreibung vollführt. 184 Somit ist ein »Umweg«, wie ihn François Jullien in vielen seiner Arbeiten für die Auseinandersetzung mit China nutzt, um im Kontrast des ›ganz anderen Chinas‹ das europäische Denken zu erkennen, nicht möglich. Doch meine ich, dass genau ein Weg hin zu einer Position des Nicht-ganz-Anderen Denkwege eröffnen kann. 185 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, S. 17. Ich nutze dieses Zitat Foucaults hier auch, um darauf hinzuweisen, wie tief die Vorstellung von China als absolut Anderes, als größtmöglich Unbekanntes, verankert ist (siehe auch II.3.2). 186 Jullien, Schöne, S. 57.

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

4. Zusammenfassung und Ausblick 4.1 Zusammenfassung ›Ja, Kunst existiert im modernen Taiwan‹ – so muss Yolaine Escandes eigentlich auf die Definition der vormodernen Kunst gerichtete Frage, ob Kunst in China, respektive Taiwan, existiere, ohne Zögern beantwortet werden. Denn wenn auch in Bezug auf das vormoderne künstlerische Schaffen fraglich ist, ob das mit ›Kunst‹ (›art‹) bezeichnete Konzept und die zugehörigen Implikationen hilfreich für die Betrachtung sind oder eher den Blick auf Besonderheiten der chinesischen ästhetischen Vorstellungen versperren, so stellt sich diese Frage nicht mehr mit Eintritt in die von Gleichzeitigkeit geprägte Moderne, in der »Europäer und Chinesen in ein und derselben Zeit leben«187 und also auch eine ähnliche Vorstellung des Kunstschaffens herrscht. Denn auch wenn die schöne Kunst ein, wie Wu Hung schreibt, aus dem Westen »eingewandertes Produkt«188 ist, dessen Wortprägung zur Zeit der beginnenden Moderne Ostasiens Verbreitung fand und die Art über Kunst nachzudenken und Kunst zu schaffen veränderte und prägte, so ist doch die dem neuen Konzept implizite Vorstellung des Schönen und das werkästhetische, teleologische Verständnis von Kunst in der folgenden modernen Diskussion Ostasiens nicht als Fremdkörper, als falsch zu sehen, sondern als internalisierter Teil des Denkens und Kunstschaffens. Das moderne und zeitgenössische künstlerische Schaffen ist also als Kunstwerk von Künstlern im modernen europäischen Sinne geschaffen zu sehen (es schwingt hier immer auch ein Autonomiegedanke, der Geniegedanke, die Vorstellung der Kunst als geschaffenes und abgeschlossenes Werk an sich, sowie die Idee des Unterschiedes eines Kunst- und Naturschönen implizit mit). Es handelt sich folglich keinesfalls um eine anachronistische kulturell-vereinnahmende Bezeichnung und ist nicht vergleichbar mit der aneignenden Bezeichnung beispielsweise afrikanischer Masken als ›afrikanische Kunst‹.189 Auch besteht nicht die Gefahr einer analogisierenden Bezeichnung, wie beispielsweise im Verständnis der klassisch-chinesischen Berg-Wasser-Malerei als Landschaftsmalerei oder der ostasiatischen Schreibkunst als Kalligrafie und damit als Schön-Schrift. Die als yishu oder meishu geschaffene Kunst ist immer als in Auseinandersetzung mit abendländischen Konzepten als Kunst im modernen europäischen Sinne entstanden zu sehen. Doch steckt im Übertragen der Frage auf die moderne und zeitgenössische Situation der Kunst Ostasiens eine Brisanz, die als Hilfestellung dienen kann, den Blick zu öffnen für die anhaltende, von Problemen geprägte Auseinandersetzung mit der Frage der Bedeutung von ›moderner Kunst‹ im globalen Kontext. Denn die Frage verweist auf die Unsicherheit, die mit der modernen Nutzung des Begriffs, des Konzepts ›Kunst‹ (als jenes moderne Hybrid yishu) verbunden ist – ist es legitim, es zu nutzen? 187 Billeter, Gegen Jullien, S. 78. 188 Bolaipin 舶來品 schreibt Wu Hung (Wu Hung, Bing bu chuncui de meishu, S. 34). 189 An die in Kapitel I.2.2 stehende Anmerkung Michel Espagnes sowie Hans Beltings, dass bei einem solchen Beispiel die Bezeichnung ›Kunst‹ mit Vorsicht zu verwenden ist, sei an dieser Stelle erinnert. Doch während beide die Beobachtung machen, dass es sich bei Masken nicht um ›Kunst‹ im modernen Sinne handelt, sei angemerkt, dass beide nicht darauf hinweisen, dass das in der nicht-westlichen Moderne künstlerisch Geschaffene jedoch explizit als Kunst geschaffen wurde. Siehe hierzu vor allem auch Kap. VI.5.

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ist man verspätet? ist man nur ein Zweites des westlichen Diskurses? ist Kunst nicht immer eigentlich europäisch und was ist dann das Taiwanische? – und damit auf die Normativität, durch die ›moderne Kunst‹, als im globalen Kunstdiskurs implizit immer zunächst dem Westen zugehörig gedacht, zum zentralen Problem wird. So soll das ohne Zögern vorgebrachte ›Ja‹ und gleichermaßen die diesem ›Ja‹ anhängenden Zweifel und Fragen, die durch die Betrachtung des historischen Hintergrundes eingebettet werden, die folgende Analyse dreier Texte des modernen und zeitgenössischen taiwanischen Kunstdiskurses leiten. Die oben gestellte Frage, wie ›Moderne‹ von Ostasien aus gesehen wird, wird im Folgenden in eine historische Perspektive gebracht werden, um das Sprechen über ›Kunst‹ von den zeitgenössischen Widersprüchen und Vorannahmen losgelöst betrachten zu können: Wie wird Kunst also im Rahmen von im ostasiatischen Modernisierungsprozess übersetzten Konzepten der Moderne und Avantgarde und schließlich Postmoderne und Zeitgenossenschaft in Taiwan verstanden und wie wird darüber gesprochen, bezogen auf den globalen Kontext? Die zentrale zugrundeliegende These ist daher, dass Kunst, verstanden als, geschaffen als und beschrieben mit den Begriffen yishu oder meishu – die im ostasiatischen Modernisierungsprozess als Übersetzungen des europäischen Konzeptes von Kunst geprägt wurden – immer schon insofern modern ist, als dass dem Verständnis sowohl der schwierige Prozess der Neubewertung des Traditionellen als auch der Rezeptionsprozess des westlichen Kunstverständnisses zugrundeliegt und von Beginn an als hybrid verstanden werden muss. Daher können moderne und zeitgenössische Prozesse in der Kunst Taiwans einerseits kaum in einer reinen und direkten Referenz zu europäischen Theorien betrachtet werden, andererseits können sie nicht ohne die Betrachtung der Referenz zur europäischen Moderne und deren universellem und gleichzeitig normativem Status verstanden werden. Die Verhandlung von Kunst muss einerseits die abendländische Definition als Teil beachten, gleichzeitig muss aber auch der andere Hintergrund, die andere Entstehungsgeschichte, der andere Modernisierungsprozess beachtet und hervorgehoben werden. Die moderne und zeitgenössische taiwanische Kunst und die Diskussion um sie bleiben unzugänglich ohne die Betrachtung und Ref lexion dieses (historischen) Hintergrunds und der damit verbundenen Bedeutung der Asymmetrie.

4.2 Einführung in die Analysen Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen zeigt sich, dass die Grundlagen der Moderne in der Kunst im Nachkriegstaiwan in der Auseinandersetzung mit der japanischen Kolonialzeit und – aufgrund der politischen Situation – mit der vom chinesischen Festland ›eingewanderten‹ Republik China liegen. Auch wenn sich die von der japanischen Besatzung geprägten Jahre vor der Etablierung der Republik China auf Taiwan von der Erfahrung Festlandchinas unterscheiden, so ist doch beiden die tiefgreifende, von vielen Widersprüchen in der Selbstbetrachtung geprägte Veränderung in der Gesellschaftsstruktur gemein, die Ende der 1940er Jahre im ›Taiwan als Republik China‹ zusammenf ließen und den Weg bereiten für eine angeregte, nicht ohne Widersprüche auskommende Diskussion darüber, welche Rolle die Kunst einnehmen kann.190 190 Zur Wahl des Zeitraumes der Untersuchung, siehe auch Kap. I.2.3.

II. Eröffnung der Problemhorizonte des Sprechens über Kunst im globalen Rahmen

Liu Kuo-sungs 劉國松 Text Vergangenheit – Moderne – Tradition aus dem Jahre 1962, der als erster in der folgenden Analyse betrachtet wird, steht in der Folge der Diskussion um die Modernisierung Chinas, behandelt eindringlich die Fragen, die sich durch den erzwungenen Eintritt in die Moderne ergeben (wie in II.2.1 behandelt): wie sich zum Alten, zum Chinesischen verhalten, wie mit dem Westen umgehen? Gleichzeitig ist für Liu Kuo-sung die Frage nach einem möglichen Erlangen von Modernität nicht mehr gegeben – er ist modern und sieht sich als modern, er fragt nicht mehr nach dem Weg in die Moderne, sondern nach dem einzuschlagenden Weg der Malerei in der Moderne. Anknüpfend an die Bewegung des 4. Mai, an deren Kritik, Ideen und Aufruf zur unbedingt notwendigen Modernisierung, und an den Beginn einer sich international einordnenden modernen Kunstbewegung in China – Zao Wou-Ki 趙無極 nennt er vor allem – und aber die moderne Kunst in Taiwan mit vorantreibend, kann Liu als zwischen dem Ende der Diskussion in China und dem Beginn einer neuen, sich international eingebettet sehenden Form der Diskussion der Moderne der Kunst Chinas bzw. Taiwans191 stehend gesehen werden.192 So ist die Diskussion seit den 1950er Jahren in Taiwan also als sich selbst als modern einordnend und trotzdem mit den Fragen der Bedeutung von ›Moderne‹ und der Legitimation der Über-setzung derselben in ständiger Auseinandersetzung stehend zu sehen.193 Der Schwerpunkt liegt auf dem ›wie‹ der weiteren Gestaltung der Modernisierung, wohingegen das ›ob‹, das sich beispielsweise im Kontext der zu Beginn der Republikzeit stehenden Wiederbelebung der guohua noch findet (das aber aufgrund des Zwanges nie wirklich zur Debatte stand) in den Hintergrund rückt. Hier beginnt die folgende Analyse – vor dem historischen Hintergrund einerseits und der heutigen Situation, der in diesem Kapitel erarbeiteten Beobachtung also, dass das zeitgenössische Sprechen über moderne Kunst in Taiwan immer von Widersprüchen angesichts der Bedeutung der Paradigmen der Moderne durchzogen ist, die sich vor allem aus der Ignoranz der Problematik der nicht-westlichen Moderne durch die noch immer definitionsmächtige westliche Kunstszene ergeben. Die Diskussion der modernen künstlerisch-kulturellen Selbstverortung ist, so zeigt das Sprechen von den verschiedenen Quellen als Grundlage der Kunst Taiwans, von Unsicherheiten und Widersprüchen geprägt und beeinf lusst das Sprechen über die Kunst Taiwans bis heute. Die Beobachtung dieser Situation leitet die vorliegende Untersuchung und liegt also auch der hier folgenden Analyse der Texte zugrunde und bestimmt die Ausrichtung der Analyse auf die Frage nach der Bedeutung der Normativität des westlichen Kunstverständnisses. So soll nachvollzogen werden, wie die (von Europa aus gesehen

191 Liu sieht sich als dem ›freien China‹ zugehörig, sein Kunstschaffen setzt die moderne Bewegung des Festlandes fort. Siehe dazu Kap. III. 192 Eine ähnliche Einschätzung lässt sich im Text Von Kang Youwei bis Liu Kuo-sung. Der Weg der Modernisierung der chinesischen Malerei von Pan Anyi 潘安仪finden (vgl. Pan Anyi 潘安仪, Cong Kang Youwei dao Liu Guosong. Zhongguohua de xiandaihua zhi lu 从康有为到刘国松. 中国画的现代化之路; online verfügbar unter: www.cafa.com.cn/comments/?N=3319, Stand 15.2.2017). 193 Alle Texte sind sprachlich und in der Diskussionsform zutiefst moderne Texte: während dies für die Texte von 1992 und 2012, die vor dem Hintergrund einer globalen Kunstszene entstanden sind, klar ist, ist das besonders für Liu Kuo-sungs Diskussion der ›chinesischen modernen Malerei‹ noch einmal hervorzuheben. Denn auch hierin zeigt sich die im Folgenden sichtbare Selbstverständlichkeit der Selbstbeschreibung als ›modern‹.

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nach wie vor nahezu nicht-beachteten) taiwanischen Diskurse um Moderne und Zeitgenossenschaft in der Kunst verstanden werden können und welche Möglichkeiten sich für das zeitgenössische Sprechen über Kunst ergeben, die über das Exotisierende und Ethnisierende herausgehen. Es wird beobachtet, wie die taiwanische Moderne zu verstehen sein kann – eine Moderne, die als Über-Setzung immer Gefahr läuft als Kopie verstanden zu werden und sich selbst zu verstehen. In den folgenden drei Kapiteln werden Etappen der Auseinandersetzung in Form dreier kunstkritischer Texte analysiert und interpretiert und die zeitgenössische Diskussion so rückgebunden in die Entwicklung des Sprechens über Kunst in Taiwan. Die drei gewählten Texte von Liu Kuo-sung 劉國松 (aus dem Jahre 1962), Chen Chuan-xing 陳傳興 (1992) und Gong Jow-jiun 龔卓軍 (2012 verfasst), blicken alle kritisch ref lektierend auf die jeweils zeitgenössische Disposition der Kunstszene Taiwans und deren Diskussionsformen und -muster und distanzieren sich bewusst von der jeweils allgemeinen Haltung der Kunstszene, die von allen als unkritisch und als vorgegebenen Wegen nicht ref lektierend folgend wahrgenommen wird. Trotz dieser Position außerhalb des Mainstreams sind alle drei Künstler/Kritiker für die Kunstszene wichtig, ihre Meinung wird gehört.194 Durch die Analyse, worauf – auf welche Übersetzungen, welches Wissen, welche Begriffe, Vorstellungen und Konzepte – zurückgegriffen wird, welche Referenzen und Diskurse als Bezugspunkte dienen, welche Vorstellung der Bedeutung von künstlerischem Schaffen das jeweilige Sprechen über Kunst impliziert, soll ein Bild der Fragen und Probleme, mit denen das heutige zeitgenössische Kunstschaffen von Taiwan aus gesehen zu kämpfen hat, gezeichnet werden. Die Analyse wird dabei geleitet von den Fragen, wie die Frage was moderne Kunst ist und was es bedeutet, sie zu schaffen/über sie zu sprechen, verhandelt wird und welche Fragen und Probleme dabei (vor allem vor dem Hintergrund der Globalisierung des Kunstdiskurses) sichtbar werden. Dabei geht es nicht darum, sichtbare und formale Unterschiede herauszustellen, sondern durch die detaillierte Analyse die Unterschiede im Selbstverständnis aufzuspüren. Durch die chronologische Perspektivierung kann weiter der Frage nach möglichen Veränderungen und deren Ursachen seit den 50er Jahren in Bezug auf ästhetische Aspekte, traditionelle Konzepte oder den Umgang mit Geschichte, Gesellschaft und Politik nachgegangen werden. Alle Texte sind in Taiwan, auf Chinesisch und für den taiwanischen Kontext geschrieben worden, sodass die Analyse der Texte auch eine Wendung der Perspektive bedeutet: Erst durch die Positionierung in Taiwan können die Anforderungen und die weiterbestehende Asymmetrie im Globalen sichtbar gemacht werden.

194 So leiteten die Aspekte Relevanz, kritisches Urteil, Einbezogenheit in den Kunstdiskurs Taiwans, internationale Perspektive (aber trotzdem klar für einen taiwanischen Leserkreis geschrieben) und langfristige Auswirkung und Rezeption meine Auswahl der Texte.

III. Die Suche nach einer Weltkunst. Liu Kuo-sungs 劉國松 Blick auf die moderne Kunst der 50er/60er Jahre 1. Übersetzung von Liu Kuo-sungs 1962 veröffentlichtem Text(*) Vergangenheit – Moderne – Tradition 1. Die Kunstgeschichte der Republik China ist nur ein weißer Fleck [1] Schon zur Zeit der Bewegung des 4. Mai wurde eine »Chinesische Renaissance« 1 gefordert, es handelt sich also keinesfalls um eine neue Parole. [2] Und auch jetzt hier in Taiwan, wird schon lange ohne Unterlass danach gerufen, doch es tut sich rein gar nichts: Der Beginn einer »Chinesischen Renaissance« ist noch lange nicht in Sicht. [3] (*)  Alle Fußnoten sind Anmerkungen der Übersetzerin. Der Übersetzung liegt die Neuveröffentlichung des Textes mit dem chinesischen Originaltitel Guoqu • Xiandai • Chuantong 過去 • 現代 • 傳統 aus dem Jahre 1965 zugrunde. Der 1962 in der Zeitschrift Wenxing (Ausgabe 59, 9/1962, S. 16-20) erstveröffentlichte Text fand drei Jahre später Einlass in Liu Kuo-sungs Textsammlung Der Weg der chinesischen modernen Malerei (Zhongguo xiandai hua de lu 中國現代畫的路), Taipei 1965, S. 11-26. Durch die Nummerierung der Sätze, die die deutsche Übersetzung als Maßstab nimmt, ist ein Abgleich mit den Zitaten in der Analyse leicht möglich. Im Jahr 2017 wurde das durch die Li-Ching Cultural and Educational Foundation aufgebaute Liu Kuosung Archiv online veröffentlicht. Hier ist der Text nun abrufbar: http://liukuosung.org/document-in fo1.php?lang= en&Year=1960&p=19, Stand 9.2.2017. Alle Namen sind, wenn sinnvoll, in den Fußnoten in Schriftzeichen angegeben, sonst im Fließtext. Die hier eingebettete Abbildung eines Werkes Liu Kuo-sungs wurde nicht explizit im Kontext des Textes veröffentlicht, entstammt aber der selben Zeit und wurde von Liu Kuo-sung selbst für den Kontext dieser Publikation ausgewählt und zur Verfügung gestellt. 1 Der Philosoph Hu Shih 胡適 wählte den Überbegriff ›Chinese Renaissance‹ für die Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts in China und speziell für die humanistische, sich der Vernunft verschreibende und gegen die traditionellen Institutionen rebellierende Bewegung, die 1917 begann und später meist ›Bewegung des 4. Mai‹ genannt wurde, aber auch, so Hu, als »New Culture Movement«, »New Thought Movement«, »The New Tide« bezeichnet wurde. Vgl. Hu Shih: The Chinese Renaissance (The Haskell Lectures, 1933), Chicago 1934. Diese in der chinesischen Übersetzung die Kunst und Kultur (wenyi 文藝) betonende ›Chinesische Renaissance‹ (zhongguo de wenyifuxing 中國的文藝復興, wie Liu schreibt) darf nicht mit der 1966 als Gegenbewegung zur festlandchinesischen Kulturrevolution von Chiang Kai-shek initiierten ›Chinesischen Kulturrenaissance‹ (zhonghua wenhua fuxing yundong 中華文化復興運動) verwechselt werden.

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Wenn wir heute noch nach solcherlei streben, so müssen wir uns zunächst selbst prüfen und in uns gehen, und so eine Referenzerfahrung für die Zukunft erarbeiten. [4] Die von einer Gruppe Denker und Literaten angeführte »Bewegung des 4. Mai«2, ist eine große Bewegung, deren Einflusskraft nach wie vor besteht. [5] Man kann nicht leugnen, dass jeder noch so kleine Fortschritt, den China im Bereich Literatur und Wissenschaft errungen hat, der Verdienst der »Bewegung des 4. Mai« ist. [6] Doch obgleich Cai Jiemin3 im Verlauf dieser großen Bewegung nachdrücklich ermahnte »die Kulturbewegung darf die Kunst nicht vergessen« 4, geriet die Kunst 5, die in der italienischen Renaissance den wichtigsten Platz eingenommen hatte, schließlich in Vergessenheit. [7] Hier liegt einer der Hauptgründe, warum die »Bewegung des 4. Mai« keine »Chinesische Renaissance« schaffen konnte. [8] Ich meine damit nicht, dass wir heute, wenn wir von der Renaissance sprechen, einfach nur den wichtigsten Platz den Künstlern einräumen müssen. [9] Ich möchte nur unsere Künstler daran erinnern, dass sie sich nicht ihrer Verpflichtungen entziehen oder sich selbst als unwichtig ansehen sollten, denn unser Platz hat eine gewisse Bedeutung. [10] Die ältere Generation ist während der gesamten »Bewegung des 4. Mai« gänzlich daran gescheitert, dieser Aufgabe nachzukommen und hat der Republik China im Bereich der Kunstgeschichte nur weiße Flecken hinterlassen. [11] Dies darf nicht erneut geschehen. [12] Es mag noch Menschen geben, die selbstgefällig sagen, die »Bewegung des 4. Mai« habe China die westliche Kunst 6 gebracht. [13] Das stimmt. [14] Doch die Einführung der westlichen Kunst geschah mehr schlecht als recht. [15] Die Künstler der Epoche der Bewegung des 4. Mai verbleiben bis heute im Nachahmen westlicher Stile, die vor dem 19. Jahrhundert entstanden. [16] Es wäre zu fragen, ob wir die alten Formen Anderer7 herholen und als selbst Geschaffenes ausgeben können? 2 Liu schreibt hier und im Folgenden nur noch »54« (wusi 五四). Diese Abkürzung ist im chinesischen Kontext allgemein für die »Bewegung des 4. Mai« (eigentlich wusi yundong 五四運動) gebräuchlich. 3 Cai Jiemin 蔡孑民 ist ein anderer Name Cai Yuanpeis 蔡元培 (siehe auch Kap. II). 4 Liu schreibt hier von der Kunst (meishu) und nicht der ästhetischen Erziehung (meiyu), wie Cai Yuanpeis Text betitelt ist (siehe auch Kapitel II). 5 Liu nutzt die Begriffe meishu und yishu synonym, wobei yishu dominiert. Er schließt hier aber nicht die Künste ein, sondern bezieht dies rein auf die Bildende Kunst (bzw. die Malerei). Für Kunstgeschichte schreibt er meist das weitaus gebräuchlichere meishushi, für Künstler das gebräuchlichere yishujia. Auch seine keineswegs abwertenden Bezeichnungen huajia, Maler, oder huihuashi, Geschichte der Malerei, werden im Sinne von ›Kunst‹ verwendet und verweisen darauf, dass im Umfeld, in dem Liu schreibt, ›Kunst‹ noch hauptsächlich die Malerei bezeichnet. 6 Liu schreibt hier für ›westliche Kunst‹ xiyang yishu 西洋藝術, im folgenden Satz hingegen xifang yishu 西方藝術, wodurch deutlich wird, dass die Bezeichnungen xiyang und xifang beide für den konkreten geografischen Westen stehen und synonym verwendet werden können. Während xiyang jedoch auch den Stil bezeichnen kann, wie sich in der nächsten Erwähnung ›westlicher Stile‹ und in Lius Nutzung von xiyanghua zur Bezeichnung der Malerei der taiwanischen Provinzausstellung zeigt, ist xifang als Zuschreibung eher nur geografisch und meint eigentlich die Kunst im westlichen Stil, die im Westen geschaffen wurde. (In den beginnenden 1990er Jahren hinterfragt dann Ni Tsai-chin in seinem wichtigen Text Westliche Kunst – Made in Taiwan die taiwanische Kunst, die er als ›westliche‹ (xifang) bezeichnet und durch die Nutzung xifang für ›westlich‹ die Kunst zur reinen Kopie erklärt [siehe dazu auch Kap. III.3.6, IV und VI].) 7 An dieser Stelle nutzt Liu die Formulierung renjia 人家, die hier als die ›Anderen‹ übersetzt wurde. Angemerkt werden muss hierbei, dass diese Bezeichnung keine klare Abgrenzung impliziert (wie es das

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

[17] Vielleicht schieben sie die Schuld auf die aufgewühlte Gesellschaft und sagen, dass in der realen Lebensumgebung, in der das Leben so kompliziert und schwierig ist, alles was die Chinesen brauchen, nur das greifbar Materielle – ›roter Reis, Öl und Salz‹ – ist. [18] Sie brauchen keine geistige Nahrung, sie brauchen keine Kunst. [19] Da die Gesellschaft Künstler geringschätzt, sind die Eltern dagegen, dass ihre Söhne oder Töchter sich der Kunst widmen, sondern wollen, dass sie, der Masse folgend, studieren, arbeiten und nach einem Beamtenposten streben, um auf materieller Ebene Wohlstand zu erreichen. [20] Eine solche falsche Sichtweise beherrscht China. [21] Die armen Künstler! [22] Um zu überleben, akzeptieren sie die abscheulichen Umstände unterwürfig und arrangieren sich damit. [23] Die Arbeiten, die so entstehen, können das geistige Leben der Menschheit nicht voranbringen. [24] Vielmehr wird das Niveau gesenkt, um ein, zwei Sätze des Lobpreises der Würdenträger zu erhaschen oder um sie an reiche Geschäftsleute zu verkaufen. [25] Sie haben keine Skrupel, die reine, hohe Kunst zu einem Werkzeug zu machen, um den Lebensunterhalt zu sichern. [26] Kann nicht die Kunst auf diese Weise nur zum verabscheuungswürdigen und abstoßenden Unterhaltungsprodukt verkommen? [27] »Erst wenn ein Mensch sich selbst verachtet, wird er von anderen verachtet.«8 [28] Das Agieren Chinas großer Meister9 der Kunst, lässt die Gesellschaft noch mehr auf die Kunst herabschauen und immer weniger von Künstlern halten. [29] Weil die Kunst in China den Platz und die Anerkennung verloren hat, die sie eigentlich haben sollte, gibt es keinen Platz, um über das Vermögen der Kunst zu sprechen, die Menschen für Schönheit empfänglich zu machen, ihren Geist mutig und kraftvoll zu machen und die Empathiefähigkeit zu mehren. [30] Der Niedergang der Kunst hat zur Folge, dass die Chinesen zu Menschen werden, die mental unfähig sind, Vertrauen zu spüren, keinen emotionalen Trost finden können und eine abnorme Lebensweise entwickeln. [31] Im zwischenmenschlichen Bereich haben sie die Empathie, die die Menschen eigentlich haben, verloren. [32] Grausame, gnadenlose und egoistische Handlungen hingegen wurden vieler Menschen Gewohnheit. [33] Mord, Ehebruch, Raub, Korruption füllen die Seiten der Zeitungen. [34] Die Zukunftsaussichten der Gesellschaft sind düster und vollkommen hoffnungslos. [35] Wie kann so eine Renaissance entstehen? [36] Und auch die konfuzianische Sittenlehre10 wurde von späteren Karrieristen verdorben und zu einer vergifteten Sache. [37] Dieses üble Vermächtnis lehrte die jungen Leute, das Erdulden als oberste Tugend zu sehen. [38] Auch die Grundlagen der Lehre vom deutsche ›die Anderen‹ beinhaltet), da die Formulierung ›renjia‹ auch für ›ich‹ genutzt werden kann. Die (mögliche) abgrenzende Bedeutung ›der Anderen‹ wird in der Analyse des Textes besprochen. 8 Liu nutzt hier den ersten Teil eines Mengzi-Zitates: 夫人必自侮, 而後人侮之; 家必自毀, 而後人毀之; 國必自伐, 而後人伐之. Buch IV (Li Lou 離婁) Abschnitt A, Kapitel 8. Richard Wilhelm übersetzt: »Erst muß der Mensch sich selbst schänden, ehe andre ihn schänden. Erst muß ein Haus sich selbst verderben, ehe andre es verderben. Erst muß ein Reich sich selbst bekämpfen, ehe andre es bekämpfen.« (Richard Wilhelm, Mong Dsi (Mong Ko). Jena 1921) 9 Der zunächst neutrale Ausdruck ›die großen Meister‹ (dashimen 大師們) ist hier ironisch zu verstehen, ist aber eine klassische Bezeichnung. 10 Lijiao 禮教: die konfuzianische Lehre des li 禮 (oft als ›Sittenlehre‹ übersetzt). Li wird beispielsweise von Burton Watson als ›ritual‹ übersetzt (vgl. Watson: The Analects of Confucius. Translated by Burton Watson. New York 2007). Henry Rosemont und Roger Ames sprechen von ritual propriety (vgl. Chenyang Li, Li as Cultural Grammar: On the Relation between Li and Ren in Confuciusʼ »Analects«, in: Philosophy East and West, Vol. 57, Nr. 3, 2007, S. 311-329). James Legge übersetzt li als Riten in seiner Übersetzung des Liji 禮記 als Book of Rites.

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Wesen und Prinzip11 der großen Meister des Neokonfuzianismus12 lehrten das Volk sich den Geschicken des Himmels zu ergeben; die despotische Herrschaft der Monarchen der vergangenen Dynastien lehrte die Menschen der Macht zu gehorchen! [39] Dies reicht schon als Voraussetzung, damit die weniger gebildeten Landsleute der Autorität blind folgen. [40] Dies ist, was die Augen der Jungen sehen, was ihre Ohren hören und ihr Körper erfährt. [41] Sie stehen diesem gegenwärtigen Durcheinander gegenüber und seufzen nur, spüren zutiefst die eigene Unfähigkeit und Ohnmacht. [42] Die Stärkeren versuchen mit allen Mitteln das Land zu verlassen, als passive Art sich zu entziehen. [43] Die Schwächeren wehklagen, resignieren, gehen aus Verzweiflung den Weg der Selbstzerstörung oder begehen in der Hoffnungslosigkeit Selbstmord und damit die Selbstauslöschung. [44] Wie kann man da die Renaissance diskutieren? [45] Wenn wir so sprechen, haben wir dann nicht überhaupt keine Hoffnung mehr? [46] Doch! [47] China hat noch Hoffnung. [48] Unserer Kunstwelt fehlt nur ein Künstler, der bereit ist, vorübergehend Ruhm und Reichtum zu opfern, der die Aufgabe, einen Weg zu bahnen, übernimmt. [49] Diese Aufgabe ist sehr mühsam und gefährlich. [50] Man braucht nicht nur sehr viel Mut und eine sehr lange Zeit, sondern noch mehr braucht Die Übersetzungen von li als Ritual oder Ritus haben eine religiöse Konnotation und bezeichnen doch eher formelle, feierliche symbolisch aufgeladene Handlungsabläufe, während das konfuzianische li vor allem die kleinen Regeln des zwischenmenschlichen Verhaltens – »alle wichtigen Handlungen und Bezüge des Lebens, zwischen Himmel und Erde, Familie, Staat und Menschheit« (Monika Gillessen, Wie aus Höflichkeiten Irritationen werden – ein chinesisch-deutscher Normvergleich, in: Sozialwissenschaftlicher Fachinformationsdienst soFid Kultursoziologie und Kunstsoziologie, 2003, Nr. 2, S. 9-48, S.  15) – bezeichnet. Richard Wilhelm übersetzt ins Deutsche umfassender Li Gi. Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche (Jena 1930). Ruiping Fan schreibt in Reconstructionist Confucianism: Rethinking Morality after the West, dass die ›kleinen‹ Rituale, die »small patterns of behavior« bezeichnen, explizit im Liji betont werden: »Since the Confucian tradition stresses the prominent position of the minute rituals [quli 曲禮, wörtlich die gekrümmten li, übersetzt Rui in Abgrenzung zu den yili儀禮, ›ceremonial rituals‹, als ›minute rituals‹, die das alltägliche Leben formen, Anm. d. Verf.], the Confucian life world can be termed ritualized: in addition to a series of formal ceremonial rituals, a large amount of minute rituals, as closed or quasi-closed social practices, are also seriously performed in everyday life.« (S. 171) (Ruiping Fan, Reconstructionist Confucianism: Rethinking Morality after the West, Dordrecht 2010). Jacques Gernet schreibt, Konfuzius verstehe li als »Ordnungsprinzip der Gesellschaft und des Universums« (Jacques Gernet, Die chinesische Welt, Frankfurt a.M. 1979, S. 372). 11 Wolfgang Bauer übersetzt die im Neokonfuzianismus der Song-Dynastie wichtige xinglixue 性理學 als »Lehre vom Wesen und Prinzip« (vgl. Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 242, 337). 12 Zur Bezeichnung ›Neokonfuzianismus‹ für die geistigen Strömungen der Song-Dynastie schreibt Wolfgang Bauer Folgendes: »Der Ausdruck ›Neokonfuzianismus‹, den man in der westlichen Sinologie für das äußerst komplexe Gedankengebäude gefunden hat, das sich seit dem 10. Jahrhundert in China an die Stelle des Buddhismus setzte, hat interessanterweise im Chinesischen keine Entsprechung. Die chinesische Terminologie verwendet stattdessen Worte, die entweder einfach nur die Periode bezeichnen (›Song-Lehre‹, Songxue) oder ganz allgemein formuliert sind (›Lehre vom Weg‹, Daoxue), oder aber durch Hervorhebung eines Begriffs eine bestimmte Richtung innerhalb des Neokonfuzianismus benennen, etwa ›Lehre vom Prinzip‹, Lixue, ›Lehre vom Sinn (Herz, Bewußtsein)‹, Xinxue, oder ›Lehre vom Wesen und Prinzip‹, Xingli xue. Die letztgenannten sind insofern beachtenswert, als sie verdeutlichen, daß alte Begriffe, die in der vorbuddhistischen Zeit aber nur eine sekundäre Rolle gespielt hatten, im Neokonfuzianismus in den Vordergrund drängten.« (Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie, S. 241f.)

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

man das Talent, zu schaffen und einen unbeugsamen, standhaften und aufopfernden Geist. [51] Denn vor uns liegen Dornengestrüppe und Stolpersteine. [52] Die Lebenszeit eines Menschen ist begrenzt. [53] Es ist sehr wahrscheinlich, dass man ein Leben lang seine ganze Energie dafür aufbringt, das Dornengestrüpp und die Stolpersteine aus dem Weg zu räumen und auf dem Sterbebett noch immer nicht die Früchte der Renaissance sieht. 2. Kompromisse, Ausweichen und allgemeines Erwachen [1] Da die großen Meister der älteren Generation nun mal so sind, lasst uns einen Blick auf die junge Generation werfen! [2] Um die Frage zu beantworten, ob ein Volk Hoffnung in die Zukunft hat oder nicht, muss man seinen Blick auf die junge Generation richten und den Grad ihrer kulturell geprägten Kreativität bemessen. [3] Das formulierte schon Russell sehr klar: »Die kreativen Impulse der Menschheit sind in der Jugend am stärksten […].«13 [4] Wenn eine Nation eine lebensbedrohende Krise bewältigen will, so muss sie versuchen, die Kraft der Jugend zu mobilisieren. [5] Denn der Charakter der Jugend bringt natürlicherweise die Tugenden Enthusiasmus, Aktivität, Innovation, Entwicklungswille hervor. [6] Die volle Entwicklung dieser Tugenden macht die Gesellschaft kraftvoll und stärkt die Lebenskraft des Volkes! [7] Auch der Präsident [Chiang Kai-shek, Anm. d. Verf.] sagte einmal: »Die Jugend ist die Basis einer Epoche, das Zentrum einer Epoche. [8] Der Zusammenschluss und der Kampf der Jugend ist die Kraft zu und der Kern jeglicher Innovation und Renaissance einer jeden Epoche […].«14 [9] Wenn wir kummervoll seufzen und enttäuscht sind, dann sollten wir die junge Generation anschauen, vielleicht empfinden wir dann ein wenig Trost. [10] Manche unter ihnen arbeiten hart und unaufhörlich in ihren Posten, manche sind schon erfolgreich vom Studium im Ausland zurückgekommen, alle stehen sie in ständigem Kontakt mit der Kunstszene der freien Welt15 und wurden von den neuen Gedankenströmungen der Welt zutiefst aufgerüttelt. [11] Egal in welchem Bereich der Kunst, überall zeigt sich ein allgemeines Erwachen. [12] Alle spüren wir im tiefsten Innern, dass die Aufgabe, die wir, diese Generation, in dieser Epoche zu tragen haben, sehr groß ist. [13] Wir laden, ohne zu zögern, die schwere Aufgabe der »Chinesischen Renaissance« auf unsere Schultern. [14] In einem Opfergeiste, in einer Haltung des ›Ich gehe in die Hölle‹ mutig geradeaus 13 Ich konnte kein Zitat Bertrand Russels (luosu 羅素, wie Liu nur in chinesischen Schriftzeichen schreibt) finden, das auf den Satz 人類創造的衝動以青年為最強盛 schließen ließe. Daher steht hier meine eigene Übersetzung. 14 Dieses Zitat Chiang Kai-sheks stammt aus der Rede mit dem Titel Die Nation braucht eine revolutionäre Jugend, die Jugend muss die Bildung revolutionieren (Guojia xuyao geming qingnian, qingnian xuyao geming jiaoyu 國家需要革命青年, 青年需要革命教育), die er am 11.9.1952 in Fengshan vor angehenden Offizieren hielt, allerdings unterscheidet sich Lius Version leicht von der schriftlich aufzufindenden Version, in der die Jugend als »Avantgarde der Epoche« (xianfeng 先鋒) statt als »Grundlage« (jichu 基礎) bezeichnet wird und nichts vom »Zusammenschluss« und »Kampf der Jugend« zu lesen ist (in: Qin Xiaoyi 秦孝儀 (Hg.), Zongtong jianggong sixiang yanlun zongji 總統蔣公思想言論總集 [Gesammelte Gedanken und Reden des ehrenwerten Präsidenten Chiang Kai-shek], Vol. 25, Taipei 1984. S. 101-102; online verfügbar unter: www.ccfd.org.tw/ccef001/index.php?option=com_content&view=article &id=1735:0011-23&catid= 175&Itemid=256&limitstart=1, Stand: 21.2.2017). 15 Die Bezeichnung ›freie Welt‹ (ziyou shijie 自由世界) ist hier in der Ideologie des Kalten Krieges zu verstehen und bezeichnet – äquivalent zum ›freien China‹ (ziyou zhongguo 自由中國), womit Taiwan, die Republik China bezeichnet wird – die nicht-kommunistische, westliche Welt.

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gehend, geben wir uns der rettenden Kunst- und Kulturbewegung hin. [15] Was vergangen ist, ist vergangen; die Zeit zeigt keine Gnade und zieht uns in den Strudel der Moderne, Feigheit lohnt nicht und noch weniger sollten wir uns selbst geringschätzen. [16] Der Himmel16 hat diese ruhelose, im Umbruch begriffene Welt für uns vorgesehen. [17] Wir müssen es sein, es geht nicht ohne uns. [18] Unser Umfeld ist schlimm, die konservativen Kräfte sind standhaft und zäh. [19] Von einer reibungslosen Entwicklung dieser Bewegung und dem Erreichen einer echten Chinesischen Renaissance nur zu sprechen, ist leicht. [20] Als Zao Wou-Ki und vierzehn, fünfzehn junge Maler in Chongqing im Jahre 34 der Republik17 die erste Unabhängige Kunstausstellung18 realisierten und die neue Kunstbewegung19 lostraten, wurden sie von den konservativen Kräften extrem angegriffen. [21] Dieser Angriff war so brutal und hasserfüllt, dass die Unabhängige Kunstausstellung aufgrund solcher Attacken nur einmal stattfand. [22] Zao Wou-Ki selbst wurde gezwungen, sein Heimatland zu verlassen und ins weit entfernte Paris zu gehen. [23] Als er 47 Jahre alt war, sich einen Ruf erarbeitet hatte und in den Osten zurückkam, zog er nur an der Landesgrenze vorbei, aber betrat China nicht. [24] Auf einem Empfang, den die japanische Kunstszene für ihn gab, erinnerte er sich tief bewegt an die Ereignisse in der Vergangenheit und sagte voller Schmerz: »Ich liebe das China, das mich geboren und aufgezogen hat von ganzem Herzen, aber es war doch Paris, das mich gebildet hat. [25] Der Maler Zao Wou-Ki, der ich heute bin, gehört zu Paris. [26] Ich möchte zurück nach Paris.« [27] Wahrscheinlich waren unter den Leuten, die ihn damals attackiert hatten, auch welche, die heute in Taiwan leben – doch man kann sich wohl nur minderwertig fühlen, wenn man sieht, dass Zao Wou-Kis Name international bewegt, während man sich selbst nur noch immer mit dem, was andere schon gemacht haben, zufrieden gibt. [28] Zao Wou-Ki ist ein talentierter Künstler, er hätte für die Republik China eine Etappe der neuen Kunstbewegung schaffen können. [29] Aber er ist feige, er ist nicht fähig zu attackieren. [30] Zwar bringt ihn sein Kunstgewissen dazu, sich nicht einfach mit seinem Umfeld zu arrangieren, doch entzieht er sich der Verantwortung. [31] Deshalb ist die Bewegung der neuen Kunst Chinas fast zwanzig20 Jahre verspätet. [32] Und man weiß nicht, wie viele Talente es noch gab, deren Willen und Ehrgeiz nicht stark genug waren, die von den konservativen, negativen Kräften und deren Attacken verdrängt wurden und so in Vergessenheit gerieten. [33] Glücklicherweise ist bei den modernen jungen Künstlern ein allgemeines Erwachen zu spüren. [34] Ihnen ist zutiefst 16 Liu schreibt hier shangdi 上帝. Eine Übersetzung als ›Gott‹ lässt zu sehr an einen christlichen, monotheistischen Gott denken, wofür shangdi im modernen Chinesisch auch genutzt wird. Da shangdi äquivalent zum seit der Zhou-Zeit genutzten tian 天 (Himmel) genutzt wird, scheint hier die recht freie Übersetzung als ›Himmel‹ passend, wobei Himmel hier im Sinne des natürlichen Schicksals, des Kosmos verstanden werden muss und nicht als Himmel im christlichen Verständnis. 17 Das Jahr 34 der Republik bezeichnet das Jahr 1945 – das 34. Jahr nach der Xinhai-Revolution 1911, die den Beginn der Republik China darstellt. 18 Ein Anklang an den Pariser Salon des Indépendants (auf chinesisch duli shalong 獨立沙龍) ist in der Benennung der Ausstellung als Unabhängige Kunstausstellung (duli meizhan 獨立美展) unverkennbar (siehe auch Analyse). 19 Die hier und im Folgenden von Liu genannte ›neue Kunstbewegung‹ (xin yishu yundong 新藝術運動) darf nicht mit der ›Neuen Kunstbewegung‹ (xin meishu yundong 新美術運動) im japanisch besetzten Taiwan verwechselt werden. 20 In der Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Wenxing schrieb Liu »30 Jahre«. Er scheint hier eine Verbesserung vorgenommen zu haben.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

bewusst, dass das Ausweichen und das Sich-Arrangieren für die Kunst Chinas den Weg der Zerstörung bedeutet. [35] Außerdem verstehen sie, dass der Arzt ausgehend von den Symptomen verstehen muss, was er verschreibt; der Heilige muss aus der Verzweiflung der Menschheit heraus seine Lehre suchen. [36] Diejenigen, die sich wirklich der Kunstbewegung hingeben wollen, müssen ausgehend vom Leid der chinesischen Kunstwelt noch entschlossener, noch mutiger einen Weg für das Überleben der Kunst suchen. [37] Enttäuschung, Ausweichen sind vergeblich und helfen nicht weiter. [38] Die Jugend erwacht zum Bewusstsein. [39] Fifth Moon Painting Group, Eastern Painting Group, Modern Prints Society, Four Seas Painting Association, Changfeng Painting Society, Contemporary Arts Society, Pure Arts Society und Jixiang Painting Group,21 die eine nach der anderen in Taipei ins Leben gerufen wurden und Ausstellungen zeigen, werden zu einer Woge und überströmen die schon so lange Zeit karge und unfruchtbare Kunstszene. [40] Sie öffnen das so lange Zeit versteckte Wissen des Ostens, befreien das eingesperrte, ursprünglich vorhandene Denken eines gesamten Volkes, um den Schaffensgeist und die prächtige Geschichte der Künstler der Tang- und Song-Dynastie wiederherzustellen. [41] Diese Ausstellungen sind nicht nur nicht dem traurigen Beispiel der Unabhängigen Kunstausstellung gefolgt, sondern fanden gar schon sechs Mal statt. [42] Jedes Mal waren die Werke weiterentwickelter als in der vorangegangenen Ausstellung. [43] Nur weil sich die Künstler nicht um Schwierigkeiten und Hindernisse kümmern, unermüdlich arbeiten und fleißig sind, zeigt sich die leblose Kunstszene mit neuer Kraft und ist erfüllt von neuer Hoffnung. [44] Das Wichtigste einer jeden neuen Kunstbewegung ist das Schaffen echter Kunstwerke. [45] Deshalb haben sich alle jungen Künstler, die die neue Kunstbewegung verfolgen, in den vergangenen sechs, sieben Jahren dem Schaffen von Werken hingeben. [46] Gewiss, der Einfluss echter Kunstwerke ist natürlicherweise sehr groß. [47] Aber wir haben Eines übersehen: Wie viele Leute gibt es, die die echten Kunstwerke wirklich verstehen können, wenn wir sie ausstellen? [48] Ein Großteil der Betrachter versteht die neuen Kunsttheorien nicht und weiß auch nichts über die Entwicklungen und Entstehung der Kunstgeschichte. [49] Sie haben sich schon daran gewöhnt, dem Auge schmeichelnde ›falsche Bilder‹ anzuschauen. [50] Wie kann man die Betrachter – wenn echte Kunstwerke vor ihren Augen hängen – dazu bringen, diese Werke mit wertschätzendem Blick zu betrachten? [51] Könnte es sein, dass die sich beschwerenden und schimpfenden Stimmen, die aus dem Unverständnis geboren sind, auf taube Ohren stoßen? [52] Ich spüre schon lange zutiefst, dass die Arbeiter der modernen Kunst auf dem Gebiet der neuen Theorien und neuen Gedankenströmungen zu wenig Einführungsarbeit tun. [53] Wenn wir die Einführungsarbeit der neuen Gedankenströmungen nicht als wichtigen Teil sehen, dann wird die neue Kunstbewegung große Einschränkung erfahren. [54] Wenn das Publikmachen der neuen Theorien nicht die Stütze des Schaffens sein kann, dann werden unsere Werke der Prüfung der Epoche nicht standhalten können. [55] Die Betrachter sind die, die die 21 Chinesische Originalbezeichnungen: wuyue huahui 五月畫會 (Fifth Moon Painting Group); dongfang huahui 東方畫會 (Eastern Painting Group); xiandai banhuahui 現代版畫會 (Modern Prints Society); sihai hauhui四海畫會 (Four Seas Painting Association); changfeng huahui 長風畫會 (Changfeng Painting Society); jinri meishuhui 今日美術會 (Contemporary Arts Society); chuncui huahui純粹畫會 (Pure Arts Society); jixiang huahui 集象畫會 (Jixiang Painting Group). Übersetzung der Namen der Künstlergruppen nach Hsiao Chong-ray, »From Crisis to Transition: Reflections on the Development of Taiwanese Painting in the 1950s and 1960s«, in: Weng Chih-Tsung (Hg.), The Search for the Avant-Garde. 1946~1969. Taipei 2011, S. 8-13, S. 11.

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Kunst aufrecht erhalten. [56] Wir sollten sie nicht vor die Tür der neuen Kunstbewegung setzen. [57] Wir sollten ihnen helfen, sie anleiten, um zu vermeiden, dass aufgrund von Missverständnissen viele unnötige Barrieren entstehen. [58] Die Bewegung des ›Abstrakten Expressionismus‹ der New York School war nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von nicht einmal zehn Jahren an die Spitze der Kunstszene der Welt aufgestiegen. [59] Und heute – innerhalb von nicht mal zwanzig Jahren – haben sie eine solche Kraft und Größe, dass sie dabei sind, die Führungsposition von der Pariser Kunstszene zu übernehmen. [60] Und was ist mit uns? [61] Offensichtlich reicht der Grad unserer Bemühungen noch nicht aus. [62] Nun da wir schon die Bürde der Chinesischen Renaissance auf unsere Schultern geladen haben, können wir absolut nicht nur ein paarmal laut rufen und ein paar Parolen singen und das war es dann. [63] Außer unserer jeweils eigenen künstlerischen Praxis, muss jeder von uns seine eigene Kunsttheorie entwickeln22 und eine individuelle Überzeugung und Ideale haben und den Plan, diese publik zu machen. [64] Außerdem müssen wir ein festes Verantwortungsgefühl haben und mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend an die Arbeit gehen. [65] In meinem Land, in dieser auf so vielen Ebenen schwierigen Umgebung, kann dies nicht als Kinderspiel gesehen werden. 3. Wer verrät die Kunst? Wer zerstört die Tradition? [1] Heute, wo die Regierung die Wiederherstellung des Volksgeistes propagiert und die ureigene Kultur preist, sehen sich die meisten der Menschen, die die neue Kunst bekämpfen, als Bewahrer traditioneller Werte. [2] Spricht man über die Tradition, so spricht man scheinbar über sie, denn sie ähneln der Tradition. [3] Doch tatsächlich ist die Mehrheit dieser Leute Kunstmaler, die nicht verstehen, was Tradition bedeutet und sich stattdessen mit aller Kraft an skeletthafte Überbleibsel klammern. [4] Sie wissen nur so viel, wie ihnen ihr Lehrer beigebracht hat. [5] Niemals lesen sie die Kunstgeschichte, ebenso wissen sie nicht, dass die Form der chinesischen Malerei, die sie bis heute kopieren23, schon so viele Veränderungen durchlaufen hat. [6] Niemals schauen sie Kunsttheorien an. [7] Noch weniger verstehen sie, dass das Wichtigste der Kunst das Schaffen ist. [8] Sie meinen, dass sie durch das Kopieren und Plagiieren der alten Stile und Formen Tradition erreichen können. [9] Sie wissen nicht, dass sie überhaupt nicht verstehen, was Tradition ist. [10] Den ganzen Tag sprechen sie nur von Tradition – doch sie verstehen nicht, dass sie es sind, die die Tradition zerstören. [11] Denn Tradition kann ausschließlich in der ständigen Veränderung ihre ewige Existenz bewahren. [12] Die Veränderung ist die Besonderheit der Tradition. [13] Das Schaffen erst ist die unveränderbare Essenz der Kunst. [14] 1958 hat das amerikanische Metropolitan Museum24 viele Künstler eingeladen, die in mehreren Diskussionen über Tradition sprachen. [15] Zu Ende veröffentlichten sie einen Text mit ihrer gemeinsamen Ansicht, den sie folgendermaßen begannen: 22 In der Erstveröffentlichung schrieb er an dieser Stelle »theoretische Basis haben«. 23 Liu nutzt an dieser Stelle chaoxi 抄襲, was – ebenso wie das von mir als ›Plagiieren‹ übersetzte piaoqie 剽竊 – ein negativ besetztes ›Kopieren‹ bezeichnet und sich daher von dem traditionell eher positiv besetzten linmo 臨摹, das ich als ›Kopieren eines Models‹ übersetze, unterscheidet. Liu nutzt weiter mofang 模仿 (als ›nachahmen‹ übersetzt). 24  ›Metropolitan‹ im Original auf Englisch. Interessanterweise nutzt Liu hier den Begriff bowuguan 博 物館, der als ›Museum‹ im Allgemeinen übersetzt wird und nicht speziell das Museum für Kunst bezeichnet.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

Liu Kuo-sung, Transcendence Over the Unknown/Rising Toward Mysterious Whiteness White (升向白茫茫的未知), 1963, Tusche und Farbe auf Papier, 94x58cm

Quelle und Courtesy: The Liu Kuo-sung Archives

[16] »Diejenigen, die wirklich die Tradition akzeptieren, übertreten die Tradition. [17] Im Italienischen hat das Wort ›Tradition‹ zwei Bedeutungen: verraten und weitergeben.25 [18] Tradition bedeutet ganz und gar nicht das fortwährende Weitergeben einer bestimmten Form, sondern ist das Streben danach, aus der Kunst der Vergangenheit geistige Essenz zu ziehen, als Nahrung für die Malerei. [19] Das in früheren Zeiten geschehene Schaffen (vom reinen Produzieren vollkommen verschieden) ist zur Kultur und damit zur Essenz der Kunst geworden. [20] Es ist das zugrundeliegende Gerüst im 25 Hinter ›verraten‹ (beipan 背叛) und ›weitergeben‹ (liuzhuan 留傳) stehen auf Englisch in Klammern ›betray‹ und ›transmit‹.

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Innern des Schaffenden selbst, es dringt tief in sein Unterbewusstsein ein und erfüllt die Werke mit überschäumender Lebenskraft. [21] Ein Mensch kann die Besonderheiten eines anderen bis ins kleinste Detail imitieren, aber auf diese Art werden seine Arbeiten immer beschränkt bleiben.«26 [22] Ein Mensch mit schöpferischer Begabung, der zutiefst Kultur und Kunst begreift, wird nicht bereitwillig die Formen und Regeln annehmen, die die Vorfahren für ihn in Stein gemeißelt haben. [23] Die Konservativen bezeichnen uns oft als ›Verräter der Kunst‹. [24] Die Absicht der Kunst ist das Streben nach kreativem Schaffen, das Streben nach dem Ausdruck des Selbst. [25] Es ist auf keinen Fall das Streben nach dem Zerstören, die Kunst strebt nicht danach ein Dagegen-Sein auszudrücken.27 [26] Das Schaffen muss sich von dem, was es schon gibt, unterscheiden. [27] Das Selbst muss unvergleichbar sein mit dem Anderen. [28] Kunst muss nur danach streben, sich von den Massen zu unterscheiden, sie diskutiert nicht das ›Dagegen‹. [29] Wenn man unbedingt sagen möchte, dass wir verraten, so kann man vielleicht sagen, dass wir das Schaffen der Kunst achten, aber das Kopieren der Form verraten. [30] Die sogenannten großen Meister der Tradition sind hingegen bereit die starren Formen der Vorfahren zu achten und verraten stattdessen das Schaffen. [31] Wenn man also vom Verraten spricht, dann frage ich, wer letztlich die Verräter der Kunst sind? [32] Bisher besteht in Taiwans Malereiszene eine tiefe Kluft zwischen der chinesischen Malerei und der westlichen Malerei.28 [33] Die Maler der chinesischen Malerei (guohuajia) befragen nicht die westliche Malerei (xihua) und die Maler der westlichen Malerei (xihuajia) scheren sich nicht um die chinesische Malerei (guohua). [34] Dieses Phänomen zeigt sich besonders deutlich in der Provinzausstellung. [35] Herr Zhuang Zhe 莊喆 hat dies früher schon einmal bemerkt und darüber in der Lianhe-Zeitung geschrieben. [36] Der Text zielt darauf ab, die Leute darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Phänomen die Malerei in eine tote Ecke treibt, in der keine Entwicklung möglich ist. [37] Aus historischer Perspektive betrachtet geschieht die Entwicklung der Kultur eines Volkes auf jeden Fall auf der Grundlage der ureigenen Kultur, die die Kultur anderer Völker in sich aufsaugt und so ein völlig neues epochales Gesicht herausbildet und ewig ihre Lebendigkeit wahrt. [38] Auch in der Geschichte der chinesischen Malerei lässt sich das beobachten, besonders deutlich ist das an der Veränderung der Malerei nach Eintritt des Buddhismus zu sehen: [39] Der Geschichtsüberlieferung nach war Cao Buxing29 der erste, der durch die von dem indischen Mönch Kang Senghui30 verbreiteten Bud26 Da der englische Originaltext trotz intensiver Suche nicht gefunden werden konnte, steht hier meine Übersetzung. 27 Hier findet sich ein ganz konkreter Verweis auf die Debatte um moderne Kunst mit Xu Fuguan, der den ›modernen Künstlern‹ das Zerstören vorwarf. Der vorliegende Text kann daher auch als in der Folge dieser Diskussion, welche im folgenden, kontextualisierenden Textteil, der der Analyse vorangestellt ist, in aller Kürze aufgearbeitet wird, entstanden verstanden werden. 28 An dieser Stelle ist die ›westliche Malerei‹ als xiyanghua eine stilistische Herangehensweise an das künstlerische Schaffen und keine geografische Angabe, was die Doppeldeutigkeit der Bezeichnung in Bezug auf die Bedeutung des ›Westens‹ noch einmal besonders darlegt (vgl. auch III.1, Fußnote 6). 29 Cao Buxing 曹不興, Maler der Wu-Dynastie, 3. Jhdt. n. Chr. 30 Kang Senghui 康僧會, dessen Familie über Generationen in Indien lebte und wohl deshalb von Liu als indischer Mönch bezeichnet wird, war wichtig für die Verbreitung des Buddhismus in Südchina zur Zeit der Drei Reiche (ca. 208-280 n. Chr.). Vgl. Charles Holcombe, The Genesis of East Asia: 221 B.C. – A.D. 907, Honolulu 2001, S. 92.

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dha-Abbildungen beeinflusst wurde. [40] Zhang Sengyou malte dann den Tempel Yicheng und nutzte dafür die räumliche Wirkung erzielende Lavur-Methode der Buddha-Abbildungen.31 [41] So wurde die chinesische Malerei indirekt durch das indische Gandhara von der griechischen Skulptur beeinflusst. [42] Durch ein solches, empirisch nachzuweisendes Beispiel lassen sich Rückschlüsse auf die heutige Zeit ziehen, in der die moderne westliche Kultur auf direktem Wege Einzug in China hält und auf Ebene der Gedankenströmung so starke Wellen verursacht, und in der sich die Umgebung der chinesischen Malerei so verändert. [43] Was empfinden wir, wenn wir die vor unseren Augen liegende Kluft zwischen der chinesischen und der westlichen Malerei (zhongxi huihua 中西繪畫) sehen? [44] Wenn wir die Kunstgeschichte Chinas einmal wirklich gründlich lesen würden, würden wir merken, dass China absolut kein konservatives Land ist. [45] Das derzeitige Phänomen ist nur von ein paar engstirnigen, kurzsichtigen ›Autoritäten‹ geschaffen, denen gänzlich unbekannt ist, dass China im Bereich des kulturellen Denkens ein tolerantes Land ist, dessen Kraft des In-Sich-Aufnehmens sehr stark ist. [46] Schon der Amerikaner E.A. Ross32 schrieb in seinem Buch The Changing Chinese. The Conflict of Oriental and Western Culture in China: [47] »Chinese culture has spread and spread until all Eastern Asia bows to it. [48] Nestorian Christianity flourished there and vanished. [49] The Jews of Kaifeng-fu lost their language and religion […] [50] ›China,‹ it has been finely said, ›is a sea which salts everything that flows into it.‹«33 [51] Auch Xiang Da 向達 schrieb in Kleine Geschichte der chinesischen Außenkommunikation34: [52] »Die chinesische Kultur ist überhaupt nicht isoliert. [53] Nicht nur wollten zu jeder Zeit die anderen Völker, die China umgeben mit China in Kontakt treten, auch gab es in China immer Menschen, die im Geiste der Haltung des Meisters Xuanzang35 – ›so entschlossen sein, dass man selbst das Essen vergisst; die Gefahr nicht fürchten; den eigenen Tod nicht fürchtend den Cong-Fluss überqueren; dem Versprechen entschlossen folgend nach Indien gehen‹ – tief in andere Länder eintauchten. [54] Nach der Weiund Jin-Dynastie,36 als der Hinduismus in den Osten, nach China kam, wurde zu Beginn in das Eigene und das Fremde getrennt, schließlich beeinflussten sich jedoch beide gegenseitig!« [55] Wird hier nicht überall die ›große Offenheit‹, diese Tugend der chi31 Zhang Sengyou 張僧繇 war ein berühmter Maler, der im heutigen Suzhou ca. 490-540 n. Chr. lebte. Liu Kuo-sung scheint sich hier auf Zong Baihuas Text Diskussion über die Ursprünge und Grundlagen der chinesischen und westlichen Malereitechnik (Erstveröffentlichung 1936) zu beziehen, der von der aotuyunranfa 凹凸暈染法, der aus dem Westen (Europa) kommenden, in Indien gebrauchten Lavur-Methode schreibt, die zur Zeit der Südlichen und Nördlichen Dynastien 南北朝 (420-581) von Indien nach China kam. Vgl. Zong Baihua 宗白華, »Lun zhongyi huafa de yuanyuan yu jichu« 論中西畫法的淵源與基礎 [Diskussion über die Ursprünge und Grundlagen der chinesischen und westlichen Malereitechnik], in: Ders., Meixue de sanbu 美學的散步 [Spaziergang der Ästhetik], Shanghai 1981. Zong Baihua schreibt in eben jenem Text, dass Zhang Sengyou die Tür(en) des Yicheng Tempels (yicheng si 一乘寺) bemalte, nicht, wie Liu schreibt, den Tempel selbst malte. 32 Hinter dem chinesischen Namen steht in Klammern ›E.A. Ross‹ in lateinischen Buchstaben. 33 E.A. Ross, The Changing Chinese. The Conflict of Oriental and Western Culture in China, New York 1911, S. 57. 34 Xiang Da 向達, Zhong waijiaotong xiaoshi 中外交通小史 [Kleine Geschichte der chinesischen Außenkommunikation], Shanghai 1933. 35 Der Mönch Xuanzang 玄奘 bereiste im 7. Jahrhundert (Tang-Dynastie) die Seidenstraße und Indien und brachte viele wichtige Schriften des Mahayana-Buddhismus nach China, die er ins Chinesische übersetzte und so maßgeblich zur Verbreitung des Buddhismus in China beitrug. 36 Wei-Dynastie 魏 (auch Cao Wei 曹魏 genannt): 220 – 265; Jin-Dynastie 晋朝: 265 – 420.

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nesischen Kultur37, deutlich? [56] So schrieb der schwedische Sinologe Osvald Sirén38: [57] »Die chinesische Kunst ist in ihrem Geiste transzendierend!« [58] Auch der englische Kunstkritiker Herbert Read39 schrieb in seinem The Meaning of Art etwas Ähnliches: [59] »Wenn wir von chinesischer Kunst sprechen, müssen wir immer Chinas geografische Ausdehnung bedenken, die der vom äußersten Norden Englands bis in den äußersten Süden der arabischen Länder entspricht. [60] China stand mit anderen Ländern in gegenseitiger Verbindung, darum beeinflussten sich die Vorstellungen im Bereich der Kunst in den Regionen Indiens, Persiens und Japans. [61] Diese Charakteristika ließen die Kunst des Ostens entstehen. [62] Genau wie im Westen die gotische und griechische Kunst, überschreitet sie Landesgrenzen, ist universal40.« [63] Ich nutze hier Zitate, weil dies objektiver ist, als unsere eigenen Worte. [64] Wir können aus diesen objektiven Worten heraus ein wenig verstehen, dass die Kunst Chinas sich nicht isoliert und abschottet oder sich in einer konservativen Haltung dem Fortschritt verwehrt. [65] Aufgrund ihres stetigen Austauschs und Aufnehmens der Kultur der äußeren Welt, gehört sie schon lange zum Kosmopolitischen, zur Welt. [66] Einige nicht über den Tellerrand schauende Herren, die sich selbst als ›Traditionalisten‹ bezeichnen, nennen uns oft ›Anti-Traditionalisten‹. [67] Sie verstehen überhaupt nicht, dass erst wir wirklich ›traditionell‹ sind! [68] Der traditionelle Geist, den wir verehren, ist der der ›großen Offenheit, der tolerante‹ und der ›transzendierende‹. [69] Was wir jedoch ablehnen, ist die bloße äußere Form, die eine Generation von der vorherigen kopiert und wo schon lange kaum noch mehr besteht als eine leere Hülle. [70] Und die sogenannten ›Traditionalisten‹? [71] Sie ziehen einen Graben zwischen die chinesische und die westliche Malerei (zhongxi huihua) und meinen, dass die uralte Form etwas Heiliges ist, das nicht berührt werden darf. [72] Ein so enger geistiger Horizont lässt sie für immer die chinesische der westlichen Malerei diametral gegenüberstellen und deren Verschmelzen verhindern. [73] Sie missachten die ›große Offenheit‹ und das ›Transzendieren‹ des tradi37 Im Originaltext in der Zeitschrift Wenxing schreibt er an dieser Stelle abweichend ›chinesische Kunst‹ (zhongguo meishu). 38 Hinter dem chinesischen Namen steht in Klammern ›Dr. Osvald Siren‹ in lateinischen Buchstaben. 39 Hinter dem chinesischen Namen steht in Klammern ›Prof. Herbert Read‹ in lateinischen Buchstaben. Trotz intensiver Suche konnte ich den hier benannten Textteil in englischen und deutschen Ausgaben von Reads The Meaning of Art nicht finden, weshalb hier meine eigene Übersetzung steht. Dass Liu den Originaltext zumindest vorliegen hatte, liegt nahe, da er in der Diskussion mit Xu Fuguan dessen vermeintlichen Bezug auf eine japanische Übersetzung stark kritisiert und die mangelnde Originaltreue beklagt, wodurch deutlich wird, dass Liu Wert auf die Kenntnis der Originale legte. Trotzdem kann es auch sein, dass Liu in einer Kunstzeitschrift oder anderswo eine Übersetzung von oder Auszüge aus Reads Buch las. So wurden in der Zeitschrift Wenxing im Juni 1962 (Nr. 56) übersetzte Auszüge aus Reads Art and Society veröffentlicht. Laut Michael Sullivan wurde Reads The meaning of art von dem Kritiker T’eng Ku in den Zeitschriften I-shu hsün-k’an und I-shu disutiert (vgl. Michael Sullivan, The meeting of Eastern and Western Art, New York 1973, S. 169). Interessanterweise schreibt Wu Hung in From ›Modern‹ to ›Contemporary‹. A Case in Post-Cultural Revolutionary Art, dass Reads A Concise History of Modern Art »was well-known in Chinese avant-garde circles in the 1980s, partly because it was one of the few introductions to modern Western art available at the time in Chinese translation.« (Wu Hung: From ›Modern‹ to ›Contemporary‹. A Case in Post-Cultural Revolutionary Art. In: Contemporaneity, Vol. 1, 2011, S. 35-40, S. 38.) Dies verweist auf die große Rolle, die Reads Texten im chinesischsprachigen Kontext zukommt. 40 Das als ›universal‹ übersetzte shijiede 世界的 kann auch als ›der gesamten Welt zugehörig‹ verstanden werden.

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tionellen Geistes der chinesischen Malerei. [74] Dies erst ist die ›Anti-Tradition‹ im wahrsten Sinne des Wortes, das erst sind die echten ›Anti-Traditionalisten‹! [75] Sofern es noch jemanden gibt, der sagen will, dass sie die ›Traditionalisten‹ sind, dann gehören sie zur ›falschen Tradition‹ und sind keine echten Vertreter der ›Tradition‹. 4. Die Malerei entwickelt sich vom Realistischen (xieshi 寫實) zum Schreiben der Sinneshaltung (xieyi 寫意)41 [1] Wir begrüßen den Kulturaustausch vollkommen. [2] Von der Qin- und Han-Dynastie über die Wei-, Jin-, die Südlichen und Nördlichen Dynastien,42 hat die Kultur Chinas43 nicht nur einmal die Anregung und den Einfluss von außen kommender Kul41 Der in der Tang-Dynastie begründete Malstil des xieyi 寫意 wird im Folgenden als ›Schreiben der Sinneshaltung‹ übersetzt, während xieshi 寫實 (das wörtliche ›Schreiben der Realität‹), wie von Liu verwendet, als ›Realismus‹/›realistisch‹ übersetzt wird. Obert übersetzt yi 意 mit Sinneshaltung und kritisiert Übersetzungen von yi als ›Konzeption‹ oder ›Intention‹ (vgl. Obert, Welt als Bild, S. 161, 309ff.). xie 寫 übersetze ich hier (gebräuchlich) mit ›Schreiben‹, um die Bedeutung des Bewegungsvollzuges der Schreibkunst zu betonen, was in einer Übersetzung als ›darstellen‹, wie xie auch übersetzt werden könnte, leicht übersehen werden könnte: Schreiben ist damit explizit nicht als – in der deutschen Übersetzung schnell missverstandenes – wörtliches ›Niederschreiben‹ (im Sinne eines ›Festhaltens‹) zu verstehen, sondern betont die Nutzung und Bewegung des Pinsels. In dieser Übersetzung klingt auch die im Kapitel II zitierte Bemerkung Yolaine Escandes – »Les arts sont toujours des activités reliées à l’écriture« – an. Durch das Schreiben, xie, wird also ein künstlerischer Vorgang betont. Das ›Schreiben der Sinneshaltung‹ (xieyi) nutzt Liu hier im stilistischen Gegensatz zum xieshi, dem wörtlichen ›Schreiben der Realität‹, und unterstreicht damit sein im weiteren Text zum Vorschein kommendes Verständnis von xieyi als Ideengeber des modernen Abstrakten und von xieshi als realistisch darstellend und dem chinesischen gongbi 工筆 (siehe dazu Kap. III.1, Fußnote 47) ähnelnd. Der Begriff xieshi ist ein moderner Begriff, der in Auseinandersetzung mit der westlichen, die Natur abbildenden realistischen Malerei als »chinesisch-englische sich ergänzende Übersetzung« (siehe auch Kap. V.3.8) verstanden werden muss und als Gegenüber zum xieyi gebildet wurde. Das xie, das ›Schreiben‹, trägt der Begriff xieshi dann auch mehr, um als Pendant gelten zu können, weniger ist das chinesische Schreiben, wie auch Escande es beschreibt, Teil der Bedeutung dieses Realistischen (xieshi). So nutzt Liu im weiteren Text dieses Zeichen dann auch: das ›Schreiben‹ im chinesischen Sinne der Schreibkunst sieht er nur im xieyi geschehen und explizit nicht im xieshi. Deshalb übersetze ich xieshi im Folgenden als ›Realismus‹ bzw. ›realistisch‹. In Lius Nutzung wird deutlich, wie tief sich die traditionelle Vorstellung mit der modernen durchdringen und gegenseitig befruchten. Eine Trennung der Konzepte ist nicht mehr möglich und – angesichts Lius tiefgreifendem Plädoyer für den fruchtbaren Kulturaustausch – auch nicht erstrebenswert. In Lius – trotz der umfassenden Kenntnis und Verehrung des Traditionellen – sehr moderner Konzeption des im Gegensatz zum Realismus stehenden xieyi, wäre es auch möglich, eine (für nicht-sinologisch informierte Lesende hilfreiche) Übersetzung als dem Expressionismus nahestehenden ›spontanen Ausdruck des individuell Gespürten‹ mitzudenken. Da Liu jedoch im folgenden Text dem ›Schreiben‹ so starke Bedeutung beimisst und an dessen traditioneller Bedeutung seine Argumentation aufbaut, bleibe ich bei der Übersetzung ›Schreiben der Sinneshaltung‹. Im Folgenden soll diese behelfsmäßige (und sicherlich verkürzende) Übersetzung von xieyi als ›Schreiben der Sinneshaltung‹ als Hilfskonstrukt verwendet werden und xieyi in Klammern stehen bleiben. 42 Qin-Dynastie 秦朝 (221-207 v.  Chr.), Han-Dynastie 漢朝 (206 v.  Chr.- 220 n.  Chr.) (zu Wei- und JinDynastie, sowie zu den Südlichen und Nördlichen Dynastien, s. oben). 43 Hier und im Folgenden schreibt Liu meist wo guo 我國, wörtlich ›mein Land‹: dieser von der Kuomintang geprägte Terminus für China wird hier ohne weitere Anmerkung mit China übersetzt, da die politische Konnotation in diesem Kontext zu vernachlässigen ist.

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tur angenommen. [3] Jedes Zusammentreffen ließ die Kunst Chinas eine noch stärkere und reichere Entfaltungskraft ausbilden und brachte in der chinesischen Kunstgeschichte einen beispiellosen Glanz hervor. [4] Ende des 19. Jahrhunderts hat der Westen dank des Kontakts mit der Kunst des Ostens die prächtigen Errungenschaften des Impressionismus hervorgebracht. [5] Das 20. Jahrhundert ist eine Epoche in der der Wind des Ostens den Westen durchdrang.44 [6] Da der Westen in großen Mengen die östliche Kultur und die philosophischen Gedanken in sich aufgesogen hatte, änderte sich sein traditioneller Geist des konkreten Beweises und sein extrem realistischer (xieshi) Malstil. [7] Die chinesische Vorstellung »mit leichtem Herzen das flüchtige Qi schreiben« 45 der abstrakten Malerei und die abstrakte künstlerische Sinneshaltung (yijing 意境)46 44 Der hier genutzte Ausdruck dongfeng xijian 東風西漸 ist eine Abwandlung der dem 19. Jahrhundert entstammenden Redewendung xifeng dongjian 西風東漸, »der Wind des Westens durchdringt den Osten«, was auf den immensen Einfluss der westlichen Kultur, Technik, Sprache etc. auf Ostasien im 19. Jahrhundert anspielt. 45 Liu beruft sich hier auf einen Ausschnitt (die restlichen Teile verwendet er weiter unten im Text) eines Zitats Ni Zans 倪瓚 (1301-1374, Maler der Yuan-Dynastie): liao xie xiong zhong yi qi 聊寫胸中逸氣 (bei Ni Zan steht liao yi xie xiong zhong yi qi 聊以寫胸中逸氣). Xu Fuguan erklärt die ›flüchtige‹ (yi 逸) Haltung als eine des Zulassens (vgl. Xu Fuguan, Zhongguo yishu jingshen, S. 321f.). Interessanterweise vertritt Liu die hier dargelegte Ansicht über Jahrzehnte: In seinem Text Abstrakte Malerei und Ausdruck in der Tuschemalerei (chouxiang huihua yu shuimo biaoxian 抽象繪畫與水墨表現) von 1999, den er in der 82. Ausgabe der vom TFAM herausgegebenen Journal of Taipei Fine Arts Museum (xiandai meishu xuebao 現代美術學報) veröffentlichte, schreibt er, dass das yiqi 逸氣 Ni Zans (ebenso wie das ›Herz‹ (xin 心) Fan Kuans 范寬, der ›Geist‹ (shen 神) Dong Qichangs 董其昌 und die ›Bewegtheit im Atmen‹ (qiyun 氣韻) Zhang Yanyuans 張彥遠) doch Konzepte des Abstrakten seien und das Abstrakte also zutiefst in Chinas Kultur verwurzelt sei. 46 Als »Einschmelzung von ›Ideen‹ (yi 意) in einen bestimmten ›Bereich‹ (jing 境)« liest Karl-Heinz Pohl das Konzept yijing 意境, das bei Theoretikern wie beispielsweise Wang Fuzhi 王夫之 (1619 –1692) vorkommt, und übersetzt den im »chinesischen Ästhetikdiskurs sehr populären, aber schwer fassbaren Begriff yijing 意境« als »ungefähr ›künstlerische Idee‹« (die dieser ähnliche Übersetzung ›artistic conception‹ findet sich häufig). Er beschreibe eine »unfassbare[…] und durch Sprache nicht zu vermittelnde[…] Qualität« von Kunstwerken. Eine Lesung als Entsprechung zu Kants »ästhetischer Idee« liege daher nicht allzu fern. Vgl. Karl-Heinz Pohl, Chinesische Ästhetik und Kant, in: Mitteilungsblatt der Deutschen Chinagesellschaft, 2013, S. 43-52, S. 14f; online verfügbar unter: https://www.uni-trier.de/ fileadmin/fb2/SIN/Pohl_Publikation/Chinesische_Aesthetik _und_Kant.pdf, Stand 25.4. 2017. Die Betonung der möglichen Nähe zu Kant ist insofern naheliegend, als dass die – zwar schon in der Tang-Dynastie bei Wang Changling 王昌齡 Erwähnung findende – Vorstellung der yijing doch in erster Linie als modernes Konzept zu betrachten ist, wurde sie doch erst von dem modernen Philosophen Wang Guowei 王國維, der Kant in China einführte, zum ästhetischen Prinzip Chinas erhoben und fand als solches Eingang in das moderne Sprechen über Kunst. Yijing ist in der klassischen Vorstellung nicht als feststehendes und begrifflich klar fassbares Konzept zu sehen, da die Vorstellung des Ziels des künstlerischen Schaffens, eine Resonanz beim Betrachter zu erreichen, von verschiedenen Theoretikern mit jeweils eigenen Begriffen beschrieben wurde (wie bspw. shenyun 神韻 [etwa: Gestimmtheit des Geistes] oder shensi 神思 [etwa: geistige Vorstellung]). Vgl. Cheng Xiangzhan 程相 占, Wang Guowei de yijinglun yu jingjieshuo 王国维的意境论与境界说 [Zu Wang Guoweis Konzepten yijing und jingjie], in: Wenshizhe 文史哲 3. 2003, S. 70-74; online verfügbar unter www.literature.org. cn/Article.aspx?ID=19595, Stand 10.5.16; Xiang Weiguo 向衛國: ›Yijing‹ de xiandai zhuanxing ›意境‹ 的 現代轉型 [Die moderne Transformation von ›yijing‹], in: Taiwan shixue xuekan 臺灣詩學學刊 Nr. 9, 2007, S. 141-156; online verfügbar unter: www.poemlife.com/revshow-41426-1699.htm, Stand 10.5.16. Wang Guoweis Konzept versammelt diese Vorstellungen im Konzept der yijing und schafft somit ein modernes ästhetisches Konzept, das die in einem Kunstwerk aufzufindende Stimmung, den Geist

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der schwarz-weißen Schreibkunst, hatten den westlichen Künstlern (xiyang yishujia) sehr bald geholfen, der Malerei von einem Punkt, wo sie erklärende Funktion hatte, in höhere Gefilde der ›reinen Malerei‹ zu verhelfen. [8] Der chinesische Geist des Schreibens der Sinneshaltung (xieyi) brachte in der westlichen Malereigeschichte (xiyang huihuashi) neue Entwicklungen hervor. [9] Die Chinesen wissen alle, dass die Malerei des Schreibens der Sinneshaltung (xieyi) dem Realistischen (xieshi) (gongbi47) überlegen ist, doch wissen sie nicht, dass das höchste Ziel der Malerei des Schreibens der Sinneshaltung (xieyi) das Lossagen von allen äußeren Beschränkungen ist, um Unabhängigkeit zu erreichen. [10] Anders gesagt strebt sie nach der ›reinen Malerei‹ 48 – dem Aufbau der abstrakten Malerei. [11] Die meisten Menschen verstehen dies nicht und meinen das Gegenteilige, nämlich, dass die abstrakte Malerei den traditionellen Geist Chinas missachtet. [12] Da macht man sich wirklich lächerlich vor den Gelehrten. [13] Heute, im Zusammenschmettern des Ost-West-Kulturaustausches, müssen wir zunächst einen klaren Kopf bewahren und dürfen uns nicht verirren. [14] Wir müssen klar erkennen, wo die Vor- und Nachteile der östlichen und westlichen Kunst 49 liegen, wir müssen zunächst die Entwicklung der Kunstgeschichte der östlichen und westlichen Kunst tief begreifen, sonst werden wir die gleichen Fehler begehen wie die großen Meister der älteren Generation und würden die chinesische Kunst zu Grabe tragen. [15] Wir alle wissen, dass die westliche Malerei (xiyang huihua) vor dem 19. Jahrhundert immer die Beobachtung des ›Wissens‹ und der Ausdruck der ›Wirklichkeit‹ war. [16] Sie eines Kunstwerks oder die ›Sinneshaltung‹ eines Werkes beschreibt. So verweist das zum Konzept gewordene yijing auf den modernen Bezug zur klassischen Vorstellung des künstlerischen Schaffens, der geprägt ist von Wang Guoweis Kenntnis von und tiefgehender Auseinandersetzung mit der westlichen Ästhetik und Philosophie. (Zu diesem Einfluss, besonders dem deutschen Idealismus, siehe auch: Li Duo 李铎, Wang Guowei de jingjie yu yijinglun 王国维的境界与意境论 [Wang Guo-weiʼs theory of Jingjie and Yijing], in: Journal of South China Normal University (Social Science Edition), Nr. 4, 2004, S.  51-59; online verfügbar unter: http://ccl.pku.edu.cn/chlib/articles/王国维的境界与意境论.pdf, Stand: 10.5.16.) In eine solche Lesung reiht sich Li Zehous Interpretation der Bedeutung von yijing ein, die Pohl folgendermaßen zusammenfasst: »Li meint, jìng bedeute die Vereinigung von Form (xing) und Geist (shen), yi sei hingegen die Vereinigung von Gefühl (qing) und Vernunft (li). Insofern würden sich in dem Wort yijìng diese vier Begriffe gegenseitig durchdringen und einander bedingen, womit auch eine Vereinigung von objektiver Außenwelt und subjektiver Gestimmtheit erzielt würde.« Karl-Heinz Pohl, Ästhetik und Literaturtheorie in China: Von der Tradition bis zur Moderne, München 2008, S. 416. In Anlehnung an die Übersetzung von xieyi als ›Schreiben der Sinneshaltung‹ nutze ich im Folgenden ›künstlerische Sinneshaltung (yijing)‹ als Übersetzung. 47 Liu schreibt hier in Klammern gongbi 工筆, was Michael Sullivan in Art and Artists of 20th Century China wörtlich als »craftmanʼs brush« (S. 9) übersetzt. Die auf Details achtende klassische chinesische Maltechnik, beschreibt er als »meticulous« (S. 107), als realistisch und beschreibend. Gongbihua 工筆 畫übersetzt er als »fine line painting«. Dieses »had always been looked on with favor by the authorities. It was craftmanlike, with no elistist associations, and it was accurate, impersonal, rooted in tradition.« (S. 241). 48 Liu nutzt hier – wie auch einige Zeilen weiter oben in der Beschreibung der westlichen modernen Kunst – für ›reine Malerei‹ den Terminus chuncui huihua 純粹繪畫, der dem modernen westlichen Kunstverständnis entstammt. Zu dieser analogisierenden Nutzung siehe Analyse. 49 Angemerkt werden soll an dieser Stelle, dass die östliche und westliche Kunst als dongxi yishu 東西 藝術 (wie in der nächsten Erwähnung auch) als ein zusammenhängender Terminus ohne das ›und‹ auskommt.

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ging den Weg der Wiedergabe der Natur. [17] Die Maler Chinas hingegen haben schon früher gespürt, dass ›Wirklichkeit‹ keine vollständige ›Annäherung‹ bedeutet und dass man auch nicht die größtmögliche Nähe braucht. [18] Demzufolge sind die chinesischen Maler von einem Realismus (xieshi) der Formähnlichkeit zu einem Ausdruck des Schreibens der Sinneshaltung (xieyi) gegangen, bei dem die ›Sinneshaltung‹ durch die Haltung des ›Mittelmaßes‹ erlangt wird. [19] Die ältere Generation großer Meister wie Xu Beihong oder Liu Haisu verstehen dies nicht. [20] In dem turbulenten Zusammentreffen der Kulturen haben sie sich selbst verloren, konnten die Richtung50 nicht greifen. [21] Die frühere westliche Technik der Beschreibung der Natur machte sie sprachlos und sie meinten, dass dies dasjenige sei, was der chinesischen Kunst fehle. [22] Also gaben sie die uralte künstlerische Sinneshaltung (yijing) des xieyi (Schreiben der Sinneshaltung) auf und verfolgten die Darstellung des natürlichen Abbildes. [23] Das Ergebnis war eine Art Rollentausch der Malerei des Ostens und des Westens im 20. Jahrhundert. [24] Der Westen erlangte die Gunst des Kulturaustausches und nahm die Stärken der chinesischen Malerei in sich auf. [25] Er gab den früheren objektiven, realistischen (xieshi) Stil auf und wurde zu einer modernen Malerei des xieyi (Schreibens der Sinneshaltung), die sich dann hin zu einem Ausdruck des Abstrakten entwickelte. [26] Seine ehemals rückständige Malerei erlangte eine Führungsrolle und ist uns sehr weit voraus. [27] Gegenwärtig herrscht in Taiwan die Autorität der Meister, die den Realismus (xieshi) übertrieben zur Schau stellen. [28] Der Grund dafür ist ihr schlechtes Verständnis der chinesischen Kunstgeschichte. [29] Sprechen wir nicht von weit entfernten Geschichten wie der von Cao Buxing, als ihm ein Tropfen Tusche auf seine Malerei tropfte und er daraus eine Fliege machte,51 sondern nehmen wir die überlieferten und jedermann vertrauten alten Malereien: [30] Han Gans Bild eines Pferdetreibers, Huang Jucais Waldrebhühner und Spatzen im Jujubenbusch und das allseits bekannte Entlang des Flusses während des Qingming-Festes – alle zeigen äußerste realistische (xieshi) Fähigkeiten. [31] Spricht man von Licht und Schatten, von der Perspektive – ich glaube, dass die westlichen realistischen (xieshi) Landschaften in Öl das Bild der vier Freuden aus der südlichen Song-Dynastie von Yan Ciping nicht überbieten!52 [32] Aber in der chinesischen Malerei50 Im Originaltext in der Zeitschrift Wenxing schreibt er an dieser Stelle abweichend ›das Selbst greifen‹ (bawo ziji 把握自己). 51 Liu spielt hier auf die zum Sprichwort wubi chengying 誤筆成蠅 gewordene Gegebenheit an: Demnach tropfte Cao Buxing 曹不興ein Tropfen Tusche auf seine Malerei, aus der er dann eine Fliege malte, die so echt aussah, dass ein Freund beim Betrachten des Bildes sich an dieser scheinbar auf dem Bild sitzenden Fliege störte und sie verscheuchen wollte. 52 Abbildungen der hier besprochenen – im chinesischen Kontext weithin bekannten, im europäischen Kontext außer in Fachkreisen unbekannten – Werke sind online zu betrachten unter den folgenden Links (Stand: 8.2.2017): Das Bild eines Pferdetreibers (muma tu 牧馬圖) von Han Gan 韓幹 aus der Tang-Dynastie: http://vr. theatre.ntu.edu.tw/fineart/painter-ch/hangan/hangan-02x.jpg Waldrebhühner und Spatzen im Jujubenbusch (shanzhe ji que tu 山鷓棘雀圖) von Huang Jucai 黃居寀 aus der beginnenden Song-Dynastie: http://vr.theatre.ntu.edu.tw/fineart/painter-ch/huangchutsai/ huangchutsai-01-01x.jpg Eines der bekanntesten und am häufigsten kopierten Werke der chinesischen Kunstgeschichte ist das Bild Entlang des Flusses während des Qingming-Festes (qingming shang he tu 清明上河圖) von Zhang Zeduan 张择端 aus der Song-Dynastie: https://zh.wikipedia.org/wiki/%E5%BC%A0% E6%8B%A9%E7%AB%AF.

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geschichte hat der Name Yan Ciping bei Weitem nicht so einen Widerhall erzeugt wie der Name Mi Fu53. [33] Warum? [34] Dieser Malereistil des Kopierens der Natur, wird von der Kunstwelt einfach nicht wertgeschätzt und als wichtig erachtet. [35] Die Entwicklung der chinesischen und westlichen Kunstgeschichte (zhongxi meishushi) hat eine gemeinsame Richtung und das ist – egal ob in der Theorie oder im Ausdruck – die Entwicklung vom Realistischen (xieshi) zum xieyi (Schreiben der Sinneshaltung). [36] Die Entwicklung dieses Prozesses ist in der westlichen Kunstgeschichte eher deutlich und klar zu sehen. [37] In der chaotischen Entwicklung der chinesischen Kunstgeschichte lässt sich auch eine Linie erkennen. [38] In der chinesischen Malerei kam die xieyi-Malerei zuerst in der Tang-Dynastie auf. [39] Den historischen Aufzeichnungen zufolgen war Wang Qia54 der erste, der mit seiner Technik der gespritzten Tusche55 das Realistische (xieshi) aufgab und den Stil der xieyi-Malerei begründete. [40] Den Geist des Schreibens der Sinneshaltung (xieyi) Wang Qias trugen später Mi Fu zur Zeit der nördlichen Song-Dynastie (die Art, wie er im Bild Glücksverheißende Kiefern in den Frühlingsbergen56 Wolken, Berge, Rauch und Bäume malte, wurde damals als Wang Qia folgend gesehen, in der Art den Pinsel zu benutzen, wurde er als Dong Yuan57 folgend gesehen) und Liang Kai58 zur Zeit der südlichen Song-Dynastie (die schnellen Striche des Bild eines Unsterblichen in gespritzter Tusche59, das er der Nachwelt hinterließ, wurde Malerei des reduzierten Striches60 genannt) fort. [41] Auf Ebene der Theorie gibt es die Aussagen Su Dongpos (»Bespricht man Bilder von der Formähnlichkeit her, so ähnelt dies der Betrachtungsweise der Kinder« 61), Ouyang Wenzhongs62 (»Die alten Meister malten die Sinneshaltung, nicht die Form. [42] Die Gedichte des Mei Yaochen 梅堯臣 besingen das Objekt direkt, ohne von Gefühlen zu sprechen. [43] Es gibt nur wenige Menschen, die die Form vergessen und die Sinneshaltung erreichen. [44] Man muss Gedichte wie Bilder anschauen.«) und Ni Zans (»Meine sogenannten Malereien des schnellen flüchtigen Pinselstrichs suchen nicht die Formähnlichkeit, sondern nur das Wohlgefallen«). [45] Alle betonen unentwegt, dass die Maler Das Bild der vier Freuden (sile tu 四樂圖) von Yan Ciping 閻次平 aus der südlichen Song-Dynastie: http:// catalog.digitalarchives.tw/item/00/11/12/41.html 53 Mi Fu 米芾 (auch 米黻), Maler der Song-Dynastie. 54 Wang Qia 王洽 (auch Wang Mo 王默), Maler der Tang-Dynastie. 55 Die pomo-Technik (潑墨) wird ins Englische meist mit ›splashed ink‹ übersetzt. Bei Brinker findet sich die Übersetzung »aufgespritzte oder hingekleckste Tusche« (Brinker, chinesische Kunst, S. 42). 56 Das Bild Glücksverheißende Kiefern in den Frühlingsbergen (chunshan ruisong tu 春山瑞松圖) ist online zu betrachten unter: http://catalog.digitalarchives.tw/item/00/03/fb/40.html, Stand: 8.2.2017. 57 Dong Yuan 董源, Maler der südlichen Tang-Dynastie. 58 Liang Kai 梁楷, Maler der südlichen Song-Dynastie. 59 Das Bild eines Unsterblichen in gespritzter Tusche (pomo xianren tu 潑墨仙人圖) ist online zu betrachten unter: https://www.npm.gov.tw/dm/album/selection/c049.htm, Stand: 8.10.2017. 60 Die Technik des jianbihua 減筆畫 (wörtlich: Malerei des reduzierten Striches) bezeichnet eine sehr schnelle Nutzung des Pinsels, die in einer Haltung des xieyi und in dezidierter Abgrenzung zur Malerei des feinen Striches (gongbi 工筆) eine Art Abriss als Verkörperung des Inneren sucht. 61 Die Übersetzung Su Dongpos 蘇東坡Ausspruch lunhua yi xingsi, jian yu ertong lin 論畫以形似, 見與兒 童鄰 ist hier angelehnt an Susan Bush: »If anyone discusses painting in terms of formal likeness, his understanding is nearly that of a child.« (Susan Bush, The Chinese Literati on Painting: Su Shih (1037-1101) to Tung Ch’i-ch’ang (1555-1636), Cambridge MA 1971, S. 32) 62 Ouyang Wenzhong 歐陽文忠 (besser bekannt als Ouyang Xiu 歐陽修), Gelehrter der Song-Dynastie.

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die Wahrheit schätzen, die Formähnlichkeit ablehnen und jeder nach dem Charakter und Geist des Selbst strebt, um außer der Form und der Kunstfertigkeit, getreu dem Gefühl des eigenen Herzens, die geistige Bewegung des Gegenübers auszudrücken. [46] Die Menschen der Yuan-Dynastie verstanden zutiefst, dass die Erhabenheit der abstrakten künstlerischen Sinneshaltung (yijing) der Schreibkunst in die Malerei hereingetragen werden sollte, also benannten die Maler das ›Bilder malen‹ (huahua 畫畫) in ›Bilder schreiben‹ (xiehua 寫畫) um und betonten so besonders das Zeichen ›xie‹ [das Wort ›schreiben‹]. [47] Damit verweisen sie auf die unermüdliche Übung der Handhabung des Pinsels im Schreiben der Zeichen, um das, was sie im tiefsten Innern auszudrücken wünschen, auf Seide zu schreiben und so als höchstes Ziel geistige Gestimmtheit und Bewegung im Atmen63 zu erreichen. [48] Deshalb sagte Tang Gou64: »Wenn wir Pflaumen malen, nennen wir das Pflaumen schreiben, wenn wir Bambus malen, nennen wir das Bambus schreiben, wenn wir Orchideen malen, nennen wir das Orchideen schreiben. [49] Wieso ist dies so? [50] Um die Fadheit der Blumen zu erreichen, muss der Maler die Sinneshaltung schreiben, nicht die Formähnlichkeit.« [51] Yang Weizhen65 sagt: »Das Schreiben (shu 書)66 erblühte in der Jin-Dynastie, das Malen in der TangDynastie, in der Song-Dynastie sind das Schreiben (shu) und Malen eins. [52] Wer das Malen beherrschen möchte, muss das Schreiben (shu) beherrschen. [53] Malen und Schreiben müssen Hand in Hand gehen.« [54] Zhao Wenmin67 fragte Qian Shunju68: »Was wird Charakter genannt?« [55] Qian antwortete: »Eine gute Li-Schreibweise kann in der Geschichte der Malerei diskutiert werden, sie kann auch ohne Flügel fliegen. [56] Wenn dem nicht so ist, dann ist es der falsche Weg. [57] Je stärker das Streben, umso weiter wird man sich entfernen.« [58] In einem Gedicht von Zhao Mengfu, der die Rückkehr zu alten Wegen verficht, heißt es: »Steine müssen in fliegendem Weiß 69 geschrieben werden, Bäume wie Siegelschrift. [59] Beim Schreiben von Bambus muss man die acht Weisen der Pinselführung70 verstehen. [60] Wer das wirklich können möchte,

63 Meine Übersetzung von shenyunqiqu 神韻氣趣 ist angelehnt an die Übersetzung von Obert, der shenyun qili 神韻氣力als ›geistige Gestimmtheit und Kraft im Atmen‹ übersetzt (Obert, Welt als Bild, S.  186). Qu趣, das normalerweise als ›Interesse‹ verstanden wird, übersetze ich als Bewegung, bezeichnet ›Interesse‹ doch die Bewegung des Geistes hin zu etwas. 64 Tang Gou 湯垢, Kunsttheoretiker der Yuan-Dynastie. 65 Yang Weizhen 楊維楨, Maler (und Schreibkünstler) der Yuan-Dynastie. 66 Hier steht shu 書, was modern mit ›Buch‹ übersetzt wird, als ›Schreiben‹ (an anderen Stellen ist ›Schreiben‹ xie 寫), wie sich aus dem Kontext ergibt und auch auf die shufa 書法, die ostasiatische Schreibkunst, verweist. 67 Maler der endenden Song-/beginnenden Yuan-Dynastie. Zhao Wenmin 趙文敏 ist auch unter dem Namen Zhao Ziang 趙子昂 und vor allem als Zhao Mengfu 趙孟頫 (s.u.) bekannt. 68 Qian Shunju 錢舜舉, Maler aus der endenden Song-/beginnenden Yuan-Dynastie. Auch als Qian Xuan 錢選 bekannt. 69 Die Technik des feibai 飛白 wird hier in Anlehnung an die häufig zu findende Übersetzung im Englischen als ›flying white‹ wörtlich als ›fliegendes Weiß‹ übersetzt. Dieser Stil oder diese Technik bezeichnet einen Pinselstrich, der viele weiße Flächen zwischen der Tusche durchscheinen lässt: als würde das Weiß fliegen. 70 Die ›acht Weisen der Pinselführung‹ (bafa 八法) bezeichnet die acht verschiedenen Striche der Schreibkunst, die beim Schreiben des Zeichens yong 永 alle gebraucht werden, weshalb dieses Zeichen zur Übung der Schreibkunst geschrieben wird.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

muss wissen, dass Schreiben und Malen71 ursprünglich das Gleiche waren.« [61] Diese Zitate zeigen deutlich, wie die Schreibkunst der Yuan-Dynastie in die Malerei Einlass fand und man kann sich die Situation vorstellen, wie das Schreiben der Sinneshaltung mit dem Pinsel Betonung fand. [62] Die Schreibkunst ist ursprünglich die abstrakte Kunst Chinas. [63] Die Maler Chinas wussten schon früher, dass das Einführen der Schreibkunst in die Malerei dazu führt, dass die Malerei aufgrund des Nicht-Strebens nach Formähnlichkeit die Begrenzungen des Zeichnens der Form abwerfen könne und so rein dem Interesse der Sinneshaltung im Linienschreiben mit Pinsel und Tusche nachgehen könne. [64] Was für ein Jammer, dass die späteren Generationen nur die beiläufigen Kommentare der Vorgänger wiederholten, ohne die Absicht und die Bestimmung dieser Worte zu verstehen. [65] Deshalb wurden die Gedanken nicht weiter entfaltet. [66] Das ist wirklich bedauernswert. [67] Und heute entwickeln und schreiben die Westler (wie die amerikanischen Maler Mark Tobey, Franz Kline, der deutsche Maler Hans Hartung, die französischen Maler Pièrre Soulages, André Masson etc.)72 diese auf großartige Weise fort. [68] Wie könnten wir uns da nicht nicht schämen? [69] Was hat die Malerei in den 600 Jahren seit der Yuan-Dynastie eigentlich geschaffen? [70] Yangzhou Baguai, Shi Tao, Ba Da oder Qi Baishi73, die so von den Menschen gelobt werden – was haben sie denn geschaffen? [71] Nicht mehr als nur das Fortführen eines Teils des freien Geistes der Song-Dynastie und sie haben nur die gleiche Einstellung wie die Song-Dynastie. [72] Nur verglichen mit der konservativen Haltung und der Ideologie der Rückkehr zum Alten der ›Sechs Künstler der Qing-Dynastie‹74 sind sie ein bisschen weiterentwickelter, doch tatsächlich haben sie es nicht geschafft, eine neue Schaffensebene hinzuzufügen. [73] »Im Meer der Tinte den Geist festigen, mit der

71 Shuhua 書畫, das im Kap. II als ›Schreibkunst und Malerei‹ übersetzt wird, zeigt sich in diesem Kontext als das ›Schreiben und Malen‹, also den Vollzug und nicht das fertige Werk betonend. 72 Alle hier erwähnten Künstler sind im Originaltext nur in chinesischen Schriftzeichen ohne Verweis auf die Namen in lateinischen Buchstaben angegeben, was ein Hinweis darauf ist, dass sie den Lesern wohl bekannt waren. Tobey bleibt in dieser Liste eine ungesicherte Angabe und wurde aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit der chinesischen Schriftzeichenkombination dubi 杜比 vor dem Hintergrund der Information, dass ein amerikanischer Maler gesucht wird und angesichts seines Malstils geraten. Auch Cy Twombly könnte gemeint sein. Die heutigen Umschriften der Künstlernamen unterscheiden sich zum Teil von den von Liu genutzten, so auch Twombly, der heute meist mit tangʼenbuli 湯恩布里 phonetisch übersetzt wird. (Jean Dubuffet wird mit dubifei 杜比菲 wiedergegeben, kann aber aufgrund seiner französischen Nationalität nicht gemeint sein.) Alle anderen Angaben konnten vor allem durch den Text Von Kang Youwei bis Liu Kuo-sung: Der Weg der Modernisierung der chinesischen Malerei von Pan Anyi bestätigt werden (vgl. Pan Anyi, Cong Kang Youwei dao Liu Guosong). 73 Die Acht Exzentriker von Yangzhou (Yangzhou Baguai 揚州八怪) waren eine Gruppe von Malern der Qing-Dynastie; Shi Tao 石濤, 1642-1707, Maler der beginnenden Qing-Dynastie; Ba Da 八大 (auch bekannt als Zhu Da und Bada Shanren), 1625-1705, Maler der Qing-Dynastie; Qi Baishi 齊白石, 1864-1957, Maler der späten Qing-Dynastie und der Republikzeit. 74 Liu schreibt siwang wu yun 四王吳惲, »Vier Wangs, Wu und Yun«, was eine allgemein bekannte zusammenfassende Abkürzung für die sechs Künstler Wang Shimin 王時敏, Wang Jian 王鑑, Wang Hui 王翬, Wang Yuanqi 王原祁, Wu Li 吳歷 und Yun Shouping 惲壽平 ist. Diese Künstler der beginnenden Qing-Dynastie werden als den klassisch-orthodoxen Stil der Qing-Dynastie bildend gesehen.

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Pinselspitze Leben entstehen lassen,75 alles Überflüssige vom Malgrund wegnehmen, im Chaos das Licht aufgehen lassen. [74] Selbst wenn die Pinselstriche nicht als Pinselstriche anerkannt werden, die Tinte nicht als Tinte, das Bild nicht als Bild, so bin ich mir meiner doch sicher«76 – dies verstand Shi Tao zutiefst, doch hat auch er nicht mutig die natürliche Gestalt verworfen. [75] Man kann also sehen, dass es nicht einfach ist, eine abstrakte ›reine Malerei‹ zu schaffen. 5. Die neue Tradition wird auf der Tradition aufgebaut [1] Auf dem Weg der Entwicklung der xieyi-Malerei in Richtung der reinen Malerei gab es in jeder Generation unzählige Personen und Äußerungen, die, das Kopieren eines Models und die Rückkehr zum Alten befürwortend, den Rückfall der Entwicklung bewirkten und so die Geschwindigkeit des Voranschreitens derartig schleppend werden und die Entwicklung gar rückwärts gehen ließen. [2] So konnten die Westler sehr schnell die Entwicklung an sich ziehen und eine Situation schaffen, in der die Letzten die Ersten sind. [3] Können wir, die wir moderne Chinesen sind, noch die Vorteile unserer kulturellen Tradition sehen, die Stück für Stück von den Westlern genommen wird, fortentwickelt und vorangebracht wird? [4] Wenn es so weitergeht, so wird die chinesische Kultur allmählich von der westlichen Kultur gänzlich einverleibt werden, so dass wir zuletzt ohne alles dastehen. [5] Können wir denn mit ansehen wie das wertvolle Erbe, welches die Vorfahren uns überlassen haben, von uns, die wir nicht Nachfahren ähneln, nahezu vollständig vertan wird? [6] So müssen wir all unsere Kraft aufbringen und aktiv das Aufbauen eines Selbst, einer neuen Tradition, eines Malsystems des Ostens verfolgen. [7] Wir müssen aus den Händen der Westler die absolute Führungsrolle über die Kunstszene der Welt zurückerobern – das ist unsere derzeitige dringliche Aufgabe und es ist auch die Absicht des Initiierens der »Chinesischen Renaissance«. [8] Sicherlich gibt es Menschen, die sagen werden, wir seien eine Schar engstirniger Nationalisten – im Weltallzeitalter77 erneut den Aufbau eines Malsystems des Ostens ausrufen, sei allzu un»modern«, im Großen die Weltkultur zu diskutieren, sei erst der richtige Weg. [9] Genau! [10] Ich erinnere mich, dass der Landesvater78 in den ›Drei Prinzipien des Volkes‹ sagte, dass wir keine Berechtigung hätten die Weltgesellschaft zu diskutieren solange unser Volk nicht mächtig sei und floriere. [11] Doch jetzt sind wir noch eine Kulturwüste – wie können wir da die Berechtigung haben, die Weltkultur zu diskutieren? [12] Was die Kunstszene der Welt von uns erwartet, ist etwas zu erschaffen, was zu uns selbst gehört, genauso wie gehofft wird, dass jeder Maler etwas Eigenes erschafft. [13] Wir beschweren uns oft über die Unfähigkeit der Vorfahren, die blind das Alte nachahmen. [14] Doch wenn wir genau überlegen, so müssen wir uns fragen, ob das Nachahmen der modernen Menschen das Nachahmen des Früheren ersetzen 75 Liu schreibt an dieser Stelle queding shenghuo 決定生活, ›das Leben entscheiden‹. Laut verschiedenen anderen Quellen – u.a. Wu Guanzhong (s.u.) – muss es quechu shenghuo 決出生活 heißen, wie hier auch übersetzt wurde. 76 Die Übersetzung folgt der Interpretation von Wu Guanzhong吳冠中in seinem Text Meine Interpretation von Shi Taos Aufzeichnungen zur Malerei (Wu Guanzhong, Wo du Shi Tao hua yulu 我讀石濤畫語錄; Erstveröffentlichung 31.8.1995 in der Zeitung Renminribao 人民日報). 77 Die Erforschung des Weltalls scheint eine große Faszination auf Liu ausgeübt zu haben: nach der Mondlandung schuf er eine umfassende Serie zum Ereignis. 78 Gemeint ist Sun Yatsen (Sun Zhongshan), der in Taiwan als Landesvater (guofu 國父) bezeichnet wird.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

kann. [15] Kann das Nachahmen des Westens das Nachahmen Chinas ersetzen? [16] Das ist doch nur ein Unterschied zwischen dem Werfen von Steinen oder Ziegeln im Glashaus79 – beides ist nur Nachahmen. [17] Sofern man sagt, dass der Satz »die Kunst ist der absolute Ausdruck der individuellen Persönlichkeit« ein wahrer Satz ist, so muss die Essenz meiner Persönlichkeit, der ich im Osten geboren bin und im Osten lebe, Teil des Ostens sein.80 [18] Der individuelle Ausdruck vieler chinesischer Künstler muss eine unveränderliche Gemeinsamkeit aufweisen. [19] Der kulturell-nationale Charakter (minzuxing 民族性)81 ist diese Gemeinsamkeit. [20] Deshalb sage ich, dass sich in der Erweiterung des Individuellen die Besonderheit des kulturell geprägten Volkes zeigt. [21] Ein kulturell-nationaler Charakter (minzuxing) ist die Voraussetzung für einen kosmopolitischen, der Welt zugehörenden Charakter (shijiexing 世界性). [22] Jedes Kunstwerk, das in der Kunstszene der Welt bestehen kann, muss hingegen kulturell-nationalen Charakter (minzuxing) mitbringen, muss Persönlichkeit mitbringen. [23] Das bezieht sich nur auf den geistigen Inhalt. [24] Die Form verändert sich unaufhörlich, weil die Kultur ununterbrochen im Austausch steht. [25] Wir treten überhaupt nicht für eine Begrenzung auf die Formen und Materialien, die China ursprünglich hatte, ein. [26] Weil wir absolut nur die traditionelle 79 Liu macht hier eine Anspielung auf das Sprichwort wushi bu xiao bai bu 五十步笑百步 (derjenige, der vor dem Feind 50 Schritte zurückwich, lacht denjenigen aus, der 100 Schritte zurückwich), das der Bedeutung des deutschen Sprichworts des Glashauses ähnelt. 80 Angemerkt werden soll an dieser Stelle, dass Liu in den späten 1960er Jahren nach Amerika ging und dort viele Jahre lebte. 81 Minzu 民族 (ein Begriff/Konzept, dessen Übersetzungsmöglichkeiten im chinesischsprachigen Kontext viel diskutiert werden) ist ein Neologismus, der, aus dem modernen Japanischen übernommen, seit etwa 1900 im Chinesischen gebräuchlich wurde (1837 jedoch schon das erste Mal nachweisbar ist). Er wird meist als Äquivalent zum westlichen Konzept der ›Nation‹ gesehen, muss aber, wie Fang Weigui zeigt, immer gemeinsam mit guozu 國族 und guojia 國家 gedacht werden, für die es in den »westlichen Sprachen eigentlich nur ein Wort«, nämlich ›Nation‹, gibt. (Vgl. Fang Weigui, »Seit wann besteht die chinesische Nation? Anmerkungen zum Nationalismus-Diskurs.« In: Antje Richter; Helmolt Vittinghoff (Hg.), China und die Wahrnehmung der Welt, Wiesbaden, 2007, S. 159-184, S. 159ff.) Dass eine einheitliche Übersetzung nicht möglich ist, zeigt sich auch daran, dass im heutigen China zhongguo minzu 中國民族 eher politisch konnotiert als ›Chinesische Nation‹ verstanden wird, shaoshu minzu 少數民族 hingegen, die ›ethnische Minderheit‹ bezeichnet. Yuanzhuminzu 原住民族 bezeichnet in Taiwan die Volksgruppe der Ureinwohner. Folglich bezeichnet minzu 民族 – mit entsprechenden Zusätzen – die kulturell definierte ethnische Volksgruppe, wie auch die Kulturnation (wenhuaminzu 文化民族) und die Staatsnation (guojiaminzu 國家民族). Liu versteht minzu, das ich oben mit Volk, aber auch im Rahmen der Wendung minzuzhuyizhe 民族主 義者 als ›Nation(alisten)‹ übersetze, als Gemeinschaft, die sich aus einzelnen, durch den gemeinsamen kulturellen Hintergrund geprägten Individuen zusammensetzt. Minzuxing 民族性 steht bei Liu im ergänzenden Gegensatz zum universale Konnotationen habenden shijiexing (kosmopolitischer, der Welt zugehöriger Charakter) wodurch sich minzu als kulturell geprägtes Volk und minzuxing als kulturell-nationaler Charakter übersetzen lässt (wobei ›Nation‹ nicht in erster Linie als Staatsnation verstanden werden sollte). Minzu muss bei Liu deutlich von guozu und guojia abgegrenzt verstanden werden, das Kulturelle wird stärker betont, was in der Übersetzung als ›kulturell geprägtes Volk‹ zum Ausdruck kommt. Diesem wird auch Rechnung getragen, wenn unten minzu benzhi 民族本質 als ›kulturelle Essenz‹ übersetzt wird und oben minzuwenhua chuangzaoli 民族文化創造力 als ›kulturell geprägte Kreativität‹ übertragen wird. Eine Übersetzung von minzuxing als ›kulturelle Prägung‹ wäre sinngemäß passend, allerdings würde dann die im Chinesischen durchaus vorhandene Nähe zur politisch verstandenen Nation, zum ethnischen Volk nicht deutlich.

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Form bekämpfen. [27] In Bezug auf das Material meinen wir, dass der Schaffende das Material, von dem er meint, dass es zu ihm passt, frei und spontan nutzen und keinerlei Einschränkung erfahren soll. [28] Aber das Schaffen muss die Tradition durchdringen, erst dann kann man die unveränderliche kulturelle Essenz der chinesischen Malerei verstehen. [29] Und ebenso muss es die westliche Tradition durchdringen, erst dann kann man die unveränderliche menschliche Natur der Weltkunst verstehen. [30] Gleichzeitig müssen wir die Errungenschaften eines jeden Ortes der Welt in uns aufsaugen und sie zu unserem Nährstoff machen. [31] Der Ausdruck der individuellen Persönlichkeit ist keinesfalls eine einfache Sache. [32] Es gibt unzählige Menschen, die ein Leben lang nicht das Individuelle zum Ausdruck gebracht haben. [33] Der Ausdruck der Persönlichkeit eines Künstlers muss vollkommen auf dem ohne Unterlass geschehenden Herantasten und Suchen durch den Künstler selbst beruhen. [34] Aber wenn wir, diese Generation, nur eine Handvoll erfolgreiche Leute haben, so kann die neue Tradition Chinas sofort aufgebaut werden. [35] Wenn wir gar zehn, zwanzig Leute wären, so könnten wir in den Wettstreit um die Führungsposition der Kunstszene der Welt treten. [36] Dann nämlich haben wir die Berechtigung uns selbst über die Weltkultur zu äußern. [37] Auf! Lasst uns alle gemeinsam unermüdlich uns selbst suchen, den kosmopolitischen ewigen Osten suchen und die neue Tradition der chinesischen Kunst aufbauen.

2. Einordnung des Textes 2.1 Umgebung des Textes Liu Kuo-sung 劉國松82, dem Autor des Textes Vergangenheit – Moderne – Tradition, kommt in der Kunstszene der Nachkriegszeit Taiwans83 die Funktion eines Kritikers der konservativen Kunstszene Taiwans und als Künstler die Rolle eines Wegbereiters der Entwicklung einer modernen Kunst Chinas zu. Auch heute ist Liu – der ab den späten 1960er Jahren immer wieder in den USA weilte, ausstellte und unterrichtete – noch ein wichtiger und aktiver Künstler und Kunsttheoretiker. Er, der als junger Mann (geb. 1932) im Gefolge Chiang Kai-Sheks von Festlandchina nach Taiwan kam,84 studierte am Fachbereich Kunst der National Taiwan Normal University in Taipei sowohl die traditionelle Tuschemalerei als auch westliche Malerei. Seine zahlreichen kunstkritischen Schriften und Kommentare zur aktuellen Kunstentwicklung spätestens seit Mitte der 1950er Jahre, seine malerische Entwicklung und seine Bedeutung

82 Lius Name findet sich in zahlreichen verschiedenen romanischen Umschriften (z.B. Liu Kuo Sung, Liu Kuo-sung, Liu Kuo-song oder das festlandchinesische Liu Guosong). Ich folge hier der häufigsten Variante Liu Kuo-sung. 83 Im Untertitel seiner Studie über die Künstlergruppen Fifth Moon und die Eastern Painting Group bezeichnet Hsiao Chong-ray die Zeit von 1945 bis 1970 als ›Nachkriegszeit‹, vgl. Hsiao Chong-ray, Wuyue yu dongfang. 84 Er kam alleine, war also nicht so sehr in eine hierarchische Familienstruktur eingebunden, was laut Li Shuzhen sein (für Taiwan unüblich) forsches Auftreten gegenüber der älteren Generation erklärt, vgl. Li Shuzhen, Anshen liming, S. 324.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

als Gründungsmitglied der einf lussreichen Gruppe Fifth Moon Painting Group85, lassen ihn eine führende Rolle in der Entwicklung der ›Bewegung der modernen Malerei‹ (xiandai huihua yundong 現代繪畫運動) sowie der ›Bewegung der modernen Tuschemalerei‹ (xiandai shuimo yundong 現代水墨運動) spielen. Fifth Moon, ebenso wie die Eastern Painting Group86, die ein halbes Jahr nach Fifth Moon ebenfalls 1957 um den Künstler und Lehrer Li Zhongsheng 李仲生87 gegründet worden war und wie Fifth Moon sowohl damals als auch später sehr einf lussreich für die Entwicklung der modernen Malerei Taiwans war, sowie einige andere, im Texte erwähnte Gruppierungen, strebten ein modernes Kunstschaffen der Kunst Chinas an. Wie sehr sich die Sicht auf ›moderne Kunst‹ der vorwiegend vom Festland stammenden jungen Künstler von der Entwicklung und damit den Voraussetzungen, die während der japanischen Besatzungszeit in Taiwan entstanden waren, unterscheidet, zeigt sich besonders in der ›Debatte um die wahre guohua [chinesische Malerei/Malerei der Nation]‹ (zhengtong guohua lunzheng 正統國畫論爭). Schon in den frühen 1950er Jahren wurde hier die Kluft der Sicht auf Kunst zwischen festlandstämmigen und taiwanischen Künstlern deutlich. Unter der Bezeichnung guohua verstanden die Künstler vom Festland die klassische chinesische Tuschemalerei. Sie verstanden guohua also als Abkürzung von zhongguohua 中國畫 (chinesische Malerei). Die taiwanischen Künstler hingegen benannten die unter japanischer Besatzung eingeführte ›Japanische/Östliche Malerei‹88 nach Ende der Kolonialzeit in guohua um und brachten damit die abgrenzende Bedeutung der ›Nation‹ zum Ausdruck.89 Mit der gleichen Bezeichnung wurden nun zwei vollkommen verschiedene künstlerische Ausdrucksformen bezeich85 Die Übersetzung ›Fifth Moon‹ für die Künstlergruppe wuyue 五月ist eine häufig auftauchende, weshalb ich dieser hier folge. Die wörtliche Übersetzung ›Mai/May‹ wird bspw. vom chinesischen Kunstkritiker Gao Minglu genutzt und ist naheliegend, da Fifth Moon im Mai 1957 gegründet wurde. Auch eine Anlehnung an den Pariser ›Salon de Mai‹ könnte im Namen stecken. Angesichts der Faszination insbesondere Liu Kuo-sungs für die Raumfahrt und die Mondlandung, die umfassend in sein künstlerisches Schaffen einfloss, wäre denkbar, dass die Übersetzung als ›Fifth Moon‹ hiermit zusammenhängt. Ein Übersetzungsfehler aufgrund sprachlicher Probleme ist eher auszuschließen, da viele Mitglieder der Künstlergruppe später in den USA lebten und arbeiteten. 86 Weitere gebräuchliche Übersetzungen und Umschriften der Künstlergruppe dongfang huahui 東方畫會ist bspw. ›Tung Fang‹, ›Ton-Fan Group‹, ›East Association of the Art‹ oder auch einfach ›East‹. 87 Da es sehr viele Variationen von Umschriften des Namens gibt, nutze ich hier die Hanyu PinyinVersion ›Li Zhongsheng‹. Häufige Umschriften sind auch: Li Chung-sheng, Lee Chong-sheng, Li Chunshan. 88 Zur ›japanischen/östlichen Malerei‹ (dongyanghua), wie die in Japan als Nihonga bezeichnete Maltechnik in Taiwan genannt wurde, sowie zur Umbenennung in guohua und 1977 in ›Klebfarbmalerei‹, siehe auch Kapitel II.2.2. 89 Wie in Kapitel II erarbeitet, ist guohua eine moderne Begriffsprägung. So kommt hier – in beiderlei Vorstellungen der wahren guohua – die Vorstellung der Nation oder einer Kultur, die sich im Nationalstaat definiert, zum Ausdruck. Dies erarbeitet auch Liao Hsin-tien, laut dem sich in der Debatte der Beginn der Auseinandersetzung mit Zugehörigkeit in der Kunst Taiwans ausdrückt (vgl. Liao Hsintien, Taiwan zhanhou chuqi ›zhengtong guohua lunzheng‹ zhong de mingming luoji ji wenhuarentong xiangxiang (1946-1959): weiguan de wenhuazhengzhixue tanxi 臺灣戰後初期 ›正統國畫論爭‹ 中的命名邏 輯及文化認同想像 (1946-1959): 微觀的文化政治學探析 [The Naming Logic and Imagined Cultural Identity in the »Controversy of Orthodox Guohua*« during the Early Post-War Period in Taiwan (1946-1959): A Micro-analysis of Cultural Politics], in: Modern China Studies, Nr. 19, 2012, S. 63-113). Auch wenn diese Komponente der Debatte sicher nicht zu vernachlässigen ist, muss jedoch die Kunstauf-

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net. Zwar beriefen sich beide auf die sechs Verfahrensweisen der Malerei (hua liufa 畫六法) Xie Hes 謝赫, jedoch auf unterschiedliche Grundsätze: Während die taiwanischstämmigen Maler das ›Skizzieren nach dem Leben‹ (xiesheng 寫生)90 betonten, das sie in der dritten Regel »Correspondence to the object which means the depicting of forms« (yingwu xiangxing 應物象形) und in der vierten Regel »Suitability to Type which has to do with the laying on of colours« (suilei fuxing 隨類賦形)91 fanden, beriefen sich die festlandstämmigen Maler insbesondere auf den »wichtigsten Leitsatz in der chinesischen Ästhetik«92: »›Gestimmtheit im Atmen‹, das bedeutet eine lebendige Selbstbewegung«93.94 Auch in der Provinzausstellung (shengzhan 省展 oder quansheng meizhan 全省美展), die als Nachfolge der während der japanischen Besatzungszeit etablierten Taizhan zu sehen ist, findet sich eine Sicht auf Kunst, die der der taiwanischstämmigen Maler in der ›Debatte um die wahre guohua‹ ähnelt: ›Skizzieren nach dem Leben‹ (xiesheng) und das kreative Schaffen müssen betont werden, so erst könne das Werk Charakter und Leben erhalten. Hsiao Chong-ray sieht die Auseinandersetzung mit dem ›Skizzieren nach dem Leben‹ (xiesheng) als eine große Errungenschaft der taiwanischstämmigen Künstler während der ›Neuen Kunstbewegung‹ zur Zeit der japanischen Besatzung. Das ›Skizzieren nach dem Leben‹ (xiesheng) sei dabei zur wichtigsten Technik und zum Standard der Maler geworden.95 Es ist diese Betonung des ›Skizzieren nach dem Leben‹ (xiesheng), die die ›Neue Kunstbewegung‹ der japanischen Besatzungszeit herausgebildet hatte und was als große Errungenschaft des Strebens nach ›neuer‹ Malerei in der Nachkriegszeit weitergeführt und in der Provinzausstellung propagiert wurde. Schon 1954 kritisierte Liu die Kunstauf fassung der Provinzausstellung stark. Diese stand in großem Gegensatz zur Vorstellung der jungen Maler vom Festland, die sich schon von festlandchinesischen Malern wie Xu Beihong, die die realistische Malerei als China fehlende Ausdrucksform sahen, distanzierten. Die festlandstämmigen Künstler, die fassung, die sich in dieser Debatte ausdrückt, beachtet werden, baut die Debatte doch auf der gleichen Bezeichnung zweier unterschiedlicher künstlerischer Ausdrucksformen auf. 90 Das Konzept xiesheng wurde im Meiji-Japan neu geprägt und erhielt die Bedeutung ›Skizzieren nach dem Leben‹ (›sketching from life‹, so übersetzt bei Satō, Modern Japanese Art and the Meiji State, S. 245). Die moderne Bedeutung bezieht sich also auf »drawing a realistic representation of an object by copying its shape« (ebd.). Da das Kunstverständnis der taiwanischstämmigen Maler aus Japan kam, kann dieses moderne Verständnis von xiesheng, das eng mit der Vorstellung eines naturalistischen Realismus und dem sichtbar Verifizierbaren zusammenhängt, angenommen werden. Im Folgenden wird ›Skizzieren nach dem Leben‹ (xiesheng) genutzt. 91 Ich nutze hier die Übersetzung ins Englische von William R.B. Acker (in: Some T’ang and pre-T’ang Texts on Chinese Painting, translated and annotated by W.R.B. Acker, Leiden 1954, S. 4). Eine interessante Übersicht der Übersetzungen der ›Sechs Verfahrensweisen‹ ins Englische gibt Shao Hong 邵宏 in seinem Artikel Xie He ›liufa‹ ji ›qiyun‹ xizhuan kaoyi 谢赫 ›六法‹ 及 ›气韵‹ 西传考释 [Untersuchung der Übersetzung und Übertragung in den Westen von Xie Hes ›sechs Verfahrenweisen‹ und ›Gestimmtheit im Atmen‹] (in: Wenyi Yanjiu 文艺研究, Nr. 6, 2006, S. 112-121; online verfügbar unter www.nssd.org/ articles/article _detail.aspx?id=22137758, Stand 16.5.16). 92 Obert, Welt als Bild, S. 182. 93 Übersetzung nach Obert, Welt als Bild, S. 182 (qiyun shengdong shi ye 氣韻生動是也). 94 Vgl. Hsiao Chong-ray, Wuyue yu dongfang, S. 150. 95 Vgl. ebd. S. 145f.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

bald die Kunstszene in Taiwan dominierten, beriefen sich auf die ›Bewegung des 4. Mai‹ und die Entwicklung moderner Kunst, die in Festlandchina und der Republik China seit 1911 ihren Ursprung hatte, und sahen daher hier den Hintergrund, vor dem ihr Schaf fen geschah. Man kann davon ausgehen, dass Liu den Stil der Kunstszene, den er in Taiwan vorfand, als recht konservativ und wenig progressiv empfand. Fifth Moon und die anderen Malergruppierungen führten also eine moderne Kunstauffassung Festlandchinas weiter, die Entwicklung zur Zeit der japanischen Besatzung spielte in der weiteren (künstlerischen) Auseinandersetzung keine große Rolle. Dass Lius Auffassung von moderner Kunst große Bedeutung zukam und auch in weiten Teilen die der jungen Kunstszene widerspiegelte, zeigt sich in der ›Debatte um die moderne Malerei‹ (xiandai hua lunzhan 現代畫論戰), die durch einen Artikel von Xu Fuguan in der Hongkonger Huaqiao Tageszeitung (huaqiao ribao 華僑日報) im August 1961 ausgelöst wurde. Liu bezog umgehend Stellung zu dem Artikel Die Tendenz der modernen Kunst und kritisierte diesen heftig. Xu Fuguan kritisierte ›Moderne Kunst‹ (und bezieht sich hier vor allem auf ›abstrakte Kunst‹) – ausgehend von einer Ausstellung, die er im Museum für moderne Kunst in Kyoto gesehen hatte – als unverständlich, irrational und fragte, wohin eine solche, die Form zerschlagende und die Vergangenheit und Zukunft negierende, sowie Tradition und Geschichte bekämpfende Kunst die Gesellschaft führen würde. Dies sei – so seine Kritik weiter – eine Frage, die sich die modernen Künstler nicht stellen würden.96 Der Schlagabtausch zwischen Xu Fuguan und Liu zog weite Kreise und bezog im weiteren Verlauf noch einige andere Theoretiker ein. Xu Fuguans abwertender Meinung zur abstrakten Kunst und seiner Kritik an den eine solche Kunst schaffenden Künstlern trat Liu heftig entgegen. Liu kritisierte vor allem auch, dass Xu Fuguan von der Ablehnung und nicht von der Liebe zur Kunst ausgehe, er verstehe nicht, dass moderne Kunst eine Bewegung des Suchens nach dem Auf bau des Selbst der Kunst sei, um die Selbstständigkeit der Kunst an sich zu verfolgen und keineswegs ein Zerstören verfolge.97 Lius Meinung spiegelte die Meinung der Mehrheit der (jungen, modernen) Künstler damals wider und ›gewann‹ den Streit.98 Diese Grundeinstellung zur Kunst, die Liu in jener Debatte vertrat, findet sich auch im wenige Monate später veröffentlichten Text Vergangenheit – Moderne – Tradition. Anspielungen auf die engstirnigen Traditionalisten, die meinen, die modernen Künstler zerstörten die Tradition, stellen wahrscheinlich Anspielungen auf die Debatte mit Xu Fuguan dar.

96 Vgl. Xu Fuguan, »Xiandaiyishu de guiqu« 現代藝術的歸趨 [Die Tendenz der modernen Kunst], in: Liu Kuo-sung, Zhongguo xiandai hua de lu, S. 178-182; Erstveröffentlichung in: Huaqiao Tageszeitung 華僑日報, 8.1961. 97 Vgl. Liu Kuo-sung: »Yu Xu Fuguan xiansheng tan xiandai yishu de guiqu« 與徐復觀先生談現代藝術 的歸趨 [Diskussion mit Herrn Xu Fuguan über die Tendenz der modernen Kunst], in: Ders., Zhongguo xiandai hua de lu, S. 157-178, S. 166; Erstveröffentlichung 1962 in Zuopin 作品. 98 Vgl. Li Shuzhen, Anshen liming, S. 328. Laut Li Shuzhen verfolgten Xu und Liu ähnliche Ziele und eine ähnliche Meinung, nur drückten sie diese unterschiedlich aus und versuchten nicht, einander zu verstehen. Anstatt wirklich über Kunst zu diskutieren, verblieben sie in Streitereien, so Li.

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Dass Liu – nicht nur nachträglich – eine derart wichtige Stellung in der Entwicklung der modernen Kunst Taiwans zugeschrieben wird und er häufig als »einziger Repräsentant der ›Bewegung der modernen Tuschemalerei‹ gesehen wird«99, liegt an seinem großen Engagement in Bezug auf die Verbreitung des Wissens um moderne Kunst: So sieht er es in der Verantwortung der Künstler, die Theorie zu ihrer Kunst zu schreiben und die Rezeption von Kunst zugänglicher zu machen. Auch kommt seiner Meinung nach Kunst – und damit den Kunstschaffenden – eine große gesellschaftliche Verantwortung zu.

2.2 Zur Kunstszene Der Text Vergangenheit – Moderne – Tradition wurde in der zu jener Zeit wichtigsten Zeitschrift im Kulturbereich, Wenxing 文星, veröffentlicht, die von 1957 bis 1965 im Monatsturnus herausgegeben wurde und die die wohl bedeutendste Unterstützerin der Bewegung der modernen Malerei darstellte.100 Laut Hsiao Chong-ray öffnete das Auf kommen der Zeitschriften als wichtiges Publikationsmedium in den 1950er Jahren Möglichkeiten, relativ unabhängig von der Propaganda der Kuomintang zu berichten und zur Zeit des weißen Terrors über Kunst zu diskutieren.101 Neben der Provinzausstellung, die den Mustern der Taizhan folgte und eine – zwar konservative, doch wichtige – Plattform für das künstlerische Schaffen darstellte, gab es mit der Eröffnung des Geschichtsmuseums 1956 und der Nationalen Kunsthalle 1957 zwei formelle Ausstellungsorte in Taiwan, die in den 1960ern zu den wichtigsten Ausstellungsorten für die Bewegung der modernen Malerei wurden.102 Auch wenn insbesondere das Geschichtsmuseum als staatliche Einrichtung eher konservativ ausgerichtet war, so spielte es bei der Auswahl der Arbeiten für die São Paulo Biennale, zu der Taiwan 1957 erstmals eingeladen wurde – eine wichtige Rolle für die Bedeutung der modernen Kunst in Taiwan. Eine Einladung zur Teilnahme erfolgte unter der Bedingung, dass der jeweilige Staat Kunstwerke bereitstelle, die den Anforderungen einer ›modernen Kunst‹ entsprechen.103 Der Künstler Xi Dejin schrieb in der Lianhe-Zeitung: »Dieses Jahr kann Brasilien asiatische Länder einladen, unser freies China ist auch eingeladen worden. Dem muss große Beachtung geschenkt werden. […] In Bezug auf die Auswahl der Jury muss sich am Standard der internationalen [guoji 國際] Kunstausstellungen orientiert werden, es müssen unbedingt diejenigen Kunstwerke gewählt

99 Hsiao Chong-ray, Xiandaishuimo zai taiwan de shengcheng 現代水墨在台灣的生成 [Die Entstehung der modernen Tuschemalerei in Taiwan] (März 1994 im National Taiwan Museum of Fine Arts als Vortrag gehalten, in schriftlicher Form vom Autor zur Verfügung gestellt). 100 Vgl. ebd. 101 Vgl. Hsiao Chong-ray, Taiwan Meishu Shigang, S. 391. 102 Vgl. ebd. 103 Lü Qingfu 呂清夫, »Xiandaizhuyi de shiyanqi« 現代主義的實驗期 [The Experimental Period of Modernism], in: Zhang Xibin 張希斌; Yang Minge 楊明鍔 (Hg.), 1945-1995 taiwan xiandaimeishu shengtai 一九四五 – 一九九五台灣現代美術生態 [A Retrospection on Taiwan Modern Art Environment from 1945 to 1995], Taipei 1995, S. 23-48.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

werden, die einem modernen Stil entsprechen, denn die São Paulo Biennale ist eine moderne Kunstausstellung.« 104 Durch die Auswahlprozedur, die von staatlicher Seite durchgeführt wurde, kann man Taiwan als Nation – als Republik China – teilnehmend sehen. Unter den ausgewählten Werken waren auch Liu Kuo-sungs, dessen Werke somit auch von offizieller taiwanischer Seite als einem internationalen Standard von ›moderner Kunst‹ entsprechend kategorisiert wurden. Auch die Tatsache, dass Hsiao Mingxian 蕭明賢 – einer der Gründer der Eastern Painting Group – einen (wenn auch laut des Kunstkritikers Lü Qingfu 呂青夫 unwichtigen) Preis erhielt, muss die Vorstellung, dass abstrakte Kunst den Ansprüchen einer internationalen modernen Kunst entspricht, in der Kunstszene Taiwans bestätigt haben.105

2.3 Bedeutung des Textes Vor dem hier beschriebenen Hintergrund steht der Text Vergangenheit – Moderne – Tradition, dessen Bedeutung Hsiao Chong-ray folgendermaßen beschreibt: »[…] revolutionäre Kritik an den kulturellen Errungenschaften besonders seit der Republik China. Man kann diese Kritik unterschiedlich bewerten, je nachdem von welchem Standpunkt man sie betrachtet. Jedoch hatte diese Haltung, die sich gegen die Tradition106 und die Macht stellt, eine Katalysatorwirkung auf die Kunstszene, die seit den 1950ern so unter dem Druck der Kuomintang litt.« 107

104 Zitiert nach: Jian Yiping 簡宜平, Shengbaoluo shuangnianzhan yu taiwan chouxianghuihua xingqi 聖保 羅雙年展與台灣抽象繪畫興起 [Die São Paulo Biennale und der Aufstieg der abstrakten Kunst in Taiwan]; online verfügbar unter: http://art.ncu.edu.tw/artConf/main/public/9/05宜平聖保羅雙年 展與台灣抽象繪畫興起.pdf, Stand: 4.5.2016. Ursprünglich in der Lianhe-Zeitung 聯合報, 27.1.1957 von Xi Dejin veröffentlicht unter dem Titel Baxi guojiyishuzhanlan woguo yishujie ying yongyue canjia 巴西國際藝術展覽我國藝術界應踴躍參加 [Die Kunstszene meines Landes muss enthusiastisch an der São Paulo Biennale teilnehmen]. 105 Vgl. Lü Qingfu, Xiandaizhuyi de shiyanqi, S. 24f. 106 Interessant ist, dass Hsiao Chong-ray Lius Haltung in diesem Text von 2009 als ›anti-traditionell‹ oder ›die Tradition ablehnend‹ (fanchuantong 反傳統) bezeichnet, obgleich Liu seine Haltung doch als klar die Bedeutung der Tradition verteidigend sieht. Diese zeitgenössische Sicht Hsiaos spiegelt eine Veränderung des Verständnisses der Beziehung von ›modern‹ und ›traditionell‹ wieder: Tradition steht hier der Idee des modernen Kunstschaffens gegenüber. Ein solcher Blick auf das Verständnis von ›Tradition‹ in Bezug auf ›Fifth Moon‹ und die ›Eastern Painting Group‹ findet sich auch im Katalog zur Ausstellung The Experimental Sixties: Avant-Garde Art in Taiwan, die 2003 im Taipei Fine Arts Museum gezeigt wurde. Hier schreiben die Autoren, dass »[b]y the 1960s, the Taiwanese art community was longing to shed the burdens of tradition« und dass Fifth Moon und die Eastern Painting Group »fervently rejected tradition« (Liao Tsun-Ling, Sharleen Yu, Fang Mei-Ching: »The Avant-Garde Spirit: Taiwanese Art in the 1960s.« In: Fang Meijing 方 美晶 (Hg.), Qianwei: liuling niandai Taiwan meishu fazhan 前衛: 六〇年代台灣美術發展 [The Experimental Sixties: Avant-Garde Art in Taiwan], Taipei 2003, S. 12-18, S. 12; vgl. auch Kap. VI). 107 Hsiao Chong-ray, Taiwan Meishu Shigang, S. 392.

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»Moderne Kunst« in Taiwan

Viele Texte, die von Künstlern, Kritikern und Dichtern ab den 1960ern in einer die ›Chinesische Renaissance108 begrüßenden Haltung für Zeitschriften und Zeitungen geschrieben wurden, wurden einige Jahre später in Büchern wiederveröffentlicht,109 wie auch der Text Vergangenheit – Moderne – Tradition, der den Eröffnungstext des 1965 veröffentlichten Der Weg der chinesischen modernen Malerei darstellt. Eine ähnliche Grundstimmung und ein Streben findet sich in diesen Texten: Das Einführen und Preisen der modernen und besonders abstrakten Malerei ist Ziel.110 In diesem Kontext entstand auch die Diskussion um eine ›moderne Tuschemalerei‹ (xiandai shuimo 現代水墨), wofür der Text Vergangenheit – Moderne – Tradition einen wichtigen Ausgangspunkt darstellt.111 Wahrscheinlich kann man sagen, dass durch die Suche nach einer modernen Tuschemalerei, wie sie von großen Teilen der Malereigruppe Fifth Moon und insbesondere von Liu verfolgt wurde, die klassische chinesische Tuschemalerei in Taiwan innerhalb der explizit das moderne Kunstschaffen verfolgenden und international ausgerichteten Gruppierungen überhaupt erst wieder zur Diskussion stand und Bedeutung erlangte. Diese Verbindung eines Strebens nach einem modernen künstlerischen Ausdruck und den klassischen Gedanken zum künstlerischen Schaffen, ebnete der Tuschemalerei einen Weg in die Diskussion der modernen Kunst und trägt schließlich einen wichtigen Teil zu dieser Diskussion bei. Dieser Impuls von einer der wichtigsten progressiven Malereigruppen Taiwans sicherte das Überleben und den Eintritt der Gedanken zum künstlerischen Schaffen in die moderne Kunst. Denn nach Ende der japanischen Besatzungszeit war die allgemeine Sicht der taiwanischen Maler auf die klassische Malerei Chinas, dass sie eine Kunstform sei, die konservativ sei, nur kopiere und ihre Kraft etwas auszudrücken, verloren habe. Der taiwanischstämmige Maler Lee Shih-chiao 李石樵 meinte auf einer Tagung zur Zukunft der Kultur Taiwans (1946), dass die chinesische klassische Malerei zwar eine hohe Kunst sei, jedoch sei sie mit der Zeit verf lacht, und wie Tee, den man immer wieder aufgieße, fade und schließlich ohne Geschmack geworden. Wolle man eine neue Kultur Chinas schaffen, so sei es unabdingbar, »eine Kanne Teeblätter zu wechseln«112. Taiwans ›Bewegung der neuen Kunst‹ – also jene Bewegung, die ein ›Skizzieren nach dem Leben‹ (xiesheng) verfolgt – habe die Kraft, die chinesische Kultur erneut zum Leben zu erwecken und zeige den Weg auf, den die Kunst gehen solle.113

108 Zur ›Chinesischen Renaissance‹ siehe Kap. III.1, Fußnote 1. 109 Vgl. Hsiao Chong-ray, Taiwan Meishu Shigang, S. 392f. 110 Vgl. Hsiao Chong-ray, Taiwan Meishu Shigang, S. 392f., sowie in vergleichender Lektüre von unter anderem He Huaishuo, Kuse de meigan 苦澀的美感 [Bittere Ästhetik], Taipei 1973; Zhuang Zhe, Xiandai huihua sanlun 現代繪畫散論 [Essays zur modernen Malerei], Taipei 1966; Liu Kuo-sung, Linmo xiesheng chuangzao 臨摹寫生創造 [Imitation, Malen nach dem Leben, Schaffen], Taipei 1966; Huang Chaohu 黃朝湖, Wei zhongguo xiandai hua tan bianhu 為中國現代畫壇辯護 [Verteidigung der chinesischen modernen Malerei], Taipei 1965; Yang Wei 楊蔚, Wei xiandaihua yaoqide 為現代畫搖旗的 [Unterstützung der modernen Malerei], Taipei 1968. 111 Vgl. Hsiao Chong-ray, Taiwan Meishu Shigang, S. 392f., sowie Aussage von Hsiao per E-Mail an die Verf. (1/2015). 112 Zitiert nach: Hsiao Chong-ray, Wuyue yu dongfang, S. 147. 113 Vgl. ebd., S. 147f.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

Die Gedanken, die Liu in diesem Text also entwickelt und (wieder) auffasst und die im Kontext der wichtigsten Debatten zur Kunst und Bewegungen der Kunst – der ›Debatte um die moderne Malerei‹ mit Xu Fuguan und der ›Debatte um die wahre guohua‹ sowie der ›Bewegung der modernen Malerei‹ und der ›Bewegung der modernen Tuschemalerei‹ – zu jener Zeit stehen, bilden einen wichtigen Teil der Diskussion um und der Entwicklung von moderner Kunst in Taiwan. Sie können als eine Art Grundstein der Gedanken zur modernen Kunst gesehen werden. Im Rahmen dieser Arbeit kommt diesem Text auch eine Art grundlegende Funktion zu in Bezug auf die Fragen, welches Verständnis von moderner Kunst also einige Jahre nach der Etablierung der Republik China auf Taiwan in Taiwan gängig ist, was diskutiert wird und wo sich hieran angelehnte Gedanken in der weiteren Entwicklung wiederfinden. Zu erwähnen ist weiter, dass der Text klar für ein Publikum in Taiwan geschrieben ist, das sowohl mit dem Hintergrund des Autors als auch den geführten Debatten wohl vertraut ist. Auch seine Wiederveröffentlichung steht in diesem Kontext und denkt keine internationale Leserschaft mit.

3. Analyse 3.1 Einführung Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse in der Kunstszene Taiwans und Lius Verwicklungen darin – der Gründung der jungen, modernen114 Künstlergruppen, der ›Debatte um die wahre guohua (chinesische Malerei/Malerei der Nation)‹, der Kritik an der in Form der Provinzausstellung sich präsentierenden Kunstszene und dem Auf bau einer alternativen Ausstellungsform, der Debatte mit Xu Fuguan, der Teilnahme an der São Paulo-Biennale und dem Verhältnis der Kunstauffassung der taiwanischstämmigen und der chinesischen Künstler – sowie vor Lius Hintergrund der Ausbildung in der klassischen chinesischen und westlichen Malerei, ist der Text zu verstehen. Der in Teilen manifesthafte und aufrufartige Text stellt die Frage nach dem Ziel und der Aufgabe der ›modernen Kunst‹ in Taiwan – das Liu als ›freies China‹ bezeichnet und versteht115 – und bettet diese Diskussion ein in die moderne Kunstszene der ganzen Welt.

114 In Hinblick darauf, dass in späteren Texten über die Kunst der 50er und 60er Jahre vom ›Modernismus/modernistisch‹ gesprochen wird, ist es interessant festzustellen, dass Liu an keiner Stelle im Text den Ismus nutzt, sondern immer nur von ›modern‹ (xiandai 現代) spricht (siehe dazu auch Kap. VI). 115 Mit der Bezeichnung ›freies China‹ (ziyou zhongguo 自由中國) wird die Republik China auf Taiwan bezeichnet: Geografisch ist hier also die Insel Taiwan gemeint, kulturell spricht Liu aber – ebenso wie mit der Bezeichnung ›mein Land‹ (wo guo 我國) – von Festlandchina, dem China also, das als Heimat der seinen Überlegungen zugrundeliegenden künstlerischen Gedanken gesehen wird. Im Folgenden werde ich ›China/Taiwan‹ als Bezeichnung für die politisch so stark aufgeladene Bezeichnung »freies China« nutzen, um das kulturelle China in Taiwan zu bezeichnen, von dem Liu spricht. Diese politischen Implikationen werden in der weiteren Analyse keine große Rolle spielen.

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»Moderne Kunst« in Taiwan

Vor dem Hintergrund Lius heftiger Kritik am Blick auf Kunst durch Taiwans Gesellschaft und durch die sogenannten Traditionalisten der Kunstszene, geht Lius Text von der ›Bewegung des 4. Mai‹, die er als »große Bewegung« (1.6)116 sieht, und deren Fortschrittsstreben aus. Somit wird Kunst also im modernen Sinne von meishu oder yishu verortet, wie sie auch im von Liu erwähnten Aufruf Cai Yuanpeis (Cai Jiemins) »Die Kulturbewegung darf die Kunst (ästhetische Erziehung) nicht vergessen« für ein modernes China gesucht wird. Somit verortet sich Liu im nach radikaler Modernisierung strebenden China der Bewegung des 4. Mai. Sein Ruf nach der Chinesischen Renaissance ist auf eine Fortentwicklung der Kultur Chinas in der – daher universal verstandenen – Moderne der ganzen Welt ausgerichtet. Lius Kunstverständnis bezieht also die westlichen Kunstauffassungen, die im Zuge der historischen Modernisierung Chinas Einlass fanden, konkret in seine Überlegungen ein. Lius China ist damit das China der Republik China seit 1911, seine Auseinandersetzung findet vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung dieser modernen Republik China statt.

3.2 Zum Verständnis von ›moderner Kunst‹ Liu bezeichnet sich selbst und die Künstler der Künstlergruppen (Fifth Moon Painting Group, Eastern Painting Group, Modern Prints Society, Four Seas Painting Association, Changfeng Painting Society, Contemporary Arts Society, Pure Arts Society und Jixiang Painting Group) als ›moderne Künstler‹ (xiandai yishujia 現代藝術家), ihr Schaffen bringt also ›moderne Kunst‹ (xiandai yishu 現代藝術) hervor.117 Was aber bezeichnet hier ›modern‹? Welches Verständnis von moderner Kunst kommt im Text zum Ausdruck? Liu betont zunächst, dass jene jungen Künstler »schon erfolgreich vom Studium im Ausland zurückgekommen [sind], alle stehen sie in ständigem Kontakt mit der Kunstszene der freien Welt und wurden von den neuen Gedankenströmungen der Welt zutiefst aufgerüttelt.« (2.11) Er zeigt somit, dass ›moderne Kunst‹ unbedingt im Austausch und der offenen Auseinandersetzung entsteht und dass das Bild dessen, was ›modern‹ bezeichnet, stark von einer – wie Xi Dejin es bezeichnet – ›internationalen‹ Vorstellung geprägt ist, wie sie vor allem durch die São Paulo Biennale gestärkt und bestätigt wurde. Lius Einordnung seiner Kunst und der der Künstlergruppen als ›modern‹ beruht also auf diesem Bild. ›Modern‹ bezeichnet damit eine Art von Kunst, die internationalen Standards genügt und in der von Liu immer wieder erwähnten ›Kunstszene der Welt‹ erfolgreich und bedeutend sein kann.

116 Die in den Analysen zitierten Textteile der Übersetzungen werden nicht jedes Mal als aus den Übersetzungen zitiert mit Fußnote versehen. Zitate, die in den Analysen stehen, sind also, soweit nicht anders vermerkt, den jeweils diskutierten Texten entnommen, wobei die konkrete Stelle durch die Nummerierung auffindbar ist: 1.6 verweist also auf Satz 6 im von Liu durchnummerierten ersten Unterkapitel. 117 Liu spricht mal von ›Kunst‹ (yishu), mal von ›Malerei‹ (huihua). Sein Gebrauch der Begriffe suggeriert, dass die Begriffe synonym verwendet werden können und er also als Kunst vorrangig Malerei (und Druck) bespricht (vgl. auch III.1, Fußnote 5).

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

Die den Text durchziehende und bestimmende Vorstellung der Kunst als zum Neuen, Revolutionären strebend, ist somit in Lius Sicht ein wichtiger Faktor, um dieses ›Moderne‹ zu erreichen: So sind es die »neuen Gedankenströmungen der Welt« (2.11) [Herv. d. Verf.], die die jungen Künstler – auf die er in Anlehnung an Bertrand Russell die Hoffnung legt – zutiefst aufgerüttelt haben. In der Folge zeigt sich dann die »leblose Kunstszene mit neuer Kraft und ist erfüllt von neuer Hoffnung« (2.43) [Herv. d. Verf.], nachdem die von Zao Wou-Ki und der Unabhängigen Kunstausstellung schon in China nach Ende des zweiten Weltkriegs ausgelöste »neue Kunstbewegung« (2.20) [Herv. d. Verf.] im Sande verlaufen musste, weil die damaligen Künstler der harschen Kritik nicht standhielten und sich der Aufgabe entzogen. Wenn Liu weiter schreibt, dass aus diesem Grund »die Bewegung der neuen Kunst Chinas fast zwanzig Jahre verspätet« (2.31) [Herv. d. Verf.] sei, so beschreibt er sein eigenes künstlerisches Schaffen und das der oben erwähnten Künstlergruppen – also jener ›modernen Künstler‹ – als Fortführung der in den 1940er Jahren in China begonnenen ›neuen‹ künstlerischen Entwicklungen. Auch durch die Bezeichnung der eine Formähnlichkeit anstrebenden, die Natur darstellenden realistischen »westliche[n] Stile, die vor dem 19. Jahrhundert entstanden« (1.15) als ›alte Formen‹ (vgl. 1.16) im negativ konnotierten Sinne von ›veraltet‹, ›gebraucht‹ oder ›überholt‹, wird ein Gegensatz zum – positiv konnotierten – ›Neuen‹ der Malerei seit dem Impressionismus impliziert, den Liu als ›prächtige Errungenschaft‹ (vgl. 4.4) sieht. Eine in diesem Zusammenhang verstandene ›moderne Kunst‹ versteht ›neu‹ also als das, was einen revolutionären Umbruch auf Ebene des künstlerischen Ausdrucks und der Herangehensweise an das künstlerische Schaf fen bedeutet. ›Neu‹ bezeichnet das ›Noch-nie-Dagewesene‹, was sich auch in der Formulierung und dem Aufruf, das Schaf fen müsse sich unterscheiden von dem »was es schon gibt« (3.26) ausdrückt. Auch wenn Liu meint, »[d]as Wichtigste einer jeden neuen Kunstbewegung ist das Schaf fen echter Kunstwerke« (2.44), und diese so verstandenen ›echten Kunstwerke‹ im Gegensatz zu »den Augen schmeichelnden« (2.49) ›falschen‹ positioniert, die nur das Althergebrachte kopieren, das Bekannte und gesellschaf tlich Erwünschte erneut herholen und damit der Konfrontation ausweichen, zeigt sich die Bedeutung, die der Vorstellung des ›Neuen‹ als einen Umbruch herbeiführend zukommt. Das von Liu so hervorgehobene ›Schaf fen‹ von Kunstwerken betont also nicht unbedingt den Schaf fensprozess im Gegensatz zum fertigen Werk, sondern betont die ›Kreativität‹, die dem einfachen ›Kopieren‹ gegenübersteht und ein Streben hin zum Neuen. Diese Suche nach dem Neuen impliziert – in Verbindung mit den Gedanken des Auf- und Umbruchs der Gesellschaft durch die Kunst, des Erstürmens durch jene ›jungen Künstler‹ – einen starken avantgardistischen Gedanken, wie er sich bei den historischen Avantgarden Europas findet. Dies drückt sich auch in der Betonung des Strebens nach ›Unabhängigkeit‹ der Kunst aus, das im Namen der wegweisenden Unabhängigen Kunstausstellung (duli meizhan 獨立美展), in deren Folge Liu sich und die Künstlergruppen sieht, zum Ausdruck kommt: Kunst soll also einerseits unabhängig sein von gesellschaftlichen Erwartungen und Vorannahmen, vor allem aber soll sie sich nicht nach dem Urteil einer Jury – wie bei der Provinzausstellung – richten. Die gedankliche Nähe zum Pariser Salon des Indépendants (der im Chinesischen duli shalong 獨立沙龍 genannt wird) ist unverkennbar, ein Bezug zu jenen die Kunstgeschichte revolutionierenden Künstlern des französischen Salon des Indépendants

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»Moderne Kunst« in Taiwan

wird gesetzt. Eine klare Abgrenzung gegenüber konventionellen, tradierten Strukturen der of fiziell anerkannten Kunstszene wird durch diese im Namen kenntlich gemachte Verbundenheit deutlich. Auch das immer wieder auftauchende ›wir‹ impliziert diese gedankliche Nähe zu den historischen Avantgarden Europas: Es sind Gruppenstrukturen, in denen künstlerisches Schaffen stattfindet und etwas bewegen kann, es geht – trotz der Betonung des Ausdrucks des Individuums – nicht um die einzelnen Künstler. Sie und ihr künstlerisches Schaffen werden als Gruppe inszeniert und wahrgenommen. Diese Inszenierung findet sich auch im manifesthaften Charakter von Teilen des Textes: »Alle spüren wir im tiefsten Innern, dass die Aufgabe, die wir, diese Generation, in dieser Epoche zu tragen haben, sehr groß ist. Wir laden, ohne zu zögern, die schwere Aufgabe der ›Chinesischen Renaissance‹ auf unsere Schultern. In einem Opfergeiste, in einer Haltung des ›Ich gehe in die Hölle‹ mutig geradeaus gehend, geben wir uns der rettenden Kunst- und Kulturbewegung hin. Was vergangen ist, ist vergangen; die Zeit zeigt keine Gnade und zieht uns in den Strudel der Moderne, Feigheit lohnt nicht und noch weniger sollten wir uns selbst geringschätzen. Der Himmel hat diese ruhelose, im Umbruch begriffene Welt für uns vorgesehen. Wir müssen es sein, es geht nicht ohne uns.« (2.12ff.) Die schwierige Umgebung, die widrigen Umstände, in der das Schaffen der Künstlergruppen geschieht, verweist ebenfalls auf die Idee der vorauseilenden Vorhut, die einen Kraftakt vollziehen und sich mit Leib und Seele dieser Lebensaufgabe hingeben muss.118 Eine solche Kunst, von der ausgehend eine neue Form des besseren Lebens geschaffen werden soll, kann jedoch kaum innerhalb der Lebensspanne des Künstlers ihren Erfolg ernten, so Liu. Die Vorstellung, dass Kunst in eine noch unbestimmte Zukunft und zukünftige Entwicklung weisen soll, kommt dadurch zum Ausdruck. Auch die Notwendigkeit der stetigen Fort- und Weiterentwicklung und somit das unablässige Arbeiten betont Liu: »Jedes Mal waren die Werke weiterentwickelter als in der vorangegangenen Ausstellung. Nur weil sich die Künstler nicht um Schwierigkeiten und Hindernisse kümmern, unermüdlich arbeiten und fleißig sind, zeigt sich die leblose Kunstszene mit neuer Kraft und ist erfüllt von neuer Hoffnung.« (2.42f.)

118 Dass hier sehr deutlich eine avantgardistische Vorstellung durchscheint, wird mit Blick auf Bürgers Beschreibung sichtbar: »Nur eine auch in den Gehalten der Einzelwerke gänzlich von der (schlechten) Lebenspraxis der bestehenden Gesellschaft abgesonderte Kunst kann das Zentrum sein, von dem aus eine neue Lebenspraxis sich organisieren läßt.« (Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 67)

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

›Moderne Künstler‹ bezeichnet bei Liu also jene Künstler, deren Verständnis des künstlerischen Schaffens eine große Nähe zu avantgardistischen Gedanken119 aufweist, wie sie in der Geschichte der westlichen modernen Kunst formuliert sind.120 ›Modern‹ bezeichnet also keinen konkreten Zeitabschnitt in der westlichen Kunstgeschichte. In der gedanklichen Anlehnung an die historischen europäischen Avantgarden und auch durch die konkrete Erwähnung der Bewegung des Abstrakten Expressionismus als »Spitze der Kunstszene der Welt« (2.58) und der klaren Einordnung der westlichen Kunst seit dem Impressionismus als wegweisend, wird mehr auf einen bestimmten Impetus des künstlerischen Schaffens verwiesen, der laut Liu als ›modern‹ zu bezeichnen ist, als auf eine zeitliche Einordnung: Die Kunst, die in einer solchen Haltung geschaffen wurde, ist ›modern‹, nicht jegliche Kunst seit Ende des 19. Jahrhunderts. So bezeichnet ›modern‹ also vornehmlich eine Geisteshaltung in Bezug auf das künstlerische Schaffen. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Liu durch das eventuelle Unmodern-Sein im »Weltallzeitalter« (5.8) und vor allem durch seine Kritik an den Traditionalisten anspricht, hebt dies besonders hervor. Hierin zeigt sich auch eine im Avantgarde-Gedanken anklingende Bedeutung von ›modern‹ als ›zeitgemäß‹. ›Modern‹ bezeichnet damit die Verortung im Zeitgenössischen, die das Unmodern-Sein in der Moderne – die damit auch als Epochenbezeichnung dient – als Möglichkeit sieht.

119 Obgleich davon auszugehen ist, dass Liu die historischen europäischen Avantgardebewegungen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes bekannt waren (schrieb er doch in Kunstzeitschriften über aktuelle Entwicklungen in der Kunst Europas [vgl. Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 391]), nutzt Liu selbst den heute gebrauchten Begriff qianwei 前衛 für Avantgarde – oder einen ähnlichen, wie bspw. xianquzhe 先驅者 – nicht, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass der Begriff in der Kunst noch nicht sehr geläufig war. Im militärischen Kontext findet sich der Begriff qianwei für Avantgarde jedoch schon 1915 im Ciyuan 辭源, dem ersten Wörterbuch für modernes Chinesisch, das von der Shanghaier Commercial Press 上海商務印書館 herausgegeben wurde (vgl. Shen Guowei, »Ciyuan« yu xiandai hanyu xinci, S. 46). Dass der Begriff in der Kunst schon genutzt wurde, lässt sich am 1951 von Li Zhongsheng in Taipei aufgebauten »Labor für Avantgarde-Kunst« (qianwei yishu yanjiushi 前衛藝術研究室) nachvollziehen (vgl. Chiang Po-shin 蔣伯欣, 1960 zhi 1989 niandai yishu de meiti yu kongjian nianbiao 1960至1980年代藝術的媒體與空間年表 [Chronologie der Kunstmedien und -räume von den 1960er-1980er Jahren], in: ACT Nr. 60, 2014, S. 5). In seinem Artikel From Crisis to Transition: Reflections on the Development of Taiwanese Painting in the 1950s and 1960s erwähnt Hsiao Chong-ray eine Zeitschrift ›Avant-Garde‹ (qianwei zazhi前衛雜誌) (ab 1966) und eine Galerie mit diesem Namen (qianwei hualang 前衛畫廊), (vgl. Hsiao Chong-ray, »From Crisis to Transition: Reflections on the Development of Taiwanese Painting in the 1950s and 1960s« (cong weiji dao zhuanji – huigu 50, 60 niandai taiwan yitan 從危機到轉機 – 回顧五0, 六0年代台灣藝壇, in: Weng Chih-Tsung (Hg.), The Search for the Avant-Garde. 1946-1969, Taipei 2011, S. 13 [sowohl in der englischen als auch in der chinesischen Version]). Es scheint zu Beginn der 60er noch nicht üblich gewesen zu sein, von den Künstlergruppen wie Fifth Moon von ›Avantgarde‹ zu sprechen, im Nachhinein ist die Einordnung dieser Künstlergruppen als Avantgarde jedoch Usus. So beispielsweise in der Ausstellung The Experimental Sixties: Avant-Garde Art in Taiwan (Qianwei: 60 niandai taiwan meishu fazhan 前衛: 六0年代台灣美術發展), die 2003 im Taipei Fine Arts Museum gezeigt wurde. (Siehe dazu auch Kap. VI.) 120 Vgl. Peter Bürger, Avantgarde; Hans Magnus Enzensberger, »Die Aporien der Avantgarde«, in: Ders., Einzelheiten II. Poesie und Politik, Frankfurt a.M. 1964, S. 50-80; Christine Magerski, Theorien der Avantgarde. Gehlen – Bürger – Bourdieu – Luhmann, Wiesbaden 2011.

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Mit einem Blick auf die Formulierung »Strudel der Moderne« (2.15) wird eine Vorstellung der Moderne als eine Art sich natürlich vollziehende Epoche, als universales Phänomen deutlich.121 Das bloße Sich-Befinden in dieser Epoche führt, Lius Ausführungen folgend, jedoch nicht unweigerlich zum ›Modern-Sein‹. Es ist erst ein nach vorne strebendes Handeln innerhalb dieser »ruhelose[n], im Umbruch begriffene[n] Welt« (2.16), durch das das ›Modern-Sein‹ erreicht werden kann. ›Moderne‹ als Epoche entbehrt hier einer ideologischen (und pathetischen) Bedeutung und beschreibt mehr einen Ist-Zustand, der auf die Menschen einstürmt. ›Moderne Kunst‹ zu schaffen hingegen wird von Liu als ein Prozess beschrieben, der aktiv verfolgt werden muss. ›Moderne Kunst‹ wird somit nicht zwangsläufig in der als ›Moderne‹ bezeichneten Epoche geschaffen, wie auch in der ›Moderne‹ geschaffene Kunst nicht zwangsläufig ›moderne Kunst‹ ist. Dies wird insbesondere auch an Lius Kritik an Xu Beihong und Liu Haisu deutlich. Liu stuft deren Malerei nicht hauptsächlich aufgrund der Wahl einer beschreibenden Malweise (anstatt abstrakt zu malen) als nicht-modern im Sinne einer Weiterentwicklung des künstlerischen Schaffens ein, sondern weil sie jene im Zuge der Auseinandersetzung mit der westlichen Kunst in der Bewegung des 4. Mais hergeholten »alten Formen Anderer« (1.16), also die »westlichen Stile, die vor dem 19. Jahrhundert entstanden« (1.15) nutzt und diese als das China Fehlende (quefa 缺乏) sieht: »Die frühere westliche Technik der Beschreibung der Natur machte sie [Xu Beihong und Liu Haisu] sprachlos und sie meinten, dass dies dasjenige sei, was der chinesischen Kunst fehle.« (4.21) Liu kritisiert somit in erster Linie die Geisteshaltung, mit der dem künstlerischen Schaffen begegnet wird. Die Annahme des Fehlens lässt sie eine Nachahmung vollziehen und somit geschieht ein Ausgeben dieses Veralteten »als selbst Geschaffenes« (1.16). Diese Bewegung mündet in einer stilistischen Erneuerung der chinesischen Kunst, die sich in festen Kategorien bewegt, anstatt das von Liu gesuchte, revolutionär Neue zu verfolgen.

3.3 Reine Malerei: Das Schreiben der Sinneshaltung (xieyi 寫意) 122 und das Abstrakte Wenn auch ›moderne Kunst‹ Liu zufolge nicht einfach stilistisch zu bestimmen ist, so betont Liu doch stark die Überlegenheit der abstrakten Malerei gegenüber einer die Formähnlichkeit anstrebenden Malerei, die er als das ›Alte‹ sieht und damit die Entwicklung von einer realistischen Kunst zu einer abstrakten als den natürlichen Weg der Kunst beschreibt. So strebt Liu das Erreichen einer »reinen Malerei« (4.10) an, die er ganz konkret mit der abstrakten Malerei gleichsetzt (vgl. ebd.), wie es auch in der Debatte mit Xu Fuguan auftaucht, wenn er schreibt: »Weil erst die abstrakte Malerei unabhängig ist, ist erst die abstrakte Malerei reine Malerei.«123 In einem abstrakten künstlerischen Ausdruck sieht er also jene Unabhängigkeit und Loslösung der Malerei »von allen äu121 Eine solche Sicht auf die Moderne ist laut Martina Eglauer für die Vertreter der Bewegung des 4. Mai kennzeichnend. Vgl. Martina Eglauer, »Chinas Wahrnehmung der westlichen Modernisierung am Beispiel von Zhang Junmais Position in der Debatte ›Wissenschaft und Lebensanschauung‹ (1923)«, in: Richter; Vittinghoff, China und die Wahrnehmung der Welt, S. 185-198. S. 185f. 122 Zur Übersetzung von xieyi als ›Schreiben der Sinneshaltung‹, siehe Kap. III.1, Fußnote 41. 123 Liu Kuo-sung, Yu Xu Fuguan xiansheng, S. 167.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

ßeren Beschränkungen« (4.9), wie er es auch als das Ziel der chinesischen, in der TangDynastie begründeten xieyi-Malerei beschreibt. Liu sieht in der Auseinandersetzung der westlichen Moderne mit dem Denken der klassischen chinesischen Malerei eine solche ›reine Malerei‹ entstehen: »Die chinesische Vorstellung ›mit leichtem Herzen das flüchtige Qi schreiben‹ der abstrakten Malerei und die abstrakte künstlerische Sinneshaltung (yijing) der schwarzweißen Schreibkunst, hatten den westlichen Künstlern (xiyang yishujia) sehr bald geholfen, der Malerei von einem Punkt, wo sie erklärende Funktion hatte, in höhere Gefilde der ›reinen Malerei‹ zu verhelfen. Der chinesische Geist des Schreibens der Sinneshaltung (xieyi) brachte in der westlichen Malereigeschichte (xiyang huihuashi) neue Entwicklungen hervor.« (4.7f.) So deutet sich hier an, dass Liu unter der ›reinen Malerei‹ keine rational orientierte Malerei versteht, die das Malmedium, die Farben oder die Bildf läche ref lektiert.124 Vielmehr wird in Lius Besprechung des Geistes des xieyi (›Schreiben der Sinneshaltung‹) deutlich, dass er die Bedeutung der Sinneshaltung betont und somit die geistige Loslösung von der Vorstellung einer festen, verbindlichen Form anstrebt. Das moderne Konzept der ›reinen Malerei‹ beschreibt Liu in einem Anfang 1962 in der Debatte mit Xu Fuguan entstandenen Text als von Kandinsky propagiert, wobei er sich wohl auf Kandiskys Text Malerei als reine Kunst von 1913 bezieht.125 Die in Kandinskys Text zum Vorschein kommende Vorstellung der ›reinen Kunst‹, die das Werk als Subjekt betrachtet, als »geistige[n] Organismus«126, kommt Lius Vorstellung recht nahe und durch seine konkrete Erwähnung der ›reinen Malerei‹ als Konzept Kandinskys lässt sich darauf schließen, dass Liu Kandinskys Text bekannt war und eine Verbindung zu oder Kenntnis von Greenbergs Auffassung der ›reinen Malerei‹ nicht besteht.127 Einige Textstellen – insbesondere Lius Vergleich der xieshi und der xieyi-Bilder128 – scheinen zunächst die Annahme nahe zu legen, dass Liu durch die enge Verbindung 124 Hier unterscheidet sich Lius Auffassung einer ›reinen Malerei‹ stark von einer, wie sie von Greenberg verstanden wird und wie hier in ›Avantgarde und Kitsch‹ dargelegt wird: »Picasso, Braque, Mondrian, Miró, Kandinsky, Brancusi, sogar Klee, Matisse und Cézanne beziehen ihre wesentlichen Inspirationen aus dem Medium, mit dem sie arbeiten. Das Aufregende an ihrer Kunst scheint in erster Linie darin zu liegen, daß sie sich ausschließlich mit der Erfindung und dem Arrangement von Räumen, Oberflächen, Formen, Farben usw. beschäftigt und alles, was nicht unbedingt damit zu tun hat, beiseite läßt.« (Clement Greenberg, »Avantgarde und Kitsch«, in: Harrison; Wood, Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, S. 656-667, S. 659) 125 Vgl. Liu Kuo-sung, Yu Xu Fuguan xiansheng, S. 167. 126 Wassily Kandisky, Malerei als reine Kunst, in: Der Sturm, Jg. 4, Nr. 178/179, September 1913; online verfügbar unter: http://bluemountain.princeton.edu/bluemtn/cgi-bin/bluemtn?a=d&d=bmtnabg19130902.2.3&e=-------en-20--1--txt-txIN-------#, Stand 11.5.2016. 127 Laut Chiang Po-shin 將伯欣 wurde Greenberg erst in den 1980/90er Jahren in Taiwan rezipiert (Gespräch mit Chiang Po-shin, Taipei Mai 2015). Einige Ansätze waren jedoch schon früher bekannt, wie sich durch das Online-Archiv der Zeitschrift Hsiung Shi Art Monthly (http://km.lionart.com.tw/ Monthly.aspx, Stand 24.4.2016] belegen lässt: Eine erste Erwähnung findet sich in der 64. Ausgabe der Kunstzeitschrift von 1976. 128 Liu erklärt die Malereigeschichte als sich vom xieshi (dem ›Schreiben der Realität‹) zum xieyi (dem ›Schreiben der Sinneshaltung‹) entwickelnd. Interessanterweise geht er hier nicht weiter darauf ein,

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zwischen xieyi (›Schreiben der Sinneshaltung‹) und der abstrakten Malerei, xieyi hauptsächlich stilistisch betrachtet und als einen Malereistil sieht, der auf rein visueller Ebene der modernen Abstraktion oder aber der chinesischen, in der Tang-Dynastie von Wang Qia entwickelten ›Technik der gespritzten Tusche‹ (pomo 潑墨) nahesteht. Doch in Anbetracht von Lius Sprechen vom »Wissen des Ostens«, dem »Denken eines gesamten Volkes« und dem »Schaffensgeist und d[er] prächtige[n] Geschichte der Künstler der Tang- und Song-Dynastie« (2.40), findet sich ein klarer Verweis, dass Lius Verständnis des xieyi über eine stilistische oder technische Bezeichnung hinausgeht und vor allem den Ausdruck einer Geisteshaltung meint: das ›Schreiben der Sinneshaltung‹. Diese Geisteshaltung steht in untrennbarer Verbindung mit der Art, den Pinsel zu nutzen und so ist auch die Sprache vom »Schreiben der Sinneshaltung mit dem Pinsel« (4.61) nicht technisch-stilistisch zu verstehen, sondern vielmehr spiegelt sich hier der Ausspruch Wang Weis, dass die Sinneshaltung der Handhabung des Pinsels vorausgehe, wider.129 So beschreibt Liu auch den Bezug zur ostasiatischen Schreibkunst, der sich im Zeichen xie 寫 – dem wörtlich übersetzten ›Schreiben‹ – des xieyi zeigt: »Die Menschen der Yuan-Dynastie verstanden zutiefst, dass die Erhabenheit der abstrakten künstlerischen Sinneshaltung (yijing) der Schreibkunst in die Malerei herein getragen werden sollte, also benannten die Maler das ›Bilder malen‹ (huahua) in ›Bilder schreiben‹ (xiehua) um […].« (4.46) Das Schaffen von Bildern ist also untrennbar mit dem Schreiben der Schriftzeichen verbunden, was auch einen Hinweis auf die Prozesshaftigkeit und das Performative des künstlerischen Schaffens (eines Schreibkunstwerks und eines Bildes) gibt. Liu schreibt weiter: »[…] und betonten so besonders das Zeichen ›xie‹ [das Wort ›schreiben‹]. Damit verweisen sie auf die unermüdliche Übung der Handhabung des Pinsels im Schreiben der Zeichen, um das, was sie im tiefsten Innern auszudrücken wünschen, auf Seide zu schreiben und so als höchstes Ziel geistige Gestimmtheit und Bewegung im Atmen zu erreichen.« (4.46f.) So betont Liu die Herangehensweise an die Nutzung des Werkzeugs im Schreibprozess als das, was vom Schreiben auf das Malen übertragen wird und was mit dem ›xie‹ im ›xieyi‹ bezeichnet wird. Das Schreiben wird also nicht als das Niederschreiben einer feststehenden Bedeutung verstanden, sondern das Performative, das im Schreiben – verstanden als Prozess – liegt, ist von Bedeutung um eine innere Sinneshaltung auszudrücken. Schreiben – und das Malen – wird somit zu einem leiblichen Erfahrensvollzug und ist als »Linienschreiben« (4.63) nicht als auf eine abbildhafte Darstellung ausgerichdass xieshi ein moderner Begriff ist, der sich in Bezug zum Begriff xieyi entwickelte, um den westlichen ›Realismus‹ zu beschreiben (siehe auch Kapitel V.3.8). Lius Nutzung des xieshi gleicht der eines beschreibenden ›realistisch‹ im Gegensatz zu einer nicht-realistischen Darstellung, anstatt hiermit einen kunsthistorisch definierten Stil zu bezeichnen. In Lius Nutzung hier wird dem xieshi und dadurch dem xieyi also auch eine stilistische Bedeutung zugewiesen. 129 Vgl. Obert, Welt als Bild, S. 309.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

tet zu verstehen, sondern mehr auf ein Empfinden.130 Obert schreibt: »Das so gemalte Bild wäre damit weniger als ›Abbild‹ in Nachahmung visueller Qualitäten wie vielmehr als anschaulich verkörperte ›Nachschwingung‹, erwachsen aus einem tatsächlichen Lebensganzen, zu kennzeichnen.«131 xieyi-Malerei – und für Liu damit die ›reine Malerei‹ – bezeichnet somit das Schreiben der inneren Sinneshaltung in einem performativen Sinne, wie er sich in der ostasiatischen Schreibkunst zeigt. Die meisterhafte Nutzung des Pinsels und die Sinneshaltung sind somit für Liu die Grundlagen, um das Schaffen der ›reinen Malerei‹ zu vollziehen. Die ›reine Malerei‹ soll also vom Betrachter nicht rational verstanden und betrachtet, sondern leiblich gespürt und empfunden werden. Somit führt Liu in das – auf den ersten Blick rein westlich-moderne – Konzept der ›reinen Malerei‹ eine klassische chinesische Komponente ein, wie auch Lius Verständnis des modernen ›Abstrakten‹ (chouxiang 抽象)132 von der Vorstellung des xieyi (Schreiben der Sinneshaltung) durchdrungen ist, aber auch sein xieyi stark von seiner Rezeption des Abstrakten Expressionismus beeinf lusst ist. So zeigt sich besonders an Lius Verbindung der Konzepte ›reine Malerei‹, ›abstrakte Malerei‹ und ›xieyi-Malerei‹ die zutiefst hybride Konstellation seines Denkens von Kunst: seiner tiefen Verehrung von und Auseinandersetzung mit der traditionellen Kunstauffassung Chinas (zum Teil schon in ihrer modernisierten Version) und seinem Beeinf lusst-Sein von und seiner Offenheit gegenüber der westlichen, ›neuen‹ Auffassung von Kunst. Es zeigt sich, wie tief sich die traditionelle und die moderne Vorstellung gegenseitig durchdringen und befruchten. Eine Trennung der Konzepte ist nicht mehr möglich und – angesichts Lius tiefgreifendem Plädoyer für den fruchtbaren Kulturaustausch – auch nicht erstrebenswert.

3.4 Modernes China: Zur Bedeutung der Tradition im Kulturaustausch Die im Text zum Vorschein kommende analogisierende und anachronistische Nutzung des modernen Begriffes ›abstrakt‹ (chouxiang) und des modernen Konzeptes der ›reinen Malerei‹ (chuncui huihua) für das künstlerische Schaffen der Song- oder Tang-Dynastie – auch wenn Liu in früheren Texten betonte, dass ›abstrakt‹ als Beschreibung diene, die als Begriff und nicht als Stil im Gegensatz zum ›Realistischen‹ stehe133 – ist sicherlich kritisch zu beobachten: Nur zu leicht werden wichtige Aspekte 130 Ein solches Malereiverständnis drückt Liu wiederholt auch mit dem Konzept der yijing aus, mit dem im modernen China – und also auch bei Liu – die Herangehensweise an das künstlerische Schaffen bezeichnet wird, das Schaffen jener Nachschwingungen, die eine Resonanz im Vorgang des Betrachtens erreichen. Lius konzeptuelle Nutzung des Begriffes lässt auf ein Verständnis in der Folge Wang Guoweis schließen (siehe auch Kap. III.1, Fußnote 46). 131 Obert, Welt als Bild, S. 185. 132 Auch dieser Begriff wurde im Japan der Meijizeit geprägt und wurde im Chinesischen übernommen (vgl. Wang Binbin 王彬彬, Jindai zhongwen cihui yu riben de guanxi 近代中文詞彙與日本的關係 [Die Beziehung des modernen chinesischen Wortschatzes zu Japan]; online verfügbar unter www. netandbooks.com/taipei/magazine/book_5_30.htm, Stand 9.5.2016). Das wörtlich übersetzte ›Entziehen der Ähnlichkeit/des Abbildes‹ setzt eine vorausgegangene Formähnlichkeit oder ein Abbild voraus. Daher ist dieser Begriff als Gegenteil des ›Habens einer Ähnlichkeit‹ (juxiang 具象, dem Konkreten) zu sehen. 133 Vgl. Liu Kuo-sung, Yu Xu Fuguan xiansheng, S. 167.

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untergraben, wenn beispielsweise die Schreibkunst als »ursprünglich die abstrakte Kunst Chinas« (4.62) beschrieben wird. Es besteht die Gefahr, dass xieyi (›Schreiben der Sinneshaltung‹) durch diese Gleichsetzung der Konzepte einfach als abstrakt verstanden wird und der Aspekt des Vollzuges in einer solchen tendenziell werkästhetischen Auffassung von Kunst verloren geht.134 Doch anstatt Kritik an dieser Analogisierung – die auch im Sprechen von der Kunstgeschichte Chinas als meishushi oder der klassischen Malerei mit der modernen Zeichenkombination huihua135 immer wieder zu finden ist – zu üben oder die Unterschiede der klassischen Vorstellung des xieyi und des modernen Abstrakten herauszuarbeiten, muss an dieser Stelle ein Augenmerk darauf gerichtet werden, dass durch diese scheinbar analogisierende Nutzung sichtbar wird, dass die Begriffe und die Art der Beschreibung der Moderne Chinas zugehörige sind: Sie verweisen auf die historische Modernisierung Chinas und die Veränderung, die sich seit dieser im Sprachgebrauch, aber vor allem auch im Denken von Kunst vollzogen hat. In Lius Nutzung der Begriffe und Konzepte kommt also jene Hybridität zum Ausdruck, wie sie den modernen Begriffen yishu und meishu zugrunde liegt: Lius Verständnis ist klar, offen und bewusst ein modernes, was besonders zum Ausdruck kommt, wenn er dazu aufruft, die »Vorund Nachteile der östlichen und westlichen Kunst« (4.14) im geschehenden »Zusammenschmettern des Ost-West-Kulturaustausch[es]« (4.13) genau zu kennen. So wird in seinen Bezügen deutlich, dass dieses Verständnis von Moderne und Tradition aus einer tiefen Auseinandersetzung mit den Veränderungen durch den Kulturaustausch heraus entstanden ist. Liu grenzt sich damit bewusst von Tendenzen ab, die eine Abgrenzung gegenüber der Veränderung des Verständnisses durch die Moderne suchen, die sich nicht einlassen auf den geschehenden Kulturaustausch der historischen Epoche der Moderne und die »neue Kunst bekämpfen« (3.1) und sich dabei »als Bewahrer traditioneller Werte« (ebd.) sehen. Eine aus solchen nationalistischen Überlegungen entsprungene moderne chinesische Kunst beruht auf einer festen und unveränderbaren Vorstellung, was chinesische Kunst ist. Die ›traditionelle Malerei‹, die von den Traditionalisten erst als ›chinesisch‹ gesehen wird, ist eine, die auf einer angenommenen, formen- und regelbasierten Tradition beruht. Die Vorstellung von ›Tradition‹, die hier zum Vorschein kommt, ist die eines konservativen Beschützens vor der als bedrohlich wahrgenommenen Veränderung, die durch ›die Moderne‹ geschieht. ›Tradition‹ bezieht sich also auf feste Formen, anstatt, wie bei Liu, eine Form der Auseinandersetzung, eine Form des Denkens zu bezeichnen: Das Aufnehmen und die Offenheit ist das, was in Anbetracht des traditionellen Geistes Chinas, den Liu als offen, tolerant und als ›transzendierend‹136 (vgl. 3.68) 134 Vgl. Kapitel II.3. 135 Das im modernen Chinesischen gebrauchte huihua ist – wie auch beispielsweise yishu oder meishu – eine Übernahme aus dem modernen Japanischen für ein Konzept, das aus dem Kontakt mit der westlichen Vorstellung von Kunst heraus entstanden ist. huihua ersetzte in der Folge den vorher dominierenden Begriff shuhua (Schreibkunst und Malerei), ein Begriff in dem eben jenes – auch von Liu so hervorgehobene – Schreiben eine große Bedeutung zugesprochen bekommt (siehe auch Kap. II.3.) 136 Da im zeitgenössischen, globalisierten Kunstdiskurs häufig die Idee des ›Übertreffens‹ angewendet wird, sei in diesem Kontext besonders hervorgehoben, dass das hier mit ›transzendierend‹ über-

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

beschreibt (und sich für dieses Urteil auf die Analyse verschiedener chinesischer und westlicher Wissenschaftler stützt), angestrebt werden muss, um eine neue Kunst Chinas zu schaffen. Die Kunst Chinas stellt Liu also erst als aus diesem von Liu explizit als ›traditionell chinesisch‹ gezeichneten Verschmelzens der Kulturen heraus entstanden dar. Die Offenheit gegenüber einer »äußeren Welt« (3.65) wird also für eine Weiterentwicklung der Malerei betont. »Jedes Zusammentreffen ließ die Kunst Chinas eine noch stärkere und reichere Entfaltungskraft ausbilden und brachte in der chinesischen Kunstgeschichte einen beispiellosen Glanz hervor.« (4.3) Die Modernisierung Chinas versteht Liu somit als eine neue Phase des Einf lusses »von außen kommende[r] Kultur« (4.2), wie sie China in seiner Geschichte schon so häufig erlebte und was für Liu den »traditionellen Geist der chinesischen Malerei« (3.73) beschreibt. Wenn also ein Zusammentreffen mit dem Westen geschieht, wie dies in der Moderne in besonderer Intensität (»Zusammenschmettern«) der Fall ist, so muss man sich mit diesem in Austausch begeben und ihn absorbieren – erst dies kann also ein zeitgemäßer und fruchtbarer Umgang mit der chinesischen Tradition sein. So zeigt sich hierin, dass Lius Betonung des Neuen, des sich Unterscheidenden zu und des Bruchs mit dem »was es schon gibt« (3.26), also explizit keine Abgrenzung zur Tradition137 – anders als die europäischen Avantgarden, an die diese Forderungen erinnern – bezeichnet.138 Somit verweist er mit dem Sprechen von der ›Tradition‹ in die noch nicht bestimmte Zukunft: Vergangenheit – Moderne – Tradition nennt Liu seinen Text und gibt der ›Tradition‹ damit schon im Titel eine zukunftsweisende Bedeutung, was in seiner abschließenden Aufforderung, die »neue Tradition der chinesischen Kunst« aufzubauen, wieder aufscheint. Tradition impliziert damit für Liu immer eine Ausrichtung auf die Zukunft und eine ständige Veränderung, also keinen feststehenden Rückgriff auf die Idee eines unbeweglichen Vergangenen.139

setzte chaoyue 超越, das Liu in Referenz auf Siren erwähnt, nicht im Sinne des chinesischen Kunstkritikers Gao Minglu zu verstehen ist, der Anfang der 2000er Jahre das Konzept des Yi-Pai (意派) aufstellte: Die Absicht des Konzepts ist es, mithilfe der alten chinesischen Ästhetikkonzepte eine Ästhetiktheorie aufzustellen, die es ermöglicht, die zeitgenössische chinesische Kunst nicht mehr im Spiegel des westlichen Paradigmas der Repräsentation zu sehen. Endlich davon befreit, soll sie so dezidiert die westliche Moderne überschreiten oder übertreffen (超越). Vgl. Gao Minglu, Tan ›yipai‹ linian 谈 ›意派‹ 理念 [Diskussion über das Konzept ›yipai‹]; online verfügbar unter: http://art.m6699. com/content-4920.htm, Stand: 13.5.16. 137 Interessant ist der Vergleich der Haltung zur Tradition bei Liu mit der Einschätzung Hsiao Chongrays (s. III.2.3, Fußnote 106), der Lius Haltung als ›anti-traditionell‹ beschreibt. Auch wenn Hsiao sicherlich mit ›anti-traditionell‹ jene Abneigung Lius gegenüber den Traditionalisten meint, so ist es doch nötig, einen Blick darauf zu werfen, dass er damit den gleichen Begriff nutzt, den Liu verwendet um die Traditionalisten zu bezeichnen (siehe dazu auch Kap. VI). 138 Die kunsthistorisch relevante Frage, ob die europäischen Avantgarden nicht letztlich auch wieder auf der Tradition aufbauen, sei hier am Rande erwähnt. Jedoch grenzen sie sich klar ab, während Liu ganz konkret Bezug nimmt und sich mit der Tradition in Verbindung gesetzt sehen will. 139 Wie es, so mag man hier hinzufügen, im zeitgenössischen globalen Kunstdiskurs geschieht (siehe dazu II.1.1) und wie es mit Hobsbawms ›erfundener Tradition‹ beschrieben werden kann. Lius Ver-

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Liu macht deutlich, dass das moderne Zusammentreffen als Tatsache zu sehen ist, die nicht ignoriert werden kann, wie dies Liu bei den Traditionalisten geschehen sieht, wenn diese »eine Kluft zwischen die chinesische und die westliche Malerei (zhongxi huihua) [ziehen] und meinen, dass die uralte Form etwas Heiliges [sei], das nicht berührt werden darf« (3.71). Die Auseinandersetzung mit der Moderne ist also etwas, was nicht nicht geschehen kann. Denn auch die von den Traditionalisten verfolgte Kunst geschieht in einer Welt, die im »Strudel der Moderne« (2.15) steckt und in einer Zeit, »in der sich die Umgebung der chinesischen Malerei (zhongguo huihua) so verändert.« (3.42). Durch Lius kritischen Blick auf die Kunst der Traditionalisten, die Moderne also als Gegenteil der chinesischen Tradition sehen, macht er deutlich, dass sich deren Denken von Kunst durch die Modernisierung auch verändert hat, aus einer Abgrenzung geboren ist und somit diesen Einf luss kaum leugnen kann. Die uneingeschränkt positive Sicht auf den Einf luss der Modernisierung – die bei Liu bemerkenswerterweise an keiner Stelle als Zwang beschrieben wird – lässt ihn »den Kulturaustausch vollkommen« (4.1) begrüßen, kann doch laut Liu erst so eine chinesische moderne Malerei (zhongguo xiandai hua) entstehen, die in der Welt Bestand haben kann. So ist Lius Ansatz einer – besonders in Hinblick auf seine Nutzung des Konzeptes ›abstrakt‹ –, der bewusst die Veränderungen (im Sprachgebrauch) nutzt und sich bewusst vor dem Hintergrund der historischen Modernisierung verortet, die er damit einer Vorstellung von chinesischer Tradition nicht binär gegenüberstellt, sondern vielmehr beide Vorstellungen als miteinander vereinbar versteht und als in der Moderne zusammenkommend.140 Die Betonung der Bedeutung des Zusammentreffens der Kulturen zieht sich durch den Text. Auch wenn Liu hier in erster Linie den die moderne Kunst bekämpfenden Traditionalisten beweisen möchte, dass die Kunst, die er und die modernen Künstlergruppen schaffen, zutiefst mit der chinesischen Tradition verbunden ist und ihre Art, Kunst zu denken, engstens in Bezug zu selbiger steht, so ist seine Sicht im Kontext dieser Arbeit besonders interessant in Hinblick darauf, welchen Stellenwert er dem Kontakt der chinesischen mit fremden Kulturen für deren Entwicklung zuschreibt und welche Möglichkeit er also im modernen Kontakt zwischen China und dem Westen sieht. So möchte Liu hier also nicht die Vorreiterrolle des Chinesischen auf dem Weg in die Moderne beweisen, vielmehr möchte er die Möglichkeiten, die im Zusammentreffen der Kulturen stecken, aufzeigen: Während der »Strudel der Moderne« (2.15) schnell ein ›Verirren‹ hervorbringen kann, wie er dies bei Liu Haisu und Xu Beihong sieht, so kann aus dem Zusammentreffen auch im avantgardistischen Sinne Neues entstehen, wie er am Beispiel von Franz Kline, Hans Hartung oder Pierre Soulages konstatiert.141 ständnis von Tradition als etwas explizit im Spiel mit ›Moderne‹ immer wieder neu Entstehendes sei hier betont. 140 Folgt man Martina Eglauers Ausführungen, so lässt sich Liu aufgrund dieser Haltung nochmals klar als Befürworter der ›Bewegung des 4. Mai‹ einordnen: Deren Interpretation des Modernisierungsprozesses »als universales Phänomen, das eine kulturunabhängige Entwicklung darstellt« führte dazu, »dass für sie kein Konflikt zwischen chinesischer Identität und Modernisierung entstand.« (Eglauer, Chinas Wahrnehmung der westlichen Modernisierung, S. 185f.) 141 Zur Frage, ob besagte Künstler sich mit ostasiatischer Kunst und Ästhetik auseinandersetzten, siehe Kap. III.3.7.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

Das Schaffen von Kunst wird von Liu im Kontext des Austausches, der also eine umfassende gesellschaftliche Veränderung bedeutet, als sich vollziehend gedacht. Insofern kann die vermeintliche Analogisierung Lius als Ausdruck dieser umfassenden gesellschaftlichen und sprachlichen Veränderung – auch im Bereich Kunst – verstanden werden. Die bei Liu geschehende Analogisierung sollte demnach nicht nur aus der Perspektive einer Einengung des klassischen Denkens gesehen werden, sondern vor allem als Ausdruck der Erweiterung des Denkens von moderner Kunst, geschieht doch beispielsweise durch die Einführung des Konzeptes xieyi in die abstrakte Malerei eine Möglichkeit ›Abstraktion‹ zu denken, die über die Gegenüberstellung zum Konkreten hinausgeht und den Bewegungsvollzug der ostasiatischen Schreibkunst mitdenkt. Eine Theoretisierung des ›Abstrakten‹ geschieht hier, die über das vordergründige Analogisieren hinausgeht. Wird nicht auch die moderne Trennung zwischen Malerei und Schreibkunst, die durch das quasi Ersetzen des traditionellen Begriffes shuhua durch das moderne huihua vorgenommen wurde, dadurch wieder in einem das Denken erweiternden Sinne aufgeweicht?

3.5 Einordnung in die Kunstszene der Welt So strebt Liu eine chinesische moderne Kunst an, die Teil der »Weltkunst« (shijie yishu 世界藝術) und der »Kunstszene der Welt« sein kann. Wie aber ist diese – universal anmutende – Weltkunst zu verstehen und wie wird deren Zugehörigkeit bestimmt? Soulages, Kline, Hartung – diese Künstler und deren »moderne Malerei des xieyi (Schreibens der Sinneshaltung)« (4.25) zählt Liu zur Weltkunst. Wichtig zu betonen ist an dieser Stelle, dass Liu die Kunst jener westlichen Künstler, die ihm zufolge der Weltkunstszene zuzurechnen sind, nicht als dem chinesischen xieyi (›Schreiben der Sinneshaltung‹) ähnelnd darstellt oder die Möglichkeit aufzeigt, sie analogisierend als klassisch im Stil des xieyi darzustellen. Dies könnte naheliegen, da Liu die Entwicklung der Kunstgeschichte vom realistischen Darstellen zur Abstraktion – vom xieshi zum xieyi – als eine Art universale und ›natürliche‹ Entwicklung darstellt, die in China schon früher vollzogen wurde und sich so nun auch im Westen vollzieht:142 »Die Entwicklung der chinesischen und westlichen Kunstgeschichte (zhongxi meishushi) hat eine gemeinsame Richtung und das ist – egal ob in der Theorie oder im Ausdruck – die Entwicklung vom Realistischen (xieshi) zum xieyi (Schreiben der Sinneshaltung).« (4.35) Liu macht jedoch deutlich, dass es explizit die Kenntnis und Auseinandersetzung mit den chinesischen Gedanken zur Malerei sind, die erst die moderne Malerei im Westen hervorbrachten. Kline, Hartung oder Soulages malen also nicht in einem Stil, den man als dem der Maler der Tang- oder Song-Dynastie ähnlich bezeichnen könnte und eine nur stilistische Nähe konstruiert werden könnte, sondern jene genannten Künstler ent142 Ähnlich ist dies auch später in Lius Schriften wiederzufinden: Liu schreibt im Vorwort seiner Schriftensammlung Der Weg der chinesischen modernen Malerei, dass die unterschiedlichen Hintergründe der westlichen und östlichen Malerei zwei unterschiedliche Malereisysteme hervorbrachten, diese aber in der Zukunft, wie zwei verschiedene Flüsse, in das gleiche Meer fließen werden. Vgl. Liu Kuosung, »Zixu« 自序 [Vorwort], in: Ders., Zhongguo xiandai hua de lu, S. 1-9, S. 8.

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wickelten die Gedanken, die in der ostasiatischen Schreibkunst und Malerei entwickelt wurden, weiter und nahmen sie zur Grundlage ihres Schaffens: Die Kunst des Westens »erlangte die Gunst des Kulturaustausches und nahm die Stärken der chinesischen Malerei in sich auf. Er [der Westen] gab den früheren objektiven, realistischen (xieshi) Stil auf und wurde zu einer modernen Malerei des xieyi (Schreibens der Sinneshaltung), die sich dann hin zu einem Ausdruck des Abstrakten entwickelte.« (4.24f.) Liu sieht Kline oder Hartung daher nicht als die chinesische Malerei kopierend, auch sieht er keine zufällige Ähnlichkeit, sondern unterstreicht deren Fähigkeit aus dem Zusammentreffen beider Kulturen etwas Neues zu erschaffen. Diese Beschreibung verweist auf die konkrete und explizit fruchtbare Auseinandersetzung mit dem im Zuge des »Zusammenschmettern des Ost-West-Kulturaustausch[es]« (4.13) bekannt gewordenen klassischen chinesischen Konzept. Kline oder Hartung haben also in Auseinandersetzung mit dem chinesischen Denken von Kunst die westliche moderne Kunst geschaffen, die für die Weltkunstszene von Bedeutung ist (und deshalb die hier nicht hegemonial gedachte Führungsrolle übernehmen kann).143 Obgleich Liu den seinen Überlegungen zugrundegelegten Kunstbegriff nicht hinterfragt und trotz seiner immer wieder stark zum Vorschein kommenden universalen Idee des künstlerischen Schaffens (beispielsweise spricht er von der »unveränderliche[n] menschliche[n] Natur der Weltkunst« (5.29)) und der Idee, dass sich hier etwas ohne menschliches Zutun vollzieht – auch in der Bezugnahme auf den »Himmel« (2.16) –, betont Liu die Notwendigkeit der Auseinandersetzung, in deren Folge erst etwas Neues entstehen kann. So schwebt Lius Vorstellung von ›Welt‹ zwischen einer universalen Idee des Menschseins und der Überzeugung, dass in der Moderne die Diskussion der ›Welt‹ (im Sinne eines heutigen Globalen) unumgänglich ist. Ein Hinweis auf sein Verständnis von ›Welt‹, das trotz der mitschwingenden Vorstellung von Universalität auf eine geografisch verstandene Welt verweist, findet sich in eben jener Formulierung des »Zusammenschmettern des Ost-West-Kulturaustausch« (4.13), die auf den Gedanken verweist, dass die Moderne einen furiosen und unkontrollierbaren Umbruch bedeutet, der sich jedoch nicht ausschließlich auf die Erfahrungen der Moderne Chinas bezieht. Vielmehr wird der Umbruch als Erfahrung, die die ganze Welt betrifft, beschrieben. Dieser Gedanken der Moderne als gemeinsame Erfahrung des Umbruchs ist wichtig, zeigt er doch, dass Liu sich und die Künstlergruppen nicht als außerhalb einer als normativ verstandenen, westlichen Moderne stehend sieht und das moderne künstlerische Schaffen in China/Taiwan nicht als Kopie der Entwicklung der modernen Kunst des Westens denkt, dem in einer solchen Einordnung dann hierarchisch die Moderne zugehörig wäre.144 Auch in Lius Sprechen 143 In Bezug auf die Weltkunstszene soll hier kurz Lius Begriff des ›Westens‹ Erwähnung finden: Bei Liu werden ›Europa‹ und ›Amerika‹ unter dem Begriff ›Westen‹ (xiyang, xifang) zusammengefasst, was darauf verweist, dass der ›Westen‹ als Einheit gesehen und verstanden wird. Auch die genannten Künstler sind sowohl europäische, als auch nordamerikanische. Interessant ist dies insbesondere in Anbetracht des Bezuges auf die moderne abstrakte Kunst: Betrachtet man Rosenbergs Artikel The Fall of Paris (1940), in dem dieser New York als das neue Zentrum der Kunst im Gegensatz zum früheren Paris sieht, zeigt sich die große Unterscheidung der Perspektive (vgl. Harold Rosenberg, »Der Niedergang von Paris«, in: Harrison; Wood, Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, S. 667-672). 144 Mit Blick auf ein nicht-absolutes Verständnis von Osten und Westen kann auch angesichts der Formulierung »wir sollten uns nicht geringschätzen« nicht auf ein ›Minderwertigkeitsgefühl‹, wie es in Kapitel II.1.2 angesprochen wurde und wie es Liu bei Xu Beihong sieht, geschlossen werden.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

vom ›östlichen Wind, der den Westen durchdringt‹ (dongfeng xijian 東風西漸), wodurch Bezug auf die im 19. Jahrhundert genutzte Formulierung ›der westliche Wind durchdringt den Osten‹ (xifeng dongjian 西風東漸) genommen wird, wird eine Gleichwertigkeit in der Einf lussgeschichte ausgedrückt. Das Sprechen von der (oben schon erwähnten) »Führungsrolle« (4.26; 5.7), die die Kunst des ›Westens‹ in der ›Kunstszene der Welt‹ innehabe – eine ›überlegene‹ Position, die durch den Auf bau eines ›Malsystems des Ostens‹ zurückerobert werden soll –, ist damit als nicht hierarchisch in absolutem Bezug zur Entwicklung im Westen zu verstehen, sondern bezieht sich auf jene Verzögerung der Entwicklung der Kunst Chinas/ Taiwans, die Liu im Zusammenhang mit Zao Wou-Kis Fortgehen nach Paris anspricht: auf die Verzögerung der Entwicklung der Möglichkeiten der »Bewegung der neuen Kunst Chinas« um 20 Jahre. Dass der Westen der einzige andere Kulturkreis ist, der in Lius Text diskutiert wird, ist eher historisch zu betrachten, als dass hieraus eine Gleichsetzung von ›Welt‹ mit ›Westen‹ zu lesen ist. Die Zugehörigkeit zu einer Weltkunstszene bezeichnet also nicht eine Zugehörigkeit zu einer westlichen Definition. Die von Liu als der Weltkunst zugerechnete Kunst steht im Austausch mit der Welt, und hat eine Bedeutung für die Welt, es geschieht ein Öffnen der modernen Gedanken für die ganze Welt. So wird in Lius Perspektive im Westen Weltkunst geschaffen, weil hier dem Kulturaustausch offen begegnet wird und somit geschieht, was Liu für die Kunst Chinas erhofft: »die Errungenschaften jeden Ortes der Welt« aufzusaugen, um sie zum »Nährstoff« zu machen (5.30). Die »Führungsposition« der Kunst der »Westler« beschreibt demnach eine temporäre Entwicklung und wird nicht als absolut dargestellt. Die Kontrolle oder Macht ist nicht als hegemonial zu verstehen, sondern vielmehr besteht diese Macht, weil die Entwicklung der Kunst, die im Westen geschieht, in eine Zukunft weist. Das moderne China ist also dem modernen Westen in den Möglichkeiten und der Bedeutung zunächst gleichgestellt, die Hierarchie ergibt sich aus der ungleichen Nutzung der Möglichkeiten. Liu beschreibt somit dezidiert kein Östlich- oder Westlich-Sein und versucht nicht, Kategorien wie besser/schlechter oder wichtig/unwichtig zu etablieren. Die zugrundegelegte Annahme, zur Welt zu gehören, zeigt sich auch in der Bemerkung und Frage, dass China/Taiwan »noch eine Kulturwüste [sei] – wie können wir da die Berechtigung haben, die Weltkultur zu diskutieren?« (5.11). Durch diese Bemerkung wird zwar erneut betont, dass Liu das Umfeld des Schaffens als schwierig (als ›abscheulich‹, ›schlimm‹ und ›hasserfüllt‹ beschreibt er es im Text) sieht und es zeigt sich, dass Liu die künstlerische Entwicklung in Taiwan als großen Hindernissen gegenüberstehend sieht, die jedoch selbsterzeugt sind. So gesehen wird die ›Berechtigung‹, von der Liu spricht, nicht explizit von einer hegemonialen (und als westlich verstandenen) ›Welt‹, der man nicht zugehört, ausgesprochen, sondern die Berechtigung wird vielmehr nach eigenem Ermessen mit Blick auf das Umfeld und das künstlerische Schaffen, das aus jenem hervorgeht, jeweils selbst ausgesprochen, was sich besonders zeigt, wenn Liu weiter schreibt:145

145 Dass eine solche Berechtigung und Legitimation der Kunst als der aktuellen Kunst der Welt zugehörend angelegt und möglich ist, zeigen sowohl der Erfolg Zao Wou-Kis, als auch die Auswahl bei der São Paulo Biennale.

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»Aber wenn wir, diese Generation, nur eine Handvoll erfolgreiche Leute haben, so kann die neue Tradition Chinas sofort aufgebaut werden. Wenn wir gar zehn, zwanzig Leute wären, so könnten wir in den Wettstreit um die Führungsposition der Kunstszene der Welt treten. Dann nämlich haben wir die Berechtigung uns selbst über die Weltkultur zu äußern.« (5.35) Und doch betont Liu die Bedeutung des »kulturell-nationalen Charakters (minzuxing)«146 und den »Auf bau eines Malsystems des Ostens« (5.8), was vor dem Hintergrund des Strebens nach einer Kunst, die in die Welt eingebunden ist (und die vehement von jener abgrenzt wird, die die uralte, ureigene Kultur preist im Namen einer »Wiederherstellung des Volksgeistes« (5.1)), ein Widerspruch zu sein scheint und von Liu selbst schon als unmodern und unpassend gezeichnet wird. Einen »kulturell-nationalen Charakter (minzuxing)« sieht Liu als Voraussetzung für eine jede Kunst, die als jene »echte Kunst« (2.50) bezeichnet werden kann: »Jedes Kunstwerk, das in der Kunstszene der Welt bestehen kann, muss hingegen kulturell-nationalen Charakter (minzuxing) mitbringen, muss Persönlichkeit mitbringen.« (5.22) Dabei ist unerheblich, wo in der Welt diese Kunst zu verorten ist, was noch einmal verdeutlicht, dass die Weltkunstszene nicht als vom Westen definiert verstanden wird.147 Besonders am Beispiel Zao Wou-Kis zeigt sich, dass Liu, der sich selbst als »Teil des Ostens« (5.17) verortet, diese nationalistisch anmutende Zugehörigkeitbeschreibung nicht als absolut und unveränderbar versteht: Zao Wou-ki, in dessen künstlerischen Schaffen Liu die Fähigkeit sieht, die ›Bewegung der neuen Kunst Chinas‹ zu beginnen, eine neue Kunst zu schaffen, stellte sich dem Umfeld nicht, sondern ging nach Paris. Paris, so zitiert Liu Zao Wou-Ki, sieht jener denn als seine künstlerische Heimat und seinen künstlerischen Nährboden: »Ich liebe das China, das mich geboren und aufgezogen hat von ganzem Herzen, aber es war doch Paris, das mich gebildet hat. Der Maler Zao Wou-Ki, der ich heute bin, gehört zu Paris. Ich möchte zurück nach Paris.« (2.24ff.) Obgleich also Liu immer wieder den Auf bau einer ›Bewegung der neuen Kunst Chinas‹, einer neuen chinesischen Kunst, einer Renaissance der chinesischen Kunst und Kultur betont, ist die kulturelle Zugehörigkeit hier in Bezug auf das künstlerische Schaffen nicht als absolut zu verstehen: Zao Wou-Kis Chinesisch-Sein findet unter der Voraussetzung, dass er in Paris sein künstlerisches Schaffen erarbeitete, keine explizite Betonung. Liu verortet denn Zao nicht mehr im chinesischen oder östlichen Es bleibt zu diskutieren, ob diese Berechtigung nicht im Nachhinein über die in den 1990er Jahren geschehende Einordnung als ›imaginierter Modernismus‹ (xiangxiang xiandaizhuyi 想像現代主義) und in den 2000er Jahren durch die Einordnung als ›Avantgarde‹ in Anlehnung an die westliche Definition tendenziell abgesprochen wird, da hierdurch eine klare Ausrichtung auf den Westen ausgedrückt und eine Verspätung impliziert wird. Siehe hierzu auch Kap. VI. 146 Zur Übersetzung von minzuxing siehe III.1, Fußnote 81. 147 Zu unterstreichen ist an dieser Stelle, dass ein »kultureller-nationaler Charakter (minzuxing)« also nicht als etwas beschrieben wird, was nur Kunst im ›Nicht-Westen‹ hat. Im Gegensatz dazu geschieht im heutigen Kunstdiskurs eine Quasi-Gleichsetzung des ›Ethnischen‹ mit ›Tradition‹, also dem Alten, das im Gegensatz zur Moderne steht. Siehe auch Kap. VI.3/4.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

Kontext, sondern in Folge jener Umgebung – dieses ›Nährbodens‹ – wird er von Liu als Pariser Künstler gesehen. Auch die Gleichsetzung des »kulturell-nationalen Charakters (minzuxing)« mit einem dem Individuum zugehörigen ›Charakter‹ (gexing 個性), verweist darauf, dass auch mit dem kulturell-nationalen Charakter etwas gemeint ist, das zum Selbst gehört und ins Schaffen einf ließt und eher einer kulturellen Prägung entspricht.148 Wenn ein Kunstwerk »kulturell-nationalen Charakter (minzuxing)« mitbringen muss, um Charakter zu haben, heißt das, dass der Schaffende bewusst als kulturell geprägtes Individuum schaffen muss. Lius Betonung des »kulturell-nationalen Charakters (minzuxing)« verliert so seine nationalistisch anmutende Betonung. Dies wird auch deutlich, wenn Liu schreibt: »Was die Kunstszene der Welt von uns erwartet, ist etwas zu erschaffen, was zu uns selbst gehört, genauso wie gehofft wird, dass jeder Maler etwas Eigenes erschafft.« (5.12) Auch durch diese Gleichsetzung wird Lius Betonung dessen, »was zu uns selbst gehört«, der stark nationalistischen Definition entzogen. Vielmehr ist dies ein Teil des Selbst, den der Künstler, dessen Schaffensprozess vom Selbst nicht abgelöst sein kann und darf, nicht ignorieren darf. Es ist also nichts Allgemeines, Übergestülptes, sondern als etwas, das zum Persönlichen gehört, zu sehen.149 Die ›Gemeinsamkeit‹ des Chinesischen, das Erwähnung findet, bezeichnet damit auch keine klar definierte kollektive kulturelle Identität, die dann Grundlage für das Verfestigen einer abgrenzenden Idee von Tradition sein könnte, sondern beschreibt eben jene gemeinsame kulturelle Erfahrung, die Hintergrund und Teil der Persönlichkeit des Künstlers ist. Als individueller Teil sollte der »kulturell-nationale Charakter (minzuxing)« in der Kunst Ausdruck finden, was sich auch in der folgenden Aussage widerspiegelt: »Sofern man sagt, dass der Satz ›die Kunst ist der absolute Ausdruck der individuellen Persönlichkeit‹ ein wahrer Satz ist, so muss die Essenz meiner Persönlichkeit, der ich im Osten geboren bin und im Osten lebe, Teil des Ostens sein.« (5.17) Der »kulturell-nationale Charakter (minzuxing)«, von dem Liu spricht, ist also nicht als absolute und feststehende kulturelle Zugehörigkeit zu verstehen, sondern bezeichnet eher eine Möglichkeit und den Einf luss des Umfeldes, in dem sich der Schaffende befindet und wovon er geprägt wird. Eine ähnliche Sicht auf die Bedeutung der Zuschreibung ›chinesisch‹ in der modernen Kunst findet sich auch bei Chu Ge 楚戈, der schreibt, dass auch Ausländer chinesische Kunst machen können, wenn sie nur bei den richtigen Lehrern in Lehre gehen. Auch wenn Chu Ge eine ›moderne chinesische 148 Diese Betonung des schaffenden Individuums ist bei Liu von großer Bedeutung, insbesondere auch in seinem Text Diskussion über das Betrachten abstrakter Malerei. Hier schreibt Liu, dass ein absolutes Verstehen zwischen zwei Menschen ausgeschlossen sei, wie solle also ein vollständiges Verstehen eines Kunstwerkes möglich sein? Denn ein ›echter Maler‹ male nie für andere und sollte ein solches vollständiges Verstehen nicht anstreben. Vgl. Liu Kuo-sung, »Lun chouxianghua de xinshang« 論抽象繪畫的欣賞 [Diskussion über das Betrachten abstrakter Malerei], in: Ders., Zhongguo xiandai hua de lu, S. 83-88, S. 85; Erstveröffentlichung in Wenxing 文星 Nr. 34, 1960. 149 Rosenberg schreibt in Die amerikanischen Action Painters (1952): »Ein Gemälde als Akt ist mit der Biographie des Künstlers untrennbar verbunden.« (Harold Rosenberg, »Die amerikanischen Action Painters«, in: Harrison; Wood, Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, S. 708-711, S. 709) Hier findet sich eine große Nähe zu Lius Auffassung und es ist zu fragen, ob Liu den Text kannte.

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Malerei‹ sucht – im expliziten Gegensatz zu Liu, der eine ›chinesische moderne Malerei‹ sucht – und daher, in Lius Worten, für eine gewisse »Begrenzung auf die Formen und Materialien, die China ursprünglich hatte« (5.25) steht, so wird der Zuschreibung ›chinesisch‹ doch ihre kulturelle Absolutheit genommen.150 Unter dieser Voraussetzung ist der »kulturell-nationale Charakter (minzuxing)« denn auch nicht als konträres Gegenüber des ›kosmopolitischen, der Welt zugehörenden Charakters‹ (shijiexing)151 zu sehen, das laut Liu jene Kunst erreichen muss, die zur Kunstszene der Welt gehören kann.152 Vielmehr stellt der »kulturell-nationale Charakter (minzuxing)« eine Voraussetzung dar: Ein solcher »kosmopolitischer Charakter (shijiexing)« kann erst durch den »kulturell-nationalen Charakter (minzuxing)«, also die Auseinandersetzung mit dem persönlichen Hintergrund des künstlerischen Schaffens, erreicht werden. Das oben erwähnte ›Malsystem des Ostens‹, das Liu aufzubauen sucht, erscheint so nicht mehr so sehr im Lichte einer nationalistischen Forderung. Es geht also nicht um das Etablieren eines ›traditionellen östlichen‹ Malereistils, der abgetrennt vom ›westlichen‹ oder dem der ›Welt‹ besteht, sondern darum, in einer Welt, die geprägt ist vom Zusammentreffen der Kulturen, »die Berechtigung [zu haben] uns selbst über die Weltkultur zu äußern.« (5.36)

150 Chu Ge [auch Chu Ko] steht für die Suche nach einer ›modernen chinesischen Malerei‹, die sich beispielsweise auf die klassische Pinselnutzung beruft (jedoch trotzdem nicht identisch ist mit der klassischen chinesischen Malerei, sondern sich konkret mit der Moderne auseinandersetzt). Chu Ge unterscheidet die ›moderne chinesische Malerei‹ von der ›chinesischen modernen Malerei‹, wie sie Liu sucht. Chu Ge steht Lius Idee kritisch gegenüber, weil diese in der von Chinesen gemalten ›modernen Malerei‹ – zu der also auch all die westlichen Strömungen seit dem Dadaismus gehörten – eine Art ›östlichen Geist‹ sähen. Trotzdem sieht er beiden Strömungen eine sehr ähnliche Vorstellung von Kunst zugrundegelegt. Vgl. Chu Ge, »Lun xiandai zhongguo hihua« 論現代中國繪畫 [Diskussion über die moderne chinesische Malerei], in: Guo Jisheng, Dangdai taiwan huihua wenxuan 1945-1990, S. 118-135; Erstveröffentlichung 1967 in der Xinsheng-Zeitung 新生報. Li Zhongsheng schrieb 1980, dass die moderne chinesische Malerei auf den chinesischen traditionellen Gedanken und Techniken der Kunst aufbaue und diese mit einem Teil westlicher moderner Gedanken zur Kunst vermische, während die chinesische moderne Malerei auf der westlichen Vorstellung und Technik der Kunst aufbaue und in diese Kunst einen Teil der chinesischen traditionellen Vorstellungen zur Kunst hineinbringe. Es bleibt zu fragen, ob sich diese Interpretation nicht insofern als eine nachträgliche darstellt, als dass sie sehr additiv das Westliche dem Östlichen gegenüberstellt. Vgl. Li Zhongsheng, »Cong shijie yishu chaoliu kan zhongguoyishu de chuangzuo fangxiang« 從世界藝術潮流看中國藝術的創作方向 [Betrachtung der Entwicklungsrichtung der chinesischen Kunst aus der Perspektive der Kunstströmungen der Welt], in: Ders., Li zhongsheng wenji, S. 121-125, S. 121. 151 Der ›kosmopolitische Charakter (shijiexing)‹ bringt in Lius Nutzung – wie oben in Bezug auf die ›Weltkunstszene‹ erarbeitet – ein universales Weltbild zum Ausdruck, gleichzeitig wird damit aber die Bedeutung des Verhandelns des modernen Kulturaustausches betont und eine historische Einbettung vorgenommen. 152 Minzuxing erfährt hier durch Liu eine Aufwertung, wird es doch als notwendig gesehen, um shijiexing zu erreichen. Eine eher abwertende Sicht auf minzuxing findet sich, von Hsiao Chong-ray beschrieben, bei Wang Baiyuan 王白淵, der minzuxing als minderwertiges, nicht zeitgemäßes Gegenüber von shijiexing sieht (vgl. Hsiao Chong-ray, Wuyue yu dongfang, S. 148f.). Liu scheint hieran anzuknüpfen und im Kontext dieser Ansicht von minzuxing und shijiexing zu schreiben, wenn er anmerkt, dass seine Betonung des minzuxing auch als nationalistisch gesehen werden könnte.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

Deutlich wird somit auch noch einmal, dass die in der »Weltkunstszene« angesprochene ›Welt‹ also keine ist, derer sich Liu nicht zugehörig sieht. Vielmehr sind das künstlerische Schaffen Chinas/Taiwans und die Diskussion der Malerei des Ostens notwendige Teile jener zukunftsweisenden »Weltkunst«.153 Der »kulturell-nationale Charakter (minzuxing)« beschreibt also nicht das (explizit) ›Eigene‹, sondern etwas mit der Zeit Erarbeitetes, das sich an einem Ort, von Menschen, die innerhalb einer Gemeinschaft sozialisiert wurden, herausgebildet hat.154 Wird durch den »kulturell-nationalen Charakter (minzuxing)« also nicht etwas kulturell Eigenes als absolut imaginiert, so fällt damit auch die Vorstellung eines ›Anderen‹ und eines ›Außen‹ weg und der Kulturaustausch, dessen Betonung sich durch den Text zieht, kann so seine Bedeutung entfalten. ›Westen‹ und ›Osten‹ verweisen damit nicht auf diskursive, unverrückbare, sich gegenüberstehende Entitäten,155 sondern sind als aus einer historischen Entwicklung entstandene Größen zu verstehen. Zwar weist Liu immer wieder auf die Unterschiede in der historischen Entwicklung der Kunstauffassung des Ostens und Westens hin, jedoch sind diese Unterschiede historisch zu sehen und beziehen sich explizit nicht auf ein modernes Kunstverständnis.156 Der Unterschied beruht nicht auf dem »kulturell-nationalen Charakter (minzuxing)«, bzw. ist nicht jener die Grundlage für einen Unterschied.

153 An dieser Stelle ist im Kontext dieser Arbeit auf die große Diskrepanz zu verweisen, die sich in der Vorstellung dessen, was ›Welt‹ in der Kunst umfasst, findet: Besonders der Blick auf die Anfänge der documenta, die sich ›Weltkunstschau‹ nannte und den Anspruch erhob, die Kunst der Welt zu zeigen, jedoch nahezu ausschließlich Kunst aus Europa und Nordamerika zeigte, macht deutlich, dass die europäisch-nordamerikanische Vorstellung von ›Welt‹ auch damals schon abwich von der Chinas/Taiwans. In Kapitel VI.2 werde ich auch auf die Frage eingehen, wie sich die Sicht auf die Zugehörigkeit zur ›Welt‹/›Weltkunstszene‹ in Taiwan änderte. 154 Hier wird ein großer Unterschied zu den 1990er Jahren sichtbar, wo das ›Eigene‹ (zijide 自己的) eine Abgrenzung gegenüber dem Westen bezeichnet (siehe Kap. VI.3/4). 155 Dies kommt auch zum Ausdruck, wenn die Sprache von dongxi yishu und von zhongxi huihua ist: Was als »östliche und westliche Kunst«, bzw. »chinesische und westliche Malerei« übersetzt werden muss, kommt im Chinesischen bei Liu ohne das ›Und‹ aus – das verbindet, jedoch auch zwei voneinander getrennte (aber sich aufeinander beziehende) Parteien/Pole markiert – und wird also tendenziell als Gemeinsames gedacht und verstanden. Auch wenn dieser Umstand auf der Ausdrucksform der chinesischen Sprache beruht, die auch keine Leerstellen zwischen den Worten/Zeichen kennt, so verdient diese Wendung Beachtung, impliziert sie doch eine Zusammengehörigkeit, durch die die Frage nach dem Wettbewerb seine Relevanz verliert, bzw. gar nicht gestellt werden muss. 156 Dies wird auch in anderen Texten Lius aus den beginnenden 1960er Jahren deutlich, besonders in seinem Artikel Diskussion der Unterschiede der chinesischen und westlichen Malerei anhand der Punto-Kunstausstellung, in dem er die westliche Malerei als auf der griechischen Kultur beruhend beschreibt, als auf Rationalität und Geometrie beruhend, während die chinesische Kultur von der Bewegung und dem Gefühl ausgehe. Auch hier bezieht sich das Sprechen vom Unterschied auf die traditionelle Vorstellung des künstlerischen Schaffens – ein Unterschied, der in der Moderne durch den Kulturaustausch sein Absolutes verliert. Vgl. Liu Kuo-sung, »Cong pangtu yizhan tan zhongxi huihua de bu tong« 從龐圖藝展談中西繪畫的不同 [Diskussion der Unterschiede der chinesischen und westlichen Malerei anhand der Punto-Kunstausstellung], in: Ders., Zhongguo xiandai hua de lu, S. 73-81, S. 76; Erstveröffentlichung 1963 in der Zeitschrift Wenxing.

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3.6 Zu den Begriffen xihua 西畫 und xiyanghua 西洋畫 Vor dem Hintergrund dieses nicht absoluten Verständnisses von Westen und Osten sollte den Bezeichnungen xihua und xiyanghua für ›westliche Malerei‹ (und auch der xifang yishu 西方藝術, der ›westlichen Kunst‹) genauere Beachtung geschenkt werden. Liu schreibt: »Bisher besteht in Taiwans Malereiszene eine tiefe Kluft zwischen der chinesischen Malerei (zhongguohua) und der westlichen Malerei (xiyanghua). Die Maler der chinesischen Malerei (guohuajia) befragen nicht die westliche Malerei (xihua) und die Maler der westlichen Malerei (xihuajia) scheren sich nicht um die chinesische Malerei (guohua). Dieses Phänomen zeigt sich besonders deutlich in der Provinzausstellung.« (3.32ff.) Wenn in diesem Zitat die ›westliche Malerei‹ als xiyanghua der ›chinesischen Malerei‹ als zhongguohua gegenübersteht und weiter dann die ›Maler der chinesischen Malerei‹ als guohuajia den ›Malern der westlichen Malerei‹ als xihuajia, so werden im Kontext der Provinzausstellung hierunter zwei Stilrichtungen verstanden, die als konträr gegenüberstehende Hauptmalrichtungen innerhalb Taiwans gesehen werden. Auch wenn die Art und Weise zu malen immer auch mit einer geistigen Ebene – beispielsweise in Bezug auf die Pinselnutzung – verbunden ist, die kulturell beeinf lusst ist, so ist sie durch die Setzung in den konkreten Kontext ›Taiwan‹ hier stilistisch zu verstehen: xiyanghua und auch xihua bezeichnen also eine Stilrichtung und Art zu malen und verweisen keineswegs auf den geografischen Entstehungsort der Kunst.157 Mit xihuajia werden somit Maler bezeichnet, die sich in China/Taiwan für das Malen im westlichen Stil – also der Ölmalerei oder auch der seit Ishikawa Kinichiro in Taiwan sehr populären Aquarellmalerei – entschieden haben. Die ›westliche Malerei‹ (xihua) wird also verstanden als zum modernen China/ Taiwan gehörend. Sie ist nicht das Andere einer geografisch und diskursiv verstandenen ›chinesischen Malerei‹ (zhongguohua), sondern wird hier als deren stilistisch gegenüberstehendes Pendant gesehen. In diesem Kontext soll noch einmal darauf verwiesen werden, dass somit die gegenüberstehende zhongguohua ebenfalls nicht als mit einem geografischen China verbunden zu sehen ist, sondern als Stil, der nicht national-orientiert einzuordnen ist. Sie unterscheidet sich in der Art, Malerei zu denken, historisch, wie es auch in der Feststellung Chu Ges, dass auch Ausländer ›chinesische Malerei‹ (zhongguohua/guohua)158 schaffen können, zum Ausdruck kommt. xihua und zhongguohua sind also stilistisch in einem (modernen) System in Trennung aufeinander bezogen zu betrachten. Sie werden hier nicht in eine neue/moderne und eine veraltete/nicht-moderne Form des Schaffens von Kunst eingeteilt. Sowohl 157 Ähnliches stellt Dōshin Satō für die japanische Bezeichnung yōga 洋画 fest, die für japanische Malerei im westlichen Stil genutzt wird und damit im Gegensatz zur Nihonga (der wörtlichen ›japanischen Malerei‹) steht, während yōga im cineastischen Bereich im Westen produzierte Filme bezeichnet und im Gegensatz zu Filmen, die in Japan produziert werden, steht. Vgl. Satō, Modern Japanese Art and the Meiji State, S. 186. 158 Chu Ge setzt zhongguohua konkret mit guohua gleich, weshalb beide hier mit ›chinesischer Malerei‹ übersetzt werden und keine Unterscheidung in der Übersetzung getroffen wird. Vgl. Chu Ge, Lun xiandai zhongguo huihua, S. 119.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

xihua als auch zhongguohua können dem Verständnis des Textes nach veraltet oder aber neu und modern sein. Sie stehen hier als unterschiedliche stilistische und gedankliche Formen des damals gegenwärtigen Schaffens von Kunst und weisen somit auf jene strenge Trennung des Materials und der Formen hin, die Liu zu überwinden sucht. Somit ist in der Bezeichnung xi 西 nicht ›der Westen‹ geografisch impliziert, sondern die zugrundeliegende Vorstellung des Kunstschaffens, die im Zuge der historischen Modernisierung Einzug in China fand. In der Bezeichnung steckt also zunächst keine abgrenzende Vorstellung gegenüber der ›fremden‹ und ›von außen kommenden‹ Kunst, sondern die Abgrenzung geschieht gegenüber dem sichtbaren Unterschied des künstlerischen Ausdrucks und der Nutzung der Materialien. Dass die Abgrenzung gegenüber der Kunstszene des Westens nicht nur bei Liu zur damaligen Zeit keine Rolle spielte – egal ob bei den Künstlergruppen oder bei den ›Traditionalisten‹ – zeigt sich auch an der ›Debatte um die moderne Malerei‹ um Xu Fuguan. Die Frage, ob eine solche abstrakte ›moderne Kunst‹ – als ›westlich‹ gesehen – zu China/Taiwan gehören könne, ist hier vollkommen irrelevant und verweist darauf, dass eine Gleichsetzung von ›modern‹ und ›westlich‹ nicht geschah.159 Obgleich xihua und xiyanghua also einen Stil bezeichnen, so steckt hierin doch eine Doppeldeutigkeit, die besonders im Sprechen von der ›Kultur anderer Völker‹ (taminzu de wenhua) (3.37) im Kontext der Trennung der Stilrichtungen xihua und zhongguohua zum Ausdruck kommt. Auch in Bezug auf die traditionellen Aspekte der xihua und (zhong)guohua spricht er von der Kunst, die geografisch in China oder Europa entstanden ist. Diese zweideutige Nutzung der Begriffe findet sich auch, wenn er feststellt: »Es mag noch Menschen geben, die selbstgefällig sagen, die ›Bewegung des 4. Mai‹ habe China die westliche Kunst (xiyang yishu) gebracht. Das stimmt. Doch die Einführung der westlichen Kunst (xifang yishu) geschah mehr schlecht als recht.« (1.12ff.) Sowohl xiyang yishu als auch xifang yishu bezeichnen hier zwar auch Stile oder Formen des künstlerischen Schaffens. Jedoch sind sie auch geografisch zu verstehen und als ›importiertes‹ oder ›hergeholtes‹ Kunstschaffen zu sehen. Diese Uneindeutigkeit der Begriff lichkeit schwingt also immer mit in der Nutzung der Bezeichnungen.160 Ein 159 Interessanterweise schreibt Li Shuzhen, dass der Fokus der Debatte Xu Fuguans und Liu Kuo-sungs genaugenommen nicht die moderne Malerei ›Taiwans‹ sei, sondern die moderne Kunst ›Euroamerikas‹ (vgl. Li Shuzhen, Anshen liming, S. 337). Eine solche rückblickende Bewertung muss kritisch betrachtet werden, findet doch hier eine Gleichsetzung der ›modernen Kunst‹ mit ›euroamerikanischer Kunst‹ statt. Jedoch wird eine solche kategorisierende Einteilung weder von Liu noch von Xu Fuguan vorgenommen. Dies wird auch daran deutlich, dass Xu Fuguan die ›moderne Kunst‹ kritisierte, woraufhin Liu in seinem antwortenden Text (auch) über die Entwicklung der modernen Kunst in Taiwan spricht, also von Xus Kritik auch auf die – in seinen Augen zur Welt gehörenden – Kunst Taiwans schließt: ›Moderne Kunst‹ wird also nicht als geografisch-diskursiv dem ›Westen‹ zugehörig gesehen. 160 Eine in dieser Nutzung der Begriffe zugrundegelegte Gefahr des Missverstehens findet sich viele Jahre später in Ni Tsai-Chins Text Westliche Kunst (xifang meishu) – Made in Taiwan. Die westliche Kunst, die Ni hier beschreibt, ist formal eine moderne Kunst, die in Taiwan geschaffen wurde, die er aber als ›westlich‹ beschreibt. Weiter beschreit Ni mit xifang meishu aber auch die Kunst, die im Westen seit dem Impressionismus entstanden ist, namentlich die Van Goghs oder Picassos (siehe auch Kap. IV, sowie VI.4).

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weiterer Faktor, der diese Uneindeutigkeit verstärkt, ist die uneinheitliche Nutzung von xiyang und xifang, die im Text nicht klar unterschieden werden und mal die Kunst, die in Taiwan entstanden ist, mal die Kunst, die von ›Westlern‹ (xiyangren) wie beispielsweise dem namentlich genannten Franz Kline geschaffen wird, bezeichnen.161

3.7 Tradition Ostasiens als Motor für die Entwicklung der modernen Kunst? Gegenüberstellung der Lesweisen Liu beschreibt Klines, Soulagesʼ oder Hartungs Arbeiten als aus dem aktiven Einlassen auf eine Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Schreibkunst und dem chinesischen Denken heraus entstanden. In der abstrakten Kunst jener Künstler ist somit das chinesische Denken des Kunstschaffens schon enthalten und so stellt er die Kunst also als hybrid dar, ist sie doch erst durch die Auseinandersetzung mit dem Osten entstanden. Doch schaut man sich Aussagen Klines an, so negiert dieser den Bezug auf Asien vehement, so wie auch Clement Greenberg einen stilbildenden Einf luss Asiens auf den Abstrakten Expressionismus negiert:162 »Klineʼs apparent allusions to Chinese or Japanese calligraphy encouraged the cant, already started by Tobeyʼs case, about a general Oriental influence on ›abstract expressionism‹. […] Actually, not one of the original ›abstract expressionists‹ – least of all Kline – has felt more than a cursory interest in Oriental art. The sources of their art lie entirely in the West; what resemblances to Oriental modes may be found in it are an effect of convergence at the most, and of accident at the least.« 163 Greenberg geht in diesem Artikel weiter auf den als asiatisch gesehenen Aspekt der Betonung von schwarz und weiß ein und legt ihn als genuin westlich – als das Extrem des Farbkontrastes, den er noch vor der Perspektive als wichtigstes Element der westlichen Malerei sieht – dar und also aus sich selbst heraus entstanden. Dass Greenberg jedoch auf das Asiatische eingeht – wenn auch negierend und als leere Phrase abtuend – zeigt, welche Bedeutung der Auseinandersetzung mit ostasiatischer Kunst damals in der Kunstszene Amerikas zugesprochen wurde.164 Doch anstatt hier die Aberkennung Greenbergs oder Klines zu widerlegen, soll hier darauf eingegangen werden, dass sich also eine derart einf lussreiche Sicht – diejenige Greenbergs, die es schaffte, den asiatischen Einf luss zu einer zwar notwendigen, 161 Es besteht jedoch – wie in III.1 angemerkt – eine Tendenz, xifang eher geografisch zu verstehen. 162 Vgl. Bert Winther-Tamaki, »The Asian Dimensions of Postwar Abstract Art. Calligraphy and Metaphysics«, in: Alexandra Munroe (Hg.), The Third Mind. American Artists Contemplate Asia 1860-1989, New York 2009, S. 145-198, S. 152. 163 Clement Greenberg: »›American-Type‹ Painting (1955)«, in: Clifford Ross (Hg.), Abstract Expressionism: Creators and Critics, New York, 1990, S. 235-251, S. 244 164 Winther-Tamaki bearbeitet vor dem Hintergrund eines »striking pattern of denying the relevance of Asian culture to American art« (Winther-Tamaki, Asian Dimensions, S. 145) die weitreichende Auseinandersetzung der amerikanischen abstrakten Künstler mit der ostasiatischen Schreibkunst und Philosophie. Er weist hier ausführlich die in Schriften und Interviews aufzufindenden Bezüge nach. Greenbergs ablehnende Haltung legt er als Ausdruck einer nationalistischen Tendenz einen einzigartig amerikanischen Stil der modernen Kunst, der die amerikanische Kunstszene bedeutender als die europäische werden lässt, zu schaffen, aus (vgl. ebd.).

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

jedoch unbedeutenden Fußnote im Schreiben, Lehren und Nachdenken über die moderne Kunst des Westens werden zu lassen – stark von der Lius unterscheidet, der das Entstehen der modernen westlichen Kunst aus der Auseinandersetzung mit Ostasien heraus als Tatsache darstellt, die keiner weiteren Erklärung bedarf. Wie oben dargelegt, sieht Liu also die Entstehung der modernen abstrakten Kunst des Westens in der Verbindung zum xieyi-Gedanken (dem ›Schreiben der Sinneshaltung‹) der klassischen chinesischen Malerei: Die Malereigeschichte des Westens konnte erst durch die Begegnung mit dem Denken Ostasiens die Richtung der Moderne einschlagen, die einen völligen Umbruch in der Entwicklung der Kunst bedeutete. An dieser Stelle ist die Selbstverständlichkeit, mit welcher Liu die abstrakte Kunst des Westens von der chinesischen klassischen Malerei her aufrollt, besonders herauszustellen. Dass Liu also nicht wie Greenberg im modernen künstlerischen Ausdruck des Westens nur eine äußerliche und zufällige Ähnlichkeit zu östlichen Gedanken sieht, wird besonders auch am Schreiben von der »xieyi modernen Malerei« des Westens deutlich: Liu sieht den Westen konkret das Konzept xieyi (›Schreiben der Sinneshaltung‹) nutzen als Ergebnis des Kulturaustausches, anstatt dies als zufälliges Phänomen von stilistischer Ähnlichkeit zu bezeichnen. Zwar findet sich eine Sicht, die den Einf luss der ostasiatischen Gedanken auf den Westen betont, vereinzelt auch in der westlichen, kanonisierten Kunstgeschichte, jedoch stellt sie eine Randnotiz in Bezug auf den Abstrakten Expressionismus und den Impressionismus dar und bezieht sich eher weniger auf die gesamte moderne Kunst, die ihre Entstehung in Lius Sicht dem Aufsaugen der »östliche[n] Kultur und d[er] philosophischen Gedanken« (4.6) verdankt.165 Interessant hieran ist wiederum, dass die Negation von Seiten Greenbergs oder Klines bei Liu nicht angesprochen wird, wodurch davon ausgegangen werden kann, dass die Richtung der westlichen Kunstgeschichtsschreibung, die die Auseinandersetzung mit Ostasien ausspart oder als unwichtig erachtet, in Taiwan damals nicht bekannt war oder rezipiert wurde166 und stattdessen die der ostasiatischen Ästhetik nahestehende kanonisiert wurden.167 165 Obgleich – besonders mit Blick auf die Impressionisten – die moderne Auseinandersetzung des Westens mit Ostasien immer mehr an Bedeutung gewinnt und immer häufiger auch Thema von Ausstellungen ist (als Beispiele seien hier in Deutschland die Ausstellung Monet, Gauguin, van Gogh … Inspiration Japan im Folkwang Museum Essen 2014 sowie 2017 die Ausstellung Ans andere Ende der Welt. Japan und die europäischen Meister der Moderne in der Staatsgalerie Stuttgart genannt), so ist die Standarderzählung der Kunstgeschichte noch weit entfernt von einem Blick, wie ihn Liu in seinem Text darlegt. 166 Auffällig ist, dass viele wichtige Publikationen zur westlichen Kunstgeschichte in Taiwan insbesondere abstrakte Werke zeigen, die leicht als in Auseinandersetzung mit ostasiatischer Schreibkunst heraus entstanden gelesen werden können. (Laut dem an der Kunstuniversität Tainan lehrenden Kunsthistoriker Chiang Po-shin werden Arbeiten, die sich solchermaßen lesen lassen, in taiwanischen Publikationen zur Kunstgeschichte des Westens stark betont.) 167 In Bettina Friedls Buchkapitel zur New York School wird auch Greenbergs Ablehnung besprochen. Friedl schreibt, dass Franz Klines »große schwarze Pinselstriche auf weißer Leinwand selbst in der japanischen Rezeption als abstrakte Variante von Kalligrafien gelten« (Bettina Friedl: »Die amerikanische Malerei zwischen 1670 und 1980«, in: Christof Decker (Hg.), Visuelle Kulturen der USA. Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika, Bielefeld 2010, S. 15-98, S. 75) und Greenberg sie trotzdem nicht als ostasiatisch beeinflusst einordnen möchte. Der Verweis

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So kam die Rezeption Ostasiens im Westen wieder ›zurück‹ nach Ostasien – einerseits über im Ausland Studierende, aber auch durch Ausstellungen und Reisen beispielsweise des französischen Kunstkritikers Michel Tapié168 und durch Übersetzungen westlicher Publikationen über chinesische/ostasiatische Kunst ins Chinesische.169 Ein solcher Einf luss wird in Lius Text sehr deutlich, nicht nur durch die Auswahl der Künstler oder Zitate von Wissenschaftlern. Lius Schreibstil und Betrachtungsweise legt nahe, dass die oben besprochene Analogisierung in Bezug auf das klassisch Chinesische auch ein Produkt der Auseinandersetzung Lius mit der westlichen modernen Auseinandersetzung mit Ostasien darstellt. Betrachtet man sein Schreiben von der »schwarz-weißen Schreibkunst« oder dem »Schreiben von Linien«, so erinnern diese Formulierungen stark an jene der amerikanischen abstrakten Expressionisten, wenn diese über Ostasien sprechen. Es scheint dann auch der westliche Bezug auf Ostasien zu sein, der Sichtweisen wie die, dass China ›das Abstrakte schon hatte‹, bef lügeln. Lius Auseinandersetzung mit der 1961 in Italien gegründeten Künstlergruppe Punto um den chinesischen/taiwanischen Künstler Hsiao Chin 蕭勤 – der, seit 1955 in Europa, für taiwanische Medien über die Entwicklung der Kunst berichtete – muss dabei besonders betrachtet werden. Über die Gruppe wurde im Sommer 1962 (also kurz vor der Veröffentlichung des Textes Vergangenheit – Moderne – Tradition) erstmals in Taiwans Medien berichtet: Auch wenn Liu 1963, nachdem er deren Bilder gesehen hat, enttäuscht berichtet, dass diese eigentlich nur Produkte der westlichen Tradition seien, nur geometrische Anordnungen auf der Leinwand, und den von ihnen ausgerufenen »chinesischen kontemplativen Geist« nicht erreichen würden,170 so beschreibt er doch auch die Aufregung, die schon alleine das Wissen um eine solche chinesisch-italienische Künstlergruppierung, die sich der Auseinandersetzung mit der chinesischen Tradition in der modernen Malerei in Taiwans Kunstszene auslöste. Der Einf luss auf die Entwicklung der modernen Malerei dessen, was in Bezug auf Ostasien im Westen zu jener Zeit geschah, darf also nicht unterschätzt werden, war dies doch ein bedeutender Auslöser für die Auseinandersetzung mit der ›eigenen Tradition‹. Auch wenn Liu den Vergleich zwischen der modernen abstrakten Malerei des Westens und der traditionellen ostasiatischen Schreibkunst nicht hauptsächlich stilistisch angeht, sondern von den zugrundeliegenden Gedanken zum Kunstschaffen ausgeht, so ist doch die visuelle Ähnlichkeit sicherlich ein Aspekt, der die Entstehung von Lius Sichtweise beeinf lusste. So scheint es auch kein Zufall, dass Liu ausgerechnet in der abstrakten Malerei eine ideale künstlerische Schaffensform sieht, ist es doch – wie sein Blick auf die westlichen abstrakten Künstler zeigt – hierin möglich, seine Ausbildungen in klassischer chinesischer Malerei und in westlicher Malerei zu einer in auf die japanische Rezeption als Autorität in der Definition dessen, was denn nun als ›abstrakte Variante von Kalligrafie‹ gelten kann, greift hier natürlich zu kurz, denn es muss gefragt werden, wodurch diese informiert ist und wie diese Lesweise sich letztlich als in Japan verbreitete Form der westlichen Kunstgeschichte formierte. Doch ist Friedls eher beiläufige Notiz ein interessantes Beispiel für die Rezeption von Einflussgeschichten und von Autoritätszuschreibungen in der Definition – insbesondere, wenn diese erneut hervorgeholt werden. 168 Vgl. Winther-Tamaki, Asian Dimensions, S. 154. Durch Tapiés Reise nach Japan wurde dort eine abstrakte Welle ausgelöst. 169 Vgl. Sullivan, The meeting of Eastern and Western Art, S. 169. 170 Vgl. Liu Kuo-sung, Cong pangtu yizhan, S. 75.

III. Liu Kuo-sung und die Suche nach einer Weltkunst

seinen Augen modernen und zukunftsweisenden, »die unveränderliche menschliche Natur« (5.29) ausdrückenden Weltkunst zu verbinden. Unter diesem Aspekt muss hervorgehoben werden, dass die moderne Malerei, die von den modernen abstrakten Malern – egal ob in China oder im Westen – geschaffen wird, also keine Kopie der östlichen Tradition ist, sondern erst aus der modernen Auseinandersetzung mit selbiger entstanden ist: Eine Art Beweis, dass moderne Kunst ›eigentlich chinesisch‹ sei, spielt bei Liu (noch) keine Rolle.171 Interessanterweise ist es Greenberg, der eine nationale Abgrenzung zieht und den Beweis der ›Reinheit‹ der westlichen Kunst sucht und somit die Moderne als Epoche des Kulturaustausches völlig ignoriert. So sucht Greenberg eine amerikanische Kunst, während Liu im Abstrakten eine moderne Weltkunst, die die Tatsache des geschehenden modernen Ost-West-Kulturaustausches ref lektiert und von dieser gemeinsamen Erfahrung aus schafft, sieht. Während Liu den Austausch betont und von einer aktiven Auseinandersetzung spricht, spricht Greenberg vom ›Einf luss‹. Während Liu so einen offenen, interessierten und forschenden Blick ausdrückt, scheint bei Greenberg mehr die Sorge auf, nicht ›neu‹ genug zu sein, ›Kopie‹ zu sein.

3.8 Resümee »Aber das Schaffen muss die Tradition durchdringen, erst dann kann man die unveränderliche kulturelle Essenz der chinesischen Malerei verstehen. Und ebenso muss es die westliche Tradition durchdringen, erst dann kann man die unveränderliche menschliche Natur der Weltkunst verstehen. Gleichzeitig müssen wir die Errungenschaften jeden Ortes der Welt in uns aufsaugen und sie zu unserem Nährstoff machen. » (5.28ff.) In diesem Zitat, das am Ende des Textes steht, kommt noch einmal der universale Charakter, den Lius Sprechen von einer ›Weltkunst‹ hat, zum Vorschein. Es verweist auf eine Vorstellung von Kunst als etwas, das dem Menschsein inhärent ist. Gleichzeitig wird hier auch noch einmal deutlich, dass ›Welt‹ auch konkret geografisch zu verstehen ist und Liu sich eingebettet in die Weltkunstszene sieht und eine Kunst anstrebt, die in der Welt Bestand haben kann und Teil der Welt ist. Lius Kunstverständnis zeigt sich hier also als geprägt von der Idee des Zusammenkommens: Die Tradition des Westens muss eine ebenso große Rolle spielen wie die tiefe Auseinandersetzung mit der chinesischen Tradition. Die Verbindung zwischen beiden Traditionen erst schafft eine Moderne, die nicht mehr entwirrt werden kann und es auch nicht mehr werden soll. So sucht Liu die Verbindung und sieht gleichzeitig die Verbindung als historischen, hybriden Hintergrund, auf dem seine Überlegungen aufbauen: Sie sind in der Moderne in Auseinandersetzung mit dem aus einer Abgrenzung gegenüber der Modernisierung und dem Einf luss des Westens erwachsenen Suche nach dem traditionellen China der Traditionalisten Chinas/Taiwans entstanden und in Auseinandersetzung mit der Rezeption des klassischen Chinas durch den Westen. Die von Liu gesuchte chinesische moderne Kunst, die Teil der Weltkunst sein kann, entsteht also vor dem Hintergrund des modernen Zusammentreffens von Westen und Osten. Die Dynamik dieses Zusammentreffen schafft für Liu die Möglichkeit, das 171 Auf das ›Noch‹ und die sich entwickelnde Abgrenzung gegenüber dem Westen komme ich in Kapitel VI zurück.

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»Wissen des Ostens« (2.40) wieder hervorzuholen. Hervorzuheben ist besonders im Kontext dieser Arbeit noch einmal, dass also kein Ablehnen einer als westlich empfundenen Moderne geschieht. Nicht das Ablehnen des Modernen kann zum »Wissen des Ostens« führen, sondern im Gegenteil: Erst durch das Öffnen gegenüber den modernen Gedanken und dem Aufnehmen derselben kann das »Wissen des Ostens« wieder hervorgeholt werden. Das Moderne ist also etwas, das erst im Zusammentreffen entsteht und keine feste Größe darstellt, nichts, was aus dem Westen importiert oder hergeholt wird, sondern eine Geisteshaltung, die aus dem Zusammentreffen entsteht und daraus schöpft, durch die Tradition in die Zukunft weist. Auch wenn im Text immer wieder durchzuscheinen scheint, dass Liu eine explizit chinesische Moderne suche, die einzig auf der chinesischen Tradition auf baut und dies auch problemlos in den Text hineingelesen werden könnte, so muss doch Lius Offenheit gegenüber dem Hybriden und sein offener Umgang mit nicht-chinesischen Einf lüssen hervorgehoben werden. Es ist nie ein einfacher Bezug auf chinesische Konzepte, von denen er spricht, es ist immer eine Verbindung mit der modernen Erfahrung, mit dieser »heutigen Zeit […], in der sich die Umgebung der chinesischen Malerei so verändert.« (3.42) Findet sich nicht genau hier jene immer notwendige Auseinandersetzung Chinas/ Taiwans (Ostasiens) im Umgang mit dem Modernen als etwas, das nicht ignoriert werden kann und in die Überlegungen zur Kunst immer einbezogen werden muss (und was im ›Westen‹ so einfach ausgespart werden kann)?

IV. Das Begehren der Moderne. Chen Chuan-xings 陳傳興 Analyse der Kunstszene der beginnenden 90er Jahre 1. Übersetzung von Chen Chuan-xings 1992 veröffentlichtem Text (*) Die unzulängliche Darstellung von ›Moderne‹1 und das Sprechen vom Bewusstsein Die Situation der ›vor‹postmodernen Kunst Taiwans in den 1980er Jahren [1.] [1] Das gesamte Jahr 1991 über kreisten alle Ausführungen der taiwanischen Kunstszene fast ausnahmslos um die gegenwärtig im Umkreis der Kunst2 zu findende Meta Die Endnoten sind im Originaltext enthalten, Fußnoten hin­gegen sind Anmerkungen der Verfasserin. Der Übersetzung liegt der Text mit dem Originaltitel ›現代‹ 匱乏的圖說與意識修辭 – 一九八○ 年代台灣之 ›前‹ 後現代美術狀況 [›xiandai‹ kuifa de tushuo yu yishi xiuci – 1980 niandai taiwan zhi ›qian‹ houxiandai meishu zhuangkuang] zugrunde, der im September 1992 in der Kunstzeitschrift Hsiung Shih Art Monthly veröffentlicht wurde. Die Neuveröffentlichung von 2009 in Chens Textsammlung Ist ein Baum länger als eine Nacht? weicht in einigen Fällen ab, ist je­doch nicht als überarbeitete Neufassung gekennzeichnet. Soweit es für die vorliegende Arbeit nicht von Bedeutung ist, wird auf diese Abweichungen nicht eingegangen.

(*)

1 Das hier genutzte xiandai 現代 beschreibt bei Chen ›Moderne‹ und ›modern‹ (adjektivisch) als über­ greifendes Konzept, das auch die Moderne als Zeitabschnitt, als Epoche bezeichnet. Das diese Kom­ ponenten beinhaltende xiandaixing 現代性 (›die Moderne‹, aber auch ›das Moderne‹, ›die Modernität‹) trägt hingegen eine klarere ideologisch geprägte Referenz auf die europäische historische Moder­neIdee mit sich. Dies zeigt sich besonders im letzten Absatz, in dem Chen »›Aufklärung‹ und ›Rationa­lität‹ sowie ›Subjekt-Bewusstsein‹, ›Bewusstsein‹, ›Autonomie‹ etc.« als Charakteristika von xiandaixing definiert. Auch das in Chens Melancholischen Dokumenten beschriebene Konzept der ›belated modernity‹ nutzt im Chinesischen xiandaixing. Zur Übersetzung von xiandaixing mal als ›die Moderne‹, mal als ›das Moderne‹ oder ›Modernität‹ muss angemerkt werden, dass xiandaixing grammatikalisch auf ›Modernität‹ verweist, jedoch auch als ›die Moderne‹ übersetzt wird, was sich auch durch die oben genannten Nutzungszusammenhänge er­ schließt. xiandaixing scheint eine Übersetzung des und Anlehnung an das englische ›modernity‹ zu sein, das ebenfalls in der deutschen Übersetzung diese Zweideutigkeit in sich trägt. (Siehe auch IV.1 Fußnoten 8,21, sowie IV.3 Fußnote 99.)­ 2 Es wird schon hier deutlich, dass Chen das beispielsweise in der Überschrift genutzte meishu und das an dieser Stelle genutzte yishu nicht unterscheidet und mit beiden Termini gleichermaßen die (Bildende) Kunst [zur Nutzung von Bildender Kunst/Kunst, siehe Einleitung] und die diese schaffende und diskutierende Kunstszene beschreibt. Auch beschreibt er mal die Kunstszene als meishujie, dann wie-

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reflexion und Bewusstseinskritik. [2] Zwei große Problemkomplexe bilden dabei das Zentrum, auf das sich alle Anmerkungen fokussierten: [3] (1) die Frage der Subjektivität des Schaffenden (2) die verworrenen Verflechtungen von Kunst mit dem Bewusstsein der eigenen Erde (bentu)3 und dem Taiwan-Bewusstsein. der als yishujie. Trotzdem soll an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass yishu auch genutzt wird, um die Gesamtheit der Künste zu bezeichnen (also neben der Bildenden Kunst auch Musik, Darstellende Kunst etc.), was mit der nur auf die Bildende Kunst/Malerei anwendbare Bezeichnung meishu ausgeschlossen ist. Eine solche Nutzung findet sich in Chens Text in seiner Zusammenfassung von Habermasʼ Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Eine synonyme Nutzung beider Termini findet sich auch in den anderen Texten der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans – z.B. im ersten Zitat Ni Tsai-chins. Im Folgenden werden beide Termini ohne weitere Anmerkung daher als ›Kunst‹ übersetzt. Angemerkt werden muss an dieser Stelle jedoch, dass die sich eher auf Malerei und die klassische Bildende Kunst beziehende Bezeichnung meishu zunehmend der Bezeichnung yishu Platz macht. Diese Entwicklung ist besonders seit den beginnenden 1980er Jahren zu beobachten, als vor allem die Installationskunst an Bedeutung gewann (besonders durch die Einführung durch den Künstler Lin Shou-yu/ Richard Lin). Während das 1983 eröffnete Taipei Fine Arts Museum noch die meishu im Namen führt, wurde das 2001 eröffnete Museum of Contemporary Art Taipei mit ›dangdaiyishuguan‹ benannt. Neuere Begriffsprägungen zur Kunst nutzen yishu, nicht mehr meishu, so beispielsweise shijue yishu (›visual arts‹). Weiter stellt die Bezeichnung ›Kunst und Kultur‹ im Folgenden eine Übersetzung der Zeichenkombination wenyi 文藝 dar. 3 Bentu 本土 bezeichnet wörtlich übersetzt ›Wurzel und Erde‹ oder auch ›diese Erde/dieser Boden‹. Es finden sich verschiedene Übersetzungen (ins Englische) für dieses Konzept: So übersetzt beispielsweise Chen Kuan-hsing in Asia as method ›bentuhua‹ 本土化 als ›nativisation‹. ›Native (native soil) conciousness‹ übersetzt Liao Hsin-tien im englischen Abstract zum chinesischen Text Hesitating to Approach the Homeland: three Facets of Native Consciousness in the Development of the Modern Taiwan Visual Art (Liao Hsin-Tien, Jinxiang qingqie: Taiwan jinxiandai shijue yishu fazhan zhong bentu yishi de san zhong mianmiao 近 鄉情怯: 台灣近現代視覺藝術發展中本土意識的三種面貌 [Hesitating to Approach the Homeland: three Facets of Native Consciousness in the Development of the Modern Taiwan Visual Art], in: Router: A Journal of Cultural Studies, 3/2006, Nr. 2, S. 167-209 – Text ist identisch mit Liao Hsin-Tien, Chuncui/ Hunza). Auch die Übersetzung des ›Lokalen‹ findet sich, das im Kontrast zum Globalen verstanden wird. Wu Mali schreibt im Interview mit Hu Yongfen, dass sie lieber zaidi 在地als bentu nutze, da dies nicht so national konnotiert sei, wie das melancholische, nostalgische und gefühlsbetonte bentu. (Vgl. Hu Yongfen 胡永芬, Taiwan meishu ji qi yishi de ›weizhi‹. Wenjiandazhan, K18 zhihou de sisuo zu kaoliang 台灣美術及其意識的 ›位置‹. 文件大展, K18之後的思索與考量 [Die Kunst Taiwans und die ›Position‹ ihres Bewusstseins. Überlegungen nach documenta und K18], in: Ye Yujing, Taiwan meishu zhong de taiwan yishi, S. 255-272, S. 262.) Bentu, wie es in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein diskutiert wird, sieht der Künstler Mei Dean-E als Nachfolger der literarisch-künstlerischen Heimaterde-Bewegung (xiangtu yundong 鄉土運動) der 70er Jahre, in der zuerst ein Taiwan-Bewusstsein geschaffen worden sei. Der Slogan ›Zurück zum bentu‹ (huigui bentu 回歸本土), der in der Kunstszene der 90er Jahre gerufen würde, würde zurückgehen auf die Errungenschaften der Heimaterde-Bewegung der 70er und den Kampf um die Selbstdefinition weiterführen (vgl. Mei Dean-E, Taiwan xiandai yishu bentu yishi de tantao 台灣現代藝術本土意識的探討 [Diskussion des Bewusstseins der eigenen Erde (bentu) der modernen Kunst Taiwans], in: Hsiung Shih Art Monthly, Nr. 249, 11.1991, S. 110-113). Doch muss das in der Heimaterde-Bewegung der 70er Jahre besprochene xiangtu 鄉土 vor allem als künstlerisch genutztes Gefühl gegenüber einer konkret fassbaren Landschaft/Heimat verstanden werden, als nicht-politisch einen nostalgisch-poetischen Bezug auf eine scheinbar im Verloren begriffene Heimat betonend, während bentu konzeptioneller die Vor-

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

[4] Das Auftauchen der neuen Literati-Malerei und der Zen-Malerei ist Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft Taiwans einer pluralistischen, von Widersprüchen geprägten Zeit eines kulturellen Aufruhrs gegenübersteht und nicht die Kraft hat, ein Subjekt-Bewusstsein der Kunst Taiwans aufzubauen.i [5] Umfassend betrachtet hat der Ruf danach, ein Subjekt-Bewusstsein Taiwans aufzubauen, zugenommen: in der Politik wird die Unabhängigkeit und Souveränität betont, in der Geschichtsforschung wird nach einem unabhängigen Interpretations-recht gestrebt, im Bereich der Kultur erwacht das Streben nach Subjektivität. [6] Unter dem Einfluss dieses Trends wird auch in der Forschung zur Kunsttheorie der Aufbau der Subjektivität vorangetrieben. [7] Genauer gesagt, aus der selbstständigen Geschichtsanschauung heraus wurde die Fähigkeit einer autonomen Interpretation der eigenen (bentu) Kunst entwickelt.ii [8] Seit im Westen Descartes das ›Subjekt‹ in das philosophische Nachdenken einführte, ist das Problem des ›Subjekts‹ zu dem ›Moderne‹ 4 bestimmenden Symbol geworden. [9] Nachdem es die Aufklärung erfahren hatte und von Hegel bestärkt wurde, wurde ›die Modernität‹ die nach außen sichtbare Erscheinung der ›Subjektivität‹. [10] Grundsätzlich ist das zum Denken fähige ›Subjekt‹ selbsttätig und nicht passiv und wird nicht einfach als eine Reflexionsfläche wahrgenommen. [11] Erstaunlicherweise wird in beiden oben zitierten Absätzen, die die Meinung zweier Generationen über Kunst repräsentieren, unisono die Fähigkeit zur Selbsttätigkeit des Subjekt-Bewusstseins missverstanden als ein Phänomen, das als Reaktion auf den sich wandelnden äußeren Gesamtzusammenhang entsteht. [12] Das autonome Subjekt wird zu etwas stellung des ›eigenen Landes‹, auch in Abgrenzung zu Festlandchina, bezeichnet. Der Begriff bentu kam nicht erst im Zuge der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein auf, wurde hier aber zu einem national-konnotierten Konzept. Das bentu der beginnenden 90er Jahre ist vor allem durch die quasi Synonymsetzung mit Taiwan (im Sprechen vom ›Taiwan-Bewusstsein‹ oder der ›Taiwan Kunst‹) geprägt (so übersetzen bspw. Thomas Fröhlich und Yishan Liu in Taiwans unvergänglicher Antikolonialismus. Jiang Weishui und der Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft den Begriff bentu liliang 本土力量 als »taiwanesischstämmige Kräfte« [vgl. Thomas Fröhlich; Yishan Liu (Hg.), Taiwans unvergänglicher Antikolonialismus. Jiang Weishui und der Widerstand gegen die japanische Kolonialherrschaft, Bielefeld 2011, S. 16]). Hierdurch wird vor allem der Gedanke der Nation hervorgehoben. Dies zeigt sich auch im unablässig hervorgehobenen Bezug auf die politische Situation Taiwans – vor allem auf das Ende des Kriegsrechts 1987 – und der damit einhergehenden ›Erfindung‹ Taiwans als Nation (oder zumindest nationenähnlicher Gemeinschaft und nicht mehr nur als Provinz Chinas). Bentu hat in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein demnach die starke Bedeutung des ›Eigenen‹ (des Ureigenen der Heimat), des ›Abgegrenzten‹, dessen, was anders ist, als das Von-Außen-Kommende. [Die Verbindung zur Idee der ›Tradition‹ wird in VI.3/4 besprochen.] Der starke Bezug auf die Nation Taiwan macht das als ›national verstandene Heimaterde‹ zu verstehende bentu aus. Dass es in der Debatte ein eigenständiges Konzept darstellt, zeigt sich vor allem am Sprechen von der bentu meishu oder der bentu wenhua, der ›Eigenen Kunst/Kultur‹ als feststehender Begriff, der von Chen meist in Anführungszeichen gesetzt wird. Im Folgenden wird bentu in Bezug auf die Debatte kontextabhängig als das ›Eigene‹/die ›Eigene Erde‹ übersetzt. Die Form ›Bewusstsein der eigenen Erde (bentu)‹ für bentu yishi 本土意識 wurde gewählt, um den stark ideologisierten Charakter des Begriffs hervorzuheben. Die Formen bentuhua und bentuxing werden als Lokalisierung und Lokalität übersetzt. Aufgrund des starken konzeptionellen Charakters, den bentu in der Debatte hat, bleibt in Klammern der Begriff in der lateinischen Umschrift (Hanyu Pinyin) stehen. (Das bentu in der Debatte zu Beginn der 1990er Jahre wird auch in der Nutzung Gong Jow-jiuns erneut diskutiert, siehe daher auch die Anmerkung zur Übersetzung in V.1 Fußnote 66.) 4 Im Original hier xiandai 現代, siehe Fußnote 1.

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gemacht, das auf die sich ständig verändernde kulturell-gesellschaftliche Situation angemessen reagieren muss. [13] Ein solches, von einer geodeterministischen kulturellen Geschichtsanschauung definiertes Subjekt, ist absolut nicht Subjekt, sondern ein gesellschaftliches ›Gruppen-Ich‹ 5. [14] So wird dieses weitverbreitete Missverständnis fortgeführt. [15] Das Problem der ›Subjektivität‹ ist in der gegenwärtigen Kunstszene Taiwans schon fast zu einem nicht mehr zu entwirrenden Synonym für ›Taiwan(Subjekt-)Bewusstsein‹ geworden, aus dem vielerlei Vorurteile und Verständnisfehler abgeleitet werden. [16] Am Schlimmsten hierbei ist, wie die gesellschaftliche Variable ›politische Erklärung des Endes des Kriegsrechtes‹ 6 unbestritten zum Hauptgrund des Wandels kultureller Phänomene erklärt wurde. [17] Es wird vollkommen ignoriert, wie die vielfältigen Faktoren, die die Kunst selbst (und andere kulturelle Aktivitäten) in sich trägt, sich gegenseitig beeinflussen und entwickeln. [18] Dieses Phänomen zeigt, dass die ›überpolitisierte‹ Soziokultur schon sehr tief in die Kunst und Kunstszene eingedrungen ist und diese nicht nur beeinflusst, sondern ihre Art zu denken und das Gerüst ihrer heutigen und weiteren Entwicklung bestimmt. [2.] Die doppelte Funktion der ›Überpolitisierung‹ und des ›Anti-Modernismus‹ [1] Versteckt unter dem überpolitischen Denken – und es ist nicht irgendeine Überpolitik, hier muss besonders auf ihre Besonderheit hingewiesen werden: das Betonen der regionalen Charakteristika und der Lokalität (bentuxing) – verblasste das Problem der ›Avantgarde/Moderne/Postmoderne‹, die ohne Unterlass in den westlichen künstlerischen Gedankenströmungen diskutiert werden, und wurde zu einem zweitrangigen Problem, zu einem trivialen Spiel des akademischen Diskurses. [2] Und so ist auch aus diesem Grunde festzustellen, dass die Kunstszene Taiwans Ende der 80er Jahre nicht im selben Maße wie zu Beginn der 80er Jahre begeistert und ohne weiter nachzudenken westliche neue Gedankenströmungen und neue Kunst umarmt und annimmt. [3] Taiwans Künstler zeigen angesichts dieser neuen Dinge aus dem Westen jeglichen Grad der Reaktion von absoluter Ablehnung und extremer Verneinung bis zu Gleichgültigkeit und Zweifel. [4] 1986 begann die Hsiung Shih Art Monthly in größerem Stil Übersetzungen zu ›postmodernistischen‹ Gedanken vorzustellen (ein umfassendes Werk, wie das von Luo Qing 羅青 übersetzte The Postmodern Moment: A Handbook of Contemporary

5 Der hier von Chen verwendete Terminus ›qunwo‹ (群我) verweist vermutlich auf die Begriffsprägung von Paul Parin et al. (1963), die hiermit »eine Modifikation des ›Ich‹ der Freudschen Metapsychologie« beschreiben. Die Autonomie der Ich-Funktionen gegenüber ›Es‹ und ›Über-Ich‹ ist demnach nur innerhalb der Gruppe gewährleistet: »Man könnte diese Verhältnisse auch so formulieren, daß die Person ein nicht-autonomes Ich hat, das mit dieser Aggression nicht fertig wird, und das nur dann ›neutralisieren kann‹, also wie ein autonomes Ich funktioniert, wenn eine andere Ich-Funktion (die Identifikation mit dem Kollektiv im Ritual) abgelaufen ist.« (Paul Parin; et al.: Aspekte des Gruppen-Ich. Eine ethnopsychologische Katamnese bei den Dogon von Sanga (Republik Mali), in: Schweizerische Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwendungen, Jg. 27, Nr. 2, 1968, S. 133-154, S. 137f.; online verfügbar unter: http:// paul-parin.info/wp-content/uploads/texte/deutsch/1968a.pdf, Stand 20.11.2016.) 6 Das 1947 als Antwort auf den ›Zwischenfall vom 28. Februar‹ verhängte Kriegsrecht festigte die autoritäre Herrschaft der Kuomintang. Unter dem anhaltenden Einfluss der Demokratiebewegung seit den 1970er Jahren wurde es 1987 aufgehoben und so der Weg in eine demokratische Gesellschaft geebnet. Vgl. z.B. Fleischauer, Der Traum von der eigenen Nation.

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Innovation in the Arts7 wurde von November an seriell veröffentlicht). [5] Danach erschienen fortlaufend ähnliche Artikel (egal ob kurze Einführungen oder theoretische Analysen) in verschiedenen Kunstzeitschriften oder in den Massenmedien. [6] Obgleich über einen so langen Zeitraum und so intensiv eingeführt, brachte die Gedankenströmung des ›Postmodernismus‹ in der Kunst (meishu) Taiwans keinerlei konkrete oder umfassende Reaktion hervor. [7] Man kann sagen, dass diese Art der gleichgültigen, entfremdeten Haltung gegenüber von außen kommenden Gedankenströmungen der Haltung des restlosen Verfechtens der westlichen ›Modernismus‹ 8-Gedankenströmungen, die in den 1950ern und 1960ern von Fifth Moon, der Eastern Painting Group oder der Zeitschrift Wenxing vertreten wurden, absolut entgegengesetzt ist.9 [8] Doch nicht nur verglichen und kontrastiert mit der Form des Aufnehmens westlicher Gedankenströmungen der Kunstwelt Taiwans vor 20, 30 Jahren, entsteht ein Bruch zwischen beiden, sondern auch verglichen mit den beginnenden 80er Jahren, als eine große Zahl Künstler, die im Ausland studiert hatten, nach Taiwan zurückkehrten, deren Lehre westliche künstlerische Gedankenströmungen einführte und eine erneute Hochzeit schuf: [9] Der Trend des Abstraktionismus in den 60er Jahren beruhte größtenteils auf fragmentarischen und unvollständigen Informationen. [10] Zao Wou-Kis Erfolge reichten aus, um die Maler zu motivieren, voller Kraft nach vorn zu stürmen. [11] Schwarz-weiße Fotografien Jackson Pollocks*10 reichten, die Imaginationskraft der Maler zu stimulieren.11 [12] Die neue Abstraktion der 80er Jahre hingegen wurde ausgehend von den persönlichen Erfahrungen der Lehrenden gelehrt: von der Inspiration und der Idee bis zum Ergreifen der Form. [13] Die Gedankenströmungen der westlichen modernen Kunst erreichten erneut Taiwan, die 60er Jahre wurden bei Weitem übertroffen.iii 7 Von November 1986 (189. Ausgabe) bis Februar 1987 (192. Ausgabe) veröffentlichte Luo Qing seine Übersetzung des als Darstellung der wichtigsten Etappen der Postmoderne (houxiandai jieduan dashi nianbiao 後現代階段大事年表) übersetzten The Postmodern Moment von Stanley Trachtenberg in der Hsiung Shih Art Monthly. 8 Der Terminus xiandaizhuyi 現代主義 ist in Taiwans Kunstszene eine Übersetzung des englischen ›modernism‹ und – so beispielsweise in Chens documenta-Texten – des französischen ›modernisme‹ und liegt daher von der Bedeutung in der Kunst nahe an der ›ästhetischen Moderne‹ oder der ›klassischen Moderne‹. In Taiwans Kunstszene – wie sie sich hier in den genutzten Zitaten widergespiegelt findet – wird ›Modernismus‹ vor allem für die Beschreibung der abstrakten Kunst der 1950/1960er Jahre genutzt und verweist damit vor allem auf eine stilistisch-formale Betrachtung von Kunst. Diese implizite Anlehnung an Greenbergs Modernismuskonzeption geht aber über das Stilistische nicht hinaus – die Frage, wie man mit der Moderne (der Kunst) umgeht, welche Bedeutung diese für das Schaffen hat, ist in dieser stilistischen Auffassung der Kunstszene Taiwans nicht zu finden. Chen hingegen definiert ›Modernismus‹ nicht nur als einen abgeschlossenen künstlerischen Stil, sondern ›Modernismus‹ muss auch als verdichtete Moderne, als die Auseinandersetzung mit den Werten und Paradigmen der Moderne (bezogen auf Kunst) verstanden werden. (Anzumerken bleibt, dass Chen nicht eindeutig zwischen ›modern‹ und ›modernistisch‹ unterscheidet, auch wenn sich kritische Anmerkungen Chens zur Einordnung der Kunstszene finden, siehe IV.1 Fußnoten 1, 21, sowie IV.3 Fußnote 99.) 9 Zu den Malereigruppen Fifth Moon und Eastern Painting Group sowie der Zeitschrift Wenxing, siehe Kap. III. 10 Die im Folgenden mit * gekennzeichneten Namen/Titel sind im Original in Klammern in lateinischen Buchstaben, bzw. mit dem Originaltitel angegeben. 11 Zur Bedeutung Zao Wou-Kis und Künstlern wie Jackson Pollock für die Künstler der 60er Jahre, siehe auch Kap. III, sowie zur kritischen Diskussion dieser Einschätzung Kap. VI.

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[14] Der oben zitierte Text zeigt, dass die absolute Trennung der 80er Jahre in zwei nahezu völlig verschiedene Zeitabschnitte nicht nur durch politische Faktoren (oder die Veränderung der wirtschaftlichen Struktur) bestimmt wurde, sondern auch von anderen inneren Faktoren beeinflusst wurde. [15] Wenn die oben beschriebene Einschätzung korrekt ist, dann ist sehr klar erkennbar, dass die Situation der Kunst Taiwans zu Beginn der 80er Jahre – von der Form ihres Schaffens, der Art zu Denken und den Idealen, die sie verfolgt – eine kleine aber perfekte Variation und Hochschätzung des Modernismus Taiwans der 60er Jahre darstellt. [16] Der Unterschied besteht darin – die Variationen im zeitlich-räumlichen Wandel sind natürlich ein Grund, aber das muss nicht gesondert betont werden –, dass der Modernismus Anfang der 80er Jahre nicht ›kritisch und analysierend‹ 12 ist. [17] Das Lernen und Lehren geschieht nicht mehr über das ›Kopieren‹ des Imaginierten und Ersehnten der Bilder, sondern wird von Lehrern weitervermittelt, durch Augenzeugen, durch die Übungspraxis. [18] Einfach gesagt ist der Modernismus zu Beginn der 80er Jahre eine Art ›akademischer Modernismus‹ (xueyuan xiandaizhuyi 學院現代主義). [19] Er domestiziert den illusorischen und mit starker Sehnsucht besetzten ›imaginierten Modernismus‹ (xiangxiang xiandaizhuyi 想 像現代主義)13 (oder diesen ›wilden Modernismus‹) der 60er Jahre. [20] Die Beziehung von ›System‹ und ›Macht‹ ersetzt die vorherige ›Kritik und Analyse‹ (und das ›Wagnis‹). [21] Das ist der Grund dafür, dass Taiwans Kunstwelt Anfang der 80er Jahre begann, die neuen Akademien (das National Institute of the Arts und neue Kunstfachbereiche) und das Kunstmuseum, diese zwei Systemsymbole, aufzubauen. [22] Man kann deutlich sehen, dass der Weg des ›Modernismus‹, den Taiwans Kunstszene von den 60er Jahren bis zu Beginn der 80er Jahre – durch die Komplikationen der 70er Jahre hindurch – gegangen ist, ein kontinuierlicher Weg des Modernismus war, heraus aus der Leere, dem Wilden, dem Dornigen. [23] Ist das schon der Beweis der Lokalisierung (bentuhua) des Modernismus? [24] Ja und nein. [25] Ja, denn er ist systematisiert worden, ist in das System eingesickert und ist zu einem Teil dessen Gerüsts geworden. [26] Nein, denn der Prozess der Systematisierung dieses ›Modernismus‹ ist überhaupt nicht durch den Prozess der Spekulation, der Dialektik und des Widerstreits hindurch vollendet worden.14 [27] Das liegt auch daran, dass in Taiwan das Problem des ›Modernismus‹ nie offen und direkt diskutiert wurde und nie gründlich darüber nachgedacht wurde. [28] Ganz zu schweigen davon, dass nicht diskutiert wurde, auf welche Art der widersprüchliche Prozess des verworrenen Erscheinens des ›Modernismus‹ das Gefühl des Zweifels an diesem Ort zeigt, gezeigt hat und zeigen wird.15 [29] Darum sind jegliche Phänomene des ›akademischen Modernismus‹, die zu 12 Die Übersetzung ›kritisch und analysierend‹ für das normalerweise nur als ›kritisch‹ übersetzte pipan 批判 wurde hier (und im Folgenden) gewählt, um Chens Kantschen, aufklärerischen Kritikbegriff zu betonen. pi beschreibt hierbei die Kritik, pan ist das (Be-)Urteilen, Unterscheiden. 13 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Benedict Andersons 1983 veröffentlichtes Imagined Communities als xiangxiang de gongtongti 想像的共同體 ins Chinesische übersetzt wurde und sich hier also eine ähnliche Vorstellung des ›Imaginierens‹ ausdrückt. 14 Gong zitiert diesen Absatz, beruft sich aber auf die Neuveröffentlichung des Textes 2009 in Ist ein Baum länger als eine Nacht?. In der Neuveröffentlichung findet sich an dieser Stelle die Einfügung: quefan lishixing 欠缺歷史性 (»Es fehlt [ihm] Geschichtlichkeit.«). 15 Auch an dieser Stelle weicht der Text in der Neuveröffentlichung ab. Gong zitiert daher yihuo keti 疑惑 課題 (»Das Problem des Gefühls des Zweifels«) nach jener.

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Beginn der 80er Jahre in der Kunstwelt Taiwans auftauchten, lediglich eine ohne Bedacht geschehene Suche nach einer Antwort auf das Problem des Wilden der 60er Jahre und es wurde als feststehende Tatsache gesehen, dass erstere eine Nachfolge und Verbesserung sind. [30] Das unreflektierte Folgen dieses Kreislaufs hatte zum Ergebnis, dass der ›Modernismus‹ eine Art unsichtbarer blinder Fleck wurde. [31] Dieser brachte noch mehr Imagination, Rückschläge16, Sehnsucht und Begehren zum Erstarren. [32] Der Modernismus der beginnenden 80er Jahre in Taiwan kann nur eine Form sein, eine Tatsache. Aber er kann auf keinen Fall zu einer Frage17 werden. [33] Denn wenn er zur Frage wird, versetzt er die Menschen in Angst und Schrecken, weshalb er konsequent und absolut gemieden wird. [34] Es ist ein einseitiger und unvollständiger Modernismus. [35] Man kann sagen, dass der Bruch – Überpolitik, Historismus, Bewusstsein der eigenen Erde (bentu) (Taiwan-Bewusstsein), Autonomie, Anti-Theorie – der in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf dieser Grundlage entstand, eine vergleichsweise logische und vorhersehbare Folge ist. [36] Die bröckelnde politisch-gesellschaftliche Struktur forciert und kondensiert lediglich diese Art von vorher schon latent existierender, unaussprechlicher, die Frage des ›Modernismus‹ fürchtender Haltung. [37] Der Trost und Schutz des ›Gruppen-Ichs‹ und der ›Geschichte‹ waren in einer chaotisch sich verändernden Gesellschaftsordnung immer schon die beste Wahl. [38] Besonders, da die Bedrohung durch die vorherigen, früher schon vorhandenen, unmittelbaren Probleme ununterbrochen weiterging. [39] Man könnte sagen, dass es unter diesen speziellen Umständen unabwendbar war, dass zum Ende der 80er Jahre in Taiwans Kunstwelt eine realistische Tendenz, wie sie sich unter anderem in der Debatte um das ›Taiwan-Bewusstsein‹ zeigt, aufkam und sie ganz selbstverständlich das Problem des ›Modernismus‹ unterdrückte und es so zu einem zweitrangigen und schließlich ganz vergessenen Problem wurde. [40] Wenn man von dieser Perspektive eines ›Anti-Modernismus‹ über die Kunstwelt Taiwans der 80er Jahre nachdenkt, kann man sehen, dass unter der Oberfläche der separaten Trennung in Abschnitte eigentlich ein andauernder dialektischer Widerspruch besteht: das Problem des ›Modernismus‹ zu meiden. [41] Anfang der 80er Jahre sollte das Problem des ›Modernismus‹ durch ›Systematisierung‹ und ›Tatsachen‹ gezähmt werden, aber es war immer aktiv, und brachte so unentwegt subtile Forderungen und Fragen hervor,18 welche die Menschen unablässig zwangen, ihm ins Gesicht zu schauen. [42] Die bröckelnde Gesellschaftsordnung Ende 16 Das an dieser Stelle als ›Rückschläge‹ übersetzte cuozhe 挫折, könnte sich auch auf den Lacanʼschen Begriff der ›Frustration‹, der ins (taiwanische) Chinesische als das an dieser Stelle verwendete cuozhe übersetzt wurde, beziehen. Angesichts Chens psychoanalytischem Hintergrund, der in diesem Text immer wieder zum Ausdruck kommt, ist dies in dieser Aufzählung denkbar, da das hier als ›Begehren‹ übersetzte yuli 慾力 auch als chinesische Übersetzung der ›Libido‹ Freuds (und besonders der fortführenden Gedanken Anna Freuds) dient. Die Entscheidung für ›Rückschlag‹ und nicht für ›Frustration‹ fiel, da sich an dieser Stelle keine weiteren Anhaltspunkte für eine Ausrichtung auf das Lacanʼsche Konzept finden und die Übersetzung so eine engere Rahmung erführe. Vor allem aber, da ein ›Rückschlag‹ im Sinne einer neuen Chance der Reflexion positiv gewertet werden kann, was die Lacanʼsche Frustration nur schwer zulässt. 17 Das im Chinesischen genutzte wenti 問題 bezeichnet sowohl die Frage, als auch das Problem (verstanden als Problematik, Fragestellung) und wird kontextabhängig übersetzt. 18 Die dieser Übersetzung zugrundeliegende Ausführung des Textes ist an dieser Stelle grammatikalisch unvollständig, weshalb hier (ausnahmsweise) nach Ist ein Baum länger als eine Nacht? übersetzt wird.

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der 80er Jahre machte die Menschen außerdem unruhig, ließ sie dieses Problem noch mehr meiden wollen und jeglichen nur erdenklichen Ausweg suchen. [3.] Der falsch verwendete ›Postmodernismus‹ [1] Wenn also – entsprechend der oben gezogenen Schlussfolgerung – die widersprüchliche Frage des ›Anti-Modernismus‹ tatsächlich ein die gesamte Kunstbewegung Taiwans der 80er Jahre durchziehender Unterton ist, können wir dann noch akzeptieren, wenn einige Theoretiker diese Zeitspanne als ›postmoderne Gesellschaft‹ bezeichnen? [2] Beispielsweise in einer solchen Ausführung: [3] Der ›Meilidao-Vorfall‹ 19 war das erste Anzeichen des Beginns der bevorstehenden Zeit des Widerstandes. [4] Das Scheitern von ›Meilidao‹ ließ die aufkeimende Widerstandskraft anschwellen und führte zu deren Verdichtung. [5] Schon vor Ende des Kriegsrechtes begann die Macht des Staates allmählich zu bröckeln. [6] Die taiwanische Gesellschaft, die so lange Repressionen erfahren hatte, begann sich zu wandeln. [7] Die Zerstörungskraft und die Schöpfungskraft explodierten und quollen gleichzeitig hervor. [8] Eine Zeit des radikalen Umbruchs, die von unablässigen Kontroversen geprägt war, stand bevor. [9] Der Autor bezeichnet diese als den Anbruch der ›pluralistischen Gesellschaft‹ oder der ›postmodernen Gesellschaft‹.iv [10] Seit Mitte der 80er Jahre beschleunigte sich die Veränderung der Gesellschaft Taiwans, Taiwans postmoderne, postindustrielle Epoche stand bevor, eine pluralistische Epoche, die von einer Informationsschwemme geprägt war, stand bevor […]. [11] Taiwan trat (der Ausrichtung der westlichen Kulturindustrie folgend) in die Zeitgenossenschaft der absoluten Kommerzialisierung ein, die ursprüngliche Kultur wurde im entsprechenden Maße schwächer. [12] Das ist der Grund, warum Taiwan (oder Hongkong oder Singapur) nur schwerlich eine tiefe und kraftvolle Kunst und Kultur hervorbrachten. [13] Unser Geschmack (Musik, Kleidung, das alltägliche Leben) ist heute von der westlichen Kultur überflutet – wie viel von der ›modernisierten‹ Kultur ist denn noch unser Eigenes? [14] Oder ist es nur ein Synonym für ›kolonisiert‹? [15] Doch so viele kulturelle Erscheinungen, die überhaupt nicht mit ›Moderne‹20 protzen und die sich aus den chaotischen 80er Jahren allmählich herausentwickelten, gehören zum Weg des Eigenen (bentu).v [16] Im ersten zitierten Absatz erscheint eine ungewöhnliche und außergewöhnliche Definition (die, so kann man gar sagen, in den bisherigen wichtigen theoretischen Texten zum Postmodernismus noch nicht zu finden war) der postmodernen Gesellschaft: Ein einziger politischer Vorfall dient hier als Demarkationspunkt, von dem diese Definition vollständig abhängt. [17] Diese Aussage unterscheidet sich vollkommen von der Art, wie die Postmoderne und die postindustrielle Gesellschaft normalerweise verstanden wird – beispielsweise in Hinblick auf die Veränderung der Werte und Verteilung in der Gesellschaft im Bereich der Struktur der ökonomischen Produktion, der Form des Narrativs, der Fähigkeiten und Informationen. [18] Die grobe und vereinfachende 19 Die im August 1979 gegründete oppositionelle Zeitschrift Meilidao 美麗島 war Teil der Dangwai-Bewegung 黨外運動 (Opposition, wörtlich: außerhalb der Partei), die seit den beginnenden 1970er Jahren allmählich das faktische Ein-Parteien-System hinterfragte und bekämpfte und in den späten 1970er Jahren zur Massenbewegung wurde. Der ›Meilidao-Vorfall‹ (meilidao shijian 美麗島事件) oder ›Kaohsiung-Vorfall‹ (gaoxiong shijian 高雄事 件) ereignete sich am 10.12.1979. Die Demokratiebewegung Taiwans rund um die Zeitschrift Meilidao organisierte in Kaohsiung eine nicht genehmigte Großkundgebung, die massiv von der Polizei bedrängt wurde und auf die zahlreiche Verhaftungen und langjährige Haftstrafen für die Oppositionellen folgten. Vgl. Fleischauer, Der Traum von der eigenen Nation, S. 183-218. 20 Im Original xiandai 現代, siehe Fußnote 1.

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Schlussfolgerung wird dann als eine Selbstverständlichkeit gesehen. [19] Obwohl auch im zweiten zitierten Absatz von dem Phänomen einer ›Informationsschwemme‹ die Rede ist, wird dieses Phänomen hier jedoch nicht als Grundlage der Argumentation genutzt, sondern als Tatsache, als notwendiges Ergebnis der hier schon postmodernen Gesellschaft. [20] Was mit der postmodernen und postindustriellen Gesellschaft gemeint ist, wird hier jedoch keinesfalls weiter erklärt. [21] Man kann sagen, dass diese Art argumentativer Fehlschluss im Vergleich zum ersten zitierten Absatz noch extremer ist. [22] Ob die Gesellschaft der 1980er Jahre in Taiwan als eine postmoderne bezeichnet werden kann, ist für den Autor bereits eine nicht mehr zu diskutierende, vollendete Tatsache! [23] In einer derartigen postmodernen Gesellschaft werden das Durcheinander und der Pluralismus nicht als Phänomene der postmodernen Kultur gezeigt, sondern der Autor verweist sofort auf die Zweifel gegenüber und Kritik an der ›Modernisierung‹ und dem ›Modernismus‹, die er als eine Art Symbol der westlichen Kolonialkultur sieht, die das Ergebnis der Verinnerlichung der Kolonialkultur darstellen und die ursprüngliche Kultur schwächen. [24] Es ist, als könnten wir in dieser Haltung eines heftigen Ablehnens des Modernismus des Autors den widersprüchlichen Unterton aus einer tiefen Schicht plötzlich hervorquellen sehen. [25] Es gibt jedoch auch Meinungen, die im Vergleich zu dieser extrem ›anti-modernistischen‹ Kritik eher einen Kompromiss und eine korrigierende Haltung vertreten: [26] In Anbetracht von Werken, die fernöstliche Muster des Denkens beinhalten, sollte man nicht aufgrund irgendeiner Ideologie, die vielleicht kaum wahrzunehmen und zu verstehen ist, übereilt alles umstürzen. [27] Die Dinge des Modernismus haben sich in Taiwan überhaupt nicht in vollem Maße entwickelt, man sollte nicht wegen des Trends des ›Postmodernismus‹ alles blind verweigern.vi [28] Obwohl der Autor dieses Textes den Trend des ›Anti-Modernismus‹, der zu dieser Zeit in Taiwans Kunstszene auftauchte, bemerkte, so hat er dennoch die historische Bedeutung dieses Phänomens nicht verstanden und reduziert es auf einen bloßen Austausch im Bereich der populären Kultur: weil ›Postmoderne‹ populär ist, werden die ›modernen‹ Dinge21 einfach ausrangiert. [29] Wenn wir eine solche vereinfachte Meinung akzeptieren, dann werden wir niemals verstehen können, warum das Phänomen der postmodernen Kultur an diesem Ort von so geringer Dichte ist und mit dem Bewusstsein der eigenen Erde (bentu) und dem Taiwan-Bewusstsein verschwimmt und gleichzeitig entsteht. [30] Außerdem verdecken die Bestrebungen des Anti-Modernismus jegliches künstlerische Schaffen. [31] Das beschränkt sich nicht nur auf die westliche Malerei (Kunst) – es gibt absolut keine Unterscheidung aufgrund der verschiedenen Kunstarten, wie der Autor das beschreibt: Ein ideologischer Verweis existiert in allen kunstkritischen Texten Ende der 80er Jahre. [32] Der ›Anti-Modernismus‹ ist keine momentane kulturelle Erscheinung, er ist der das Denken dominierende Unterton der Kunstwelt Taiwans der 80er Jahre. [33] Seine ›Historizität‹ dominiert und bestimmt die gesamte vermeintlich ›postmoderne‹ Erscheinung der Kultur der 80er Jahre, dieses virtuelle Bild der sogenannten pluralistischen Kultur. [34] Weil man sich nicht zufrieden 21 Chen beschreibt hier die ›Dinge des Modernismus‹, die im Zitat von Huang Hai-ming 黃海明 auftauchen als ›die modernen Dinge‹ und unterscheidet demnach nicht kategorisch zwischen ›modern‹ und ›modernistisch‹. Ähnliches lässt sich auch in seiner Nutzung von ›Postmoderne‹ oder ›Postmodernismus‹ feststellen, wo keine klare Linie zu erkennen ist (siehe auch IV.1 Fußnoten 1,8, sowie IV.3 Fußnote 99).

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gibt mit dieser Art von virtuellem Bild oder vor diesem virtuellen Bild Angst hat, wird das Realitätsprinzip22 (das ›Gruppen-Ich‹, die ›Ideologie‹, das ›Geschichtsbewusstsein‹ etc.) zu einer Art Hilfsmittel erster Wahl, zu einem Anker. [4.] Was ist der ›Anti-Modernismus‹? [1] Was ist die Bedeutung dieser Art des ›Anti-Modernismus‹? [2] Kann man ihn als eine Art ›postmodernistische‹ Haltung sehen, als eine Kritik und Analyse des Modernismus: als ein Widersetzen gegen die absolute Macht des ›Rationalen‹, ein Widersetzen gegen die Aufklärung und die Nützlichkeitshaltung der Wissenschaft, ein Widersetzen gegen das utopische Ideal? vii [3] Doch welches Erscheinungsbild hat der sogenannte ›Modernismus‹ wiederum in Taiwan? [4] Welche Art von historischem Prozess hat die ›Modernismus‹-Bewegung, die in Kunst- und Kulturszene bereits geschehen ist oder die jene schon erfahren hat, erzeugt? [5] Die Kunstbewegung und Gedankenströmungen in Kunst und Kultur der 1980er Jahre in Taiwan sind allesamt Phänomene, die auf diesen Grundlagen entstanden sind, und die als historischer Kontext Taiwans spezifische Regionalität der 80er Jahre von innen heraus entschieden haben. [6] Aufgrund der begrenzten Länge dieses Aufsatzes können wir hier nicht von neuem einen tiefgreifenden und kompletten historischen Rückblick auf Taiwans Modernismusbewegung und -debatte der 60er Jahre beginnen. [7] Die Debatte um die ›chinesische moderne Malerei/moderne chinesische Malerei‹23 jener Zeit kann nur beispielhaft anhand der Diskussionen der Kunstkritik und des Kunstdiskurses der 80er Jahre analysiert werden: eine Metaanalyse der Metaanalyse. [8] So kann man ausgehend von den Fragmenten der Spiegelungen von Geschichte, die diese Diskurse anbieten, auf die vielen Male der Brechung des westlichen ›Modernismus‹ an diesem Ort schließen: [9] Infolge der Zerstörung, die Taiwans Geschichte immer wieder erfahren hat, entstand eine Behinderung des Blicks auf Geschichte, was zu einer allmählichen Entzweiung zwischen Taiwans Volk und seiner eigenen Geschichte führte. [10] Langsam entfremdete sich Taiwans Volk auch von den Ursprüngen der eigenen Natur und menschlichen Kultur. [11] In einer Umgebung, die die Auseinandersetzung mit den Hindernissen in der Kunstgeschichte erschwert, wurde die neue Künstlergeneration des Nachkriegstaiwans einerseits vorgefasst und einseitig eingeordnet in eine starre Vorstellung von chinesischer Kunst24, die die regierende Schicht von oben anordnete. [12] Aber andererseits erfuhren sie auch starke Anregungen des westlichen Kunstsystems. [13] Die beiden widersprüchlichen Konzepte brachten in dem auf dem Auge der Geschichte blinden Kulturraum das konfuse ›Traditions‹-Konzept der Kunst Taiwans hervor und beeinflussten gleichzeitig stark die Position und Wertausrichtung der Modernisierung. [14] Aufgrund der Dogmatisierung hatte es die aus den zentralen Ebenen Chinas kommende ›Tradition‹ schwer, in Taiwan Wurzeln zu schlagen; das Progressive und die Unbeständigkeit 22 Hier bezieht sich Chen klar auf das Freudʼsche ›Realitätsprinzip‹, das als xianshi yuanze 現實原則 ins Chinesische übersetzt wird. 23 Zur Debatte um die ›chinesische moderne Malerei/moderne chinesische Malerei‹ (zhongguo xiandaihua 中國現代畫/xiandai zhongguohua 現代中國畫), vor allem zwischen Liu Kuo-sung und Chu Ge, siehe auch Kap. III. 24 In dieser Übersetzung von zhongyuan meishu 中原美術 als ›chinesische Kunst‹ muss auf die ideologische Komponente der geografischen Bezeichnung zhongyuan – ›die zentralen Ebenen Chinas‹ – hingewiesen werden. Lin Xingyue verweist hier klar auf die von der Kuomintang vorgegebenen Identität Taiwans als ›freies China‹.

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der westlichen Kunst waren flüchtig und schwer fassbar. [15] Die Debatte um ›Tradition‹ und ›Moderne‹ war deshalb ausweglos in einer Leere und Verwirrung gefangen. [16] Erst durch das Aufkommen der Heimaterde-Bewegung in den 70er Jahren25 tauchten korrigierende Einstellungen zu ›Tradition‹ und ›Moderne‹ auf, die wirklich tiefgehende Überlegungen anregten, wie man zurück zum Eigenen (bentu)26 gelangen könnte.viii [17] ›Moderne‹ muss in diesem Abschnitt von Lin Xingyue 林惺嶽 als ein Konzept, das im Gegensatz zur ›Tradition‹ steht, gesehen werden. [18] Sie müssen als zwei sich gegenseitig bekämpfende Gedankenströmungen und Manifestationen von Kunst gesehen werden. [19] Beide Konzepte existieren nebeneinander und beschreiben unterschiedliche politische und ideologische Machtsysteme. [20] ›Tradition‹ repräsentiert China, die zentralen Ebenen des Festlandes. [21] ›Moderne‹ hingegen ist der Repräsentant der Kultur des ›Westens‹. [22] Laut Lin Xingyue sind sie zwei unterschiedliche Formen von außen kommender Kultur: isoliert voneinander, entfremdet und unklar. [23] So wird die hitzige Debatte um ›Tradition‹ und ›Moderne‹ der 60er Jahre von ihm nur als eine absurde Auseinandersetzung ohne Substanz, Bedeutung und Inhalt um das ›Gefangen-Sein in einer Leere und Verwirrung‹ angesehen, die Bedeutung von ›Politik‹ und ›Gesellschaft‹ übersteigt das Andere bei Weitem. [24] Wenn ein Augenzeuge jener Zeit, ja jemand der damals gar Teil der Kunstbewegung war,27 wider Erwarten auf solch negierende Art den historischen Rückblick kommentiert, so zeigt dieses Beispiel, dass wir die ›modern(istisch)e‹ Kulturbewegung jener Zeit scheinbar erneut diskutieren müssen. [25] Natürlich ist der hier zitierte Aufsatz nur die Meinung einer einzelnen Person, was nicht für eine komplette und abdeckende Darstellung der verschiedenen Stimmen der Kulturbewegung jener Zeit ausreicht. [26] Doch der den Tonfall des Realismus28 der Eigenen Erde (bentu) betonende ›Anti-Modernismus‹, der in diesem zitierten Text auf25 Die literarisch-künstlerische Heimaterde-Bewegung der 70er Jahre wird heute meist als Reaktion auf die außenpolitischen Veränderungen – den Abbruch der offiziellen diplomatischen Beziehungen fast aller Länder der Welt mit Taiwan aufgrund der außenpolitischen Avancen der Volksrepublik China und damit die internationale Isolation Taiwans – gesehen. Wie auch beim Bezug auf das Taiwan-Bewusstsein werden hier politische Erklärungsmuster für die Hinwendung zu einer realistischen künstlerischen Ausdrucksweise (zunächst in der Literatur, daran anschließend in der Malerei, Bildhauerei und Fotografie) herangezogen. Erwähnt werden muss aber auch der Einfluss von heimkehrenden Künstlern aus dem Ausland: allen voran Xi Dejin, der in seinen Aquarellen jeden Winkel des im Verschwinden begriffenen Taiwans festhalten wollte (vgl. Xi Dejin, Wode yishu yu taiwan). Hier spielt also auch eine Nostalgie, eine Art heimwehgetränkte Verklärung eine Rolle. Auch wurde Andrew Wyeths Kunst in den 70er Jahren in Taiwan viel diskutiert. (Siehe zur Heimaterde-Bewegung auch die Übersetzung des Textes von Gong Jow-jiun, Kapitel V.1.) 26 ›Zurück zum Eigenen‹ (huigui bentu 回歸本土) muss als feststehender Begriff gelesen werden und muss in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein als Slogan verstanden werden, der sich mit der Heimaterde-Bewegung der 70er Jahre auseinandersetzt, wie Mei Dean-E auch feststellt (vgl. IV.1 Fußnote 3). 27 Lin Xingyue (*1939) – Kunstkritiker und Künstler – schrieb in den 60er Jahren nach seinem Abschluss am Fachbereich Kunst der National Taiwan Normal University über die Kunstbewegung und explizit auch über Liu Kuo-sung. Vgl. Lin Xingyue, Diguo de yanjing 帝國的眼睛 [Die Augen des Empires], Taipei 2015. 28 Der genannte ›Realismus‹ (xianshizhuyi 現實主義) bezeichnet hier keine künstlerische Richtung, sondern eine realistische Beschreibungsweise. Dies verweist auch auf die Auseinandersetzung Gongs, der die Verwendung von xianshizhuyi als Realismus in der Bildenden Kunst als historisch falsch darlegt (wo xieshizhuyi gebraucht wurde und wird) und zeigt, dass es sich um einen Begriff aus der Lite-

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taucht, kann uns helfen zu verstehen, ob der Kern des ›Anti-Modernismus‹ die ganze Zeit latent in jeglicher Kulturbewegung der 50er und 60er Jahre in Taiwan – selbst im Lager der sogenannten ›Modernen Schule‹29 – vorhanden war. [27] Durch das Betonen des Geschichtsbewusstseins wird jegliche Position und Meinung der Kunst- und Kulturbewegung unterdrückt. [28] Lin trug diesen Text 1990 auf einer Konferenz vor. [29] In diesem Aufsatz überbewertet er, inwieweit die historische Bedeutung der Heimaterde-Bewegung auch das derzeitige Phänomen des Aufkommens des Bewusstseins der eigenen Erde (bentu) in der Kunst- und Kulturszene Ende der 80er Jahre widerspiegelt – die historischen Fakten umdrehen, zerreißen, um dann eine neue diskursive Logik daraus zu entwerfen. [30] Nur unter der Voraussetzung des vorher Genannten, kann ein solches Sprechen entstehen – »das Progressive und die Unbeständigkeit der westlichen Kunst waren flüchtig und schwer fassbar…« –, das den ›Modernismus‹ mit populären künstlerischen Stilrichtungen gleichsetzt und nicht seine tatsächlichen Konnotationen diskutiert. [31] Auf der Grundlage einer solchen Voreingenommenheit blickt er auf die Kunst- und Kulturbewegung jener Zeit zurück und wird so natürlich das Phänomen der ›Akkulturation‹ 30, das aus dem Einführen der von außen kommenden Kultur entsteht, betonen und – ausgehend von den Spuren der Verletzung der Kultur – von seinem Standpunkt aus stolz die ›Moderne‹ jener Zeit definieren. [32] Das negative Phänomen des Widersetzens, das aus dem Prozess der ›Akkulturation‹ heraus entsteht, ist unabwendbar und unvermeidbar und machte die Menschen im Taiwan Ende der 80er Jahre so besorgt, dass sie eine neue, die Geschichte erklärende Autorität erzeugten. [33] Wenn wir noch einen Ausschnitt eines anderen Autors betrachten, so können wir sehen, dass die oben beschriebenen Vorurteile schon so tief verwurzelt sind, dass sie als unbewegliche historische Wahrheit erscheinen: [34] Die Literatur und Kunst jener Zeit hatte das restlose Aufnehmen jeglicher westlichen Strömung des 20. Jahrhunderts (den Existenzialismus, das Unterbewusstsein, das Abstrakte etc.) zum Ziel. [35] Die Meisten waren fixiert auf die Vorstellungswelt, die sie selbst formten und ließen sich weit entfernt von der Wirklichkeit treiben. [36] So wie der Modernismus in der Kunst und Kultur aller zurückgebliebenen Regionen, kann auch Taiwans modernistische Kunst und Kultur keine Identifikation mit der ›taiwanischen Gesellschaft‹ haben.ix [37] Aus der Perspektive der ›Dependenztheorie‹ sieht der Autor dieses Abschnitts die ›modernistische‹ Kunst- und Kulturbewegung im Taiwan der 60er Jahre geradeheraus und ohne weiter zu reflektieren als eine repräsentative Region der gesamten von der westlichen Kultur kolonisierten Dritten Welt.31 [38] ›Modernismus‹ wird mehr oder weniger als Synonym der ›Modernisierung‹ der Politik und Wirtschaft angesehen. [39] Schlimmer allerdings ist, dass er die von Missverständnissen geprägte Kontroverse der 60er Jahre übernimmt – ›komplette Verwestlichung‹, ›direktes Verpflanzen‹, ›Herholismus‹ etc.32 raturwissenschaft handelt (vgl. Kap. V, dort auch zu den unterschiedlichen Bedeutungsebenen von xieshi und xianshi). 29 Die ›Moderne Schule‹ (xiandaipai 現代派) bezeichnet die Künstler um Fifth Moon und die Eastern Painting Group. 30 In Klammern auf Englisch »Acculturation« hinter dem Chinesischen neihua 涵化. 31 Die grammatikalisch-logische Unstimmigkeit, die die ›Bewegung als eine repräsentative Region‹ beschreibt, besteht im chinesischen Original. 32 Diese Schlagwörter, mit denen Chen hier seine Kritik am Sprechen vom Taiwan-Bewusstsein paraphrasiert, übernimmt er aus Ni Tsai-chins die Debatte um das Taiwan-Bewusstsein auslösenden Text

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– und den Unterschied zwischen ›Verwestlichung‹ und ›Modernisierung‹ untrennbar vermischt. [40] Nicht nur, dass er nicht nach einer Erklärung und Erläuterung sucht, sondern er meint gar, dass es ein historischer Fakt ist. [41] Diesen nutzt er, um die Bedeutungsleere und Entfremdung von der Realität des ›Modernismus‹ jener Zeit zu erklären. [42] Dieser Autor tappt hier ganz eindeutig in die Falle der historischen Voreingenommenheit und der ›Reflexionstheorie‹ und stimmt erneut die Melodie des Realismus an: [43] »Abstrakte Malerei befriedigt nur die individuelle Vorstellungskraft und berücksichtigt die Realität nicht.« [44] Wenn man sagt, dass Lin Xingyue Taiwans Modernismusbewegung der 60er Jahre überpolitisiert hat und die Debatte jener Zeit um ›Tradition‹ und ›Moderne‹ auf eine Debatte unterschiedlicher Autoritäten und um Konzepte gefüllt mit leeren Worten reduziert hat, so geht der Autor dieses zitierten Absatzes mit Argumenten wie ›Verwestlichung‹, ›Abhängigkeit‹, ›Kolonie‹ noch weiter und tut ›Modernismus‹ als westlichen leeren Individualismus ab, der durch Machteinfluss die eigene (bentu) Kultur zerstört. [45] In der ununterbrochenen Diskussion der Kunstszene Taiwans Ende der 80er Jahre dominierten und beherrschten diese zwei Arten von ›Anti-Modernismus‹-Behauptung die Art das ›Taiwan-Bewusstsein‹ und die ›Eigene (bentu) Kunst‹ zu denken. [46] Egal ob ausgehend von der inneren Geschichte oder ob eingebettet in die Weltbeziehungen, ob in den 60er Jahren vor 30 Jahren oder in den heutigen 80er Jahren: Der ›Modernismus‹ in Taiwans Kunst wird ganz und gar nicht wie in der westlichen Kultur als aktive und denkende Aufklärungsbewegung gesehen. [47] Im Gegenteil wird er scheinbar betrachtet als eine Art passive Messmarkierung von ungenauem Gehalt, die herangezogen wird, um die innere und äußere Tiefe und Breite der historischen Narben zu vermessen. [48] Diese Art einer ›anti-modernistischen‹ Haltung und in deren Gefolge das Bewusstsein der eigenen Erde (bentu) sind beide ein Ausdruck des Betonens des Phänomens der ›Akkulturation‹. [49] Im Kraftfeld des ›Bekämpfens des Eindringens der mächtigen von außen kommenden Kultur‹ entsteht verzerrend eine komplizierte Veränderung der Topologie. [50] Eine solche Sicht vermischt tatsächlich den Unterschied zwischen ›Modernisierung‹ und ›kultureller Moderne‹ untrennbar und dehnt – von einem erstarrten historischen Standpunkt aus – die geopolitischen Beziehungen der politischen Gesellschaft unendlich weit bis in das Feld der Kultur aus. [51] Es scheint, dass ›Moderne‹33 notwendigerweise ein Fremdkörper ist, und es wurde vergessen, dass sie auch eine Art Zeitlichkeit ist. [52] Zwischen der Art eines ›Anti-Modernismus‹-Phänomens, auf das wir hier stoßen, und dem, was Fredric Jameson* in seinem Buch Postmodernism or the Cultural Logic of late Capitalismx beschreibt – der ›Anti-Modernismus‹ wird zum Ausgangspunkt für die Theorie der ›Postmoderne‹ (wie bei Ihab Hassan oder Tom Wolf34) –, besteht eine enorme Diskrepanz. [53] Im Wesentlichen bekämpfen die ›Anti-Modernisten‹-›Zum-Postmodernismus-Tendierenden‹, von denen Jameson spricht, überhaupt nicht vollständig

Westliche Kunst – Made in Taiwan. Die »komplette Verwestlichung« bedeutet bei Ni das Vergessen des Selbst, das »direkte Verpflanzen« das oberflächliche Herholen aus dem Westen, ohne eine wirkliche Auseinandersetzung (vgl. Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 38). 33 Auch hier schreibt Chen xiandai (s. IV.1 Fußnote 1). Meine Übersetzung verweist durch das ›sie‹ im zweiten Satzteil klar auf die Bedeutung ›die Moderne‹, anstatt auf ›das Moderne‹ – eine Klarheit, die im Chinesischen so nicht gegeben ist. 34 Beide Namen sind nur in lateinischen Buchstaben angegeben.

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den Modernismus. [54] In einer ›ambivalenten‹35 Haltung verehren sie die Idee des ›Modernismus‹, hegen aber eine politisch kritische Haltung gegenüber der bourgeoisen Ideologie des ›Modernismus‹ oder kritisieren mit strukturalistischen Argumenten den metaphysischen Gehalt des Modernismus. [55] Diese beiden – die Hochschätzung und die Kritik (des Prozesses, Gehaltes und des Gegenübers) – sind im taiwanischen Phänomen des ›Anti-Modernismus‹ zu dieser Zeit an diesem Ort absolut unauffindbar. [56] Und wenn man erneut von Elementen wie dem historischen Hintergrund und der Entstehungsursache ausgehend überlegt, dann werden wir noch deutlicher merken, dass es zwei vollkommen verschiedene ›Anti-Modernismen‹ sind. [57] Oder aber man wird zweifeln, ob man das kulturelle Phänomen, das Ende der 80er Jahre in Taiwans Kunstwelt auftauchte, ›Anti-Modernismus‹ nennen kann. [58] Denn grundsätzlich ist das entscheidende Moment des ›Anti-Modernismus‹ im Westen die reflektierende Kritik und Analyse des Modernismus, der in einer Meta-Haltung begegnet wird. [59] Taiwans ›Anti-Modernismus‹ hingegen ist ein Vermeiden und Verweigern des Problems des ›Modernismus‹ und ein Ablehnen jeglicher Diskussion und Reflexion. [60] Können wir ihn unter diesen Voraussetzungen dann noch als ›Anti-Modernismus‹ bezeichnen? [5.] Das erneute Klären des ›Anti-Modernismus‹ Taiwans [1] Habermas meint, dass aufgrund der Differenz in der Entwicklung der ›gesellschaftlichen Modernisierung‹ und der ›modernen Kultur‹ in der zeitgenössischen westlichen Kultur ein Phänomen der Spaltung zwischen der ›Kultur‹ und der alltäglichen Lebenswelt36 entstanden sei. [2] Einer solchen Krise gegenübergestellt meint er, dass von neuem eine Verbindung geschaffen werden müsse: [3] This new connection, however, can only be established under the condition that societal modernization will also be steered in a different direction. [4] The life-world has to become able to develop institutions out of itself which sets limits to the internal dynamics and to the imperatives of an almost autonomous economic system and its administrative complements.37 xi [5] Aber eine solche neue Taktik ist in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft sehr schwer zu verwirklichen. [6] Habermas kritisiert sehr stark, dass – aufgrund des oben beschriebenen unvollendeten und gescheiterten ›Projekts der Moderne‹ – das zeitgenössische westliche humanistische Denken verschiedene den ›Modernismus‹ ne35 Der Freudʼsche (von Bleuler übernommene) Ambivalenzbegriff wird mit maodun shuangzhongxing 矛 盾雙重性 ins Chinesische übersetzt. 36 Der Begriff ›Lebenswelt‹, übersetzt als shengming shijie 生命世界, scheint als philosophischer Begriff schon im Chinesischen gebräuchlich/bekannt zu sein, da keine Übersetzung als Referenz auf das Originalkonzept in Klammern angegeben ist. 37 Da Chen sich auf die englische Übersetzung des Textes Die Moderne – ein unvollendetes Projekt bezieht und seine Übersetzung ins Chinesische hierauf aufbaut (siehe Endnote), steht hier die entsprechende englische Textstelle. Der deutsche Originaltextauszug: »Eine differenzierte Rückkoppelung der modernen Kultur mit einer auf vitale Überlieferungen angewiesenen, durch bloßen Traditionalismus aber verarmten Alltagspraxis wird freilich nur gelingen, wenn auch die gesellschaftliche Modernisierung in andere Bahnen gelenkt werden kann, wenn die Lebenswelt aus sich Institutionen entwickeln kann, die die systematische Eigendynamik des wirtschaftlichen und des administrativen Handlungssystems begrenzen.« (Jürgen Habermas, »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 177192, S. 191)

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gierende konservative reaktionäre Strömungen hervorgebracht hat. [7] Er teilt diese vereinfacht ein in: Jungkonservatismus, Altkonservatismus, Neoaristotelismus und Neukonservatismus.38 [8] Grundsätzlich reagieren nach Habermas all diese unterschiedlichen konservativen Strömungen auf das Scheitern des Modernismus, dem sie sich nicht stellen können und wollen, und erschaffen eine die Philosophie und die Kunst negierende Haltung, die als Ausrede für ihren konservativen Standpunkt dient. [9] Der Unterschied zwischen den jeweiligen Strömungen findet sich in der jeweiligen Beziehung und Entfernung zum ›Modernismus‹. [10] Der Jungkonservative versetzt sich in die Haltung des sogenannten ›Modernismus‹, um so – durch die Betonung der Dinge, die zur irrationalen und unbewussten Ebene gehören – dem Subversiven des Modernismus entgegenzutreten. [11] Er kategorisiert die zeitgenössischen französischen Theoretiker Foucault, Derrida, Baudrillard39 alle als solche. [12] Der Altkonservative hingegen fühlt zutiefst, dass die Rationalität in der gegenwärtigen Gesellschaft zur funktionalen Zweckhaftigkeit verkommt. [13] Weil er nicht bereit ist, sich von der modernen Kultur anstecken zu lassen, hofft und versucht er sich zurückzuziehen, um zu einer Position ›vor‹ dem Modernismus zurückzukehren. [14] Die Neokonservativen sind einfach die sogenannten Postmodernen. [15] Sie hoffen immer durch eine Methode des Kompromisses einerseits die Quintessenz des Modernismus zu bewahren und andererseits dessen Abschaum und diejenige Gefahr auszuschließen, die Teile der Lebenswelt bedroht. [16] Also wird die Situation der Dreiteilung der modernen Gesellschaft, die nach dem Eintreten des ›Rationalen‹ hervorgebracht wurde, von ihnen nominalistisch akzeptiert, aber nicht anerkannt. [17] Wissenschaft wird nur mehr rein als ein funktionales Ziel habend gesehen, jedoch sollte sie nicht die Orientierung der Lebenswelt dominieren; die kulturelle Moderne hingegen wird gesehen als das Hedonistische und Narzisstische übertrieben herausstellend. [18] Die Zusammenhänge zwischen Enttäuschung und Unterdrücken des Gewollten der ›gesellschaftlichen Modernisierung‹ und der ungleich entwickelten Ebene der ›gescheiterten Kultur‹ werden verwischt. [19] Auch wird auf diese Weise der gefährliche und subversive Gehalt der modernen Kultur beseitigt und nur das ›moderne‹ Gesicht der ›Selbsterhaltung‹ gewahrt. [20] So kann ›Politik‹ auch erst wirksam implementiert werden und fernab eines rechtfertigenden Leitbildes moralisch-praktischer Art40 wertgeschätzt werden. [21] Die ›immanente‹ Autonomie der ›Kunst‹ wird behauptet, ihr illusorischer Charakter und die ästhetische Erfahrung als extrem individualisiert postuliert.41 [22] Gegenüber dieser Art Haltung einer ›Tendenz zum Modernismus – Gegen den Postmodernismus‹, die Habermas vertritt, führt Jameson Kritik an. [23] Aus der Perspektive 38 Im Original stehen »The Young Conservative«, »The Old Conservative« und »Neoconservative« auf Englisch in Klammern hinter der chinesischen Übersetzung, die trotzdem aus allen vier Bewegungen einen ›Ismus‹ macht. 39 Ebenso wie ›Habermas‹ sind die Namen dieser Theoretiker alle nur in chinesischen Schriftzeichen angegeben, was darauf schließen lässt, dass sie zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Textes in Taiwan hinreichend bekannt waren. 40 Interessanterweise nutzt Chen die stark konfuzianisch-geprägte Bezeichnung lunli daode 倫理道德 um das bei Habermas genutzte ›moralisch-praktisch‹ zu übersetzen. 41 Die Übersetzung dieses Absatzes – besonders was das genutzte Vokabular betrifft – geschah in enger Abstimmung mit dem deutschen Originaltext und der englischen Übersetzung von Habermasʼ Die Moderne – ein unvollendetes Projekt.

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des ›regionalen Diskurses‹ meint er, dass Habermasʼ Formulierung eine ziemlich große regionale Beschränkung habe und ihr deshalb die Universalität fehle. [24] Man könne mit ihr nicht generell Phänomene des Postmodernismus bewerten: [25] As for the aesthetic terms of the debate, however, it will not be adequate to respond to Habermasʼs resuscitation of the modern by some mere empirical certification of the latterʼs extinction. [26] We need to take into account the possibility that the national situation in which Habermas thinks and writes is rather different from our own […] in this particular national situation Habermas may well be right, and the older forms of high modernism may still retain something of the subversive power they have lost elsewhere. [27] In that case, a postmodernism which seeks to enfeeble and undermine that power may well also merit his ideological diagnosis in a local way, even though the assessment remains ungeneralizable.42 xii [28] Jameson verweist in der oben zitierten Kritik auf die Wichtigkeit, die die regionalen Faktoren der ›Nationalen Situation‹ im Gestaltungsprozess der Entwicklung des Modernismus haben. [29] Tatsächlich ist das in diesem Punkt genau das Kernargument, das Habermas anwendet, wenn er Webers ›Modernismus‹-Theorie weiterentwickelt: Die Situation der Entfremdung der isolierten und sich gegenüberstehenden gesellschaftlichen Modernisierung und des kulturellen Modernismus implementiert Jameson in die Erfahrungswelt, so dass die Argumentation selbst seinen Widerspruch hervorbringt.43 [30] Aber der Fehler liegt absolut nicht in der Logik der Argumentation, sondern beim Nutzer der Argumentation. [31] Er liegt hier, da Habermas überhaupt nicht verstanden und gesehen hat, dass die gegenwärtige deutsche kulturelle Situation aufgrund des Einflusses der besonderen nationalen Situation die ›Modernisierung‹ unzulänglich neben der Entwicklung der Modernisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik verlaufen lässt. [32] Nach wie vor wird eine heilige Aura des ›Modernismus‹ bewahrt, die Habermas weiterhin an der Unvollendetheit des ›Projekts des Modernismus‹ festhalten lässt, das weiter fortgesetzt wird. [33] Wenn man der Logik dieser Art von Argumentation folgt, so gibt es, auch wenn die politische Gesellschaft und Kultur schon hochentwickelt ist wie die Deutsche, auf Ebene des kulturellen44 Kontextes noch immer einen großen Unterschied und kann nicht als Ganzes in besagte westliche postmodernistische Gesellschaft eingeordnet diskutiert werden. [34] So ist ganz offensichtlich, dass die oben Genannten – die die Argumente der Abhängigkeitstheorie nutzen – den westlichen ›Modernismus‹ als einheitliches und gesamtes Phänomen sehen, das sie in einer wiederholenden und allgemeinen Weise gewaltvoll in die zurückgebliebene Gesellschaft einzupflanzen suchen. [35] So wie der Modernismus in der Kunst und Kultur aller zurückgebliebenen Regionen, kann auch Taiwans modernistische Kunst und Kultur keine Identifikation mit der ›taiwanischen Gesellschaft‹ haben.xiii [36] Diese Art von Argument ignoriert die ›regionale Verfassung‹ und hat den Faktor der besonderen ›nationalen Situation‹ nicht zur Überlegung herangezogen, sondern sieht die ›gesellschaftliche Modernisierung‹ fälschlicherweise als Synonym zum ›Modernis42 »National Situation« und »High Modernism« stehen im Original in Klammern hinter der chinesischen Übersetzung auf Englisch. 43 Hier übersetzt nach der Interpunktion (und damit Satzlogik) in Ist ein Baum länger als eine Nacht?. 44 Wenhua 文化wird hier im Sinne des Kulturraumes genutzt, während diese Bezeichnung einige Zeilen weiter oben im Habermasschen Sinne genutzt wird und auf Kultur als einen Teil der Dreiteilung der Lebenswelt verweist.

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mus‹. [37] Das ist vielleicht die Antriebskraft des aufbrausenden Untertons des ›Antimodernismus‹, der Ende der 1980er Jahre in den Diskussionen der Kunstszene Taiwans erklang! [38] Anders gesagt, wenn man dieses Phänomen der endenden 80er Jahre verstehen will, so muss man an den Anfangspunkt des Missverständnisses zurückkehren: [39] Warum wurde die Modernismus-Bewegung in Taiwans Kunst und Kultur Ende der 50er Jahre bis Mitte der 60er Jahre als Nebenprodukt des Prozesses der ›gesellschaftlichen Modernisierung‹ gesehen, als passiv der gesellschaftlichen Veränderung in Politik und Wirtschaft folgend? [40] Die dialektische Beziehung der Komponenten ›Rationalität – Legitimität‹/›Irrationalität – Subversion‹, die ursprünglich latent in ›Modernisierung‹ und ›Modernismus‹ existierte, ist anscheinend vollständig vereinfacht worden. [41] Sie verschmilzt und verschwindet in Begriffen wie ›Kriegsrecht, Macht, Jahre des Kalten Krieges‹, die zwar auf einer realen historischen Erfahrung begründet sind, die aber substanzlos und bedeutungsleer sind. [42] Man muss zunächst den Unterschied und die Entfernung zwischen dem kulturellen ›Modernismus‹ und der ›gesellschaftlichen Modernisierung‹ der damaligen Umgebung abwägen. [43] Erst dann können wir vielleicht dieser sehr spezifischen Moderneerfahrung in dieser speziellen Lebenswelt nahe kommen, egal, welche Form sie hat. [44] Vielleicht können wir so erst verstehen, warum die Frage der ›Moderne‹ in den 80er Jahren in Taiwan zu einem Problem wurde, nach dem man nicht fragen kann, zu einer Frage, die die Menschen gar in Angst versetzt. [45] Und: Keines der diskutierten Phänomene, das in der Kunstszene nach Ende des Kriegsrechts auftauchte, ist plötzlich entstanden. [46] Erst wenn wir dem verworrenen Problemkomplex nachgehen, können wir uns vielleicht von substanzlosen Irrlehren wie dem hohlen, bedeutungsleeren Historizismus und dem Geodeterminismus lösen. [6.] Das oberf lächliche Sprechen vom Bewusstsein komplettiert die Unzulänglichkeit von ›Moderne‹45 [1] In den 1980er Jahren beginnen in Taiwans Kunstszene strukturelle Änderungen: neue Akademien und Fachbereiche werden aufgebaut, das Museum für moderne Kunst wird eröffnet. [2] Oberflächlich betrachtet scheint dieser Beginn den westlichen kulturellen ›Modernismus‹ zu konkretisieren, doch in der Wurzel wird der von weither kommende ›Modernismus‹ entfremdet und verfremdet. [3] Die Entstehungskräfte der ›Moderne‹ – ›Aufklärung‹ 46 und ›Rationalität‹ sowie ›Subjekt-Bewusstsein‹, ›Bewusstsein‹, ›Autonomie‹ etc. – wurden auf verschie-dene Weisen vollständig unterbunden. [4] So entstand eine Art ›akademischer Modernismus‹. [5] Dieser liegt sehr nah an dem, was Habermas als die Charakteristika des Neokonservatismus – den ›Modernismus‹ kompromissbereit akzeptieren, den gefährlichen subversiven Teil ausschließen – analysiert und definiert, obgleich der Ursprung und die Motivation beider vollkommen verschieden sind. [6] Der westliche ›Neokonservatismus‹ und die anderen Ausprägungen des Konservatismus sind als Antwort auf die Niederlage der auf dem ›Modernismus‹ und der ›Aufklä-

45 Hier schreibt Chen, wie in der Überschrift des kompletten Textes, xiandai 現代, das hier wie in jener Überschrift zu verstehen ist (siehe auch IV.1 Fußnote 1). 46 Hier steht nicht qimengyundong 啟蒙運動, was die Bewegung, die Epoche der Aufklärung bedeuten würde, sondern nur qimeng啟蒙, was also Aufklärung im Sinne des Aufgeklärt-Seins, als konzeptuelles Gegenteil der Unmündigkeit beschreibt.

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rung‹ 47 beruhenden westlichen modernen Gesellschaft entstanden. [7] Aber in Taiwan zu Beginn der 1980er Jahre ist diese dem ›Neokonservatismus‹ so ähnliche Veränderung der kulturellen Modernisierung nicht auf den Ruinen der ›Moderne‹ und der ›Subjektivität‹ erbaut. [8] Es ist ein von weit her kommender, verpflanzter ›ver-anderter‹ 48 ›Modernismus‹. [9] Man kann sagen, dass er die Erwartungen der Gesellschaft Taiwans in Bezug auf die ›Moderne‹ der Kultur ersetzt und kompensiert, vorläufig die Sehnsucht nach der begehrten ›Moderne‹ befriedigt und das Problem des ›Modernismus‹ unterdrückt und aufschiebt, solange bis es vergessen werden kann und nicht mehr erwähnt wird. [10] Aber genau so, wie die unbewusst ablaufende Praxis des Ersetzens und des Schließens von Kompromissen – verdrängt, negiert und ausgelöscht – wird er früher oder später in gespenstisch wiederkehrender Weise stören und betören. [11] Er lässt Menschen, die sich mit Abbildern49 zufrieden gaben, unruhig werden und versetzt sie in Panik. [12] Er überlässt die Abbilder ihrem Schicksal des Wankens und Zerbrechens. [13] Darum können wir sagen, dass die Merkmale, die zum ›Subjekt-Bewusstsein‹ gehören und die Taiwans Kunstszene Ende der 1980er Jahre endlos diskutierte, wie die ›Autonomie‹, die ›Subjektivität‹, das ›Bewusstsein der eigenen Erde (bentu)‹ oder das ›Taiwan-Bewusstsein‹ – und das sind denn auch die wichtigsten Charakteristika der ›Moderne‹ – jene Grundideen der ›Moderne‹ dar-stellen, die Anfang der 80er Jahre kompromissbereit negiert wurden. [14] Das geht soweit, dass das Phänomen des Erwachens des ›Subjekt-Bewusstseins‹ komplett beruhend auf dem Zusammenbruch der politischen Gesellschaft eingeordnet wird oder es für ein Charakteristikum des Einzugs der Soziokultur Taiwans in die sogenannte ›Postmodernisierung‹ gehalten wird. [15] Dies verweist nicht nur auf die oben mehrfach angeführte Angst und Ausflucht, die durch das Vermeiden des Problems des ›Modernismus‹ sichtbar wird. [16] Es verdeutlicht auch, wie diese wiederkehrende gespenstische, betörende Illusion in ihren vielen Gesichtern jegliche Art von ›Missverständnis‹ und ›falschem Wissen‹ formen konnte. [17] So ist es eine Art unmündige50 Aufklärung, ein aufgeklärter Despotismus. [18] Wenn es irgendeine Bezeichnung oder einen Ausdruck gibt, der die Kunstszene Taiwans der 1980er Jahre (oder sogar das ganze kulturelle Phänomen) einigermaßen zusammenfasst, so ist der passendste wahrscheinlich: die mehrdeutige Sehnsucht und Angst hinsichtlich des Widerspruchs des Gewollten und des Unterdrückten der ›Moderne‹. [19] In den Etappen des Prozesses können wir zuerst sehen, wie das ›Moderne‹ vom Abbild, das zum ›Partialobjekt‹ 51 gemacht wurde, ersetzt wird und wie der gefürchtete Inhalt (wie z.B. das Subjekt-Bewusstsein) immer wieder zurückgewiesen und erneut 47 An dieser Textstelle steht im chinesischen Original qimengyundong 啟蒙運動, also die Bewegung der Aufklärung. 48 ›Ver-andern‹, ›othering‹ wird (heute) meist als tazhehua 他者化 übersetzt, seltener findet sich das hier verwendete tahua 他化. 49 Chen schreibt hier chuxiang 芻像, was Pappfiguren bezeichnet, die meist im politischen Kontext (beispielsweise auf Demonstrationen) verwendet werden, aber gleichzeitig auch im Kontext religiöser Rituale genutzte Strohpuppen (wörtlich: Stroh-/Heu-Abbilder) bezeichnen kann. 50 In chinesischen Kant-Übersetzungen wird mengmei 蒙昧 (etwa: ›umnachtet‹) als Übersetzung von ›unmündig‹ genutzt. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Kontext eine Anspielung auf Kant gegeben ist. 51 Im Original steht hinter der chinesischen Übersetzung bufenwu 部分物 »Partial Object« in Klammern auf Englisch.

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begrüßt wird (Fort und Da)52. [20] Nicht viel später reproduziert und schafft der wiederholte Prozess des ›Zurückweisens und erneut Begrüßens‹ eine große Anzahl kleiner Gruppen mit ›homogenen Ansichten‹. [21] Einstimmig reagieren sie auf die Illusion einer hohlen ›Moderne‹. [22] Auf dieser Illusion bauen sie gemeinsam mit dem ›System‹ und der ›Macht‹ die Legitimation53 des Projekts der unmündigen Aufklärung der gesamten Epoche des ›aufgeklärten Despotismus‹ auf. [23] Nahezu alle Ausführungen der Kunstkritik Ende der 80er Jahre bewegen sich im Feld einer normativen, zwanghaften54 Form des Diskurses, einem oberflächlichen Sprechen vom Bewusstsein: Es ist die Sprache der Epoche.

Endnoten i

Ni Tsai-chin, Xifang meishu – Taiwan zhizao. Taiwan xiandaimeishu de pipan 西方美術 – 台灣製造. 台 灣現代美術的批判 [Westliche Kunst – Made in Taiwan. Kritik an der modernen Kunst Taiwans], in: Hsiung Shih Art Monthly, Nr. 242, 4.1991, S. 131.

ii

Lin Xing-yue 林惺嶽, Lun 1991 nian taiwan meishi xianxiang 評1991年台灣美術現象 [Diskussion des 1991 auftretenden Phänomens der Kunst Taiwan], in: Artist, Nr. 200, 1.1991, S.  240 (Chen schreibt fälschlicherweise 1991 als Veröffentlichungsjahr. Besagter Artikel erschien jedoch 1992, in dieser 200. Ausgabe der Zeitschrift Artist. Vgl. auch Endnote 6, wo Chen diese Ausgabe im Jahr 1992 verortet. Anm. d. Verf.)

iii Siehe Endnote 1, S. 124. iv Ni Tsai-chin, Taiwan meishu zhong de taiwan yishi 台灣美術中的台灣意識 [Das Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans], in: Hsiung Shih Art Monthly, Nr. 249, 11.1991, S. 153. i

Siehe Endnote 1, S. 125f.

vi Huang Hai-ming 黃海鳴, 1991 nian qianwei yishuquan de guancha 1991年前衛藝術圈的觀察 [Untersuchung der avantgardistischen Kunstszene 1991], in: Artist, Nr. 200, 1.1992, S. 259. vii Peter Koslowski, »The (De-)construction sites of the postmodern«, in: Ingeborg Hoestery (Hg.), Zeitgeist in Babel – The Postmodernist Controversy. Indiana University Press, Bloomington, 1991, S. 142-154. viii Lin Xing-yue, Zhutiyishi de jianli – taiwan meishu maixiang nianyi shiji de guanjianxing tiaozhan 主體意 識的建立 – 台灣美術邁向廿一世紀的關鍵性挑戰 [Der Aufbau des Subjekt-Bewusstseins – Die Hauptherausforderung Taiwans an der Schwelle zum 21. Jahrhundert], in: Artist, Nr. 182, 7.1990, S. 139. ix Siehe Endnote 1, S. 121f. x Fredric Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Duke University Press, Durham 1991, Kapitel 2 Theories of the Postmodern, S. 55-66. xi Jürgen Habermas, Modernity Versus Postmodernity, in: New German Critique, No.22, 1981. xii Siehe Endnote 10, S. 59. xiii Siehe Endnote 9.

52 Im Original steht »Fort et Da« in Klammern. 53 Im Original steht hinter der chinesischen Übersetzung hefalixing 合法理性 »Legitimation« in Klammern. 54 Im Original steht hinter der chinesischen Übersetzung qiangzhixing 強制性 »Coercive« in Klammern auf Englisch.

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2. Einordnung des Textes 2.1 Umgebung des Textes Chen Chuan-xing 陳傳興55, dem Autor des 1992 in der Zeitschrift Hsiung Shih Art Monthly veröffentlichten Textes Die unzulängliche Darstellung der ›Moderne‹ und das Sprechen vom Bewusstsein, kommt zu Beginn der 1990er Jahre in Taiwans Kunstszene eine bedeutende Rolle zu. Besonders seine ebenfalls 1992 veröffentlichten Melancholischen Dokumente56 – eine Sammlung von kunstkritischen Texten, die er in den 1980er Jahren geschrieben hatte – waren für die Kunstszene Taiwans wegweisend: Hier wurden wichtige westliche zeitgenössische und moderne Theoretiker vorgestellt und deren Theorien und Denkweisen somit bekannt und zugänglich gemacht. Seine Form des kritischen Schreibens war einf lussreich und wurde 2010 von Gong Jow-jiun als »die damalige Seele der Avantgarde beleuchten[d]«57 bezeichnet. Chen Chuan-xing (geb. 1952) studierte von 1981 bis 1986 in Paris, wo er seinen Doktortitel in Linguistik an der École des Hautes Études en Sciences Sociales erwarb.58 Schon während seiner Zeit in Frankreich schrieb Chen Kunstkritik für die taiwanische Kunstszene, die unter dem Vermerk ›aus Paris geschickt‹59 in der seit 1971 im Monatsturnus herausgegebenen Kunstzeitschrift Hsiung Shih Art Monthly abgedruckt wurden. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich spielte Chen eine wichtige Rolle in der Kunstszene Taiwans, sowohl in der Kunstkritik und -theorie, als auch in der Übersetzung und Einführung französischer Theorien. Roland Barthes Die helle Kammer wurde hauptsächlich durch Chens Text darüber in den Melancholischen Dokumenten in Taiwan und der chinesischsprachigen Welt bekannt.60 Auch als Lehrender, zunächst am Institut für Bildende Kunst des National Institute of the Arts (heute: Taipei National University of the Arts), später dann an der National Tsing Hua University am Fachbereich für Fremdsprachen und Literatur, wo er Psychoanalyse und (Dokumentar-)Film unterrichtete, war Chen sehr einf lussreich.61 Auch als Künstler (hauptsächlich im Be55 Auch von Chens Namen finden sich zahlreiche gebräuchliche Umschriften, so bspw. Chen Chuanxing, Chen Chuan-xin, Cheng Chuanxing, Chen Tsun-Shing etc. Die hier gewählte Variante Chen Chuan-xing ist diejenige, die in den letzten Jahren am häufigsten in Publikationen etc. genutzt wurde. 56 Chen Chuan-xing, Youyu wenjian 憂鬱文件 [Melancholische Dokumente], Taipei 1992. 57 Gong Jow-jiun 龔卓軍, Shiyan yu wei ganjue. Xuanzhi yu 1980 niandai de liangge weilaimeixue sixiang mingti. 時延與微感覺. 懸置於一九八O年代的兩個未來美學思想命題 [Zeitverzögerung und Mikrogefühle. Zwei in die Zukunft reichende ästhetische Vorschläge der 1980er Jahre], in: ACT, Nr. 44, 2010, S. 38-51, S. 48. 58 Vgl. www.poemmovie.com.tw/Chen_Chuan_xing.php, Stand: 08.07.2016. 59 Das Schicken von Artikeln durch Auslandsstudenten, die auch explizit als solche direkt aus dem Ausland kommende markiert waren, wurde schon in den 1950ern/1960ern vor allem durch Hsiao Chin praktiziert (siehe auch Kap. III.3.7). Hieran zeigt sich die Bedeutung, die die Kunstszene Taiwans den im Ausland studierenden Studenten zuweist. Ein Studium im Ausland war – und ist – ein Türöffner: Kaum ein wichtiger Theoretiker oder Künstler, der nicht im Ausland studiert hat. Weiter ist der Vermerk »aus Paris geschickt« interessant, verweist er doch auf Erste-Hand-Informationen, direkt aus dem Ausland, die eben nicht mehr einem ›imaginierten Modernismus‹ zuzurechnen sind. 60 Vgl. www.itpark.com.tw/people/bio/728, Stand: 08.07.2016. 61 Vgl. www.poemmovie.com.tw/Chen_Chuan_xing.php; www.fl.nthu.edu.tw/people/bio.php?PID=14 #personal_writing, Stand: 08.07.2016.

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reich Fotografie), Regisseur, Schriftsteller und Herausgeber ist Chen Chuan-xing bis heute eine wichtige Person in Taiwans Kunstszene. Vor allem das kurze Vorwort der Melancholischen Dokumente ist im Kontext des im Rahmen dieser Arbeit analysierten Textes beachtenswert. Hier stellt Chen angesichts der damaligen Situation Taiwans kritische Fragen zum Umgang mit ›Moderne‹ in Taiwan, die auch im hier zur Analyse stehenden Text anklingen. In Anbetracht der Tatsache, dass Gong Jow-jiun zwanzig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung die hier gestellten Fragen heranzieht und versucht, zu beantwortet, kann wohl festgestellt werden, dass sie die Kunstszene Taiwans bewegten und noch immer bewegen; auch zeigt sich die Autorität, die Chen insbesondere in Bezug auf theoretische Fragen und die Analyse der Situation Taiwans verkörpert.62 Der im Rahmen dieser Arbeit übersetzte Text Die unzulängliche Darstellung der ›Moderne‹ und das Sprechen vom Bewusstsein stellte 1992 zur Zeit der Erstveröffentlichung eine Reaktion auf die Debatte um das ›Taiwan-Bewusstsein‹, die seit 1991 geführt wurde, dar. Der Text wurde nahezu gleichzeitig mit den Melancholischen Dokumenten veröffentlicht und muss daher im Zusammenhang mit diesen gesehen werden. Der Text erfuhr zwei Wiederveröffentlichung: zunächst 1994 in einem Sammelband63 zu jener Debatte, außerdem im Jahre 2009 in Chens Textsammlung Ist ein Baum länger als eine Nacht?64 (herausgegeben in seinem 1998 gegründeten Verlag Editions du Flaneur65). Umgeben ist der Text in der zweiten Wiederveröffentlichung von Texten, die ebenfalls aus den 1990er Jahren stammen und die so einen Blick auf Chens Denken jener Zeit ermöglichen: Fragen der Erfahrung der Fremdsprache, der verspäteten Moderne, der Bedeutung des Subjekts prägen seine Wahrnehmung der beginnenden 90er Jahre in Taiwan. An dieser Wiederveröffentlichung, fast 20 Jahre nachdem der Text ursprünglich geschrieben wurde und hier nun aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen steht, zeigt sich, dass er die Gedanken, die er im Text entwickelte, im Nachhinein betrachtet als von großer Bedeutung für die Entwicklung der Kunstszene Taiwans sah: dass seine Einschätzungen also ›zukunftsweisende Bedeutung‹ (weilaixing 未來 性)66 hat, wie Gong Jow-jiun es schreibt.67 62 In seinem Text Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf? (der im Rahmen dieser Arbeit übersetzt wurde, siehe Kapitel V.1) nimmt Gong Jow-jiun diese Fragen auf. Hier findet sich eine Übersetzung der Fragen ins Deutsche. 63 Ye Yujing, Taiwan meishu zhong de taiwan yishi. Dieser Sammelband umfasst nur die Texte der Debatte, die in der Zeitschrift Hsiung Shih Art Monthly (Lion Art 雄獅美術) veröffentlicht wurden. 64 Chen verweist mit diesem Titel auf Gedanken Mozis 墨子 zur Unvergleichbarkeit von Dingen. Als Hintergrund zur Titelwahl beschreibt Chen im Vorwort der Textsammlung, dass er von Freunden gefragt worden sei, warum er so alte Aufsätze neu veröffentliche, ob dies noch Sinn mache, seien diese denn nicht unzeitgemäß? Chen greift diese Kritik auf und verweist auf die Unbedeutsamkeit der zeitlichen Dimension angesichts des noch immer (oder wieder) aktuellen Inhalts. Vgl. Chen Chuan-xing, Mu yu ye shu chang 木與夜孰長 [Ist ein Baum länger als eine Nacht?], Taipei 2009, S. 6f. 65 In diesem Verlag – xingren chubanshe 行人出版社 auf Chinesisch – wurde das Vocabulaire de la Psychanalyse übersetzt. Chens Bedeutung für die Einführung der Psychoanalyse in Taiwan wird, außer durch seine Lehrtätigkeit, hierdurch unterstrichen. Vgl. www.flaneur.tw, Stand: 08.07.2016. 66 Vgl. Gong Jow-jiun, Shiyan yu wei ganjue, S. 48. 67 Die Bedeutung der Wiederveröffentlichung und die implizite Übertragung der vorhandenen Kritik und Ideen auf den Zeitpunkt der Wiederveröffentlichung stellte ich in Bezug auf die Melancholischen Dokumente in meinem Vortrag ›Geschickt aus Paris‹ und ›melancholische Moderne‹ – das Kunstverständnis

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2.2 Zur Kunstszene und dem Kunstverständnis der 70er und 80er Nachdem in den 1960er Jahren das Abstrakte in Taiwans Kunst vorherrschte und als ›modern‹ und ›international relevant‹ gesehen wurde, waren die 1970er Jahre, die Chen Chuan-xing im vorliegenden Text als »verworren« bezeichnet – und damit als eher wenig relevant für die Überlegungen, was ›moderne Kunst‹ ist, zu Beginn der 1990er Jahre einschätzt68 – von einer realistischen Malerei geprägt: Realismus und Fotorealismus – die Rezeption Andrew Wyeths war hier maßgebend – galten als Richtungen, durch die eine Darstellung der Heimaterde Taiwans erreicht werden konnte. Auch die als ›naiv‹ bezeichnete autodidaktische Kunst eines Hong Tongs und die ihren Ursprung im volkstümlich-religiösen Kunsthandwerk habenden Skulpturen Ju Mings 朱銘 bildeten in ihrer ›Authentizität‹ ein wichtiges Fundament der Heimaterde-Bewegung. Hong Tongs Ausstellung in den Räumen des amerikanischen Nachrichtendienstes (März 1976) und die fast gleichzeitig im Geschichtsmuseum eröffnete Ausstellung Ju Mings wurden zu Publikumsmagneten und zu wahren Pilgerstätten für die Kunstszene.69 Dabei spielte auch der vor allem durch Hsieh Lifas Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung entfachte Hype um die zur Zeit der japanischen Besatzung arbeitenden Künstler der ›früheren Generation‹ (qianbeihuajia 前輩畫家) eine wichtige Rolle. An ihren Bezug auf ›Taiwans Erde‹, auf dieses scheinbar geografische Bild von ›Taiwan‹ konnte vor allem in der vorherrschenden realistischen Malerei künstlerisch angeknüpft werden und somit eine künstlerische Trennung von China geschehen, dessen internationale Vertretung die Kuomintang-Regierung seit 1971 nicht mehr darstellen durfte. Das Bild des ›exotischen Taiwans‹, das zur Zeit der japanischen Besatzungszeit von den Besatzern verbreitet wurde, kann als beispielsweise in den fotorealistischen Ölmalereien von Bananen einer Cho Yeou Jui 卓有瑞 oder in den Aquarellen Xi Dejins fortgeführt werden sehen. Dieser Hype wurde in großem Maße auch von den Zeitschriften Hsiung Shih Art Monthly (1971-1996) und der seit Mitte der 1970er Jahre im Monatsturnus erscheinenden Zeitschrift Artist – beide berichteten über aktuelle Ausstellungen, Kunstentwicklungen sowohl im Ausland als auch in Taiwan – genährt.70 Taiwans der 80er und 90er Jahre ausgehend von der Kunstkritik Chen Chuanxings (›寄自巴黎‹ 與 ›憂鬱現 代性‹ – 從陳傳興 ›文件大展‹ 評述的發表出發看80到90年代台灣藝術觀) in Taipei im Rahmen der International Conference on Taiwanese Contemporary Art History (Oktober 2015) dar. Über diesen Aspekt diskutierte ich mit der Kuratorin und Kunstkritikerin Lu Peiyi, die mit Verweis darauf, dass Chen einfach alle seine Texte der 80er Jahre hier versammelt hätte und eine solche Wiederveröffentlichung eine gängige Praxis sei, um die Publikationsliste zu erweitern, meiner Interpretation nicht folgte. Da Chen äquivalent dazu all seine Texte der 90er Jahre in Ist ein Baum länger als eine Nacht? versammelte, ließe sich der Kritikpunkt übertragen. Trotz dieser berechtigten Kritik bin ich (in beiden Fällen und besonders angesichts der Bedeutung der Melancholischen Dokumente zu Beginn der 90er Jahre), auch mit Bezug zum Vorwort von Ist ein Baum länger als eine Nacht? der Meinung, dass Chen die Wiederveröffentlichungen taktisch nutzt, um den Leser zu ermutigen, die enthaltene Kritik auf das Heute zu übertragen. 68 Gong Jow-jiun widerspricht dieser Einschätzung. Dies wird in Kapitel V analysiert und diskutiert. 69 Vgl. Hsiao Chong-ray, Taiwan meishu shigang, S. 434ff. 70 Laut Margaret Shiu 蕭麗虹 ist die Zeitschrift Artist regierungsnäher als Hsiung Shih Art Monthly (persönliches Gespräch im Bamboo Curtain Studio [zhuwei gongzuoshi 竹圍工作室], Taipei, Mai 2015). Beide sind als Verlag mit kunst- und kulturwissenschaftlichem Schwerpunkt bis heute tätig.

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Im Laufe der 1980er Jahre waren – wie Chen selbst – viele Künstler und Theoretiker vom Studium im Ausland (Europa und Nordamerika) zurückgekehrt und unterrichteten an den Anfang der 1980er Jahre auf- und ausgebauten Kunstakademien. So fanden Fremdsprachenwissen und Übersetzungen westlicher Kunstgeschichte und -theorien in einem großen Umfang Einlass in die Kunstszene Taiwans, wofür auch Chen Chuan-xing steht. Auch die Ausstellungsmöglichkeiten für Künstler hatten sich vervielfältigt: 1983 war nach vielen Jahren Planung und Diskussion das Taipei Fine Arts Museum eröffnet worden, das explizit als Museum für moderne Kunst gesehen wurde.71 Weiter folgte 1988 das National Taiwan Museum of Fine Arts in Taichung. Taiwan trat »in die Ära des Kunstmuseums ein«, wie Hsiao Chong-ray schreibt – die Institutionalisierung, wie sie Chen auch im im Rahmen dieser Arbeit besprochenen Text als »akademischen Modernismus« beschreibt, schritt auch über die Etablierung und den Ausbau der Kunstuniversitäten und -fachbereiche voran. Eine Kunstszene hatte sich gebildet, die international orientiert war, was sich vor allem an den Ausstellungen, die im Taipei Fine Arts Museum zu sehen waren, zeigte: »Die Eröffnung des Taipei Fine Arts Museums Ende 1983 war für die Entwicklung der Kunst Taiwans ein Meilenstein: Ausstellungen internationaler Art fanden statt, die Werke der großen Meister der Welt wurden ausgestellt und vor allem konnten die allerneuesten Informationen zur Avantgarde durch das eher fortgeschrittene Informationssystem des Museums in die Kunstszene gelangen. Von der Eröffnungsausstellung ›Ausstellung moderner amerikanischer Papierarbeiten‹ bis zu den Ausstellungen ›Cobra‹, Bauhaus, Christo, Paul Delvaux, Dada, ›Moderne Kunst der Region Nizza‹ etc.: Der Beginn der Epoche des Kunstmuseums ist Symbol dafür, dass Taiwans moderne Kunst die Möglichkeit zum Dialog mit der Kunstszene der Welt erreicht hatte, wir befanden uns gleichzeitig mit dem Westen in der ›Moderne‹.«72 Ein Streben nach einer Internationalisierung des ›Modernen‹ weisen die Ausstellungen des Taipei Fine Arts Museum also auf. Zwei Vorfällen, die sich im August 1985 im Taipei Fine Arts Museum ereigneten, zeigen jedoch, dass innerhalb dieser institutionalisierten Kunstszene Vorgaben des Zeigbaren herrschten: Die Skulptur Die Grenzenlosigkeit des Minimalen (dixian de wuxian低限的無限) des Künstlers Li Zaiqian 李再鈐 wurde vom Museum mit silber-weißer Farbe besprüht, da es Beschwerden gab, dass die ursprünglich rote Stahlskulptur aus einer bestimmten Perspektive einem roten fünfzackigen Stern ähnele. Im gleichen Monat wurde der junge Künstler Zhang Jianfu 張建富 aus der Ausstellung Avantgarde. Installation. Raumausstellung73 ausgeschlossen, 71 Diese Einordnung lässt sich beispielsweise auch in der zum zehnten Jahrestag des Museums herausgegebenen Sammelschrift One Decade of Modern Art Development in Taipei ablesen (vgl. Huang Guangnan 黃光男 (Hg.), Taibei xiandai meishu shinian 台北縣代美術十年 [One Decade of Modern Art Development in Taipei], Taipei 1993). 72 Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 59. Ni ordnet in diesem Zitat von 1991 die Ausstellungspolitik als ein Streben nach ›Gleichzeitigkeit‹, nach einem ›Aufholen‹ des Westens ein. Wenn auch dies als eine Interpretation im Rahmen der unten ausgeführten Debatte um das Taiwan-Bewusstsein gelesen werden sollte, so ist dieses Zitat doch hilfreich, um in Kürze die Institutionalisierung der Kunstszene in den 1980er Jahren zu verstehen. 73 Chinesischer Originaltitel: qianwei • zhuangzhi • kongjianzhan 前衛 • 裝置 • 空間展.

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zu der er ursprünglich eingeladen worden war, da die stellvertretende Museumsleiterin Su Ruiping 蘇瑞屏 mit den Arbeiten nicht zufrieden war.74 Es war besonders der Künstler Lin Shou-yu/Richard Lin, dessen künstlerische Praxis Vorbild für viele junge, sich als ›modern‹ bezeichnende Künstler Taiwans wurde. Aus Großbritannien zurückgekehrt, erweiterte er – wie viele andere im Ausland (Europa und Amerika) studierte Künstler – in den beginnenden 1980er Jahren die Vorstellung von moderner Kunst. Lins Bedeutung für die Entwicklung der modernen Kunst in Taiwan kann vor allem an seiner ersten, 1982 stattgefundenen Einzelausstellung in Taiwan in der Lung Men Art Gallery gesehen werden. Diese wurde eingeschätzt als »auf einem internationalen Level spielend«, als etwas, was »sonst kaum in Taiwan zu sehen ist.«75 In seinem Artikel befürchtet Wang Hsiu-hsiung 王秀雄, dass »seine Malereien in Taiwan nicht verstanden werden, weil sie keine realistische Wiedergabe sind/ zeigen.« Diese Einschätzung legt die herrschende konservative Haltung der Kunstszene Taiwans zu Beginn der 1980er Jahre dar, die nun von mitgebrachtem Wissen über die als international gesehene Kunstgeschichte und Entwicklung Europas und Amerikas beeinf lusst wurde und langsam, durch die Etablierung von Galerien und Off-Spaces, die zumeist junge, international orientierte Kunst taiwanischer Künstler zeigten, aufzubrechen begann. Die Gruppenausstellungen Strange Space (yidu kongjian 異度空間) (1984) und ein Jahr später Transcendent – Play of Space (chaodu kongjian zhan 超度空間展), die beide in der 1978 gegründeten Spring Gallery 76 gezeigt wurden und an denen Lin Shou-yu/ Richard Lin maßgeblich beteiligt war, beeinf lussten Taiwans Kunstszene stark und werden bis heute als den Blick auf Kunst maßgeblich verändert habend gesehen.77 Vor allem wurde hier die Installationskunst Teil der ausgestellten Kunst: Während zuvor mit yishu oder meishu nahezu ausschließlich die Malerei bezeichnet wurde (bei Liu wird Malerei (huihua) und Kunst (yishu/meishu) noch nahezu synonym verwendet), so wurde nun neben der dominierenden Installationskunst auch Video- und Performancekunst Teil der ausgestellten Kunst.

74 Vgl. Redaktion der Zeitschrift, 1985 nian meishu congping 1985年美術總評 [Kommentar zur Kunst des Jahres 1985], in: Hsiung Shih Art Monthly, Nr. 179, 1.1986, S. 44-59, Anmerkungen 1 und 2. 75 Wang Hsiu-Hsiung 王秀雄, Baise de meili yu zhenhan – Lin Shouyu yishu zhi mei 白色的魅力與震撼 – 林壽宇藝術之美 [Die Anziehungskraft und die Faszination des Weiß – die Schönheit der Kunst Lin Shou-yus], in: Hsiung Shih Art Monthly, 11.1982, Nr. 141, S. 152-154, S. 152. 76 Diese wurde inzwischen in die Spring Foundation umgewandelt und wurde so zum Archiv zur Entwicklung der modernen und zeitgenössischen Kunst in Taiwan durch die Unterstützung von Forschungsprojekten, Austauschprogrammen, Ausstellungen etc. (vgl. http://springfoundation.org.tw/en/ab out/, Stand: 8.1.2017). 77 So unterstreicht beispielsweise Chuang Wei-Tzu 莊偉慈 durch ihren 2012 im Zuge der von Wang Pinhua kuratierten Ausstellung When Spaces became Events (dang kongjian chengwei shijian 當空間成為事 件) im Kaohsiung Museum of Fine Arts veröffentlichten Artikel Die 1980er in Taiwan: Kunst, Raum und Ereignisse – Erneute Evaluation des Geistes der modernen Kunst Taiwans. Tsuang Pu und ›Strange Space‹ und ›Transcendent – Play of Space‹ die Bedeutung der beiden Ausstellungen. Vgl. Chuang Wei-Tzu: Taiwan 1980: yishu, kongjian yu shijian – Chongxing taiwan xiandai yishu jingshen – Zhuang Pu yu ›yidu kongjian‹, ›chaodu kongjian‹ 台灣1980: 藝術, 空間與事件 ─ 重省台灣現代藝術精神 ─ 莊普與 ›異度空間‹, ›超 度空間‹, in: Artist Nr. 451, 12.2012, S. 202-203.

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

2.3 Die Debatte um das ›Taiwan-Bewusstsein‹ Der Text Die unzulängliche Darstellung der ›Moderne‹ und das Sprechen vom Bewusstsein ist als Reaktion und Antwort auf die Diskussion auch Teil der Debatte der Kunstszene Taiwans um die Bedeutung des ›Bewusstseins der eigenen Erde‹78, des ›Taiwan-Bewusstseins‹ und der ›Taiwan-Subjektivität‹ für die ›Kunst Taiwans‹, die in den Kunstzeitschriften geführt wurde. Ausgelöst wurde diese Debatte durch den im April 1991 in Hsiung Shih Art Monthly veröffentlichten Text Westliche Kunst – Made in Taiwan des Kunstkritikers Ni Tsai-Chin. Die Sicht auf ›Moderne Kunst‹, sowie das begriff liche Verständnis das in der Debatte zum Vorschein kommt, nimmt in Taiwans Kunstszene vor dem Hintergrund der allmählichen Globalisierung des Kunstdiskurses eine bedeutende Rolle ein. Ni Tsai-Chins Text, der mit Kritik an der modernen Kunst Taiwans untertitelt ist und somit eine Gleichsetzung von ›westlich‹ mit ›modern‹ impliziert, beginnt mit einem Absatz über die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst. Ni bezieht sich hier auf John Ruskin und Hippolyte Taine und konstatiert: »Der Zeitgeist einer jeden Epoche kann sich im Mikrokosmos des Ausdruckes der Kunst zeigen.«79 Eine enge Verknüpfung der konkreten gesellschaftlichen Realität der Umgebung des Kunstschaffenden mit dessen Werken beschreibt Ni als Ideal. Der Diskussion wird damit ein soziologisches Verständnis von Kunst zugrunde gelegt, das – so zeigte sich in der weiteren Debatte – auch als stark von realpolitischen Zusammenhängen beeinf lusst gesehen wird. Dieses Kunstverständnis, das reagiert auf die unmittelbare gesellschaftliche Realität, meint Ni im Kunstschaffen der Moderne des ›Westens‹ (der nicht näher eingegrenzt und definiert wird, jedoch sowohl als diskursive Größe für die Bezeichnung einer modernen Form des Kunstschaffens als auch als geografisch-historische Bezeichnung für das Kunstschaffen Europas und Nordamerikas dient) so vorzufinden. Genau diese historische und gesellschaftliche Verortung, die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem konkret lokal Geschehenden aber fehlt laut Ni in Taiwan, dessen Kunstszene Kunst »lange Zeit als ›Reines‹80 angesehen« habe. Er kritisiert das künstlerische Schaffen Taiwans als oberf lächlich an unverstandenen westlichen Strömungen orientiert, hier sei »der Geist der Avantgarde der modernen westlichen Kunst unauffindbar«.81 Taiwans Kunst strebe immer nur oberf lächlich danach, auch Avantgarde zu sein.82 Diese kritisierende Sicht auf Kunst etabliert die Erzählung einer nicht an einer konkreten Realität entlang entstehenden modernen Kunst als unpassend für Taiwan.

78 Zur Übersetzung von und Diskussion über das ›Bewusstsein der eigenen Erde (bentu)‹ (bentu yishi 本 土意識), siehe IV.1 Fußnote 3. 79 Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 37f. 80 Interessant ist hier anzumerken, dass Ni das ›Reine‹ – also die von Liu so hervorgehobene ›reine Kunst‹ (chuncui yishu 純粹藝術) – hier dezidiert im Kontext Taiwan stark kritisiert, als die gesellschaftliche Entwicklung nicht berücksichtigend und sich als unabhängig wähnend. Das ›Reine‹ sieht er nur dann als positiv, wenn dieses ›Reine‹ aus der Gesellschaft heraus entsteht und Teil derselben ist, wie er dies im Westen sieht. In Taiwan hingegen sieht er die ›reine‹ Kunst – die damit nahe der Greenbergʼschen Bedeutung angesiedelt ist – als nur einen unverstandenen modischen Trend. 81 Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 38. 82 Vgl. ebd., S. 84ff.

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Ni Tsai-Chin schreibt also Taiwans Kunstszene zunächst eine klare Entfernung und Entfremdung von jeglicher gesellschaftlichen Realität zu, indem sie zu eifrig Trends, die aus dem Westen kommen oder hergeholt werden, nacheifere ohne deren Zusammenhänge zu verstehen und nachzuempfinden. Als Ergebnis dieser Art der künstlerischen Praxis sieht er eine Leere: Die Kunst Taiwans sei also nur ›Made in Taiwan‹, nur in Taiwan gemacht, eigentlich aber ›westliche Kunst‹. In der unmittelbaren Folge der Veröffentlichung des Textes entwickelte sich eine umfassende und langandauernde Diskussion um ein Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans, wie der Titel eines weiteren Textes Nis, im November desselben Jahres im Rahmen der Debatte veröffentlicht, die Frage danach, was eine Kunst Taiwans sein kann, zusammenfasst.83 Dass diese Debatte um ein Taiwan-Bewusstsein in der Kunst sich – im Gegensatz zur Debatte in der Literaturszene zu Beginn der 1980er Jahre, die die besonders in Hinblick auf die Sprache relevante Frage nach der Bedeutung einer Identität ›Taiwans‹ gegenüber China stellte84 – hauptsächlich mit der Frage nach einem Taiwan im Vergleich oder Gegensatz zur westlichen Kunstdefinition, bzw. zum Westen, auseinandersetzte, unterstreicht die große Bedeutung, die der ›westlichen Kultur‹ zugesprochen wurde. Dies zeigt sich auch wenn Ni schreibt: »Wenn wir in einem noch größeren Rahmen die Kunst Taiwans analysieren, so zeigt sich, dass die gesamte Bewegung der Kunst Taiwans im 20. Jahrhundert ein Produkt der kolonialen Kunst ist. Egal ob man sich einen chinesischen, taiwanischen oder eigenen (bentu) Mantel überzieht – es ist doch alles die westliche Kultur, die in einem anderen Körper wiedergeboren wird.« 85 Die »westliche Kultur« wird hier als Synonym des Kolonialen dargestellt, das hier nicht mehr die konkret historisch zu verortende Kolonialisierung durch Japan bezeichnet, sondern vielmehr eine Kolonialisierung von Vorstellungen die Kunst betreffend, von Werten und Normen. Die Frage, was Taiwans Kunst sei, besitzt hier eine andere Qualität als in den 1970er Jahren, als ›Taiwan‹ – angetrieben von der weltpolitischen Isolierung Taiwans – in der Heimaterde-Bewegung unabhängig von der politischen Identität als Republik China erstmals vor allem in seiner geografischen Eigenheit in den Blick kam und die Heimaterde als Erfahrung einer Heimat gesucht wurde. ›Heimaterde‹ (xiangtu 鄉土) bezeichnet damit eher ein nostalgisches Gefühl der Verbundenheit mit ›Heimat‹, während die ›Eigene Erde‹ (bentu) der 90er Jahre von der Diskussion der Bedeutung Taiwans als Nation ausgeht und deren Geschichte,86 im Sinne einer 83 Ni Tsai-chin, »Taiwan meishu zhong de taiwan yishi« 台灣美術中的台灣意識 [Das Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans], in: Ye Yujing, Taiwan meishu zhong de taiwan yishi, S. 176-217; Erstveröffentlichung in Hsiung Shih Art Monthly, Nr. 249, 11.1991, S. 137-157. 84 Vgl. Xiao Aqin 蕭阿勤, Chonggou taiwan: dangdai minzuzhuyi de wenhua zhengzhi 重構台灣: 當代民族 主義的文化政治 [Reconstructing Taiwan: the cultural politics of contemporary nationalism], Taipei 2012, Kapitel 4.6.2. 85 Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 41. 86 Die Geschichte Taiwans wird im Zuge und in der Folge der Diskussion um die ›Eigene Erde (bentu)‹ meist als mit der Kolonialisierung durch Portugal, Holland und Spanien im 16./17. Jahrhundert und der Benennung als ›Ilha Formosa‹ beginnend beschrieben. Diese Geschichtsanschauung (als ›Eigene Erde Geschichtsanschauung‹ [bentu lishiguan 本土歷史觀] bezeichnet), die ab den 1990ern aufgrund der politischen Situation doch überhaupt erst möglich war, fand dann allmählich auch in den Schulunter-

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Suche nach nationaler Identität, schreibt.87 Das lokale ›Eigene‹ steht hier im Gegensatz zum ›Globalen‹ und muss somit als national-konnotiert verstanden werden. Made in Taiwan beschreibt als Slogan die Frage nach einer global-akzeptierten, global-eingebundenen und wiedererkennbaren Marke. Die Debatte steht damit an einem Punkt in der Entwicklung der Kunstszene Taiwans, an dem die Präsentation nach ›außen‹ und der Blick von ›außen‹ auf Taiwan an Bedeutung gewann. Es begann die Präsentation nach außen als ›Taiwan‹, was sich in ersten Gruppenausstellungen taiwanischer Kunst im Ausland,88 besonders aber durch die Teilnahme an der Venedig-Biennale ab 1995 oder die Ausführung der Taipei Biennale als internationale Biennale ab 1998 widerspiegelt.89 Es ist die Ausrichtung aufs und das Einbezogen-Sein ins Globale, was die Debatte der 90er Jahre prägte. Auch dadurch, dass beispielsweise die Künstlerin Wu Mali 吳瑪俐, die an der Kunstakademie Düsseldorf studiert hatte, von den Ausstellungen Magiciens de la terre, K 18. Begegnung mit den Anderen und ›Primitivism‹ in the 20th century im Kontext der Debatte sprach,90 ist ein Verweis gegeben, dass die beginnende Auseinandersetzung in der Kunstszene Europas und Nordamerikas mit der zeitgenössischen Kunst anderer Weltregionen, also der Blick des ›Westens‹ auf den ›Nicht-Westen‹ eine Rolle in der Debatte spielte und der Kunstszene Taiwans zu Beginn der 1990er Jahre durchaus bewusst war.91 Wenn also nach der Kunst Taiwans gefragt wird, so geschieht dies vor dem Hintergrund eines ›Außen‹. Das Sprechen von einer ›Kunst Taiwans‹ ist daher im Lichte einer nationalen Abgrenzung zu verstehen. Es deutet sich an, dass die Debatte der beginnenden 1990er Jahre sich sowohl intensiv mit dem Bezug auf die ›Heimaterde‹, wie er schon in den 1970er Jahren geschehen ist, auseinandersetzt, als implizit auch mit dem in den 1980er Jahren gefestigten Verständnis von ›modern‹ als einer internationalen Form der Institutionalisierung von Strukturen der Kunstszene folgend. Chens Text ist vor dem Hintergrund dieser Fragen und als Auseinandersetzung mit denselben zu verstehen. Der Text muss – so sehr er sich in seinem kritisch-ref lekricht Einzug: Außer Festlandchinas Geografie, Geschichte und gesellschaftlicher Entwicklung wurde nun auch Taiwans Geschichte gelehrt. Dieser neue Blick auf Taiwan, dieses also stark auf realpolitischen Ereignissen beruhende Taiwan-Bewusstsein, bildet auch die Grundlage der Diskussion um das Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans. Die Selbstbezeichnung als ›Formosa‹ findet immer wieder Einlass in die Beschreibung von Kunst und auch in das künstlerische Schaffen selbst. 87 Der Künstler Mei Dean-E bezeichnet in seinem, im Rahmen der Debatte entstandenen Text Diskussion des Bewusstseins der Eigenen Erde (bentu) in der modernen Kunst Taiwans (»Taiwan xiandaiyishu bentu yishi de tantao« 台灣現代藝術本土意識的探討, in: Hsiung Shi Art Monthly Nr. 249, 11.1991, S. 110-113), die Bezeichnung bentu als direkten Nachfolger der xiangtu-Diskussion: Die Bezeichnung xiangtu hätte sich zu bentu gewandelt und beiden gehe es um die Frage der Bedeutung eines Taiwan-Bewusstseins in der Kunst. Er differenziert hier nicht weiter, wie und ob sich eine Bedeutungsänderung in der Diskussion des ›Eigenen‹ in der Kunst vollzog, bezeichnet allerdings die Diskussion als die noch nicht zu Ende diskutierte Frage der »self identity« (so in Klammern hinter ziwo dingwei 自我定位) behandelnd. 88 Als Beispiel wäre hier vor allem die Ausstellung Taiwan: Kunst heute zu nennen, die 1996 im Museum Ludwig Forum Aachen und im Haus der Kulturen der Welt (1996-1997) zu sehen war. 89 Vgl. Chen Wen-ling, Taiwan Pavilion at the Venice Biennale. 90 Vgl. Hu Yongfen, Taiwan meishu ji qi yishi de ›weizhi‹, S. 267. 91 Eine ausführliche Diskussion der These, dass die beginnenden 90er Jahre einen Wendepunkt darstellen in der Diskussion um die Frage, wie eine Kunst Taiwans zu sehen sei, findet sich in VI.4.

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tierenden Ansatz auch unterscheidet von den zitierten Positionen – als Dokument der Zeit angesehen werden und ist, besonders in Bezug auf seine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Westens, Teil dieser Debatte und stellt eine wichtige und einf lussreiche Position in ihrer Kritik dar.92 Der Text steht weiter insofern als repräsentativ, als dass in seiner Kritik die anderen Texte der Debatte zusammengefasst werden.

3. Analyse 3.1 Zusammenfassende Einführung in den Text Der Text Die unzulängliche Darstellung der ›Moderne‹ und das Sprechen vom Bewusstsein Chen Chuan-xings stellt eine wichtige Position in der Reaktion auf Ni Tsai-Chins Text Westliche Kunst – Made in Taiwan dar. Die dem Text inhärente starke Kritik an der Kunstszene Taiwans macht es wichtig, diesen Text als für die Kunstszene Taiwans und im Rahmen dieser entstanden zu betrachten. Die in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein diskutierte Frage nach der ›Kunst Taiwans‹ (oder ›taiwanischen Kunst‹) greift Chen auf und stellt sie in einen kritischen Bezug zur Diskussion um die (künstlerische) Moderne in Taiwan. Chens Text kreist um das Sprechen über Kunst, ist Kritik der Einbettung von Kunst in erklärende, realpolitische Gesellschaftszusammenhänge, die er als die Kunstszene Taiwans prägend sieht. Chens Text diskutiert verschiedene Meinungen sehr kritisch, die zu Beginn der 1990er Jahre auf Ni Tsai-Chins Text reagierten und rekonstruiert den Prozess der Herausbildung des Sprechens von einer ›postmodernistischen‹ und anti-modernistischen Strömung in Taiwans Kunstszene und damit verbunden dem Taiwan-Bewusstsein und dem Bewusstsein der eigenen Erde (bentu) der späten 1980er. Bedeutend ist Chens Kritik einer ›falschen Verwendung‹ (3.0) des Postmodernismus und des Anti-Modernismus, die er in Taiwan diagnostiziert, und die er nicht als Ref lexion der Moderne sieht, sondern als reine Ablehnung: Das Sprechen von einer Postmoderne bewertet er als Angst, sich mit dem Modernismus, seinen Fragen, Problemen und Zweifeln in Taiwan, auseinanderzusetzen. Weiter würde eine Modernedefinition zugrundegelegt, die Modernismus und die gesellschaftliche Modernisierung gleichsetze und Moderne so als Fremdkörper betrachte. Es ist besonders Chens Schreiben von einer ›falschen Verwendung‹, das auf den Referenzrahmen, den Chen seiner Analyse zugrundelegt, verweist. Weiter dient die Einordnung als ›falsch‹ als wichtige Koordinate, von welcher aus Chen die Vorstellung von ›Moderne‹ der Kunstszene Taiwans als Westliches, »als einheitliches und gesamtes Phänomen« (5.34)93, das gewaltvoll die ›eigene (bentu) Kultur‹ verdrängt, analysiert und kritisiert. 92 Dies zeigt sich auch, da Ni Tsai-chin einige Monate später direkt auf Chens Kritik reagierte, was dessen Eingebundenheit unterstreicht. Ni Tsai-chin bezeichnet hier den Text – trotz der tiefgreifenden Kritik, die der Text an Nis Haltung übt – als wichtige und tiefgründige Analyse. Vgl. Ni Tsai-chin, Lun 1990 niandai taiwan meishu binan suo nei kuifa de yuyan, huangmiu de bianzheng 論1990年代台灣美術避 難所內匱乏的語言, 荒謬的辯證 [Diskussion der unzulänglichen Sprache und der absurden Dialektik im Rückzugsort der Kunst Taiwans der 1990er Jahre], in: Ye Yujing, Taiwan meishu zhong de taiwan yishi, S. 279-295. 93 Die in den Analysen zitierten Textteile der Übersetzungen werden nicht jedes Mal als aus den Übersetzungen zitiert mit Fußnote versehen. Zitate, die also in den Analysen stehen, sind, soweit nicht

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Eine »psychoanalytische Kulturdiagnose«94 nennt Gong Jow-jiun Chens Texte zur Situation Taiwans der 70er und 80er Jahre in den Melancholischen Dokumenten95 – eine Bezeichnung, die auch für Chens Diagnose der ›Unzulänglichkeit‹ der Auseinandersetzung der Kunstszene Taiwans mit ›Moderne‹ im hier analysierten Text angewendet werden kann. Seine Überlegungen haben ihren hauptsächlichen Ausgangspunkt in der Betrachtung der psychischen Verfasstheit der gesamten Kunstszene Taiwans und gehen weniger von einem ästhetischen Phänomen aus. Es ist keine Kritik an bestimmten Werken oder Künstlern, sondern eine umfassende Kritik des Kunstsystems. Die unbewussten Dimensionen der von ihm beobachteten gesamten Entwicklung und Diskussion der Kunstszene Taiwans werden kritisch in den Blick genommen und ein kritisches Bewusstsein und eine kritische Auseinandersetzung der Bedeutung der Moderne in Taiwan gefordert.

3.2 Zum Kunst- und Moderneverständnis Chen Chuan-xings Gleich zu Beginn des Textes verortet Chen seine Vorstellung von ›Moderne‹ in der unmittelbaren Nähe zu Descartes, Hegel und den die solchermaßen verstandene Moderne prägenden Überlegungen zur Subjektivität und dem Subjekt. So sieht Chen die Subjektivität und das Moderne als untrennbar miteinander verbunden: »[…] das Problem des ›Subjekts‹ [wurde] zu dem ›Moderne‹ bestimmenden Symbol« (1.8) schreibt Chen und bezeichnet die Modernität als »die nach außen sichtbare Erscheinung der ›Subjektivität‹« (1.9). »Was ist der Grund dafür, dass die ›Moderne‹ an diesem Ort erst mit einer derartigen Verspätung in der widersprüchlichen Form des ›Subjekt-Bewusstseins‹ hervortritt?«96, fragt Chen in den Melancholischen Dokumenten. Auch hieran wird deutlich, dass Chen die Diskussion um das ›Subjekt-Bewusstsein‹, die Taiwans Kunstszene »das gesamte Jahr 1991« (1.1) führte, als einen Ausdruck von ›Modernität‹ einordnet. Weiter spricht Chen von der Selbsttätigkeit, Autonomie und Aktivität als Grundkomponenten des »zum Denken fähigen ›Subjekt[s]‹« (1.10) und verweist durch den Hinweis auf das ›Denken‹ auf die Bedeutung, die er der Kritik und dem kritischen Bewusstsein zuspricht. Dass Chen den Begriff pipan 批判 nutzt, um von ›Kritik‹ zu sprechen, verweist auf ein Kritikverständnis, das sich aus der Auseinandersetzung mit den Ideen und Vorstellungen der europäischen Auf klärung generiert, diese als Referenzpunkt etabliert und sich auf diese beruft.97 In diesem Kontext impliziert Chens anders vermerkt, den jeweils diskutierten Texten entnommen, wobei die konkrete Stelle durch die Nummerierung auffindbar ist: 5.34 verweist also auf Satz 34 im fünften Unterkapitel des Textes, der von Chen nicht selbst durchnummeriert wurde. 94 Gong schreibt 2010 in seinem Text Zeitverzögerung und Mikrogefühle, dass Chen nicht mehr auf Grundlage einer Realpolitik oder auf der politischen Forderung einer Subjektivität eine ästhetische Kritik vornehme, sondern die ›verspätete Moderne‹ Chens Grundlage dieser psychoanalytischen Kulturdiagnose sei. Vgl. Gong Jow-jiun, Shiyan yu wei ganjue, S. 49. 95 Das, wie oben erwähnt, ebenfalls 1992 geschriebene Vorwort zur Textsammlung Melancholische Dokumente werde ich in meiner Analyse beachten und immer wieder einbeziehen. 96 Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 10. 97 ›Kritik‹ – dieses »Fahnenwort der Aufklärung« (Martin Fontius, »Kritisch/Kritik«, in: Barck; Fontius; Schlenstedt, Ästhetische Grundbegriffe Bd. 3, S. 450-489, S. 458) – findet im chinesischsprachigen Kontext (in Form der modernen Begriffsprägung pipan 批判) vor allem in der Übersetzung der

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Beurteilung, Taiwans Kunstszene sei nicht kritisch, dass Chen ›Kritik‹ – verstanden als analysierend und auf Erkenntnis ausgelegt – als eine Grundbedingung dafür, ›modern‹ zu sein, versteht. Deutlich wird, dass Chen ›Moderne‹ (xiandaixing 現代性)98 also als an das historisch in der Epoche ›Moderne‹ entwickelte Konzept versteht, dessen klarer Referenzrahmen die Entwicklung der europäischen historischen Moderne darstellt. So ist Chens ›Moderne‹ durch die universalen Gedanken zur kritischen Ref lexion eines selbstbewussten Subjekts geprägt und stellt daher ein übergeordnetes Konzept dar. Ein solches Verständnis von Moderne, Kritik und dem Subjekt – mit dem Chen denn den Text eröffnet – bildet den Hintergrund von Chens Verständnis des Modernismus99 in der Kunst, hierauf baut Chen seine Kritik an der Vorstellung der Kunstszene Taiwans vergleichend auf: Kantʼschen Kritiken (erstmals 1935; 1983 dann auch von Mou Zongsan in Taiwan) prominente Anwendung: Kritik der reinen Vernunft (chuncui lixing pipan 純粹理性批判), Kritik der praktischen Vernunft (shixian lixing pipan 實踐理性批判), Kritik der Urteilskraft (panduanli pipan 判斷力批判), sowie zusammengefasst Die drei Kritiken (san da pipan 三大批判). 98 Das chinesische xiandaixing wird häufig in Klammern um das englische ›modernity‹ ergänzt. Im Deutschen sind daher die Übersetzungen ›die Moderne‹ oder aber auch ›Modernität‹/›das Moderne‹ möglich und müssen somit mitgedacht werden. 99 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass der Terminus ›Modernismus‹ (der im deutschen Sprachgebrauch eine tendenziell leicht negative Konnotation im Sinne eines ›bloßen Modernismus‹ mit sich führt), keine ideologische Konnotation im taiwanischen (auf die Kunst bezogenen) Sprachgebrauch führt, sondern vor allem das englische ›modernism‹, sowie das französische ›modernisme‹ als Grundlage hat, und es so zur ›Ismus‹ (zhuyi 主義)-Bildung kam. Bei Chen findet sich dieser Bezug in seinen früheren Texten zur documenta 7: Hier wird jener ›Modernismus‹ in der Kunst (xiandaizhuyi 現代主 義) in Klammern als ›modernisme‹ eingeführt (vgl. Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 21). Mit xiandaizhuyi wird häufig die Moderne in der Kunst und Kultur bezeichnet – in Abgrenzung zum übergreifenden oder gesellschaftlich verstandenen Modernebegriff xiandaixing 現代性 –, also eine stilistisch definierte Form des künstlerischen Schaffens, die das Streben nach Modernität (häufig mit Referenz auf Baudelaires Le Peintre de la vie moderne und der darin entwickelten Idee von ›Modernität‹) einbezieht. Auch ein Bezug auf Greenberg ist sehr wahrscheinlich, da Lü Qingfu 1981 in der Zeitschrift Hsiung Shih Art Monthly Greenbergs Aufsatz Modernist Painting besprach und als wörtlich übersetzt xiandaizhuyi huihua 現代主義繪畫 einführte (vgl. Lü Qingfu, Fan qianwei – gelinbao 反前衛 – 格林堡 [Anti-Avantgarde – Greenberg], in: Hsiung Shih Art Monthly Nr. 130, 12.1981 S. 102-109). Da die Beschreibung als ›modern‹/›Moderne‹ oder ›modernistisch‹/›Modernismus‹ in Texten häufig nicht durchgängig einheitlich aufzufinden ist (beispielsweise schreibt Ni sowohl von moderner als auch von modernistischer Kunst; Huang Hai-ming schreibt von den »Dingen des Modernismus«, was Chen als die »›modernen‹ Dinge« (3.28) aufgreift), muss die enge Verbindung der beiden Begriffe und die inhaltliche Nähe und teilweise Synonymität der Konzepte immer mitgedacht werden. Eine einheitliche Erklärung der genauen Bedeutung von xiandaizhuyi ist – wie doch im Deutschen auch – nicht möglich. Auch Chen verwendet xiandaizhuyi (›Modernismus‹) und xiandaixing (›Moderne‹), sowie das außerdem vorkommende xiandai (›modern‹ oder ›Moderne‹ – ein wenig enger das Zeitalter der Moderne beschreibend) nicht immer klar abgegrenzt voneinander. Eine Übersetzung als ›klassische Moderne‹, ›ästhetische Moderne‹ oder auch einfach der ›modernen Kunst‹, was denn dem englischen ›modernism‹ im Kontext Kunst weitestgehend entspräche, wird hier einerseits nicht gewählt, da vor allem die Bezeichnung ›klassische Moderne‹ im Deutschen zu stark auf eine kunsthistorische Epoche verweist, während die ›ästhetische Moderne‹ hingegen doch sehr klar an Adorno gebunden ist und beide Termini somit weniger Spielraum für eine definitorische Ausweitung bieten. Eine Übersetzung als ›Modernismus‹ hingegen lässt doch mehr Raum, die in der

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

»Der ›Modernismus‹ in Taiwans Kunst wird ganz und gar nicht wie in der westlichen Kultur als aktive und denkende Aufklärungsbewegung gesehen. Im Gegenteil wird er scheinbar betrachtet als eine Art passive Messmarkierung von ungenauem Gehalt, die genommen wird, um die innere und äußere Tiefe und Breite der historischen Narben zu vermessen.« (4.46f.) Die Kritik an Taiwans Kunstszene verweist hier auf die Vorstellung Chens der für einen Modernismus in der Kunst konstituierenden Grundbedingungen: für Chens Kunstverständnis ist es paradigmatisch, den Modernismus der Kunst als »aktive und denkende Auf klärungsbewegung« zu sehen. Er sieht den Modernismus in der Kunst als etwas nahezu Lebendiges, schreibt ihm gar die Fähigkeit, Angst zu verbreiten, zu. So kann die inhärente subversive Kraft des Modernismus in der Kunst die Möglichkeit der Kritik und des Widerstandes schaffen und so die bestehende gesellschaftliche und politische Situation infrage stellen: »Anfang der 80er Jahre sollte das Problem des ›Modernismus‹ durch ›Systematisierung‹ und ›Tatsachen‹ gezähmt werden, aber es war immer aktiv, und brachte so unentwegt subtile Forderungen und Fragen hervor, welche die Menschen unablässig zwangen, ihm ins Gesicht zu schauen.« (2.41) Doch ist diese subversive Kraft der Kunst nicht auf ein Ziel gerichtet. Chen sieht Kunst dezidiert als keine konkrete Funktion habend, sie dient nicht, sie erklärt nicht: Kunst soll selbst Politik sein, sich nicht aus dieser generieren. Kunst muss also zunächst unabhängig von der realpolitischen Entwicklung betrachtet werden – in Taiwan jedoch sieht Chen die Entwicklung der Kunst aus konkreten politischen Ereignissen heraus erklärt: »Am Schlimmsten hierbei ist, wie die gesellschaftliche Variable ›politische Erklärung des Endes des Kriegsrechtes‹ unbestritten zum Hauptgrund des Wandels kultureller Phänomene erklärt wurde. Es wird vollkommen ignoriert wie die vielfältigen Faktoren, die die Kunst selbst (und andere kulturelle Aktivitäten) in sich trägt, sich gegenseitig beeinflussen und entwickeln.« (1.16f.) Chen kritisiert also die soziologische und ›überpolitisierte‹ Erklärung von Kunst, die Bindung der Erklärung von Kunst an die konkrete gesellschaftliche Realität und die selbstkritischen Moderne entwickelten gedanklichen Strömungen, Zusammenhänge und Hintergründe weiterzudenken und vor allem zeitlich auszudehnen und nicht in jenen grob gesteckten hundert Jahren von Baudelaire bis zum zweiten Weltkrieg in Europa zu verbleiben. (Siehe hierzu auch IV.1 Fußnoten 1,8,21). An dieser Stelle soll auf die Vervielfältigung der Begriffe in Bezug auf ›Moderne‹ und die damit ein­ hergehende Differenzierung verwiesen werden. Während bei Liu der ›Ismus‹ des Modernis­mus, xiandaizhuyi, noch nicht auftaucht (dazu auch Kap. VI.3) und ›modern‹ (xiandai) nur als Epochen­ bezeichnung und adjektivisch zur Beschreibung der Künstler, Malerei oder Kultur verwendet wird und damit eher eine etwaige ideologisch orientierte Einordnung des eigenen Denkens und künstlerischen Schaffens bezeichnet, geschieht bei Chen eine Diskussion der Bedeutung und Konnotationen der Begriffe/Konzepte ›Moderne‹ (xiandai), ›Modernität‹ oder ›die Moderne‹ (xiandaixing), ›Modernisierung‹ (xiandaihua 現代化) und ›Modernismus‹ (xiandaizhuyi 現代主義), die er in vielfältige Bezüge setzt.

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»Moderne Kunst« in Taiwan

Realpolitik (wie dem Ende des Kriegsrechts) unter Anwendung des – hier lehnt sich Chen an die Freudʼsche Psychoanalyse an – »Realitätsprinzips« (3.34), wie sie sich in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein findet und wie sie sich besonders in Ni Tsai-chins die Debatte auslösenden Text Westliche Kunst – Made in Taiwan ausdrückt.100 Chen sucht einen Blick auf Kunst, der nicht nur auf die gesellschaftliche Modernisierung und die gesellschaftlich-politischen Fakten und Ereignisse reagiert, diese widerspiegelt und darstellt, und diese zum Anlass des Schaffens und des Schreibens über Kunst erklärt und den Modernismus unhinterfragt »als Nebenprodukt des Prozesses der ›gesellschaftlichen Modernisierung‹ […], als passiv der gesellschaftlichen Veränderung in Politik und Wirtschaft folgend« (5.39) darstellt. Es ist eine Interpretation der Entwicklung von Kunst basierend auf der Realpolitik, aus der sich laut Chen ein Gleichsetzen von ›gesellschaftlicher Modernisierung‹ und ›Modernismus‹ entwickelt, wodurch der Unterschied zwischen beiden untrennbar vermischt wird: »Die dialektische Beziehung der Komponenten ›Rationalität – Legitimität‹/›Irrationalität – Subversion‹, die ursprünglich latent in ›Modernisierung‹ und ›Modernismus‹ existierte, ist anscheinend vollständig vereinfacht worden.« (5.40)101 Chen sieht ›Moderne‹ demnach – außer als historische Zeiteinteilung – vor allem als eine Entwicklung, in der Modernisierung und Modernismus parallel, jedoch nicht synonym verlaufen, sondern in der die »Komponenten ›Rationalität – Legitimität‹/›Irrationalität – Subversion‹« im dialektischen Zusammenspiel zueinander stehen.102 Während Modernisierung also das Rationale und Legitime in Bezug auf die gesellschaftliche Entwicklung der Moderne beschreibt, will Chen den Modernismus als das Subversive und Irrationale verstanden wissen, das in der Spannung zum Rationalen und Legitimen entsteht und so jene Ref lexion und Kritikfähigkeit schafft, die er für die Moderne als essentiell sieht.

100 Ni kritisiert in diesem von Chen ausführlich besprochenen Text: »Lange Zeit hat Taiwans Kunstszene Kunst als ›Reines‹ angesehen. Künstler hatten sich schon fast von der konkreten Realität der Politik, Wirtschaft, Gesellschaft etc. entfernt.« (Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 37f.) Somit drückt sich nicht nur im Made in Taiwan des Titels eine gesuchte Lesung von Kunst im Lichte der gesellschaftlich-ökonomischen Modernisierung aus. Der Slogan Made in Taiwan wird hier als Anzeichen dafür genutzt, dass man modernisiert ist, während gleichzeitig diese Modernisierung als in der Kunst noch unerreicht dargestellt wird und damit jene Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Modernisierung und der Moderne in der Kultur, die Chen in den Melancholischen Dokumenten feststellt (siehe Kap. V.1, zweite Frage; bzw. Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 10), manifestiert wird. 101 Der Blick auf Chens Verständnis von Modernisierung zeigt, dass sich dies von der in den Modernisierungstheorien manifestierten Vorstellung des Gegensatzes von Moderne und Tradition, der sich im Sprechen von den vormodernen und damit traditionellen Gesellschaften, die nach der Moderne streben, zeigt, unterscheidet: Modernisierung versteht Chen nicht als ein ›raus aus der vormodernen Gesellschaft‹ (was dann eng mit dem hegemonialen Gedanken der ›Dritten Welt‹ verbunden wäre), vielmehr bezeichnet es das Legitime und Rationale der Moderne. 102 Auch in der zweiten Frage der Melancholischen Dokumente drückt sich Chens Vorstellung der parallelen Entwicklung von Modernisierung und Modernismus als Optimum und die gleichzeitige Kritik an der Entwicklung Taiwans aus (siehe Kap. V.1, zweite Frage; bzw. Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 10).

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Dass Modernismus in der Kunst, wie ihn Chen hier beschreibt, also nicht in erster Linie als eine künstlerische Stilfrage gesehen werden darf, drückt sich auch durch Chens Kritik an Lin Xingyues Lesweise der abstrakten Strömungen der 60er Jahre aus: »[…] das den ›Modernismus‹ mit populären künstlerischen Stilrichtungen gleichsetzt und nicht seine tatsächlichen Konnotationen diskutiert.« (4.30) Durch Chens Prägungen eines ›imaginierten Modernismus‹ (xiangxiang xiandaizhuyi 想像現代主義) (als welchen er den Modernismus der 1960er Jahre bezeichnet) und eines ›akademischen Modernismus‹ (xueyuan xiandaizhuyi 學院現代主義) (die Ausprägung der beginnenden 80er Jahre), entfernt er sich ebenfalls von einer solchen, rein stilistischen Definition dessen, was als Modernismus zu sehen ist und interpretiert unter dem Konzept ›Modernismus‹ die Form der Auseinandersetzung dessen, was jeweils unter ›Modernismus‹ verstanden wird und wie mit diesem Konzept umgegangen wird: Sieht er den ›imaginierten Modernismus‹ als eine Vorstellung, die von Verlangen aber auch Kritik und Wagnis geprägt ist, und auf dieser Grundlage eine Form von Kunst schafft, die als modern vorgestellt wird, so drückt Chen mit der Konzeptprägung eines ›akademischen Modernismus‹ die Vorstellung eines Modernismus aus, der Systeme und Institutionen als Grundvoraussetzungen eines modernen künstlerischen Schaffens sieht. Die Betonung der Prozesshaftigkeit und der Ref lexivität des Modernismus macht deutlich, dass Chen der Vorstellung von Modernismus im Sinne eines Sammelbegriffs für verschiedene künstlerische Strömungen – verstanden als verschiedene Ismen – widerspricht und er unter ›Modernismus‹ die kritische Auseinandersetzung mit der Rolle und Bedeutung von Moderne und moderner Kunst selbst versteht. Chens Verständnis von ›Modernismus‹ ist also nicht auf konkrete künstlerische Strömungen begrenzt, sondern betont dessen Kritik- und Ref lexionsfähigkeit.103 Die Lektüre von Chens Texten zur documenta 7 (1983 in der Kunstzeitschrift Hsiung Shih Art Monthly veröffentlicht und 1992 erneut in den Melancholischen Dokumenten)104 zeigt, dass Chens Kritik an der Kunstauffassung Taiwans wichtige Impulse von Achille Bonito Olivas Kritik an der Avantgarde der späten 60er bekam. Chen schreibt hier:

103 Eine Ähnlichkeit in der Vorstellung des ›Modernismus‹ in Bezug auf Kunst und der gleichzeitigen Erweiterung dieses Bezugs lässt sich bei Clement Greenberg finden, der in seinem Text Modernist Painting folgende Definition des Modernismus gibt: »I identify Modernism with the intensification, almost the exacerbation, of this self-critical tendency that began with the philosopher Kant. Because he was the first to criticize the means itself of criticism, I conceive of Kant as, the first real Modernist. The essence of Modernism lies, as I see it, in the use of characteristic methods of a discipline to criticize the discipline itself, not in order to subvert it but in order to entrench it more firmly in its area of competence. […]« (Clement Greenberg, »Modernist Painting«, in: Francis Frascina; Charles Harrison (Hg.), Modern Art and Modernism: A Critical Anthology. London 1982, S. 5-10 S. 5). 104 Da Chen seine umfangreichen Texte zur documenta in den Melancholischen Dokumenten wiederveröffentlichte, findet das zum Ausdruck kommende Kunstverständnis – hier Olivas Theorie der Transavantgarde entlehnt – also ebenfalls eine Wiedereinführung in die Kunstszene der 90er Jahre und ist somit in diesem Kontext auch beachtenswert.

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»Oliva kritisiert an der Avantgarde nach 68 deren naiven Blick des Widerspiegelns: Sie bleiben der natürlichen Welt verhaftet und meinen, dass Kunst die Reflexion dieser Grundlagen ist. Ihre Existenz bezieht sich gleichzeitig aus diesen Grundlagen. Das Sprachsystem der Kunst ist aus der Entwicklung der Systeme Politik, Wirtschaft, Gesellschaft etc. heraus reguliert worden. Deshalb verlor die Kunst absolut ihre Autonomie, und wurde von der realen Welt kontrolliert. Der Nutzer der Sprache der Kunst verlor damit auch die subjektive Selbsttätigkeit.« 105 Der Einf luss der Sicht Olivas auf Chens Kritik an der Vorstellung der Kunst, wie sie in Taiwans Kunstszene besprochen wird, ist deutlich erkennbar, macht er sich doch auch am genutzten Vokabular – die Selbsttätigkeit, das Widerspiegeln der realen Welt oder die Forderung nach Autonomie – bemerkbar. Es kann davon ausgegangen werden, dass Chen sich in der Betrachtung der Kunstszene Taiwans an Olivas Kritik erinnert fühlte und diese deshalb auf die Situation der Kunstszene Taiwans übertrug. Dass die »Sprache der Kunst« an die »Restriktionen der Erfahrungswelt«106 gebunden sei – so fasst Chen Olivas Sicht weiter zusammen – scheint Chen in der in Taiwans Kunstszene gängigen Ablehnung der abstrakten Kunst als nicht gesellschaftlich relevant zu sehen.107 Diese paraphrasiert er folgendermaßen zusammenfassend: »Abstrakte Malerei befriedigt nur die individuelle Vorstellungskraft und berücksichtigt die Realität nicht.« (4.43) Chens klar ablehnende Positionierung gegenüber dieser Haltung ist ein Plädoyer für die Betonung der Autonomie der Kunst. Chen versteht abstrakte Kunst demnach als mehr als die individuellen Befindlichkeiten einer Künstlerpersönlichkeit ausdrückend, er sieht gerade in einem solchen künstlerischen Schaffen – in Taiwans Diskussion der beginnenden 1990er Jahre (und damit die Diskussion der 1960er wieder aufgreifend) missverstanden als eine Realität negierende Haltung – eine gesellschaftliche Relevanz, die aus der Widerständigkeit einer gesellschaftlich funktionslosen Kunst geboren wird. Erst wenn das Kunstschaffen losgelöst von äußeren Vorgaben und Erklärungen betrachtet wird, es als autonom, selbsttätig und kritisch betrachtet und verstanden wird, kann Kunst demnach ihr emanzipatorisches, auf klärererisches Potenzial entfalten, das Chen durch seine Betonung der Subversivität als inhärente Wirksamkeit in der Kunst sieht. »›Auf klärung‹ und ›Rationalität‹ sowie ›Subjekt-Bewusstsein‹, ›Bewusstsein‹, ›Autonomie‹« nennt Chen auch am Ende des Textes erneut als »die Entstehungskräfte der ›Moderne‹« (6.3) und legt – dies sei hier erneut betont – somit klar eine historische europäische Vorstellung dessen, was Moderne ausmacht und wodurch diese definiert ist, seiner Argumentation und seinem Kunstverständnis zugrunde. Es bleibt anzumerken, dass ›Moderne‹ und ›Modernismus‹ bei Chen fast durchgehend positiv konnotiert sind, und dass Chen der Moderne und der modernen Kunst große Kräfte in 105 Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 34f. 106 Ebd., S. 35. 107 Dies kritisierte schon – wie im Kapitel III thematisiert – Xu Fuguan an Liu Guosong und den modernen Künstlergruppen. Eine solche Sicht auf die ›abstrakte Kunst‹ kann damit in den 1980er/1990er Jahren in Taiwans Kunstszene schon historischen Rückhalt finden und kann daher recht unbegründet und ohne Betrachtung, in welche Richtung die Ablehnung weist und welche Grundlage das Aufkommen solcher Haltungen hat, stehen. Chen scheint auf diese Tatsache anzuspielen.

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Hinblick auf die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Veränderung zuschreibt. Wie die Definition von ›Moderne‹ entlang an den Konzepten ›Kritik‹ und ›Subjektivität‹ auch, entlehnt Chen die assoziierten positiven Eigenschaften der modernen philosophischen Tradition des Abendlandes. Das bei Chen in der Kritik an Taiwans Kunstszene zum Ausdruck kommende Kunstverständnis – die Betonung der Funktionslosigkeit der Kunst, ihre subversive Kraft, ihre Widerständigkeit, die Autonomie – weist eine große Nähe zu einem Verständnis von moderner Kunst auf, wie es Kant, Schiller, Adorno und eben auch der im Text ausführlich besprochene Habermas vertreten.108 Auf Habermasʼ Verständnis von Moderne verweist Chen als Referenzpunkt weiter konkret im Vorwort der Melancholischen Dokumente, wo er Die Moderne – ein unvollendetes Projekt in der englischen Fassung als Verständnishintergrund seiner Gedanken und seiner Fragen zur Moderne zur weiterführenden Lektüre empfiehlt.109 Er baut auf diesen Vorstellungen seine Überlegungen auf. Die Moderne, die sich demnach in Taiwans Kunstszene laut Chen in Form der Diskussion um ein ›Subjekt-Bewusstsein‹ zeigt, ist von Widersprüchen durchzogen, die Chen also in der Unvereinbarkeit eines nur ›reagierenden Subjekts‹110, das die »alltägliche Bedeutung des Erwachens eines Selbst«111 hat, mit der seinem Verständnis zugrundeliegenden Definition von ›Moderne‹ sieht.

3.3 Das Verhältnis von ›Moderne‹ und ›Westen‹: Zum Referenzrahmen Chens Der Bezugsrahmen der Überlegungen Chens zum Modernismus Taiwans wird vor allem durch die vergleichende Herangehensweise im Kontext des – im Text immer wieder als solchen bezeichneten – ›Westens‹112 verortet. Der gleich zu Beginn des Textes 108 Mit Blick darauf, dass Chen Habermas zitiert, fällt auf, dass der gesamte Text Chens ähnlich wie Habermasʼ Die Moderne – ein unvollendetes Projekt (auf dessen Postmodernekritik sich Chen in seiner Beurteilung von Taiwans Form der ›Postmoderne‹ einerseits beruft, sie andererseits kritisch reflektiert und auf die ›regionale Situation‹ bezogen sehen will – siehe auch Kap. IV.3.6), aufgebaut ist. Auch die Form der Kulturkritik, sowie der (stilistische) Aufbau ähneln sich: die Zwischenüberschriften, das Schreiben von einem ›Falsch‹, sowie die Definition zu Beginn des Textes dessen, was die Moderne ausmacht, scheinen an Habermas angelehnt zu sein. 109 Vgl. Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 11 (Fußnote 3). Auch in Bezug auf die Bedeutung, die Chen dem ›Subjekt‹ zuschreibt, kann Chens zeitliche und theoretische Definition von ›Moderne‹ eng an Habermasʼ Definition, die jener unter Berufung auf Hegel (vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 27) vornimmt, angelehnt verstanden werden und bezeichnet demnach die von Habermas bezeichnete ›Kulturelle Moderne‹ als Epoche seit der Aufklärung. 110 Das bei Chen zum Ausdruck kommende Subjektverständnis unterscheidet sich – so stellt Gong Jow-jiun in seinem Text Zeitverzögerung und Mikrogefühle und im im Rahmen dieser Arbeit analysierten Text – vollkommen vom politisch orientierten, nach Identität suchenden Subjekt der Diskussion Taiwans (vgl. Gong Jow-jiun, Shiyan yu wei ganjue, S. 50; sowie Kap. V.1). Hieraus schließend wird im Resümee und in Kapitel VI die leise Kritik an Chen angebracht, dass in seinen Betrachtungen aufgrund seines starren Referenzrahmens die Gefahr steckt, dass sie an der Diskussion Taiwans vorbei zielen. 111 Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 9. 112 Obgleich die zu Beginn des Textes vorgenommene gedankengeschichtliche Verortung auf Europa schließen lässt, ist im Text durchgehend vom Westen (xifang) die Rede, weshalb ich auch mit diesem diskursiven Begriff arbeite und so die angenommene und diskursiv produktive Einheitlichkeit unterstreiche (siehe hierzu auch Kap. VI).

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»Moderne Kunst« in Taiwan

vorgenommene Bezug auf Hegel und Descartes, aber vor allem auch Formulierungen wie »wie in der westlichen Kultur«, oder das Sprechen davon, wie etwas »ursprünglich« (die oben angesprochene Beziehung zwischen Modernisierung und Modernismus) oder »normalerweise«113 gesehen wird, lassen die Vorstellung von einem ›Westen‹ zu einer von Beginn an vorhandenen Vergleichsgröße im Text werden, die den einzigen diskursiv klar zu benennenden Referenzrahmen darstellt, in Bezug zu dem Chen die Situation der (Post-)Moderne in Taiwans betrachtet.114 Auch wenn Chen schreibt, dass »man ausgehend von den Fragmenten der Spiegelungen von Geschichte, die diese Diskurse anbieten, auf die vielen Male der Brechung des westlichen ›Modernismus‹ an diesem Ort schließen« (4.8) könne, so verweist dies darauf, dass Chen den Modernismus Taiwans im Spiegel der westlichen Moderne vergleichend betrachtet. Dieser klar festgelegte Referenzrahmen wird noch deutlicher in Chens Kritik des Verständnisses der Postmoderne in Taiwans Kunstszene manifestiert: So bezeichnet Chen die Nutzung des Postmodernebegriffs – in Referenz zur Beschreibung der Postmoderne von Peter Koslowski, Fredric Jameson, Tom Wolf und Ihab Hassan – gar als ›falsch‹. Demnach müsste ›postmodern‹ und der zugehörige Anti-Modernismus »eine Kritik und Analyse des Modernismus« (4.2) bezeichnen, und, wie Chen in Referenz zu Peter Koslowkis Text The (De)construction sites of the Postmodern schreibt, gesehen werden »als ein Widersetzen gegen die absolute Macht des ›Rationalen‹, ein Widersetzen gegen die Auf klärung und die Nützlichkeitshaltung der Wissenschaft, ein Widersetzen gegen das utopische Ideal.« (4.2) Während laut Chen in Referenz zu den genannten Theoretikern ›Anti-Modernismus‹ also eine der Postmoderne zugehörige doppelte Bewegung der »Hochschätzung und d[er] Kritik« (4.55) darstellt, wird in Taiwan unter dem Label ›Postmoderne‹ laut Chen ein ›Anti-Modernismus‹ betrieben, der die Moderne und alle ihre Werte grundsätzlich ablehnt. Chen sieht sich »zwei vollkommen verschiedene[n] ›Anti-Modernismen‹« (4.56) gegenübergestellt: »Denn grundsätzlich ist das entscheidende Moment des ›Anti-Modernismus‹ im Westen die reflektierende Kritik und Analyse des Modernismus, der in einer Meta-Haltung begegnet wird. Taiwans ›Anti-Modernismus‹ hingegen ist ein Vermeiden und Verweigern des Problems des ›Modernismus‹ und ein Ablehnen jeglicher Diskussion und Reflexion.« (4.58f.) Auch in den Melancholischen Dokumenten stellt Chen die Frage, wie die Fragen um das ›Subjekt-Bewusstsein‹ und die ›Subjektivität‹ in Taiwan einen Anti-Modernismus hervorbringen können und als Zeichen gewertet werden können, dass man in die post113 Chen kritisiert Ni Tsai-chins Definition der postmodernen Gesellschaft folgendermaßen: »Diese Aussage unterscheidet sich vollkommen von der Art, wie die Postmoderne und die postindustrielle Gesellschaft normalerweise [Herv. d. Verf.] gesehen wird – von der Veränderung des Wertes und der Verteilung der Struktur der ökonomischen Produktion, der narrativen Gestalt, der Fähigkeiten und Informationen in der Gesellschaft etc.« (3.17) Chen übernimmt hier unkommentiert die von Ni vorgenommene Gleichsetzung von ›postmodern‹ mit ›postindustriell‹ und befragt somit nur die Richtigkeit in klarem, unhinterfragten Bezug zur in westlichen Theorien gebräuchlichen Definition, die er als ›normal‹ bezeichnet. 114 Gong Jow-jiun setzt sich in seinem im Rahmen dieser Arbeit analysierten Text kritisch mit Chens klarem Bezug auf den Westen auseinander und schlägt vor, Indien als zusätzlichen Referenzrahmen zu betrachten (vgl. Kap. V).

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

moderne Gesellschaft eingetreten sei, wo doch die ›Subjektivität‹ neben ›Rationalität‹ und ›Utopie‹ das sei, was die Philosophie der Auf klärung insbesondere als ›Moderne‹ und ›Modernität‹ ausmachend beschreibt.115 Eine solche Form des Anti-Modernismus und der Postmoderne in Taiwan ist es dann von der Chen schreibt, sie lasse »zweifeln, ob man das kulturelle Phänomen, das Ende der 80er Jahre in Taiwans Kunstwelt auftauchte, ›Anti-Modernismus‹ nennen kann.« (4.57) Der vergleichende Ansatz und die stark wertende Kritik der ›falschen Nutzung‹ – die doch eine nicht benannte ›richtige Nutzung‹ impliziert –, der Chens Kritik an der Selbstbezeichnung als ›postmodern‹ durch Taiwans Kunstszene innewohnt, lässt den Referenzrahmen ›Westen‹ im Nachdenken über ›Moderne‹ sehr präsent werden. Betrachtet man diese Voraussetzungen, die Chen für das Sprechen über ›(Post-) Moderne‹ legt, so scheint es zunächst, als verstünde er Moderne als essentiell westliche Moderne, als die eine Moderne an sich. Man könnte feststellen, dass ›Moderne‹ so zur absoluten Bezeichnung wird, nicht mehr relativ sein kann und Chen selbst – wie er es der Kunstszene Taiwans vorwirft – »den westlichen ›Modernismus‹ als einheitliches und gesamtes Phänomen« (5.34) etabliert, das er unverhandelbar aufrechterhält und beide Größen – ›Westen‹ und ›Moderne‹ – untrennbar miteinander verwoben verwendet. Eine erneute Lektüre Chens legt jedoch nahe, dass Chens Sicht auf ›Moderne‹ und den ›Westen‹ als klarer theoretischer Referenzrahmen und sein Umgang mit dem Bezug der beiden Größen zueinander differenzierter betrachtet werden muss. Chens Verständnis des Bezugs von ›Westen‹ und ›Moderne‹ kann man sich in der Betrachtung von Chens Frage nach der Verhandlung des Modernismus »an diesem Ort« (2.28; 4.8;4.55) und insbesondere in seiner verneinenden Antwort auf seine eigene Frage, ob der Modernismus in Taiwan lokalisiert (bentuhua) worden sei, annähern: Trotz der stattgefundenen Institutionalisierung zu Beginn der 80er Jahre sei »der Prozess der Systematisierung dieses ›Modernismus‹ […] überhaupt nicht durch den Prozess der Spekulation, der Dialektik und des Widerstreits hindurch vollendet worden.« (2.26) Chen nennt also die ›Dialektik‹, die ›Spekulation‹ und den ›Widerstreit‹ als Voraussetzungen für einen Modernismus, der erfolgreich lokalisiert wurde und meint somit, dass die kritische Auseinandersetzung dem Modernismus solchermaßen inhärent ist, dass sie unbedingt durchlaufen werden müsse, um überhaupt von Modernismus sprechen zu können. Sonst wäre das, was man macht, was man als ›Modernismus‹ annimmt, kein solcher. Demnach sieht Chen also bestimmte Gedanken, als klar der Moderne und dem Modernismus zugehörend – eine Vorstellung, die besonders in Chens Schreiben von einer ›falschen‹ Postmoderne deutlich wird. Doch macht Chen auch deutlich, dass jene zum Modernismus gehörenden Gedanken nicht nur an sich diskutiert werden müssen, sondern in Bezug auf den Ort und die Zweifel, Fragen und Probleme, die sich daraus ergeben. Obgleich sich Chen also auch hier an einer historisch westlichen Definition von Moderne orientiert, so spricht er von einem lokalisierten Modernismus, dessen Möglichkeit er klar in Erwägung zieht. ›Westen‹, so wie Chen ihn benennt, ist also historisch-diskursiv zu verstehen und ist auch als definitorisch machtvoll zu beachten. ›Westen‹ ist somit vorrangig nicht geografisch zu verstehen: Er verweist nicht auf ein geografisch greif bares Euroamerika (wie bei Gong in Kapitel V) und stellt kein Gegenteil von ›Taiwan‹ oder von einem 115 Vgl. Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 10.

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›Osten‹ (der bei Chen nicht angesprochen wird) dar.116 ›Westen‹ bezeichnet bei Chen nicht das, was Taiwan absolut nicht ist, bezeichnet kein ›Außen‹. Chen diskutiert nicht die ›Westlichkeit‹ oder das ›Westlich-Sein‹ des Konzepts Moderne – was ›Westen‹ doch erst von der beschreibenden zur normativen Größe in der Betrachtung der ›Moderne‹ machen würde. Chen sieht seinen starken Bezug auf den ›Westen‹ nicht als Abhängigkeit (wie er das in Taiwans Kunstszene beklagt), sondern als notwendigen Referenzrahmen in der Diskussion der ›Moderne‹. Die engstens mit dem ›Westen‹ verf lochtene ›Moderne‹ bezeichnet damit kein fremdes, Taiwan nicht zugehöriges Konzept.117 Durch die nahezu durchgängige Praxis des In-Anführungszeichen-Setzens von ›Moderne‹ und ›Modernismus‹ werden die Begriffe bewusst als Konzepte markiert, mit denen feste Implikationen einhergehen. Auch die Tatsache, dass Chen zehn Jahre zuvor in den documenta-Texten xiandaizhuyi 現代主義 (Modernismus) mit dem französischen ›modernisme‹ in Klammern einführte, verweist auf eine zugrundeliegende Vorstellung des ›Modernismus‹ als Konzept, das klar an einem feststehenden Konzept orientiert ist. Diese bewusste Verortung des ›Modernismus‹ als Konzept, das an definitorische Bedingungen geknüpft ist, macht eine Diskussion desselben innerhalb eines gewissen Rahmens möglich: Während zwar einerseits die Vorstellung der Moderne als Konzept die Gefahr der Normativität birgt, impliziert eine bewusste Nutzung als Konzept auch, dass – als Konzept erkannt – ein Verhandlungsspielraum besteht. Chens Nutzung von Moderne/Modernismus verweist also auf ein ideologisch schon bestehendes Konzept und birgt daher eine normative Komponente, die durch die bewusste Nutzung als Konzept wieder entkräftet wird. So bewegt sich sein Verständnis und seine Nutzung von ›(Post-)Moderne‹ zwischen dem direkten, als notwendig gezeichneten Bezug auf den als westlich bezeichneten Referenzrahmen und der Frage nach den Möglichkeiten, Moderne in Taiwan zu verstehen. In der vorgebrachten Kritik an der Art, wie Taiwans Kunstszene dem ›Modernismus‹ begegnet – nämlich nicht als aktiv, denkend, analysierend und auf klärend (die Rede ist nicht davon, dass dieser ›Modernismus‹ ›westlich‹ sein müsste) – ist durch die Betonung des ›Aktiven‹ eine Möglichkeit impliziert, die Chens Sicht auf die Moderne beleuchtet: ›Modernismus‹ ist demnach für Chen immer eine aktive Auseinandersetzung mit dem, was ›Moderne‹ sein kann. Zwar ist die Anlehnung an die Ideen der westlichen Auf klärung klar geforderte Grundlage, doch kann dies auch mehr im Sinne einer Auseinandersetzung verstanden werden, die im Denken und in der Bewegung doch Raum lässt für eine Verhandlung, die sich auf die jeweiligen ortsspezifischen Erfahrungen bezieht. ›Modernismus‹/›Moderne‹ ist unter diesen Voraussetzungen also eine Denkform, eine Forderung, bestimmte Fragen zu stellen, bestimmte Auseinandersetzungen zu führen, die sich mit dem Ort und dessen Besonderheiten auseinandersetzen müssen. 116 Dass Chen mit ›Westen‹ kein ›Nicht-Taiwan‹ bezeichnet, wird auch in seiner Verwendung des Begriffes »westliche Malerei (Kunst)« (xifang huihua [yishu]) (3.31), mit der er eine Form des künstlerischen Schaffens in Taiwan bezeichnet: eine geistige und formale Herangehensweise an das künstlerische Schaffen und kein geografischer Entstehungsort ist – wie auch bei Liu – impliziert. 117 Die hier zum Ausdruck kommende enge Verbindung zwischen den Größen ›Westen‹ und ›Moderne‹, verweist auf Yolaine Escandes Anmerkung (siehe Kap. II), dass Moderne und Westen durch die historische Erfahrung der Modernisierung in China (und wie ich feststellte, kann das auch für Taiwan geltend gesehen werden) untrennbar miteinander verbunden seien.

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Somit sieht Chen ›Moderne‹ als verhandelbares Konzept, das nicht geografisch an den ›Westen‹ gebunden ist, und nur insofern absolut, als dass bestimmte Grundbedingung – besonders also das kritische Denken und Ref lektieren – erfüllt sein müssen, um etwas als ›modern‹ zu bezeichnen.

3.4 ›Taiwan-Bewusstsein‹ und ›Postmoderne‹ als Abgrenzung: Chens Kritik am Moderneverständnis der Kunstszene Taiwans »Man muss zunächst den Unterschied und die Entfernung zwischen dem kulturellen ›Modernismus‹ und der ›gesellschaftlichen Modernisierung‹ der damaligen Umgebung abwägen. Erst dann können wir vielleicht dieser sehr spezifischen Moderneerfahrung in dieser speziellen Lebenswelt nahe kommen, egal, welche Form sie hat.« (5.43) Vor dem Hintergrund seines eigenen Verständnisses der Bedeutung von ›Westen‹ für die Moderne Taiwans betrachtet, unterstreicht dieses Zitat sehr deutlich, dass ›Moderne‹ und ein konkreter Bezug auf ›Taiwan‹ sich in Chens Sicht nicht ausschließen. Chen spricht hier die Wichtigkeit an, die Erfahrung der Moderne an diesem Ort und deren Geschichtlichkeit118 zu beachten, anstatt Moderne als einen »Fremdkörper« (4.51) zu begreifen und einem Historizismus zu verfallen, wie Chen es der Kunstszene Taiwans attestiert. Dieser Blick auf die Moderne und den Modernismus als Fremdkörper findet besonders Ausdruck in der folgenden Aussage Ni Tsai-chins in Bezug auf die Kunst Taiwans der 60er Jahre, den Chen kritisierend zitiert: »So wie der Modernismus in der Kunst und Kultur aller zurückgebliebenen Regionen, kann auch Taiwans modernistische Kunst und Kultur keine Identifikation mit der ›taiwanischen Gesellschaft‹ haben.« (4.36; 5.35) Statt einer Auseinandersetzung mit dieser Situation und der »sehr spezifischen Moderneerfahrung in dieser speziellen Lebenswelt« (5.43) sieht Chen in Taiwan demnach eine Abgrenzung geschehen. Eine solche absolute Einordnung lässt keinen Verhandlungsspielraum und baut auf einer aus Vorurteilen gebildeten »unbewegliche[n] historische[n] Wahrheit« (4.33) auf. Auf dieser basiert die Einordnung als »repräsentative Region der gesamten von der westlichen Kultur kolonisierten dritten Welt« (4.37), die Chen als »Geodeterminismus« (5.46) bezeichnet und als ein Berufen auf die »Dependenz-« oder »Abhängigkeitstheorie« (4.37; 5.34). Chen wirft der Kunstszene Taiwans also vor, die problembehaftete Situation Taiwans als Ergebnis der erzwungenen (»gewaltvollen« [5.34]) Einbettung des Modernismus in Taiwan durch einen nach wie vor kolonialen Westen zu sehen: Die Ursachen für die komplizierte Situation der Kunstszene Taiwans, die hier zu Beginn der 1990er Jahre rückblickend auf die 1960er Jahre konstatiert wird, werden also nur außerhalb gesucht, nicht in – wie Chen kritisiert – Taiwans »unzulänglicher« Auseinandersetzung selbst. Chen kritisiert das dadurch zum Ausdruck kommende absolute Verständnis von ›Moderne‹: die Moderne wird ver118 »Es fehlt ihm [dem Modernismus, wie er in Taiwan diskutiert wird, Anm. d. Verf.] an Geschichtlichkeit« schreibt Chen in der Neuveröffentlichung von 2009 des Texts (siehe auch Fußnote in der Übersetzung).

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standen »als einheitliches und gesamtes Phänomen« (5.34), das die ›zurückgebliebenen Regionen‹ (houjin diqu 後進地區) in eine hierarchisch niedrigere Position des Zweiten drängt (von einer »zweitrangigen Kultur« [cideng wenhua 次等文化] spricht Ni Tsaichin)119. Eine Abgrenzung, das Vermeiden, Ablehnen – wie es laut Chen im Sprechen von einem Anti-Modernismus geschieht – ist die einzige mögliche Begegnungsform in dieser Situation. Es geschehe ein, so schreibt Chen, »Bekämpfen des Eindringens der mächtigen, von außen kommenden Kultur« (4.49). So sähe Ni Tsai-chin die ›Modernisierung‹ und den ›Modernismus‹ »als eine Art Symbol der westlichen Kolonialkultur […], die das Ergebnis der Verinnerlichung der Kolonialkultur darstellen und die ursprüngliche Kultur schwächen.« (3.23) Es geschieht hier also eine Abgrenzung gegenüber der Idee ›modern‹ zu sein, da ›modern‹ als Synonym für ›westlich‹ gesehen wird, was eine klar negative Konnotation erhält, wenn es weiter als ›kolonisiert‹ dargestellt wird und als das ›Eigene‹ zerstörend: »[…] der Autor dieses zitierten Absatzes [Ni, Anm. d. Verf.] [geht] mit Argumenten wie ›Verwestlichung‹, ›Abhängigkeit‹, ›Kolonie‹ noch weiter und tut ›Modernismus‹ als westlichen leeren Individualismus ab, der durch Machteinfluss die eigene (bentu) Kultur zerstört.« (4.44) Chens Herausarbeiten der Gleichsetzung von ›Moderne‹120 mit ›Westen‹ macht deutlich, dass eine solche Sicht auf die Moderne als ›Fremdkörper‹ etwas ist, das zu diesem Zeitpunkt noch neu ist, jedoch in der geführten Debatte schon als feste, unref lektierte Grundlage besteht. Dass die Sprache vom ›Taiwan-Bewusstsein‹ und dem ›Bewusstsein der eigenen Erde (bentu)‹ (was von Chen gleichgesetzt wird) auf kam, ist also eng damit verbunden, dass ›Moderne‹ allmählich unverrückbar als etwas empfunden wurde, das in Taiwan nur in hierarchisch abhängiger Form, als etwas von außen Herangetragenes und Aufgezwungenes, auftreten kann. Wahrgenommen als Synonym für Westen, verweist das Sprechen von ›Moderne‹ auf ein Außen, das als Gegenposition zu einem Innen funktioniert, wie es im Sprechen vom Taiwan-Bewusstsein Ausdruck findet. Das Taiwan-Bewusstsein, das somit an die mögliche Stelle eines kritisch-ref lektierten Sprechens von einem Modernismus in Taiwan (oder einem ›Modernismus an diesem Ort‹) tritt, wie es Chen sucht, dient in der Debatte als unklare Argumentationsgrundlage und Folie einer Abgrenzung gegenüber einer als westlich definierten Moderne.121 Die 119 Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 86. 120 Durch Chens Herausarbeiten der undifferenzierten Nutzung der verschiedenen Konnotationen von ›Modernisierung‹, ›Modernismus‹, ›Modernität‹ und ›Moderne‹ kann übergreifend von einer Gleichsetzung von ›modern‹ und ›westlich‹ in Taiwans Kunstszene gesprochen werden. 121 In diesem Kontext muss ein Augenmerk darauf gerichtet werden, dass die geschehende Abgrenzung und das Berufen auf ein Taiwan-Bewusstsein der Kunstszene Taiwans (noch) nicht einzig entlang der Behauptung von Tradition (im modernisierungstheoretischen Gegensatz zum ›Modernen‹) verlaufen. Das Sprechen von einem Taiwan-Bewusstsein wird nicht argumentativ genutzt, um eine ›eigene Tradition‹ in den Gegensatz einer (als westlich empfundenen) Moderne zu positionieren. Auch dadurch, dass Tradition – z.B. bei Lin Xinyue (vgl. 4.9ff.) – noch mit China verbunden wird (und somit die Tuschemalerei, auch jene Liu Kuo-sungs und den Künstlergruppen der 50er und 60er Jahre), zeigt sich, dass das Taiwan-Bewusstsein jenes ›modern‹ bezeichnet, das Chen als ›Moderne als Zeitlichkeit‹ beschreibt. Das Berufen auf das ›Eigene‹, auf jenes bentu, bedeutet kein ›Zurück zur Tra-

IV. Chen Chuan-xing und das Begehren der Moderne

Abgrenzung gegenüber der Moderne und die Suche nach einer explizit taiwanischen Form (des künstlerischen Schaffens/der Kunst/des Nachdenkens etc.) geschieht also auf der Grundlage der festen Verankerung der Idee der Moderne als etwas, was Taiwan nicht zugehörig ist. Der Bezug auf Taiwan, die Idee einer ›eigenen (bentu) Kunst‹ oder Taiwan Kunst, wird in der Abgrenzung als der richtige Weg für eine zukünftige Kunst Taiwans dargestellt, die das andere, nicht-zugehörige, das ›Nicht-Taiwan‹, hinter sich lassen kann. Chens Verweis auf die »Überpolitisierung«, die die »regionalen Charakteristika« und die »Lokalität« betont (2.1), zeigt, dass ›Taiwan‹ als nationale Entität vorgestellt wird.122 Dass Chen das ›Eigene (bentu)‹ selbst nur kritisch verwendet und das ›Bewusstsein der eigenen Erde (bentu)‹ gleichsetzt mit dem Taiwan-Bewusstsein, zeigt seine Skepsis gegenüber einem solchen Bezug auf diese nun national konnotierte ›Erde‹. Chens Kritik eines »unzulänglichen«, »falschen« und unkritischen Umgangs mit ›Moderne‹, die sich im Text (und auch im Vorwort zu den Melancholischen Dokumenten) findet, verweist somit darauf, dass in Taiwan Chen zufolge »[…] das Problem des ›Modernismus‹ nie offen und direkt diskutiert wurde und nie gründlich darüber nachgedacht wurde. Ganz zu schweigen davon, dass nicht diskutiert wurde, auf welche Art der widersprüchliche Prozess des verworrenen Erscheinens des ›Modernismus‹ das Gefühl des Zweifels an diesem Ort zeigt, gezeigt hat und zeigen wird.« (2.27f.) Anstelle der Diskussion darüber, welche Rolle die Idee des Modernismus in Taiwans Kunstszene einnimmt, einnehmen kann und einnehmen muss, wird auf eine Beschreibung als ›postmodern‹ ausgewichen. So verstanden ist das ›Falsch‹, von dem Chen explizit spricht, einerseits die Kritik daran, dass in Taiwan von einer Postmoderne gesprochen wird, obwohl doch die Moderne noch gar nicht offen diskutiert wurde, andererseits ist das ›Falsch‹, das durch den Verweis auf westliche Theorien ein ›Richtig‹ impliziert, als eine Kritik an der mangelnden Ref lexion der genutzten Bezüge und – das soll hier nochmal betont werden – nicht als Plädoyer für ›die eine Moderne an dition‹, sondern vielmehr die Suche nach der ›eigenen Moderne‹ (auch die Heimaterde-Bewegung [xiangtu yundong] der 70er Jahre suchte nicht jene Tradition, die im Gegensatz zur Moderne steht). Auch wird die Kunst, die nicht als ›westliche Kunst/Malerei‹ eingeordnet wird, nicht als traditionelle Kunst bezeichnet. Das Berufen auf Taiwan bedeutet kein Berufen auf Tradition. Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass die Kunst der beginnenden 1990er Jahre, die im Rahmen des Taiwan-Bewusstseins entstand (wie z.B. Wu Tian-changs oder Yang Maolins offensichtlicher Bezug auf Symbole und Geschichte Taiwans), diese heute als Tradition zeigend dargestellte Kunst, damals noch nicht als Tradition repräsentierend gesehen wurde. Die Vermutung soll hier ausgedrückt werden, dass der angenommene Gegensatz von ›Tradition‹ und ›Moderne‹ in der Folge der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein allmählich aufkam und als die erwünschte Darstellung der Tradition eng mit der Globalisierung des Kunstdiskurses zusammenhängt. (Siehe hierzu Kap. VI.3/4.) 122 Hierin kann auch nochmal der Verweis darauf gesehen werden, dass Chen auch den Westen nicht als geografisch-kulturelle Entität betrachtet, sondern in seiner Diskursivität verstanden wissen möchte, wodurch klar kein ›äußerer‹ Gegensatz zum ›Inneren‹ Taiwans besteht. Trotzdem sind die beiden Ebenen – diskursiver und geografischer Westen – nicht immer eindeutig zu trennen, wodurch sich die enge Verwobenheit zeigt.

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sich‹ zu verstehen. Die sogenannte ›postmoderne‹ Ablehnung der Moderne ist nicht ref lexiv-kritisch, sondern dient als abgrenzende und zeitliche Einordnung – das ist Chens Hauptkritikpunkt an der Nutzung der Bezeichnung ›postmodern‹. Aus Chens Kritik lässt sich somit auch schließen, dass die taiwanische Selbstdefinition als postmodern (wie das Taiwan-Bewusstsein) die Funktion einer Abgrenzung gegenüber dem ›Modernen‹ einnimmt: Taiwan wird hier als ›nicht mehr modern‹ dargestellt; postmodern bezeichnet somit ›nicht mehr modern‹ und damit gleichzeitig ›nicht mehr westlich‹. ›Postmodern‹ wird also sowohl als rein zeitliche Einordnung genutzt (die Zeit ab Mitte der 1980er Jahre), mit der eine klare zeitliche Differenzierung gegenüber der Zeit der ›Moderne‹ getroffen wird, als auch als Abgrenzung gegenüber der dezidiert als westlich verstandenen ›Moderne‹.123 Der Anti-Modernismus, den Chen in Taiwans Kunstszene sieht, ist demnach Ablehnung der als westlich empfundenen Theorien, das als postmodern eingeordnete Taiwan-Bewusstsein steht im Gegensatz zu einer Vorstellung von Kunst, die modern im Sinne einer genuin ›westlichen Moderne‹ ist. Es scheint, dass mit dem Begriff ›postmodern‹ eine Abgrenzung zum als westlich empfundenen ›modern‹ sowohl als möglich, vor allem aber auch als legitim gesehen wird. Doch zeigt sich an der Vorstellung der legitimen Nutzung des ›postmodern‹ – im Gegensatz zur illegitimen Selbsteinordnung zum Modernen –, welche Rolle der Westen implizit doch spielt: die ständige Auseinandersetzung mit dem Westen ist auch in der Negation derselben vorhanden. So muss Chens Kritik, der sich doch selbst auf ein historisch im Westen geprägtes Verständnis von Moderne beruft, verstanden werden als eine Kritik daran, dass sich die Kunstszene Taiwans in ihrer Ablehnung doch implizit auf die westliche Moderne als normativen Referenzrahmen beruft: eine ›in-Bezug-stehende Abgrenzung‹ (in den Melancholischen Dokumenten nennt Chen diese Haltung eine des »sowohl Ausschließens als auch Ausgerichtet-Sein auf«124) geschieht, die doch wieder auf in jenem abgelehnten Westen legitimierten Parametern beruht. Doch diese Manifestation als ›postmodern‹ im Sinne von ›nicht mehr westlich‹ verfestigt im Umkehrschluss wieder das Bild der Moderne als genuin westlich. Vor diesem Hintergrund beruht Chens Kritik also darauf, dass die Gleichsetzung von Moderne und Westen in Taiwans Kunstszene – obwohl diese in der Abgrenzung Thema wie nie zuvor ist – nicht mehr ref lektiert wird, sondern als Grundlage der Diskussion besteht. Das Taiwan-Bewusstsein kann damit keine alternative Betrachtungs123 Interessant ist, dass die Einführung der westlichen Theorien zur Postmoderne laut Chen zunächst keine nennenswerte Reaktion im Sinne einer (produktiven) Auseinandersetzung in Taiwan hervorgerufen habe (vgl. 2.6). Und doch wurde die Bezeichnung ›postmodern‹ gewählt, um das Taiwan Ende der 80er Jahre/zu Beginn der 90er Jahre zu definieren – eine Begriffswahl, die, wie sich an der Definition als ›postindustriell‹ etc. zeigt, in Verbindung mit dem westlichen Verständnis steht. Auch die Haltung einer Abgrenzung zur Moderne, die in ›postmodern‹ impliziert ist und die eine die Moderne ablehnende Haltung nicht als rückschrittlich, sondern als fortschrittlich kennzeichnet, folgt der Definition von ›postmodern‹ im Westen – allerdings sehr oberflächlich oder gar ›falsch‹, wie Chen meint. Angemerkt werden soll auf Kap. VI vorausgreifend an dieser Stelle, dass die Bezeichnung ›zeitgenössisch‹ hier nicht auftaucht und nicht als Einteilung genutzt wird, obwohl Chen in seinen documenta-Texten 1983 auch schon das ›Zeitgenössische‹ als »dangdaixing 當代性 (Contemporain)« einführte (vgl. Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 21). ›Postmodern‹ scheint in Bezug auf die Kunst die Bedeutung vom heute genutzten ›Zeitgenössisch‹ zu haben. 124 Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 10.

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und gedankliche Ausgangsform mehr darstellen (wodurch es zur Möglichkeit einer Diskussion der Moderne »an diesem Ort« würde), sondern ist vielmehr eine nationalistische, unref lektierte Phrase, die Beschreibung als ›postmodern‹ eine leere und gehaltlose. Die fundamentale Bedeutungsänderung der Beschreibung als ›modern‹ hin zum negativ konnotierten Synonym für ›westlich‹ geschah also in Taiwans Kunstszene im Laufe der 1980er Jahre. Wie sich darin zeigt, dass laut Chen der Modernismus Taiwans zu Beginn der 1980er Jahre in Taiwans Kunstszene als Verbesserung des Modernismus der 60er Jahre gesehen wurde, wurde zu Beginn der 80er Jahre die Meinung vertreten, dass durch eine Institutionalisierung und Systematisierung ein Modernismus im Sinne eines internationalen ›Mithaltens‹ erreicht werden könne.125 ›Modernismus‹ bezeichnete zu Beginn der 80er Jahre daher eher eine Vorstellung von Kunst, die ›Modernismus‹ als Form, verbunden mit einem bestimmten institutionellen Formenrepertoire, versteht und die die Idee des ›Neuen‹ und ›Progressiven‹ als international Anerkanntes mitführt, dem es aber – so Chens Kritik – an Geschichtlichkeit fehlt und der nicht selbst Frage ist. ›Modernismus‹ hatte noch nicht die Bedeutung des absolut ›Anderen‹, gegenüber dem eine absolute Abgrenzung – wie sie sich nun im Sprechen vom Taiwan-Bewusstsein findet – als nötig empfunden wurde. Die von Chen im Sprechen von einem ›akademischen Modernismus‹ angesprochene Systematisierung des Modernismus zu Beginn der 80er Jahre, die »[o]berf lächlich betrachtet […] den westlichen kulturellen ›Modernismus‹ zu konkretisieren [scheint]« (6.2) – also den Auf bau des als Museum für moderne Kunst erdachten Taipei Fine Arts Museum, sowie den Auf- und Ausbau der Kunstakademien und -fachbereiche –, lässt erkennen, dass eine Abgrenzung gegenüber ›modernen‹ Strukturen in der Kunstszene nicht gesucht wurde, sondern so vielmehr eine ›Modernisierung‹ im Sinne einer Angleichung angestrebt wurde.126

125 Die Bedeutung des ›Mithaltens‹ findet auch Ausdruck, wenn Chen schreibt, dass in den beginnenden 80er Jahren die »große Zahl Künstler, die im Ausland studiert hatten« durch ihre Lehre »westliche künstlerische Gedankenströmungen« eingeführt hätten und »eine erneute Hochzeit« (2.8) des Modernismus in Taiwan kreiert hätten. Die Rolle, die die Rückkehrer in Taiwan zugesprochen bekommen, wird auch von Ni im Text Westliche Kunst – Made in Taiwan explizit benannt: »Die oben genannten nach Taiwan zurückgekehrten Maler haben – außer Preise zu gewinnen – es erreicht, dass Taiwans Kunstszene der westlichen Avantgardekunst dicht folgt.« (Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 61). Dass diese Künstler Wertschätzung erfuhren, drückt sich darin aus, dass sie durch Taiwans Kunstinstitutionen mit Preisen geehrt wurden, wie Ni explizit betont – ein Fakt, der ihnen großen Einfluss garantierte und ihren Platz in Taiwans Kunstszene manifestierte. Die zahlreichen im Ausland studierenden Künstler und Theoretiker haben also einen – wie Chen feststellt – anderen Modernismus als jenen »imaginierten« der 60er Jahre in den neu gegründeten Akademien und Institutionen etabliert, einen legitimen und angleichenden »akademischen Modernismus«. 126 Diese ›Akademisierung‹ der Vorstellung eines Modernismus und die Angleichung oder Akkulturation an einen »westlichen kulturellen ›Modernismus‹« lässt sich besonders nachvollziehen, betrachtet man das Taipei Fine Arts Museum, dessen Ausstellungen zu Beginn der 1980er Jahre ein Streben nach Internationalisierung aufweisen (dies bestätigt sich in der quantitativen Lektüre von Ausstellungsrezensionen und -kritiken der beginnenden 1980er Jahre). Obgleich sich auch zu Beginn der 1980er Jahre eine starke Ausrichtung auf Kunst aus Amerika und Europa findet, wenn von ›moderner Kunst‹ gesprochen und diese ausgestellt wurde, so ist dies nicht mit dem Versuch einer Abgrenzung

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Chen bezeichnet diese Angleichung als »Akkulturation«, die, so Chens Analyse, in der Folge zu Ende der 1980er Jahre »unabwendbar und unvermeidbar« das »negative Phänomen des Widersetzens« (4.32) hervorbrachte: ein jegliche produktive Auseinandersetzung zunichte machendes Widersetzen gegenüber der als kolonial und zerstörend gesehenen Moderne.

3.5 Zur ›verspäteten Moderne‹ und dem ›Modernismus an diesem Ort‹ Vor diesem Hintergrund wird sehr deutlich, dass sich das bei Ni Tsai-chin zum Ausdruck kommende Verständnis von den ›zurückgebliebenen Regionen‹ stark von Chens Bewertung der Moderne Taiwans als einer ›verspäteten Moderne‹ (yanchi xiandaixing 延遲現代性), von der er im Vorwort der Melancholischen Dokumenten spricht (und in Klammern ›belated modernity‹ schreibt), unterscheidet, obgleich oberf lächlich betrachtet doch so viel Ähnlichkeit zu bestehen scheint. Die Diagnose der Verspätung, die Chen stellt, beruht auf seiner Betrachtung des Umgangs der Kunstszene Taiwans mit der ›Moderne‹ und ist als ein Problem, das Chen in Taiwan selbst verortet, zu sehen: Die ›verspätete Moderne‹ bei Chen ist selbstverschuldet und nicht, wie Chen bei Ni Tsai-chin diagnostiziert, Ergebnis der Abhängigkeitstheorie. Das Sprechen von einer ›verspäteten Moderne‹ bezeichnet somit bei Chen keine Abhängigkeit gegenüber einer nicht-verspäteten, den Platz des ersten einnehmenden Moderne (des Westens) und ist kein Ergebnis eines hierarchischen Vergleichs (wie er im Sprechen Ni Tsai-chins von der zweitrangigen Kultur zum Ausdruck kommt) mit einem als hegemonial und kolonial definierten ›Westen‹. Auch die Einordnung Taiwans als »von der westlichen Kultur kolonisierten Dritten Welt« (4.37), die Chen bei Ni geschehen sieht, verweist darauf, dass Chen eine solche eine Minderwertigkeit (die Ni anklagt, wenn er schreibt: »Eine Kunst, die Taiwan-Bewusstsein hätte, müsste problemlos mit von außen kommender Kultur umgehen können und müsste sich nicht minderwertig fühlen.«127) implizierende Selbsteinordnung kritisch sieht und Chen die Übertragung der hier als politisch-wirtschaftlich kategorisierten Bezeichnung ›Dritte Welt‹ auf eine Diskussion von Kunst als problematisch erachtet. Dass Chen der Kunstszene Taiwans attestiert, die Situation der ›verspäteten Moderne‹ selbst hervorgebracht zu haben, wird an Chens in den Melancholischen Dokumenten gestellter Frage deutlich, warum – angesichts des wirtschaftlich hoch entwickelten Taiwans, dessen politische Situation sich so rapide verändere – die Moderne noch immer verspätet sei (von dem Beginn einer Postmoderne ganz zu schweigen).128 Begründen tut er dies weiter mit der unzulänglichen Auseinandersetzung mit den Grundkomponenten der historischen Moderne des Westens – der Subjektivität, der Rationalität und der Utopie –, und daraus folgend der Argumentation, das Ende des Kriegsrechts sei der Grund für das Auf kommen von Subjektivität in Taiwan.129 Die Frage nach dem Grund der Verspätung impliziert somit auch, dass die ›Verspätung‹ nicht in Relation zu einem geografischen Westen zu sehen ist, sondern sich auf die gegenüber dem als ›Fremdkörper‹ gesehenen Westen verbunden, sondern wird mehr als ›international‹ gesehen und bezeichnet das Angestrebte. 127 Ni Tsai-chin, Taiwan meishu zhong de taiwan yishi, S. 208. 128 Vgl. Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 9f. 129 Vgl. ebd., S. 10.

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Auseinandersetzung in Taiwan mit dem diskursiven Konstrukt ›Moderne‹ bezieht: erst in den 1980er Jahren wird beispielsweise das laut Chen für die Moderne elementare ›Subjekt-Bewusstsein‹ auf eine unzulängliche Weise besprochen.130 Chens Argumentation baut damit nicht auf der Annahme einer historisch gewachsenen und somit gegebenen Asymmetrie zwischen Westen und Nicht-Westen in Bezug auf die Verhandlung der Moderne auf. Chen versteht ›Moderne‹ nicht als normative Größe, die Verspätung der Moderne in Taiwan generiert sich nicht aus der aus hegemonialen Beziehungen entstandenen Normativität eines »Master Narrativs« (so Homi Bhabhas Bezeichnung der westlichen Geschichtsschreibung), sondern entsteht aus der mangelhaften oder unzulänglichen (und wenig selbstbewussten) Auseinandersetzung der Kunstszene Taiwans mit der Bedeutung von Moderne und der Entwicklung der Bedeutung von Moderne in Taiwan. Die Verspätung der Moderne Taiwans ist damit kein Fakt in Relation zur Moderne des Westens, der aufgrund der Entwicklung der historischen Modernisierung Ostasiens angenommen werden muss und vor diesem Hintergrund diskutiert werden müsste. In den Gedanken, auf denen Chens Analyse der Kunstszene Taiwans auf baut, spielt also die Vorstellung, kolonisiert zu sein, keine Rolle. Die Fragen nach der Moderne und den Zweifeln an der Moderne an diesem Ort, die Chen stellt, sind somit keine Betonung der Erfahrung von hegemonialen und kolonialen Strukturen, sondern versuchen die Entwicklung des Modernen in Taiwan zu ref lektieren. ›Moderne‹ wird klar als Teil Taiwans definiert und dezidiert nicht als Gegenteil einer ›eigenen (bentu) Kultur‹, wie es in Chens Analyse der Kunstszene Taiwans und besonders in den zitierten Textstellen Ni Tsai-chins durchscheint. Somit ist impliziert, dass Chen die Möglichkeit einer Gleichzeitigkeit mit der Diskussion des geografischen Westens um die Moderne annimmt. Es wird so auch noch einmal unterstrichen, dass Chen den Westen nicht als Gegensatz Taiwans sieht und somit auch die in der taiwanischen Kunstszene als unklar erachtete Legitimation der taiwanischen Diskussion der Moderne in ihrem diskursiven Bezug auf den Westen von Chen nicht in Zweifel gezogen wird. Ein modernes Taiwan, das historisch von den Auseinandersetzungen mit der Moderne und dem Modernen geprägt wurde, bildet also die Grundlage der Überlegungen Chens: Es ist jedoch kein historischer Determinismus, der dieser Vorstellung zugrundeliegt, vielmehr ist die Auseinandersetzung mit ›Moderne‹ durch eben jenen Prozess der Auseinandersetzung selbst ein Teil des Eigenen geworden und somit muss die Legitimation der Auseinandersetzung nicht mehr diskutiert werden.131 Es ist klar geworden, dass der – schon oben angesprochene – ›Modernismus an diesem Ort‹, den Chen befragt, keine Diskussion eines kompletten und unveränderlichen Paketes der einen Moderne bezeichnet und ebenfalls nicht die Frage nach einer 130 Besonders klar drückt sich diese Auffassung von der Verspätung in der oben schon zitierten ersten Frage Chens in den Melancholischen Dokumenten aus: »Was ist der Grund dafür, dass die ›Moderne‹ (xiandaixing) an diesem Ort erst mit einer derartigen Verspätung in der widersprüchlichen Form des Subjekt-Bewusstseins hervortritt?« (Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 10). 131 An dieser Stelle soll noch einmal mit Blick auf Chens Betonung der Charakteristika und Elemente der ›Moderne‹ betont werden, dass ein solches ›schon modernes Taiwan‹ nicht bedeutet, dass der Modernismus beliebig diskutiert werden kann und dies dann – wie Chen dies in Bezug auf die Postmoderne in Taiwan geschehen sieht – als ›taiwanische Form des Modernismus‹ bezeichnet werden kann. Vielmehr muss der gedankliche und konzeptuelle Ursprung beachtet werden, was jedoch kein normatives Westlich-Sein bezeichnet.

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genuin taiwanischen und explizit nicht-westlichen Moderne bedeutet, wie dies in Chens Analyse der Forderung der taiwanischen Kunstszene nach einer Stärkung des ›Eigenen (bentu)‹ zum Ausdruck kommt. Dieser ›Modernismus Taiwans‹ bedeutet bei Chen keine Abgrenzung, bezeichnet aber auch nicht die einfache Nachahmung ›an diesem Ort‹ (sei es institutionell gesehen, wie beim Auf bau der Museen, oder in Bezug auf die Symbole und künstlerischen Ausdrucksformen). In Kunstwerken drückt sich also auch nicht eher dann ein taiwanischer Modernismus aus, wenn sie »fernöstliche Muster des Denkens enthalten«, wie dies bei Huang Hai-ming anklingt. So schreibt Chen, dass dies »sich nicht nur auf die westliche Malerei (Kunst) [begrenzt] – es gibt absolut keine Unterscheidung aufgrund der verschiedenen Kunstarten« (3.31). Ein Modernismus Taiwans, den Chen sucht, ist also nichts, was im Gegensatz zu im Westen entstandenen künstlerischen Stilen zu finden ist und daher nichts, was visuell analysiert werden könnte anhand von verschiedenen konkret benennbaren kulturellen Einf lüssen.132 In Chens Verweis darauf, dass alles künstlerische Schaffen von der herrschenden, abweisenden und überpolitisierten Ideologie überdeckt wird, impliziert er weiter somit auch, dass alle Kunstformen schon modern sind und in einer sich mit der Moderne auseinandersetzenden Gesellschaft entstehen. Somit kann Chens Kritik auch verstanden werden als Auf- und Weckruf an die taiwanische Kunstszene, dass sich die Frage, ob sich mit der Moderne auseinandergesetzt wird oder nicht, nicht stellt: es ist ein Muss und nicht die Frage nach dem Ob. Taiwans Kunstszene vergesse also in der absoluten Wahrnehmung der ›Moderne‹ als »Fremdkörper«, dass diese doch »auch eine Art Zeitlichkeit ist« (4.51) und darum – so muss man schlussfolgern – nicht nicht diskutiert werden kann. Innerhalb eines solchen ›Schon-modern-Seins‹ ist Chens Unverständnis für die Verspätung der Kunstszene Taiwans anzusiedeln. Chen sieht also die unzulängliche Auseinandersetzung mit der Moderne in Taiwan als selbstverschuldet und als Grund dafür, von einer ›verspäteten Moderne‹ zu sprechen – eine angenommene Ungleichzeitigkeit mit dem ›Westen‹ wird damit nicht bezeichnet. Anders als im auf der Abhängigkeitstheorie beruhenden Sprechen von den ›zurückgebliebenen Regionen‹, kann die Verspätung durch die aktive Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Moderne abgeschüttelt werden. Die Zeitlichkeit der Moderne bezeichnet also keine global zu vergleichende Zeitlichkeit, sondern bezeichnet ein ›Schon-modern-Sein‹.

132 Diese konkret benennbaren kulturellen Einflüsse werden interessanterweise in der Debatte noch nicht erwähnt – im Gegensatz zur Diskussion in den nach-2000er Jahren. Taiwans Kunst wird dann häufig als Zusammenfluss verschiedener Einflüsse gezeichnet, die konkret benannt werden können (siehe auch Kapitel II.1.2): Liao Hsin-tien sieht die taiwanische Identität nicht als ›reine‹ Identität, sondern als eine hybride. Diese hybride Identität habe mindestens fünf Grundlagen, die das Antlitz der taiwanischen Gegenwartskunst forme: die traditionelle chinesische Kultur, die japanische Kultur durch die japanische Kolonialisierung, die Kultur der verschiedenen taiwanischen Volksgruppen und den Kapitalismus als Haupteinfluss des Westens und der Globalisierung (vgl. Liao Hsin-tien, Chuncui/hunza, S. 150f.). Auch bei David Teh-Yu Wang findet sich die Sicht, Taiwans Kunst setze sich zusammen aus der »festlandchinesischen traditionellen Kultur, der japanisch-ostasiatischen Kultur und der amerikanischen als Hauptvertreter der westlichen Zivilisation« (David Teh-yu Wang, Taiwan yishu xiandai fengge yu wenhua chuancheng de duihua, S. 5).

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3.6 Moderne als universales Konzept? Die Diskussion Habermasʼ, Jamesons und der regionalen Situation Der »Modernismus an diesem Ort« bezeichnet also nicht die stilistische und politisch-orientierte, konkret sicht- und benennbare Einordnung von Symbolen, sondern die Ref lexion, das Fragen und Nachdenken über die Bedeutung der Moderne, der Modernisierung und des Modernismus in Bezug auf die taiwanische Erfahrung von Moderne. So ist Chens Kritik, Taiwans Kunstszene würde den Modernismus als »einheitliches und gesamtes Phänomen« (5.34) sehen, als Aufforderung zu verstehen, Moderne differenziert in seinen Facetten und vor allem als Teil Taiwans zu betrachten und zu behandeln. Mit der wiederkehrenden Betonung der in Taiwan negierten Notwendigkeit der Betrachtung der Moderneerfahrung und des Modernismus an diesem Ort greift Chen Jamesons Kritik an Habermasʼ Verfechten der Aktualität der Moderne als generalisierend auf und wendet sie auf Taiwan an: So wirft Chen Taiwans Kunstszene eine eben solche Generalisierung der Bedeutung und des Vollzugs von Moderne durch das Ignorieren der regionalen Situation vor. In Taiwan geschehe so eine Generalisierung der Moderne, die Modernisierung und Modernismus als Synonym verwende und so die Gründe für das unzulängliche Nebeneinanderverlaufen und der »Differenz in der Entwicklung der ›gesellschaftlichen Modernisierung‹ und der ›modernen Kultur‹« (5.1) – wie Chen Habermasʼ Kritik an der zeitgenössischen Entwicklung der Moderne zusammenfasst und in Anlehnung an Habermas auch in Taiwan feststellt – überhaupt nicht betrachtet und schon gar nicht in Bezug auf die regionale Situation.133 Die rigorose Abgrenzung gegenüber der Moderne durch die Kunstszene Taiwans und die national-orientierten Fixierung auf (ein durch das ›Eigene‹ (bentu) definiertes) Taiwan, festigen eine Vorstellung der Moderne als Fremdkörper im Sinne eines Taiwan nicht zugehörigen westlichen Konzepts – anstatt, wie Chen es versucht, diese Definition zu öffnen und zu erweitern, indem das universal-konnotierte Konzept in seiner Diskursivität und Geschichtlichkeit in Bezug auf ›diesen Ort‹ betrachtet wird. So soll an dieser Stelle nochmal betont werden, dass Chens Betrachten des Modernismus ›in Taiwan‹ explizit keinen ausschließenden Bezug auf ein ›Innen‹ (im Sinne des ›Eigenen‹ [bentu]), der die Bedeutung eines ›Außens‹ für die Entwicklung ignoriert, bezeichnet, sondern als eine Ref lexion der regionalen Entwicklung vor dem Hintergrund der besonders in Habermas Betrachtung zum Vorschein kommenden universalen Konnotation des Konzepts der ›Moderne‹ gelesen werden muss. So verharrt Chen nicht unbeweglich auf seinem Referenzrahmen – obgleich jener so klar gesteckt wurde. Vielmehr schafft er den Bezug auf Taiwan über den Einbezug der von Jameson vorgebrachten »regionalen Situation«, ohne die Moderne verstanden als Zeitlichkeit (also als die ›Epoche der Moderne‹) zu vergessen und vor allem ohne die Bedeutung der Universalität des Konzepts der Moderne (die vor allem durch die Besprechung Habermasʼ anklingt) zu negieren. Hier bringt also die regionale Situation, die Chen bei Jameson entlehnt und weiterdenkt, in Verbindung mit dem Sprechen vom ›Modernismus an diesem Ort‹, die Annahme der Universalität des Gedankens der Moderne deutlich zum Vorschein – jedoch wird diese nicht abgewiesen: So bezieht sich Chen doch trotzdem klar auf die Habermasʼsche Modernevorstellung und öffnet diese dadurch. 133 Vorausgreifend sei hier angemerkt, dass Gong diese Diskrepanz als normal für die postkoloniale Welt sieht und vorschlägt, Indien als Referenzrahmen zu nutzen, anstatt den Westen (vgl. Kap. V).

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Besonders die Diskussion der regionalen Situation lässt Chens Text über eine reine Kritik an Taiwans Kunstszene hinausweisen und Möglichkeiten der Lesweise der Moderne in Taiwan unter dem expliziten Einbezug des universalen Gedankens der Moderne öffnen (der doch aufgrund von Chens Referenzrahmen immer wieder durchscheint). Insbesondere in den Melancholischen Dokumenten schreibt Chen, dass es seine Rückkehr nach Taiwan war, die entscheidend war für seine Überlegungen und seine Aufmerksamkeit hinsichtlich der Bedeutung der Moderne als in Bezug zu jener regionalen Situation stehend: »Erst nachdem ich selbst nach Taiwan zurückgekommen bin, begann ich mir der Bedeutung der Fragen/Probleme der ›Melancholie‹ und ›Moderne‹ in diesem Winkel der Erde bewusst zu werden.« 134 Es wird hier zunächst deutlich, dass Chen zuvor ›Moderne‹ wohl doch selbst auch recht eindimensional als ein gewisses klar definiertes Set an Werten und Ideen verstand und erst durch das Zurückkehren von seinem langjährigen Aufenthalt in Frankreich nach Taiwan seine Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit der Betrachtung des Konzeptes in Bezug auf den jeweiligen Ort geschärft wurde.135 Wenn Chen demnach schreibt, dass Habermas in der »zeitgenössischen westlichen [Herv. d. Verf.] Kultur ein Phänomen der Spaltung zwischen der ›Kultur‹ und der alltäglichen Lebenswelt« (5.1) attestiere und ihn weiter in der »gegenwärtige[n] deutsche[n] kulturelle[n] Situation« (5.31) verortet, und Chen somit den Zusammenhang, in dem Habermas schreibt, ebenfalls als an eine regionale Situation gebunden markiert, so lässt sich der Rückschluss ziehen, dass es die aus der interkulturellen Lebenserfahrung gewonnene Sensibilität ist, die Chen auch erst die von Habermasʼ ignorierte Ortsbezogenheit bemerken ließ. Und doch bezieht sich Chen auf jenes Moderneverständnis, das Habermas vertritt: Chen – der im Zitat zum ›Zurückkommen‹ das Konzept ›Moderne‹ mit einem Verweis auf Habermasʼ Modernekonzept, wie es in Die Moderne – ein unvollendetes Projekt beschrieben wird, ausstattet – verweist hier weiter vor allem darauf, dass auch die somit implizit angedeutete Universalität als relational verstanden werden muss und auch kann: Es muss also keine Abkehr von der übergeordneten Idee der Moderne bedeuten, wenn diese in Bezug auf die Erfahrung der Region betrachtet wird, vielmehr muss dies immer der Fall sein – und er ist es auch bei Habermas. Der regionale und der universale Blick auf die Moderne, bzw. der regionale Blick auf das als universal verstandene Konzept Moderne, schließen sich nicht gegenseitig aus. Damit wird die Kritik an Habermas in dessen unüberlegter Anwendung des Arguments gefunden und nicht im Verständnis der ›Moderne‹ an sich: »Aber der Fehler liegt absolut nicht in der Logik der Argumentation, sondern beim Nutzer der Argumentation. Er liegt hier, da Habermas überhaupt nicht verstanden und gesehen hat, dass die gegenwärtige deutsche kulturelle Situation aufgrund des Einflus134 Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 9. Wie in Kapitel IV.3.2 angemerkt, findet sich nach Moderne (xiandaixing 現代性) eine Fußnote mit dem Verweis auf Habermasʼ Moderneverständnis. 135 Im Vorwort von Ist ein Baum länger als eine Nacht?, wo der im Rahmen dieser Arbeit analysierte Text im Jahre 2009 eine Wiederveröffentlichung erfuhr, findet diese Erfahrung des Lebens im Ausland auf die Wahrnehmung Betonung. Vgl. Chen Chuan-xing, Mu yu ye, S. 8.

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ses der besonderen nationalen Situation die ›Modernisierung‹ unzulänglich neben der Entwicklung der Modernisierung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik verlaufen lässt.« (5.30f.) Chen unterscheidet damit zwischen der Ausprägung der Moderne im Westen und der Moderne als universales Konzept, das er zwar durch den Referenzrahmen auch im Westen verortet, aber das von Chen nicht durch sein ›Westlich-Sein‹ als normativ definiert wird, sondern als Konzept verstanden wird. Vor diesem Hintergrund muss die Ablehnung der Moderne durch Taiwans Kunstszene gelesen werden als resultierend aus der Vermischung der zwei Ebenen ›Moderne als Konzept‹ (das durch dessen Dimension als Zeitlichkeit kein optionales Konzept mehr ist, sondern als Teil Taiwans betrachtet werden muss) und ›Moderne als Vollzug innerhalb einer konkreten gesellschaftlichen Situation‹ (die durch die Modernisierungstheorien und der diesen inhärenten impliziten Gleichsetzung mit einer Verwestlichung, unvermeidbar immer eng an den geografischen Westen geknüpft gesehen wird). Es ist also der ref lektierte Blick auf die Entwicklung dieser beiden Ebenen, den Chen von Taiwans Kunstszene in deren Analyse der Entwicklung der Moderne in Taiwan fordert. Diese Vermischung wird aber durch den Auf bau einer »heilige[n] Aura des ›Modernismus‹« (5.32) durch Habermas, der diese Ebenen also durch die Nicht-Beachtung der regionalen Situation in seinem »Projekt des Modernismus« (5.32) aufs Engste miteinander verknüpft, begünstigt. Der fehlende Bezug auf den Ort, von dem aus Habermas schreibt, macht dessen Betrachtungen nicht nur nicht generalisierbar, wie Jameson kritisiert, sondern weiter steht das von Chen als »heilige Aura des ›Modernismus‹« (5.32) bezeichnete Paradigma in engem Bezug zur Nutzung der Abhängigkeitstheorie durch Taiwans Kunstszene als Argumentationsgrundlage der Ablehnung des »westlichen ›Modernismus‹ als einheitliches und gesamtes Phänomen« (5.34). So finden sich hier leise kritische Töne an der Habermasʼschen Ausblendung seiner definitionsmächtigen Position und seiner über Europa und Amerika hinausreichenden Rezeption.136 Aus Taiwans Sicht steht Habermas für den Westen: Die geschehende Universalisierung und Kurzsicht führt dann zu einem Blick auf die Moderne als westliches (im Sinne eines ›Taiwan nicht zugehörigen‹) Projekt, dessen Universalität dann eine solche westliche/europäische und ausschließende ist. Es soll hier die These aufgestellt werden, dass jene »heilige Aura des ›Modernismus‹« (5.32), die Chen Habermas aufrecht erhalten sieht (durch dessen Ignorieren des 136 An dieser Stelle soll ein Augenmerk auf die ausführliche Diskussion der Definition Habermasʼ der verschiedenen anti-modernistischen Strömungen gerichtet werden und eine kurze Anmerkung zur Funktion von Einführungen dieser Form folgen. Da dem Zitat der englische Text zugrunde liegt, kann darauf geschlossen werden, dass es 1992 keine Übersetzung der Texte Habermasʼ ins Chinesische gab. So wird mit dem Einführen auch die Möglichkeit der Rezeption fremdsprachiger Texte markiert, wie es sich auch in der großen Zahl einführender Artikel in den wichtigen Kunstzeitschriften zeigt. Chens Texten zur documenta 7, die 1983 in der Kunstzeitschrift Hsiung Shih Art Monthly veröffentlicht wurden, ist der Vermerk »geschickt aus Paris« (ji zi bali 寄自巴黎) vorangestellt, wodurch auf eine direkte Rezeption, ohne Umwege verwiesen wird, die eine Gleichzeitigkeit der Rezeption und Diskussion zulässt. Die Bedeutung der im Ausland studierenden Studenten und die Bedeutung, die westliche Theorien zugeschrieben bekommen und welche Aufmerksamkeit und welches Interesse ihnen zukommt zeigt sich hieran. Es ist zu fragen, ob nicht auch Autorität und Normativität mitschwingt.

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Faktes, dass sich seine Analyse auf die deutsche Situation bezieht), dann in Taiwans Kunstszene aus dem Modernismus jenen »westlichen ›Modernismus‹« macht, der »als einheitliches und gesamtes Phänomen« (5.34) gesehen wird und der »keine Identifikation mit der ›taiwanischen Gesellschaft‹ haben« (4.36; 5.35) kann. Der dem Gedanken der ›Moderne‹/›Modernismus‹ implizite Gedanke des Universalismus wird also aufgrund von universalisierenden Analysen wie der Habermasʼ verstärkt in Taiwan wahrgenommen: Wenn in Taiwans Kunstszene Habermasʼ »heilige Aura« übernommen wird, so ist die Ablehnung der Moderne vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von ›modern‹ mit ›westlich‹ und mit ›kolonial‹ doch recht klar nachvollziehbar. So kann also im Text auch ein Herausarbeiten der Definitionsautorität Habermasʼ und dessen normativen Status für die Sicht auf Moderne als ›gesamtes Projekt‹ gelesen werden. Im Text klingt damit – außer der vorrangigen Kritik am Blick auf Moderne der Kunstszene Taiwans – eine weitere kritische Dimension an, die also als ein Umdrehen der Leserichtung des Arguments gesehen werden könnte: Nicht nur weil Taiwan Kunstszene ›Moderne‹ generalisierend betrachtet, wird die – immer bis zu einem gewissen Grad universale – Moderne als Fremdkörper gesehen, sondern auch aufgrund der schon geschehenen definitionsmächtigen Generalisierung durch Habermas wird Moderne in Taiwan als gesamtes Phänomen und Fremdkörper gesehen. Weil also Habermas diese Aura aufrecht erhält, wird die Moderne in Taiwan als gesamtes Phänomen gesehen. Ein solch universales Bild der Moderne provoziert und bef lügelt also den Blick auf Moderne als Fremdkörper.137 Und doch ist Chens Text – obwohl ihm diese Tendenz der westlichen Theorien wohl bewusst ist – interessanterweise aber vor allem keine Kritik an westlich-universalisierenden Modernetheorien und der – aus dem Blickwinkel Taiwan offensichtlich werdenden – krassen Universalisierung Habermasʼ,138 sondern wendet sich klar an den Umgang mit der Erfahrung der Moderne in Taiwan. Die Kritik an Taiwan, die die taiwanische Situation als selbstverschuldet markiert, wird vor dem Hintergrund dessen, dass Chen die westlich-universalisierende und vereinnahmende Tendenz also bewusst ist, noch einmal verstärkt: Es wird deutlich, dass Chen dies also nicht als ›Ausf lucht‹ gelten lässt, um sich auf die Abhängigkeitstheorie zu berufen. Wird dadurch nicht der 137 Sieht man also Habermas als eine »heilige Aura des Modernismus« schaffend, die einen Einfluss auf die Veränderung der Vorstellung von ›Moderne‹ und ›Westen‹ hat, so muss gefragt werden, warum die Gleichsetzung von Moderne mit Westen und die Kunstgeschichtsschreibung in Abgrenzung zu einem als Außen verstandenen Westen nun, zu diesem Zeitpunkt geschah: Ein Erklärungsansatz mag sich finden, betrachtet man, dass in Taiwans Kunstszene die Ausstellungen Magiciens de la terre (1989 in Paris) und K18 (1992 in Kassel) nachweisbar kritisch diskutiert wurden in Bezug auf ihre Darstellung des nicht-westlichen, exotischen ›Anderen‹ und dessen Rolle im globalen Kunstdiskurs (vgl. Hu Yongfen, Taiwan meishu ji qi yishi de weizhi). So ist die Diskussion der Ausstellungen und der zugehörige Diskurs Ausdruck der konkreten Wahrnehmung und Erfahrung eines Außens und ein ›Eindringen‹ der Definitionsmacht des Westens in die taiwanische Diskussion über die Bedeutung der Moderne Taiwans. Dies muss als ein Grund, warum diese Abgrenzung gegenüber dem Westen sich besonders zu Beginn der 1990er im Sprechen vom ›Taiwan-Bewusstsein‹ herauskristallisierte, sicherlich beachtet werden. Ausführlicher dazu in Kap. VI.3/4. 138 An dieser Stelle soll der Unterschied zwischen der Betrachtung der Kunstszene Taiwans und der Habermasʼ betont werden: Denn wenn auch laut Chen sehr mangelhaft und offenkundig ablehnend, so setzt sich Taiwan doch mit der westlichen Moderne auseinander, während bei Habermas eine solche Perspektive vollkommen fehlt.

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Aufrufcharakter des Textes, einen Umgang mit der Situation zu finden und dabei das In-Bezug-Stehen nicht zu negieren, noch einmal verstärkt? Das unbedingt notwendige Betrachten ›im-Bezug‹, das besonders in der Betonung der Erfahrung des ›Zurückkommens‹ Ausdruck findet, zeigt, dass Chen eine Betrachtung jener Zweifel und Fragen der Moderne auf Taiwan bezogen sucht, die eine tiefgehende und sich Widersprüchen aussetzende Auseinandersetzung sein muss in Bezug auf den der ›Moderne‹ (wie hier von Habermas) zugrundegelegten Gedanken der Universalität: Die Moderne als Teil Taiwans anzuerkennen, wird angesichts eines solchen Universalitätsgedankens, der Moderne als westlich markiert, herausgefordert. An diesem Punkt geht Chen dann auch weiter als Jameson, führt dessen Kritik des Vergessens der ›regionalen Situation‹ und der dadurch geschehenden Generalisierung konsequent weiter aus, indem er diese als Universalität des Gedankens der Moderne – wie er sich in Chens Schreiben von einer ›heiligen Aura des Modernismus‹ ausdrückt – bezeichnet und deren mitgeführte Normativität herausarbeitet. Die Sensibilität für die Zweifel und Probleme an diesem Ort, die durch das Zurückkehren geweckt wurde, lassen Chen also die Bedeutung jener »sehr spezifischen Moderneerfahrung in dieser speziellen Lebenswelt« (5.43) beachten. Erst die Differenz in der Betrachtungsweise und daraus folgend die Differenz der Erfahrung der Bedeutung der Moderneerfahrung, die Chen durch das Zurückkehren erlebt, machten ihm deutlich, dass die Moderne ortsbezogen betrachtet werden muss.139 Demnach ist Chens Verständnis der Universalität der Moderne eines, das ohne die Beachtung der regionalen Aspekte in Bezug auf die Erfahrung der Moderne nicht auskommt, diese jedoch nicht ohne den Bezug zur Idee der Moderne – als universal verstanden – denkt. Chens Verständnis von Moderne und Modernismus ›an diesem Ort‹ können vor diesem Hintergrund als Variationen von Moderne bezeichnet werden, die im Bezug zur übergeordneten, nicht normativ verstandenen Idee der Moderne stehen, aber auch – und das muss wohl auch als ein regionaler Aspekt gesehen werden – zur Normativität, die die Moderne als europäisch/westlich-universal mit sich trägt, wie sie hier im Text exemplarisch bei Habermas zum Ausdruck kommt. So ist Chens zunächst scheinbar eindimensionaler Bezug auf die eine Moderne vielschichtig und wird vor allem durch den Bezug auf das Regionale deutlich aufgebrochen. Der Text, ebenso wie die Melancholischen Dokumente, können so als Dokumente des Bezugs bezeichnet werden: als aus der eigenen interkulturellen Erfahrung des Bezugs entstandene Gedanken und Beobachtungen zur Bedeutung des In-Bezug-Stehens in der Verhandlung von ›Moderne‹. 139 Rolf Elberfeld beruft sich in seinem Text Moderne interkulturell – Tradition und Traditionsbruch im Horizont der europäischen Expansion auf die Feststellung Nishitanis, dass es im Zuge der europäischen Expansion zu einer allmählichen Aufgliederung der verschiedenen Bereiche der modernen europäischen Kultur in einzelne Ordnungen kam. Elberfeld stellt hieran anschließend fest, dass sich die verschiedenen Bereiche der Moderne »von ihrer regionalen Tradition [gelöst haben] und verbreiten sich über die Welt, so daß sie in den anderen Kulturen spezifische Traditionsbrüche erzeugen. Jede einzelne Ordnung hat dabei ihre eigene Weise der Universalisierung und Verbreitung. In diesem Sinne hat sich das Europäische langsam über die Welt verbreitet, aber nicht immer als Ganzes. Es war und ist vielmehr möglich, einzelne Ordnungen zu übernehmen, wohingegen andere Ordnungen ausgelassen werden können.« (In: C. Bickmann et al. (Hg.), Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik. Interkulturelle philosophische Perspektiven, Amsterdam/New York 2006. 383-392, S. 387)

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3.7 Die Melancholie angesichts des widersprüchlichen Begehrens von Moderne. Zum psychoanalytisch-postkolonialen Blick Chens Es ist nicht nur die Moderne in diesem Winkel der Erde, die Chen nach seiner Rückkehr nach Taiwan betrachtet, sondern auch die Bedeutung der Melancholie wird ihm deutlich. Dies lenkt den Blick auf Chens – der, wie oben erwähnt, für die Einführung der Psychoanalyse in Taiwan sehr wichtig ist – starke Nutzung psychoanalytischer Konzepte, um Taiwans Umgang mit der Moderne und den zugehörigen Konzepten zu beschreiben. Neben den begriff lich konkret genannten Konzepten wie dem »Partialobjekt«, dem »Realitätsprinzip« oder dem »Fort und da«, muss in diesem Kontext vor allem Chens augenscheinlich von der Psychoanalyse stark beeinf lusste Betrachtung des Begehrens, der Ambivalenz, des Unbewussten oder der Angst in Bezug auf die Moderne beachtet werden, da diese der Analyse der Situation Taiwans durch Chen eine weitere Perspektive, die als postkoloniale beschrieben werden kann, hinzufügen und damit klar über die Einordnung als Habermasʼscher Neokonservatismus (in Chens Worten: »den ›Modernismus‹ kompromissbereit akzeptieren, den gefährlichen subversiven Teil ausschließen« [6.5]), hinausgeht. Auch wenn die Ablehnung und das Ausschließen alles Subversiven, das von Chen beobachtet wird, mit Habermasʼ Definition des neokonservativen Anti-Modernismus passend beschrieben werden könnte um das taiwanische Phänomen der beginnenden 80er Jahre zu beschreiben, so findet sich ein Abwiegen seitens Chen, ob das Phänomen, das in Taiwan zu beobachten ist, mit Habermas adäquat beschrieben sei, da doch Taiwans Postmoderne »nicht auf den Ruinen der ›Moderne‹ und der ›Subjektivität‹ erbaut« (6.7) worden sei. Während hier einerseits die Kritik an Taiwans Kunstszene mitschwingt, dass jene – der mangelnden Auseinandersetzung wegen – keine Ruinen der Modernität und Subjektivität vorzuweisen habe, so wird hier doch vor allem darauf verwiesen, dass die Entwicklung der Moderne in Taiwan und damit auch Taiwans Moderneerfahrung nicht mit jener, die Habermas beschreibt, vergleichbar ist. Den »akademischen Modernismus« der beginnenden 80er Jahre beschreibt Chen als einen »von weit her kommende[n], verpf lanzte[n] ›ver-anderte[n]‹ ›Modernismus‹« (6.8), der nur »vorläufig die Sehnsucht nach der begehrten ›Moderne‹« (6.9) befriedige. Chen stellt hier zwar fest, dass es die Angst vor dem – zu Beginn der 80er Jahre unterdrückten und sich doch immer wieder mit aller Kraft auf bäumenden – Subversiven des Modernismus sei, die der Grund für Taiwans Form des Anti-Modernismus der späten 1980er Jahre sei und folgt damit Habermasʼ Beschreibung des Neokonservatismus. Doch vor allem Chens Bezug auf die Psychoanalyse lässt seine Analyse noch einen Schritt weitergehen. Chens Anlehnung an die Psychoanalyse, besonders das Freudʼsche Fort und Da in der Lacanʼschen Weiterentwicklung, zeigen die Begegnung der Kunstszene Taiwans mit Moderne als paradox, als Schwanken zwischen Ablehnung und Begehren. Die Ambivalenz der Moderne – einerseits die Dialektik zwischen Subversivität und Rationalität, andererseits aber vor allem der Blick auf Moderne als »von weit herkommend« (6.8), nicht-zugehörig und gleichzeitig der Wunsch der Zugehörigkeit – wird nicht ertragen und folglich wird versucht, das Begehren zu ignorieren, indem durch den Auf bau des Systems eine Legitimität etabliert wird. Wenn Chen den Modernismus verstanden als »von weit her kommend« (6.8) beschreibt, setzt er den Text in einen postkolonialen Diskurs: Vor dem Hintergrund der Diskussion des ›Eigenen (bentu)‹ und des Taiwan-Bewusstsein muss der als ›ver-

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pf lanzt‹ gesehene Modernismus auch unter dem Aspekt des ›Nicht-Eigenen‹ betrachtet werden. Als eine Art Schutzmechanismus vor einem die »Menschen in Angst und Schrecken« (2.33) versetzenden Modernismus, beschreibt Chen das Berufen auf ein »Gruppen-Ich« (1.13; 2.37; 3.34), als welches das Sprechen vom ›Taiwan-Bewusstsein‹ und dem ›Bewusstsein der eigenen Erde (bentu)‹ gelesen werden muss. Es ist dann unter dem Einbezug des das Nationale implizit betonende Taiwan-Bewusstseins, dass die Betrachtung der taiwanischen Situation die Abgrenzung gegenüber dem als westlich Angesehenen einbezieht und somit eine Form der imaginierten Gemeinschaft beschreibt. Innerhalb dieser Gemeinschaft legitimiert das Berufen auf die ›Abhängigkeitstheorie‹ die geschehende Abgrenzung und Nicht-Auseinandersetzung und die Annahme der Minderwertigkeit gegenüber einem als hierarchisch höherstehend vorgestellten Westen als kolonial-historischer Fakt. Die Widersprüchlichkeit im Umgang mit ›Moderne‹ muss also – außer als Folge der aus Angst heraus unterdrückten und durch ein System gezähmten Subversivität der Moderne – vor allem auch als Folge des Blicks auf Moderne als Fremdkörper und der Gleichsetzung von modern mit westlich in der Debatte gesehen werden, die vor dem Hintergrund der Vorstellung des Westens als hegemoniale Kolonialmacht entsteht. Die psychische Verfasstheit des sich selbst als ›kolonialisiert‹ und ›abhängig‹ darstellenden Subjekts spricht Chen an, wenn er von Angst, Ambivalenz und vor allem dem Begehren und der Vorstellung, in Abhängigkeit zurückgeblieben zu sein, spricht. Die Vorstellung einer westlichen, hegemonialen Macht als die eigene Handlungsmacht zerstörend (»[…] tut ›Modernismus‹ als westlichen leeren Individualismus ab, der durch Machteinf luss die eigene [bentu] Kultur zerstört.« [4.44]), die Chen in Taiwans Diskussion analysiert, lässt eine Lesweise der Psychoanalyse zu, wie die Postkolonialen Studien (und insbesondere deren Vorgänger Frantz Fanon) sie nutzt. Das Berufen auf die Abhängigkeitstheorie, die Chen anklagt, kann aus postkolonialer Perspektive als Identifizierungsprozess gesehen werden, in dem das ›Anderssein‹ als Differenzierung und festgestellte (unbewegliche) Differenz als Fakt vordergründig positiv konnotiert wird.140 Die Ambivalenz, die einer solchen Haltung innewohnt, stützt gleichzeitig auch unterbewusst jene zwiespältige Haltung hinsichtlich der ›Moderne‹, die das ›Taiwan-Bewusstsein‹ als ›das Eigene‹ in Abgrenzung zum Fremdkörper der als Synonym zu ›Westen‹ gesehenen ›Moderne‹ etabliert. Chens Analyse ist, aus der psychoanalytischen Perspektive betrachtet, stark auf die psychische Verfasstheit ausgerichtet und beschäftigt sich also mit der widersprüchlichen Beziehung zwischen der Machterfahrung (von einer als hierarchisch niedriger stehend empfundenen Position) und dem Begehren der von Chen angesprochenen ›Akkulturation‹, die aus der unterschwellig vorhandenen Ambivalenz schließlich das als identifikationsstiftend empfundene ›Taiwan-Bewusstsein‹ hervorbringt. Doch das Verdrängen der Problematik der Moderne an diesem Ort lässt das in sich widersprüchliche Begehren unterbewusst weitersprechen. Diese Haltung bezeichnet Chen im Vorwort der Melancholischen Dokumente als Haltung eines »sowohl Ausschließens als auch ausgerichtet sein auf«141 und im hier zur

140 Vgl. Homi K. Bhabha, Verortung. Kapitel »Die Frage der Identität« (S. 59-96). 141 Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S. 10.

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Analyse stehenden Text als widersprüchliches und zweideutiges Begehren hinsichtlich der Moderne, an dem sich unterbewusst verzweifelt abgearbeitet wird.142 Aus postkolonialer Perspektive gesehen, ist es dieses Begehren in seiner widersprüchlichen Beziehung zur (angenommenen) Macht oder Autorität, das jene Melancholie hervorbringt, die für Chens Melancholische Dokumente titelgebend ist. Freud beschreibt die Melancholie im Gegensatz zur Trauer folgendermaßen: »Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.«143 Der hieraus hervorgehende Selbsthass, wie ihn auch Butler in Bezug auf die Geschlechtsidentität und Bhabha in Referenz auf Fanon für das koloniale Subjekt feststellen, wird von Chen in der Kritik am Berufen auf die ›Abhängigkeitstheorie‹, die jene Vorstellung der Minderwertigkeit und der Zweitrangigkeit mit sich führt, konstatiert. Durch die psychoanalytisch-postkoloniale Perspektive betrachtet, wird noch einmal deutlich, dass die oben schon diskutierte »verspätete Moderne«, die Chen in den Melancholischen Dokumenten anspricht, damit ein Problem ist, das Chen in Taiwan selbst verortet und das die psychische Verfasstheit Taiwans anspricht. Sie unterscheidet sich damit klar von der Verspätung, die im Sprechen von den ›zurückgebliebenen Regionen‹ zum Ausdruck kommt, die jene melancholische Selbstverachtung mit sich führt. Chen sieht – wie in seiner letzten Frage der Melancholischen Dokumente zum Ausdruck kommt (»Wie produziert die unzulängliche Ökonomie des Verlangens – die von der ›verspäteten Moderne‹ im Bereich des Psychologischen und Geistigen hervorgebracht wird – auf Ebene der Ästhetik den Bildraum der Melancholie? Ist die Melancholie eine weitere ›Perspektive‹, um die von der Verspätung hervorgebrachte Unzulänglichkeit zu ersetzen, zu komplementieren? Welche Form hat das Anzeichen der Melancholie im Feld der Kunst?«) – in Taiwan also eine Melancholie angesichts der ›verspäteten Moderne‹. Diese Form des Modernismus wird jedoch erst dadurch zum Problem, dass sie »nie offen und direkt diskutiert wurde und nie gründlich darüber nachgedacht wurde« (2.27) und bisher nicht beim Namen genannt wurde, wie er es im Vorwort der Melancholischen Dokumente schreibt. Das Sprechen von der ›verspäteten Moderne‹ – vor dem psychoanalytischen Hintergrund der Melancholie – kann somit bei Chen als Aufruf, eine Innenperspektive aufzunehmen, das Innen ›an diesem Ort‹ zu betrachten, das nicht im Gegensatz zum Außen steht, gesehen werden.144 Chen möchte die ›Melancholie‹ als in Taiwan unter142 Auch im Titel von Ni Tsai-chins die Debatte auslösenden Text Westliche Kunst – Made in Taiwan drückt sich die Widersprüchlichkeit des Begehrens von Moderne aus. Der der Wirtschaftssprache entlehnte Slogan Made in Taiwan weist eine Gleichsetzung von gesellschaftlicher Modernisierung und Modernismus auf und dient hier als eine Art Beweis dafür, dass Taiwan ›schon modernisiert‹ ist. In der Übertragung auf den Kunstkontext wird der Slogan hier jedoch genutzt, um die immer bestehende, unaufholbare Verspätung der Kunst in Relation zum Westen auszudrücken. Aus dieser Diskrepanz bezieht das Begehren von Moderne seine anhaltende und unauflösbare Ambivalenz. 143 Sigmund Freud, »Trauer und Melancholie«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 10, Werke aus den Jahren 1913-1917, Frankfurt a.M. 1946, S. 427-446, S. 431. Im Vorwort von Ist ein Baum länger als eine Nacht? schreibt Chen konkret, dass er im Kontext dieser Textsammlung sofort an Freuds Konzept der ›Trauer‹, wie Freud sie in Trauer und Melancholie im Kontrast zur Melancholie beschreibt, dachte und so eine Verbindung zur Textsammlung Melancholische Dokumente gegeben sei. Vgl. Chen Chuan-xing, Mu yu ye, S. 7. 144 In den Melancholischen Dokumenten bezieht sich Chen auf Panofsky und schreibt, dass die Entdeckung der Melancholie als Innenperspektive das ergänzende Gegenstück zu der linearen, räumlichen Per-

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schwellig präsente Perspektive sichtbar machen, um das selbstbewusst wirkende, jedoch zutiefst ambivalente Sprechen vom Taiwan-Bewusstsein einer Analyse zu öffnen.145 So unterstreicht Chens starke Kritik an der Debatte der Kunstszene Taiwans seine Abneigung gegenüber einer Haltung, die sich in einer abhängigen Position einrichtet, anstatt jenes »Gefühl des Zweifels an diesem Ort« (2.28) zu diskutieren und plädiert daher dafür, die Moderne in der Widersprüchlichkeit, in der sie sich in Taiwan zeigt, zu beachten und als Teil Taiwans anstatt als Fremdkörper zu betrachten. Auch wenn Chen die Postkolonialen Studien nicht direkt benennt und unklar ist, ob er zum Zeitpunkt des Verfassens des Textes Frantz Fanons Studien146 gelesen hat oder Edward Saids Orientalismus kannte und deren Analysen der Verfasstheit des kolonialen Subjekts, so scheinen es doch besonders seine Überlegungen zum Modernismus an diesem Ort zu sein, verbunden mit seinem psychoanalytischen Hintergrund, die eine solche Betrachtung nahelegen und den Text als eine psychoanalytischpostkoloniale Diskursanalyse zeigt, der die melancholische Innenperspektive postkolonial betrachtet.

3.8 Kritisches Resümee Eine elementar aus dem Gleichgewicht geratene Kunstszene beschreibt Chen: zutiefst verunsichert, in Angst und Schrecken versetzt, von Melancholie erfüllt. Den inf lationär gebrauchten Bezug auf ein ›Taiwan-Bewusstsein‹ beschreibt er als ein Ausweichen vor dem kritischen Umgang mit ›Moderne‹, die nur mehr als ›westlicher Fremdkörper‹ gesehen wird und nicht als Teil Taiwans verhandelt wird. Chens Text ist ein Aufruf zur tiefgehenden Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Modernismus an diesem Ort und dazu, sich von der scheinbar unverrückbaren Vorstellung, ›Zurückgeblieben‹ zu sein in Bezug zu einem als ›Außen‹ gesehenen Westen, spektive, die das Außen, das Rationale beschreibt, in der Kunst wurde (vgl. Chen Chuan-xing, Youyu wenjian, S.  8). Dieses Verständnis der Melancholie als ergänzendes Gegenstück zum Rationalen muss hier auch Beachtung finden. 145 In den Melancholischen Dokumenten verweist Chen auf den Teil ›Poetische Melancholie‹ und ›Melancholia Generosa‹ von Saturn und Melancholie (Panofsky; Saxl; Klibansky, Saturn und Melancholie, Frankfurt a.M. 1990). Die hier von Panofsky stark gemachte Analyse der Melancholie als Voraussetzung für eine schöpfende Genialität klingt in Chens Blick auf die Bedeutung von Melancholie in Taiwan auch an, jedoch muss wohl die Freudʼsche Trennung zwischen Trauer und Melancholie hier mehr Beachtung finden. Der Verweis Chens auf Panofsky betont jedoch, dass er ›Melancholie‹ durchaus als positiv und produktiv sieht. 146 Dass Chen mit postkolonialen Schriften in Frankreich in Kontakt gekommen ist, kann ich nicht nachweisen, da ich keine Erwähnung seinerseits fand. Dass ihm Frantz Fanons psychoanalytischer Blick auf die Verfasstheit des kolonialen Subjekts bekannt war, kann vermutet werden. Eine Parallele lässt sich ziehen. Dass er das Konzept der ›belated modernity‹ als englisches Konzept in Klammern – ohne Verweis allerdings – erwähnt, lässt darauf schließen, dass ihm die Diskussion um die ›belatedness‹, die in den Postkolonialen Theorien geführt wird, bekannt war. 2006, deutlich später also, wurde im von Chen gegründeten Verlag dann die chinesische Version von Chen Kuan-hsings Asia as method (Qu diguo: Yazhou zuowei fangfa 去帝國: 亞洲作為方法) veröf fentlicht, in dem die postkolonialen Theorien und vor allem auch Frantz Fanon ausgiebig in Bezug auf die Situation Taiwans besprochen werden.

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zu lösen. Der sich im Sprechen vom Taiwan-Bewusstsein zeigenden Diskussion der Identität, steht Chen vor allem in deren Adaption wichtiger Aspekte, die Chen der Modernediskussion zuschreibt, sehr kritisch gegenüber: Insbesondere die Subjektivität sieht Chen als die Verkörperung der Moderne und in der Diskussion Taiwans vollkommen missverstanden. Chens ausnahmslos positive Sicht auf die die Moderne prägenden Komponenten – wie die Suche nach Autonomie und Selbsttätigkeit, aktiver Auseinandersetzung und Kritikbewusstsein und nicht zuletzt der auf klärerische Charakter – und die Eindringlichkeit, mit der Chen immer wieder die Definition von Moderne postuliert, werfen die kritische Frage auf, ob Chen nicht das tiefgreifende Problem in Taiwan, dass die Modernediskussion als in Bezug zu jenem ›Außen‹ stehend, hervorruft, übersieht. Denn Chens Blick auf die Moderne diskutiert kaum deren ausschließende Funktion, besonders was die Konstituierung der Erzählung der europäischen Moderne angeht. Besonders seine Kritik an der Nutzung des Subjekts als nur auf die Gesellschaft reagierend anstatt autonom und selbsttätig zu sein, und sein Sprechen von der ›Unzulänglichkeit‹ lassen anklingen, dass Chen die Diskussion Taiwans nur als ›falsch‹ sieht, ohne nach Möglichkeiten der Betrachtung zu suchen und zeichnen Chen so als selbst in seinem Referenzrahmen gefangen. Zwar verbindet er ›Westen‹ und ›Moderne‹ nicht zu einer nicht mehr zu trennenden Einheit, doch sein enger Referenzrahmen, seine unumstößliche Bindung an westliche kritische Positionen lässt ihn selbst – trotz seines Plädoyers für die Auseinandersetzung – eine Art ›heilige Aura des Modernismus‹ weitertragen, die in ihrer zugrundeliegenden Definition unangetastet bleiben muss. Seine Kritik verbleibt sehr nahe am Vergleich mit dem historischen Europa und so stellt sich auch die Frage, ob der einzig mögliche Referenzrahmen nicht so klar gesteckt ist, die am Westen orientierte, als ›richtig‹ markierte Definition der Betrachtung von ›Moderne‹ nicht zu mächtig ist, um noch als gedanklicher Ausgangspunkt wahrgenommen werden zu können. Liegt so gesehen Chens Gedanken nicht auch eine schwere Melancholie zugrunde, die Ausdruck der Ausweglosigkeit, die er sieht, ist? Gong Jow-jiun schrieb 2010, die kritischen Gedanken Chens hätten eine »zukunftsweisende Bedeutung«147. 2012 greift Gong Chens Fragen zum Umgang der Kunstszene Taiwans mit ›Moderne‹ – zwanzig Jahre nachdem sie gestellt wurden – wieder auf,148 und macht so die große Bedeutung der Gedanken Chens für die Diskussion der Kunstszene Taiwans deutlich. Dies verweist einerseits darauf, dass Taiwans Kunstszene noch immer mit dem von Chen als widersprüchlich analysierten Blick auf die ›Moderne‹ und mit der Vorstellung eines ›Außen‹, das im binären Verhältnis zum als ›Innen‹ dargestellten ›Taiwan‹ steht, kämpft. Es verweist aber vor allem auch darauf, dass Chens Kritik, einschließlich ihres ›Vergessens‹ der ausschließenden westlichen Moderne und des (zu) festen Referenzrahmens, eine nahezu pädagogische Funktion hat, dass sie das unterschwellig präsente kritische Gewissen der Kunstszene Taiwans darstellt.

147 Gong Jow-jiun, Shiyan yu wei ganjue, S. 49. 148 Siehe Kap. V.

V. Verspätung als Chance. Gong Jow-jiuns 龔卓軍 Blick auf die Moderne Taiwans (2012) 1. Übersetzung von Gong Jow-jiuns 2012 veröffentlichtem Text (*) Wann kam der Modernismus in der Kunst1 Taiwans auf? Wu Yaozhong 吳耀忠 und die 70er Jahre als Anhaltspunkte [1] Kann man Kunstkritik als eine Art geistige Bewegung verstehen? [2] Oder als eine Form des Schaffens auf geistiger Ebene? [3] Insbesondere, wenn wir2 uns in der Nicht-Archiv-Gesellschaft befinden, auf die Chen Chieh-jen verweist. [4] Wenn die Dritte Welt, der es an Akten, Dokumenten und Archiven mangelt, Kunstgeschichte und Kunstkritik schreiben möchte, so ist das, wie wenn man die sich noch nie gezeigte Bewegungsbahn einer geistigen Bewegung skizziert. [5] Bis hin zu dem Punkt, da der Schreibende am eigenen Leib eine geistige, schaffende Suchbewegung erfahren muss. [6] Auf diese Weise erst kann es möglich sein, dass die so lange Zeit versunkenen historischen Netze des Denkens in einer zeitgenössischen Kontur und mit einem zeitgenössischen Antlitz wieder auftauchen. [7] Von 2009 bis 2011 taten sich Lin Liyun 林麗雲, Chen Ruihua 陳瑞樺 und Su Shufen 蘇淑芬 zusammen zu einer »Bilder-Such-Truppe«, um die Arbeiten des 1937 geborenen und 1987 einer Krankheit erlegenen Malers Wu Yaozhong zu suchen. [8] Sie spürten nicht nur über 130 Bilder auf, sondern verbrachten auch unzählige Stunden damit, enge  Die hier als Endnoten gesetzten Anmerkungen sind im Originaltext enthalten, Fußnoten sind hingegen Anmerkungen der Übersetzerin. Hervorhebungen sind, soweit nicht anders vermerkt, aus dem Original übernommen. Durch die Nummerierung der Sätze, die die deutsche Übersetzung als Maßstab nimmt, ist ein Abgleich mit den Zitaten in der Analyse leicht möglich. Der Übersetzung liegt der im Juli 2012 in der von Gong Jow-jiun selbst herausgegebenen Zeitschrift Art Critique in Taiwan 藝術觀點 (Nr. 51, S. 66-80) veröffentlichte Text mit dem chinesischen Originaltitel 台灣藝術中的現代主義起於何時? 以吳耀忠與七○年代為線索 (Taiwan yishu zhong de xiandaizhuyi qi yu he shi? Yi Wu Yaozhong yu 70 niandai wei xiansuo) zugrunde. In dieser Veröffentlichung waren auch die hier abgebildeten Werke Wu Yaozhongs und Li Meishus eingebettet. Leider war es trotz intensiven Bemühungen nicht möglich eine Abbildung des Werkes Lange Nacht zu erhalten. 1 Nur in Zitaten oder wenn er von der Kunstgeschichte (meishushi) schreibt, nutzt Gong für ›Kunst‹ die Bezeichnung meishu. Ansonsten ist, wird in dieser Übersetzung der Begriff ›Kunst‹ verwendet, dieser immer eine Übersetzung von yishu. 2 Dadurch, dass Gong das ›Wir‹ (women 我們) explizit schreibt, bleibt hier die etwas ungelenke Übersetzung stehen. (*)

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Freunde zu interviewen. [9] Außer dass sie »für den Maler seine Lebensgeschichte niedergeschrieben haben«, ist dies auch »das Zurückverfolgen der Strömungen und Veränderungen des Realismus3 in Literatur und Kunst im Nachkriegstaiwan, um die Entwicklung des linken Geistes in Taiwan zu verstehen.«i [10] Von Februar bis Juni 2012 fanden in Taiwan vier große Ausstellungen statt – im Wistaria Tea House in Taipei, im Kulturbüro Ilan, im Kunstzentrum der National Tsing Hua University und in Kaohsiung im Bywood Art Space –, außerdem wurden das Buch Bilder Suchen. Der realistische Maler Wu Yaozhong (Verlag: Yuanjing)4 und der literarische Bericht Bilder suchen: Wu Yaozhongs Malereien, seine Freunde und der linke Geist (Verlag: Yinke)5 herausgegeben, fünf Diskussionen in Süd- und Nordtaiwan fanden statt, mehr als zehn Vorträge und Führungen wurden gehalten: Dies stellt ein im Inland rares Beispiel des Darstellens von kultureller Produktion dar. [11] Wenn wir das »Bildersuchen« als eine »den linken Geist aufspürende« Praxis der Kunstkritik sehen, dann wird dieser Weg der Praxis viele Kunst- und Kulturschaffende anstacheln, sich erneut zu versammeln um sich an den linken Geist der 70er Jahre zu erinnern und ihn in der zeitgenössischen Kunstszene einen Effekt der starken Entfremdung der Kunstkritik hervorbringen zu lassen. [12] Gleichzeitig erstreckt sich das Thema und die teilnehmenden Menschen dieser Veranstaltungsserie über die linken Gruppierungen von den 60er bis zu den 80er Jahren, über Kunstliebhaber, die Opfer des Weißen Terrors, die sozialen Bewegungen, die damaligen Literatur-, Malerei-, Kunstband- und Zeitschriftenverlage, sowie Galerien. [13] Diesen interdisziplinären Effekt betrachtend, ist das ›Bildersuchen‹ wirklich eine geistige Bewegung, die die Menschen dazu bewegt, nach links zurück zu schauen. [14] Die erste Idee zu diesem Text entstand am 10.4.2012, als Lin Liyun und Chen Ruihua an die Kunstuniversität Tainan kamen, um einen Vortrag mit dem Titel »Der Maler Wu

3 Hier steht für Realismus xianshizhuyi 現實主義, ein Begriff der wörtlich übersetzt als das ›Zeigen der Realität‹ übergreifend realistische Strömungen in Literatur und Kunst bezeichnet, der aber auch einen bspw. politischen Realismus bezeichnen könnte, während der Begriff xieshizhuyi 寫實主義, der ebenfalls mit ›Realismus‹ übersetzt werden muss, nur im Bereich der Kunst/Malerei Verwendung findet. Während xianshi auch im Alltagsgebrauch die ›Wirklichkeit‹ (z.B. in dieser Übersetzung 3.2 als die »Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit« bei Chiang Hsun), das ›Realistische‹, oder als xianshihua die ›Realisierung‹ (z.B. in dieser Übersetzung 3.54/56) oder auch adjektivisch ›realistisch‹ bezeichnet, kann xieshi/xieshizhuyi nur im künstlerischen Bereich angewendet werden (und kann daher auch ohne den -ismus verwendet werden, während xianshizhuyi in der Kunst den -ismus/-zhuyi braucht). Hervorgehoben werden muss dies an dieser Stelle, da Gong im zweiten Kapitel des Textes die von Chen Ruihua genutzte Bezeichnungsweise stark kritisiert und die Möglichkeiten des Begriffs xieshizhuyi (das wörtliche ›Schreiben der Realität‹) für eine Diskussion des Modernismus der Kunst Taiwans betont. Im Folgenden wird daher auf den jeweiligen chinesischen Begriff hingewiesen (bis 2.105). Angemerkt werden soll allerdings an dieser Stelle jedoch, dass in Schriften zur Kunst häufig beide Begriffe synonym verwendet werden. 4 Titel im Original: Xun hua – xianshizhuyi huajia Wu Yaozhong 尋畫 – 現實主義畫家吳耀忠. Auch hier wird Wu Yaozhong als ›xianshizhuyi‹-Maler betitelt. Anmerkung: Im Folgenden werden die chinesischen Originaltitel von Büchern oder Texten der besseren Lesbarkeit wegen in den Fußnoten angegeben, sofern sie nicht in den Endnoten angegeben sind. Kürzere Titel von Malereien stehen im Text. 5 Titel im Original: Xun hua: Wu Yaozhong de huazuo, pengyou yu zuoyijingshen 尋畫: 吳耀忠的畫作, 朋友 與左翼精神.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

Yaozhong und die Entwicklung des Realismus in Literatur und Kunst in Taiwan« 6 zu halten. [15] An jenem Tag, als Lin Liyun und Chen Ruihua etwa bis zur Hälfte gesprochen hatten, begann ich in Richtung folgender Fragen und Gedanken abzuschweifen: »Wann kam der Modernismus7 in der Kunst Taiwans auf?« [16] Und: Wie kann »ein erneutes Evaluieren der Situation des Denkens in Literatur und Kunst der 70er Jahre« aussehen? [17] Die Frage »Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf?« 8 ist offensichtlich angelehnt an die Frage, die die indische Theoretikerin, Kritikern und Kuratorin Geeta Kapur*9 stellte: »When was modernism in Indian art?«ii [18] »Die Situation des Denkens in Literatur und Kunst der 70er Jahre von Neuem evaluieren« war etwas, das ich schon früher überlegt hatte. [19] Als Lin Liyun und Chen Ruihua Stücke und Teile ihrer Forschung präsentierten, hinterließ der Vorschlag einer »Operation Kritik« einen tiefen Eindruck auf mich. [20] Nun präsentieren die beiden schon ihre Ergebnisse und ich habe nahezu gerade erst angefangen. 1. Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf? [1] [T]he innovations of what is called Modernism have become the new but fixed forms of our present moment. [2] If we have to break out of the non-historical fixity of post-modernism, then we must search out and counterpose an alternative tradition taken from the neglected works left in the wide margin of the century, a tradition that may address itself not to this by now exploitable because inhuman rewriting of the past but, for all our sakes, to a modern future in which community may be imagined again. Raymond Williams, When was Modernism?*iii [3] Kapur zitiert Williams, macht jedoch sofort klar, dass die indischen Intellektuellen aus der Dritten Welt – obwohl sie gewillt sind, mit den immanenten Aspekten der komplexen Kultur umzugehen – doch fest daran glauben, dass die Gefühlsstruktur und die materielle Ebene Bedingungen der Bedeutungsmanifestation seien.10 [4] Deshalb sind 6 Titel im Original: Huajia Wu Yaozhong yu taiwan xianshizhuyi wenyi de fazhan 畫家吳耀忠與台灣現實主 義文藝的發展. Auch hier steht für Realismus ›xianshizhuyi‹ (das ›Zeigen der Realität‹). 7 ›Modernismus‹ (xiandaizhuyi) – als Übersetzung des englischen ›modernism‹ oder des französischen ›modernisme‹ und damit in der Bedeutung der künstlerischen (und kunstkritischen) Auseinandersetzung mit Moderne – bezieht sich in Taiwans Kunstszene auf die inhaltlichen und formal-ästhetischen Paradigmen der Moderne in der Kunst (vgl. auch Kapitel IV.1 Fußnote 8). Dieses Verständnis wird von Gong in der Übertragung des Konzeptes auf Taiwan in Weiterführung der Kritik Chens analysiert. Wie sich im folgenden Text zeigt, möchte Gong ›Modernismus‹ als einen kritischen Diskurs um moderne Kunst in Auseinandersetzung mit den Idealen und Paradigmen von Moderne in Bezug auf Kunst verstanden wissen und beruft sich dabei auf Kapurs postkoloniales Weiterdenken von Greenbergs Blick auf die moderne Kunst. 8 Zur Entscheidung der Übersetzung »Wann kam der Modernismus auf?« anstelle von »Wann war der Modernismus?«, siehe Analyseteil in Kap. V.3. 9 Die im Folgenden mit * gekennzeichnete Namen und Titel sind im Original in Klammern in lateinischen Buchstaben, bzw. mit dem Originaltitel angegeben. 10 In dieser Paraphrasierung scheint Gong Kapur leicht missverstanden zu haben, die da schreibt: »We persist in trusting the material status of meaning manifest, in Williamsʼs words, as a ›structure of feeling‹.« (Geeta Kapur, »When was modernism in Indian Art?«, in: Dies., When was Modernism: Essays on Contemporary Cultural Practice in India, Neu Delhi 2000, S. 297-324, S. 298) Gongs Übertragung dagegen lautet: 卻也堅決相信感覺結構與物質介面乃是意義彰顯的條件.

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indische Intellektuelle besonders aufmerksam, wie sich die Formen der Kunst und die Formation der Gesellschaft zueinander verhalten und legen damit die Grundlage für die Fortführung der Kulturgeschichte, um unter der Situation eines »Neoimperialismus«, der zwischen Spätkapitalismus und Postmoderne errichtet wurde, zu überleben. [5] Somit kann festgestellt werden, dass die kommunistischen Bewegungen Indiens fortwährend den irreversiblen Plan der Modernisierung durch einen rationalen und säkularen Nationalismus unterstützte. [6] Auch unterstützten sie religiöse Minderheiten und Frauen. [7] Unter dem Erstarken und dem reaktionären Aufschrei des Fundamentalismus sind sie vielleicht die bisher einzigen organisierten Bewegungen, die die Sprache der Moderne11 sprechen. [8] Für die Erste Welt ist das eine vergleichsweise paradoxe Situation: [9] Unter der Herausforderung des Diskurses der Postmoderne haben sich das Kultursystem und das historische »Moderne« 12 schon viel früher vom Marxismus abgewendet. [10] Kapur erinnert uns jedoch daran, dass sich die Dritte Welt immer an die von Zwang gezeichneten Ausnahmesituation im Entwicklungsprozess erinnern muss: [11] »Here indeed the modern continues to be placed nowhere more correctly than along visibly socialist trajectories.«iv [12] Spricht man über Taiwans Weltsicht, so muss man bedenken, dass sie sich aus dem einem Zauberspruch ähnelnden Referenzrahmen »Euro-Amerika13 als Methode« heraus entwickelt hat. [13] Doch folgt man Chen Kuan-Hsing in seinem Text Indien als Methodev, so wäre Indien ein möglicher Referenzrahmen für die Weltsicht. [14] Kapur erinnert uns: »Indiens kommunistische und linke Bewegung ›may now be the only organized movements to speak the language of modernity.‹« [15] Das bedeutet, dass hier eine kritische Weltsicht angesprochen wird, durch die die Grundlagen der materiellen Bedingungen des Ablaufs der gesamten modernen Welt erfasst werden können. [16] 11 Die deutsche Übersetzung »Sprache der Moderne« von Gongs xiandaixing huayu 現代性話語 ist angelehnt an Kapur, die von »the language of modernity« schreibt. Gongs gewählter Ausdruck muss auch im gedanklichen Umfeld von »Modernediskurs« verstanden werden. 12 Zur Nutzung der Bezeichnungen ›modern‹, ›die/das Moderne‹ und ›Modernität‹ soll hier Folgendes angemerkt werden: Das an dieser Stelle im Originaltext genutzte xiandai wird bei Gong meist adjektivisch genutzt (bspw. xiandaishjie 現代世界, ›die moderne Welt‹) und bezeichnet übergreifend den Zeitabschnitt der Moderne, deren – wie Chen schreibt – ›Zeitlichkeit‹ (also konkret bspw. das neuzeitliche Europa oder Taiwan seit 1895). In dieser zeitlichen Nutzung kann xiandai ins Deutsche auch als ›die Moderne‹ übersetzt werden. xiandai beinhaltet in Gongs Nutzung allerdings auch die Modernisierung und die normative Idee, ›modern zu sein‹ und ist damit immer mit der Vorstellung von Europa verbunden. xiandai ist somit oftmals kaum klar zu trennen von xiandaixing 現代性, das sowohl als ›die Moderne‹ als auch als ›das Moderne‹ oder ›die Modernität‹ übersetzt werden kann (und sich damit als Übersetzung des englischen ›modernity‹ zeigt). xiandaixing muss meist – wie bei Chen – als eine klarere Referenz auf die europäische historische Moderne-Idee mit sich tragend verstanden werden und muss daher als klar ideologisch geprägtes Konzept verstanden werden. (Im Folgenden wird xiandaixing kontextabhängig als ›die Moderne‹ oder ›Modernität‹ übersetzt.) 13 Ich übersetze hier und im Folgenden das von Gong genutzte oumei 歐美 pauschalisierend als ›Euro-Amerika‹, bzw. ›euro-amerikanisch‹. Während ou 歐 noch recht eindeutig Europa (ouzhou 歐洲) als Kontinent bezeichnet, kann mei 美 sowohl meiguo 美國, die USA, oder aber auch meizhou 美洲, den gesamten amerikanischen Kontinent, inklusive Mittel- und Südamerika, bezeichnen. Durch die Kombination mit ›Europa‹ wird zwar klar auf Nordamerika verwiesen, eine Übersetzung als Nordamerika wird hier jedoch trotzdem nicht gewählt, da die verallgemeinernde Tendenz, die im explizit unklaren Nutzen des nicht näher bestimmten mei 美 steckt, sonst verloren ginge.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

Im Vergleich dazu ist das System der linken Bewegungen Taiwans – wie auch im Dokumentarfilm Wenn ich tausend Mal sterben könnte. Taiwans Linke, eine Aufzeichnung14 gesagt wird – schon früher, vor Ende der 60er Jahre, vom Weißen Terror nahezu ausgelöscht worden. [17] Man kann sagen, dass ab den 70er Jahren dann der Modernediskurs15 – also das sozialistische Denken, das die materiellen Bedingungen zwischen der Form der Kunst und die Formation der Gesellschaft engstens verbindet – auf organisatorischer Ebene enthauptet und unwiederbringlich in zwei Hälften zerteilt worden war. [18] Einer der wichtigsten Anhaltspunkte für dieses Drama ist der künstlerische Ausdruck Wu Yaozhongs. [19] Deshalb meine ich, dass der Weg, heute Wu Yaozhongs Bilder zu suchen, schon selbst eine Art des Ausdrucks von »Indien als Methode« ist. [20] Kapur sagt weiter: The characteristic feature of Indian modernism, as perhaps of many postcolonial modernisms, may be that it is manifestly social and historical. [21] But western modernism in its late phase is not the least interested in this diachronicity and opposes it in the name of a ›sublimity of the new‹.16 vi [22] Diese Betonung des »Neuen« führt Kapur am Beispiel von Clement Greeenbergs* (1909-1994) Diskurs des erhabenen Modernismus bis zu Jean-François Lyotards* (19241998) Postmodernediskurs an. [23] Die Kunst des Spätmodernismus betont die Absolutheit des Formelements. [24] Greenberg findet den ästhetischen Geist der Werke in deren bloßer Visualität und projiziert diesen auf die Fläche. [25] Lyotard hingegen betont die spirituelle Funktion der Materialität und der Prozessfragmente.17 [26] So lehnt er historische Repräsentation ab, denn diese geht zu schnell mit Lokalität eine simple Verbindung ein und wird so zu einem Symbol einer nationalen kulturellen Identität. [27] Die indischen Künstler haben laut Kapur vielleicht deshalb erst heute, in der sogenannten Ära der Postmoderne, das sogenannte wirklich Moderne erreicht. [28] »Die Fähigkeit besitzen mit dem Neuen in direkte Konfrontation zu gehen, statt die Verteidigung der Tradition zum Ziel zu haben; die Autonomie sowohl in der Form der kulturellen Atomisierung bewahren zu können, als auch mit der lokalen Gemeinschaft

14 Titel im Original: Ruguo wo nenggou si yiqian ci. Taiwan zuoyi jishi 如果我能夠死一千次. 台灣左翼紀事. 15 Auch an dieser Stelle nutzt Gong xiandaixing huayu 現代性話語 (siehe V.1 Fußnote 11). An dieser Stelle wird dieser Terminus, in Rücksicht auf den Kontext, als ›Modernediskurs‹ übersetzt. 16 Gongs Übersetzung Kapurs muss als sehr freie Übersetzung bezeichnet werden. Kritisch zu betrachten ist hier Gongs Übersetzung von »western modernism in its late phase« (Kapur, When was Modernism in Indian Art?, S. 298), das er als yijing fazhan dao jizhi de oumei xiandaizhuyi 已經發展到極致的 歐美現代主義 übersetzt, was ins Deutsche übertragen »den bis zum höchsten Punkt entwickelten euro-amerikanischen Modernismus« heißen müsste. Das von Kapur genutzte ›late phase‹ impliziert nicht zwangsläufig eine Aussage über den Entwicklungsstand, den Gong in seiner Übersetzung hinzufügt. Zwei Sätze weiter unten nutzt Gong dann jedoch wanqi xiandaizhuyi 晚期現代主義, was jenen »modernism in its late phase« bezeichnet. Weiter muss angemerkt werden, dass Gong Kapurs ›western‹ als ›euro-amerikanisch‹ übersetzt. Hier bliebe zu fragen, welche Implikationen in Kapurs ›western‹ vorhanden sind, und ob diese sich mit Gongs ›euro-amerikanisch‹ decken (siehe hierzu auch den Analyseteil V.3). (›Diachronicity‹ und ›sublimity of the new‹ stehen beide in Gongs Text in Klammern auf Englisch.) 17 Gong scheint hier Kapur falsch gelesen zu haben, die schreibt: »Lyotard in turn prefers epiphany to materiality and process […]« (Kapur, When was Modernism in Indian Art?, S. 298f). Gong paraphrasiert: 李歐塔強調的則是物質性與過程片斷具有的降神作用.

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oder dem verlorenen Kontinent des Exils eine romantische Verbindung eingehen.« 18vii [29] Das impliziert, dass Identifikation freier und offener geschehen kann. [30] Somit meint Kapur, dass ein schon reifer Modernismus in Indien die Akzeptanz der Enthumanisierung19 und Dezentralisierung20 des Bildes bedeutet. [31] Das bedeutet auch, durch eine kunsthistorische Reflexivität noch selbstbewusster zu werden. [32] Und das bedeutet, den Problemkomplex der Originalität des Schaffens und die Nervosität in Bezug auf das Beeinflusstwerden zu überwinden. [33] Wenn wir von der Perspektive der postkolonialen Situation der Dritten Welt ausgehend den oben beschriebenen Diskurs des »Modernismus« übernehmen, dann müssen wir vielleicht erneut das Moderne21 im »Modernismus« der Debatte um die moderne Lyrik und die Debatte um die Heimaterdeliteratur22 der 70er Jahre in Taiwan definieren. [34] Wenn man als einzige Quelle und einzigen Bezugspunkt des »Modernismus« den Modernismus des Westens sieht, so ist der »Modernismus« oder die »Moderne Schu-

18 Da sich Kapurs englischer Originaltext, auf den sich Gong laut Fußnotenaussage bezieht, sehr stark von Gongs Übersetzung (aber auch von der chinesischen Übersetzung im Geeta Kapur Reader, S.  43 [siehe Endnoten]), unterscheidet, setze ich an dieser Stelle eine Übersetzung meinerseits von Gongs Kapurzitat, das im Original folgendermaßen lautet: »I mean this in the sense of being able to confront the new without flying to the defence of tradition; of being able to cope with autonomy in the form of cultural atomization by invoking and inverting notions of romantic affiliation. That is to say, the mythology of an indigenous ›community‹ and the lost continent of an ›exile‹ – both alibis borrowed from the grander tradition of the romantic – are allowed to shade off into the current form of identity polemics.« (Kapur, When was Modernism in Indian Art?, S. 299) Gong schreibt auf Chinesisch: 能夠與嶄新之物對質, 而不流於對傳統的辯護; 既能以文化原 子化的形式保有自主性, 又能夠與在地社群或放逐者的迷失板塊進行浪漫的聯結. Es fehlt bei Gong die Betonung der Polemik, mit der der Mythologie der ›eingeborenen Gemeinschaft‹ begegnet werden kann. Diesen Teil könnte man höchstens im nachfolgenden Satz (»Identifikation [kann] freier und offener geschehen«) zum Ausdruck kommen sehen. 19 In Klammern steht im Original ›dehumanize‹. In Geeta Kapurs Text ist nicht näher beschrieben, was mit der Enthumanisierung des Bildes gemeint ist (»This already mature modernism means accepting the ›dehumanization‹ and decentering of the image.« Kapur, When was Modernism in Indian Art?, S. 299). Wahrscheinlich ist ein Bezug auf José Ortega y Gassets 1925 geschriebenen Text Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, welcher in der englischen Übersetzung den Titel The Dehumanization of Art trägt (das spanische Original heißt: La deshumanización del arte). (Siehe dazu auch im Analyseteil Kap. V.3.) 20 In Klammern steht im Original ›decentralize‹. Ebenso wie bei ›dehumanize‹ ist der englische Begriff in der Verbform angegeben und nicht wie der chinesische mit der Endung hua 化, die ins Deutsche als das Suffix ›-ierung‹ übersetzt wird. 21 An dieser Stelle steht xiandai. 22 In der Debatte um die moderne Lyrik (xiandai shi lunzhan 現代詩論戰) in den frühen 70er Jahren wurde das Nachahmen westlicher Stile und Formen und die Ferne zu gesellschaftlich relevanten Themen der modernen Lyriker der 50er und 60er Jahre kritisiert. Die Gegner der ›modernen Lyrik‹ propagierten einen realistischen Stil und den Bezug auf die unmittelbare Umgebung, wie er sich in der Heimaterdeliteratur (xiangtu wenxue 鄉土文學) findet. Die Debatte um die Heimaterdeliteratur (xiangtu wenxue lunzhan 鄉土文學論戰) fand von 1977-1979 statt und kreiste vor allem um die Frage der Identität als ›Taiwan‹ oder ›China‹. Vgl. Michelle Yeh, »On our Destitute Dinner Table: Modern Poetry Quartely in the 1950s«, in: David Der-wei Wang; Carlos Rojas (Hg.), Writing Taiwan. A new literary history, Durham 2007, S. 113-139, S. 113; Fenghuang Ying, »The Literary Development of Zhong Lihe and Postcolonial Discourse in Taiwan«, in: Wang; Rojas (Hg.), Writing Taiwan, S. 140-155, S. 148f.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

le«23 der beiden Debatten offenkundig nur das Festhalten an einer Verwestlichung und Anti-Tradition, die im gleichen Rhythmus wie die offizielle Ideologie der Kuomintang oder die Ideologie eines stark abhängigen Liberalismus verlaufen. [35] Aber ist nicht der Preis, den wir für eine solche Erzählung bezahlen, dass wir den »Modernismus Taiwans«, den wir in den Bereichen Literatur und Kunst diskutieren, schon im Vorfeld selbst enthaupten und ihn auf einen Platz verdrängen, auf dem er niemals reif werden kann, und der auch niemals ein Selbstbewusstsein gegenüber der Weltgeschichte erreichen kann? [36] Anders gesagt, wenn man von einer historisch geschlossenen diskursiven Perspektive den Ausdruck »Taiwans Modernismus« benutzt, würde der Diskutierende sagen: Taiwans Modernismus ist schon beendet. [37] Er fand sein Ende in einer Debatte um die Heimatbodenliteratur, die nicht qualifiziert ist, modern zu werden und die nicht in vollem Maße die Eigenschaften der Moderne besitzt. [38] Der Modernismus gehört zu Ji Xian 紀弦, Yu Guang-zhong 余光中, zur Gruppe der modernen Lyrik (xiandaipai shi she 現代派詩社), er gehört zum Magazin Theater (juchang 劇場), er gehört Fifth Moon und Eastern Painting Group,24 dem Fotorealismus25 oder den Vertretern der Ästhetik des abstrakten Formalismus. [39] Ein Beispiel dafür zeigt sich in Lu Cheng-huis 呂正惠 Aufsatz Modernismus in Taiwan aus kulturell-soziologischer Perspektive26 (veröffentlicht in Die Erfahrung der Literatur im Nachkriegstaiwan27). [40] Hierin stellt er den Modernismus, den Nationalismus und den Realismus28 diametral gegenüber und meint: [41] »Verwestlichung und Anti-Tradition des Modernismus Taiwans haben keine ›Wurzel‹. [42] Nationalismus und Realismus können unmöglich Grundlage sein.«viii [43] Wenn wir uns nun den Weg des Modernismus in Indien anschauen, den Kapur anführt, diesen Weg des Modernismus der Dritten Welt, dann ist das ein Weg, der klar durch den Kommunismus, die linken Intellektuellen und den Sozialismus aufgebaut wurde. [44] Kann man Wu Yaozhongs Bilder – obgleich Taiwans Kommunismus und Sozialismus in den 30ern und in den 50er/60er Jahren zwei Phasen der Auslöschung erfahren haben – nicht noch mal außer aus der Perspektive des »Realismus«29 aus der Perspektive eines indischen »Modernismus« 23 Die Moderne Schule (xiandaipai 現代派) wurde von dem Dichter Ji Xian 1956 gegründet (vgl. Yeh, On our Destitute Dinner Table, S. 114). Ebenso wie die Debatte um die moderne Lyrik ist an dieser Stelle zu überlegen, ob xiandai mit ›modernistisch‹ übersetzt werden müsste – wie dies häufig zu finden ist – um den Bezug auf den künstlerischen Stil zu betonen, den die Debatte um die moderne Lyrik zu Beginn der 1970er Jahre so stark kritisierte. Dann jedoch geschähe genau die rein stilistische Lesweise, die Gong im Text in der Folge so stark kritisiert. Siehe hierzu auch VI.3. 24 Die Künstlergruppen Fifth Moon und Eastern Painting Association werden hier in einem Begriff als wuyuedongfang 五月東方 zusammengefasst, was darauf verweist, dass sie in der heutigen Kunstszene Taiwans als zusammengehörend verstanden werden, dass ihr Einfluss auf die Entwicklung der Kunst Taiwans nur zusammengefasst verstanden werden kann. Siehe zur heutigen Bedeutung von Fifth Moon und Eastern Painting Association auch Kap. VI.3. 25 Der ›Realismus‹ der künstlerischen Strömung des Fotorealismus wird mit xieshi (dem ›Schreiben der Realität‹) übertragen. 26 Titel im Original: Xiandaizhuyi zai taiwan: cong wenyi shehuixue de jiaodu lai kaocha 現代主義在台灣: 從 文藝社會學的角度來考察. 27 Titel im Original: Zhanhou taiwan wenxue jingyan 戰後台灣文學經驗. 28 Hier und in der sich hierauf beziehenden nächsten Erwähnung steht xianshizhuyi (das ›Zeigen der Realität‹). 29 Auch hier steht xianshizhuyi (das ›Zeigen der Realität‹).

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anschauen, und somit erneut den Kritikraum seines modernen ästhetischen Bewusstseins interpretieren? [45] Chen Fangming 陳芳明 schlägt im Vorwort Modernes und postmodernes Taiwan30 von Die koloniale Moderne: Moderne und Taiwans Geschichtsbild31 vor, die Begriffe, die den Anschein haben, als hätten sie ihren Ursprung im Westen, erneut zu untersuchen und zu diskutieren. [46] Er sagt: [47] Taiwan, das vor dem Krieg in das Moderne verwickelt war und nach dem Krieg in die Postmoderne, hat verschiedene Formen neuer Literatur hervorgebracht. [48] Einige dieser literarischen Werke werden unter dem Label Realismus32 geführt, andere werden als Modernismus bezeichnet, und in letzter Zeit tauchte auch der Begriff Postmoderne auf. [49] Diese unterschiedlichen literarischen Ausdrucksformen kann man nicht einfach mit dem westlichen Realismus, Modernismus oder Postmodernismus gleichsetzen. [50] Denn obwohl Taiwans Autoren diese von außen kommenden Gedankenströmungen entlehnt haben, haben sich diese im Schaffensprozess mit den eigenen spezifischen historischen Erfahrungen vermischt. [51] Die modernistischen Werke, die in Taiwan entstanden sind, kann man nicht direkt als Kopie oder Nachahmung des westlichen Modernismus bezeichnen. [52] Stattdessen sollte man seine Aufmerksamkeit auf das Aufkommen einer Tendenz zur Lokalisierung33 des Modernismus richten. [53] Diese Form des lokalisierten Modernismus ist absolut taiwanisch. […] [54] Taiwans Modernismus ist ein Produkt, das nach dem Kontakt mit der Moderne entstanden ist.ix [55] Chen Fangming, dessen Verständnis des »Modernismus« auf anderem Wege doch zur Übereinstimmung mit Kapurs gelangt, bettet den Begriff des »Modernismus« in die Struktur der Weltgeschichte ein und versucht, ihn erneut zu formen. [56] Er weist jedoch auch deutlich darauf hin, dass sich die Moderne absolut nicht aus Taiwans innerer Geschichte heraus entwickelt hat, sondern dass sie das Ergebnis des japanischen Kolonialsystem ist, das die Moderne mit Zwang in die taiwanische Gesellschaft implementierte. [57] Er unterscheidet grundlegend zwischen der Moderne, wie sie Taiwans Intellektuelle verstehen und der, wie die japanischen Kolonisatoren sie verstehen. [58] Man kann auch sagen: Während erstere darunter eine »Moderne« verstehen, die eine starke den Geist befreiende Implikation hat und sich im Modernismus verwirklicht und seine Früchte trägt, verstehen die japanischen Kolonisatoren die »Moderne« als Mit30 Titel im Original: Modeng yu houmodeng taiwan 摩登與後摩登台灣. Anmerkung: modeng 摩登 ist die phonetische Übersetzung von ›modern‹. Als der Begriff ›modern‹ nach Ostasien kam, war er in Ostasien noch leer von Bedeutung und wurde daher phonetisch übersetzt. Chen Fangming nutzt modeng und xiandai 現代 synonym, ebenso houxiandai 後現代 und houmodeng 後摩登 für ›postmodern‹. Trotzdem muss modeng im Vergleich zu xiandai eher als ›zeitgemäß, modisch‹ verstanden werden, als eine Haltung, einen Lebensstil ausdrückend, der vor allem die städtische Kultur der 20er und 30er Jahre in Taiwan bezeichnet, während xiandai mehr das Konzept und die Epoche der Moderne und der Aufklärung umfasst. 31 Der englische Titel des (komplett auf chinesisch geschriebenen) Buches lautet Colonial Modernity. Historical and Literary Perspectives on Taiwan. Aufgrund der starken Abweichung vom chinesischen Titel Zhimindi modeng: xiandaixing yu taiwanshiguan 殖民地摩登: 現代性與台灣史觀, steht an dieser Stelle meine Übersetzung des chinesischen Titels. 32 An dieser Stelle – wie auch in der nächsten Erwähnung durch Chen Fangming – steht für Realismus xieshizhuyi (das ›Schreiben der Realität‹). 33 Cheng Fangming nutzt an dieser Stelle zaidihua 在地化, das wie bentuhua mit ›Lokalisierung‹ übersetzt wird. Der Begriff zaidihua wird vor allem als Gegenentwurf zum Globalen (quanqiu 全球) genutzt und wird im Begriff quanqiuzaidihua 全球在地化, der ›Glokalisierung‹, verwendet.

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tel, um die Ressourcen auf der Insel zu erschließen in der Absicht, ihren Kapitalismus südwärts zu expandieren. [59] Das Ergebnis ist ein »Modernisierungs«diskurs, der auf die europäisch-amerikanische Struktur der Ersten Welt und die Theorie der kulturellen Überlegenheit verweist. [60] Im Gegensatz dazu hat die Moderne der Taiwaner einen starken kritischen Geist.34 [61] Wollen wir also den Modernismus der Kunst Taiwans noch immer auf eine formalistische Ästhetik Greenbergʼscher Art begrenzen und ihn als eine Art Stilfrage betrachten? [62] Wäre so unser Denken des »Modernismus« nicht direkt begrenzt auf die historische Erfahrung und den ästhetischen Rahmen der modernen Kunst Euro-Amerikas? [63] Könnten wir nicht – wie die indischen Intellektuellen im Widerstand gegen den Westen – ein genealogisches Denken des »Modernismus« aufwerfen, das zu uns selbst gehört? [64] Wenn wir deshalb der Frage »Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf?« nachgehen, dann ist das nichts anderes als die Forderung oben Erwähntes zurückzuverfolgen in Bezug auf die historische Genealogie des kritischen Geistes der frühen Moderne35, des Kapitalismus, des Kolonialismus und des Imperialismus. [65] Wir können ihn nicht einfach mit der allgemeinen Art gleichsetzen, wie in Taiwans Literatur- und Kunstgeschichte der »Modernismus« definiert wird. [66] Wenn wir – eine sozialistische Haltung einnehmend – Wu Yaozhongs Malerei, seine kritische Fortführung des klassischen Realismus36 Li Mei-Shus von einem solchen veränderten Standpunkt aus betrachtend anschauen, so können wir – obwohl dieser Schritt bewusst eine Entfernung von den Regeln des Kunstmarktes bedeutet – doch ein Denken des Ablaufs der Organisation von Galerien einbringen, das ein Bewusstsein für eine lokale Kunstgeschichte eröffnen kann. [67] Gleichzeitig können wir seine Bilder – durch das Drucken in großem Umfang auf linksorientierten Buchcovern und Zeitschriften – als Geschenk an die sozialistisch orientierten Literaten und Aktivisten sehen. [68] Kann man nicht sagen, dass diese Art kritischer Haltung gegenüber den Resten der kolonialen Kultur, dem kapitalistischen Markt, der Ästhetik des Formalismus (abstrakte Strömungen), außerdem der Tausch des Rahmens der Leinwand gegen den visuellen Träger des Kulturproduktes Publikation, eine wichtige Praxis des Modernismus der Kunst Taiwans ist? [69] Vor diesem Hintergrund meine ich, dass die unermüdliche Arbeit der Bilder-Such-Truppe, gesehen als der Kunstkritik zugehörige Aktivität, am besten nicht zu einer Diskussion um Stil und Inhalt werden sollte. [70] Sollte derselbe desaströse Weg der Debatte der 60er und 70er Jahre beschritten werden, und so die binäre Trennung »Realismus37/Modernismus« der Debatte um die Heimaterdeliteratur erneut in der Bildkritik Wu Yaozhongs wiederholt werden, so wird der Teil Wu Yaozhongs künst34 In diesem Absatz könnte xiandaixing 現代性 auch als ›das Moderne‹/›die Modernität‹ übersetzt werden. Diese Uneindeutigkeit zeigt, dass ›Moderne‹ immer sowohl die Idee der aufgeklärten Moderne bezeichnet, wie auch im kolonialen Kontext eher eine wirtschaftlich verstandene Modernität, die eng an der Idee der Modernisierung angelehnt ist, bezeichnet. Die Moderne beinhaltet dieser Ausführung Gongs nach (in Anlehnung an Chen Fangming) also immer ›das Moderne‹/›die Modernität‹ und ist somit von von einer eher zeitlich verstandenen Moderne, wie es durch xiandai ausgedrückt wird, zu unterscheiden. 35 Hier verwendet Gong xiandai 現代, nicht xiandaixing 現代性, und bezeichnet damit einen klar einordenbaren Zeitabschnitt. 36 Gong nutzt hier xieshizhuyi, das ›Schreiben der Realität‹. 37 Hier steht xianshizhuyi, das ›Zeigen der Realität‹.

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lerischer Praxis, der am meisten Möglichkeiten bietet, die »Moderne« zu diskutieren, verlorengehen. [71] Diese so wertvollen Teile berühren das hochkritische Bewusstsein bezüglich der praktischen und historischen Entwicklung des Kolonialen und des Kapitalismus, und nicht nur die Frage nach dem Ausdruck des Hauptthemas der Malerei. 2. Realismus: Schreiben oder Zeigen der Realität?38 Eine Neubewertung der Situation des kunstkritischen Denkens die 70er Jahre betreffend [1] Im Folgenden möchte ich einige Punkte in der Entwicklung Wu Yaozhongs Malerei nutzen, um erneut zu überlegen, was sich in der Begegnung mit Wu Yaozhongs Werken über die Situation der Kunstkritik die 70er Jahre betreffend zeigt. [2] Dabei werde ich Foucaults, in den beginnenden 70er Jahren entstandene Diskussion zur Modernität des Werkes des Malers Manet betrachten, sowie die Schriften Hsieh Lifas, Chiang Hsuns 蔣 勳, Chen Chuan-xings und Hsiao Chong-Rays, die dieses Thema berühren. [3] Auf dieser Grundlage werde ich erneut die Modernität der Malerei Wu Yaozhongs diskutieren. [4] Fangyuan (芳苑) (Abb. 1), das Wu Yaozhong 1960 malte, weist auf Ebene der Bildkomposition eine extrem starke Ähnlichkeit zu Manets 1879 entstandenem Werk Dans la serre* auf. [5] Als ich dies das erste Mal sah, war ich äußerst überrascht. [6] Der beengte Bildraum wird hauptsächlich von der dunkelblauen Bank strukturiert, die das Pflanzengebiet hinter der Bank abtrennt, das keine Tiefenschärfe hat und einem Wandteppich gleicht. [7] Betrachtet man den gelben Sonnenschirm in der Hand des Mädchens und den Arm, der den Schirm hält, so dient die Bank auf jeden Fall dazu, den beengten Raum zu vermessen. [8] Die Art wie der Rock und dessen Falten auf der Bank aufgefaltet sind, betont die kurze Perspektive, die die Sitzfläche der Bank kreiert. [9] Sogar der Blick der Personen verweist auf die Bildfläche und verfestigt die Wirkung eines flachen Bildraumes.

38 Eine mögliche Übersetzung wäre auch »Naturalismus oder Realismus?« oder »Realismus als abbildender Naturalismus oder als kritischer Realismus?«, wie die Begriffe xieshizhuyi und xianshizhuyi von Chen Ruihua verstanden werden (s.u. im Text). Da Gong jedoch genau dieses Verständnis der Begriffe stark kritisiert und als die historische Entwicklung und die implizite Übersetzungsgeschichte missachtend zeigt, wird hier die umständliche Übersetzung ›Schreiben/Zeigen der Realität‹ gewählt. Obgleich im Text die Betonung der Unterscheidung der Begriffe xieshizhuyi (Schreiben der Realität) und xianshizhuyi (Zeigen der Realität) weniger auf dem Unterschied ›Schreiben‹ oder ›Zeigen von Realität (shi)‹ liegt, sondern es darum geht, ob der Begriff der Kunstgeschichte (xieshizhuyi) oder der Literaturgeschichte (xianshizhuyi) genutzt wird, oder ob darunter ein abbildender Realismus/Naturalismus oder ein politisch-gesellschaftlicher kritischer Realismus bezeichnet wird, so liegt doch in dem Teil ›Schreiben‹ oder ›Zeigen‹ etwas, auf das Gong durch das Herausstellung der Etymologie der Begriffe eingeht und was deshalb in der deutschen Übersetzung eine etwas größere Betonung findet, als im chinesischen Text. Siehe dazu Analyse V.3.8 (Unterkapitel zu Realismus). Verwiesen werden soll also an dieser Stelle darauf, dass Gong eben jene Einteilung, die er in der aktuellen Kunstszene Taiwans (erneut) geschehen sieht, kritisiert, in der der xieshizhuyi (Schreiben der Realität)-Realismus als abbildend und nicht-kritisch dargestellt wird, im Gegensatz zum als gesellschaftlich-kritisch dargestellten xianshizhuyi (Zeigen der Realität)-Realismus.

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Abb. 1 (links): Wu Yaozhong, Fangyuan, 1960, Öl auf Leinwand, 150x120 cm Abb. 2 (rechts): Wu Yaozhong, Gelber Pullover, 1960, Öl auf Leinwand, 117x90 cm

Quelle und Courtesy: Wu Mingzhu

Quelle und Courtesy: Li Xianwen

[10] Aber der Unterschied zwischen Manet und Wu Yaozhong ist, dass bei Manet das Arrangement des Lichts und die geringe Tiefenschärfe den bühnenartigen Effekt einer großen Nähe erzielen. [11] Die Art wie Wu Yaozhong hingegen das Licht inszeniert, zeigt eine verhältnismäßig große Tiefenschärfe und einen tiefen Lichteinfall. [12] Die hellrosa Blüten hinter der Bank wiederholen das Blumenmuster auf der Bluse der Frau. [13] Das Licht, das auf die Pflanzen um sie herum fällt, zeigt eine eher große Tiefe. [14] Der Raum und der Schatten unterhalb ihres Knies weisen ebenfalls eine größere perspektivische Qualität auf. [15] Der Betrachter ist hier nicht so sehr hinein- und herangedrängt wie in Dans la serre. [16] Dieser Vergleich lässt mich an die Stelle in Michel Foucaults* La peinture de Manet* denken, wo Foucault Manets Modernität diskutiert.x [17] Foucaults Diskussion der »Modernität« anhand von Manets Bildern weist in drei Richtungen: [18] 1. Durch die Art, wie Manet die materiellen Eigenschaften der Leinwand und der Ölmalerei behandelt – das Volumen, die Höhe, die Breite – und durch die geschlossene Raumstruktur der Bildfläche, verweist er wieder auf die Zweidimensionalität der Ölmalerei an sich. [19] Dies ähnelt Piet Mondrians* Verbindung der abstrakten Linien und der Textur der Bildoberfläche, die sich gegenseitig aufeinander beziehen. [20] 2. Auf Ebene des Arrangements der Beleuchtung nutzt Manet kein dargestelltes Licht innerhalb des Bildraumes mehr. [21] Er nutzt stattdessen ein von außerhalb kommendes, wirkliches Licht. [22] Dieses wirkliche Licht übertrifft noch das Betonen des natürlichen Lichtes der Impressionisten. [23] Es umfasst künstliche Lichtstrahlen im Innenraum und den Blick, den der Betrachter wirft. [24] Außerdem verbindet es vielfältige Systeme von Lichtquellen. [25] 3. Manet nutzt eine widersprüchliche und verwirrende Position von Betrachter und Bild zueinander und schafft eine physikalisch unmögliche und unbehagliche Si-

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tuation für den Betrachter. [26] Ähnlich wie im Arrangement von Olympia* lässt er den Betrachter dem direkten Augenkontakt der Frau unbehaglich gegenüberstehen. [27] Der Betrachter wird so einer, die bürgerliche Moral betreffend, ambivalenten und unangebrachten Situation ausgesetzt. [28] Im Bildaufbau des 1960 entstandenen Fangyuan haben wir nicht das Gefühl, dass Wu Yaozhong die Materialität der Leinwand und der Ölmalerei herausfordern möchte oder dass er beabsichtigt, das ästhetische Empfinden der Mittelklasse zu provozieren. [29] Im Gegenteil, der Aufbau des Bildraumes, um das Subjekt herum gruppiert, ähnelt stark dem seines Lehrers Li Mei-Shu in dessen zur selben Zeit entstandenen Bildern Stille Gedanken (chensi 沉思) (1959) (Abb. 3) und Kleine Pause 2 (xiao qi er 小憩二) (1959) (Abb.4). [30] Der Unterschied findet sich darin, dass in Fangyuan der Hintergrund wohl ein Garten ist. [31] Das ähnelt dem Raumaufbau nach eher der großen Tiefenschärfe in Li Mei-Shus Arbeit Pausierendes Mädchen (xiao qi zhi nü 小憩之女) (Abb.5) von 1935. [32] Jedoch ist der Bildausschnitt näher herangezogen als in Pausierendes Mädchen, man sieht den Körper ab der Wade nicht mehr, das Volumen des Körpers wird größer, der Hintergrund ist verschwommener dargestellt. [33] So kann man sagen, dass das in der gleichen Zeit entstandene Gelber Pullover (huang yi 黃衣) (Abb. 2) auf Ebene des Bildaufbaus sogar noch mehr Ähnlichkeit zu Stille Gedanken und Kleine Pause 2 aufweist. [34] Der Raum unterhalb des Knies ist bewusst abgeschnitten, so wird eine Nahaufnahme des Innenraumes geschaffen, die vergleichsweise nah an der Protagonistin des Bildes ist. Abb. 3 (links): Li Mei-Shu, Stille Gedanken, 1959, Öl auf Leinwand, 91x72.5 cm Abb. 4 (Mitte): Li Mei-Shu, Kleine Pause 2, 1959, Öl auf Leinwand, 91x72.5 cm Abb. 5 (rechts): Li Mei-Shu, Pausierendes Mädchen, 1935, Öl auf Leinwand, 162x130 cm

Quelle und Courtesy, Abb. 3-5: Li Mei-Shu Memorial Gallery, CC BY-SA 4.0

[35] Ein weiteres Bild, wahrscheinlich aus der gleichen Phase zu Beginn der 60er Jahre, von dem derzeit nur ein Archivbild existiert, auf dem das Bild zu sehen ist, ist Bilderbetrachtendes Mädchen (kan hua shaonü 看畫少女) (hier vom Autor zunächst so benannt) (Abb.6). [36] Es zeigt auf Ebene des Aufbaus auch die Wade bis zur Fußspitze der Protagonistin. [37] Aber interessant ist, dass das auf dem Sofa sitzende Mädchen ein Bild in der Hand hält, das sie gerade eingehend betrachtet. [38] Zu ihren Füßen, neben ihrem weißen, in Falten geworfenen Rock, liegen auf dem Boden zwei weitere Bilder. [39] Das Bild, das sie in der Hand hält, lässt sich in der Vergrößerung und Entzerrung als das 1878 von dem Impressionisten Pierre-Auguste Renoir* gemalte Werk Madame Charpen-

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tier und ihre Kinder 39, bestimmen. [40] Das vordere der beiden auf dem Boden liegenden Bilder, das eher klar erkennbar ist, lässt sich als Renoirs 1881 geschaffenes Werk Zwei Schwestern40 ausmachen. [41] Das ist eine ähnliche Herangehensweise, wie wir sie auch in den Arbeiten von Wu Yaozhongs Lehrer Li Mei-Shu finden: In Pausierendes Mädchen und Stille Gedanken sind Arbeiten Van Goghs im Bild selbst zu sehen, in Kleine Pause 2 zitiert er außerdem eine chinesische Malerei. Abb. 6: Wu Yaozhong, Bilderbetrachtendes Mädchen, ca. 1960 (verschollen, Archivbild)

Quelle und Courtesy: Eslite Gallery

[42] Wie Wu Yaozhong zu Beginn der 60er Jahre direkt-indirekt Manet und Renoir nutzt, lässt uns spüren, dass sich dies scheinbar von der Art und Weise unterscheidet, wie Manet in dem Portrait Zolas die japanische Ukiyo-e im Bild an der Wand auftauchen lässt. [43] Zunächst besteht zwischen dem in den 1960ern arbeitenden Wu Yaozhong und dem in den 1880ern arbeitenden Manet ein zeitlicher oder kulturell-zeitlicher Unterschied von fast 80 Jahren. [44] In Anbetracht des Zeitabschnitts in dem die Moderne und der Modernismus in der Malereigeschichte geschah, so ist dies das, was Chen Fangming als die »verspätete Moderne« 41 bezeichnet. [45] Japan war sich dieser Krise gewahr. [46] Nachdem Japan, angefangen mit der Meiji-Restauration der 1860er Jahre, dem 39 In Klammern auf Englisch Madame Charpentier and Her Children Paul (at her knee) and Georgette. 40 In Klammern auf Englisch On the terrace. 41 In Klammern steht hier hinter chidao de xiandaixing 遲到的現代性 »belated modernity«. Chen Fangmings Bezeichnung der ›verspäteten Moderne‹ unterscheidet sich von der Chen Chuan-xings, der yanchi xiandaixing延遲現代性 schreibt (vgl. Analyseteil V.3).

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Sieg über das Russische Kaiserreich 1905 und durch die Theorie des »Abwerfens des Asiatischen und des Eintauchens in das Europäische« 42, das aufsteigende moderne koloniale Imperium des Ostens geworden war, überwand es diese zeitliche Verschiebung und die darin implizierte visuelle Verschiebung43. [47] Japan schaffte es, gemeinsam mit dem euro-amerikanischen Referenzrahmen voranzuschreiten. [48] Ohne Unterlass verfolgte Japan das Abstreifen der »diachronen Moderne« (lishi de xiandaixing 歷時的 現代性). [49] Allmählich konnte es so teilhaben an der »synchronen Moderne« (gongshi de xiandaixing 共時的現代性), die die Erste Welt zum Referenzrahmen hat. [50] Und egal ob Wu Yaozhong oder sein Lehrer Li Mei-Shu – beide sind bis zu einem gewissen Grad davon beeinflusst worden, dass Japan Taiwan zum Teil seiner Strömung der Modernisierungsbewegung machte. [51] Demnach ist es so wie Hsieh Lifa in Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung44 beschreibt und wie Lin Liyuns Forschung zeigt: Von Kuroda Seiki bis Okada Saburōsuke war es so, dass der Impressionismus zuerst zwanzig Jahre später als in Frankreich in Japan auf fruchtbaren Boden fiel und Wurzeln schlug. [52] Nachdem er in Japan eine Lokalisierung (bentuhua) erfahren hatte, kann man folgern, dass »Li Mei-Shu die malerische Technik von seinem Lehrer Okada übernahm und seine Quelle nicht bei den französischen Impressionisten liegt. [53] Vielmehr ist es eine Technik des Pleinair-Realismus45, die eine Verbindung aus französischem Impressionismus und japanischer Ukiyo-e darstellt.«xi [54] Anders gesagt sind die Porträts, die Wu Yaozhong – der in Taiwan selbst aufwuchs und sozialisiert wurde – in den 60er Jahren malte, gewissermaßen aus der »verspäteten Moderne« heraus entstandene, im Bildinnern »gebrochene Manets«, »gebrochene Renoirs«. [55] Diese »gebrochene Moderne« 46 kommt, wie seine Arbeiten zeigen, außer vom Einfluss seines Lehrers, vom Lesen von importierten oder übersetzten Katalogen. [56] Die weiterführende Frage ist: Wie können wir diese Art aus einer »verspäteten Moderne« entstandene »gebrochene Moderne« bewerten? [57] Wie sollen wir eine Moder42 Gong schreibt hier tuoya ru’ou 脫亞入歐 und verweist damit auf das im Japanischen als datsu-a nyu-o bezeichnete Konzept, das auf der in der Meiji-Zeit von Fukuzawa Yukichi veröffentlichten Text ›datsu-a ron 脫亞論‹ (oft als ›Goodbye, Asia‹ übersetzt) beruht. 43 In seinem Text Die Schlucht der Parallaxe. Das Nicht-Erreichen der Zeitschrift »Theater« nutzt Gong in Anlehnung an Hal Foster wie im hier übersetzten Text ebenfalls den Terminus shicha 視差 und schreibt in Klammern ›parallax‹ (Gong, 1965 shicha zhi he: ›juchang‹ zazhi zhi wo lai bu ji 一九六五視差之壑: ›劇 場‹ 雜誌之我來不及 [Die Schlucht der Parallaxe. Das Nicht-Erreichen der Zeitschrift »Theater« 1965], in: ACT Nr. 41, 1/2010, S. 6-16, S. 6). 44 Titel im Original: Riju shidai taiwan meishu yundongshi 日據時代台灣美術運動史. 45 Hier steht xieshi, das ›Schreiben der Realität‹. 46 In seinem Text Die Schlucht der Parallaxe schreibt Gong ebenfalls zheshe de xiandaixing 折射的現代性 und bezieht sich hier auf Yūko Kikuchis Einführung zum von selbiger herausgegebenen Sammelband Refracted Modernity. Visual Culture and Identity in Colonial Taiwan, in dem Taiwans Moderne als ›refracted modernity‹ bezeichnet wird (Gong, 1965 shicha zhi he, S. 6). Kikuchi beschreibt die Brechung (›refraction‹) als angelehnt an den physikalischen Begriff, wo »the refraction of light describes a change of direction, an altered course, taken by a beam of light.« Die ›refracted modernity‹ beschreibt den »transfer and appropriation of modernity«, wobei der Hauptfokus jedoch nicht auf dem Einfluss liegt, da eine solche Fokusierung »would force the discourse into terms of originality and imitation«. Vielmehr bezieht sich ›refraction‹ hauptsächlich auf den »transfer of ideas from the original source, but importantly it also encapsulates the actual process by which these ideas are ›bent‹ or modified during the course of transfer.« (Yūko Kikuchi, »Introduction«, in: Dies., Refracted Modernity. Visual Culture and Identity in Colonial Taiwan. Honolulu, 2007. S. 1-17, S. 9f.)

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ne, die aus Katalogen und der Lehrer-Schüler-Beziehung errungen ist, bewerten? [58] Wie sollen wir mit einem Modernismus, der sich aus der Praxis gebildet hat, umgehen? [59] Hsieh Lifa hat schon 1991 in seinem Aufsatz Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe der ›Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung‹ – Eine von der Kunst ausgehende Betrachtung der politischen Geschichtsschreibung der 70er Jahre47 Selbstreflexion vorgenommen. [60] Er betont er habe »alle möglichen ›Geschichten‹ des ›Salons‹ 48 beschrieben, aber die ›Geschichten‹ im Atelier, die Geschichten, wie die Künstler in ihren Ateliers arbeiten, absolut fallen gelassen. [61] Das Ergebnis ist, dass die Vorstellungen und Konzepte der Künstler und ihre künstlerischen Errungenschaften sehr wenig festgehalten sind.«xii [62] Wenn Hsieh Lifa meint, er habe auf Ebene der Methodik und des Nachdenkens über Kunstgeschichtskritik zu sehr von der Oberschicht des Salons und der Wettbewerbe und von einer nationalistischen, Japan bekämpfenden Haltung aus gesprochen, und wir könnten die Teile ergänzen, die er nicht genügend beleuchtet habe, so ist die Teilnahme und die Preise, die Wu Yaozhong in der Provinzausstellung und der Taiyang-Ausstellung49 in den 1960ern gewonnen hat, nur eine Art der Rekonstruktion seiner künstlerischen Aktivitäten in Form der »imperialen Ausstellung«. [63] Was wir hingegen Wert beimessen sollten, sind die Freundschaften in den Malergruppen, die Lehrer-Schüler-Beziehung, die künstlerischen Ideale und die Inspirationsquellen, die unter der Ebene der Preise liegen. [64] An dieser Stelle nun können wir einige – verglichen mit der Atmosphäre des Weißen Terrors der 70er Jahre und den später erlittenen Widrigkeiten des politischen Gefängnisaufenthaltes – wichtige, das ganze Leben beeinflussende Ereignisse in Wu Yaozhongs Chronologie nicht unbeachtet lassen: [65] Zunächst die gute Freundschaft, die er im Jahr 1950 an der Chenggong-Mittelschule mit Chen Yingzhen 陳映真 schloss. [66] Des Weiteren 1961, als er im Fachbereich Kunst der National Taiwan Normal University aufgenommen wurde und er heimlich mit Chen Yingzhen Schriften, wie die der Linken Chinas der 30er Jahre zur Kulturbewegung und die der revolutionären Kunst- und Literaturbewegung des russischen Kaiserreiches, eingehend studierte. [67] Die beiden waren nicht nur gute Freunde, sie wurden auch Revolutionskameraden. [68] Das dritte wichtige Ereignis ist die Fertigstellung des Werkes Portrait Chen Yingzhens (Chen Yingzhen huaxiang 陳映真畫像) im Jahre 1962, das später das Cover von Chen Yingzhens Roman Lastwagen durch die Nacht (yexing huoche 夜行 貨車) wurde. [69] Das Vierte fand dann in den Jahren 1967 und 68 statt: Seine Arbeiten Unter dem Dachvorsprung (wuyan xia 屋簷下), Akutagawa Ryūnosuke (jiechuan longzhijie 芥川龍之介) und Camus (kamiu 卡謬) wurden unabhängig voneinander in der zweiten,

47 Titel im Original: Qishi niandai zhengzhi shiguan de yishu jianyan – ›riju shidai taiwan meishu yundongshi‹ gaibanxu 七十年代政治史觀的藝術檢驗 – ›日據時代台灣美術運動史‹ 改版序. 48 Der hier genutzte Begriff shalong 沙龍 ist eine phonetische Übersetzung des französischen ›salons‹ und bezieht sich auf die so bezeichnete Ausstellungsform, die über Japan und China nach Taiwan übernommen wurde. Hsieh Lifa verweist damit darauf, dass eine starke Orientierung am fertigen Werk und dessen offizieller Bewertung in Form von durch eine Jury vergebenen Preisen stattfand und nicht am künstlerischen Schaffen. 49 Die Provinzausstellung und die Taiyang-Ausstellung waren zwei der wichtigsten offiziellen Ausstellungen Taiwans. Zu diesen Ausstellungsformaten siehe Kap. II.

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fünften und sechsten Ausgabe der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Literatur (wenxue jikan 文學季刊) veröffentlicht. [70] Ich möchte nun zurückkommen auf die Frage, die ich ganz zu Beginn dieses Aufsatzes gestellt habe: [71] »Kann man Kunstkritik als eine Art geistige Bewegung verstehen? [72] Oder als eine Form des Schaffens auf geistiger Ebene?« [73] »Kunstkritik« hat hier zwei Bedeutungsebenen: [74] 1. Auf Ebene der normalen Erkenntnistheorie, angelehnt an das wissenschaftlich organisierte Schreiben von Kunstkritik – also über Kunstwerke, Künstler und verwandte gesellschaftliche Themen. [75] Die Bedeutung der zweiten Ebene ist der eigentlichen Bedeutung meiner Auflistung der entscheidenden Ereignisse in Wu Yaozhongs Leben in den 60er Jahren näher. [76] Das heißt dann, dass künstlerisches Schaffen an sich schon Kritik 50 ist. [77] Oder aber, dass das künstlerische Schaffen und die kritische Bewegung Hand in Hand gehen und somit beide Seiten auf Ebene der geistigen Bewegung eine gegenseitige Resonanz erzeugen. [78] Bezüglich des Letzteren war die von Lu Cheng-hui als »zukunftsweisender Vorreiter Taiwans realistischer51 Literatur« gepriesene Zeitschrift Literatur (1966-1970) durch das literarische und bildnerische Schaffen selbst Literatur- und Kunstkritik. [79] Gleichzeitig war sie auch eine Plattform und Maschine52 auf der und durch die Kultur, Geschichte und Gesellschaft diskutiert werden konnten. [80] Wir müssen bestätigen, dass Wu Yaozhongs Arbeiten Ende der 60er Jahre auf Ebene des Inhalts und der Form schon fest verschmolzen waren mit der Plattform der intellektuellen Kulturzeitschrift, dieser kollektiven Äußerungsmaschine.53 [81] Die Arbeiten Unter dem Dachvorsprung, Akutagawa Ryūnosuke, Camus und die später erschienenen, zahlreichen Buch-, Zeitschriften- und Buchseriencover, berühren fast alle die Diskussion um Kultur, Gesellschaft, Geschichte, Politik und Kunst. Li Zhiming 李志銘 beschreibt in seinem Buch Taiwan layouten – Die Entstehung der modernen Buchgestaltung in Taiwanxiii, dass Wu Yaozhong eine Vielzahl seiner Arbeiten auf Buch- und Zeitschriftencovern veröffentlichte, da das auf ideologischer Ebene den kritischen Gedanken zur Grundlage hat, sich dem »System des Privateigentums« zu widersetzen und die »Popularisierung der Malerei« zu betonen. [82] Deshalb scheint es nicht übertrieben, dies als »eine Art geistige Bewegung« oder »eine Form des Schaffens auf geistiger Ebene« zu bezeichnen. [83] Wenn man unter diesem Anhaltspunkt anschaut, wie Chen Ruihua im Vorwort des Buches Bilder suchen – der realistische Maler Wu Yaozhong die Etappen des künstlerischen Schaffens Wu Yaozhongs beschrieben hat, so scheint Chens Aufteilung hauptsächlich einer stilistischen und inhaltlichen Analyse zu folgen. [84] Die tatsächliche 50 Gong nutzt hier pinglun 評論, was Kritik im Sinne der Kunstkritik, des kritischen Schreibens bezeichnet. 51 Hier steht xianshizhuyi (das ›Zeigen der Realität‹). 52 Mit ›Maschine‹ verweist Gong auf Deleuze/Guattaris Maschinentheorie, zu der Gong vor allem im Jahr 2012 ausführlich forschte, lehrte und in Artikeln und Vorträgen referierte. 53 Den Ausdruck ›machine of enunciation‹ von Deleuze/Guattari nutzt Gong in einer Tanztheaterkritik von 2012 und übersetzt dies als xuansu jiqi 宣訴機器, was auch hier im Text verwendet wird (vgl. Gong Jow-jiun, Shenti zhengzhi de xuansu jiqi: you ren zai musilin lüfa de touying xia tiaowu ›Can we talk about this?‹ 身體政治的宣訴機器: 有人在穆斯林律法的投影下跳舞 ›Can We Talk About This?‹ [Die Äußerungsmaschine der Körperpolitik: Es gibt Menschen die unter muslimischen Gesetzen (das Tanztheaterstück, Anm. d. Verf.) ›Can We Talk About This?‹ tanzen]; online verfügbar unter: http://pareviews. ncafroc.org.tw/?p=2134, Stand 6.1.2017).

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geistige Bewegung Wu Yaozhongs wird nicht deutlich gemacht. [85] Chen Ruihua sagt: »Wenn man den Zeitpunkt als Wu Yaozhong ins Gefängnis gekommen ist und den, als er wieder herausgekommen ist als Scheidepunkt nimmt, so kann man Wu Yaozhongs Arbeiten in einen Zeitabschnitt des abbildenden Realismus und in einen Zeitabschnitt des kritischen Realismus54 einteilen. [86] Die erste Phase ist die seiner Arbeiten aus der Lehrzeit bei Li Mei-Shu bis zum Studium an der Kunstfakultät der National Taiwan Normal University. [87] Diese Arbeiten zeigen hauptsächlich Menschen und Landschaften in fundiertem technischen Können. [88] Seine späten Arbeiten hingegen haben meist das Arbeiten und das Leben der normalen Menschen zum Thema. [89] Diese Arbeiten zeigen ein starkes Interesse an sozialistischen Gedanken.«xiv [90] Aber im gleichen Absatz verweist Chen Ruihua auch durch das Zitieren eines Interviews, das Chen Yingzhen 1978 mit Wu Yaozhong geführt hat, darauf, dass Wu Yaozhong sich dem Gedanken, dass Malerei zu Privateigentum wird, eindeutig widersetzte. [91] Das ist der besondere Weg, die »Popularisierung der Malerei« und »Malerei in großer Auflage drucken« zu verwirklichen. [92] Lassen Sie mich noch einmal den gleichen Abschnitt zitieren: [93] Malerei weist unter allen Formen der Kunst leider das stärkste Merkmal von Privateigentum auf. [94] Wenn man einen Rahmen verwendet und das Bild in ein imposantes Besuchszimmer hängt, so wird es Besitz und hat außerdem einen spekulativen Markt. [95] Die Popularisierung der Bilder bedeutet zunächst das Aufbrechen des Seltenheitswerts auf Ebene der Nachfrage. [96] Mit Hochdruck, Tiefdruck und Flachdruck stehen malerischen Werken eine Möglichkeit der Massenproduktion zur Verfügung. [97] Auf Grundlage der Nutzung aller Möglichkeiten der Ästhetik des Drucks, ist die Massenproduktion von malerischen Werken somit ein sinnvoller Weg. [98] Meine Malereien sind nicht in irgendeiner Weise besonders, aber ich habe es niemals als erstrebenswert angesehen, eine kleine Anzahl von Menschen meine Bilder sammeln zu lassen. [99] Durch das Gestalten von Titelblättern lässt sich mein Wunsch teilweise erfüllen.xv [100] Hiervon ausgehend meine ich, dass die stilistische Trennung in »abbildenden Realismus« (›Schreiben der Realität‹ [xieshizhuyi 寫實主義]) und »kritischen Realismus« (›Zeigen der Realität‹ [xianshizhuyi 現實主義]), unpassend ist. [101] Hierfür gibt es zwei Gründe: 1. Der Ausdruck Realismus (als ›Zeigen der Realität‹) kommt aus der Literaturkritik und Literaturgeschichte und ist eine Übersetzung von realism55. [102] Wu Yaozhong selbst und die meisten Kritiker verwenden diesen übersetzten Terminus im Kontext der Kunstgeschichte nicht, sondern verwenden Realismus (als ›Schreiben der Realität‹)/ realism56, diese chinesisch-englische sich ergänzende Übersetzung, dieses sich vervollständigende Paar.57 [103] Dies berührt den Unterschied im kritischen Sprachgebrauch

54 An dieser Stelle wurden in der Übersetzung die Adjektive ›abbildend‹ und ›kritisch‹ hinzugefügt, um die beiden genutzten chinesischen Formen von ›Realismus‹ in der Übersetzung unterscheiden zu können. Chen Ruihua schreibt von dem »Zeitabschnitt des xieshizhuyi (Schreiben der Realität)« und dem »Zeitabschnitt des xianshizhuyi (Zeigen der Realität)«. Chen Ruihuas Verständnis folgend, wäre eine Möglichkeit auch, xieshizhuyi als Naturalismus, xianshizhuyi als kritischen Realismus zu übersetzen. 55 Im Original englisch. 56 Im Original englisch. 57 Zur Bedeutung des Schreibens im Chinesischen und der hier angedeuteten Bedeutung als chinesisch-englisches Hybrid, siehe Analyse V.3.8.

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der Literatur- und Kunstgeschichte. [104] Wu Yaozhong erwähnt im selben Interview auch: [105] Realismus58 sollte nicht nur Form und Struktur, den Lichteinfall und die Farbe bearbeiten, sondern sollte sich auch mit dem Inhalt befassen. [106] Wenn man nur an die realistischen Maler der Geschichte denkt, an Millet, Honoré Daumier, Courbet, Kollwitz oder Ilja Repin, dann wird das ganz klar. [107] Die wichtigste Bedingung des Realismus ist das Gefühl einer engen Bindung zwischen den Menschen und der Geschichte. [108] Im Realismus steht der Mensch mit der Gesellschaft, dem Volk und gar der ganzen Welt in einer klaren und aktiven Beziehung. [109] Deshalb ist dieser Blick auf die Welt keiner, der von individuellen, unverständlichen inneren Wirrungen ausgeht, sondern der von den gemeinsamen Forderungen und Wünschen des Volkes aus die Welt verstehen möchte.xvi [110] Deshalb meine ich, dass der Schwerpunkt darauf liegen muss, wie wir von Neuem die »Konsistenzebene59 der realistischen Malerei der 70er Jahre« konstruieren, wie wir von Neuem überlegen, wie Wu Yaozhong durch den Prozess der Veränderung der realistischen Malerei ein Denken der Moderne und eine Praktik des Modernismus ausdrückt. [111] Und er liegt eben nicht darauf, erneut durch eine einfache stilistische und inhaltliche Analyse seine gedankliche Konsistenzebene zu zerteilen. [112] 2. Der »Realismus«, den Wu Yaozhong im Interview erwähnt, ist eine Art erkenntnistheoretische Methode auf Ebene des künstlerischen Schaffens. [113] Es ist eine Art künstlerische Erkenntnistheorie, die ausgehend »von den gemeinsamen Forderungen und Wünschen des Volkes die Welt versteht« und die eben nicht eine Art Stil ist oder eine Thematik, die auf einen bestimmten Inhalt begrenzt ist. [114] Die Wurzeln dieser künstlerischen Erkenntnistheorie finden sich eindeutig schon in seiner künstlerischen Praxis der 60er Jahre: [115] Darin, dass er dem System der Akademie und der Wettbewerbsausstellungen entflohen ist und mit der Bewegung der Plattform der intellektuellen Kulturkritik-Maschine verschmolz. [116] Als er dann in den 70er Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, waren aus den Publikationen, die ursprünglich euro-amerikanische Quellen zur modernistischen Malerei übersetzten und übertrugen, Publikationen geworden, die die eigene Malerei auf die intellektuellen kulturkritischen Publikationen der jungen kulturellen Intellektuellen übertrugen. [117] Durch das massenhafte Drucken um die Arbeiten zu zeigen, hatten sich die Publikationen zu einem wichtigen visuellen Kettenglied im System der Kritik der Volkskunst60 entwickelt. [118] Selbst wenn sich die Bezeichnung dieses Realismus als ›Schreiben der Realität‹ zum Realismus als ›Zeigen der Realität‹ geändert hätte, so müssten dennoch die linksorientierten Gedanken, die kritische Haltung mit der der modernen Welt begegnet wurde, geklärt werden.

58 Im gesamten Zitat Wu Yaozhongs benutzt dieser xieshizhuyi (das ›Schreiben der Realität‹). Der kritische Impetus des Begriffs, der in Chen Ruihuas Einteilung verschwindet, kommt besonders hier zum Ausdruck. Im Folgenden wird im Originaltext nur mehr vom Realismus als xieshizhuyi (dem ›Schreiben der Realität‹) geschrieben, weshalb auf weitere Anmerkungen weitestgehend verzichtet wird. 59 Deleuzes ›plan de consistance‹ wurde ins Chinesische als rongguan pingmian 融貫平面 übersetzt. 60 Die Volkskunst (minjianyishu 民間藝術) bezieht sich hier vor allem auf den Maler Hong Tong und den Bildhauer Ju Ming, die in den 70er Jahren gefeiert wurden als nicht-akademische Künstler, die aus dem Volk kommen und die somit in ihrem als unverfälscht gesehenen Lokalbezug zu Ikonen der Heimaterde-Bewegung wurden.

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[119] Das heißt auch: Ist dies nicht eine Form der modernistischen Malereipraxis, die speziell der Dritten Welt angehört? [120] Ist dies nicht sehr nah an der kritischen Weltsicht, von der Kapur spricht, die die Grundlage der materiellen Bedingung des Ablaufs der ganzen modernen Welt erfassen kann? [121] Und ist dies nicht ein Versuch, der insbesondere eine geschichtliche und gesellschaftliche Dimension hat, jedoch trotzdem geradeaus dem Neuen begegnen kann, der das verwirrende Hindernis der Originalität überwinden kann, den Einfluss der Nervosität überwinden kann? 3. Die Konsistenzebene der realistischen Malerei der 70er Jahre [1] Chiang Hsun hat schon in Zurück zum Eigenen61 – Tendenzen der Kunst Taiwans der 70er Jahrexvii die verschiedenen Schichten des »Realismus« 62 diskutiert. [2] Vom kritischen Fotorealismus Xie Xiaodes 謝孝德 oder Xu Kunchengs 許坤成 bis zum gewohnten »westlichen Verspotten des Kommerzes oder einem romantischen Ästhetizismus, fehlt die Kompetenz einer tiefen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit.« [3] Hier wird wahrscheinlich auf den Realismus63 Bezug genommen, der der Bedeutung des gewohnten Fotorealismus oder der Technik der Pop Art zugrunde liegt. [4] Vor diesem Hintergrund sieht Chiang Hsun Wu Yaozhong – nachdem dieser in den 70ern aus dem Gefängnis entlassen wurde – als Person, die es sich vor dem Trend der »erneuten Renaissance des Realismus« anzuschauen lohnt. [5] Chiang Hsun beachtet auch Wu Yaozhongs »Serie, die er für den damaligen Yuanjing-Verlag malte: [6] Diese Arbeiten über die Arbeit der taiwanischen Arbeiter, meist monochrome Ölmalereien, weisen eine Nähe zur Portraitskizze und zu Kollwitzʼ Malstil auf.« [7] Doch seine einfache Analyse verbleibt im Rahmen einer stilistischen und inhaltlichen Analyse. [8] Er stellt absolut nicht Wu Yaozhongs Widerstand gegen die Kommerzialisierung von Malerei besonders heraus und seine kritischen Forderungen nach der Massenpublikation von Malerei als Druck und die »Popularisierung der Malerei«. [9] Doch Chiang Hsuns Interpretation der verschiedenen Ebenen des »Realismus« hat eine das Feld erweiternde Tendenz. [10] Chiang Hsun meint, dass – neben der festen akademischen Komposition und auf Ebene der Thematik sozialer Motive – auch das Beschreiben der Besonderheiten des Bodens, der Menschen und der Landschaft Taiwans von einem individuellen Standpunkt aus, wie es Chen Laixing 陳來興, Qiu Yacai 邱亞 才 und Zheng Zaidong 鄭在東 in den späten 70er Jahren taten, zur neuen Richtung des »Realismus« gehören. [11] Von hier aus gesehen müssen wir einen Schritt weiter gehen um Folgendes zu verstehen: Was bedeutet »Realismus« in diesem kunstkritischen Text Chiang Hsuns? [12] Die Themen, die sein Text diskutiert, sind: »Xi Dejin, der als Erster zurückkehrt zum Eigenen64«, »das fortlaufende Auftauchen von naiven Künstlern wie Hong Tong«, »das 61 Wie in Kapitel IV.1 Fußnoten 3 und 26 erläutert, muss auch in diesem Text der 90er Jahre im Zuge der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein ›Zurück zum Eigenen‹ (huigui bentu 回歸本土) als feststehender Slogan verstanden werden, der sich mit der Heimaterde-Bewegung der 70er Jahre auseinandersetzt. 62 Hier, wie auch im folgenden Absatz, steht xieshi (das ›Schreiben der Realität‹). 63 Hier und im folgenden Satz steht xieshizhuyi (das ›Schreiben der Realität‹), wodurch besonders die allgemein gebräuchliche stilistische Bedeutung des xieshi zum Ausdruck kommt. 64 Chiang Hsun schreibt auch hier, wie im Titel seines von Gong besprochenen Textes, huiguibentu 回歸本土.

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Spezial zur Volkskunst Taiwans durch Hsiung Shih Art Monthly«, »das Vorstellen der wichtigsten Künstler in Taiwan zur Zeit der japanischen Besatzung durch Hsiung Shih Art Monthly«, »das Vereinen des lokalen Brauchtums und der realistischen Richtung der 70er Jahre durch Ju Ming« und die oben erwähnten »unterschiedlichen Schichten des Realismus«.65 [13] Laut Chiang Hsun verweist dies darauf, dass »die 70er Jahre mit Xi Dejin als Repräsentanten eine Zeit der künstlerischen Strömung ist, die sich erneut mit Taiwan identifiziert. [14] Es ist die erneute Reflexion einer wirren Strömung, die die Orientierung verloren hat, nachdem sie durch die Verwestlichung und Modernisierung gegangen ist.« [15] Obgleich diese Identifikation unter von außen kommendem Druck der internationalen Situation steht, so unterscheidet sich die Situation doch von derjenigen der älteren Generation von Malern und auch von der Übersetzung der amerikanischen Kultur in den 60er Jahren. [16] Die 70er Jahre haben die Bedeutung eines »Wiedererlangens nach dem Verlust«. [17] Von den folkloristischen Bildern, die die akademische Krise reflektierten und der großen Vitalität der Volkskunst der Künstler der Naiven Kunst, bis zum Beginn des begeisterten Begrüßens und Wahrnehmens der malerischen Berge und Flüsse nach der Erfahrung der westlichen Modernisierung, außerdem Hsieh Lifas und Hsiung Shih Art Monthlys Vorantreiben des Schreibens über Taiwans Kunstgeschichte zur Zeit der japanischen Besatzung und dem erneuten Ausgraben und Vorstellen der älteren Generation von Malern: [18] Der »Realismus«, von dem hier die Rede ist, scheint schon früher das Feld des Stils und der Thematik überschritten zu haben. [19] Das hier erwähnte »Eigene (bentu)«66 verweist auch nicht nur einfach auf Innertaiwanisches, sondern besitzt historisch-kritisches Bewusstsein. [20] Es sind ein »Eigenes (bentu)« und eine »Wirklichkeit« (xianshi 現實), die bedeckt sind von der Erfahrung der Modernisierung durch die japanische imperiale Kolonisierung, der kolonialen Struktur nach der Modernisierung des amerikanischen Kapitalismus und der Ideologie nach dem Kalten Krieg-Schema der Kuomintang und die sich hier erneut enthüllen, die erneut beschrieben werden. [21] Vom indischen Referenzrahmen aus gesehen ist dies eine Art von geistiger Bewegung des »Modernismus der Kunst Taiwans«, ein künstlerischer kritischer Akt. [22] Ich meine, dass das oben angeführte historisch-kritische Bewusstsein, das den Standpunkt der Dritten Welt einnimmt – also der so genannte »Modernismus der Kunst Taiwans« –, die kapitalistische Strömung der Kommerzialisierung bekämpft (Malerei als Ware), jedoch nicht ablehnt, dass Kulturprodukte (wie Bücher und Zeitschriften) unter den normalen Bürgern zirkulieren. [23] Außerdem bewahrt es dem japanischen 65 Auch in diesen Zitaten der 70er Jahre steht xieshi (das ›Schreiben der Realität‹). 66 Gong benutzt selbst das ›Eigene (bentu)‹ nicht, sondern bezieht sich auf die Thematisierung des bentu bei Chiang Hsun und Hsiao Chong-ray. Es ist daher eine Auseinandersetzung mit dem bei Chen Chuanxing (Kap. IV) besprochenen, national-abgrenzenden Verständnis von bentu, das in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein zum Ausdruck kommt. Obgleich Gong die Deutung des bentu der starken nationalistischen und – wie er weiter unten schreibt – »geografischen« Bedeutung zu entziehen und in einen internationalen Kontext zu betten sucht und er damit die Deutung der 90er Jahre als das abgrenzende ›Eigene‹ nicht gutheißt, wird aufgrund Gongs klarer Auseinandersetzung mit der Kunstkritik seit den 90ern in dieser Übersetzung, wie bei Chen Chuan-xing, ›das Eigene (bentu)‹ genutzt. Diese Übersetzung denkt die folkloristische und proletarische Bedeutung, die Gong im an die Heimaterde (xiangtu) angelehnten bentu sieht, eher nicht mit. Die bei Chen auch angedeutete Übersetzung als ›Eigene Erde (bentu)‹ muss daher auch mitgedacht werden, würde sie diesen Aspekt doch eher wiedergeben.

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kolonial-imperialen Rahmen gegenüber eine kritische nationalistische Distanz, aber verwirft das von dessen Modernisierungserfahrung implantierte Bewusstsein einer Struktur der Weltgeschichte nicht leichtfertig. [24] Weiter betont es die allgemeine folkloristische Bedeutung des Eigenen (bentu) Taiwans, aber ignoriert nicht leichtfertig die Bedeutung der proletarischen Heimaterde (xiangtu) und des Eigenen (bentu) der Arbeiter auf internationaler Ebene. [25] Vielleicht ist erst das die innere Konsistenzebene der realistischen Malerei der 70er Jahre. [26] Und vielleicht ist erst dies das, was Chiang Hsun so ernsthaft und geduldig wünscht, als »Identifikation« und »Reflexion« der 70er Jahre aufzeigen zu können. [27] In Anbetracht Wu Yaozhongs »realistischer« malerischer Praxis, kann er – auf Ebene des Reinheitsgrades seines Schaffens gesprochen – als ein repräsentativer Künstler der inneren Konsistenzebene des Realismus der 70er Jahre gelten. [28] Hsiao Chong-Ray hingegen weist im fünften Kapitel seines Buches Kunstgeschichte im Nachkriegstaiwan mit dem Titel Die Heimaterde-Bewegung und die Einbindung des Lebens in die moderne Kunst67 und im Resümee seines Vortrags ›Die Geburt Taiwans‹ 68 darauf hin, dass das Aufsaugen von »Tradition« durch Taiwans Kunst in den 70er Jahren die Fortführung der Vorstellung von »Modernismus« der 60er Jahre sei, wobei »Taiwan« zum neuen, »China« ersetzenden Eigenen (bentu) wurde. [29] Dieses »neue Eigene (bentu)« beinhaltet das Ausgraben und erneute Interpretieren der Maler der älteren Generation. [30] Was sich hier zu diskutieren lohnt, ist, ob dieses »Aufsaugen« der Tradition eine differenziertere Tradition, breitere historisch-kritische und reflexive Kontexte erschloss. [31] Ist diese eher umfassende Geschichtskritik und -reflexion – das erneute Ausgraben und Vorstellen der Künstler der älteren Generation, die Folklorisierung und Popularisierung der Kunst – verglichen mit der Kritik an der Tradition der Klebfarbmalerei69 im Prozess der Modernisierung der chinesischen Malerei (guohua)70 in den 60er Jahren, nicht viel eher ein nicht-amerikanischer Modernismus und ist dies nicht sehr nah an einem indischen Dritte-Welt-Modernismus? [32] Ist nicht eine der größten Gefahren des sich gerade vertiefenden Dritte-Welt-Modernismus, das »Eigene (bentu)« genau auf ein auf nationalistischen Erklärungen beruhendes, geografisches »Eigenes (bentu)« zu beschränken, anstatt innerhalb der Struktur des linken Denkens der Weltgeschichte das »Eigene (bentu)« des Proletariats oder der Subalterne der ganzen Welt zu sein? [33] Wenn man von dieser Perspektive aus die gedankliche Struktur der Malerei Wu Yaozhongs anschaut, vermutet man immer stärker, dass in den 70er Jahren tatsächlich eine Art »Modernismus der Kunst Taiwans« allmählich Gestalt annahm. [34] Doch unsere Kunstkritiker nutzen den Terminus »Modernismus« in einer unklaren Weise, und referieren allem Anschein nach nicht auf die Gebrauchsweise des »Modernismus« in Taiwans Literaturgeschichte, sondern referieren nur auf die amerikanische, von

67 Außer im genannten Buch (Hsiao Chong-ray, Zhanhou taiwan meishushi, S. 115-144) wurde der Text mit dem Originaltitel Xiangtuyundong yu xiandaiyishu shenghuohua 鄉土運動與現代藝術生活化 in der Zeitschrift Artist veröffentlicht (Nr. 444, 5/2012, S. 164-181). 68 Titel im Original: Taiwan de dansheng 台灣的誕生. 69 Zur Klebfarbmalerei, der taiwanischen Bezeichnung für die Nihonga, und ihrer Geschichte und Bedeutung in Taiwan, siehe auch Kap. II.2.2. 70 Zur Übersetzung von guohua als ›chinesische Malerei‹, siehe auch Kap II.2.2 und II.3.2. Zur ›Debatte um die wahre guohua‹, die Gong durch diese Betonung also als hauptsächlich auf stilistischen Kriterien beruhend sieht, siehe Kap. III.2.

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Greenberg formulierte, formalistische, sich von einer Diachronizität abwendende ästhetische Bedeutung des »Modernismus« und verpassen es so, das Bewusstsein und die Entschlossenheit des »Modernismus der Kunst Taiwans« zu gestalten. [35] Lassen Sie mich zuletzt Chen Chuan-xings Bewertung der 70er Jahre in Die unzulängliche Darstellung von ›Moderne‹ und das Sprechen vom Bewusstsein. Die Situation der ›vor‹postmodernen Kunst Taiwans in den 1980er Jahren zitieren. [36] Ich möchte besonders darauf hinweisen, dass in diesem Aufsatz von Chen Chuan-xing – ich weiß nicht warum – die 70er Jahre fehlen, sie werden als »verworren« bezeichnet, sie werden gar ausgelassen und werden nicht weiter besprochen. [37] Hiervon ausgehend kann mein Text als Antwort auf jenen kunstkritischen Text Chen Chuan-xings gesehen werden. Bezüglich der »Problematik des Zweifels« im Modernismus der Kunst Taiwans, sagt Chen Chuan-xing Folgendes: [38] Es ist sehr klar erkennbar, dass die Situation der Kunst Taiwans zu Beginn der 80er Jahre – von der Form ihres Schaffens, der Art zu Denken und den Idealen, die sie verfolgt – eine kleine aber perfekte Variation und Hochschätzung des Modernismus Taiwans der 60er Jahre darstellt. […] [39] Das Lernen und Lehren geschieht nicht mehr über das ›Kopieren‹ des Imaginierten und Ersehnten der Bilder, sondern wird von Lehrern weitervermittelt, durch Augenzeugen, durch die Übungspraxis. [40] Einfach gesagt ist der Modernismus zu Beginn der 80er Jahre eine Art ›akademischer Modernismus‹. [41] Er domestiziert den illusorischen und mit starker Sehnsucht besetzten ›imaginierten Modernismus‹ (oder diesen ›wilden Modernismus‹) der 60er Jahre. [42] Die Beziehung von ›System‹ und ›Macht‹ ersetzt die vorherige ›Kritik und Analyse‹ (und das ›Wagnis‹). […] [43] Man kann deutlich sehen, dass der Weg des ›Modernismus‹, den Taiwans Kunstszene von den 60er Jahren bis zu Beginn der 80er Jahre – durch die Komplikationen der 70er Jahre hindurch – gegangen ist, ein kontinuierlicher Weg des Modernismus war, heraus aus der Leere, dem Wilden, dem Dornigen. [44] Ist das nun der Beweis der Lokalisierung (bentuhua) des Modernismus?71 [45] Ja und nein. [46] Ja, denn er ist systematisiert worden, ist in das System eingesickert und ist zu einem Teil dessen Gerüsts geworden. [47] Nein, denn der Prozess der Systematisierung dieses ›Modernismus‹ ist überhaupt nicht durch den Prozess der Spekulation, der Dialektik und des Widerstreits hindurch vollendet worden. [48] Es fehlt ihm an Geschichtlichkeit.72 [49] Das liegt auch daran, dass in Taiwan das Problem des ›Modernismus‹ nie offen und direkt diskutiert wurde und nie gründlich darüber nachgedacht wurde. [50] Ganz zu schweigen davon, dass nicht diskutiert wurde, auf welche Art der widersprüchliche Prozess des verworrenen Erscheinens des ›Modernismus‹ das Problem des Gefühls des Zweifels73 an diesem Ort zeigt, gezeigt hat und zeigen wird.xviii [51] Ich habe eine so lange Passage zitiert, da ich wirklich verstehen will, ob man Chen Chuan-xings verworrene Wege des »Modernismus Taiwans« der 70er Jahren nicht auf positive Weise erzählen kann. [52] Kann man die 70er Jahre in denen das institutionelle System (die neuen Kunstakademien, die Ära des Kunstmuseums) noch nicht wirklich 71 In der Neuveröffentlichung von Chen Chuan-xings Text aus dem Jahr 2009 in Ist ein Baum länger als eine Nacht?, auf die sich Gong beruft, weicht der Text hier in der Wortwahl leicht von der Erstveröffentlichung von 1992 ab. Während der ursprüngliche Text hier mit »Ist das schon der Beweis […]?« übersetzt wurde, muss der Text in der Neuveröffentlichung mit »Ist das nun der Beweis […]?« übersetzt werden. 72 In der Neuveröffentlichung findet sich an dieser Stelle die Einfügung »Es fehlt [ihm] an Geschichtlichkeit« (quefan lishixing 欠缺歷史性), die in der Veröffentlichung von 1992 nicht vorhanden ist. 73 Auch an dieser Stelle weicht der Text in der Neuveröffentlichung ab. Gong zitiert daher »das Problem des Gefühls des Zweifels« (yihuo keti 疑惑課題) nach jener. In der Veröffentlichung von 1992 steht hier nur »das Gefühl des Zweifels«.

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aufgebaut war und die zwischen dem »imaginierten Modernismus« der 60er Jahre und dem »akademischen Modernismus« der 80er Jahre liegen, nicht durch Wu Yaozhongs künstlerische Praxis verstehen als »durch Spekulation, Dialektik und Widerstreit hindurch vollendet worden« und somit als eine Form des Modernismus der Kunst Taiwans bezeichnen? [53] Diese besitzt nicht nur historische Kritikfähigkeit, sondern Wu ahnte gleichzeitig auch das Heraufkommen des Kunstmarktes, das Schicksal der Kommerzialisierung von Kunst und letztlich eine Strategie dies zu bekämpfen, voraus. [54] Im Prozess des Schreibens dieses Artikels hoffe ich – von der Methodik her gesprochen –, eine »bestätigende« oder »schaffende« Kritik und Analyse oder eine künstlerische Diskussion im Stil Wu Yaozhongs herauszustellen, die als Muster der Realisierung der »Lokalisierung (bentuhua) des Modernismus« oder des »Modernismus der Kunst Taiwans« dienen kann. [55] Und so eben nicht einfach die Situation einer »unzulänglichen Moderne« herauszustellen. [56] Denn würden wir nicht vielleicht sonst, einer »Logik des Unzulänglichen« folgend, gefangen sein in Bedenken bezüglich einer »antimodernen« Haltung und so keine Möglichkeit haben, die Frage zurück zur Diskussion der Lokalisierung (bentuhua) des »Modernismus in der Kunst Taiwans« und des Musters der Realisierung zu holen? [57] Obwohl Chen Chuan-xing selbst schon 1992 gegen Ende des Vorworts der Melancholischen Dokumente74 zutiefst besorgt fragte, warum die »anti-moderne« Einstellung fest verknüpft ist mit dem Nachdenken über die »Taiwan-Subjektivität« und über das »Subjekt-Bewusstsein«, und zu einer das Rationale und die Aufklärung ablehnenden Haltung wurde, so sind doch die Problematiken, die in seiner Kunstkritik wirkliche Beachtung finden, die »Modernität«, die »verspätete Moderne« 75 bis hin zur Frage nach dem »Modernismus Taiwans«. [58] Zu Ende des Vorworts erwähnt er sechs wichtige Fragen zu »Taiwans Moderne«. [59] Auf diese sechs Fragen möchte ich auf Grundlage der bisherigen Ergebnisse dieses Textes kurz antworten und damit ein erstes Resümee dieses Textes ziehen. [60] 1. Was ist der Grund dafür, dass die »Moderne« an diesem Ort erst mit einer derartigen Verspätung in der widersprüchlichen Form des »Subjekt-Bewusstseins« hervortritt? [61] Meine Antwort ist: Wie Chen Fangming aufzeigt, wird die »Moderne« in Taiwan ursprünglich als eine von außen gewaltsam implantierte Erfahrungsstruktur gesehen. [62] Sogar Japan, das Mutterland der taiwanischen Kolonialisierung, hat lange Zeit mit der »verspäteten Moderne« 76 gekämpft, wollte nicht in einer »diachronen Moderne« verbleiben, sondern hoffte, schnell eine mit Euro-Amerika »synchrone Moderne« zu erreichen. [63] Wenn man den Gedanken der indischen Theoretiker folgt, so muss die »verspätete Moderne« der Länder der Dritten Welt zunächst gesellschaftlich und historisch kritisch reflektiert oder künstlerisch-schaffend diskutiert werden, um so vielleicht Schritt für Schritt zu Klarheit zu gelangen. [64] Das widersprüchliche »Subjekt-Bewusstsein« ist nur ein Teil des Prozesses des Gewahrwerdens des Selbst der Länder der Dritten Welt. [65] Das »Überschreiten des Problemkomplexes der Originalität 74 Zur Bedeutung der Melancholischen Dokumente 憂鬱文件 in Taiwan, siehe Kap. IV. 75 Chen Chuan-xing schreibt yanchi xiandaixing 延遲現代性, im Unterschied zu Chen Fangming, der die »belated modernity« als chidao de xiandaixing 遲到的現代性 übersetzt (siehe dazu auch Analyseteil). 76 Gong nutzt hier das von Chen Chuan-xing genutzte yanchi xiandaixing für die ›verspätete Moderne‹.

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des Schaffens, das Bezwingen der Nervosität in Bezug auf das Beeinflusstwerden« erst ist ein Ausdruck des allmählichen Heranreifens dieses Subjekt-Bewusstseins. [66] 2. Eine weitere Bedeutung dieser so großen Verspätung ist die riesige Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen »Modernisierung« und der »Moderne« der Kultur. [67] Obwohl ursprünglich im Westen die Entwicklung der »Modernisierung« und der »Moderne« schon von Beginn an asymmetrisch und isoliert voneinander verlief, aber doch ineinanderfloss, getrennt und doch zusammen verlief, so trat trotzdem nie das Phänomen einer derart großen Verspätung und Diskrepanz auf. [68] Ist das ein besonderes Phänomen des Kulturraums Taiwan? [69] Meine Antwort ist: Wie die Theoretiker der indischen Subaltern-Studies und der Postcolonial Studies zeigen, ist dies kein besonderes Phänomen des Kulturraums Taiwan, sondern alle kolonisierten oder rekolonisierten Gebiete der Dritten Welt weisen das Phänomen einer großen Verspätung und Diskrepanz zwischen der »Modernisierung« und der »Moderne« auf. [70] 3. Auf welche Art vollzieht sich – innerhalb des mechanischen Prozesses, der im Spannungsfeld einer »verspäteten Moderne« bis hin zu einer »anti-modernen« Haltung verläuft – die »kulturelle Abgrenzung«, die die Haltungen eines »Missverstehens« und eines »sowohl Ausschließens als auch ausgerichtet sein auf« hervorgebracht hat? [71] Was ich dazu sagen möchte ist: Wir sollten unseren Referenzrahmen nach Indien verschieben und nicht in Euro-Amerika oder Japan77 verbleiben. [72] In Indien wurde die kulturelle Abgrenzung durch den religiösen Fundamentalismus vollzogen. [73] Nachdem in Taiwan hingegen die Universalreligion oder der Konfuzianismus mit dem Akademismus und dem Kapitalismus vermischt worden waren, setzte diese sehr wahrscheinlich der Form nach geschlossene, nicht reflexiv-kritische Autorität des Wissens – die die akademischen Mechanismen nutzt, die sowohl durch Ideen der modernen Aufklärung, der Rationalität und der Utopie erschlossen wurden, als auch durch eine geschlossene, nicht Richtung Welt gerichtete Erziehung, Ausbildung und Praxis – ihre »anti-moderne« Haltung um. [74] Vom Beispiel Wu Yaozhong, von seiner Kritik am abstrakten Formalismus von Fifth Moon und der Eastern Painting Group sowie am klassischen Realismus der älteren Malergeneration, bis zu den kritischen Überlegungen Chen Chuan-xings zum imaginierten Modernismus der 60er Jahre und dem akademischen Modernismus der 80er Jahre, verweist dies alles auf eine Art kritische geistige Haltung gegenüber einer solchen Form der kulturellen Abgrenzung. [75] 4. Man kann nicht leugnen, dass politische und ökonomische Faktoren natürlich das Herausbilden der »Moderne« beeinflussen und darauf störend einwirken. [76] Aber das ist nur einer von vielen Einflüssen. [77] Grundsätzlich ist die Subjektivität aktiv und selbstbestimmt. [78] Warum gleitet diese aktive Autonomie ab in eine von politischen und ökonomischen Faktoren abhängige »Passivität«? [79] Welche politi77 Hervorgehoben werden soll hier die auf Ebene der diskursiven Bedeutung geschehende Gleichsetzung von Japan und Euro-Amerika, die Gong hier vornimmt: Diese zeigt, dass der ›Westen‹ nicht nur geografisch verstanden werden kann, sondern eine historische, diskursiv-produktive und normative Ebene immer mitgedacht werden muss. Vgl. hierzu auch Kikuchi, Introduction, S. 9f.

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sche Bedeutung hat ein solches Negieren? [80] In welcher Form erfahren in Taiwans besonderem Prozess der »verspäteten Moderne« die anderen Charakteristika und Elemente der »Moderne« außer der Subjektivität – wie beispielsweise »Aufklärung«, (die über allem stehende) »Rationalität«, »Utopie« – Veränderung? [81] Meine Antwort ist: Die zugrundeliegende Ursache dafür ist, dass der Imperialismus und der Prozess der Ausweitung des Kapitalismus, der den Imperialismus zur Kolonisierung antreibt, alle Dritte-Welt-Länder zwingend die »Moderne« akzeptieren lässt und sie keine andere Möglichkeit haben, als ihre Subjektivität zu opfern. [82] Die Debatten um Taiwans Subjektivitäts-Bewusstsein78 fanden in den 80er Jahren statt und berührten Identitätsfragen in den tiefliegenden Bewusstseinsschichten. [83] In Anbetracht des Beispiels Wu Yaozhong meine ich, dass Taiwan durchweg klären muss, welchen besonderen Platz es in der Struktur der Weltgeschichte einnimmt und muss klar das Merkmal Dritte Welt erkennen, das zu Taiwan selbst gehört. [84] Das bedeutet bis zu einem gewissen Grad ein Zurückkehren zu einem sozialistischen Weg. [85] Taiwan muss die Beziehung zwischen den existierenden materiellen Umständen und der existierenden Gesellschaftsform und der Form des künstlerischen Ausdrucks immer wieder erneut klären. [86] Erst so kann den Vorteilen und Chancen79, die die »verspätete Moderne« vielleicht besitzt, positiv entgegengetreten werden und man kann beginnen mit einem Schaffen, das das Subjekt einbringt. [87] 5. Historisch betrachtet hat Taiwan schon früher zwei Phasen der Modernisierung mit unterschiedlichen Aspekten, Charakteristika und Strategien durchlaufen: die der kolonialen Politik Japans und die der Regierung der Kuomintang. [88] Welche Bedeutung hat dieser Teil der Geschichte für das Entstehen der Verspätung der »Moderne«? [89] Ich meine, dass die Erfahrung Wu Yaozhongs, der in der Tradition seines Lehrers Li Mei-Shu steht, auf das euro-amerikanische Gerüst des japanischen kolonialen Imperialismus – auf diese Form des Kolonialismus – verweist. [90] Chen Fangming folgend, ist das die Situation der Ausweitung des Kapitalismus. [91] Es ist eine die kulturelle Überlegenheit ausdrückende Art des Denkens von »Modernisierung«. [92] Dies jedoch zwang Taiwans Intellektuelle eine kritische Art des Denkens der »Moderne« herauszubilden. [93] Als die nationale Regierung sich zurückzog und nach Taiwan kam, verfiel sie unbewusst in eine neue Ordnung der Dritten Welt. [94] Auf Ebene der Kunst und Kultur, versuchte sie, die japanische koloniale Kultur zu beseitigen. [95] Weiter vollzog sie aufgrund des Drucks, den sie durch die Weltstruktur des amerikanisch-sowjetischen Kalten Krieges erfuhr, eine Politik des Weißen Terrors und wischte die sozialistischen und kommunistischen Denker, die ein Bewusstsein der Struktur der Weltgeschichte hatten und die mit dem Diskurs der Moderne hätten umgehen können, nahezu vollständig 78 Gong schreibt an dieser Stelle ›Subjektivitäts-Bewusstsein‹ (zhutixing yishi 主體性意識) und nicht ›Subjekt-Bewusstsein‹, von dem Chen spricht und verweist somit darauf, dass die Diskussion Taiwans nicht das Subjekt der europäischen Aufklärung diskutiert, sondern jene alltägliche Bedeutung von ›Subjekt‹, die Chen kritisiert. 79 Chakrabarty spricht von der »Verspätung als Möglichkeit« in seinem gleichnamigen Aufsatz Belatedness as possibility: Subaltern Histories, Once Again. Im Chakrabarty Reader (siehe Endnoten) wird – wie hier bei Gong – der Begriff jiyu 機遇 genutzt, der eher die Chance, die günstige Gelegenheit bezeichnet, denn eine Möglichkeit (ins Englische müsste jiyu eher als ›opportunity‹ denn als ›possibility‹ übersetzt werden). Daher wird – trotz des klaren Bezugs auf Chakrabarty – jiyu als ›Chance‹ übersetzt.

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aus. [96] Deshalb bildete die »Modernisierung« zur Zeit der Kuomintang hauptsächlich eine auf Ebene der Politik, Ökonomie und Kultur von Amerika abhängige Struktur heraus, die der verspäteten Moderne keine Möglichkeit ließ, den eventuellen Vorteil eines Aktiv-Seins herauszubilden. [97] 6. Wie produziert die unzulängliche Ökonomie des Verlangens – die von der »verspäteten Moderne« im Bereich des Psychologischen und Geistigen hervorgebracht wird – auf Ebene der Ästhetik den Bildraum der Melancholie? [98] Ist die Melancholie eine weitere »Perspektive«, um die von der Verspätung hervorgebrachte Unzulänglichkeit zu ersetzen, zu komplementieren? [99] In welcher Form zeigt sich die Melancholie im Feld der Kunst? 4. Ein Weg der Verschiebung: Der Modernismus der Kunst Taiwans [1] Geht man von Wu Yaozhongs künstlerischer Erfahrung aus, könnte vielleicht am ehesten seine Arbeit Lange Nacht (chang ye 長夜) aus dem Jahre 1962 eine künstlerische Darstellung der Melancholischen Dokumente sein. [2] Auf Ebene der Ästhetik verarbeitete er vollkommen die Position des Beines des Models aus Manets Frühstück im Freien und die Position der Arme der drei Modelle aus Le Balcon. [3] Aber die Blickrichtung des Malers (oder Intellektuellen) in Wu Yaozhongs Bild ist geschlossen, der Arm ruht sorgenvoll am Kopf und zeigt so eine nach Innen gerichtete, depressive Verschlossenheit. [4] Es ist eben nicht wie bei Manet bis zu einem gewissen Grad ein Verspotten der hohlen Körperhaltung der Mittelschicht. [5] Die Blicke der Menschen in Manets Bildern gehen aus dem Bild hinaus oder sind direkt auf den Betrachter gerichtet. [6] Aus der Sicht des Malers gesprochen, möchte er vielleicht nur die Bedeutungsleere der Körperhaltung auf der zweidimensionalen Ebene zeigen und explizit keine Implikation der Melancholie. [7] Vielleicht ist diese radikale Kälte erst der Grundton der Modernität Manets. [8] Allerdings hat sich der Modernismus der Kunst Taiwans nicht aus dieser Grundlage heraus entwickelt. [9] Die »verspätete Moderne« löst bei den Intellektuellen und Künstlern der Dritten Welt sehr leicht eine Besorgnis bezüglich der Geschwindigkeit und Originalität aus. [10] Daher ist die Melancholie, wie Lange Nacht sie zeigt, tief verborgen und schwer zu vertreiben. [11] Aber 1962, während des Schaffens von Lange Nacht, öffnete Wu Yaozhong einerseits schon allmählich den Weg der modernen Buchgestaltung durch das Veröffentlichen seiner Werke auf Buch- und Zeitschriftencover. [12] Andererseits begann er, als er 1975 aus dem Gefängnis kam, aufgrund der politischen Gefangenschaft, exzessiv Alkohol zu trinken, er konnte sich nicht selbst befreien. [13] Was ist das nur für eine zutiefst bedrückende Verfassung! [14] Jedoch meine ich, dass wir letztendlich das Schaffen seiner Malereien für Buchcover nach der Entlassung aus dem Gefängnis nicht ausgehend von seinem exzessiven Trinken und der depressiven Verfassung erklären können. [15] Es ist andersherum: Wir können daran, dass er, um seine Arbeiten zu zeigen, die massenhafte Publikation in Form von Zeitschriften- und Buchcovern wählte anstatt einfach seine Bilder zu verkaufen oder Einzelausstellungen zu organisieren, Wu Yaozhongs modernistischen, sozialistischen Weg des Denkens von Kunst sehen. [16] Wir können auch sehen, dass dieser Weg in der Geschichte der Neuzeit und Moderne Taiwans durchgehend unwegsam und schwer zu beschreiten war und ist. [17] Weil dieser Weg schwer zu beschreiten ist, können wir spüren, dass Wu Yaozhongs malerische Praxis für den Modernismus der Kunst Taiwans einen Weg

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der Verschiebung eröffnet hat. [18] Ausgehend von der vom indischen Theoretiker Dipesh Chakrabarty* so genannten »Verschiebung« und »Verkleidung«xix80 gesehen, gibt es vielleicht einige hundert verschiedene, in den dunklen Gassen der Kunstgeschichte Taiwans versteckte Wu Yaozhongs, die in der als eine Art kreativ-schaffende »Chance« verstandenen verspäteten Moderne, mit viel Mühe eine neue Form der künstlerischen Praxis des Modernismus/Realismus81 erlangten. [19] Aufgrund der Außergewöhnlichkeit dieses Weges der Verschiebung können wir dies unmöglich als Unzulänglichkeit auf Ebene der Kunst ansehen, sondern sollten das als besonders dem Modernismus der Kunst Taiwans zugehörige Entstehungssituation sehen.

Endnoten i

Chen Ruihua, »Xun hua: Wu Yaozhong de huazuo, pengyou yu zuoyijingshen« 尋畫: 吳耀忠的畫作, 朋友與左翼精神 [Bilder suchen: Wu Yaozhongs Malereien, seine Freunde und der linke Geist], in: Lin Liyun, Chen Ruihua, Su Shufen (Hg.), Xun hua – xianshizhuyi huajia Wu Yaozhong 尋畫 – 現實主義 畫家吳耀忠 [Bilder Suchen. Der realistische Maler Wu Yaozhong (englischer Titel: Searching for Wu Yaozhong’s paintings: Stories of a realist artist)], New Taipei City: Yuanjing, 2012, S. 10.

ii

Chang Tsongzung Johnson 張頌仁, Chen Kuan-hsing, Gao Shiming 高士明 (Hg.): Geeta Kapur Reader (吉塔. 卡普爾讀本), Guangzhou: Nanfang Daily Press, 2010, S. 39-69 (chinesische Übersetzung aus dem Englischen), S. 177-213 (englischer Originaltext).

iii Ebd., S. 178, chinesische Übersetzung wurde vom Autor abgeändert. iv Ebd., S. 179f. v

Chen Kuan-hsing, »Yindu zuowei fangfa« 印度作為方法 [Indien als Methode], in: Geeta Kapur Reader. S. 12-28.

vi Ebd., S. 181. vii Ebd., S. 181f. viii Lu Cheng-hui, »Xiandaizhuyi zai taiwan: cong wenyi shehuixue de jiaodu lai kaocha« 現代主義在 台灣: 從文藝社會學的角度來考察 [Modernismus in Taiwan aus kulturell-soziologischer Perspektive], in: Ders., Zhanhou taiwan wenxue jingyan 戰後台灣文學經驗 [Die Erfahrung der Literatur im Nachkriegstaiwan], Taipei: Xindi Wenxue, 1995, S. 9. ix Chen Fangming: »Modeng yu houmodeng taiwan« 摩登與後摩登台灣 [Modernes (modeng) und postmodernes (houmodeng) Taiwan], in: Ders., Zhimindi modeng: xiandaixing yu taiwanshiguan 殖民地 摩登: 現代性與台灣史觀 [Die Moderne der Kolonie: Moderne und Taiwans Geschichtsbild], Taipei: Maitian, 2011, S. 21f. x

Michel Foucault, La peinture de Manet, Paris: Editions de Seuil, 2004, p.24.

xi Lin Liyun: Xun hua: Wu Yaozhong de huazuo, pengyou yu zuoyijingshen 尋畫: 吳耀忠的畫作, 朋友與左 翼精神 [Bilder suchen: Wu Yaozhongs Malereien, seine Freunde und der linke Geist], New Taipei City:Yinke Literatur, 2012. S. 60. xii Hsieh Lifa, »Qishi niandai zhengzhi shiguan de yishu jianyan – ›riju shidai taiwan meishu yundongshi‹ gaibanxu« 七十年代政治史觀的藝術檢驗 – ›日據時代臺灣美術運動史‹ 改版序 [Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe der ›Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung‹ – Eine von der Kunst ausgehende Betrachtung der politischen Geschichtsschreibung 80 Chakrabarty bezieht sich in der Nutzung der Konzepte der »Verschiebung« (displacement, bei Gong übersetzt als tidai 替代) und »Verkleidung« (disguise, bei Gong übersetzt als weizhuang 偽裝) auf Deleuze. 81 Hier steht xieshizhuyi (das ›Schreiben der Realität‹) und ist daher kein Gegensatz mehr, wie oben, wo Gong in der Kunstszene der 70er Jahre den xianshizhuyi-(›Zeigen der Realität‹)-Realismus dem Modernismus gegenübergestellt sieht.

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»Moderne Kunst« in Taiwan der 70er Jahre], in: Riju shidai taiwan meishu yundongshi 日據時代臺灣美術運動史 [Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung], Taipei: Artist. 1992, S. 3. xiii Li Zhiming, Zhuangzhen taiwan – taiwan xiandai shuji sheji de dansheng 裝幀台灣–台灣現代書籍設 計的誕生 [Taiwan layouten – Die Entstehung der modernen Buchgestaltung in Taiwan], Taipei: Lianjing, 2011. S. 286-293, besonders S. 292: »Die Arbeit an Buchcovern zu verfolgen ist nicht nur ein Mittel, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Eine solche Form der Malerei, die in Richtung der proletarischen Verbreitung strebt, ist gleichzeitig auch die Vereinigung mit den sozialistischen, linken Gedanken, mit welchen er früher, in seiner Studentenzeit in Berührung kam.« xiv Chen Ruihua, »Xun hua: Wu Yaozhong de huazuo, pengyou yu zuoyijingshen« 尋畫: 吳耀忠的畫作, 朋友與左翼精神 [Bilder suchen: Wu Yaozhongs Malereien, seine Freunde und der linke Geist], in: Lin Liyun, Chen Ruihua, Su Shufen (Hg.), Xun hua – xianshizhuyi huajia Wu Yaozhong 尋畫 – 現實主義 畫家吳耀忠 [Bilder Suchen. Der realistische Maler Wu Yaozhong (englischer Titel: Searching for Wu Yaozhong’s paintings: Stories of a realist artist)] Taipei: Yuanjing, 2012, S. 8. xv Xu Nancun 許南村, »Ren yu lishi: huajia Wu Yaozhong fangwenji« 人與歷史: 畫家吳耀忠訪問記 [Der Mensch und die Geschichte: Aufzeichnungen von Interviews mit dem Maler Wu Yaozhong], in: ebd., S. 24. xvi Ebd., S. 22 xvii Chiang Hsun, »Huigui bentu – 70 niandai taiwan meishu dashi« 回歸本土 —70年代台灣美術大勢 [Zurück zur Eigenen Erde (bentu) – Tendenzen der Kunst Taiwans der 70er Jahre], in: Zhang Xibin 張 希斌; Yang Minge 楊明鍔 (Hg.): 1945-1995 taiwan xiandai meishu shengtai 一九四五 – 一九九五臺灣 現代美術生態 [Die Situation der modernen Kunst Taiwans von 1945-1995], Taipei: TFAM, 1995. S. 141160. xviii Chen Chuan-xing, »›xiandai‹ kuifa de tushuo yu yishi xiuci. 1980 niandai taiwan zhi ›qian‹ houxiandai meishu zhuangkuang« ›現代‹ 匱乏的圖說與意識修辭. 一九八0年代台灣之 ›前‹ 後現代美術狀況 [Die unzulängliche Darstellung der ›Moderne‹ und das Sprechen vom Bewusstsein. Die Situation der ›vor‹postmodernen Kunst Taiwans in den 1980er Jahren], in: Mu yu ye shu chang 木與夜孰長 [Ist ein Baum länger als eine Nacht?], Taipei: Xingren, 2009. S. 17f. xix Chang Tsongzung Johnson 張頌仁, Chen Kuan-hsing, Gao Shiming 高士明 (Hg.), Dipesh Chakrabarty Reader (迪佩什. 查卡拉巴提讀本), Guangzhou: Nanfang Daily Press, 2010, S. 44-45, 58-60 (chinesische Übersetzung aus dem Englischen), S. 157-160, 176-178 (englischer Originaltext).

2. Einordnung des Textes 2.1 Umgebung des Textes Gong Jow-jiun 龔卓軍, der Autor des Textes Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf? Wu Yaozhong und die 70er Jahre als Anhaltspunkt, spielt in Taiwans aktueller Kunstszene eine wichtige Rolle als Kritiker der Sicht auf die Entwicklung der Kunstgeschichte Taiwans. Die von ihm seit 2009 als Chefredakteur verantwortete Zeitschrift Art Critique in Taiwan ACT (yishu guandian 藝術觀點), in der auch der im Rahmen dieser Arbeit zur Analyse stehende Text veröffentlicht wurde, befragt die Entwicklung der Kunst- und Kulturgeschichte, -kritik und -theorie in Taiwan (und Asien). Die kritisch ausgerichtete Zeitschrift vollzieht einen alternativen Blick auf Taiwans Kunstund Kulturgeschichte und widmet sich in jeder Ausgabe einem (zumeist auf Taiwan bezogenen) Hauptthema, das von Autoren verschiedener Disziplinen bearbeitet wird. Die Bedeutung und herausragende Position der Zeitschrift in Taiwans in weiten Teilen

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eher auf Information und Darstellung ausgerichteten Zeitschriftenszene, wurde 2010 mit dem Nationalen Publikationspreis bestätigt.82 Gong (geb. 1966)83 spielt weiter auch als Professor und Direktor des Doktorprogramms Art Creation and Theory der Tainan National University of the Arts – ein Programm in dem hauptsächlich Künstler, aber auch Kuratoren und inzwischen vermehrt auch Kunsthistoriker und -wissenschaftler einen Doktortitel in der Verbindung von praktischer und theoretischer Arbeit erwerben können –, sowie als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen eine einf lussreiche Rolle (er übersetzte unter anderem Werke von Gaston Bachelard, Maurice Merlau-Ponty und Carl Gustav Jung ins Chinesische). Gong, der promovierte Philosoph, hat sich von der reinen Philosophie abgewendet, da er in der Kunst freier sein kann als in der sehr konservativen, starr auf Europa ausgerichteten akademischen Philosophie Taiwans.84 Eine experimentellere Herangehensweise an Theorien und eine, die das Hinterfragen des Bezugs auf Taiwans Entwicklung ermöglicht, kann, so Gong, in der Kunst eher stattfinden. So ist er als Philosoph in westlicher Philosophie ausgebildet, wurde an Taiwans wichtigster und in ihrer Ausrichtung sehr konservativen Universität, der National Taiwan University, promoviert. Seine fehlende Auslandsstudienerfahrung wird in Taiwans Wissenschaft tendenziell als ›Mangel‹ eingestuft. Nahezu alle bedeutenden Wissenschaftler Taiwans haben im Ausland – zumeist Frankreich, Amerika oder Japan (in der Philosophie auch oft in Deutschland) – studiert, nahezu alle einf lussreichen Positionen werden in Taiwan von Menschen, die im Ausland studierten, bekleidet. Dass Gong als jemand, der diese Erfahrung nicht gemacht hat, trotzdem eine bedeutende Rolle in Taiwan zugeschrieben bekommt, ist hervorzuheben.

2.2 Zur Einbettung des Textes Der Text wurde in der von Gong herausgegebenen, vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift Art Critique in Taiwan (ACT) im Juli 2012 zum Thema Das Nachbild des Realen: Eine erneute Diskussion der 70er Jahre in Taiwan veröffentlicht.85 In dieser Ausgabe wurde die Kunst- und Kulturszene Taiwans der 1970er Jahre diskutiert in Bezug auf die Möglichkeit einer alternativen und für die Stellung Taiwans in der Welt und das zeitgenössische Selbstverständnis fruchtbare Betrachtung der Heimatboden-Bewegung in der Kunst. So kommt es im folgenden Zitat aus der Einführung zum Spezial zum Ausdruck:

82 Vgl. http://westheavens.net/en/people/627, Stand: 2.8.2016. 83 Sowohl Chen als auch Gong sind – angesichts des Geburtsjahres selbstverständlich – in Taiwan geboren, stammen aber aus Familien, die im Gefolge Chiang Kai-Sheks aus Festlandchina geflüchtet sind. Da dies in Taiwans Diskurs eine wichtige Information ist, die auch in Diskussionen präsent und bekannt ist, sei dies hier erwähnt. 84 Persönliches Gespräch am 8.10.2012 in Tainan. 85 Diese Ausgabe mit dem chinesischen Originaltital xianshi de houxiang – chongtan taiwan 70 niandai (現實的後像 -- 重探臺灣70年代) war zwar schon die 51. der Zeitschrift ACT, diese ist aber erst seit der 41. Ausgabe – seit Gong Chefredakteur ist – eine kunstkritische Zeitschrift, die auch in Bibliotheken erhältlich ist. Zuvor war sie mehr Informationsblatt zu Ausstellungen und zum Studium an der Tainan National University of the Arts.

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»Es besteht eine enge Beziehung zwischen den 80er Jahren und dem Zeitgenössischen, die recht eindeutig erkennbar ist: Die Pluralisierung der Gesellschaft, das Aufkommen der Opposition in der Politik, die vielfältigen Haltungen der Intellektuellen – all das beginnt in den 80er Jahren. Aber tatsächlich liegt der Ausgangspunkt des internationalen Standpunkt Taiwans (diese sowohl bestehende und gleichzeitig nicht bestehende Besonderheit, die den Standpunkt prägt) – die Arbeitsteilung, die Spannung zwischen Wissen und Macht, der selbstreflexive Blick von Kunst und Literatur im globalen Kapitalismus – in den 70er Jahren. Doch es ist nicht so einfach unseren Bezug zu den 70er Jahren zu definieren.«86 Weiter ist diese Ausgabe der Zeitschrift ACT (und somit der Text) eingebettet in eine interdisziplinäre Vorlesung und Vortragsreihe, die Gong Jow-jiun, Chiang Po-shin und Sing Song-Yong 孫松榮 im Sommersemester 2012 gemeinsam an der Tainan National University of the Arts hielten und in der Vorträge von bedeutenden Theoretikern, Kunsthistorikern und Künstlern gehalten wurden, die zum Teil in den 1970er Jahren aktiv die Kunst- und Kulturszene gestaltet hatten (wie beispielsweise Zhang Zhaotang 張照堂, Wang Molin, Gao Zhongli 高重黎 oder Hsieh Lifa) oder die, wie die Bilder-Such-Truppe um Chen Ruihua und Lin Liyun, in der Forschung zu den 1970er Jahren und deren Bedeutung für Taiwans Selbstverständnis eine wichtige Rolle spielen. So steht diese Ausgabe der Zeitschrift ACT als eine Art Zusammenfassung der Forschung des Semesters, die darauf abzielte, in der »Nicht-ArchivGesellschaft« (0.3)87 archivarisch und archäologisch die Geschehnisse der 70er Jahre in Taiwans Kunstszene aufzuarbeiten. Damit reiht sich die forschende Arbeit zur Kunst Taiwans der 70er Jahre ein in die aufarbeitende Forschung und verbreitende Arbeit zur in weiten Teilen unerforschten und unbekannten Kunstgeschichte Taiwans, die in der zeitgenössischen Kunstszene Taiwans einen wichtigen Stellenwert zugeschrieben bekommt: Ausstellungen von Künstlern der japanischen Besatzungszeit – wie beispielsweise Chen Cheng-po, Yen Shui-Long 顏水龍, Lin Yu-shan 林玉山 – sind nahezu durchgängig in einem der großen Museen Taiwans zu sehen.88 Doch weite Teile dieser aufarbeitenden Kunstgeschichtsschreibung sind – wie auch in Gongs Text zum Vorschein kommt – stark geprägt von erzählenden Momenten, die Stereotype und Vorannahmen weitertragen und festigen. Es wird hier eine Weise der Erzählung fortgetragen, die sehr oberf lächlich entlang an gewonnenen Preisen und den offiziellen 86 Li Hongqiong李鴻瓊; Chiang Po-shin 蔣伯欣, 70 niandai zai zhongjian. Taiwan houxiang de jie•fuxing 七 零年代在中間. 台灣後像的解•賦形 [1970s in the Middle: The (De)Figuration of Taiwanʼs Afterimages], in: ACT Nr. 51, 7/2012, S. 4-5, S. 5. 87 Die in den Analysen zitierten Textteile der Übersetzungen werden nicht jedes Mal als aus den Übersetzungen zitiert mit Fußnote versehen. Zitate, die also in den Analysen stehen, sind, soweit nicht anders vermerkt, den jeweils diskutierten Texten entnommen, wobei die konkrete Stelle durch die Nummerierung auffindbar ist: 0.3 verweist also auf Satz 3 im Anfangsabsatz, der vor der durch Gong vorgenommenen Durchnummerierung der Unterkapitel steht. 88 Chen Cheng-po wurden alleine im Jahr 2012 drei umfangreiche Einzelausstellungen gewidmet, zwei davon in Taiwans großen Museen, dem Taipei Fine Arts Museum (Xingguo jiangnan – Chen Chengpo yishu tansuo licheng 行過江南 – 陳澄波藝術探索歷程 [Journey through Jiangnan – A pivotal moment in Chen Cheng-poʼs artistic quest], 18.2.2012-13.5.2012) und dem Kaohsiung Museum of Fine Arts (Qieqie guxiang qing. Chen Chengpo jinianzhan 切切故鄉情.陳澄波紀念展 [Nostalgia in the Vast Universe: Commemorative Exhibition of Chen Cheng-po], 22.10.2011-28.2.2012).

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Ausstellungen geschieht, wie es Hsieh Lifa in seiner von Gong zitierten Selbstkritik schon 1991 bekannte.89 Besonders die bereits erwähnten umfassenden Publikationen A History of Fine Arts in Taiwan (2009) und History of fine art in postwar Taiwan (2013) des in der Kunstszene Taiwans sehr präsenten Kunsthistorikers Hsiao Chong-ray stellen eine solche erzählende, Vervollständigung anstrebende Aufarbeitung von Quellen dar, die in einer Art Stolz auf die Errungenschaften Taiwans vorgetragen werden: Von einem »unvergleichbaren Stolz und freudigen Erregtheit« angesichts einer Form von Kunst und Musik der Ureinwohner, die im Heute »nun nicht mehr als das von den ›Anderen‹ Kommende betrachtet wird, sondern als ›Unseres‹, als von diesem Stück Erde kommend, verstanden wird«, schreibt Hsiao im Nachwort von A History of Fine Arts in Taiwan, das er explizit als eine solche Vervollständigung der Forschung sieht.90 Diese Form des Stolzes auf die kulturellen Errungenschaften eines nun explizit geografisch definierten Taiwans kommt denn auch in jenen Ausstellungen der Künstler zur japanischen Besatzungszeit zum Ausdruck, die den Bezug auf dieses geografische Taiwan als in ihrer kulturellen Diversität reiche Heimat betonen.91 Die Kunstgeschichte Taiwans, die so erzählt wird, wird als eine in sich geschlossene und selbstreferentielle geschrieben. Demgegenüber ist Gongs Ansatz einer, der in einer diskursiv die bisherigen Ansätze aufarbeitenden Geste fragt, welchen Platz die moderne Kunst Taiwans im Globalen haben kann und wie sie angesichts der vielfältigen Ansätze einer Kunstgeschichtsschreibung und angesichts der vielen Verf lechtungen überhaupt definiert werden kann. In diesem Kontext muss beispielsweise auch die die Kunst der 80er Jahre aufarbeitende Ausstellung When Spaces became Events92, kuratiert von Wang Pinhua, im Kaohsiung Museum of Fine Arts im November 2012 gesehen werden, ebenso das dreijährige Forschungsprojekt der Spring Foundation, das die Aufarbeitung der zeitge89 Hsieh Lifa, »Qishi niandai zhengzhi shiguan de yishu jianyan – ›riju shidai taiwan meishu yundongshi‹ gaibanxu« 七十年代政治史觀的藝術檢驗 – ›日據時代臺灣美術運動史‹ 改版序 [Vorwort zur überarbeiteten Ausgabe der ›Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung‹ – Eine von der Kunst ausgehende Betrachtung der politischen Geschichtsschreibung der 70er Jahre], in: Riju shidai taiwan meishu yundongshi 日據時代臺灣美術運動史 [Geschichte der Bewegung der Kunst in Taiwan zur Zeit der japanischen Kolonisierung], Taipei 1992, S. 3. 90 Hsiao, Taiwan meishu shigang, S. 526. 91 Als Beispiel seien neben den oben genannten Ausstellungen Chen Cheng-pos auch die Ausstellung Passing on a Lasting Legacy: Paintings by Lin Yu-shan (Dianfan chuanyi – Lin Yushan huihua yishu tezhan 典範傳移 – 林玉山繪畫藝術特展) im National Taiwan Museum of Fine Arts vom 24.3.-1.7.2012, die Ausstellung The Public Spirit. Beauty in the Making. Shui-Long Yen 走進公眾. 美化台灣. 顏水龍 (12.3.1126.2.12 im TFAM), außerdem die Ausstellung Unique Vision. Highlights from the National Taiwan Museum of Fine Arts Collection (Wu shuang. Guancang jingpin chang she zhan 無雙. 館藏精品常設展) genannt. Der Einbezug der Ureinwohner Taiwans in die Erzählung Taiwans findet auch in vielen Ausstellungen statt, wo diese als »wirklich von diesem Stück Erde kommend« einer ähnlichen Rhetorik wie der Hsiao Chong-rays, als wichtiger und besonderer Teil des heutigen Taiwans einverleibt werden. Als Beispiele sind zu nennen: Naruwan. Life finds a way. Taiwan Indigenous Artists Exhibition 2012 (Na lu hen hui wan. Di san jie yuanzhumin yishu gongzuozhe zhucun jihua lianzhan 那路很會彎. 第三屆原住民藝術工作者 駐村計畫聯展) (17.3.2012-27.5.2012 im Kaohsiung Museum of Fine Arts); außerdem Mountain Winds and Ocean Waves: Contemporary Expressions of Austronesian Artists in Taiwan (Shanfeng yu hailang. Taiwan nandao xitong yishujia de dangdai biaoxian 山風與海浪. 台灣南島系統藝術家的當代表現) (auf der Kunstmesse Art Taipei 2012). 92 Chinesischer Originaltitel: Dang kongjian chengwei shijian 當空間成為事件.

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nössischen Kunstgeschichte der 70er und 80er Jahre anstrebt und von Chiang Po-shin geleitet wurde. Auch die Aufarbeitung des Werkes des in Amerika lebenden Künstlers Tehching Hsieh, der auf der 57. Venedig-Biennale im Taiwan-Pavillon gezeigt wurde, für einen taiwanischen Rezipientenkreis und im Kontext der taiwanischen Kunstszene, steht in diesem Kontext. Die Übersetzung von Adrian Heathfields Out of Now: The Lifeworks of Tehching Hsieh ins Chinesische durch Gong Jow-jiun93 und die Frage Gongs (die zu Beginn dieser Untersuchung dargelegt wurde), ob man Tehching Hsieh als Performance-Künstler bezeichnen kann, sind eng mit der im hier behandelten Text gestellten Frage nach dem ›Modernismus in der Kunst Taiwans‹ verbunden. Die diskursive Einbettung und das Aufarbeiten von Kontexten und Verf lechtungen, die hier geleistet werden, unterscheiden diesen Strang der Aufarbeitung der Kunstgeschichte Taiwans von dem rein erzählenden, der eng mit jenem sich zu Beginn der 1990er zeigenden »Geodeterminismus«, wie es Chen schreibt, zusammenhängt (und worin sich die Kritik Chens und die Gongs als miteinander verbunden zeigen). Eine wichtige Rolle dieser Ref lexion, die – mit Blick auf die Akteure – eng mit der Tainan National University of the Arts verbunden ist, spielt auch Chen Kuan-Hsings Ansatz, der auch in Gongs Text angesprochen wird: ›Indien als Methode‹ (oder ›Asien als Methode‹, wie sein 2010 veröffentlichtes Buch mit dem Untertitel Toward Deimperialization heißt) bedeutet, wissenschaftliche sowie künstlerische Diskussionen im asiatischen Kontext zu sehen und zu debattieren, sowie aus den historischen und aktuellen Verf lechtungen intellektuelle Impulse zu ziehen, anstatt starr auf dem einem – wie Gong Chen Kuan-Hsing zitiert – »Zauberspruch« (1.12) gleichenden Referenzrahmen Euro-Amerika zu beharren. Weiter sind Chen Kuan-Hsings Bemühungen, die Postcolonial Studies im chinesischsprachigen Kontext bekannt zu machen, zu verzeichnen: In der Kooperation mit festlandchinesischen und indischen Wissenschaftlern arbeitet er an einer Serie von Publikationen mit übersetzten Texten von verschiedenen indischen, den Postcolonial Studies nahestehenden Theoretikern innerhalb des seit 2010 bestehenden Projekts West Heavens. Dieser alte chinesisch-buddhistische Name für Indien – das im Westen liegende Paradies – spielt auf die alten Verbindungen zwischen China und Indien an und auf die früheren, China zutiefst beeinf lussende Bewegung kultureller Übersetzung von Indien nach China. Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass »[a]t this age of global change it is critical for China to remind ourselves that in our imagination of the world there is not just the West, but also the ›West Heavens‹.«94 So sucht die zeitgenössische Kunstszene, in die Gong sich einordnet, auch nach einer ref lektierten Aufarbeitung der Quellen und Geschichten. Es kommt in diesem Umfeld der Wille der Ref lexion der Kunstgeschichte Taiwans und deren Beziehung zum Heute – zu den Fragen, die sich heute im globalisierten Kunstdiskurs stellen – sowie zur Geschichte Asiens stark zum Ausdruck. Doch trotz zunehmender Kooperationen mit Japan, Festlandchina, Korea oder aber Indien ist es nach wie vor der Westen, Euro-Amerika, der der Kunstszene, aber vor allem der Wissenschaft als Hauptreferenzpunkt dient. Besonders deutlich wird das in der oben erwähnten Rolle, die ein Auslandsstudium im Westen für die Wissenschaftler in der Kunstszene Taiwans nach 93 Adrian Heathfields Out Of Now: The Lifeworks Of Tehching Hsieh (London 2009) erschien 2012 in der Übersetzung von Gong mit dem Titel Xianzai zhi wai: Xie Deqing shengming zuopin 現在之外: 謝德慶 生命作品 (Taipei 2012). 94 Vgl. »About us« auf der Website des Projekts: http://westheavens.net/en/aboutusen, Stand: 13.6.2016.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

wie vor hat, was die so erlernten wissenschaftlichen Positionen, die dann an Taiwans Universitäten gelehrt und weitergegeben werden, prägt.95

2.3 Zur zeitgenössischen Kunstszene Die Diskussion um die Kunstgeschichte Taiwans steht in einer vernetzten, globalen Welt, in der Kunstschaffen als global gleichzeitig geschehend angesehen wird, was sich vor allem an weltweit ähnliche Anforderungen stellenden Biennalen und Ausstellungen zeitgenössischer Kunst zeigt. Während zu Beginn der 1990er – also in der Zeit, aus der Chen Chuan-xings Text stammt – Ausstellungen gerade erst beginnen, globale Events zu werden, ist nun, in den 2010er Jahren, die Bewegung im globalen Kontext von Werken auf Ausstellungen, aber auch von Künstlern in Artist Residencies und von Wissenschaftlern auf Konferenzen eine Selbstverständlichkeit. Nach der 1992 in Kassel parallel zur documenta 9 stattgefundenen Ausstellung Begegnung mit den Anderen – in der die Kunst Taiwans explizit als taiwanische, nicht als chinesische, und damit als national eingeordnet gezeigt wurde –, sind die Einrichtung eines Taiwan-Pavillons auf der Venedig-Biennale seit 1995 und die in den späten 90er Jahren hinzukommende Ausrichtung der Taipei-Biennale wichtige Schritte einer Präsentation und Etablierung Taiwans als ›Kunstnation‹ im globalen Kontext. Auch die Wanderausstellung Taiwan: Kunst heute, die 1996 in verschiedenen Städten in Deutschland zu sehen war, wurde vom städtischen Taipei Fine Arts Museum als Gruppenausstellung zusammengestellt und ist damit auch als offizielle staatliche Präsentation zu sehen, als ›Softpower‹ im politisch isolierten Staat. Die Kunst Taiwans begann somit in den 1990er Jahren als dezidiert ›taiwanischer Ausdruck‹ einer globalen Rezeption ausgesetzt zu werden. Dass das Taipei Fine Arts Museum (TFAM) im Schaffen dieser Vorstellung der künstlerischen Identität eine tragende Rolle spielte (und als Ausrichter des Beitrags Taiwans auf der Venedig-Biennale weiterhin spielt), merkt Sophie McIntyre an: »The TFAM played a critical role in the legitimization and advancement of this identity discourse and the TFAM Director, Chang Chen-yu (張振宇), who was directly appointed by the DPP, was a renowned advocate of Taiwan independence. During his short tenure, lasting a mere nine months (September 1995-June 1996), Chang initiated the landmark exhibition ›Quest for Identity‹ (台灣藝術主體), which was the first curated Taipei Biennial of art held in 1996 and which marked a critical turning point in Taiwanʼs identity discourse. In this exhibition, which featured works exclusively by artists from Taiwan, the visual image was mobilized in ways that helped to communicate and legitimize Taiwanʼs search for identity which, as the title suggests, was the central curatorial rationale underpinning this exhibition.«96

95 Angemerkt soll hier werden, dass hierdurch das (Sprachen-)Wissen und damit die Übersetzungen zeitgenössischer Texte aus westlichen Sprachen zahlreich und vielfältig sind und eine Anhäufung von konkretem Wissen geschieht, wie es so in Europa in Bezug auf ostasiatische Texte absolut nicht der Fall ist. Dieses Wissen ist aber sehr stark einseitig auf den Westen ausgerichtet. 96 Sophie McIntyre, Re-Orienting Taiwan: The China Factor in Contemporary Art from Taiwan; online verfügbar unter: www.aaa.org.hk/Diaaalogue/Details/889, Stand: 12.5.2017.

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Eine solche Selbstdarstellung ist nicht nur in den 1990er Jahren zu beobachten, sondern auch nach der Jahrtausendwende. Als repräsentative Gruppenausstellungen, die das ›Taiwan‹ im Namen tragen und klar das Ziel verfolgen, ein kulturell-definiertes ›Taiwan‹ als Nation zu präsentieren, sind vor allem die Ausstellungen Bubble Tea: Art of Taiwan and its contemporary mutations, 2008 in Brno, Tschechien, und die Ausstellung Taiwan Calling, 2011 im Ludwig Museum in Budapest, zu nennen. Auch in der aktuelleren Präsentation zeigt sich, dass Außen- und Innendarstellung einer künstlerischen Identität sich kaum unterscheiden: die in Kapitel II schon erwähnte Ausstellung Time Games: Contemporary Appropriations of the Past ist ein prominentes Beispiel einer Ausstellung, die 2012 im TFAM gezeigt wurde. Dass das Bild, das so von ›Taiwan‹ als Kunstnation gezeichnet wird, stark popkulturell geprägt ist, zeigt sich besonders an der Titelwahl ›Bubble Tea‹. Diese Popkultur wird dann verbunden mit Symbolen eines alten, tief verwurzelten Eigenen, wie weiter an der Darstellung als ›contemporary appropriations of the past‹ deutlich wird. Wie sehr die Einbettung ins Globale im aus internationaler Perspektive kleinen Taiwan Fragen der Selbstpräsentation und -darstellung hervorruft, zeigt ein Vorfall im Zusammenhang der Venedig-Biennale 2013, als die Kuratorin Esther Lu (Lü Dairu 呂岱如) im (seit 2001, als die Volksrepublik China das erste Mal an der VenedigBiennale teilnahm, inoffiziellen) Taiwan-Pavillon hauptsächlich nicht-taiwanische Künstler ausstellte: Die Kunstszene Taiwans protestierte und forderte vom Taipei Fine Arts Museum – das als Institution eine Jury einberuft, die das Kuratorium des Taiwan-Pavillons der Venedig-Biennale wählt – eine erneute Auswahl. Taiwans Künstler seien in der Welt unterrepräsentiert, Taiwan könne es sich – im Gegensatz beispielsweise zu Deutschland, das auf der 55. Biennale 2013 ebenfalls nur nicht-deutsche Künstler zeigte – nicht leisten, sich diese Chance, ausgestellt zu werden und Taiwans Kunst der Welt zu präsentieren, entgehen zu lassen.97 Weiter wurde vor allem kritisiert, dass Esther Lu in England und Schweden studiert hatte und sich nur unzureichend in Taiwans Kunstszene auskenne, außerdem eine Art zu kuratieren mitbringe, die nicht zu Taiwan passe, und von einer Jury ausgesucht worden sei, die sich selbst einseitig stark an Diskursen, die in der Kunstszene des Westens aktuell seien,

97 Vgl. Lin Yixiu 林怡秀 (transkribiert): 2013 weinisi shuangnianzhan taiwanguan yiti taolunhui 2013威尼 斯雙年展台灣館議題討論會 [Symposium zum Problem des Taiwan-Pavillons auf der VenedigBiennale 2013], in: Artco (jinyishu 今藝術) Nr. 244, 01/2013, S. 88-89. Die Dokumentation der Diskussion im TFAM am 9.12.2012 von 13.30-16:30 Uhr erschien in dieser Artco-Ausgabe im Rahmen eines umfassenden Spezials zur Debatte um den Beitrag Taiwans zur Venedig-Biennale. Verschiedene Stimmen der Kunstszene Taiwans kamen hier zu Wort. Zu den wenigen Ausstellungsmöglichkeiten taiwanischer Künstler international ist die Masterarbeit der Kunsthistorikerin Chang Yang 張揚 zu nennen: Ihre Forschung zur künstlerischen Beziehung zwischen China und Taiwan ergab, dass sehr viele taiwanische Künstler international bewusst als chinesische Künstler auftreten, um in den global sehr populären Ausstellungen chinesischer zeitgenössischer Kunst vertreten sein zu können. (Gespräch mit Chang Yang am 18.8.2012 in Danshui, Taiwan, sowie ihre Masterarbeit mit dem Titel Bianjie liudong: taiwan dangdai yishu gongzuozhe lüju zhongguo de shenfen rentong yanjiu 跨界流動: 台灣當代藝術工作者旅居中國的身分認同研究 [Transnational Mobility: The Identity of Taiwanese Contemporary Artists in China] an der Tainan National University of the Arts, betreut von Chiang Po-shin, 2012. Nach Anmeldung zugänglich in der Nationalen Bibliothek Taiwans unter: http://hdl.handle.net/11296/ndltd/12882569688182151910, Stand: 10.9.17.)

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

orientiere.98 Den Ansatz ihrer Ausstellung This is not a Taiwan Pavilion, der den Blick der Kunstszene Taiwans auf den Taiwan-Pavillon als Nationen-Pavillon dekonstruiert, beschreibt Lu folgendermaßen: »This project began with simple curiosity about how to rehearse a speech act in an imagined pavilion in the context of the Venice Biennale, an action that would reflect both the situated conditions and external institutions of the Taiwan Pavilion as a practice of imagination. It attempts to investigate the possibilities of human coexistence between various institutions in contemporary society.«99 So unterscheidet sich dieser Ansatz stark von den Beiträgen Taiwans in den Jahren zuvor, als der Beitrag Taiwans künstlerische Arbeiten zeigte, die sich in diejenige Erzählung eines ›Taiwans‹ einfügen lassen, die seit den beginnenden 1990er Jahren zunehmend im Globalen die kulturell definierte Nation ›Taiwan‹ zeigt, und die – so die taiwanische Sicht – die internationale Kunstwelt veranlasst, »to notice and value the development of contemporary art in Taiwan« und einen »important space for linking contemporary Taiwanese art and the international art scene«100 schafft. Die Debatte um den Taiwan-Pavillon auf der Venedig-Biennale 2013 bildet grob zwei Strömungen der zeitgenössischen Kunstszene Taiwans nach 2010 exemplarisch ab, die sich beide um die Frage drehen, wie ›Taiwan‹ heute im globalen, aber auch im lokalen Kunstdiskurs gesehen und dargestellt werden sollte: Einerseits die Haltung, die nach einem Taiwan sucht, dass eine eigenständige und in sich geschlossene Einheit im Globalen bildet, die zusammenhängt mit der erzählenden Aufarbeitung der Kunstgeschichte Taiwans und eine Fortsetzung der Suche nach dem Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans darstellt. Andererseits die diskursive Ref lexion dessen, was Taiwans Kunst im Globalen sein kann, welchen Platz sie einnehmen kann angesichts der globalen Asymmetrie, ohne einfach die Erwartungen des globalen Kunstdiskurses einer popkulturellen Aneignung der Vergangenheit als additives Hybrid zu erfüllen.101 98 Vgl. Lin Yixiu, 2013 weinisi shuangnianzhan taiwanguan yiti taolunhui. 99 Esther Lu, »Introduction«, in: Dies. (Hg.), This is not a Taiwan Pavilion. 55th international art exhibition – la Biennale di Venezia. Taipei 2003. S. 8-9, S. 9. 100 Huang Hai-ming, »Preface«, in: Esther Lu, This is not a Taiwan Pavilion, S. 6-7, S. 6. 101 Auch an der Diskussion der Kunstszene Taiwans um die von Anselm Franke kuratierte Taipei Biennale 2012 zeigt sich die Dringlichkeit, mit der die Frage, welche Kunst in Taiwan, für Taiwan und von Taiwan passend und möglich ist, diskutiert wird. Die mit Modern Monsters/Death and Life of Fiction betitelte Ausstellung ähnelte in der die Geschichte und die Geschichtsschreibung, das Koloniale und die Erfindung der Tradition befragenden Ausrichtung stark einigen (Groß)Ausstellungen, wie sie in Europa seit der postkolonialen documenta 11 (2002) sich allmählich etablierte – insbesondere die 2012er Berlin Biennale sind zu nennen, wie auch Ausstellungen im Haus der Kulturen der Welt, wo Franke nach der Taipei Biennale 2012 als Kurator zu arbeiten begann. Franke ist schon mit der vorher von ihm kuratierten Ausstellung zum Animismus eng mit dieser Szene verbunden und trug diese Idee nun nach Taiwan. In Auseinandersetzung mit lokalen Wissenschaftlern und Künstlern wurde ihm nahegelegt, das Thema des Animismus nicht auf Taiwan zu übertragen, weil in Taiwan die Vorstellung des Lebendigen und Belebten eine ist, die mit der Moderne Hand in Hand geht und sich nicht, wie im Westen, nahezu ausschließt. Die Taipei Biennale 2012 trug jedoch unverkennbar Züge dieses einfachen Übertragens einer Idee an einen völlig fremden Ort und dem der Idee folgenden Einbezug lokaler Künstler. Gerade im Versuch, das ›Koloniale‹ zu reflektieren, erschien die Ausstellung als bestimmte Diskurse und westliche Vorstellungen von Kunst und Moderne blind

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Innerhalb dieser Ebenen bewegt sich die Kunstszene in der Gong Jow-jiun seinen Text schreibt. Dass diese Ebenen und Haltungen nicht fest sind, sondern zunehmend f ließend und hier kaum als zwei sich gegenüberstehende Lager beschrieben werden können, zeigt sich beispielsweise an der Rolle des Taipei Fine Arts Museum, das einerseits die sehr kritische Taipei Biennale 2012 austrug und Esther Lus Vorschlag für die Venedig-Biennale förderte und andererseits in jener extrem visuell orientierten Ausstellung Time Games: Contemporary Appropriations of the Past ein ›echtes‹ Taiwan zu zeigen suchte. Auch die Akteure überschneiden sich: So hat beispielsweise der Künstler Chen Chieh-jen eine sehr kritische Meinung von der sich popkulturell inszenierenden Kunstszene Taiwans, seine globale soziale Missstände und historische Vorfälle bearbeitenden Videoarbeiten werden jedoch regelmäßig als repräsentative Stimme Taiwans in Ausstellungen neben popkulturellen Arbeiten gezeigt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass Gongs Text – wenn er auch vordergründig kein zeitgenössisches Thema behandelt – doch zutiefst eingebettet ist in die aktuellen, zum Teil widersprüchlichen Diskussionen um die Frage nach der möglichen Rolle der Kunst Taiwans im Globalen.

3. Analyse 3.1 Einführung und diskursive Verortung der Diskussionen des Textes Ausgangspunkt des Textes sind die in den 1960er bis 1980er Jahren entstandenen Arbeiten des Künstlers Wu Yaozhong und die Tatsache, dass dieser 2012 in Taiwan wieder ins Bewusstsein der Kunstwelt gelangte, da eine kleine Gruppe Kunsthistoriker seine verschollenen Arbeiten aufgespürt hatte und sie in verschiedenen Städten und Kontexten Taiwans ausstellte und in Diskussionen, Vorträgen und Buchpublikationen einem größeren Publikum zugänglich machte. Ausgehend von diesem Ereignis verhandelt Gong Jow-jiun unter der Frage, wann der Modernismus in der Kunst Taiwans auf kam, was ein ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ sein kann und wie dieser verstanden werden muss. Gong sieht seinen Text selbst als einen versuchenden Blick auf die Frage nach der modernen Kunst Taiwans und als einen alternativen Blick, abseits der Standardmeinung der Kunstszene Taiwans.102 So schätzt er die suchende Arbeit Lin Liyuns, Chen Ruihuas und Su Shufens hoch, die er als »Operation Kritik« (0.19) bezeichnet – eine Arbeit, die einen veränübertragend. In der Folge wurde die Taipei Biennale auch kontrovers diskutiert: Während weite Teile der Kunstszene sie als ›kolonial‹ bezeichneten und auch beklagt wurde, dass die wirkliche Kultur Taiwans keinen Platz habe, so wurde sie von anderen Teilen begeistert aufgenommen, die unterstrichen, dass hier endlich nicht nur die popkulturellen Künstler Taiwans Raum fänden, sondern eine politische, reflektierende Kunst, die nicht nur ästhetisch definiert sei, Raum gebe, zu reflektieren, wie Kunst in Taiwan gedacht werden könne. Eine Kritik am reinen Übertragen bei gleichzeitig fehlender Reflexion der Kurator-Rolle veröffentlichte ich unter dem Titel Ouzhouxing de fanxing yu mangdian – guanyu ben jie taibei shuangnianzhan de yixie xiangfa yu piping 歐洲性的反省與盲點 – 關於本屆台北雙年展的一些想法與批評 [Die Reflexion und die blinden Flecken Europas – kritische Gedanken zur diesjährigen Taipei Biennale], in: ACT Nr. 53, 01.2013, S. 98-101. 102 Gespräch mit Gong am 23.10.2015 an der Taipei University of the Arts, Guandu, Taipei.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

derten oder erweiterten Blick zurück »nach links« (0.13) eröffnen kann und eine Art Archivarbeit darstellt in der »Nicht-Archiv-Gesellschaft« (0.3) (als welche der Künstler Chen Chieh-jen Taiwan bezeichnet). Jedoch kritisiert Gong die Herangehensweise an die Werke als feststehenden stilistischen Analysemustern folgend und somit die Kunstgeschichtsschreibung Taiwans nicht ref lektierend, sondern nur reproduzierend. Gongs Text stellt in Bezug zu dieser Kritik eine erweiterte Analyse der Bedeutung der Nutzung der Arbeiten und deren (Entstehungs-)Geschichte als Form eines Modernismus der Kunst Taiwans, der nicht rein stilistisch zu verstehen ist, dar. In diesem Zusammenhang ist besonderes Augenmerk darauf zu richten, dass Gong am Ende des Textes die Fragen, die Chen Chuan-xing im Vorwort der Melancholischen Dokumente zu Beginn der 1990er stellte, erneut aufwirft und aus seiner erarbeiteten Perspektive beantwortet. Durch das erneute Zur-Disposition-Stellen der nunmehr über 20 Jahre alten Fragen wird ihre Aktualität manifestiert und eine Verbindung geschaffen zwischen den verschiedenen Kontexten in denen die Fragen zu verorten sind: die Diskussion um ein Taiwan-Bewusstsein und die Einordnung und Betrachtung der Entwicklung der 80er Jahre durch Chen zu Beginn der 90er Jahre und die Diskussion um die Stellung der Kunstszene Taiwans in der Welt, innerhalb der Gong gesehen werden kann.103 Wu Yaozhongs Arbeiten werden damit explizit in einem weiteren Kontext als dem kunsthistorisch abgeschlossenen verortet. Die Fragen, die sich durch die Betrachtung der Werke und ihrer Umgebung ergeben, werden als für die heutige Diskussion relevant dargestellt. Die Frage nach einem ›Modernismus der Kunst Taiwans‹, die Gong stellt, wird explizit als nicht neu, sondern als schon lange in den Diskussionen um Taiwans Kunst (unterschwellig) präsent, gezeigt. Damit stellt Gongs Text ein Aufarbeiten des inhärenten kritischen Denkens der Arbeiten Wu Yaozhongs dar. Gong nutzt somit den Fakt, dass die fast vergessenen Arbeiten Wu Yaozhongs durch die Arbeit der Bilder-Such-Truppe (erneut) in die taiwanische Diskussion geworfen wurden, um die Art, wie in Taiwan moderne Kunst betrachtet und kunsthistorisch eingeordnet wird, zu be- und hinterfragen. Er befragt also auch die zeitliche Verschiebung zwischen dem Entstehungszeitraum – den 70er Jahren – und dem Zeitpunkt, in dem die Diskussion um die Arbeiten auf kam, also 2012. Dadurch wird deutlich, dass die hier zu findende zeitliche Verschiebung von Gong dezidiert nicht als eine Vervollständigung des nicht-vorhandenen Archivs verstanden wird, sondern vielmehr als ein Raum für die Ref lexion des Verständnisses von (Kunst-)Geschichtsschreibung. Dadurch, dass Gong sich klar über eine kunstgeschichtliche Einbettung hinausbewegt, ist es weniger Kunstgeschichtsschreibung selbst, als die Betrachtung der Kunstgeschichtsschreibung, die er fragend vornimmt und die so zu einer »geistigen Bewegung« (0.4; 0.13; 2.7; u.a.) wird, die Bedeutung hat für eine Diskussion der Weltgeschichte im Heute. Wenn Gong also schreibt, dass »der Weg, heute Wu Yaozhongs Bilder zu suchen, schon selbst eine Art des Ausdrucks von ›Indien als Methode‹ ist« (1.19), so des103 In seinem Text Zeitverzögerung und Mikrogefühle. Zwei in die Zukunft reichende ästhetische Vorschläge der 1980er Jahre spricht Gong von der »zukunftsweisenden Bedeutung« (weilaixing 未來性) der Gedanken Chen Chuan-xings (vgl. Gong Jow-jiun, Shiyan yu wei ganjue, S. 48; siehe auch Kap. IV, sowie V.3.5). Gong schreibt hinter ›weilaixing‹ in Klammern ›futurity‹ auf Englisch und weist den Begriff damit als Konzept aus. Er könnte damit auf Homi Bhabha verweisen, der im Vorwort zur englischen Neuausgabe von Frantz Fanons The Wretched of the Earth von dessen ›futurity‹ spricht, womit eine Referenz auf postkoloniale Überlegungen in Gongs Gedanken gegeben wäre.

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halb, weil hiermit ein Blick auf Taiwans (kunsthistorische) Entwicklung gewagt wird, der abseits der Standarderzählung einen Blick »nach links zurück« (0.13) wirft und somit eine in Taiwan aus politischen Gründen marginalisierte Erzählung (den Marxismus) einbezieht. Der Text ist damit auch ein Plädoyer dafür zu schauen, welche Momente in der normierten Kunstgeschichtserzählung Taiwans nicht gesehen werden, um diese in einem zeitgenössischen Kontext zu diskutieren, ihre Bedeutung für zeitgenössische Probleme zu klären und sie für die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Problemen fruchtbar zu machen. Gong schreibt zu Beginn des Textes: »Wenn die Dritte Welt, der es an Akten, Dokumenten und Archiven mangelt, Kunstgeschichte und Kunstkritik schreiben möchte, so ist das, wie wenn man die sich noch nie gezeigte Bewegungsbahn einer geistigen Bewegung skizziert. Bis hin zu dem Punkt, da der Schreibende am eigenen Leib eine geistige, schaffende Suchbewegung erfahren muss. Auf diese Weise erst kann es möglich sein, dass die so lange Zeit versunkenen historischen Netze des Denkens in einer zeitgenössischen Kontur und mit einem zeitgenössischen Antlitz wieder auftauchen.« (0.4ff) Zum Ausdruck kommt hier auch, dass Wu Yaozhongs kritische Auseinandersetzung mit Kunst in den 70er Jahren noch nicht (vornehmlich) eine mit der ›Dritten Welt‹ und der Rolle des Westens im globalen Kunstmarkt war, sondern der Versuch einer sozialistischen künstlerischen Praxis, die sich mit der politischen Praxis und Orientierung der Kuomintang auseinandersetzt und sich dagegen richtet. Gong hebt also Wu Yaozhongs Fragen in einen zeitgenössischen Rahmen, in dem diese auf die Lücken verweisen, die die erlaubten Diskurse im Schreiben und in der Betrachtung von Kunstgeschichte hervorbringen. Es wird also in diesem Text vor allem diskutiert, wie eine taiwanische Kunstgeschichte geschrieben und gelesen werden kann, die eine klare und selbstbewusste Position in der Weltgeschichte einnehmen kann, ohne in die Falle einer nationalistisch geprägten Verteidigung und Abgrenzung zu tappen. In diesem Kontext steht die im Text präsente Frage nach dem Referenzrahmen: Vor allem die von Chen Kuan-Hsing stark gemachte Ausrichtung auf ›Indien als Methode‹, also die bewusste Änderung der Blickrichtung vom ›als Zauberspruch geltenden‹ Europa nach Indien und damit auf die Postcolonial und Subaltern Studies, ist von Bedeutung. Diese Referenz auf die Postcolonial Studies ist für das Selbstverständnis des Textes, dessen Aufrufcharakter und aktivistischen Nuancen stark hervorstehen, wichtig. Gong plädiert also für eine erneute Definition des Modernismus der Kunst in Taiwan aus der Perspektive der »postkolonialen Situation der Dritten Welt« (1.33). Die im Text diskutieren Fragen fasst Gong in der (Titel-)Frage »Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf?«104 zusammen – eine Frage, die auf verschiedene 104 Gong schlägt den englischen Titel When was Modernism in Taiwanese Art? vor, mit dem er auf Geeta Kapurs wichtigen Text When was Modernism in Indian Art? verweist (mit diesem Titel verweist Kapur selbst auf den Text When was Modernism? von Raymond Williams). Meine Übersetzung orientiert sich jedoch am chinesischen Original, da hier die Vorstellung einer andauernden Zeitlichkeit der Moderne mitschwingt, die in der Abgeschlossenheit eines Verständnisses von Wann war der Modernismus in Taiwans Kunst? nicht vorhanden ist. Es ist davon auszugehen, dass Gong die andauernde Zeitlichkeit in der Übersetzung betonen wollte, da er die bestehende Übersetzung Kapurs ins Festlandchinesische, die recht wörtlich übersetzt betitelt ist (Yindu yishu zhong de xiandaizhuyi shi he shi? 印度艺术中

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

Ebenen verweist: zunächst wird auf die zeitliche Dimension der Moderne und des Modernismus in der Kunst verwiesen (was auf eine konkrete Definition dessen, als was Moderne verstanden wird, verweist). Weiter ist die Frage nach dem ›Was‹ eines ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ impliziert. Durch das Hinzufügen der geografisch-diskursiven Bestimmung zur ursprünglichen Frage Williams‹ wird der ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ jedoch schon hier als in Bezug stehend gezeichnet. Die Suche nach einem ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ trägt damit weiter auch die Frage danach mit sich, über welche Parameter er definiert werden kann, und damit einhergehend auch die Frage, welche normativen Grundmuster dem Nachdenken über Moderne zugrunde liegen und wie damit umgegangen werden kann. So kommt besonders durch die Unabgeschlossenheit der Moderne, die in der Titelfrage mitschwingt, die Bedeutung der Frage für die heutige Diskussion zum Ausdruck.

3.2 Zum ›Wann‹ des Modernismus: Befragung der zeitlichen Verortung »[W]enn man von einer historisch geschlossenen diskursiven Perspektive den Ausdruck ›Taiwans Modernismus‹ benutzt, würde der Diskutierende sagen: Taiwans Modernismus ist schon beendet. Er fand sein Ende in einer Debatte um die Heimatbodenliteratur, die nicht qualifiziert ist, modern zu werden und die nicht in vollem Maße die Eigenschaften der Moderne besitzt. Der Modernismus gehört zu Ji Xian, Yu Guang-zhong, zur Gruppe der modernen Lyrik, er gehört zum Magazin Theater, er gehört Fifth Moon und Eastern Painting Group, dem Fotorealismus oder den Vertretern der Ästhetik des abstrakten Formalismus.« (1.36ff.) Gong legt hier die gängige Vorstellung der Kunstszene Taiwans dar, dass der Modernismus eine zeitlich einzugrenzende, abgeschlossene Epoche in der Kunstgeschichte ist, deren Ende und Beginn recht konkret verortet werden können oder dass zumindest der Versuch einer konkreten zeitlichen Eingrenzung ein seriöses Unterfangen ist.105 Eine Vorstellung von ›Modernismus‹ wird damit als zugrundeliegend aufgezeigt, 的现代主义是何时?) kannte, sich jedoch nicht auf diese beruft (er schreibt selbst, dass er sich aufs Englische beruft). Auch Kapurs und Williamsʼ Frage übersetzt Gong ins Chinesische als ›Wann kam der Modernismus (der Kunst Indiens) auf?‹ 105 Wie in Kapitel II dargestellt, ist die Vorstellung, ein Ende oder einen Anfang des Modernismus zeitlich (zumindest grob) zu definieren, auch in der westlichen Kunstgeschichte gängig. Dies scheint beispielsweise im Plädoyer Beltings, die hegemoniale Moderne zu vergessen und den Beginn der ›zeitgenössischen Kunst‹ im Globalen zu diskutieren, auf. Auch Arthur Dantos These des Endes der Kunst und seine Darstellung der Zeit der Moderne in der Kunst bis zu Andy Warhols Brillo-Boxen verweist auf ein formalistisches Modernismus-Verständnis, das gleichzeitig zeitlich klar zu definieren ist. (Zu dieser Kritik siehe auch: Michael Lüthy, »Das Ende wovon? Kunsthistorische Anmerkungen zu Dantos These vom Ende der Kunst«, in: Menke, Rebentisch (Hg.), Kunst. Fortschritt. Geschichte, Berlin 2006, S. 57-66.) Doch verweisen diese zwei Definitionen der Gegenwartskunst doch genau auf jene Problematik, mit der sich Gong auseinandersetzt: beginnt die Gegenwartskunst im westlichen Kunstdiskurs also schon in den 1960er Jahren, so beginnt sie im globalen Kontext erst 1989. Was aber geschieht mit der Kunst, die im nicht-westlichen Kontext in den Jahren dazwischen geschaffen wurde? Ein weiteres Beispiel einer solchen zeitlichen Festlegung stellt die Jahreskonferenz 2015 des Forums Transregionale Studien und der Max Weber Stiftung dar: Global Modernisms, vom 5.-7.11.2015 im Haus der Kulturen der Welt, datierte die Zeitspanne des Modernismus von 1905-1965. Wenn diese Datie-

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die – historisch abgeschlossen – als fest definierte Kategorie dient, sowohl zeitlich (50er/60er Jahre) als auch formal (experimentell, abstrakt, expressionistisch) und in Bezug auf die dem ›Modernismus‹ inhärente Geisteshaltung (avantgardistisch, nach dem Neuen strebend). Im Anschluss an die euro-amerikanische Definition zeigt sich in Taiwans Kunstszene als klar und fest definiert, was in der Kunst ›modern‹ und was ›nicht-modern‹ ist oder sein kann.106 Gong hinterfragt diesen in Taiwans Kunstdiskurs ständig reproduzierten Blick (wie sich in Gongs Diskussion wichtiger kunsthistorischer und -kritischer Positionen Taiwans zeigt) schon durch seine Fragestellung als abgeschlossen: Diese konterkariert eine Abgeschlossenheit, indem nach dem Auf kommen gefragt wird und damit die andauernde Bedeutung einer feststehenden Definition des Modernismus betont wird. Gong macht in seinem Text also schon von Anfang an klar, dass er die Debatte darum, was in der Kunst als ›modern‹ bezeichnet wird, nicht als historisch abgeschlossen sieht, sie bezieht sich nicht auf eine historisch geschlossene, formalistisch verstandene ›modernistische‹ Ausdrucksform des künstlerischen Schaffens, sondern ist nicht von der andauernden Auseinandersetzung mit der Bedeutung von ›Moderne‹ zu trennen. Modernismus ist damit nicht von der Geisteshaltung des Modern-Seins zu trennen und bezeichnet bei Gong nicht einfach einen zeitlich definierten Modernismus, dessen Diskussion im Rahmen der Kunstwissenschaft und -geschichte einzugrenzen wäre. Das Denken von ›Moderne‹ und die Vorstellung des ›Modern-Seins‹ müssen immer als Teil der Diskussion des ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ gedacht werden. Durch den klaren, wiederkehrenden Bezug der Frage nach dem ›Wann‹ des Modernismus der Kunst Taiwans auf die zeitgenössische Diskussion und auf die Frage nach der Position in der Weltgeschichte, wird die Diskussion um die Möglichkeit der Zugehörigkeit zu einer modernen Kunstgeschichte und damit des künstlerischen ›Modern-Seins‹ des Nicht-Westens als eine weiterhin relevante gezeichnet, deren Grundlagen Gong befragt. »The ›when‹ in the title of this essay is of course polemically placed. It refers to a period of self-reckoning locked in with a commitment to collective social change. It refers to the project of figuring subjectivity as a locus of potential consciousness. The when is a

rung auf der Konferenz zwar auch selbst von den Organisatoren kritisch befragt wurde, so sprach doch die insgesamt historische Ausrichtung eine deutliche Sprache. 106 Unter dem Begriff ›Modernismus‹ wird also hier zunächst die Vorstellung einer ›klassischen‹ oder ›ästhetischen Moderne‹ der Kunst verstanden und als Bezugspunkt für die Definition genutzt. Hier ist weiter anzumerken, dass Gong ›Modernismus‹/›Modernität‹/›Moderne‹ in Bezug auf Kunst quasi synonym verwendet und sich in der Nutzung des Begriffes ›Modernismus‹ auf Greenberg und auf den auf Greenberg verweisenden Gebrauch Kapurs bezieht (und damit eher auf den angelsächsischen Sprachgebrauch), während Gong in der Besprechung Foucaults von ›Moderne‹ und ›Modernität‹ spricht. Die Nutzung von ›Modernismus‹ scheint somit konkret auf die Greenbergʼsche formalistische Absolutheit des Modernismus anzuspielen, den dieser im Abstrakten Expressionismus gipfeln sieht, während ›Moderne‹ in der Kunst zwar ebenfalls formal verstanden wird, jedoch auf Foucaults Manet-Lesung verweist. Gong verwendet also Moderne/Modernität/Modernismus in Bezug auf Kunst nicht klar getrennt voneinander und verweist so auf die implizit stark formale Definition von und Herangehensweise an ›modern(istisch)e Kunst‹ in der in Bezug auf diese Definition normative westlichen/euro-amerikanischen Kunstgeschichtsschreibung.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

site of vexed doubling within colonial/postcolonial identity and the permanent ambivalences that it launches.« 107 Die Betonung der polemischen Nutzung des ›Wann‹ bei Geeta Kapur in ihrem Text When was Modernism in Indian Art? macht deutlich, dass sie die Definition der Moderne in der Kunst herausfordern will, und die Normativität, die eine ständige, von Ambivalenzen geprägte Aushandlung in Bezug auf Identität nötig macht, durch die Befragung der Zeitlichkeit der Moderne in der Kunst aufzeigen möchte. Anschließend an diese Erklärung der Kunstkritikerin, Kunsthistorikerin und Kuratorin Geeta Kapurs zur Nutzung des ›Wann‹ und ihrer Betonung der Bedeutung der zeitlichen Dimension der Definition, ist Gongs Betrachten des Modernismus als unabgeschlossen dezidiert nicht im Sinne der Debatten um Postmoderne und Moderne zu verstehen. Es geht nicht darum, das Projekt der Moderne fortzuführen und zu retten – es geht nicht um die Frage ob ›wir noch modern sind‹ oder ›schon nicht mehr modern‹, ob in eine Postmoderne oder Moderne einzuordnen. Es geht vielmehr um die Frage, wie die Normativität des zeitlich festgelegten und damit stilistische Vorgaben mit sich führenden ›Modernismus‹ in ihrer Auswirkung auf die Diskussion um die Moderne der ›Dritten Welt‹ begriffen und verhandelt werden kann. Die fortwährende Hinterfragung der Zeitlichkeit des ›Modernismus‹ bedeutet also, die impliziten Paradigmen des als abgeschlossen gesehenen Modernismus weiterhin als normativ und als die Vorstellung von Kunst zutiefst beeinf lussend zu verstehen und zu behandeln. Gongs starkes Herausstellen der andauernden Bedeutung des Modernismus ist – in Anlehnung an Kapur – besonders als Auseinandersetzung mit Greenberg und Lyotard und der mit deren Vorstellung von Modernismus verbundenen Normativität (und der damit unweigerlich verbundenen Asymmetrie oder Verspätung) zu sehen: »[…] western modernism in its late phase is not the least interested in this diachronicity and opposes it in the name of a sublimity of the new.« (1.21) In Bezug auf das Paradigma der ›Neuheit‹ wird in der Diskussion von Geschichtlichkeit und Erfahrung ein Widerspruch sichtbar, dessen Verhandlung ein fortwährendes Problem darstellt: in der Neuheit, so wie Greenberg (oder die Spätmoderne des Westens, wie Kapur hier schreibt) sie definiert, kann Geschichte und Erfahrung kein Argument und kein Beweis für die Modernität eines künstlerischen Ausdrucks sein. Diachronizität kann demnach kein legitimes Argument sein innerhalb eines Verständnisses von moderner Kunst, dem die Neuheit als Paradigma implizit zugrundegelegt ist und von dem ausgehend erklärt wird, was als ›modern‹ gelten kann. Ein sich durch den Umgang mit Geschichte begründender Modernismus kann demnach nie ›neu‹ genug sein und so dieses modernistische Kriterium par excellence nicht erfüllen. Versuche alternativer Definitionen haben auf dieser Grundlage immer mit ihrer Gültigkeit zu kämpfen. So ist es in Bezug auf die Neuheit – die doch selbst den zeitlichen Aspekt der vorausschreitenden, in die Zukunft weisenden Avantgarde beinhaltet und sich damit als unabdingbar darstellt –, dass der Modernismus, als zum Ismus gewordenes Paradigma des modernen künstlerischen Ausdrucks, seine Normativität am stärksten 107 Geeta Kapur, When was Modernism in Indian Art?, S. 300 (als Vortrag zunächst 1992 gehalten, 1993, 1995 und schließlich 2000 in abgeänderten Versionen veröffentlicht).

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und unverhandelbarsten und in Bezug auf die Diachronizität als unüberwindbar zum Ausdruck bringt. Gongs Kritik an der abgeschlossenen Vorstellung von ›Modernismus‹ knüpft an diese Problematik an und verweist darauf, dass in der Dritten Welt der Modernismus nicht nur zeitlich und stilistisch zu definieren ist. Aus dem Blickwinkel, den Gong einnimmt, ist die geschlossene historische Perspektive eine, die ein Diskutieren und Aushandeln eines Modernismusbegriffs unmöglich macht, wie er ihn bei Wu zu definieren versucht, weil sie die Bedeutung der Normativität und daraus folgend die Konstitution des In-Bezug-Stehens nicht in ihre Überlegungen einbezieht. Wird ›Moderne‹ als abgeschlossene Zeitlichkeit verstanden, so verbleibt der ›Modernismus‹ einer Position verhaftet, die nicht der Diskussion ausgesetzt werden kann, sondern als historisch begründeter normativer Fakt existiert. Indem Gong also die Annahme der zeitlich festgelegten Epoche des Modernismus kritisch hinterfragt und sich vom geschlossenen Blick abwendet, eröffnet er eine Grundlage der Ref lexion dessen, was ›Moderne‹ bedeutet und bedeuten kann und öffnet weiter die Möglichkeit der Diskussion eines Modernismus der Kunst Taiwans. Diese – so zeigt seine Diskussion einiger der wichtigsten Kunsthistoriker und -kritiker Taiwans – wurde bisher nicht kritisch genug gedacht. Durch diese erste Befragung der Grundlagen und der Normativität der Modernedefinition in der Titelfrage und durch die Besprechung Wu Yaozhongs, wird Moderne von einer Perspektive aus betrachtet, die zunächst formal, zeitlich und normativ nicht fest ist, die implizite Festgestelltheit der Komponenten jedoch mitdenkt. Im ›Wann‹ bei Gong spiegelt sich also der problembehaftete Umgang mit der normativen Definition von ›Modernismus‹ wieder. Das ›Wann‹ kann demnach als Aufforderung gelesen werden, die Nicht-Abgeschlossenheit der normativen Ebene grundlegend zu ref lektieren – die, so impliziert Gong, erst durch die Auseinandersetzung und Wahrnehmung dieser Normativität überwunden werden kann.

3.3 Zur stilistischen Definition und zur Bedeutung ›modern(istisch)er Kunst‹ Die Frage, wie moderne Kunst definiert und verstanden wird, kann dann recht klar beantwortet werden, wenn Modernismus als abgeschlossene Epoche in der Kunstgeschichte verstanden wird, verweist die Moderne in der Kunst so verstanden doch meist auf eine stilistisch-formale Ebene und auf die euro-amerikanische Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch die Betrachtung der Arbeiten Wu Yaozhongs stellt Gong die gängige, stark formal definierte Vorstellung von ›moderner Kunst‹ infrage, die vor allem in der an Greenberg angelehnten Bezeichnung als ›Modernismus‹ und in der Foucaultʼschen Manet-Lesung zum Ausdruck kommt. Denn wenn Gong den ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ entlang an Wu Yaozhongs Arbeiten diskutiert, fordert er angesichts der realistischen Ölmalereien die Frage nach der stilistischen Definition moderner Kunst geradezu heraus: Durch die auffallend große stilistische Nähe zu Manet, verhalten sich die Malereien besonders angesichts des Entstehungszeitraumes der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts offenbar konträr zur Kategorisierung als ›modern(istisch)‹. Sie lassen den Betrachter zunächst nicht an eine avantgardistische künstlerische Ausdrucksform denken, die das ›Neue‹

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

und die ›Originalität‹ als normative Schaffensanweisungen für eine als ›modern‹ zu definierende Ausdrucksform vorgibt.108 Gong greift diese, aus der zeitlichen Einordnung entstehenden, stilistisch-formal begründeten Zweifel an der Modernität Wus auf und adaptiert bewusst eine Perspektive, wie sie bei Hsieh Lifa oder Lin Liyun zum Ausdruck kommt (vgl. 2.51ff.), wenn er schreibt: »Zunächst besteht zwischen dem in den 1960ern arbeitenden Wu Yaozhong und dem in den 1880ern arbeitenden Manet ein zeitlicher oder kulturell-zeitlicher Unterschied von fast 80 Jahren. In Anbetracht des Zeitabschnitts in dem die Moderne und der Modernismus in der Malereigeschichte geschah, so ist dies das, was Chen Fangming als die ›verspätete Moderne‹ (belated modernity) bezeichnet.« (2.43) Es ist eine Perspektive, die sich, stilistisch orientiert, dezidiert mit dem Paradigma der Neuheit und der hierin implizierten zeitlichen Perspektive auseinandersetzt. Unter diesem Aspekt können Wu Yaozhongs Arbeiten nicht als ›modern‹ oder ›modernistisch‹ – was hier sowohl als Epochenbezeichnung, aber auch als stilistische Einteilung dient – eingeordnet werden. Diese Zweifel, die besonders vor dem Hintergrund des Einbezugs des Greenbergʼschen Paradigma zum Ausdruck kommen und dessen normative Gültigkeit zeigen, integriert Gong explizit durch die Besprechung Manets durch Foucault. Das hier zum Ausdruck kommende Moderneverständnis ist vornehmlich stilistisch zu verstehen und somit objektiv bestimmbar: Bildf läche, die Nutzung des Lichts und die Analyse der Betrachterposition – all die Kriterien, die Foucault bei Manet als ›modern‹ identifiziert, sind in Wus Werk, das auf stilistischer Ebene eine starke Ähnlichkeit zu Manets aufweist, kaum zu finden, wie Gong besonders an Wus Fangyuan (1960) im Vergleich zu Manets Dans la serre (1879) bemerkt. Demnach wäre Wu stilistisch zunächst schlicht als ›nicht-modern‹ einzuordnen oder – wie hier mit Verweis auf Chen Fangming – höchstens als ›verspätet modern‹. Das potenzielle Nicht-Modern-Sein, das Gong bei Wu feststellt, entsteht hier in Bezug auf eine feste Vorstellung eines künstlerischen Stils, dem die Idee der Herausforderung des Bestehenden in Bezug auf die Auffassung, was ein Bild stilistisch zu erreichen hat, was im Bildinnern geschieht und wie dies mit dem Betrachter zu verbinden ist, zugrunde liegt: Foucault schreibt, dass Manets Arbeiten eine »große Veränderung« bedeuten, sie das Bild der Kunst »umgestürzt« hätten, was er stilistisch begründet.109 Gong nutzt demnach Foucaults stilistisch-inhaltliche Moderneanalyse um die Zweifel hinsichtlich einer Einordnung Wus als modernen Künstler in Hinblick auf den Stil und das Sujet als verspätete Kopie der westlichen Moderne deutlich zu machen. In der Nutzung Foucaults durch Gong schwingt somit die Frage nach der ›Verspätung‹, dem ›Kopie-Sein‹, und auch die Frage mit, ob ein Modernismus der Kunst Taiwans möglich ist und ob ein künstlerischer Ausdruck wie der Wu Yaozhongs auch in einer globalen Diskussion um Moderne bestand haben kann. Durch das Stellen dieser Fragen macht Gong deutlich, dass das Paradigma der Neuheit und damit verbunden das 108 Dass dies zunächst auf den ersten Blick so ist, ist insofern von Bedeutung, als dass dieser erste Blick doch in der Vorgehensweise der Bilder-Such-Truppe wiederholt wird und sich so als wichtige gedankliche Grundlage erweist. 109 Michel Foucault, Die Malerei von Manet, Berlin 1999, S. 10.

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stilistische Verständnis von Modernismus in Form von konkret artikulierten Zweifeln in die Frage nach dem Modernismus Wus einbezogen werden muss. Gong impliziert somit die Fragen, wie Wu nicht nur als eine stilistisch verspätete Form des Modernismus des Westens gelesen werden kann und darauf folgend, wie Modernismus gedacht werden muss, damit Wus künstlerisches Schaffen in der heutigen Kunstgeschichtsschreibung – wo Kunst notwendigerweise im Kontext eines (vorgestellten) Globalen geschieht – überhaupt diskutiert werden kann. Gong sucht somit eine Lesart, die die Probleme in der Einordnung Wus als ›modern‹ aktiv mitdenkt und ihnen nicht ausweicht oder einen Paralleldiskurs eröffnet. Die angeführten Zweifel Gongs müssen demnach explizit nicht als Zweifel an der Modernität Wus und der Bedeutung seines künstlerischen Schaffens gelesen werden, sondern in dem Sinne verstanden werden, dass die Zweifel selbst die Fragen hervorbringen und – ihnen also inhärent – einen nötigen Hintergrund der Überlegungen zur Erweiterung der Bedeutung von ›moderner Kunst‹ darstellen. Über das Darlegen der Zweifel und den Einbezug derselben in seine Überlegungen öffnet Gong den Weg, von der stilistischen Perspektive losgelöst, künstlerisches Schaffen als »künstlerische Erkenntnismethode«, als »Kritik« und Moderne als »Kritikraum« (1.44) zu denken. Hierin eingebettet ist dann eine Verhandlung der »historische[n] Genealogie des kritischen Geistes« (1.64), die den Kolonialismus, Imperialismus und Kapitalismus einschließt, und der Historizität des postkolonialen Modernismus – wie sie Kapur feststellt – möglich. Gong verweist weiter insbesondere durch die Frage, ob Kunstkritik Schaffen sein könne (»Kann man Kunstkritik als eine Art geistige Bewegung verstehen? Oder als eine Form des Schaffens auf geistiger Ebene?« [0.1; 2.71]) auf die bestehende Trennung zwischen der Idee des Schaffens von Kunst und der des kritischen Schreibens über Kunst und schlägt eine Erweiterung des Denkens und der Bedeutung von ›Kunst‹ und ›Schaffen‹ vor. Das der Vorstellung einer solchen Trennung zugrundeliegende Bild von Kunst ist das einer fertigen, abgeschlossenen und passiven Kunst, die von der Kunstkritik und -geschichte erklärt und (stilistisch) eingeordnet wird.110 Sieht man Kunstkritik als Schaffen anstelle einer einem Werk beigefügten Erklärung und die Kunst als aktive, kritische Gedankenbewegung anstatt als fertiges, abgeschlossenes Kunstwerk, so wird das Bild von Kunst infrage gestellt, das Gong mit der ›Originalität‹ oder der ›Neuheit‹ anspricht, und auch jenes, das im Schreiben von Kunstgeschichte zum Ausdruck kommt. Hierdurch verstärkt sich noch einmal das Infrage-Stellen eines Verständnisses von Kunst, dessen künstlerischer und ästhetischer Wert111 über stilistische Kriterien bestimmt werden kann. Künstlerisches Schaffen wiederum als Kritik zu sehen, heißt, dass der Künstler Wu Yaozhong bei Gong dann die Rolle eines Kritikers bekommt, in dem Sinne, dass er eine geistige Bewegung schafft durch sein künstlerisches Schaffen, die die gängige Vorstellung von Kunst bewusst herausfordert. So wie die »[…] Zeitschrift 110 Dass die Vorstellung einer werkorientierten, abgeschlossenen Kunst in Taiwan dominant ist, zeigt sich auch an Hsieh Lifas von Gong zitierter nachträglicher Selbstkritik, dass er nur das ausstellungsbezogene System beschrieben habe und nicht die Schichten darunter, also die vielschichtigen möglichen Bedeutungen des Schaffens. 111 In diesem Kontext kann auch beachtet werden, dass Gong den Begriff Ästhetik, der im Chinesischen doch so klar die Konnotation des Schönen (meixue, die wörtlich übersetzte ›Lehre vom Schönen‹) enthält und damit auf seine übersetzerische Referenz, die europäische philosophische Ästhetik des 19. Jahrhunderts, verweist, öffnet und der werkorientierten Kunst entzieht.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

Literatur (1966-1970) durch das literarische und bildnerische Schaffen selbst Literaturund Kunstkritik« (2.78) schuf, sieht Gong auch Wu Yaozhongs künstlerisches Schaffen selbst als Kunstkritik, im Sinne einer geistigen Bewegung. Wus Auseinandersetzung mit sozialistischen Gedanken, die doch im Taiwan der 70er Jahre so abseits des Möglichen liegen, offenbart sein kritisches Bewusstsein. Gong plädiert also dafür, Kunst als Kritik zu lesen und – das könnte man hier hinzufügen – auch als solche zu schaffen und damit dem gängigen Kunstverständnis kritisch zu begegnen. Insbesondere in Wu Yaozhongs Entscheidung zur Veröffentlichung seiner Arbeiten auf Bucheinbänden und Zeitschriftentiteln, sieht Gong die Herausforderung dieses Kunstverständnisses: So ist selbst das fertige Werk bei Wu Yaozhong nicht abgeschlossen – denn durch die Veröffentlichungsart, die Publikation auf Bucheinbänden und Zeitschriftentitelblättern, werden die Arbeiten doch nach ihrer scheinbaren Fertigstellung erneut und dauerhaft der Diskussion, dem Umgang, dem Denken ausgesetzt. Durch den alltäglichen Kontext, in welchem dieser Umgang mit Kunst geschieht, unterscheidet sich das stark von einer möglichen Präsentation im Museum, auch dadurch, dass die Präsentation selbst zum Teil der Kunst wird.112 Wu widersetzt sich damit der Idee des Originals und auch der Originalität des Künstlers. Dass Wu Yaozhong diese Form der Veröffentlichung zum Teil seiner Arbeiten machte, unterstreicht, dass es ihm nicht um stilistische Probleme ging und die Arbeiten als Buchcover nicht nur illustrierenden Charakter haben, sondern die Frage aufwerfen, was Kunst ist oder sein kann und wie sie in Bezug zum Leben und zur Gesellschaft zu sehen ist. Somit geht Wus kritischer Geist über einen, der im Sujet des Werkes thematisch oder im formalen Umgang mit dem Material auffindbar sein könnte, hinaus – vielmehr geht es um eine kritische Haltung zur Kunst als System, um eine Kritik an den impliziten Regeln der Kunstbetrachtung und des Kunstmarktes, durch deren Aufspüren Gong eben jene Entfremdung der Kunstkritik in der zeitgenössischen Kunstszene hervorzurufen hofft. Es geht ihm darum, den Blick auf Kunst von jener »formalistische[n] Ästhetik Greenbergʼscher Art« (1.61) zu lösen (und auch von der Foucaultʼschen Manet-Lesung), indem eben nicht nur die Werke, sondern auch ihre Entstehung und Präsentation betrachtet werden und als Teil des Werkes selbst gelesen werden. Gong sieht in Wus Praxis also ein Moment des Nachdenkens über Kunst, das sich durch tiefe Ref lexion verschiedener Ebenen – die Kritik an den »Resten der kolonialen Kultur, dem kapitalistischen Markt, der Ästhetik des Formalismus (abstrakte Strömungen), außerdem der Tausch des Rahmens der Leinwand gegen den visuellen Träger des Kulturproduktes Publikation« (1.68) – ein Neudenken der Rolle von Kunst, dem Künstler und dem Schreiben von Kunstgeschichte (in der Dritten Welt) möglich macht und das Gong als explizit ›modern‹ sieht: als Kritiker, als Kritik. Somit ist Gongs Kritik an der stilistischen Art, Kunst zu betrachten und als ›modern‹ einzuordnen, eine Kritik daran, dass die Rolle, die Kunst in der Gesellschaft hat und haben kann, nicht beachtet wird. So stellt Gong implizit die Frage wie ›der Modernismus‹ überhaupt zu verstehen sei, wie er verstanden wird, wie er verstanden werden könnte und welche Bedeutung diese verschiedenen Ebenen für das Verständnis von Kunst haben. Er zeigt die stilistischen Bedingungen der Definition ›moderner Kunst‹ als unhinterfragt auf und macht in der 112 Interessanterweise geht Gong nicht darauf ein, dass die Bilder-Such-Truppe im heutigen Umgang mit den Werken diese Ebene durch die Standard-Ausstellungsform – dem Hängen der singulären Werke an die Wand – vollkommen ignoriert.

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Besprechung Wu Yaozhongs deutlich, dass das Nachdenken über ›moderne Kunst‹ immer auch ein Nachdenken über ihre normativen Grundlagen ist. Durch das Aufzeigen der Art, wie Wu Kunst versteht und nutzt, stellt Gong die These auf, dass das Überlegen selbst, das Nachdenken über ›Moderne‹/›Modernismus‹ schon eine Handlung ist, in der sich ›Modern-Sein‹ manifestiert, was jedoch in der rein stilistischen Suche nach Neuheit vollständig ausgegrenzt wird. Innerhalb dessen, was von einem stilistischen Standpunkt aus gesehen nur eine verspätete Kopie zu sein scheint, sucht Gong die Verschiebungen, die aus der Auseinandersetzung mit der Moderne entstanden sind und fortwährend entstehen und darum modern sind.

3.4 Zur Frage der ›Verspätung‹ In Bezug auf Foucaults Besprechung Manets fragt Gong kritisch nach der Verspätung der Moderne Wus und spricht somit den Topos der ›verspäteten Moderne‹ (belated modernity)113 als notwendigerweise zu diskutierendes Thema an. Es werden im Text verschiedene Ebenen des Verständnisses von einer ›verspäteten Moderne‹ angesprochen, die nicht immer klar getrennt werden können, eng miteinander verbunden sind und aufeinander auf bauen: einerseits die konkret zeitlich verstandene Verspätung – eine Vorstellung, die laut Dipesh Chakrabarty in den Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert auf kam114 und in den Modernisierungstheorien in den 50er/60ern auf die sogenannte ›Dritte Welt‹ angewendet wurde –, die sich an Eckdaten und Jahreszahlen und damit folglich auch an Stilrichtungen verorten lässt, andererseits die unter psychoanalytischen Aspekten zu verstehende Verspätung, die vor allem in den Postcolonial Studies umfassend Raum findet. Die konkret zeitliche Perspektivierung der Verspätung, die in der geschlossenen Perspektive Ausdruck findet, nimmt in Taiwans Diskussion eine bedeutende Rolle ein. Dies zeigt Gong auch durch das Zitieren von Chen Fangmings Besprechung von Japans verspäteter Moderne. So spricht Chen Fangming von der Diachronizität und letztlich erreichten Synchronität Japans mit dem Westen und verweist so auf eine zeitliche Vorstellung von Verspätung, die konkret an Jahreszahlen festzumachen ist und die die Notwendigkeit, ein ›Auf holen‹ anzustreben, beinhaltet.115 Dass eine solche konkret zeitliche Vorstellung von ›Verspätung‹ eng mit der Rezeptionsgeschichte des Modernen in Ostasien verbunden ist, wird bei Gong am Beispiel des Impressionismus gezeigt, der »zwanzig Jahre später als in Frankreich in Japan auf fruchtbaren Boden fiel und Wurzeln schlug.« (2.51) ›Moderne‹ bezeichnet innerhalb dieser Vorstellung eine 113 Während Chen Fangming chidao de xiandaixing 遲到的現代性 schreibt, nutzt Chen Chuan-xing yanchi xiandaixing 延遲現代性, um die jeweils in Klammern hinzugefügte ›belated modernity‹ zu bezeichnen. Chen Chuan-xings Übersetzung beinhaltet eher eine Verschiebung, eine Verzögerung, während Chen Fangmings Übersetzung vielmehr das verspätete Ankommen bezeichnet. 114 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 165. 115 Chen Fangming zeigt, wie eng die Erfahrung der ›Moderne‹ in Ostasien mit der Vorstellung der Verspätung und des Strebens danach, ›aufzuholen‹, verbunden ist. Vgl. Chen Fangming: »›Zhimin de modeng‹ xinbanxu« ›殖民的摩登‹ 新版序 [›Koloniale Moderne‹ Vorwort zur Neuauflage], in: Ders., Zhimindi modeng. Xiandaixing yu taiwanshiguan 殖民地摩登. 現代性與台灣史觀 [Colonial Modernity. Historical and Literary Perspectives on Taiwan], Taipei 2011, S. 9-23, S. 15. Vom ›catching up‹ spricht auch Chakrabarty mit implizierter Ironie und macht so die Vorstellung der festen Zeitlichkeit des Modernismus deutlich (vgl. Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 165).

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

fest eingrenzbare Epoche mit entsprechend zeitlich zugehörigen formalen Elementen, die sich in eine absolute Relation zum ›Westen‹, der die zeitliche Vorreiterstellung einnimmt, setzt. ›Moderne‹ wird damit verstanden als etwas klar ›von außen Kommendes‹, als »eine von außen gewaltsam implantierte Erfahrungsstruktur« (3.61). Die Verspätung ist hier eine auf historischen Fakten beruhende Tatsache innerhalb einer linearen zeitlichen Vorstellung, die die rein zeitlich verstandene Verspätung selbst jedoch nicht als Ref lexionshorizont einbezieht. Wie sie sich in Gongs Anmerkung »nicht qualifiziert« (1.37) ausdrückt, führt eine so verstandene Verspätung unweigerlich zu einer Vorstellung von Minderwertigkeit116 (und der gleichzeitigen von Widersprüchen durchzogenen Hoffnung auf die Möglichkeit des Auf- und Überholens durch Abgrenzung). Die rein zeitlich verstandene Verspätung kann also niemals Chance sein. »Given this obstacle race of history it is possible to argue that Indian artists have only now become fully modern – in what is characterized as the postmodern age.« 117 Zum Ausdruck kommt in diesem Zitat Geeta Kapurs, dass die nicht-westliche Moderne immer mit einem Wettrennen um die vordere Position verbunden ist und mit dem Versuch des rechtzeitigen Erreichens. Diese konkret zeitliche Ebene muss also bedacht werden, da sie zutiefst die Vorstellung von und die Auseinandersetzung mit ›Moderne‹ bestimmt. Diese Verspätung wird bei Gong als diskursive Tatsache verstanden und bildet die zugrundeliegende, erste Ebene für die zweite im Text besprochene Ebene der Verspätung, die die Unmöglichkeit des Auf holens angesichts der unüberwindbaren Asymmetrie verhandelt. Die Verspätung als diskursiv verstandene Tatsache zu sehen, bedeutet, ihre Produktivität auf das Selbstbild zu beachten. Es taucht hier eine Ebene der Verspätung und des Verspätet-Seins auf, die sich – trotz des durchscheinenden Epochenverständnisses von ›Moderne‹ und ›Postmoderne‹ – nicht konkret zeitlich fassen lässt: Durch die Diskussion der Postcolonial Studies und der Erfahrung Indiens bezieht Gong die psychoanalytische Ebene der Verspätung mit ein, die hier als zweite Ebene der Verspätung gedacht werden soll. Das Verständnis von ›Verspätung‹, das hierdurch zum Ausdruck kommt, steht in Bezug zu den Postcolonial Studies und findet sich vor allem bei Homi Bhabha, der sich in seiner Diskussion der psychoanalytischen Bedeutung der Zeitlichkeit der Moderne auf Frantz Fanon bezieht.118 Diese Ebene ist die Ref lexion des kollektiven psychischen Zustandes, der sich aus der konkret zeitlichen und formalen Betrachtung der Kunstgeschichte und dem Paradigma der Neuheit ergibt und der zum Ausdruck kommt, wenn Gong in Anlehnung an Geeta Kapur nach einem Weg sucht, »den Problemkomplex der Originalität des Schaffens und die Nervosität in Bezug auf das Beeinf lusstwerden zu überwinden« (1.32). Er stellt so diese Problematik explizit zur Diskussion und ruft in Anlehnung an das indische Beispiel, das er bei Kapur findet, zu Ref lexivität angesichts der von westlichen Dogmen bestimmten Kunstgeschichte auf, die Selbstbewusstsein schaffen kann. Er plädiert also ganz klar für einen offenen, akzeptierenden, ref lektierenden, sich aus116 Auch laut Chakrabarty wird das Nicht-Neue, die Wiederholung als ›minderwertig‹ (»deficient«) gekennzeichnet. Vgl. Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 166. 117 Kapur, When was Modernism in Indian Art?, S. 299. 118 Vgl. Homi K. Bhabha zur Verspätung: Bhabha, Verortung, S. 159 und 354ff.

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einandersetzenden Umgang mit der psychischen Disposition, die die Diachronizität mit dem Westen und die Asymmetrie hervorrufen, die sich aus dem Nicht-Interesse des Westens an jenen Möglichkeiten der Diachronizität und der daraus folgenden Einordnung als ›minderwertig‹ ergibt, und die daraus hervorgehende diskursiv wirksame Annahme der Verspätung. Beide Ebenen in Bezug zur Diachronizität mit dem Westen – die Normativität, die die Paradigmen der modernen Kunst vorgeben, sowie den Einf luss, den diese Paradigmen auf das Denken von Kunst und die Selbstwahrnehmung in Indien respektive Taiwan haben – müssen als zusammengehörend gedacht werden und finden im Sprechen von der ›Verspätung‹ zusammen. Die Akzeptanz dieser Ebenen und die Fähigkeit, einen Umgang mit der Vorstellung und dem Fakt des Einf lusses zu finden, bezeichnet Gong in Anlehnung an Kapur als den ›reifen Modernismus Indiens‹. Das bedeutet eben gerade nicht, dass dieser reife Modernismus ›aufgeholt‹ hätte und durch ein ›Auf holen‹ zu seiner Reife gelangt wäre, sondern durch die Ref lexion. So ist auch die von Gong zitierte Aufforderung Kapurs, die Enthumanisierung der Kunst zu akzeptieren, zu verstehen. Besonders hierin zeigt sich der doppelte Umgang mit der westlich-modernistischen Vorstellung von Kunst: Darauf einlassen, den Einf luss anerkennen und sich aber in der Anerkennung kritisch positionieren. Denn die kantische oder schillersche Vorstellung eines zweckfreien Schönen, das in Ortega y Gassets Enthumanisierung der Kunst (in der deutschen Übersetzung: Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst) zum Ausdruck kommt, beeinf lusst die Vorstellung von Kunst zutiefst, ist aber angesichts der historischen Erfahrungsstrukturen, die im künstlerischen Schaffen Ausdruck finden, erneut zu ref lektieren. Hierin wird deutlich, dass nicht Ablehnung, Abgrenzung und daraus folgend Fragen der Überlegenheit oder Unterlegenheit als unterschwellige Grundlage der Diskussion bestehen, sondern integraler Bestandteil der Diskussion als Teil des Nachdenkens über Kunst in Taiwan respektive Indien sein sollen. Das Gefühl einer ›Minderwertigkeit‹ wird hier also diskutiert – anders als beim geschlossenen Blick, wo der Verspätung durch Abgrenzung begegnet wird. Der Bezug der Titelfrage auf Kapur muss auch als darauf verweisend gelesen werden, dass – dank der weitgreifenden Diskussionen um die postkoloniale und subalterne Position – die Frage nach dem ›Wann‹ des Modernismus, dem Umgang mit der vom Westen ignorierten Diachronizität und damit nach der Verspätung in Indien119 schon als polemische verstanden werden kann, während in Taiwan eine Diskussion dieser Ebene noch aussteht. Durch Gongs Kritik an der Perspektive Taiwans wird deutlich, dass die Ebene der Polemik angesichts der Normativität in Taiwan nicht bewusst verhandelt und diskutiert wird, sondern dass diese Polemik und das Bewusstsein für die ständige Ambivalenz im Zwischen einer kolonialen und postkolonialen Verhandlung von Identität erst eröffnet werden muss, um die Möglichkeit zu beinhalten, produktiv zu werden und die inhärente Identitätsproblematik frei zu verhandeln: Das ›Wann‹ des Modernismus tritt so nur als eine konkret zeitliche und damit minderwertige Verspätung in Erscheinung, die die Zugehörigkeit zum Modernismus nicht als selbstverständlich wahrnimmt.

119 Wenn auch Kapur den Begriff der Verspätung nicht explizit nutzt, so wird dies doch durch die Nervosität angesichts der Auseinandersetzung und dem ›Aufholen‹, sowie der Auseinandersetzung mit der Neuheit und, in Bezug dazu, der Diachronizität thematisiert.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

Nehmen nicht aus diesem Grund die Zeitlichkeit und die stilistisch-formalen Bedingungen des Modernismus eine so große Rolle in Gongs Text ein? Sie weisen auf die Notwendigkeit der Diskussion derselben hin und machen somit eine produktive und kritisch-ref lexive Diskussion der Vorstellung einer ›verspäteten Moderne‹ überhaupt erst möglich. Erst wenn die Paradigmen des Modernismus und Moderne in ihrer Zeitlichkeit als fortwährend produktiv wirksam begriffen werden und nicht mehr nur historisch abgeschlossen und damit stilistisch-formal, so sind die ›Verspätung‹ und die Zugehörigkeit überhaupt Problemfelder, die diskutiert werden können, anstatt unausgesprochen das Denken zu lenken und zu bestimmen. Die Verspätung zu diskutieren bedeutet demnach nicht, sich selbst in die Position des ›immer Verspäteten‹ (desjenigen – in Anlehnung an Chakrabarty –, der dazu verf lucht ist, für immer verspätet zu sein)120 zu begeben, sondern die Diskussion um das Verspätet-Sein als diskursiv produktive – im Wechselspiel von Selbstbild und immer präsentem Fremdbild – in seiner Historizität anzuerkennen und deshalb als für eine kritische Auseinandersetzung notwendiges Diskussionsfeld zu öffnen. So spricht Gong gegen Ende des Textes in Anlehnung an Chakrabarty von den Chancen der ›verspäteten Moderne‹121: Diese positive Auffassung der Verspätung ist zu unterstreichen und bezieht sich auf jene, auf die Diskussion der Postcolonial Studies zurückgehende, kritische Auseinandersetzung, die bei Kapur mitschwingt und die Chakrabarty anspricht. In Bezug auf Gongs Kritik am abgeschlossenen Blick auf die Moderne, zeigt sich hier ganz deutlich, dass Gong gerade in der Diskussion und Anerkennung der Verspätung auch die Möglichkeit der Ref lexion sieht – anstatt eine reine Auseinandersetzung mit ›Minderwertigkeit‹, dem ›Unqualifiziert-Sein‹ und einem diesem gegenüberzusetzenden, abgrenzenden ›Selbstbewusstsein‹. Das von Gong gesuchte kritisch-historische Bewusstsein drückt sich in der Anerkennung der Verspätung aus.

3.5 Die Diskussion Chen Chuan-xings: Das Positiv-Wenden der Verspätung Es ist also das In-Bezug-Stehen, von dem aus Gong seine Diskussion der Bedeutung von ›Moderne‹ auf baut. Die Bedeutung von ›Moderne‹, die sich aus diesem In-Bezug-Stehen ergibt, unterscheidet sich bei Gong von der Vorstellung von ›Moderne‹, die Chen Chuan-xings Diskussion der ›Moderne‹ in Taiwan entwirft. Doch die große Rolle, die die Diskussion von Chen Chuan-xings Position bei Gong einnimmt – Gong schreibt, dass in Bezug auf die Beurteilung der 70er Jahre sein »Text als Antwort auf jenen kunstkritischen Text Chen Chuan-xings gesehen werden« (3.37) könne –, verweist darauf, dass viel über Gongs Verständnis der ›verspäteten Moderne‹ und deren Bedeutung in der Betrachtung der Antworten, die er auf Chen Chuan-xings Fragen gibt und auch in Differenz zu Chen Chuan-xings Vorstellung einer ›verspäteten Moderne‹ verstanden werden kann und muss. Es verweist auf die zentrale Rolle, die Chen

120 Chakrabarty fragt: »Has the curse of belatedness been ever lifted from India, I wondered?« (Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 163) In den Postkolonialen Theorien, vor allem in Anlehnung an Fanons Hauptwerke Die Verdammten der Erde und Schwarze Haut, weiße Masken, spielt die Auseinandersetzung mit dem ›Verdammt-Sein‹ oder ›Verflucht-Sein‹ eine wichtige Rolle. 121 Chakrabarty spricht von der ›belatedness as possibility‹. Der von Gong im Chinesischen gewählte Ausdruck jiyu 機遇 muss jedoch eher als ›Chance‹, denn als ›Möglichkeit‹ übersetzt werden.

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Chuan-xing (der die ›verspätete Moderne‹ in Taiwan als einer der ersten umfassend ref lexiv als Thema aufwarf) in dieser Diskussion und für das Denken Gongs einnimmt. Auch wenn sich Chen Chuan-xings kulturpessimistische Perspektive klar von der gängigen der beginnenden 90er Jahre unterscheidet – vor allem weil er die psychoanalytische Komponente diagnostiziert (und vielleicht könnte man gar sagen, er machte sie in Taiwan erst bekannt und zu einem zu diskutierenden Thema) und eine melancholische Verfasstheit zum Thema macht – so lässt sich aus heutiger Sicht und in Gongs Perspektivierung Chens Position doch als eine ref lektiertere Variante des damals allgemein gängigen Blickes lesen, der die ›Unzulänglichkeit‹ der Moderne Taiwans auch aufgrund der verspäteten Diskussion der Moderne annimmt und zur Grundlage macht. Gongs bejahender und tiefgreifender Bezug auf Chens Gedanken sowie sein Weiterdenken von Chens Annahme der Unzulänglichkeit zeigt sich, wenn Gong schreibt: »Im Prozess des Schreibens dieses Artikels hoffe ich – von der Methodik her gesprochen –, eine ›bestätigende‹ oder ›schaffende‹ Kritik und Analyse oder eine künstlerische Diskussion im Stil Wu Yaozhongs herauszustellen, die als Muster der Realisierung der ›Lokalisierung (bentuhua) des Modernismus‹ oder des ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ dienen kann.« (3.54) Er fragt, ob man Chens sogenannte »verworrene Wege des ›Modernismus Taiwans‹« (3.51) in den 70er Jahren nicht auch auf positive Weise erzählen könne. Damit plädiert er für einen Blick, der den Modernismus in Taiwan erneut betrachtet und somit auch die ›Verspätung‹ einer erneuten Analyse unterzieht. Er spricht sich dafür aus, die ›Verspätung‹ nicht nur als Kritik an Taiwans Umgang mit Moderne zu sehen, sondern die Normativität, die sich aus dem Referenzrahmen ergibt, in die Betrachtung einzubeziehen. Wenn Chen Chuan-xing den Modernismus als unzulänglich sieht, sieht Gong darin eine gedankliche Sackgasse, die doch nur in eine »Logik des Unzulänglichen« (3.56) und in die Falle des Anti-Modernen führen kann. So findet sich in der Auseinandersetzung mit dem Ansatz Chen Chuan-xings die Kritik, dass dieser die Moderne zu sehr entlang an normativen Mustern denkt und erklärt. In Chens Anklage der Unzulänglichkeit steckt ein Vergleichsmuster, das das ›Modern-Sein‹ an einem Maßstab misst, der – wie die von Gong kritisierte starke Betonung des Subjekt-Bewusstseins – zu stark in der westlichen Auf klärungsidee verankert ist und so den Referenzrahmen Europa als magischen »Zauberspruch« (1.12) etabliert. Gong kritisiert an Chen also dessen Ansatz, »einfach die Situation einer ›unzulänglichen Moderne‹ herauszustellen« (3.55) und »einer ›Logik des Unzulänglichen‹« (3.56) zu folgen: ›Unzulänglichkeit‹ bedeutet dann, die Möglichkeiten der verspäteten Moderne nicht zu beachten, bzw. solche nicht in Betracht zu ziehen. Wenn das ›Modern-Sein‹ nur am Maßstab der einen, normativen Moderne ausgerichtet wird, wird nicht dann die – sowohl in Chens als auch in Gongs Verständnis – der Moderne inhärente, elementare Kritikfähigkeit eingebüßt? Ist dem Sprechen über Taiwans Moderne so nicht immer die Logik einer zeitlich verstandenen Verspätung inhärent? Was Chen demnach als ›mangelhaften‹ oder ›unzulänglichen‹ Modernismus sieht, ist für Gong genau das zu untersuchende Objekt. Die Frage, die Gong an dieses heranträgt, ist folgende: Ist es nicht dieser scheinbar ›mangelhafte Modernismus‹ – der doch nur dann mangelhaft ist, wenn man den Referenzrahmen in den Westen legt

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– der eventuell lohnt, betrachtet zu werden? Es ist das für die Moderne so essentielle kritische Bewusstsein, dass Gong in Wu Yaozhongs schaffender Arbeit (sowohl kritisch-denkend als auch künstlerisch schaffend) eröffnet sieht – und so kann über das Beispiel Wu Yaozhong die von Chen Chuan-xing gesuchte Moderne gefunden werden, die sich »durch Spekulation, Dialektik und Widerstreit« (3.47) herausbildet. Chens Ansatz festigt in seinen Fragen die Normativität in Bezug auf die Ideen und Termini der ›Moderne‹ und des ›Modern-Seins‹ (was insbesondere in der Frage nach dem Subjekt-Bewusstsein zum Ausdruck kommt)122, die der Referenzrahmen ›westliche Moderne‹ vorgibt. Gong hingegen bezieht bewusst diese Normativität in sein Denken ein. Es geht Gong – das wird in der Auseinandersetzung mit Chen Chuan-xing erneut deutlich – um die Tätigkeit des Aufarbeitens der Bedeutung von Normativität für eine Vorstellung und Handlungsweise einer Moderne Taiwans. Chen hingegen betrachtet vielmehr ausgehend von einer festen Vorstellung, wie Moderne zu verstehen ist, die mögliche (oder unmögliche) Moderne Taiwans. Eine – aus dieser Perspektive betrachtet – der Unzulänglichkeit entwachsene Moderne Taiwans kann aus Chens Perspektive nur mit einem ausweglosen ›Melancholischen‹, das eine Art Endpunkt der Überlegungen zu Taiwans Moderne darstellt, antworten. Gong greift den in Taiwan von Chen Chuan-xing geprägten Terminus der ›Melancholie‹ auf, versammelt hierin in der Beantwortung der letzten Frage, mit der er den Text schließt, die umfassende Anklage, die Chen an Taiwans Kunstszene heranträgt. Gong beschreibt über die ›Melancholie‹ das Bild Lange Nacht Wu Yaozhongs und zeigt konkret die Bedeutung dieser Verfassung für jene Dritte Welt, zu der er Taiwan zugehörig sieht: »Allerdings hat sich der Modernismus der Kunst Taiwans nicht aus dieser Grundlage [derjenigen der Moderne Manets, Anm. d. Verf.] heraus entwickelt. Die ›verspätete Moderne‹ löst bei den Intellektuellen und Künstlern der Dritten Welt sehr leicht eine Besorgnis bezüglich der Geschwindigkeit und Originalität aus. Daher ist die Melancholie, wie Lange Nacht sie zeigt, tief verborgen und schwer zu vertreiben.« (4.8ff.) Das Melancholische wird bei Gong durch die explizite Anerkennung und Akzeptanz produktiv gewendet. Diese ›Dritte Welt-Eigenschaft‹, die auf der verspäteten Moderne, als diskursiv produktiver Fakt, beruht, ist – sofern sie anerkannt wird – Grundlage, um einen solchen »Weg der Verschiebung« betreten zu können, den Gong als Chancen eröffnend darstellt:

122 Ein weiteres, für Chen Chuan-xings Überlegungen zur Moderne essentielles Thema ist das Subjekt-Bewusstsein. Während Chen eine klare und unbedingt notwendige Verbindung zwischen ›Moderne‹ und ›Subjekt-Bewusstsein‹ sieht, sieht Gong das ›Subjekt-Bewusstsein‹ nur als einen Teil des Modernen. Laut Gong gehört die Debatte um das Subjekt-Bewusstsein zu den 80er Jahren: Sie kreist um Fragen der Identität, möchte sich einer taiwanischen Identität nähern und erwuchs einer Situation, die sich weniger um Fragen des Modern-Seins als um Identität drehte. Laut Gong hatte demnach das ›Subjekt‹ in den 80ern eben jene alltägliche Bedeutung, die Chen im Vorwort der Melancholischen Dokumente als ›missverstanden‹ bezeichnet und für die Betonung der Aktivität und Selbstbestimmtheit des Subjekts der Aufklärung plädiert. Hieran wird nochmal deutlich, wie stark Chen Chuan-xings Modernedefinition auf den Westen Bezug nimmt und wie er dieses Verständnis auch seiner Kritik an Taiwans Diskussion zugrunde legt.

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»Ausgehend von der vom indischen Theoretiker Dipesh Chakrabarty so genannten ›Verschiebung‹ und ›Verkleidung‹ gesehen, gibt es vielleicht einige hundert verschiedene, in den dunklen Gassen der Kunstgeschichte Taiwans versteckte Wu Yaozhongs, die in der als eine Art kreativ-schaffende ›Chance‹ verstandenen verspäteten Moderne, mit viel Mühe eine neue Form der künstlerischen Praxis des Modernismus/Realismus erlangten. Aufgrund der Außergewöhnlichkeit dieses Weges der Verschiebung können wir dies unmöglich als Unzulänglichkeit auf Ebene der Kunst ansehen, sondern sollten das als besonders dem Modernismus der Kunst Taiwans zugehörige Entstehungssituation sehen.« (4.18f.) So kommt hier, im letzten Satz von Gongs Text, sehr deutlich zum Ausdruck, dass es das aktive Handeln in der verspäteten Moderne ist – verstanden als diskursiver Fakt in Bezug zur Normativität des Moderneverständnisses des Westens –, das Möglichkeiten eröffnen kann. Es ist kein einfacher Gegendiskurs, der auf der von Chen so angeklagten Abhängigkeitsannahme und dem Sprechen vom ›Taiwan-Bewusstsein‹ beruht.123 Es ist das Herausstellen des kritischen und aktiven Handelns Wu Yaozhongs, in dem Gong jene Auseinandersetzung mit dem »Problem des ›Modernismus‹« in Taiwan (Chen 2.27) findet, von dem Chen meint, es sei in Taiwan »nie offen und direkt diskutiert [worden] und nie gründlich darüber nachgedacht [worden].« (Chen 2.27) In diesem von Gong postkolonial interpretierten Handeln findet dann der positiv gewendete Umgang mit der verspäteten Moderne statt. Darin zeigt sich ein bewusster Umgang innerhalb der verspäteten Moderne und kein einfaches passives Hinnehmen dieser Bürde der Verspätung der Dritten Welt.

3.6 Zur Funktion der Selbstbezeichnung ›Dritte Welt‹ und zum Referenzrahmen Die Selbstbezeichnung als ›Dritte Welt‹124 muss als Einordnung gelesen werden, die bewusst die Frage nach der aktuellen Bedeutung der historischen Idee von Moderne und den Modernisierungstheorien in jenen als ›Dritte Welt‹ bezeichneten Regionen stellt und die somit das In-Bezug-Stehen und dessen Geschichtlichkeit unterstreicht. Es ist eine Kategorie, in der sich die Form der Normativität, die Gong der Moderne zuschreibt, ausdrückt. So sieht Gong die wiederkehrende, bewusste Selbsteinordnung in die Kategorie ›Dritte Welt‹, die er auch schon gleich zu Beginn des Textes vornimmt, als Grundvoraussetzung der Diskussion: 123 Es sei nicht einfach »die Schaffung neuer Identitätssymbole, neuer ›positiver Bilder‹ als Basis einer unreflektierten ›Identitätspolitik‹«, so schreibt Homi K. Bhabha, die in der Intervention der postkolonialen Theorie geschehe, sondern es werde auf »die Transformation der Äußerungsbedingungen auf der Ebene des Zeichens« abgezielt (vgl. Bhabha, Verortung, S. 371). 124 Im Taiwans Kunstkontext wurde die Kategorie ›Dritte Welt‹ schon in der Heimaterde-Bewegung (xiangtu yundong) der 70er Jahre immer wieder genutzt [Fenghuang Ying, The Literary Development of Zhong Lihe and Postcolonial Discourse in Taiwan, S. 148f.], vor allem von Gong theoretisch und ideologisch nahestehenden Künstlern und Kritikern. Auch Kapur spricht von der ›Dritten Welt‹. Gong bezieht sich auf Chen Kuan-Hsing (persönliches Gespräch am 8.10.2012 in Tainan), der in Asia as method diese Kategorie nutzt und im gegenwärtigen Diskurs in postkolonialer Perspektive stark macht. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Gong in Anlehnung an Chen Kuan-Hsing diese Selbstkategorisierung zu einem Zeitpunkt stark macht, an dem im Westen diese Bezeichnung zugunsten der Bezeichnung ›Globaler Süden‹ umgewandelt wird.

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»[…] meine ich, dass Taiwan durchweg klären muss, welchen besonderen Platz es in der Struktur der Weltgeschichte einnimmt und muss klar das Merkmal Dritte Welt erkennen, das zu Taiwan selbst gehört.« (3.83) Diese Kategorie hat die konkrete Funktion einer Positionierung der Diskussion im Globalen und beinhaltet vor allem an dieser Stelle ganz konkret den Aufruf, die der Zuschreibung als ›Dritte Welt‹ inhärente Bedeutung der Fremdzuschreibung als ein Thema, mit dem sich Taiwan eingehend auseinandersetzen muss, anzuerkennen. Diese Fremdzuschreibung ist folglich – von einem Blick, der die heutige globale Welt in den Blick nimmt – als Teil des Eigenen produktiv und bestimmt aus dieser Position heraus auch den historischen Blickwinkel weiterhin. Diese Fremdzuschreibung als ›eigen‹ ernsthaft zu betrachten und ihre Bedeutung im Globalen zu betrachten, muss – so wird in Gongs Nutzung deutlich – Aufgabe sein, diskutiert man einen Modernismus der Kunst Taiwans, der im globalen Heute als Teil desselben betrachtet werden muss und sich innerhalb dessen auch weiter formt. Doch trotz – oder gerade aufgrund – der Eingebundenheit ins Globale setzt Gong das Schreiben von Kunstkritik in einen Kontext, der diese Praxis in der Ersten und Dritten Welt unterscheidet: »Kapur erinnert uns jedoch daran, dass sich die Dritte Welt immer an die von Zwang gezeichneten Ausnahmesituation im Entwicklungsprozess erinnern muss.« (1.10) Während diese Differenzierung einerseits aufgrund der Charakterisierung der Dritten Welt in Anlehnung an Chen Chieh-jen als Nicht-Archiv-Gesellschaft,125 der es an zugänglichen Quellen und an Archiven mangelt, zu treffen ist, ist es vor allem aber aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungsstrukturen, die dem Schreiben und Nachdenken zugrundeliegen, und die in der Dritten Welt die ständige Auseinandersetzung fordern. Dies zeigt Gong auch auf, wenn er die Auseinandersetzung Kapurs mit Williams paraphrasiert wiedergibt: »Kapur zitiert Williams, macht jedoch sofort klar, dass die indischen Intellektuellen aus der Dritten Welt – obwohl sie gewillt sind, mit den immanenten Aspekten der komplexen Kultur umzugehen – doch fest daran glauben, dass die Gefühlsstruktur und die materielle Ebene Bedingungen der Bedeutungsmanifestation seien. Deshalb sind indische Intellektuelle besonders aufmerksam, wie sich die Formen der Kunst und die Formation der Gesellschaft zueinander verhalten und legen damit die Grundlage für die Fortführung der Kulturgeschichte, um unter der Situation eines ›Neoimperialismus‹, der zwischen Spätkapitalismus und Postmoderne errichtet wurde, zu überleben.« (1.3f.) 125 In den Gesprächen zwischen Chen Chieh-jen und Gong Jow-jiun, die diese 2012 führten und in der Zeitschrift des Museum of Fine Arts Taipei veröffentlichten, wird die Nicht-Archiv-Gesellschaft (wu dang’an shehui 無檔案社會) als Gesellschaft, die keine »Akten, Dokumente und Archive« (0.4) hat, bzw. sammelt, diese nicht wertschätzt und sich deshalb nicht reflektierend, sondern als Tatsache auf Geschichte bezieht, bezeichnet. Vgl. Chen Chieh-jen; Gong Jow-jiun, Zuowei lishi jinxingshi de dangan, chuangzuo yu zhishi shengchan (xia) 作為歷史進行式的檔案, 創作與知識生產 (下) [Im Gang der Geschichte entstehende Akten, Schaffen und Wissensproduktion (2)], in: Journal of Taipei Fine Arts Museum, Nr. 164, 2012, S. 104-107.

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So werden durch die Nutzung der Kategorie ›Dritte Welt‹ dieser Zuschreibung inhärente Fragen von globaler Hierarchie, des Zwanges und der Asymmetrie konkret einbezogen und die Notwendigkeit der Beachtung angesprochen, um die Beziehung und den Unterschied in der Erfahrung zwischen Erster und Dritter Welt zu diskutieren. Ein »Selbstbewusstsein gegenüber der Weltgeschichte« (1.35) kann demnach nur erreicht werden, wenn sich mit der historischen und fortwährenden Selbst- und Fremdeinordnung in Bezug auf die diskursiv produktive Vorstellung einer »kulturellen Überlegenheit« (1.59) aktiv auseinandergesetzt wird. ›Dritte Welt‹ dient bei Gong damit auch als Zuschreibung, die auf die Einf lussrichtung des Imperialismus verweist, auf den mit der Moderne der ›Dritten Welt‹ unmittelbar verbundenen Zwang und die damit verbundenen sich unterscheidenden, zu berücksichtigenden (historischen) Erfahrungsstrukturen und -bahnen (trajectories) des Modernen, die Gong als gar körperliche Erfahrung (»am eigenen Leib eine geistige, schaffende Suchbewegung« (0.5) müsse der Schreibende erfahren) beschreibt. Dass das ›Moderne‹ in der ›Dritten Welt‹ keine Wahl ist, unterstreicht Gong weiter wenn er schreibt: »Die zugrundeliegende Ursache dafür [Bezug auf Chen Chuan-xings Frage nach der Passivität der Subjektivität Taiwans, Anm. d. Verf.] ist, dass der Imperialismus und der Prozess der Ausweitung des Kapitalismus, der den Imperialismus zur Kolonisierung antreibt, alle Dritte-Welt-Länder zwingend die ›Moderne‹ akzeptieren lässt und sie keine andere Möglichkeit haben, als ihre Subjektivität zu opfern.« (3.81) Es zeigt auch, dass diese Richtung einer Einbahnstraße gleicht und dass das NichtInteresse des Westens an der Situation der ›Dritten Welt‹ in der Auseinandersetzung mit der Moderne und der Verspätung – wie es auch in der Kapur entlehnten Feststellung, der Westen sei nicht im mindesten interessiert an jener historischen Diachronizität, zum Ausdruck kommt – immer ein Teil der Auseinandersetzung in der Dritten Welt sein muss. Folglich muss im globalen Kontext von Seiten der Dritten Welt dieses Nicht-Interesse und die hierin sich ausdrückende Verallgemeinerung und Vorstellung von Universalität126 immer betrachtet, ref lektiert und einbezogen werden. Die historisch und diskursiv produktive Kategorie ›Dritte Welt‹ wird also kritisch-bewusst als Selbstbezeichnung übernommen – ihre Thematisierung hat hier, ähnlich wie bei der Verspätung, nicht die Bedeutung eines ›Noch-nicht-so-weit-entwickelt-Seins‹, sondern bezeichnet vor dem Hintergrund der Einbettung in die Weltgeschichte den Einf luss auf die Selbstsicht und die notwendige Auseinandersetzung mit der Vorstellung von Unter- und Überlegenheit. Wenn die Selbstbezeichnung ›Dritte Welt‹ also bei Gong die Funktion des Sichtbarund Bewusst-Machens des Einf lusses von Hierarchien hat, so bezeichnet der Referenzrahmen ›Indien‹ die Infragestellung des unhinterfragten Referenzrahmens ›Euro-Amerika‹ und das Öffnen von Möglichkeiten der Interpretation von Geschichte für Taiwan:

126 Dieser Aspekt schwingt auch im direkten Bezug auf Raymond Williamsʼ Frage – die, im Gegensatz zu Gongs oder Kapurs Frage ohne eine Ortsbezeichnung auskommt – mit. Hier wird die Moderne Taiwans klar als in-Bezug-stehend gezeichnet. Durch den Verweis auf Williams und der Diskrepanz in der Betitelung besteht ein Verweis auf die westliche Annahme der Universalität.

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»Spricht man über Taiwans Weltsicht, so muss man bedenken, dass sie sich aus dem einem Zauberspruch ähnelnden Referenzrahmen ›Euro-Amerika als Methode‹ heraus entwickelt hat. Doch folgt man Chen Kuan-Hsing in seinem Text Indien als Methode, so wäre Indien ein möglicher Referenzrahmen für die Weltsicht.« (1.12f.) Der laut Gong in Taiwan bisher einzig wirksame, ›magische‹ Referenzrahmen ›Euro-Amerika‹ soll in seiner Absolutheit und Normativität befragt, akzeptiert und schließlich hinterfragt werden, um die Asymmetrie, die in der Beziehung besteht, anzuerkennen und einen Weg zu finden, damit positiv umzugehen. Es geht also darum, die eindimensionale Sicht, die einen unverrückbaren Blick auf die Moderne vorgibt und den Blick auf die Kunstgeschichtsschreibung in Taiwan vorgibt, zu ergänzen (und explizit nicht zu ersetzen). ›Indien‹ ist somit als Referenzrahmen zu sehen in Bezug auf die Zweifel und die Art ›Moderne‹ in Nicht-Euro-Amerika zu begegnen: ›Indien als Methode‹ bedeutet somit – in Bezug darauf, wie Geeta Kapur das ›Wann‹ im Titel begründet – das Bewusstmachen der Doppelung der Identität innerhalb der man sich Gong zufolge in Taiwan immer bewegt. Eine solche Identität soll als Referenzrahmen genutzt werden, anstelle einer – in Bezug auf die Entstehungsgeschichte so fremden – europäisch-amerikanischen. Der Referenzrahmen ›Indien‹ und das Berufen auf das Merkmal ›Dritte Welt‹ bedeutet also weniger, die taiwanische (Kolonial-)Geschichte mit der Indiens zu vergleichen – ein Vergleich, der wohl auch scheitern müsste – sondern, sich an der Herangehensweise an das kritisch-ref lektierende Verständnis eines Modernismus zu orientieren. So soll auch in Taiwan aus der Entwicklung und der historischen Erfahrung heraus nach einem »genealogische[n] Denken des ›Modernismus‹« (1.63) gesucht werden. Denn eine stilistische Einordnung begrenze das Denken des ›Modernismus‹ »auf die historische Erfahrung und den ästhetischen Rahmen der modernen Kunst Euro-Amerikas« (1.62) und verortet den Modernismus somit immer als etwas von außen Herangetragenes. Gong zeigt so, dass die stilistische Einordnung historisch gesehen als dem Westen zugehörig verstanden werden muss. ›Indien als Methode‹ kann so auch die bewusste Möglichkeit des Abwendens vom Streben nach Neuheit bedeuten. Dass Gong den weitestgehend unhinterfragten Referenzrahmens ›Euro-Amerika‹ jedoch nicht einfach verwirft und ersetzt, wird besonders durch die Besprechung Foucaults und den erneuten Bezug zu Manet am Ende des Textes deutlich, wodurch Gong auf die elementare Bedeutung der westlichen Definition der Moderne für die Selbstdefinition der taiwanischen Moderne verweist und sich recht klar von der Praktik eines Abgrenzens von Euro-Amerika distanziert, das er somit klar als (weiter) eine Rolle spielend kennzeichnet. Dadurch, dass Gong den Referenzrahmen Euro-Amerika nicht verwirft, deutet sich auch die Annahme an, dass ein Referenzrahmen nur begrenzt selbst gewählt werden kann und immer auch oktroyiert und geschichtlich bestimmt ist und das Finden eines Umgangs damit also notwendig ist. Es ist noch einmal explizit zu betonen, dass ›Taiwan‹ oder ›Indien‹ von Gong (und Kapur) nicht als Nationenbezeichnungen, die eine Gemeinschaft ›gegen‹ den Westen darstellen, genutzt werden. Es geht weder bei Kapur noch bei Gong darum, eine Abgrenzung, ein Nicht-Westlich-Sein127 darzustellen oder nach einer Tradition zu suchen, 127 Angemerkt werden muss hier auch, dass die von Gong genutzte Bezeichnung ›Dritte Welt‹ sehr viel konkreter ist als die Bezeichnung ›Nicht-Westen‹, da ihr konstruierter Charakter sehr offen

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sondern um den Umgang mit den existierenden, diskursiv wirksamen Kategorien, der das In-Bezug-Stehen als Teil begreift.128 Kapur schreibt dazu: »It is crucial that we do not see the modern as a form of determinism to be followed, in the manner of the stations of the cross, to a logical end. We should see our trajectories crisscrossing the western mainstream and, in their very disalignment from it, making up the ground that restructures the international. Similarly, before the west periodizes the postmodern129 entirely in its own terms and in that process also characterizes it, we have to introduce from the vantagepoint of the periphery the transgressions of uncategorized practice.« 130 Die Betonung der Wege, der Bahnen, unterstreicht die Gegenüberstellung der Erfahrung des Westens und der ›Dritten Welt‹. Und doch geht es sowohl bei Gong als auch bei Kapur darum, eine alternative Form des Denkens von Moderne zu finden und liegt. Das konkrete In-Bezug-Stehen dieser explizit modernen, historisch eingebetteten Kategorie ist stärker und es ist nicht durch die Verneinung geprägt und bezeichnet somit zunächst keine Abgrenzung gegenüber jener klar geografisch zu verstehenden Region ›Euro-Amerika‹ (von der Gong anstelle vom ›Westen‹ spricht). Durch das bewusste Sprechen von der ›Dritten Welt‹ – als auf reflexiven anstatt auf nationalen und abgrenzenden Erklärungsmustern beruhend – wird die Modernisierungstheorie und die darin implizierte Asymmetrie direkt angesprochen: Gong zeigt so, dass in der Dritten Welt die kritische Diskussion um die vielschichtige historische Stellung in der Weltgeschichte zwingend eine ist, die der Diskussion um die Moderne angehören muss, anstatt eine einfache nicht-westliche Identität aufzubauen, die sich auf die Idee einer ›eigenen‹ Tradition beruft (wie dies im globalen Kunstdiskurs häufig gefordert wird). 128 Dass die Selbstbezeichnung ›Dritte Welt‹ und der Blick auf den Referenzrahmen Indien bei Gong keine Abgrenzung bezeichnen, wird sehr deutlich im Vergleich mit der in den 90er Jahren von Ni Tsai-chin genutzten (und oberflächlich betrachtet der ›Dritten Welt‹ sehr ähnlichen) Formulierung der ›zurückgebliebenen Regionen‹ (vgl. Kap. IV): Was damals als grundlegende und negativ besetzte Abgrenzung gegenüber den ›Westen‹ genutzt wurde und der Schaffung eines nationalen Selbstbildes, eines ›Taiwan-Bewusstseins‹, diente, wird von Gong als (selbst-)bewusste Kategorisierung genutzt um einen Platz zu finden, die eigene Position im Spannungsfeld der historischen, sich wandelnden (Selbst-)Zuschreibungen zu definieren. Durch die Verweise, auf die die Bezeichnung ›Dritte Welt‹ referiert, wird deutlich, dass Gongs Einordnung klar von einer solchen, zu distanzieren ist, wie sie zu Beginn der 90er in der Suche nach einem Taiwan-Bewusstsein geschah. Besonders wird das in Gongs Betonung der »Vorteile und Chancen, die die ›verspätete Moderne‹ vielleicht besitzt« (3.87) deutlich, die klar nicht als Abgrenzung oder Vergleich zu lesen sind, sondern die Möglichkeiten der verspäteten Moderne als zu einem aktiven, selbstbestimmten und auch einflussreichen Handeln fähig, deutlich macht. 129 Interessanterweise wird in diesem Text Kapurs von 1992 wie auch in Chen Chuan-xings Kritik das ›Postmoderne‹ als Kategorie genannt, welche die Dritte Welt angesichts der Definitionsmacht des Westens vor Probleme des Umgangs stellt. In Gongs Text findet sich die Kategorie ›postmodern‹ hingegen nur mehr in Zitaten, was darauf verweist, dass sie 2012 in Taiwans Diskurs kein Diskussionsgegenstand mehr ist und sie in den 1990er Jahren mehr in Bezug auf Identitätsfragen, als auf inhaltliche Fragen genutzt wurde. (Dies wiederum verweist auf die Künstlichkeit und Willkürlichkeit der Kategorien, wie sie auch im von Gong zitierten Text Chen Fangmings zum Ausdruck kommt: »Einige dieser literarischen Werke werden unter dem Label Realismus geführt, andere werden als Modernismus bezeichnet, und in letzter Zeit tauchte auch der Begrif f Postmoderne auf.« (1.47); siehe dazu auch Kap. VI.4.) 130 Kapur, When was Modernism in Indian Art?, S. 297 (auch Kapur bezeichnet hier den Standpunkt der Peripherie als »vantagepoint«, als vorteilhaften Ausgangspunkt).

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dessen Nützlichkeit zu befragen, anstatt eine Kritik an der westlichen Universalität oder eine Abgrenzung vorzunehmen. Dies zeigt sehr stark, dass die Kritik am Westen wohl vorhanden ist – aber das eine solche Kritik die Diskussion um die Problematiken der ›Dritten Welt‹ in Bezug auf die Moderne nicht voranbringen kann (wobei eine Hauptfrage diesbezüglich sicherlich ist: Würde sie überhaupt gehört werden?). Es ist nicht die Kritik am Westen – die hier angesprochene eventuelle Vereinnahmung der Postmoderne als Form einer Universalisierung, die letztlich der Dritten Welt keinen Raum mehr lässt –, die im Vordergrund steht, sondern die Frage nach den Möglichkeiten der Denkstrukturen, die in der zwingend notwendigen Diskussion des Modernen in der ›Dritten Welt‹ eröf fnet werden können. Die Hegemonie und vor allem die Definitionshoheit des Westens werden somit eher als Tatsache dargestellt, mit der ein selbstbewusster Umgang gesucht werden muss, anstatt dies zu bekämpfen.

3.7 Zur Möglichkeit der Einbettung des ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ in einen globalen Kontext Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Selbstbezeichnung ›Dritte Welt‹ muss das Sprechen vom ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ betrachtet werden. Es wurde schon deutlich, dass Gong nicht ein lokales ›Taiwanisches‹ sucht, sondern die Verhandlung der Bedeutung des Modernen in einem globalen Kontext anspricht, wenn von einem ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ die Sprache ist. Gong versteht den ›Modernismus der Kunst Taiwans‹131, den er in Wu Yaozhongs Praxis ausgedrückt sieht, als eine kritische, geistige Bewegung, als ein »historisch-kritische[s] Bewusstsein, das den Standpunkt der Dritten Welt einnimmt« (3.22). Ein rein stilistisches Verständnis von ›Modernismus‹, wie Gong es in der Einordnung Wu Yaozhongs durch Chen Ruihua und die Bilder-Such-Truppe kritisiert, positioniert den »realistische[n] Maler Wu Yaozhong« – aufgrund der seit den 60er/70er Jahren angenommenen und wirksamen binären Gegenüberstellung von ›modernistisch‹ und ›realistisch‹ in Taiwan132 – hingegen schon im Vornherein außerhalb des Diskurses um einen ›Modernismus‹, der, als Stil verstanden, »als einzige Quelle und einzigen Bezugspunkt des ›Modernismus‹ den Modernismus des Westen sieht« (1.34) und also avantgardistischen Strömungen des 20. Jahrhunderts und vor allem dem von Greenberg als ›modernistisch‹ par excellence bezeichneten Abstrakten Expressionismus nahe steht. Wu Yaozhong fällt so aus dem Diskurs um das ›Modern-Sein‹ heraus, er wird undiskutierbar, oder wird – im besten Falle – als eine taiwanische Variante des westlichen kritischen Realismus ein-

131 Gong spricht im Text (außer in Zitaten und Anlehnungen) nicht von einem ›Modernismus Taiwans‹, sondern immer von einem ›Modernismus der Kunst Taiwans‹, womit noch einmal weniger ein lokaler Modernismus ausgedrückt wird, sondern auf die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Normativität der stilistischen Definition verwiesen wird. 132 Man könnte hier fragen, ob die Nutzung von Foucaults stilistisch-inhaltlicher Moderneanalyse durch Gong nicht auch die Funktion hat, die taiwanische Kategorisierung von Realismus und Modernismus als binär zu hinterfragen und somit einen realistischen Stil als möglichen in einer Diskussion des Modernismus in der Weltgeschichte kunstwissenschaftlich begründet einzuschließen.

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geordnet und wird damit zum Vertreter einer lokalen Kunst, die verspätet modern ist.133 Wu Yaozhongs künstlerisches Schaffen kann also nicht in einem globalen Diskurs um moderne oder modernistische Kunst als relevant diskutiert werden, weil es als außerhalb der verhandelbaren Kategorien, die hier also erneut als stilistisch (und damit implizit nach Neuheit strebend) definiert sind, gezeichnet wird. Durch die heutige Wiederholung dieser Kategorisierung, die Gong in den besprochenen kunsthistorischen Texten134 aufzeigt, zeigt sich, wie tief ein rein stilistisches Verständnis der Moderne in der Kunst und ein stilistischer Erklärungsansatz wirksam sind, die in binärer Beziehung zum ebenfalls rein stilistischen Verständnis von Realismus stehend gesehen werden. Wus Schaffen kann auf diese Weise nur innerhalb Taiwans ergänzender Form der Kunstgeschichtserzählung eine Vervollständigung im Sinne eines archivarischen Sammelns sein, anstatt eine Archäologie zu sein, die das Nicht-Gesehene der Standarderzählung und die blinden Flecken jenes hier angewendeten Verständnisses aufdeckt, das einen Wu als irrelevant betrachtet für globale Überlegungen zur Moderne der Kunst.135 Die vollzogene, stilistisch-orientierte Einordnung durch die Bilder-Such-Truppe verweist in die Richtung einer Abgrenzung, die die Nennung der Nation als Grundlage hat. Eine solche lokale Moderne wird durch ihr ›Taiwanisch-Sein‹ abgrenzend definiert, um nicht (verspätete) Kopie eines Greenbergʼschen Modernismus oder einer Moderne im Stile der Foucaultʼschen Manet-Interpretation zu sein. Eine Verhärtung des lokal-nationalen (und damit abgrenzenden) Bezugs auf ein ›Eigenes (bentu)‹ beobachtet Gong in der Kunstszene seit den frühen 1990er Jahren, wie die diskutierten Positionen und vor allem das Sprechen von einer »zukunftsweisenden Bedeutung« die Gong den kritischen Gedanken Chen Chuan-xings zuschreibt,136 schließen lassen. Diese Verstärkung, wie sie demnach besonders in der Gleichsetzung von ›modern‹ mit ›westlich‹ in der Diskussion um das ›Taiwan-Bewusstsein‹ ihren Ausgang nahm, findet er ebenfalls in der aktuellen Kunstszene und bezieht in diese Kritik auch die lokal-orientierte Lesweise Wu Yaozhongs durch die Bilder-Such-Truppe ein. Im Verhaftet-Bleiben in der gängigen Perspektive, in der die Muster, die Kategorien, die Erzählung schon vorgegeben sind, wird so implizit die Vorstellung mitgetragen, es könne per se keine taiwanische Moderne in der Kunst, die einen Raum in der Weltgeschichte haben kann, geben, sondern nur eine lokale moderne Kunstgeschichte, die jedoch – wie Gong herausarbeitet – unterschwellig immer damit zu kämpfen hat, nicht »in vollem Maße« (1.37) modern werden zu können. Gong öffnet daher den Blick dafür, dass es der Bezug auf das euro-amerikanische Kunstverständnis verbunden mit dem Bezug auf ein ›Taiwan‹ ist, der eine lokale Moderne schafft, die immer mit 133 Einem solchen Blick liegt folglich die Annahme zugrunde, dass die Frage nach einer stilistisch definierten lokalen Moderne auch gestellt und beantwortet werden könnte, ohne auf äußere Einflüsse oder auf einen Referenzrahmen zu schauen. 134 Hervorgehoben sei an dieser Stelle, dass Gong sich (fast) nur an Texten abarbeitet, die ihm inhaltlich-reflexiv zusagen und er hier also eine sehr feinmaschige Analyse liefert, die nicht Kritik, sondern ein kritisches Weiterkommen bezweckt. 135 Interessanterweise nimmt Wu innerhalb des modernen, offiziellen Kunstsystems Taiwans einen Platz im Bereich der ›westlichen Malerei‹ (xihua, xiyanghua) ein und vertritt somit implizit ein modernes Kunstschaffen und eine moderne Form der Diskussion um Kunst. 136 Vgl. Gong, Shiyan yu wei ganjue, S. 48.

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den widersprüchlichen Dilemmata kämpfen muss, nie wirklich zu Taiwan zu gehören (Moderne als von außen kommend) und folglich nie wirklich modern werden zu können (Logik der Neuheit und Verspätung). Damit wird die Frage nach der möglichen stilistischen Verortung des ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ auch zu einer, die davon handelt, ob die Möglichkeit, dass der Modernismus überhaupt zu Taiwan gehören kann, besteht oder ob er immer etwas Äußerliches bleiben wird. Die Verhandlung dieser Frage klingt auch bei Chen Fangming an, bei dem ›Taiwans Modernismus‹ durch eine Lokalisierung »absolut taiwanisch« wird und »ein Produkt [ist], das nach dem Kontakt mit der Moderne entstanden ist.« (1.54) In der Analyse Chen Fangmings wird die Moderne als Paket dargestellt, das verspätet und von außen nach Taiwan kam und in einem additiven Prozess zum Produkt ›Taiwans Modernismus‹ wurde.137 Doch birgt ›Taiwans Modernismus‹, gesehen als »Produkt« – trotz der Einbindung in die Weltgeschichte, die Gong konstatiert –, nicht die Gefahr, sich durch sein ›Taiwanisch-Sein‹ abgrenzend zu definieren, und so nur innerhalb der gedanklich einengenden Grenzen eines Lokalen, das zum Globalen nur in der Beziehung einer festen zeitlichen Verspätung steht, diskutieren zu können? Auch das Sprechen von einer Lokalisierung des Modernismus scheint ein Bild von einem nicht weiter diskutierten, als Entität verstandenen Modernismus zu transportieren, der nur an einen geografisch anderen Ort verschoben wurde. Ein so gesehener lokaler Modernismus bietet zwar die Möglichkeit, die verschiedenen Einf lüsse der Weltgeschichte auf die Entwicklung der Kunst zu betrachten, doch verbleibt er trotzdem in einem lokalisierenden Denken und verpasst es, diesen taiwanischen Modernismus rückzubinden in eine globale Struktur des Denkens (wie es bei Gong durch die Bezeichnung ›Dritte-Welt-Modernismus‹ geschieht). So kann in einem solchen Denkmuster der Modernismus zu Taiwan gehören, aber der ›Modernismus Taiwans‹ ist eine Art Endprodukt, das nicht weiter der Diskussion ausgesetzt wird, nicht weiter in Bezug auf seine Chancen, die die Diskussion auch (oder besonders) für eine erneute, zeitgenössische Diskussion bieten kann, hin untersucht wird. Gongs Suche nach einem ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ kann als Aufruf an die taiwanische Kunstszene gelesen werden, dezidiert den Bezug auf die ›Heimaterde‹ im Realismus der 70er Jahre abseits der stilistischen Fragen und auch abseits einer Definition des Lokalen erneut zu betrachten und sich so nicht von den widersprüchlichen Fragen der Zugehörigkeit gefangen nehmen zu lassen. Vielmehr sollten stattdessen die sich in der kritischen Auseinandersetzung andeutenden Chancen für ein zeitgenössisches, historisch-orientiertes, aber nicht historisierendes Verständnis eines ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ betrachtet werden. Denn die Erwähnung der ›Eigenen Erde (bentu)‹ scheint – besonders im von Gong zitierten Text von Hsiao Chong-ray von 2012 – zu jener Flucht in die Tradition zu werden, von der Kapur spricht (»f lying into defense of tradition«), und dient als Identifikation, als Wurzel (um das Bild der Erde zu vervollständigen), anstatt eine Ref lexion jener »historische[n] Genealogie des kritischen Geistes« (1.64) des Modernismus der Kunst Taiwans zu sein. Die gegenwärtige Kunstgeschichtsschreibung verhärtet damit ein Bild der parallel verlaufenden, verspäteten lokalen taiwanischen Moderne der 70er Jahre, anstatt die Möglichkeiten der 137 Eine solche additive Sichtweise ist in der rechtfertigenden Nutzung der Postkolonialen Theorien (auf die sich Chen Fangming im Titel seines Buches auch bezieht) im globalen Kunstdiskurs gang und gäbe.

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Einbettung in den globalen Kontext zu suchen. Gongs Diskussion ist damit eine, die – so soll hier noch einmal hervorgehoben werden – im zeitgenössischen Kontext angesiedelt ist und von dieser Position aus, in Anbetracht der kategorisierenden Arbeit der Bilder-Such-Truppe, vor allem einen diskursiven Blick auf die Art der Verhandlung der 70er Jahre in der Kunstkritik seit den 1990er Jahren wirft und fragt, wie man einen historischen, scheinbar rein lokalen künstlerischen Ausdruck im ZeitgenössischGlobalen und im Kontext einer globalen Moderne diskutieren kann, ohne ins Lokalisierende zu verfallen. Er fragt, welche Probleme und welche Chancen bestehen, wie man ihn fruchtbar machen kann. So sieht Gong in der vergleichenden Betrachtung des in den 70er Jahren in Taiwan populären Fotorealismus und des Realismus Wu Yaozhongs eine Möglichkeit, den Bezug zur ›Heimaterde‹ der 70er Jahre als kritische Ref lexion der »allgemeine[n] folkloristische[n] Bedeutung des Eigenen (bentu) Taiwans« und gleichzeitig als Rückbezug auf »die Bedeutung der proletarischen Heimaterde (xiangtu) und des Eigenen (bentu) der Arbeiter auf internationaler Ebene« (3.24) anstatt als Rückzug auf ein Lokales zu verstehen, das das ›Eigene (bentu)‹ »genau auf ein auf nationalistischen Erklärungen beruhende[s], geografische[s] Eigene (bentu)‹ [beschränkt]« (3.32), wie Gong es in der Wiederholung des kunstkritischen Verständnisses und des kunsthistorischen Blickes auf die Entwicklung der 70er Jahre geschehen sieht. Denn wird in Wus Praxis nicht gerade die Auseinandersetzung mit einer ›Heimaterde‹ sichtbar, die »nicht nur einfach auf Innertaiwanisches [verweist], sondern […] historisch-kritisches Bewusstsein [besitzt]« (3.19), also verwoben (entangled) ist mit der Weltgeschichte und damit mehr ist als eine Suche nach Identität und die Lokalisierung eines von außen kommenden Stils? »Es sind ein ›Eigenes (bentu)‹ und eine ›Wirklichkeit‹, die bedeckt sind von der Erfahrung der Modernisierung durch die japanische imperiale Kolonisierung, der kolonialen Struktur nach der Modernisierung des amerikanischen Kapitalismus und der Ideologie nach dem Kalten Krieg-Schema der Kuomintang und die sich hier erneut enthüllen, die erneut beschrieben werden. Vom indischen Referenzrahmen aus gesehen ist dies eine Art von geistiger Bewegung des ›Modernismus der Kunst Taiwans‹, ein künstlerischer kritischer Akt.« (3.20f.) Gong interpretiert so den künstlerischen Bezug auf den Heimatboden als hochpolitisch, als eine bewusste Art der modernen Welt zu begegnen, anstatt hier eine Abgrenzung von der Weltpolitik und einen damit verbundenen Rückzug auf das Ländliche, Beschauliche und Lokale/Nationale zu sehen. Der Realismus wird dadurch der stilistischen Einordnung als Mittel der künstlerischen Abbildung einer Heimaterde enthoben und wird als bewusste, kritische Auseinandersetzung mit der vielschichtigen, diskursiv verstandenen Bedeutung der ›Heimaterde‹ als Ausdruck eines ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ dargelegt. Der Realismus wird – in Wu Yaozhongs Worten – gezeigt als Möglichkeit »mit der Gesellschaft, dem Volk und gar der ganzen Welt in einer klaren und aktiven Beziehung« (2.108) zu stehen. Durch den Einbezug der Weltgeschichte in die kritische Verbindung der Koordinaten Realismus-›Heimaterde‹/›Eigene Erde‹-Modernismus schafft Gong eine Art, den ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ zu denken, der weder als rein von außen kommend verstanden wird, noch auf ein rein Innertaiwanisches verweist, sondern beide Ebenen verbindet und sich als aus der Ref lexion des Eingebundenseins und der vielschichti-

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gen Bezüge entstanden zeigt. Gongs ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ ist somit dezidiert nicht als Produkt zu verstehen, nicht als ein von außen kommender Stil, der durch die Lokalisierung eine Aneignung und Nativisierung (bentuhua) erfuhr. Gongs ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ ist vielmehr als jene geistige Bewegung, als Auseinandersetzung mit den Wegen und Bahnen (»trajectories«, wie Kapur schreibt) des Modernismus, also der fortwährenden Auseinandersetzung mit der postkolonialen Erfahrung des Modernismus zu verstehen. Gong generiert einen ›Modernismus der Kunst Taiwan‹ also aus einem ref lexiv-kritischen Nachdenken über die Rolle der Kunst und die Bedeutung der Normativität des Modernismus in der Gesellschaft und Geschichte Taiwans und den konkreten Umgang mit dieser in der Form der Präsentation von Kunst. So verweist Gongs Kritik, dass Taiwans Kunstkritiker auf eine »amerikanische, von Greenberg formulierte, formalistische, sich von einer Diachronizität abwendende ästhetische Bedeutung des ›Modernismus‹« referieren und es so verpassen »das Bewusstsein und die Entschlossenheit des ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ zu gestalten« (3.34) auch darauf, dass explizit nicht die Suche nach einer taiwanischen modernen Formästhetik, die sich stilistisch als Taiwan zugehörig zeigt, zur Disposition steht – eine Suche, die sich in der stilistischen Kritik Wus widerspiegelt. Dies ist wohl besonders von Bedeutung, schaut man sich Gongs eingehende, detaillierte Bildbeschreibungen an. In der vorsichtigen, allmählichen Herausarbeitung der stilistischen Nicht-Modernität Wu Yaozhongs zeigt Gong auf, dass eine Modernität Wus einen anderen Zugang benötigt, als den, den Foucault für Manets Werk wählt. Dieses ›Andere‹ sucht er jedoch dezidiert nicht über eine Suche nach einer ›taiwanischen‹, ›chinesischen‹ oder ›ostasiatischen‹ Ästhetik oder stilistischen Spuren derselben. Er fragt nicht nach ästhetischen Prinzipien wie beispielsweise dem chinesischen Ästhetikprinzip des ›Weiß-Lassens‹ (dem liubai 留白) oder dem von Liu Kuosung dezidiert betrachteten xieyi, nicht nach dem spezifisch Taiwanischen und er diskutiert nicht moderne Künstler, an denen sich eine solche Diskussion verhältnismäßig einfach vollziehen lassen würde und die regelmäßig so eingeordnet werden, wie beispielsweise Liu Kuo-sung, Lin Shou-yu/Richard Lin oder, um bei den 70er Jahren zu bleiben, Xi Dejin,138 sondern wählt mit Wu Yaozhong einen Künstler, der sich einer solchen stilistisch-ästhetischen Interpretation sperrt und sich doch scheinbar nur für die Diskussion eines lokalen Modernismus als tauglich erweist. Doch verbleibt Gong somit eben nicht bei der Bildbeschreibung, bleibt nicht an der Oberf läche, um Moderne und Modernität zu suchen, es ist kein stilistisch und kulturell-ästhetischer Unterschied, den Gong durch die Bildbeschreibung herausarbeiten möchte, er zeigt hiermit nicht, dass es doch eigentlich unpassend ist, mit Foucault an Wu heranzugehen. Im Gegenteil verweist Gong viel mehr darauf, wie stark die Verbindung zu diesem Denken ist, wie stark der Bezug gesehen werden muss, als etwas, womit sich Wu in seiner künstlerischen Praxis ganz dezidiert auseinandersetzte. Wus Beschäftigung ist also eine, die sich mit den Wegen des Modernen in Bezug auf die Dritte Welt auseinan138 Es lassen sich zahlreiche Beispiele, wie diese und andere Künstler regelmäßig sehr oberflächlich auf eine solche Weise abgrenzend eingeordnet werden, finden. Natürlich ist es von Bedeutung, diese Komponenten im Schaffen der Künstler nachzuvollziehen und zu benennen, nur muss hier vorsichtig vorgegangen werden, damit keine Abgrenzung geschieht, die nur einfach ein ›Anderssein‹ im Vergleich zur modernen Kunst des ›Westens‹ sucht und feststellt.

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dersetzt und diese in seinen Bildern verarbeitet und im Umgang mit dem Bild, das er nicht als museales Werk behandelt. Hierin muss dann auch jener Unterschied zur Nutzung Manets der Ukiyo-e gesehen werden, den Gong anmerkt: »Wie Wu Yaozhong zu Beginn der 60er Jahre direkt-indirekt Manet und Renoir nutzt, lässt uns spüren, dass sich dies scheinbar von der Art und Weise wie Manet in dem Portrait Zolas die japanische Ukiyo-e im Bild an der Wand auftauchen lässt, unterscheidet.« (2.42) Wu legt also die Grundlage seines Moderneverständnisses – besonders in Bilderbetrachtendes Mädchen – offen und verweist damit konkret auf die Probleme des verspäteten Modern-Werdens angesichts der Einf lüsse und besonders angesichts des Paradigmas der Neuheit. Er verweist insbesondere auf die Notwendigkeit der andauernden Auseinandersetzung, zu der er durch die Veröffentlichung seiner Malereien auf Buch- und Zeitschriftencovern aufruft. So ist diese Form des Verweises nicht nur stilistisch und im Motiv zu finden, sondern vor allem auch gedanklich. Dies bezeichnet Gong als »aus einer ›verspäteten Moderne‹ entstandene ›gebrochene Moderne‹« (2.56) und fragt: »Wie können wir diese Art aus einer ›verspäteten Moderne‹ entstandene ›gebrochene Moderne‹ bewerten? Wie sollen wir eine Moderne, die aus Katalogen und der Lehrer-Schüler-Beziehung errungen ist, bewerten? Wie sollen wir mit einem Modernismus, der sich aus der Praxis gebildet hat, umgehen?« (2.56ff.) Gong verweist im Sprechen von der ›gebrochenen Moderne‹ darauf, dass diese (in einem physikalischen Sinne: die Richtung ändernde) gebrochene Moderne in Verbindung zur Vorstellung der westlichen Moderne besteht und etwas aus dieser Hervorgegangenes ist. Das Beachten und kritische Ref lektieren dieser – komplizierten und problembehafteten – Wege und der vielfältigen Möglichkeiten sind also Teil eines ›Modernismus der Kunst Taiwans‹. Gong plädiert also dafür, die Brechungen der Moderne in Taiwan zu verfolgen, die Wege zu beachten, den Umgang mit der Verspätung zu untersuchen und auf diese Weise »ein genealogisches Denken des ›Modernismus‹ [Herv. d. Verf.] auf[zu]werfen, das zu uns selbst gehört« (1.63), das also zu Taiwan gehört, jedoch die Erfahrung, Einf lüsse, Wege nicht ignoriert (und somit Genealogie in Anlehnung an Foucault begreift und nicht auf einer linearen Entwicklung beruhend).

3.8 Xieshizhuyi 寫實主義 – wie ist ein so bezeichneter Realismus zu verstehen? Ein genealogisches Denken vollzieht Gong auch im Herausstellen des Terminus Realismus als xieshizhuyi. Gongs Betonung des Realismus als etwas, durch dessen Untersuchung der unbeachteten, vergrabenen Teile ein Modernismus der Kunst Taiwans gefunden werden kann, macht eine genauere Betrachtung des von Gong im Gegensatz zum Terminus xianshizhuyi hervorgehobenen Terminus xieshizhuyi nötig.139 139 Immer wieder werden in chinesischen Quellen die Termini xianshizhuyi und xieshizhuyi als Synonyme angegeben. Vgl. Wu Yutang 吳宇棠, Taiwan meishu zhong de ›xieshi‹ (1910-1945). Yujing xingcheng yu lishi

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Chen Ruihua nutzt den Begriff xieshizhuyi für die erste Schaffensperiode Wus und beschreibt diese Arbeiten als Arbeiten »in fundiertem technischen Können« (2.87), während die späteren, mit dem Begriff xianshizhuyi bezeichneten Arbeiten »ein starkes Interesse an sozialistischen Gedanken [zeigen]« (2.89). Chen Ruihua sieht den Begriff xianshizhuyi also im Gegensatz zum Begriff xieshizhuyi – welcher dann eher als Naturalismus verstanden wird – als auf thematischer Ebene politisch-kritische Implikationen habend. Gong kritisiert diese Trennung, er lehnt den Begriff xianshizhuyi für die Beschreibung realistischer Kunst vor allem deshalb ab, da ein Blick auf die zugrundeliegende Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte des Begriffes xieshizhuyi damit versperrt wird. So kommt in Gongs Bezeichnung von xieshi als »chinesisch-englische sich ergänzende Übersetzung«, als »sich vervollständigende[s] Paar« (2.102), sein Grund für das Festhalten am Begriff xieshi zum Ausdruck: denn der Begriff enthält – folgt man der Begriffsgeschichte – schon eine kritische moderne Aushandlung und muss als Hybrid bezeichnet werden: xianshi, als die englische Übersetzung von realism, bezeichnet das Zeigen, Herausstellen oder Sichtbarmachen (xian) der Wirklichkeit (shi). xieshi hingegen als »chinesisch-englisches Paar« muss als moderner Gegenpart zum klassisch chinesischen xieyi 寫意 verstanden werden. Es bezeichnet wörtlich übersetzt also das ›Schreiben der Wirklichkeit‹ und bezieht somit das zutiefst von der klassischen chinesischen Vorstellung des Kunstschaffens durchdrungene xie 寫, das Schreiben, mit ein.140 Obgleich der Begriff xieshi etymologisch bis ins 6. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann und für die Beschreibung der schildernden Malerei der Song-Dynastie im Gegensatz zur als xieyi verstandenen Kunst der Yuan-Dynastie genutzt wurde,141 ist die moderne Dichotomie nicht hieraus entstanden. Vielmehr wurde die moderne japanische Begriffsprägung xieshi, die zur Meiji-Zeit angesichts der Erfahrung der westlichen realistischen Malerei entstand, ins Chinesische übernommen. Der Begriff xieshi ist also im Kontext der Begegnung mit der europäischen realistischen, die Natur wiedergebenden Malweise entstanden und traf in der Übernahme ins Chinesische auf den Hintergrund der Tradition des xieyi. xieshi bezeichnet damit eine Wortprägung, die keine einfache Übertragung einer Stilbezeichnung – im Gegensatz zu xianshi – ist, sondern ein schon in sich kritischer und hybrider Terminus, der die moderne Problematik der ständigen Aushandlung des Kunstverständnisses in sich trägt und darauf verweist, dass hier zwei Vorstellungen des Kunstverständnisses aufeinanderprallen, die doch als nahezu konträr verstanden werden können. Während das xie auf den Prozess und die übende Haltung des Schaffenden verweist, ist das shi – verstanden als der ›englische Teil‹ im Sinne des zugrundeliegenden Gedankens der Orientierung an der sichtbaren Wirklichkeit – das Anzeichen für einen werkorientierten Ausdruck von Kunst. xieshi ist in dieser Zwischenposition somit als Wortprägung einerseits als Gegenteil der schaffenden Haltung des xieyi zu sehen, aber auch im Be台灣美術中的 ›寫實‹ (1910-1945). 語境形成與歷史 [›Xie-Shi‹ (Realism) in Art of Taiwan (1910-1945): Contextual Formation and its History] (Dissertation an der Fu Jen Catholic University in Taipei im Jahr 2009), S.  4; online verfügbar unter: www.ntl.edu.tw/public/ntl/4216/吳宇棠全文.pdf, Stand: 3.8.16. 140 Zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit der modernen und klassischen Bedeutung des ›Schreibens‹ (xie) in der klassischen chinesischen Vorstellung des Kunstschaffens siehe Kap. III. 141 Vgl. Cheng-hua Wang, »In the Name of the Nation: Song Painting and Artistic Discourse in Early Twentieth Century China«, in: Rebecca M. Brown, Deborah S. Hutton (Hg.), A Companion to Asian Art and Architecture, West Sussex, 2011. S. 537-560, S 547ff.

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zug auf die westliche Kunstvorstellung als Gegenteil eines abstrakten künstlerischen Schaffens.142 In Chen Ruihuas Trennung beider Begriffe wird xieshizhuyi jedoch als bloß beschreibend verstanden, als eine Art Naturalismus, anstatt den vielschichtigen Hintergrund des Begriffes zu betrachten. So geht es hier nicht nur um eine Fachsimpelei, wie man meinen könnte, wenn Gong feststellt, dass der Begriff xianshizhuyi in der Kunstgeschichtsschreibung nicht genutzt wurde und wird. Vielmehr spricht Gong damit auch davon, mit welchen Begriffen Kunst besprochen wird und was man damit jeweils über sie aussagt. Er stellt also die Frage, wie Kunst aufgrund der genutzten Begriffe gedacht, gesehen, verstanden und vermittelt wird. So schwingt auch die Frage mit, ob Kunst, verstanden über den vielschichtigen Begriff ›xieshizhuyi‹ überhaupt stilistisch gesehen werden kann und ob sie nicht eigentlich immer kritisch betrachtet werden müsste, da in diesem Begriff doch impliziert ist, dass es eben die Ref lexion der englisch-chinesischen Übersetzung, dieses sich ergänzenden Paares ist, das die Möglichkeit bereithält, die ständige Auseinandersetzung weiter zu denken. Wird xieshizhuyi jedoch als einfache Übersetzung der stilistischen Bezeichnung ›Realismus‹ genutzt, so bedeutet dies eine Verfestigung der Termini: Die Hybridität bleibt so unsichtbar. Besonders die Betrachtung der Begriffsgeschichte des Begriffs xieshi im Zusammenhang mit der sich der Einordnung in Kategorien sträubenden Kunst Wus macht deutlich, dass das Kunstverständnis Taiwans als hybrides Gebilde vor dem Hintergrund der historischen Aushandlung und Entstehung von ›Moderne‹ in Taiwan – die sich mit der von Gong angesprochenen Kolonialisierung, dem Neoimperialismus, dem Kapitalismus und dem damit verbundenen Zwang auseinandersetzen muss – in der heutigen Situation des globalen Kunstdiskurses und dessen Herausforderungen für die Bedeutung des Modernen weiter verhandelt werden muss und sein historisch-moderner Entstehungskontext also Teil der Diskussion sein muss. Es ist diese Hybridität, die Gong in Wu Yaozhongs Arbeiten und in seiner Vorstellung von der Rolle der Kunst ausgedrückt sieht.

3.9 Schlussbetrachtung: Pluralisierung der Moderne? »Wenn wir deshalb der Frage ›Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf?‹ nachgehen, dann ist das nichts anderes als die Forderung oben Erwähntes [die Entwicklung der Bedeutung des Modernismus in Taiwan im kolonialen Modernisierungsprozess, Anm. d. Verf.] zurückzuverfolgen in Bezug auf die historische Genealogie des kritischen Geistes der frühen Moderne, des Kapitalismus, des Kolonialismus und des Imperialismus.« (1.64) Dass Gong das stilistisch geprägte ›Modernismus‹ im Titel verwendet, verweist kritisch auf die Frage, inwiefern eine Diskussion des Stilistischen die Frage nach dem ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ überhaupt beantworten kann und ob die Diskussion der

142 Vor diesem Hintergrund muss die Analogisierung des xieyi als ›abstrakt‹, die sich bei Liu findet, auch aus der modernen Wortprägung xieshi heraus erklärt werden: xieyi bekam in Anbetracht des Realistischen, verstanden als xieshi, rückwirkend die Bedeutung des abstrakten, was im westlichen Kunstverständnis als das Gegenteil des Realistischen steht.

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›Neuheit‹, die dem Sprechen von Modernismus inhärent ist, nicht immer auch vor dem Hintergrund der Dritte-Welt-Erfahrung der Moderne geführt werden muss. Der Text Wann kam der Modernismus in der Kunst Taiwans auf? ist ein starkes Plädoyer dafür, die bisher nicht gesehenen Momente in der normierten Kunstgeschichtserzählung zu suchen und zu betrachten. Gongs Schreiben bezieht eine Form des Sprechens ein, das diskursiv ausgeschlossen wurde und bezeichnet somit einen archäologischen Ansatz. So ist es nicht die Frage, wann der Modernismus der Kunst Taiwans auf kam, die im Rahmen des Textes beantwortet werden soll, sondern mit der Frage wird auf die Probleme, die dem Sprechen über Moderne in der Kunst Taiwans, inhärent sind, verwiesen. Das suchende, sich bewegende Denken, das Gong in seinem Text durchläuft, machen das ›Moderne‹ einer erneuten historischen und damit gleichzeitig auch zeitgenössischen Verortung zugänglich. So ist der Text dezidiert nicht kunsthistorisch einzuordnen, sondern behandelt eine zeitgenössische Problematik: Die Diskussion der fortdauernden Zeitlichkeit und der Verspätung der Moderne verweisen im Kontext der Betonung der ›Weltgeschichte‹, die Gong vornimmt, darauf, dass von einem globalen Heute aus ein Weg gefunden werden muss, um über die Moderne Taiwans zu sprechen. Die Verspätung ist damit kein Problem, das in einem ›Auf holen‹, im Erreichen einer Synchronität, zu Ende geht und also eine Perspektive darstellen könnte, die abgeschlossen werden kann. Vielmehr sucht Gong danach – in Anlehnung an Chakrabarty –, die Chancen der Verspätung zu suchen und zu nutzen. Dabei geht es weniger darum, einen Platz in den großen Erzählungen der Weltgeschichte retrospektiv zu ergattern. Vielmehr liegt die Bedeutung, eine selbstbewusste Position in der Weltgeschichte zu finden, darin, dass eine Form des Sprechens gefunden wird, die die Kategorien nicht verengt und ihre historische Erfahrungsgeschichten nicht vergisst. Im Sprechen von der »gebrochenen Moderne« hebt Gong die Notwendigkeit des Einbezugs der historischen Wege und Erfahrungsbahnen hervor, die er – ähnlich Chens Formulierung der ›Moderne an diesem Ort‹ – als in Taiwans zeitgenössischem Kunstdiskurs, der ›Moderne‹ als Taiwan nicht zugehörig sieht, nicht mehr verhandelt kritisiert. Diese Erweiterung des Referenzrahmens schafft keine ›Modernen‹143, die nebeneinander existieren und die – im Sinne der Vorstellung einer Modernisierung – bestimmte Entwicklungsschritte zwangsläufig, jedoch in unterschiedlicher Geschwindigkeit, durchlaufen. Vielmehr ist es die Perspektive auf das immer auch als normativ bestimmte Phänomen der Moderne, die erweitert wird. Man müsste demnach von einer ›Pluralisierung der Moderne‹ sprechen, wodurch die normative Bedeutung der Vorstellung der Moderne und des Modernismus als geschlossene Phänomene, als von außen kommend, dem Westen zugehörig und aufgezwungen, mitschwingt. So schwingt im Sprechen von einer ›gebrochenen Moderne‹ die dekolonisierende Absicht hinter der Pluralbildung von Modernen mit und wird in Bezug auf die Notwendigkeit der andauernden Auseinandersetzung mit der normativen Ebene von ›Moderne‹ als 143 An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Pluralbildung ›Modernen‹ grammatikalisch im Chinesischen so nicht eindeutig möglich ist und nur bspw. über Unterscheidungen und Formulierungen wie ›Taiwans Moderne‹, ›japanische Moderne‹ und die ›westliche Moderne‹ angezeigt werden kann. In der Übersetzung von Eisenstadts ›multiple modernities‹ ist die im Englischen vorgenommene Pluralbildung nur über das Voranstellen des Begriffes ›vielfältige‹ (duozhong 多重 oder duoyuan 多元) angedeutet, ist jedoch nicht im Begriff xiandaixing 現代性 selbst erkennbar.

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»immer irgendwie europäisch«144 weiter ref lektiert. Gong versucht daher, den Referenzrahmen Euro-Amerika in seiner Normativität und in der Art, wie er in Taiwan abgrenzend beachtet wird, als Teil eines ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ zu sehen und sieht dies als Grundlage der Selbstbeschreibung. In der kritisch-historischen Auseinandersetzung, die den ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ formt, muss der Bezug zur normativen Idee der Moderne und des Modernismus mitgedacht werden, wie Gong durch seine dezidierte Nutzung des stilistischen, vor allem von Greenberg geprägten Terminus ›Modernismus‹ zum Ausdruck bringt. Der ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ ist also nicht über den Referenzrahmen Euro-Amerika zu denken, jedoch auch nicht ohne ihn. Er ist nicht als verspätete Kopie zu sehen, aber auch nicht ohne die Idee der Verspätung und die Angst des Beeinf lusst-Werdens zu denken. Er ist nicht in stilistischen, westlichen kunsthistorischen Kategorien zu definieren, aber auch nicht ohne den Bezug zu selbigen. Gongs Betrachtung bezieht also dezidiert die Tatsache mit ein, dass ›Modernismus‹ in Taiwan (als der ›Dritten Welt‹ zugehörig) in Bezug zur normativen Vorstellung der Moderne gedacht wurde und wird – und dass dies in jenem kritisch-historischen ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ Teil des Denkens sein muss. Die Idee der einen Moderne ist Teil der Diskussion, wie sich in den Fragen des Wann und des Was des Modernismus zeigt. Die normative Definition der Moderne besteht im Hintergrund des Sprechens über den Modernismus in der Kunst Taiwans, die damit keine Abgrenzung bezeichnet, sondern vielmehr die Möglichkeit der Rückbindung der Diskussion in eine globale Auseinandersetzung um die Rezeption, Präsentation von und das Sprechen über Kunst bietet. Das Herausstellen der Normativität verweist somit auch auf die andauernde Relevanz der Modernediskussion für die Diskussion um ein ›Zeitgenössisches‹ und konterkariert Ansätze, die eine für die Dritte Welt emanzipatorische Trennung zwischen den beiden Konzepten ›Moderne‹ und ›Zeitgenossenschaft‹ sehen. Wird der Modernismus der Kunst also nicht als etwas Abgeschlossenes, Vergangenes sondern als für die heutige Diskussion relevant gesehen, so verweist die (Titel-)Frage nach der Zeitlichkeit des Modernismus darauf, dass auch das heutige, sogenannte ›Zeitgenössische‹ sich klar mit der Normativität der ›Moderne‹ auseinandersetzen muss und die Auseinandersetzung mit den normativen Kriterien, die das Moderne erst modern machen – insbesondere die Neuheit –, ebenso relevant sind für das ›Zeitgenössische‹. Die Frage, ›ob wir überhaupt jemals modern waren‹, die auf den ersten Blick so passend ist für eine Diskussion der in Bezug auf das Paradigma der Neuheit stilistisch Nichtmodernen, steht in Gongs Diskussion des ›Modernismus der Kunst Taiwans‹ nicht zur Debatte. Er diskutiert explizit nicht die Frage der Möglichkeit des Erreichens der Moderne oder des Erreichens der Zugehörigkeit zur Moderne. Vielmehr ist die Frage, wie diese inhärente Zugehörigkeit – im Sinne der Weltgeschichte – zu gestalten und zu formen, wie zu betrachten und zu diskutieren ist. Es geht also auch nicht darum, zu beantworten, welche äußerlichen Kriterien erfüllt sein müssen, um im Sinne einer stilistisch gedachten Fortschrittslogik ›modern‹ zu sein, sondern wie man mit dem Konstrukt ›Moderne‹ umgeht, wie man einen ›Dritte-Welt-Modernismus‹ in Vergangenheit und Zukunft einbettet und doch den Fortschrittsgedanken der Moderne

144 Gong im Gespräch am 8.11.2012 in der Installation Happiness Building I, siehe auch II.1.2.

V. Gong Jow-jiun und die Verspätung als Chance

einbezieht. Erst so kann jener ›reife Modernismus‹ entstehen, von dem Gong in Anlehnung an Kapur spricht.

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VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung der Analysen in die taiwanische Erzählung von Kunstgeschichte 1. Zusammenfassung der Analysen Vor dem Hintergrund der Leitfrage der Analyse (die zugleich vor dem Hintergrund der Globalisierung des Kunstdiskurses die grundlegende Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit darstellt), wie die Frage, was ›moderne Kunst‹ ist und was es bedeutet, über sie zu sprechen und sie zu schaffen, verhandelt wird und welche Fragen, Probleme dabei jeweils auftauchen, zeigt sich in den Analysen der Texte, dass es im verhandelten Zeitraum immer eine Vorstellung und kritisch-problematisierende Verhandlung von ›moderner Kunst‹ (verstanden als yishu oder meishu und damit im Bezug zum historischen Modernisierungsprozess Ostasiens) und deren Bedeutung für und in Taiwan1 gab, die jedoch einer historischen Veränderung in der Diskussionsform und Ausrichtung (besonders hinsichtlich der gewählten und damit als legitim geltenden Referenzrahmen) unterworfen ist. Die Analyse betrachtete den Kunstdiskurs Taiwans auf zwei Ebenen: Einerseits wurde ausgehend von den explizit für ein taiwanisches Publikum geschriebenen Texten die innere Perspektive Taiwans in ihrer zeitlichen Einbettung, vor allem aber in der diskursiven Eingebundenheit betrachtet. Weiter wurde diese innere Perspektive in ihrer zeitlichen und diskursiven Einbettung auf die äußeren Beziehungen und Verf lechtungen hin befragt. Es wurde nach den Begriffen gefragt und es wurden Ausschnitte der Bahnen aufgezeigt, über die die Diskurse moderner Kunst in Taiwan seit den 1950er Jahren verliefen. Es zeigt sich dabei, dass die Diskussionen moderner Kunst in Taiwan eng mit den Definitions- und Positionierungsproblematiken verbunden sind, die aus der historischen, von Zwang geprägten Modernisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Es wird jedoch deutlich, dass es nicht mehr um die Frage nach der Ablehnung oder dem euphorischen und unbedingten Annehmen der westlichen modernen Ideen der Kunst geht, sondern dass das Wissen, sich in einer Zeit zu befinden, in der das Moderne als Teil des ›Eigenen‹ nicht nicht diskutiert wer1 Ich schreibe hier ›Taiwan‹ und beziehe damit Lius Position, der sich als im ›freien China‹ und als ›chinesisch‹ positioniert, mit ein. Auf die politisch-ideologischen Implikationen der nationalen Selbstbezeichnung (als China, Taiwan oder ROC) soll hier nicht weiter eingegangen werden, jedoch wird dies im Kap. VI.3 mit Blick auf die Frage nach der kulturellen Identität hintergründig eine Rolle spielen.

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den kann, implizit die Diskussion leitet. Die jedoch nach wie vor von Widersprüchen durchzogene Verhandlung dieser hybriden Ausgangsposition bildet also den Hintergrund des Diskurses um die Bedeutung und Position ›moderner Kunst‹, der hier nun wieder in die Erzählung der Kunstgeschichte Taiwans rückeingebettet wird. Liu Kuo-sungs Diskussion ist eingebettet in die Diskussion um die Frage, ob eine moderne chinesische Malerei oder eine chinesische moderne Malerei gesucht werde und gesucht werden solle, wobei Liu für Letzteres steht und sich klar dafür ausspricht, die Materialien des künstlerischen Schaffens nicht auf den chinesischen Pinsel und Tusche zu begrenzen. Liu stellt sein eigenes künstlerisches Schaffen als modern par excellence vor, sich selbst sieht er als ›modernen Künstler‹. Sein Verständnis von ›moderner Kunst‹ lässt sich indirekt aus seinem Schreiben als Streben nach einer avantgardistisch verstandenen Moderne – auch im Sinne einer geistigen Modernisierung – verstehen. Dieses Streben sieht er aber in die ›Tradition‹, wie er das klassische chinesische Kunstschaffen und die Gedanken zum Herholen anderer Kulturen bezeichnet, eingebunden. Vor dem Hintergrund einer konservativen Gesellschaft und eines repressiven politischen Umfelds stellt Liu seine Gedanken zu einer chinesischen modernen Kunst, die in der Welt Bestand haben kann, vor und ruft zum kulturellen Austausch auf, den er als essentiell für eine fortschreitende, der Menschheit dienenden Entwicklung sieht. So ist seine Suche keine nach einem national-abgrenzenden ›chinesischen‹ Ausdruck in der Kunst. Seine Suche nach dem Chinesischen entspringt vielmehr der festen Überzeugung, dass dieses Chinesische in der Strömung der Moderne, die er als die ganze Welt umfassend und universal versteht, eine positive Entwicklung bedeuten kann. Sein Kunstbegriff und sein Verständnis der Bedeutung des künstlerischen Schaffens beruhen auf einer solchen ideologisch-geprägten, emphatischen Vorstellung der Bedeutung von Kunst. ›Echte Kunst‹ ist dabei für Liu das, was in Bewegung bleibend das Neue schafft, wobei diese Bewegung im Austausch der Kulturen besteht, der wiederum als ›modern‹, aber in der Tradition ruhend, von Liu gesehen wird. Für Liu bestehen Moderne und Tradition daher nicht als Gegensätze und so steht auch die Frage nach der Zugehörigkeit zur universalen oder ›kosmopolitischen (shijiexing)‹ Moderne für Liu nicht aufgrund des Bezugs auf eine ›chinesische Tradition‹ zur Debatte. Dreißig Jahre später schreibt Chen Chuan-xing im Kontext der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein, die zu Beginn der 1990er Jahre von Ni Tsai-chin und dessen Text Westliche Kunst – Made in Taiwan hervorgerufen wurde. Chen Chuan-xings Suche nach der Moderne in Taiwans Kunst ist geprägt von einem Moderneverständnis, wie es die europäische Auf klärung postuliert, von Begriffen und Konzepten wie der Subjektivität, dem dialektischen Verhältnis von Rationalität und Subversion, dem Illegitimen und Legitimen und vor allem der Kritik. Daran anschließend muss Kunst und künstlerisches Schaffen als autonom, selbsttätig und losgelöst von realpolitischen Zwängen gesehen werden, um so seine subversive Kraft zu entwickeln. Chens tiefgreifende Kritik am Moderneverständnis der Kunstszene Taiwans, sein Vorwurf der Unzulänglichkeit der Diskussion und der ›verspäteten Moderne‹, beruht vor allem darauf, dass er die Probleme und Zweifel, die Taiwans Moderne in ihrer Entwicklung mit sich trägt, als nie offen diskutiert anklagt. Mit seinen Bezeichnungen eines »imaginierten Modernismus« der 60er Jahre und eines »akademischen Modernismus« der 80er Jahre versucht Chen, die Modernediskussion der Kunst Taiwans einer ref lektierten Diskussion zu öffnen, die er als Grundlage einer Diskussion des Modernismus ›an diesem

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

Ort‹ sieht. Eine solche kritische Diskussion könnte dann als Gegenentwurf zu jenen nationalistischen Tendenzen dienen, die Chen angesichts der zu Beginn der 1990er Jahre schwelenden Diskussion um das Taiwan-Bewusstsein feststellt. In seiner Auseinandersetzung mit der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein bringt Chen die problembehaftete Frage der modernen Identität Taiwans ins Spiel. Ein »Geodeterminismus« führt Chen zufolge zu einer aus Angst geschehenden Abgrenzung. Chens starker Einbezug psychoanalytischer Konzepte und Begriffe verweist auch darauf, dass besonders in den 1980er Jahren viele Studenten aus dem Ausland zurückkamen und ihr erworbenes Wissen an den Universitäten weitergaben (was Chen doch auch selbst kritisch mit der Bezeichnung ›akademischer Modernismus‹ beschreibt). Die Auslandserfahrung von Personen wie Chen und das ›Mitbringen‹ konkreten Wissens und Erfahrungen muss daher auch als Teil der Moderne Taiwans gesehen werden. Diese Tatsache wiederum steht in großer Nähe zu Chens scharfer Kritik an der Auffassung der Kunstszene Taiwans, Moderne sei als »Fremdkörper« zu sehen, und Chens darauffolgender Feststellung, dass die Moderne als Teil Taiwans zu sehen sei. Weitere zwanzig Jahre später, in einer globalen Kunstwelt, in der weltweite Biennalen und Artist Residencies die Kunstszenen der Welt kaum mehr unterscheidbar machen, schreibt Gong Jow-jiun innerhalb einer Kunstszene, die zwar die Einbettung in das Globale sucht, gleichzeitig jedoch auch die Bewegung zu einer lokalen Kunstgeschichtsschreibung vollzieht. Gongs Frage, wann der Modernismus der Kunst Taiwans auf kam, verweist auf die normative Rolle, die die Moderne als festes, aus dem Westen (den er als Euro-Amerika bezeichnet und somit die diskursiv mächtige Bezeichnung ›Westen‹ in Frage stellt) kommendes Gedankengebäude in Taiwans Diskussion spielt. So ist es auch die Normativität des Moderneverständnisses insbesondere in Bezug auf das avantgardistische Paradigma der Neuheit, das Gong in den Blick nimmt und fragt, wie damit umgegangen werden kann in einem explizit modernen Taiwan, dessen Erfahrung der Moderne – beschrieben als (im physikalischen Sinne) »gebrochene Moderne« – sich jedoch massiv von jener Euro-Amerikas unterscheiden. Der von postkolonialen Theorien stark beeinf lusste Text ruft dazu auf, das Merkmal »Dritte Welt«, welches Gong als zu Taiwan gehörend bezeichnet, anzuerkennen und von hier aus die Chancen der somit ›verspäteten Moderne‹ zu erkennen und für ein Sprechen über den Modernismus der Kunst Taiwans, eingebettet in die Weltgeschichte (und nicht verstanden als ›lokale Moderne‹), zu nutzen. Der Modernismus der Kunst sollte vor diesem Hintergrund nicht stillschweigend im Sinne Greenbergs stilistisch bestimmt werden, sondern über die kritische Auseinandersetzung mit den Paradigmen der Moderne und des Modernismus. Die drei analysierten Texte setzen sich mit der Frage, was Taiwans Moderne in der Kunst ist, welchen Platz sie in der Welt und innerhalb der taiwanischen Diskussion einnehmen kann auf unterschiedliche Weise, eingebettet in die jeweils aktuelle Diskussion der Kunstszene Taiwans und auch den politisch-gesellschaftlichen Kontext, auseinander und müssen als Dokument der jeweiligen Zeit gelesen werden, auf welche sie unmittelbar Bezug nehmen. Moderne als »Strudel«, der alle hineinreißt (Liu), eine unzulänglich diskutierte und daher »verspätete Moderne« (Chen) und schließlich Gongs »gebrochene (refracted) Moderne«: Es ist immer ein starker Begriff und eine bestimmte Vorstellung von ›Moderne‹ als Konzept, die in der Verhandlung der Bedeutung für das künstlerische Schaffen und das Schreiben über Kunst mitschwebt, das

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sich jedoch in Bezug auf seine Normativität, seinen Referenzrahmen und die möglichen Bezüge stark unterscheidet. In diesem Kapitel werden die drei Analysen als Teil des Diskurses über moderne und zeitgenössische Kunst dargestellt und auf diese Weise die Probleme im Sprechen über moderne Kunst im zeitgenössischen Kunstdiskurs Taiwans (wie in II.1.2 dargestellt) vor dem Hintergrund der Analysen erneut beleuchtet. Dabei entsteht ein Bild, wie die heutige Gestalt der Probleme zu verstehen sein kann.

2. Vergleich der konzeptuellen Einordnung, der Referenzrahmen und Konnotationen der Zuschreibung ›modern‹ Es sind somit verschiedenste ideologische, stilistische und geistesgeschichtliche Referenzen und Bezugspunkte, die in der zeitgenössischen Vorstellung von ›moderner Kunst‹ in Taiwan zusammenlaufen. Erinnernd angemerkt werden soll hier zunächst, dass bei Liu moderne Kunst die Bezeichnung für die aktuelle Gegenwartskunst ist, die in einem ›modernen‹ Gestus, in der Einstellung, ›moderne Kunst‹ zu schaffen, entstand. Ähnlich ordnet Chen die damals zeitgenössisch entstehende Kunst als ›moderne Kunst‹ ein und kritisiert die in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein geschehende Einordnung als ›postmodern‹. Diese Einteilung wird von ihm somit als bloß oberf lächlich gekennzeichnet. Durch seinen Hinweis, Moderne nicht als »Fremdkörper« (Chen 4.51) zu sehen, verweist er auch darauf, dass alle in der Epoche der Moderne geschaffenen Kunstwerke als moderne zu sehen seien. Gongs Diskussion der modernen Kunst bezieht sich auf das schon vergangene Kunstschaffen (im Sinne des abgeschlossenen Modernismus Greenbergʼscher Art). Besonders durch die Kritik am Blick auf den ›Modernismus Taiwans‹ stellt er jedoch die sich zeigende verbreitete Annahme der Abgeschlossenheit der künstlerischen Epoche der Moderne infrage und stellt sie als in Bezug zum zeitgenössischen Denken und künstlerischen Schaffen stehend dar.2 Bei Liu wird besonders stark die Bedeutung der Neuheit betont: Moderne Kunst müsse zuallererst ›neu‹ sein und das schaffen, was es noch nicht gibt. Eine neue Kunst könne einen gesellschaftlichen Umbruch herbeiführen. Neu sei das, was sich auseinandersetzt mit den Gegebenheiten der aktuellen Zeit, in Lius Falle mit dem modernen Kulturaustausch. Neuheit ist bei Liu durchweg positiv konnotiert und als das Erstrebenswerte gezeichnet. Demgegenüber steht der Blick auf das Neue und die Neuheit in Gongs Herausstellung der Normativität, die die zum Paradigma gewordene Neuheit als absolut stellt und die Diachronizität, die die nicht-westliche Moderne ausmacht, ignoriert und bekämpft. Diese Definition und Bedeutung von Neuheit – die Gong von Greenberg in Anlehnung an Geeta Kapurs postkoloniale Ableitung aufgreift – verweist auf die »Nervosität in Bezug auf das Beeinflusstwerden« und den »Problemkomplex der Originalität des Schaffens« (Gong 1.32), welche die Auseinandersetzung mit der Neuheit in jenem von Gong als ›Dritte Welt‹ kategorisierten Taiwan hervorbringt. Neuheit als Anforderung an ein modernes Kunstschaffen hat damit bei Gong eine entschieden andere Konnotation als bei Liu – und doch wird klar deutlich, dass Neuheit als zutiefst zugrundegelegte Anforderung auch im zeitlichen Kontext, in dem sich Gong bewegt (also in den 2010er Jah2 In Teil VI.4 und VI.5 wird auf die Frage eingegangen, wann ein solcher historisch geschlossener Blick auf die Moderne in Taiwans Kunstszene, wie er bei Liu noch nicht zu finden ist, aufkam.

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

ren), besteht und das Nachdenken über moderne Kunst grundlegend bestimmt. Auch im Kontext, in dem Gong schreibt, gilt also die implizite Vorstellung, dass erst eine Kunst, die neu ist, wirklich modern sein kann. Während sich Liu noch als modernen Künstler sah, er die Möglichkeit, Neuheit zu erreichen, Neues zu schaffen nicht an seine Position in der Welt knüpfte, sein Modern-Sein und seine Verortung in der Moderne (in jenem Strudel) nicht essentiell infrage stellte, ist das Modern-Sein sowohl bei Chen als auch bei Gong als vielschichtiges und tiefverwurzeltes Problem gekennzeichnet, eng verbunden mit der Frage nach der Neuheit und damit einhergehend der Verspätung. Während bei Chen das Verspätet-Sein aus der unzulänglichen Diskussion von Moderne der taiwanischen Kunstszene hervorgeht, muss vor allem bei Gong das Verspätet-Sein gegenüber dem Westen als diskursiv-produktiver Fakt gesehen werden, der auf der Normativität, die das Paradigma der Neuheit hervorbringt, aufbaut. Diese enge, normative Verbindung von Neuheit und Verspätung drückt sich vor allem auch in folgender Frage Gongs nach der Bewertung eines Ausdrucks von Moderne, wie er ihn im Diskurs um Wu Yaozhong findet, aus: »Die weiterführende Frage ist: Wie können wir diese Art aus einer ›verspäteten Moderne‹ entstandene ›gebrochene Moderne‹ bewerten? Wie sollen wir eine Moderne, die aus Katalogen und der Lehrer-Schüler-Beziehung errungen ist, bewerten? Wie sollen wir mit einem Modernismus, der sich aus der Praxis gebildet hat, umgehen?« (Gong 2.56ff.) In diesen Fragen Gongs drückt sich der der zeitgenössischen Diskussion inhärente, zentrale Zweifel am Umgang mit der Zuschreibung ›modern-zu-sein‹, aus: Wie, auf welche Art, ist ein solcher Ausdruck, der Teil einer Kunst ist, die in Taiwans Kunstdiskurs eingeordnet wird als »nicht in vollem Maße die Eigenschaften des Modernen besitz[end]« (Gong 1.37) als ›modern‹ zu bewerten? Kann er überhaupt ›modern‹ sein, wo er doch nicht die ›Neuheit‹ erfüllt, sondern aus der ›verspäteten‹ Inspiration heraus entstand? Auch wenn die Neuheit in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein, wie es Chen diskutiert, nicht als konkreter eigener Problemkomplex angesprochen wird, so lässt sich über das Sprechen Gongs von der »Nervosität in Bezug auf das Beeinflusstwerden« und dem »Problemkomplex der Originalität des Schaffens« eine Verbindung zur Debatte um das Taiwan-Bewusstsein ziehen. Chens Feststellung, ›Moderne‹ würde als »Fremdkörper« gesehen, woraus eine Flucht in Erklärungen resultiere, die sich auf die Abhängigkeitstheorie berufen (wie sich in der Selbstbezeichnung als »zurückgebliebene Region« (Chen 4.36) ausdrückt), ist ein Verweis auf die Frage der Gleichzeitigkeit mit dem Westen und der Verspätung und verweist somit auf die inhärente Problembesetztheit des Topos ›Neuheit‹. Ni Tsai-chin verweist zu Beginn der 1990er Jahre auf das Streben nach, aber auch auf die Problematik der Gleichzeitigkeit, die nicht als selbstverständlich gesehen wird, wenn er schreibt: »Der Beginn der Epoche des Kunstmuseums ist Symbol dafür, dass Taiwans moderne Kunst die Möglichkeit zum Dialog mit der Kunstszene der Welt erreicht hatte, wir befanden uns gleichzeitig mit dem Westen in der ›Moderne‹.«3 3 Ni Tsai-chin, Xifang meishu, S. 59.

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Die Geschwindigkeit der Moderne wird als vom Westen vorgegeben gesehen. Es scheint, dass es dieses Dilemma ist – die Suche nach Gleichzeitigkeit und die gleichzeitige oberf lächliche Ablehnung der Orientierung an Mustern der als genuin westlich wahrgenommenen Moderne –, in dem sich die Kunstszene seit den beginnenden 90er Jahren in Taiwan bewegt und gefangen bleibt. Chens von Gong attestierte ›zukunftsweisende Bedeutung‹ muss somit auch in der Feststellung Chens der mangelnden Auseinandersetzung der Kunstszene Taiwans mit der Bedeutung von Moderne »an diesem Ort« liegend gesehen werden, die dann den Problemkomplex um die Neuheit festschreibt, mit dem sich Gong auseinandersetzt. Bedeutet ›modern‹ immer jene ›Neuheit‹, die Gong bei Greenberg findet und als normativ für das Denken der Kunstszene Taiwans definiert, als untrennbar mit einem euro-amerikanischen Modernismus verbunden und als absoluter (und »magischer«) Referenzrahmen dienend, so wird deutlich, dass auch Gong sich mit der impliziten Gleichsetzung von ›modern‹ mit ›westlich‹ auseinandersetzt. Die Neuheit, die doch Liu als Charakteristikum par excellence des Schaffens moderner Kunst so umfassend hervorhebt, positiv besetzt und damit als allgemeingültig zeigt, ist im Rahmen der Bedeutungsgleichsetzung von ›modern‹ und ›westlich‹, die im Zuge der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein vollzogen wurde und von da an (wie es auch in den von Gong besprochenen Texten seit den beginnenden 90er Jahren zum Ausdruck kommt) als dunkler Unterton Taiwans Sprechen über moderne Kunst prägte und dominierte, zum eine Normativität implizierenden Problem geworden: Wie Gong analysiert, wird das Neue angestrebt – doch ist genau dieses Anstreben des Neuen problembesetzt, weil es eine Ungleichzeitigkeit mit jenem ›magischen Referenzrahmen Euro-Amerika‹ impliziert.4 4 Über einen kleinen Exkurs soll an dieser Stelle auf die Verhärtung der implizit vorhandenen Normativität des Referenzrahmens eingegangen werden: Wie in Kapitel IV angeführt, führte Chen in den documenta-Texten xiandaizhuyi als Konzept ein, indem er es in Klammern auf das französische ›modernisme‹ bezog. Dies verweist darauf, dass dieser Begriff (ebenso wie dangdaixing, von Chen als Übersetzung von ›contemporain‹ eingeführt), zu Beginn der 80er Jahre noch nicht sicher und verbindlich als Terminus und damit als Konzept eingeführt worden war und somit mit dieser Ergänzung in Klammern klargemacht wird, auf welchen der möglichen Referenzrahmen verwiesen wird. Der Kunstkritiker Lü Qingfu hingegen schrieb in einem Text über Fotografie im Jahr 1980 von jindaiyishu 近代藝術 als ›Modern Art‹ und xiandaiyishu 現代藝術 als ›Contemporary Art‹ (vgl. Lü Qingfu, »Baodao sheying qishi lu – cong xunshen sheying de luobo kaba tanqi« 報導攝影啟 示錄 – 從殉身攝影的羅勃卡巴談起 [Reportagefotografie als Offenbarung – Diskussion ausgehend vom sein Leben für die Fotografie opfernden Robert Capas], in.: Ders., Yishu piping yu yitan shengtai (xia) 藝術批評與藝壇生態(下) [Art critic and art environment (II)], Taipei 1997, S. 163-175, S. 163). Wenn er sich auch auf die englischen Termini zur Klärung beruft, so zeigt sich hier trotzdem, dass sein Referenzrahmen, über den er ›Moderne‹ denkt, nicht auf direktem Wege Europa ist. Vielmehr liegt sein Referenzpunkt im modernen Japan, das diese Zeichenkombinationen nutzt, um von ›Moderne‹ und ›Zeitgenossenschaft‹ zu sprechen. Auch wenn Lü Qingfu in weiten Teilen seiner Texte Kritik am hegemonialen Westen übt, so hat das Englische hier doch mehr allgemeingültige denn normative Bedeutung. So klingt an, dass der Referenzrahmen ›Frankreich‹, an dem sich Chen beim Verfassen der Texte zur documenta 7 zu Beginn der 1980er Jahre konzeptuell orientierte, noch eine Wahl ist. Er ist also möglich, jedoch nicht verpflichtend und lässt somit die Bedeutung von ›Moderne‹ offen. Demgegenüber ist ein ›kolonisierender Westen‹ unsichtbare und absolute Grundlage des Sprechens über ›Moderne‹ Anfang der 1990er Jahre.

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

Es zeigt sich die entstehende Furcht davor, nur verspätete Kopie des Westens zu sein, die besonders im von Gong zitierten Textausschnitt Chen Fangmings Ausdruck findet: »Die modernistischen Werke, die in Taiwan entstanden sind, kann man nicht direkt als Kopie oder Nachahmung des westlichen Modernismus bezeichnen.« (Gong 1.51). Ein solcher rechtfertigender Anklang, der ein ›Anderssein‹ und eine ›eigene, taiwanische Moderne‹ betont, ähnelt dem, den auch Chen in seiner Kritik an der Hervorhebung des Taiwan-Bewusstseins in der Kunstszene Taiwans der frühen 90er Jahre analysiert. So hat die Abgrenzung von der Zuschreibung ›modern‹ – verstanden als Synonym zu ›westlich‹ – auch die Funktion der Etablierung eines ›Eigenen (bentu)‹ das als Extra-Erzählung einer ›taiwanischen Moderne‹ neben der Erzählung der normativen, westlichen Moderne verläuft. Auch das historische, und vorrangig nichtgeografische Verständnis der Bezeichnung xihua, der wörtlich ›westlichen Malerei‹, wie sie Liu nutzt – stilistisch, ein künstlerisches Konzept und Material nutzend –, wird in den 1990ern zunehmend unklar verwendet. Vor allem durch das Sprechen von einer der ›westlichen Kunst‹ konträr gegenüber stehenden ›eigenen (bentu) Kunst‹ oder ›Taiwan-Kunst‹, wird die Beschreibung als ›westliche Kunst‹ – die doch Ni Tsai-chin im Titel des die Debatte um das Taiwan-Bewusstsein lostretenden Textes Westliche Kunst – Made in Taiwan als konzeptuelle Vorstellung nutzt und hiermit eine bestimmte formale Gegebenheit bezeichnet, die gleichbedeutend mit avantgardistischer, moderner Kunst ist – ambivalent. Durch das in der Folge übliche Verständnis von ›westlich‹ als ›kolonisierend‹ führt die (historische, schon in der Taizhan der 1920er Jahre genutzte) Bezeichnungspraxis als xihua die Vorstellung des ›Westens‹ als das fundamental Andere mit, als das, was Taiwan nicht ist (und nicht sein und werden kann). Die ›Taiwan Kunst‹ oder ›eigene (bentu) Kunst‹, von der Chen zufolge nun in Taiwan gesprochen wird, stellt als scheinbar geografische (und nicht formale) Definition eine Kategorie dar, die abgrenzende Funktion hat: Sie wird hier als das Andere des Westens gezeichnet und kann als feststehender Terminus in Abgrenzung zur ›westlichen Kunst‹ – der im Westen, von Westlern geschaffenen Kunst – stehen. So findet also auch eine Selbstkonzeptualisierung als nicht-westlich statt, die wie die von Chen festgestellte antimoderne Haltung als Abgrenzung gegenüber dem als hegemonial gesehenen Westen zu sehen ist. Eine solche – auf argumentativer Ebene geografische, jedoch identitär diskursiv produktive – absolute Trennung der Erzählungen taiwanischer und westlicher Kunst in zwei voneinander abgetrennte Stränge existiert für Liu nach dem Eintreten in die Moderne – in der das Schaffen einer Weltkunst Ziel ist – nicht. Spricht er von ›chinesischer‹ und ›westlicher‹ Kunst, so bezieht er sich auf die so benannten Stile in der staatlichen Kunstausstellung und auf historische, klassische Prinzipien des Kunstschaffens. In der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein wird ›westlich‹ hingegen In seiner Kritik an Lü Qingfus Definition als ›falsch‹ – sei xiandai doch als ›modern‹ zu verstehen, und dangdai als ›zeitgenössisch‹ – schreibt der Kunstkritiker Lee Charng-jiunn 李長俊 [Li Chang-jun] 1983, dass in Taiwan Wissen über ›moderne Kunst‹ (xiandai yishu) allmählich immer mehr eingeführt würde, was zweifelsohne ein gutes Phänomen sei (vgl. Lee Charng-jiunn, »Tan ›xiandai yishu‹ de jieding« 談 ›現 代藝術‹ 的界定 [The Definition of Modern Art], in: Ders.: Li Changjun zaoqi yishupinglunji (shang). Yishu shengji 李長俊早期藝術評論集 (上). 藝術升級. [Art criticism by C.J. Lee, vol.1. Art on the Upgrade], Taipei 1998. S. 133-150). Verbunden mit der Kritik an der ›falschen‹ Definition scheint hier durch, dass ›Moderne‹ allmählich als einer festen, im Westen festgelegten Definition zu folgen hat und also in den 80er Jahren diese Definition so geschah und damit der Referenzrahmen allmählich festgezogen wurde.

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nicht mehr hauptsächlich verstanden als konzeptuelle und formale Idee des künstlerischen Schaffens (wonach sie als in Taiwan geschaffen verstanden werden könnte, als eine universelle Form, die nicht an einen geografisch-ideologisch und kulturhistorisch definierten Westen gebunden ist), sondern ›westlich‹ dient hier auf Kunst bezogen auch konkret als geografische Bezeichnung. Die als ›eigene‹ verstandene Kunst kann unter diesen Vorzeichen nicht mehr – was in der impliziten Kritik, die der Titel Nis trägt, spürbar ist – in einem positiven oder neutral-bezeichnenden Sinne als stilistisch ›westliche‹ bezeichnet werden. Auch dass Gong selbst ›Westen‹ oder ›westlich‹ nicht mehr nutzt (außer in Referenz auf Zitate), ist ein Anzeichen dafür, dass die Kategorie unklar geworden ist, Probleme mit sich bringt und deshalb von Gong versucht wird, zu vermeiden. Die von Gong genutzte Bezeichnung ›Euro-Amerika‹ (oumei 歐美) ist hingegen klar geografisch zu verstehen. ›Westen‹ kann daher als von Gong als explizit rein diskursiv produktive Kategorie verstanden gesehen werden. Wie stark er also das Sprechen vom ›Westen‹ in Auseinandersetzung mit der Frage nach der Rolle der ›Dritten Welt‹ in der Weltgeschichte und damit im Globalen als problematisch in seiner nach wie vor bestehenden Produktivität erachtet, wird hierin deutlich.5 Was also seit den 90er Jahren im Lichte einer Kolonisierung (des Denkens) gesehen wird, wurde noch bei Liu als Kulturaustausch eingeordnet, der für die Weiterentwicklung jedweder Kultur – dezidiert also auch der Westlichen – unbedingt notwendig ist. Die Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur und das Herholen ist im Kontext, in dem Liu schreibt, positiv konnotiert und wird von Liu als eingebettet in die chinesische Tradition dargestellt, für die ein solch produktives Umgehen mit von außen kommenden Einf lüssen schon immer zentral gewesen sei. Das Herholen ist daher nichts, worüber man nicht sprechen kann, nichts, was im Verborgenen geschieht und versucht wird, zu kaschieren.6 Das Verarbeiten von Einf lüssen – bei Gong, in Anlehnung an Kapurs Lesung von Greenbergs Betonung der Neuheit, als Nervosität und Unbehagen auslösend dargestellt – wird bei Liu, trotz seiner Betonung der Bedeutung der Neuheit, nicht grundsätzlich in die Nähe des zweitrangigen Nachahmens und Kopierens gerückt.7 Bei Liu bezeichnet doch das Kopieren die hohle Produktion von Kunst, die nur um die Gunst der Gesellschaft und um Käufer ringt und rein der Unterhaltung dienen möchte, wobei es – und das muss betont werden – zweitrangig 5 Gongs Abwendung von der Bezeichnung ›Westen‹, ›westlich‹ geht so weit, dass er selbst in den zitierten Textteilen Kapurs das von Kapur genutzte ›Western‹/›West‹ als ›Euro-Amerika‹ (oumei) übersetzt. 6 Eine solche Sicht auf das Herholen findet sich auch bei Zhuang Zhe, der 1964 in Diskussion über die Kunst in fünf Briefen schreibt, dass die chinesische Schreibkunst, nachdem sie nach Amerika geholt wurde, trotzdem sehr amerikanisch war, aber die französische Malerei, nachdem sie nach China kam, noch immer sehr französisch gewesen sei. Genau dies sei das Problem am chinesischen Malen von ›westlicher Malerei‹ (xihua). Zhuang Zhe beurteilt also die Auseinandersetzung mit dem Anderen und das Herholen als grundlegend positiv – solange es in reflektierter Aneignung geschieht (vgl. Zhuang Zhe, »Lun yi shuxin wu feng« 論藝書信五封 [Diskussion über die Kunst in fünf Briefen], in: Guo Jisheng 郭繼生 (Hg.), Dangdai taiwan huihua wenxuan 1945-1990 當代台灣繪畫文選 1945-1990 [Ausgewählte Texte zur zeitgenössischen taiwanischen Malerei, 1945-1990], Taipei 1991, S. 212-219, S. 213). Interessant ist hierzu anzumerken, dass in Amerika etwa zeitgleich zum Teil genau dieses Aneignen sehr kritisch gesehen wurde und teils die Bezüge geheim gehalten wurden, wurde doch die ›Neuheit‹ als in Gefahr stehend gesehen (siehe Kap. III.3.7). 7 Dass es aber in der Nähe des Zweitrangigen stehen kann, zeigt Lius Diskussion Xu Beihongs und Liu Haisus (vgl. Kap. III).

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

ist, ob es die westliche Kunst des 19. Jahrhunderts oder die traditionelle chinesische Kunst ist, die kopiert wird. Hingegen führt die Auseinandersetzung mit dem Westen selbst bei Gong – dessen Suche nach dem »Modernismus der Kunst Taiwans« nicht den abgrenzenden Charakter Ni Tsai-chins Suche nach dem »Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans« enthält – einen rechtfertigenden Beiklang, wenn er den Vergleich zwischen Manet und Wu Yaozhong anbringt. So ist im Sprechen von einer »gebrochenen« und »verspäteten Moderne« oder dem »magischen Referenzrahmen« auch die Richtung des Herholens klar: Taiwan (als ›der Osten‹, als die ›Dritte Welt‹) holt einseitig aus dem Westen oder Euro-Amerika her. Wie stark die Vorstellung des eingleisigen Herholens dem Verständnis von ›Modernismus‹ zugrunde liegt, zeigt sich auch an Chens Bezeichnung eines »imaginierten Modernismus«, mit der er zwar die Herangehensweise der Künstler der 50er und 60er Jahre als voll von Sehnsucht, bef lügelt von der eigenen Vorstellungskraft und vor allem als kritisch und analysierend zeichnet, jedoch auch als westliche Strömungen einseitig herholend. Auch in der Feststellung einer »Haltung des restlosen Verfechtens der westlichen ›Modernismus‹-Gedankenströmungen, die in den 1950ern und 1960ern von Fif th Moon, der Eastern Painting Group oder der Zeitschrift Wenxing vertreten wurden« (Chen 2.7), zeigt sich die Vorstellung, dass hier ein einseitiges Herholen von westlichen Strömungen geschah.8 Die Richtung, in der Moderne verläuft, ist somit klar und unhinterfragt. Auch Chens Bezeichnung des »akademischen Modernismus« der 80er Jahre weitet diese Modernedefinition auf die Institutionen, also den gesamten institutionellen Rahmen, aus. Bei Liu hingegen wird das Herholen als beidseitige Bewegung dargestellt. Die Suche nach der Überwindung einer als hegemonial und kolonisierend empfundenen europäischen Moderne (wie sie ab den 90er Jahren zu finden ist) ist nicht konkretes Thema bei Liu, vielmehr werden Positionen, die nach dem abgrenzenden ›Chinesischen‹ suchen – wie beispielsweise Liu Haisu und Xu Beihong –, als Irrweg dargestellt und als unwichtig abgetan. Auch die Debatte mit Xu Fuguan zeigt, dass Lius Sicht auf Kunst – und damit die der damaligen modernen Kunstszene, für die Liu in dieser Debatte repräsentativ steht – sich nicht aus der Frage der Bedeutung gegenüber dem Westen speist. Die Auseinandersetzung mit dem Westen geschieht auf der Grundlage des gegenseitigen positiven Beeinf lussens, als Schritt in eine Zukunft, die einen kosmopolitischen Charakter (shijiexing) hat und für die gesamte (universal vorgestellte) Welt eine Bereicherung darstellt. Auch jene Weltkunst, von der Liu spricht, ist als universal zu verstehen. Diese Universalität macht klar, dass die Zugehörigkeit zur Welt in Bezug auf das moderne Kunstschaffen nicht in Zweifel steht. Die Bezeichnung einer modernen westlichen und äquivalent dazu einer chinesischen Kunstszene taucht bei Liu zwar auf, dient in Bezug auf die Kunstszene allerdings als geografisch zu verstehende Einordnung (denn erst auf der Grundlage eines solchen Verständnisses ist es möglich, Zao Wou-Ki als der Pariser Kunstszene zugehörig zu verstehen). Chinesische und westliche Kunstszene 8 Interessant ist es zu fragen, ob hier nicht eine massive Veränderung der Blickrichtung vorliegt und wann diese geschah. Denn die Analyse von Lius Text zeigt, dass Liu selbst – im Einklang mit der Kunstszene, in der er verortet ist – doch eher ein asiatisches Modernes imaginierte: Ihm zufolge war es die Auseinandersetzung mit der chinesischen Kunst, die erst die moderne Kunst im Westen entstehen lassen konnte. (Vgl. Kap. III.)

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stehen für Liu nicht in einem binären Gegensatz zueinander und beschreiben keine greif bar diskursiv verschiedenen Arten des Kunstschaffens, so dass deren Zugehörigkeit zur ›Welt‹ daher nicht erst diskutiert werden muss. »Weltkunst« und die »Kunstszene der Welt« verweist bei Liu auf jene Kunst, die sich aus dem Zusammentreffen der Kulturen entwickelt, die in der bewussten Auseinandersetzung entsteht und so jenen ›kosmopolitischen Charakter‹ erreicht, den Liu sucht. Eine Weltkunst ist also wichtig für die ganze Welt, bringt die ganze Welt voran – während in Gongs Sprechen von der Welt eher die Frage im Mittelpunkt steht, wo man sich überhaupt einfinden kann in der ›Welt‹, die – ebenso wie ›Moderne‹ – durch die Frage einen normativen Charakter erhält. »[Ich meine], dass Taiwan durchweg klären muss, welchen besonderen Platz es in der Struktur der Weltgeschichte einnimmt und muss klar das Merkmal Dritte Welt erkennen, das zu Taiwan selbst gehört.« (Gong 3.83) Während bei Liu die Moderne als gemeinsame Umbrucherfahrung der gesamten Welt zu verstehen ist und Liu sich somit nicht als außerhalb der ›Welt‹ stehend betrachtet, so klingt bei Gong insbesondere in Bezug auf das Verspätet-Sein an, dass ›Welt‹ – im Zuge der Selbsteinordnung in die konstruierte und im Gegensatz zur Ersten Welt stehenden Dritte Welt – immer die normative Definitionsmacht des Westens mit einschließt und der Platz in der Welt erst erarbeitet und erkämpft werden muss. Trotz Chens Kritik am Verständnis von ›Moderne‹ als »Fremdkörper«, so scheint auch bei Chen die Frage nach der Position Taiwans in der Welt in Bezug auf die ›Moderne‹ und das moderne Kunstschaffen auf: Wo steht Taiwans moderne Kunst in der Welt, wo kann sie stehen in ihrem unzulänglichen und verspäteten Umgang mit Moderne? ›Welt‹ ist daher bei Chen etwas, dem man zwar unbedingt zugehört; diese Zugehörigkeit muss jedoch immer verhandelt werden, da eine mangelhafte Auseinandersetzung zur Abgrenzung führt, wie er sie im Sprechen vom Taiwan-Bewusstsein geschehen sieht. Während somit bei Liu die Zugehörigkeit zur Welt über die Zugehörigkeit zur als universal verstandenen Moderne funktioniert, ergibt bei Gong – und bis zu einem gewissen Grad auch bei Chen – die Frage nach der Zugehörigkeit zur Welt aufgrund der Normativität der Moderne immer einen von Widersprüchen und Dilemmata durchzogenen Problemkomplex. Die Diskussion, die Liu führt, ist eine, die Moderne den Traditionalisten (und explizit nicht der Tradition, die bei Liu doch die Stelle der Zukunft einnimmt) gegenüberstellt, jedoch nicht die Frage der Zugehörigkeit zur Moderne stellt, sondern diese als gegeben annimmt. Demgegenüber ist in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein, aber auch in Chens Kritik an selbiger, und schließlich auch in Gongs Text, die Gleichsetzung von ›modern‹ mit ›westlich‹ – und damit nicht zu Taiwan gehörend – Grundlage der Diskussion. So ist ›moderne Kunst‹ bei Gong – und damit im globalen Heute – etwas, was mit Normativität, mit Ausschluss, mit Nervosität und Vergleich zu tun hat, während es bei Liu etwas Befreiendes ist, Möglichkeiten eröffnet und die westliche Definition im Sinne einer Allgemeingültigkeit mit sich führt. Chen nimmt eher eine Zwischenposition ein, die als eine Art Übergang gelesen werden kann. Moderne ist bei ihm noch befreiend und tendenziell universal und in einer Allgemeingültigkeit nicht als rein ›westlich‹ zu lesen, was jedoch im allgemeinen Diskurs aufgrund der angenommenen marginalen Position in der Welt nicht mehr so gesehen wird.

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

3.

Konzeption des ›Eigenen‹: Betrachtung des rückblickenden Ausschlusses der ›Bewegung der modernen Malerei‹ der 1950er/1960er Jahre aus der Erzählung der Kunstgeschichte Taiwans

Der vergleichende Blick auf die Art, wie die verschiedenen Referenzen in Bezug zu welchen ›Moderne‹ im Kunstdiskurs Taiwans verhandelt wird, gesehen werden, zeigt, dass besonders im Zeitgenössischen die Normativität der ›Moderne‹ verhandelt und so die Widersprüchlichkeit im Sprechen von ›moderner Kunst‹, die Chen herausarbeitet und von Gong als fortgeschrieben und verhärtet gezeigt wird, sichtbar wird. Die ›zukunftsweisende Bedeutung‹, die Gong Chens Gedanken attestiert, wird über die rückblickenden Elemente, die in beiden Texten zu finden sind, sehr deutlich: Dass sie einen zusammengehörenden Problemkomplex behandeln, zeigt ihre ähnlichen Mustern folgende Auseinandersetzung mit dem wertenden Rückblick der Kunstszene Taiwans auf die 60er Jahre, die in der Bedeutung der Normativität der Moderne, die Gong herausstellt, zusammenläuft. Auch die von Gong diskutierten Texte sind seit den frühen 1990er Jahren, also im Zeitraum seit der Veröffentlichung von Chens Text und damit der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein, entstanden. Chens und Gongs Texte stehen als eine Art Einheit, gehören einer Entwicklung an.9 Im Folgenden sollen die rückblickenden Elemente – die Bewertung und Einordnung der ›Bewegung der modernen Malerei‹ der 50er/60er (also hauptsächlich Liu Kuo-sungs und damit auch Fifth Moons und weiter der Eastern Painting Group) – wie sie in den Analysen der Kunstszene, die Chen und Gong vornehmen, durchscheinen, betrachtet werden. Diese werfen Licht auf die Wege der Veränderung der Bedeutung, des Verständnisses und der Bezugspunkte, über welche ›Moderne Kunst‹ verhandelt wird. Sie zeigen, wie die Erzählung der Moderne der Kunst in Taiwan im Zeitgenössischen aufgebaut ist und über welche Parameter des Narrativs sie fortgeschrieben und gefestigt wird, welche Stränge des Narrativs aber auch abgeschnitten werden und auf welchen die Annahmen und Geschichtsstränge der heutigen Erzählung beruhen. Dies scheint besonders bei Gong durch, wenn dieser die zeitgenössische Perspektive folgendermaßen beschreibt: »[W]enn man von einer historisch geschlossenen diskursiven Perspektive den Ausdruck ›Taiwans Modernismus‹ benutzt, würde der Diskutierende sagen: Taiwans Modernismus ist schon beendet. Er fand sein Ende in einer Debatte um die Heimatbodenliteratur, die nicht qualifiziert ist, modern zu werden und die nicht in vollem Maße die Eigenschaften der Moderne besitzt. Der Modernismus gehört zu Ji Xian, Yu Guang-zhong, zur Gruppe der modernen Lyrik, er gehört zum Magazin Theater, er gehört Fifth Moon und Eastern Painting Group, dem Fotorealismus oder den Vertretern der Ästhetik des abstrakten Formalismus.« (Gong, 1.36ff.) Die Bewegung der modernen Malerei der 50er/60er Jahre wird in diesem Zitat, das schon in der Analyse Gongs bemüht wurde, als »der Modernismus Taiwans« beschrieben und als abgeschlossene historische Zeitspanne ohne jeden Bezug zur stilistisch als 9 Lius Text kann so als die Position eines verdeutlichenden Gegenparts einnehmend gelesen werden, der die Entwicklung der heutigen Vorstellung von ›modern‹ als ›westlich‹ verdeutlicht.

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»Moderne Kunst« in Taiwan

nicht-modern eingestuften, jedoch explizit taiwanischen Heimatbodenbewegung der 70er Jahre behandelt. Auf der Grundlage dieser Grenzziehung wird die Bewegung als irrelevant für die Erzählung der Kunst(-geschichte) Taiwans aus jener ausgeschlossen. Dies zeigt sich besonders im von Chen zitierten Textteil Ni Tsai-chins, wenn dieser »Taiwans modernistische Kunst und Kultur« als »keine Identifikation mit der ›taiwanischen Gesellschaft‹ haben« (Chen 4.36; 5.35) könnend vorstellt und auch wenn Gong Lu Cheng-hui zitiert, der schreibt, dass »Verwestlichung und Anti-Tradition des Modernismus Taiwans […] keine ›Wurzel‹« hätten (Gong 1.41). ›Taiwans modernistische Kunst und Kultur‹ und ›der Modernismus Taiwans‹ werden also als Taiwan nicht zugehörig beschrieben, als von ›Anti-Tradition‹ geprägt und als wurzellos und ohne Identifikation gesehen, als Ausdruck einer ›Verwestlichung‹ und damit als hergeholte Kopie einer ›westlichen‹ Vorstellung von Kunst dargestellt. Es zeigt sich, dass der Ausschluss der Bewegung der modernen Malerei der 50er und 60er Jahre aus der Erzählung der taiwanischen Kunstgeschichte auf zwei Hauptargumenten beruht: der Frage nach dem Verhältnis zur Neuheit, welche ein stilistisches Verständnis zur Grundlage hat, und weiter der Frage nach einer taiwanischen Identität, einer Taiwan zugehörigen Erzählung von Kunstgeschichte. Augenmerk muss an dieser Stelle zunächst auf die Verwendung von ›Modernismus‹ (xiandaizhuyi) gelegt werden: Die Ausgrenzung der Bewegung der modernen Malerei geschieht über die Einordnung ihrer Kunst als ›modernistisch‹ und damit ausgehend von einem Blick, der das stilistische als hauptsächliche Komponente der Einordnung nimmt, was besonders in Chens Kritik an Lin Xingyues Bewertung der »›modern(istisch)e[n]‹ Kulturbewegung jener Zeit« als ideologisch verblendet zum Ausdruck kommt. Chen verweist durch die Klammerkonstruktion auf die veränderte Bewertung als ›modernistisch‹ statt als ›modern‹. ›Modernistisch‹ beschreibt hier nahezu ausschließlich eine stilistisch-formale Kategorie, die »den ›Modernismus‹ mit populären künstlerischen Stilrichtungen gleichsetzt und nicht seine tatsächlichen Konnotationen diskutiert« (Chen 4.30). Chen selbst spricht von der ›Modernen Schule‹ (xiandaipai 現代派). Einen solchen stilistisch gesehenen ›Modernismus‹, beschreibt Gong – der um eine alternative Definition des Modernismus der Kunst Taiwans ringt – als einzig Greenbergʼsche (der hier somit als der Vertreter einer euro-amerikanischen Vorstellung von modernem Kunstschaffen steht) Bewertungskategorien heranziehend: Als rein stilistischer, aus dem Westen kommender Blick wahrgenommen, führt ein solcher immer die Frage der Originalität, der Neuheit mit sich. Interessanterweise wird ›Modernismus‹ (nicht nur) von Liu selbst als Kategorie gar nicht genutzt – er schreibt von moderner Kunst (xiandai yishu), nicht von modernistischer (xiandaizhuyi yishu).10 Diese ausschließlich von der westlichen Definition eines Greenbergʼschen Modernismus ausgehende rückblickende Betrachtung der Entwicklung im Taiwan der 10 Seit wann in Taiwan von ›Modernismus‹ gesprochen wird, statt, bzw. ergänzend zur ›Moderne‹ und ›modernen Kunst‹ kann im Rahmen dieser Arbeit nicht umfassend aufgearbeitet werden. Im Online-Archiv der Kunstzeitschrift Hsiung Shih Art Monthly findet sich 1971 ab der 10. Ausgabe die Erwähnung von xiandaizhuyi, allerdings hier genutzt für Künstler wie Picasso und Kandinsky. 1974 (in Ausgabe 42) wird mit xiandaizhuyi der taiwanische Künstler Pan Chaosen 潘朝森 bezeichnet, der stilistisch eng an eben jene ›klassische Moderne‹ angelehnt ist. Das verweist darauf, dass die Bezeichnung ›Modernismus‹ (xiandaizhuyi) von Beginn an rein stilistisch verstanden wird und dieses Verständnis nicht auf die Bedeutung eingeht, die Greenberg neben dem Stilistischen erwähnt: »I identify Modernism with the intensification, almost the exacerbation, of this self-critical tendency that began

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

60er Jahre bewertet die Kunst eindimensional und versperrt die Möglichkeit einer alternativen Definition dessen, was moderne Kunst ist und sein kann. In einer solchen Blickrichtung ist der stilistische Bezug unausweichlich, die Kunst wird zur Kopie des abstrakten Expressionismus, die Bewertung als ›verspätet‹ geschieht unweigerlich, wie Gong herausstellt. Diese ausschließlich an der westlichen Definition des ›Modernismus‹ orientierte Vorstellung (für die bei Gong Greenberg steht), klingt auch in der zeitgenössischen Einordnung der Bewegung der modernen Malerei als ›anti-traditionell‹ an, wie sie beim von Gong zitierten Lu Cheng-hui zu finden ist. Doch auch bei Hsiao Chong-ray (2009) findet sich die Einordnung Lius als ›anti-traditionell‹ oder ›die Tradition ablehnend‹ wieder.11 Dies verweist auf ein Verständnis der Beziehung von ›modern‹ und ›traditionell‹, die im Einklang mit der avantgardistischen Vorstellung steht, wie sie sich in der westlichen Kunstgeschichte entwickelte: Tradition steht hier der Idee des modernen Kunstschaffens gegenüber, die Avantgarde12 – als welche die Bewegung der modernen Malerei rückblickend gezeichnet wird – negiert in ihrem Streben nach dem Neuen »die Tradition als solche«.13 Insbesondere die Darstellung Lius als ›anti-trawith the philosopher Kant. Because he was the first to criticize the means itself of criticism, I conceive of Kant as the first real Modernist.« (Clement Greenberg, Modernist Painting, S. 5) 11 Wie in Kap. III angemerkt, findet sich ein solcher Blick auf das Verständnis von ›Tradition‹ der Bewegung der modernen Malerei auch in heutigen Ausstellungen und Schriften, was darauf verweist, dass diese Sicht eine gängige und nicht weiter hinterfragte ist, die in direktem Bezug zur westlichen Modernevorstellung steht, anstatt die taiwanische Rezeption zu befragen. Auch die Betrachtung des Manifests Unsere Überzeugung (women de hua 我們的話) (geschrieben 1957) der Eastern Painting Group bestätigt eine Ablehnung der Tradition nicht, vielmehr wird die Bedeutung des Bezugs auf die Tradition bekräftigt, wenn sie schreiben, dass »das traditionelle Malereiverständnis Chinas und das moderne kosmopolitische (shijiexing) Malereiverständnis auf der zugrundeliegenden Ebene vollkommen übereinstimmen. Nur auf Ebene der Ausdrucksform gibt es kleine Unterschiede. Wenn man die moderne Malerei in China zu einem allgemein Bekannten weiterentwickelt, so könnten die unendlichen Kunstschätze Chinas in den Strömungen der heutigen Welt eine vollkommen neue Haltung herausbilden.« (Manifest der Eastern Painting Group, hier zitiert nach dem Online-Archiv des National Taiwan Museum of Fine Arts und dem Council for Cultural Affairs zur Kunst Taiwans des 20. Jahrhunderts; online verfügbar unter: http://www1.ntmofa. gov.tw/artnew/ html/2-3/108.htm, Stand 22.6.2017.) 12 Wie in Kapitel III angemerkt, ist die Bezeichnung der Künstler der Bewegung der modernen Malerei der 60er Jahre als ›Avantgarde‹ heute Usus, während dies zu jener Zeit nicht als Selbstbeschreibung genutzt wurde. Als Beispiel einer solchen Bezeichnung sei hier die Ausstellung The Experimental Sixties: Avant-Garde Art in Taiwan erneut erwähnt, die 2003 im Taipei Fine Arts Museum gezeigt wurde. Diese bezeichnet sowohl im englischen als auch im chinesischen Titel die Entwicklung der modernen Kunst der 60er Jahre als ›Avantgarde‹ (qianwei 前衛). Der Begleittext im Ausstellungskatalog definiert denn Avantgarde-Kunst folgendermaßen: »According to scholarly definitions ›avant-garde art‹ must contain two elements: inventiveness and a breaking away from traditional values.« (Liao TsunLing, Sharleen Yu, Fang Mei-Ching, The Avant-Garde Spirit: Taiwanese Art in the 1960s, S. 12) Dass die angesprochene ›wissenschaftliche Definition‹ nicht als ›westliche‹ benannt wird und somit klar die Definitionsmacht verteilt wird, sei hier angemerkt. 13 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 38. Bettina Gransow stellt fest, dass »[d]ie begriffliche Trennung von Tradition und Moderne, die antithetische Gegenüberstellung von traditionalem und rationalem Handeln […] (wie der Soziologe Edward Shils dies einmal nannte) zu einer ›Tradition der Anti-Traditions-Ideologie‹ [führte]. Sie entstand in Europa mit der Aufklärungsbewegung des 18. Jhts und erlangte eine dominierende Stellung in den

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»Moderne Kunst« in Taiwan

ditionell‹ verweist auf die Diskrepanz, die zwischen der Zuschreibung Lius als ›modernistisch‹ – also scheinbar im Einklang mit seiner Selbsteinordnung als ›moderner Künstler‹ – und der in Lius Text sichtbar werdenden Vorstellung zum Verhältnis von ›Moderne‹ und ›Tradition‹ der Bewegung der modernen Malerei der 50er/60er findet: Tradition steht in engem Zusammenhang mit Moderne, beide stützen und ermöglichen sich gegenseitig. Besonders diese Diskrepanz macht die Bedeutung der von Gong und Chen herausgearbeiteten zeitgenössischen Vorstellung von ›Modernismus‹ als rein stilistisch verstandene Kategorie deutlich. Der Ausschluss aus der taiwanischen Kunstgeschichtsschreibung, den Gong und Chen feststellen, geschieht also einerseits auf Grundlage einer als westlich markierten Definition dessen, was in der Kunst ›modern‹ ist und der daraus gefolgerten Feststellung der Verspätung. Aus dieser Perspektive gesehen, kann der Ausschluss Fifth Moons und der Kunst der 60er also auch als entstanden aus Angst vor Ungleichzeitigkeit, die aus der stilistischen Definition von Modernismus unweigerlich hervorgeht, verstanden werden. Doch in beiden Texten taucht auch noch eine weitere Bedeutung von ›Tradition‹ auf, die die Nicht-Zugehörigkeit, Nicht-Identifikation und Wurzellosigkeit einer solchen, auf eine stilistische Betrachtung reduzierte, künstlerischen Schaffensweise zu einer ›taiwanischen Kunstgeschichte‹ manifestiert und den Ausschluss der Bewegung der modernen Malerei aus dieser Erzählung bekräftigt: Chen zitiert Lin Xingyue, der ›Tradition‹ zwar auch der ›Moderne‹ diametral gegenüberstellt, gleichzeitig jedoch auch ›Tradition‹ als vom Festland kommend bezeichnet, und damit – ebenso wie die mit ›Westen‹ gleichgesetzte ›Moderne‹ – auch als ›von außen kommend‹ definiert (vgl. Chen 4.9ff.). Die ›Tradition‹, die die Bewegung der modernen Malerei trotz ihrer Einordnung als ›modernistisch‹ und damit essentiell ›anti-traditionell‹ zu bieten hat, wird also als mit Taiwan nichts zu tun habend dargestellt. Das Nicht-verwurzelt-Sein der Kunst der 50er und 60er und damit ihre Nicht-Verbindung zu Taiwan wird hier gleich doppelt gezeigt, in Bezug auf die ›westliche‹ Moderne und die ›chinesische‹ (und damit ›nicht-taiwanische‹) Tradition.14 Auch wenn in Gongs Text in der Diskussion des Textes von Hsiao Chong-ray ›Tradition‹ nicht mehr China, sondern ›Taiwan‹ bezeichnet (das ›Aufsaugen von Tradition‹, Sozialwissenschaften.« Dies hätte auch die »Gegenüberstellung von modernen westlichen Gesellschaften mit dem traditionellen China« zur Folge. Gransow verweist darauf, dass diese implizit zugrundeliegende Vorstellung »den analytischen Zugang zum Phänomen chinesischer Modernisierung lange verhinderte.« (Bettina Gransow, »Konzeptionen chinesischer Modernisierung«, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne: Kultur- und strukturvergleichende Analysen, Wiesbaden 2006, S. 151-164, S. 151) Was hier im Kontext der Sozialwissenschaften festgestellt wird – aus dem doch auch die weiter unten noch einbezogenen Modernisierungstheorien stammen – kann hier auch im Kontext der Kunst und für Taiwan festgestellt werden. 14 Li Shuzhen schreibt in Berufung auf einen Text Nis von 1995, dass der Modernismus Fifth Moons nicht als Teil der Kunst Taiwans vorgestellt wird, weil Fifth Moon in der Folge der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein aufgrund ihres ›chinesischen Hintergrunds‹ nicht als zur Identität ›Taiwans‹ zugehörig vorgestellt werden: Ihre Verbindung mit Taiwan wird nicht wahrgenommen. Vgl. Li Shuzhen, Anshen liming, S. 328. Die stilistisch-formale Begründung des Ausschlusses findet bei Li Shuzhen keine weitere Beachtung, die jedoch in ihrer engen Verbindung mit der identitären Begründung des Ausschlusses beachtet werden sollte, um eine einseitige Betrachtung zu vermeiden.

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

die auf Taiwan bezogen sein muss [vgl. Gong 3.28]) und Hsiao Chong-ray hier also Tradition im Gegensatz zu Lin Xingyue als das Gesuchte, Gewünschte darstellt, so findet sich hier in Verbindung mit der Sprache von Liu als ›anti-traditionell‹ doch eine ähnliche Grundlage der Argumentation: Die mangelnde Verbindung zu einer taiwanischen Identität, die hier argumentativ über die Einordnung in einen stilistisch betrachteten ›Modernismus‹ und dessen unbedingte Ablehnung von ›Tradition‹ verläuft, wird hier zum Grundargument, das die Wurzellosigkeit der Bewegung der modernen Malerei bezeugt. Die Heimaterde (xiangtu) der 70er Jahre, die in der Beschreibung Mei DeanEs als Vorgänger des ›Eigene Erde (bentu)-Bewusstseins‹ der 90er Jahre gelesen wird,15 bekommt in Hsiao Chong-rays Lesung die Bedeutung von als ›Heimat‹ verstandener ›Tradition‹. In beiden Lesweisen wird somit das Sprechen von ›Tradition‹ genutzt, um die Bewegung der modernen Malerei, definiert als wurzellos, als illegitimes Element aus der taiwanischen Kunstgeschichte auszuschließen.16 So werden die Künstler der Bewegung der modernen Malerei als stilistisch modernistisch und, der avantgardistischen Definition folgend, notwendigerweise anti-traditionell dargestellt und folglich als ›verwestlicht‹ nicht die bei Hsiao Chong-ray – der mit dieser Haltung als repräsentativ für die 2000/2010er Jahre steht – als ›Taiwans Heimatboden‹ definierte Tradition erfüllend beschrieben. Der aktiv betriebene Ausschluss der Bewegung der modernen Malerei der 50er/60er Jahre aus der Erzählung der taiwanischen Kunstgeschichte festigt damit die Vorstellung von ›Tradition‹ als ›Wurzel‹, die verbunden ist mit der ›eigenen Erde‹, mit der ›Heimaterde‹. Gleichzeitig festigt der identitär-begründete Ausschluss auch die rein stilistische Definition eines formal begründeten Modernismus und damit den Gegensatz ›Moderne-Tradition‹, der in den 1990ern als Grunddefinition von moderner Kunst in deren Definition eingearbeitet wird. Aus dem Ausschluss der Bewegung der modernen Malerei aus der Kunstgeschichtsschreibung entwickeln sich dabei im Sprechen über Kunst seit den 1990er Jahren zwei widersprüchliche Ebenen des Verständnisses von Tradition heraus: ›Tradition‹ stellt einerseits das Gegenteil von ›Moderne‹ dar und steht damit dem – wie Chen herausarbeitet – unterschwellig erstrebten ›Modern-Sein‹ im Weg. Gleichzeitig bezeichnet ›Tradition‹ (spätestens bei Hsiao Chong-ray) jedoch das Verwurzelt-Sein in einer eigenen Identität und ist damit das Gesuchte, um das ›Eigene (bentu)‹ zu definieren. So sind es vor allem die rückblickenden, bewertenden Elemente auf die Bewegung der modernen Malerei und die 60er Jahre in den Texten Chens und Gongs, die im Vergleich mit den Auffassungen, wie Liu sie in seinem Text vertritt, die Veränderung, die seit den 90er Jahren vollzogen wurde, zeigen und in die Entstehung einer Konzeption des ›Eigenen‹ als ›bentu‹ einbetten. Die rückblickenden Elemente festigen vor allem das Bild der unlösbaren Verbindung von ›Moderne‹ und ›Westen‹ und das Bild eines dem ›Westen‹ diametral gegenüberstehenden ›Taiwan‹, was von Chen in den 1990ern als neues Gedankenbild festgestellt wurde und was von Gong als normative Grundlage in den von ihm diskutierten Texten festgestellt wurde.

15 Vgl. Mei Dean-E, Xiandaiyishu bentu yishi de tantao (siehe hierzu auch Kap. IV.2). 16 Im folgenden Kapitel wird diese Haltung Hsiao Chong-rays als von der im zeitgenössisch-globalen Kunstdiskurs wichtigen Vorstellung der Bedeutung von ›Tradition‹ beeinflusst gezeigt.

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4. Konzeption des zeitgenössischen Eigenen vor dem Hintergrund der globalen Wende im Kunstdiskurs der beginnenden 1990er Jahre Die Betonung ›Taiwans‹ als ›Eigenes (bentu)‹ zu Beginn der 1990er Jahre verweist darauf, dass dieser Zeitpunkt als eine Art Wendepunkt im Sprechen über Kunst in Taiwan betrachtet werden kann: als Wendepunkt, an dem sich die Bezugspunkte tiefgreifend verändern. Auch wenn deutlich wird, dass die Frage danach, welche Position im Sprechen über moderne Kunst eingenommen werden kann, keine ist, die erst im zeitgenössischen Kontext auftaucht, so muss sie als in diesem eine neue Präsenz und neue Bedeutung erhaltend gesehen werden, was sich besonders an der von Widersprüchen geprägten Frage nach der Zugehörigkeit zur Welt ausdrückt. Die Betonung ›Taiwans‹ im Gegensatz zum mit ›Moderne‹ gleichgesetzten ›Westen‹ verweist auf eine Darstellung und ein Verständnis von Taiwan als eigenständige und über die Betonung einer (nicht näher bestimmten) kulturellen Besonderheit definierte Nation.17 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Betrachtung der im Vergleich zu den 1960ern stark veränderten Vorstellung von ›Welt‹, des ›Westlichen‹, des ›Modernen‹, der Zugehörigkeit zu selbigen und vor allem der Vorstellung, einer vom Westen (und nicht mehr von Japan) ›kolonisierten‹ und ›zurückgebliebenen‹ Region zuzugehören, im Umfeld eines globalen Kontextes des Kunstdiskurses betrachtet werden muss, der sich zu Beginn jener 1990er Jahre formt – ein Zeitpunkt, der sowohl bei Chen, als auch bei Gong in der Zuschreibung der ›zukunftsweisenden Bedeutung‹ der Gedanken Chens, Betonung findet und dadurch als Zeitpunkt des Umbruchs in der Betrachtung von Kunst markiert wird. Denn so sind die 1990er Jahre die Zeit, als die Kunstszene in jenem ›Westen‹ sich fundamental zu ändern beginnt: Magiciens de la terre, 1989 im Centre Pompidou in Paris gezeigt, liegt hier schon in der Vergangenheit, die Frage, ›was das als Kunst Geschaffene, nicht-Ethnologische, das außerhalb des geografischen Westens entstanden ist‹, sei, taucht in der Kunstszene Europas und Amerikas nun auf.18 Dass ›westlich‹ in Taiwan nun auch geografisch verstanden wird und eine Selbstdefinition im absoluten geografischen Gegensatz hierzu entsteht, hängt mit dieser Veränderung in der westlichen Kunstwelt zusammen, die sich in einer Geste der kritischen Selbstref lexion erstmals beginnt, geografisch zu präsentieren: Europa, Amerika – sie werden in Magiciens de la terre als Regionen zeitgenössischen künstlerischen Schaffens explizit neben jenen ›neu entdeckten‹, als gleichberechtigt und inkludiert gezeigten, nicht-westlichen Regionen präsentiert, um sie nun dezidiert nicht mehr in die »ethnografische Kategorie des archaischen Reliktes«19 einzuordnen, das aus den kolonialen Ausstellungen stammt, sondern vielmehr ihre authentische, nicht-koloniale Existenz in der Gegenwart zu bestätigen und zu beweisen.20 Es ist diese, sich ref lektiert gebende, globale 17 Ein Blick ist darauf zu richten, dass die Selbstdefinition als kulturell definierte Nation einhergeht mit der verstärkten Außendarstellung dieser Nation, wie in den Einführungen zu den Analysen der Texte Chen Chuan-xings und Gong Jow-jiuns dargestellt (siehe dazu weiter auch I.2.3 und II.1.2). 18 Ich wiederhole die Mainstream-Erzählung, dass 1989 das Globale beginnt, hier zwar, möchte diese aber nicht bestätigend wiederholen, sondern aus der Richtung des Nicht-Westens fragen, was es bedeutet, den Anfangspunkt hier zu setzen. 19 Martin, Préface, S. 8. 20 Vgl. ebd.

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

Zeitgenossenschaft, die sich im Gegensatz zur ausschließenden Moderne positioniert. Der sich selbst als geografisch definierende und als ehemals hegemonial kritisierende Westen verlangt eine ›andere‹ Ausdrucksform, verlangt das leicht identifizierbare zeitgenössische Eigene.21 Das ›westliche‹ künstlerische Schaffen wird so zu einer das künstlerische Schaffen Europas und Amerikas bezeichnenden geografischen Einordnung und so muss das Auftauchen eines »Geodeterminismus«, wie Chen (5.46) das extreme Berufen auf ›Taiwan‹ zu Beginn der 90er bezeichnet, als eng mit der sich verändernden Selbstpräsentation der Kunstszene des Westens verbunden gesehen werden. Dass diese Entwicklungen in die Betrachtung der Veränderung der Konnotation von ›Westen‹, ›Welt‹ und ›Moderne/moderne Kunst‹ und das folgende Auf kommen der Betonung des ›eigenen Taiwans‹ einbezogen werden müssen, zeigt sich an den kontroversen und kritischen Diskussionen beispielsweise über Magiciens de la terre oder – für Taiwans Kunstszene fast noch bedeutender – die Kasseler Ausstellung Begegnung mit den Anderen, die in Taiwan zu Beginn der 1990er Jahre also wohl bewusst waren. Diese Form der Darstellung wird als ›kolonisierend‹ und »hegemonial« (so Lin Xingyue)22 wahrgenommen in den Anforderungen daran, wie sich die Besonderheiten fremder Kulturen in der Kunst zu zeigen hätten, während die westlichen Kunstströmungen als »Mutterkörper« dargestellt werden, zu dem sich die kulturellen Phänomene nicht-westlicher Kunstszenen wie von ihm geborene Nachfahren verhielten.23 Zu beachten ist jedoch, dass die Kritik an dieser Einordnung in der Folge nicht die geschehende Exotisierung durch die Kunstszene des Westens beklagt, sondern dass in einer solchen Gruppenausstellung mit Künstlern aus allen möglichen Ländern, Taiwans Lokalität (diyuxing 地域性) – die in Bezug auf ein geografisches Taiwan als Heimaterde, dessen Geschichte und sogenannte ursprüngliche Kunstformen wie die Porzellankunst gesehen wird – keinen Platz haben könne und unbemerkt bliebe, wie Ni Tsai-chin kritisierte.24 Es zeigt sich in dieser Kritik am hegemonialen Westen beim gleichzeitigen Folgen der Ideen, dass hier ein Kampf um die Definitionsmacht des ›Eigenen‹ und die angemessene Darstellungsmöglichkeit desselben ausgetragen wird;

21 Dass dieses zeitgenössische ›Eigene‹ in Taiwan nicht nur über eine als historisch weit zurückliegende und damit als ureigen definierte Tradition gezeigt wird, zeigt sich besonders deutlich am Ausstellungstitel Bubble Tea, der die Popkultur Taiwans als das spezifisch Taiwan Eigene in der Außendarstellung darstellt. 22 Hu Yongfen, Taiwan meishu ji qi yishi de ›weizhi‹, S. 263. 23 Vgl. ebd., S. 257. Dass die Diskussion um das Taiwan-Bewusstsein als unmittelbar mit diesen Entwicklungen im Westen zu tun habend gesehen wird, zeigt sich auch daran, dass im 1994 von Ye Yujing herausgegebenen Sammelband zur Debatte dieses Interview Hu Yongfens mit Ni Tsai-chin, Wu Mali und Lin Xingyue Teil ist. 24 Vgl. ebd., S. 258. Es besteht hier also nicht (auf Taiwan bezogen) die Kritik, die Franziska Koch hervorbringt, dass das Format der Gruppenausstellung als »nationalstaatliche[…] Repräsentation der ›besten Künstler eines Landes‘[…] das Ausstellen von ›anderer‹, d.h. in diesem Fall von als ›nicht-westlich‹, eben ›chinesisch‹ kategorisierter Kunst im Gruppenformat befördert.« (Franziska Koch, Die »chinesische Avantgarde«, S. 154).

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ein Eigenes, das als aus Taiwan selbst heraus entstanden beschrieben wird und sich als unabhängig von den globalen Entwicklungen darstellt.25 Doch zeigen die Diskussionen, dass die Entwicklung wohl bewusst ist und eine extreme Veränderung der Vorstellung des Schaffens von und Nachdenkens über moderne Kunst hervorbrachte. Wie eng die Debatte um das Taiwan-Bewusstsein mit den Veränderungen im Sprechen über Kunst im Kunstdiskurs des Westens verbunden ist, wird denn nicht nur in der Gleichzeitigkeit der Veränderungsbewegung deutlich, sondern zeigt sich auch in den genutzten Begriff lichkeiten, durch die die Debatte um das Taiwan-Bewusstsein geprägt ist. Besonders die für die Diskussion um das Taiwan-Bewusstsein zentrale Selbsteinordnung als »zurückgebliebene Region« (wie vor allem Chen herausstellt; 4.36) verweist auf ein Stehen in direktem Bezug zu dieser Entwicklung. Diese Einordnung, die die vergleichende Verortung im Globalen herausstellt, steht in engem Bezug zu den Modernisierungstheorien, woher sie ihr Vokabular borgt: eine vormoderne, traditionelle Gesellschaft(sordnung) wird hiermit bezeichnet, die im Zuge der Modernisierung aus dieser herausgeführt werden kann, um in ein Zeitalter einzutreten, wie es die ›nicht zurückgebliebene Erste Welt‹ aufweist. Das ›vormoderne, traditionelle Eigene‹ impliziert zwar immer auch ein ›noch nicht so weit entwickelt sein‹ und ein ›Altes‹, das im Gegensatz zum so sehr gesuchten, avantgardistischen ›Neuen‹ steht. Ausstellungen wie Magiciens de la terre zeigen aber genau ein solches ursprüngliches ›Eigenes‹ als notwendig für einen zeitgenössischen nicht-westlichen Ausdruck und beziehen also diese modernisierungstheoretische Idee, was zum Nicht-Westen gehört – das Eigene, das Traditionelle – scheinbar positiv konnotiert ein. So hat das ›Traditionelle‹ gleichzeitig in der den Modernisierungstheorien inhärenten Zuschreibung als genuin der »Dritten Welt« zugehörig auch identitäre Bedeutung und bezeichnet damit das Gewollte und Gesuchte, dasjenige, das in der formal so ähnlichen Kunst darauf hinweist, dass es sich nicht um eine Kopie des Westlichen handelt.26 ›Tradition‹ bezeichnet so das ›Ethnische‹, das ›Eigene‹, das im absoluten Gegensatz

25 Schon in Gongs, im Rahmen dieser Arbeit analysierten Text kommt zum Vorschein, wie stark die im Rahmen der Verhandlung des Taiwan-Bewusstseins entstandenen Paradigmen bis heute fortgetragen werden. Erwähnt werden soll hier weiter der Text Pureness/Hybridity von Liao Hsin-tien von 2008 – und damit über 15 Jahre nach der Debatte –, der die Vorstellung, das ›Eigene‹ sei als eine endlich aus Taiwan heraus entstehende Subjektivität zu sehen, stärkt. Er findet in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein ein Denken, das die Geschichte Taiwans unter den Schichten der Verwestlichung hervorgeholt habe, das »Taiwan zum Mittelpunkt« habe und sich dadurch von der Heimaterde-Bewegung der 1970er und der Local Colours-Bewegung der 1930er Jahre unterscheide, die doch auf der impliziten Problematik der Beziehung Taiwan/Japan, bzw. Taiwan/China beruhten. Der Bezug auf alte Karten Taiwans und andere Relikte der Geschichte Taiwans versteht Liao als reflektierenden Bezug auf Taiwans Geschichte und dessen Verflechtungen, woraus er die Stärke der Eigenen-Erde-Kunst (bentu) ableitet, die darin besteht, die Unmöglichkeit kultureller ›Reinheit‹ anzuerkennen. (vgl. Liao Hsin-tien, Chuncui/hunza, S. 147). Dass dabei aber genau jenes ›hybride Bentu‹ wieder zum essentiellen ›Eigenen‹ wird, übersieht er und reproduziert das Narrativ des tiefverwurzelten ›Eigenen‹. Er zeigt in diesem Forttragen, wie tief die Vorstellung der Taiwan-Kunst, der Bentu-Kunst als ein zusammengehörender Korpus, die Idee, das Eigene unter den Schichten des Verwestlichung hervorzuholen und in einer zeitgenössischen Betrachtung sich wieder auf Taiwans Ursprung und Besonderheit zu besinnen, verankert ist und sich dieses Narrativ fortschreibt. 26 Zur identitätsbezogenen Bedeutung der Tradition siehe auch die Diskussion Hsiao Chong-rays in VI.3.

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

zum Westen steht.27 Auf beiden Ebenen – der stilistisch-formalen und der identitären – ist ›Tradition‹ immer das, was der (moderne) Westen nicht ist: In den Symbolen und dem Bezug auf ein imaginiertes Taiwan bedient (oder erfindet) die Kunst der beginnenden 90er Jahre in Taiwan allmählich diese identitär verstandene vormoderne Tradition. Der Bezug auf das ›Eigene‹, die ›Tradition‹ dient daher – trotz seiner Widersprüchlichkeit, die vor allem in der anerkannten Bedeutung von ›Tradition‹ als Gegenteil von ›Moderne‹ liegt – als Argument der Abgrenzung. Die oben erarbeitete Bedeutungsänderung im taiwanischen Sprechen von ›Tradition‹ als Beschreibung Chinas und damit des ›Anderen‹ hin zum ›Eigenen‹ und damit Taiwan zugehörig, muss also auch aus der Perspektive der Forderung nach Tradition, dem Eigenen, Authentischen im Globalen betrachtet werden.28 Das Sprechen vom Taiwan-Bewusstsein, vom Eigenen und somit auch von der dem modernen Paradigma der Neuheit diametral gegenüberstehenden ›Tradition‹, als Zuschreibung, als Teil des eigenen künstlerischen Schaffens, begründet somit die Legitimation des künstlerischen Ausdrucks Taiwans im Globalen als Nicht-Kopie – während die Bezeichnung als ›traditionell‹ gleichzeitig das ›Modern-Sein‹ infrage stellt. Vor dem Hintergrund der Betrachtung der Konzeption des Eigenen aus globaler Perspektive muss die Feststellung des ›Postmodern-Seins‹, die Chen Chuan-xing kritisierend als ›falsch‹ feststellt, auch als Abgrenzung gegenüber einer als kolonisierend und westlich empfundenen ›Moderne‹ und einem folglich in Taiwan nur kopierenden, verwestlichten ›Modernismus‹ gelesen werden. In Geeta Kapurs Text When was Modernism in Indian Art? – wie Chens Text ebenfalls zu Beginn der 90er Jahre entstanden – findet sich die Bemerkung, dass die Peripherie (»wir«) die Möglichkeit nutzen müsse, im Globalen die noch unkategorisierte Praxis vorzustellen und einzuführen, bevor das ›Postmoderne‹ vollständig vom Westen in dessen Begriffen eingeordnet und charakterisiert würde.29 Hier zeigt sich eine Art Hoffnung, die mit diesem neuen Begriff,

27 An dieser Stelle soll noch einmal betont werden, dass bei Liu die Gleichsetzung von Tradition und Ethnischem als etwas Abgrenzendem (noch) nicht geschieht und Tradition bei Liu nicht die heutige Bedeutung des Gegenteils von Moderne hat. Interessanterweise nutzte Liu in seinen Diskussionen der 1960er Jahre die Feststellung der ›Tradition‹ noch nicht, um sich zu ›exotisieren‹, während diese Komponente in der Diskussion um das Taiwan-Bewusstsein allmählich die Bedeutung des Ureigenen, Anderen bekommt, das zur Selbstveranderung (wie Chen kritisiert) genutzt wird. 28 Der Künstler Jiang Mingxian 江明賢 bemerkt in der Kunstzeitschrift Artist in seinem eine 1981 nach Frankreich unternommene Ausstellungsreise beschreibenden Artikel, dass die »Europäer es liebten, das Wort ›Tradition‹ [in Klammern hinter dem chinesischen chuantong 傳統 in lateinischen Buchstaben, Anm. d. Verf.] zu nutzen.« (Vgl. Jiang Mingxian, Sanshi nian lai de zhenhan, S. 184). Dies verweist darauf, dass die Forderung nach ›Tradition‹ des nicht-westlichen Ausdrucks durch den europäisch-westlichen Kunstdiskurs wohl bewusst war und durch solche Ausstellungen fortgetragen wurde. Auch zeigt sich hier sehr deutlich, dass im europäischen Kontext jegliche ›traditionelle‹ Materialien nutzende Malerei nicht als modern anerkannt wird. Interessanterweise ist auch Liu Kuo-sung unter den ausstellenden Künstlern, der doch ironischerweise aus der taiwanischen Kunstgeschichtsschreibung hauptsächlich aufgrund seines ›modernistischen‹ und ›verwestlichten‹ Ausdrucks ausgeschlossen wurde. 29 Vgl. Kapur, When was Modernism in Indian Art, S. 297. Kapur spricht in ihrem von Gong besprochenen Text, der wie Chens 1992 veröffentlicht wurde, davon, dass sich die Dritte Welt beeilen müsse, damit der Westen nicht die Definition der Postmoderne wie-

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dieser noch nicht fest geformten Kategorie zusammenhängt: Diese ist (noch)30 nicht hegemonial, gehört nicht dem Westen (so wie es ›Moderne‹ tut) und in der der Postmoderne inhärenten Ref lexion der Moderne scheint also die Hoffnung durch, dass auch das Hegemoniale der Moderne und deren Ausschlussmechanismen ref lektiert werden. Die implizite Intention der Selbstbezeichnung als ›postmodern‹ ist also eine Abgrenzung, aber auch die Hoffnung der Erweiterung der Kategorien hin zu einem möglichen Eintritt in die Diskussion und muss in der Verwendung, die sich bei Kapur, aber auch in der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein zeigt, nur bedingt als jene Ref lexion des Modernismus gesehen werden, die Chen stark macht. Vielmehr muss sie hier als Kapurʼsche Hoffnung einer freieren Beschreibung gesehen werden, die die Chance bietet, der Kunst des Nicht-Westens einen Platz in der Betrachtung zu geben. Dass Kapurs Befürchtung der Kategorisierung der Bezeichnung ›postmodern‹ durch den Westen wahr geworden ist, zeigt sich auch daran, dass das Sprechen vom ›Postmodernen‹ im globalen Diskurs um Kunst bald nicht mehr auftaucht und durch das ›Zeitgenössische‹ ersetzt wurde, das dann auch rückblickend genutzt wird: So wird spätestens seit 2000 die globale Phase des Kunstdiskurses seit Magiciens de la terre rückblickend als ›zeitgenössisch‹ definiert.31 Dass auch in dieser neuen Bezeichnung die Hoffnung steckt, dem ewigen Vergleich zu entkommen, der erneuten oder andauernden Kategorisierung durch den Westen zu entgehen und dem Folgenmüssen der Regeln der westlichen Moderne zu entf liehen, lässt sich auch in der Kunstszene Chinas beobachten, wo, wie Wu Hung schreibt, die Selbstbeschreibung als ›zeitgenössische Kunst‹ (dangdai yishu) schaffend in den 1990er Jahren auf kam. Wenn auch nicht weiter diskutiert wurde, was das ›Zeitgenössische‹ vom ›Modernen‹ der 1980er Jahre unterscheidet, so beobachtet Wu Hung doch die Tendenz einer Abgrenzung von der als hegemonial gesehenen, westlichen Moderne, in der die diachrone chinesische moderne Kunst immer verspätet sei32 – wodurch doch auch die im westlichen, global-orientierten Kunstdiskurs geschehende Abgrenzung von der hegemonialen Moderne widergespiegelt wird. der selbst übernehme. Dies zeigt noch einmal, dass der Zeitpunkt der frühen 1990er als Umbruch im Denken einer globalen modernen Kunst auch im Kunstdiskurs Indiens eine Rolle spielte. 30 Dass die Tendenz der Vereinnahmung durch den Westen schon bestand, zeigt sich an Kapurs Bemerkung. 31 Dass das seit den späten 1980er Jahren in Taiwan verwendete ›postmodern‹ (das z.B. bei Gong, trotz seiner Bezugnahme auf Kapur, nicht mehr genutzt wird) mit dem später auch in Taiwan hauptsächlich genutzten ›zeitgenössisch‹ gleichgesetzt werden kann, zeigt sich vor allem im Vergleich von Beschreibungen, was das ›Postmoderne‹, bzw. ›Zeitgenössische‹ ausmacht: Z.B. wird im vom National Taiwan Museum of Fine Arts und dem Council for Culture Affairs Taiwan verantworteten Projekt The Viewing of Contemporary Art in Taiwan [toushi taiwan dangdai yishu 2000-2005 透視台灣當代藝 術 2000-2005], das darauf abzielt, künstlerische Trends aus Taiwan zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorzustellen, Taiwans ›zeitgenössische Kunst‹ mit nahezu den gleichen Begriffen beschrieben, mit denen zu Beginn der 1990er Jahre das ›Postmoderne‹ in Taiwan (wie es von Chen Chuan-xing kritisiert wird) beschrieben wird (Informationsschwemme etc.). Dadurch wird deutlich, dass ›postmodern‹ gleich verstanden wird wie ›zeitgenössisch‹. Zum Projekt: http://www1.ntmofa.gov.tw/cat/intro/in tro.asp, Stand: 21.1.2017. 32 Vgl. Wu Hung, From ›Modern‹ to ›Contemporary‹, S. 37. Auch Paul Gladstons Arbeit ist in diesem Kontext zu nennen, er stimmt weitestgehend mit Wu Hung überein (vgl. Paul Gladston, Contemporary Chinese Art: A Critical History, Edinburgh 2014).

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

So bietet die Beschreibung als ›postmodern‹ oder ›zeitgenössisch‹ auch die Möglichkeit der (Selbst-)Darstellung als nicht nur ein traditionelles, ethnisches Anderssein bestätigend, sondern drückt eben jenes Schaffen im Sinne eines Avantgardegedankens aus. Dadurch wird ganz klar gemacht, dass der künstlerische Ausdruck nicht nur traditionell taiwanisch (oder chinesisch) ist, sondern auch ›modern‹, ohne den Begriff zu verwenden, der – normativ aufgeladen – als Synonym für die westliche moderne Kunstauffassung stehend gesehen wird und daher das der angestrebten Originalität entgegenstehende Kopieren bewiese.33 Die Bedeutungsänderung der genutzten Begriffe und die explizite Auseinandersetzung mit der Bewegung der vom Westen ausgehenden Globalisierung des Kunstdiskurses, lässt die Erzählung eines Taiwan-Bewusstseins, das als aus der Entwicklung Taiwans selbst entstanden zu sehen ist – wie beispielsweise Victoria Lu Hong im Katalogtext zur Ausstellung Begegnung mit den Anderen darstellt – fraglich werden: »Mit der Abschaffung des Kriegsrechts, der Aufhebung des Verbots, politische Parteien zu gründen, der Registrierung von Zeitungen und der Lockerung der Zensur in den späten 80er Jahren verwandelte sich die alte Haltung der Künstler, die moderne westliche Kultur zu verehren plötzlich in einen Aufruf an die positive Beurteilung der einheimischen Künste. Als Resultat verbreitete sich rasch das taiwanesische Bewußtsein, das derzeit zur kulturellen Hauptströmung wird.«34 Vor dem Hintergrund des Erarbeiteten macht die zeitliche und diskursive Einbettung der Entstehung der Erzählung von Taiwans Subjekt-Werden im Sinne des selbstbewussten Selbstgestaltens durch den Bezug auf das Taiwan-Bewusstsein deutlich, dass hier eine Verbindung gesehen werden muss: Es zeigt sich, dass die Entstehung des Sprechens von einer Symbole und Zeichen des Taiwanisch-Seins festigenden Kunst der ›eigenen Erde (bentu)‹ – die, wenn im Bewusstsein um Taiwan geschaffen, »problemlos mit von außen kommender Kultur umgehen [könnte] und […] sich nicht minderwertig fühlen [müsste]«35 – auch eine abgrenzende Reaktion und implizite Angleichung an die Forderungen an ›nicht-westliche zeitgenössische Kunst‹ ist, wie sie Ausstellungen wie Magiciens de la terre formulieren. Dass ›modern‹ zum Synonym von ›westlich‹ wird und in der Selbstbezeichnung als ›postmodern‹ eine Möglichkeit gesehen wird, sich als ›nicht-mehr-modern‹ und damit ›nicht-mehr-westlich‹ darzustellen, ist als direkt hiermit verbunden zu lesen. Es zeigt sich, dass die Hinwendung zum ›postmodernen‹ oder ›zeitgenössischen‹ Eigenen mit der Etablierung von ›Moderne‹ als jenem Chenʼschen »Fremdkörper« (Chen 4.51) einhergeht, wodurch die Selbstdefinition als ›postmodern‹ sich als bloße, Abgrenzung suchende Namensänderung er33 Kann man nicht gar so weit gehen und sagen, dass das Postulieren des ›Zeitgenössischen‹ oder ›Postmodernen‹ eine Legitimation zum Einbezug der als Gegenteil der Moderne stehenden ›Tradition‹ als Teil der nicht-westlichen Kunst schafft: Scheinen nicht Tradition und Zeitgenossenschaft eher zusammen zu gehen als Moderne und Tradition? 34 Victoria Lu Hong, »Zeitgenössische Kunstentwicklung in Taiwan: das Aufkommen des einheimischen Bewußtseins«, in: el Attar, Begegnung mit den Anderen, S. 104-108, S. 106. Dass diese Erzählung fest etabliert ist und bis heute fortgetragen wird, wird am Blick Liao Hsin-tiens deutlich (siehe oben, dieses Kapitel). 35 Ni Tsai-chin, Taiwan yishu zhong de taiwan yishi, S. 208.

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weist, die die eigentlichen Probleme versteckt und als dunklen »Unterton« (wie Chen schreibt), als normative Forderung, mitträgt. Die Debatte um das Taiwan-Bewusstsein und die sich hier abbildende Konzeption des Eigenen, verweisen somit auf den tiefer werdenden Einf luss der globalen Disposition auf die Kunstszene Taiwans und weiter auf den widersprüchlichen Umgang Taiwans damit, der zur Verfestigung des Referenzrahmens und damit der Definitionen führt. Wie tiefgreifend diese Veränderung ist, zeigt sich vor allem bei Gong, der den ›Westen‹ als »magischen Zauberspruch« (Gong 1.12) bezeichnet, der Taiwans Blick auf moderne Kunst bestimmt. Die Veränderung beschränkt sich damit nicht nur auf die – durch politisch-gesellschaftliche Umbrüche bestimmte – Zeit der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein,36 sondern lässt ›Moderne‹, gesehen einzig als normative, vom Westen bestimmte Größe, die zeitgenössische Diskussion um Kunst bestimmen. Die Präsentation des geografisch definierten ›Taiwanischen‹ (zu der Liu Kuo-sung und die Bewegung der modernen Kunst der 1950er und 1960er Jahre dann nicht mehr wirklich gehören können) ist somit zu lesen als im reagierenden Wechselspiel mit der Globalisierung des Kunstdiskurses und der Selbstpräsentation des ›Westens‹ als Region, dessen ›Anderer‹ Taiwan sein soll, entstanden. Auf Ebene des künstlerischen Schaffens und der kuratorischen Entscheidungen muss das Herausstellen der ›Besonderheit Taiwans‹ in einer Symbole eines imaginierten Taiwans betonenden Kunst daher als Reaktion auf die Forderung nach einem additiven Hybrid aus zeitgenössischen formalen Anforderungen und dem ›Ureigenen‹ und ›Anderen‹ gesehen werden.

5. Zum globalen Ausschluss der Moderne und der Etablierung des Parallelnarrativs In den beginnenden 1990er Jahren gewinnt das Proklamieren des nicht-mehrmodernen ›Zeitgenössischen‹ im globalen Kunstdiskurs an Bedeutung, was als Eintritt in ein Zeitalter der globalen Gleichwertigkeit und als Ende der Unterschiede und Asymmetrie zwischen Peripherie und Zentrum gefeiert wird. Die globale zeitgenössische plurale und egalitäre Erzählung positioniert sich im Gegensatz zur nun als abgeschlossen deklarierten, ausschließenden Moderne mit ihrem kolonial-hegemonialem Universalitätsanspruch, die zum zur geografischen Region erklärten ›Westen‹ gehört. In der Betonung des Erreichens des ›wirklich Zeitgenössischen‘‘37 wird die Moderne als irrelevant für die Diskussion der globalen zeitgenössischen Kunst dargestellt. In der (Selbst-)Ref lexion als hegemonial, in der Kritik am engen, eurozentrischen modernen Kunstverständnis und in der Folge des Ausschlusses der Moderne aus der Erzählung des egalitären globalen Zeitgenössischen – dieser Beltingʼschen ›Zeitgenossenschaft ohne Geschichte‹ – wird ›Moderne‹ zum absoluten Synonym der westlichen, klassi36 Sicherlich ist das Ende des Kriegsrechtes 1987 als wichtiger Einschnitt zu sehen, der auch beachtet werden muss, betrachtet man die Fokussierung auf ›Taiwan‹, die nun überhaupt in diesem Maße politisch erst möglich war. Doch die taiwanische Kunstgeschichtsschreibung, die dieses Ereignis als einzigen Grund festhält, ignoriert die Umbrüche des globalen Kunstdiskurses zugunsten einer nationalistisch geprägten Erzählung. 37 Als endlich »truly contemporary« würden die nicht-westlichen Künstler dargestellt, arbeitet Chakrabarty heraus. Vgl. Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 163; siehe auch Kap. II.1.1.

VI. Vergleichende Betrachtung und Rückeinbettung

schen Moderne und deren Definitionen (die durch die Erzählung der kulturellen Tradition – diesem ideengeschichtlich etablierten Gegenteil der Moderne –, die als ›Eigenes‹ den ›Anderen‹ gehört, unterstützt wird). Das hegemonial begründete Ausgrenzen der Diskussion von ›Moderne‹ im Zeitgenössisch-Globalen ist somit wichtige Grundlage des im Kunstdiskurs Taiwans seit den 1990er geschehenden normativen Gleichsetzens von ›Moderne‹ mit Westlich, das ›Moderne‹ zum »Fremdkörper« (Chen 4.51) Taiwans macht. ›Moderne‹ steht der Kunstszene Taiwans als Kategorie nicht mehr zur Verfügung.38 Es ist diese Entwicklung, die Chakrabarty anspricht, wenn er fragend zusammenfasst: »How do we evaluate developments in subaltern history as that history becomes part of an emergent global formation?«39 Ich möchte diese Frage hier auf den Kunstdiskurs übertragen und also Chakrabartys Frage als Verweis darauf lesen, dass die nicht-westliche Kunstgeschichte (die also das subalterne ›Andere‹ der als hegemonial gekennzeichneten westlichen Moderne beschreibt) eine genauer zu betrachtende Deutung erfährt, wenn man sie aus der Perspektive der »emergent global formation«, des globalen Kunstdiskurses, betrachtet, die – was der hier genutzte Singular unterstreicht – also als universale und global gleichermaßen gültige Perspektivierung dient und wahrgenommen wird. Chakrabartys Frage öffnet den Blick dafür, dass die nicht-westliche moderne Kunstgeschichtserzählung explizit im globalen, egalitären Diskurs, der mit der Bezeichnung ›Moderne‹, sich ref lexiv-kritisch gebend, nur die westliche hegemoniale Moderne in ihren normativen, stilistisch-formalen Anforderungen mitdenkt, kaum einen Platz im Kanon der Moderne haben kann. Gongs Text kann als Chakrabartys Frage aufgreifend gelesen werden in seiner expliziten Positionierung im Globalen durch die Selbstkategorisierung als ›Dritte Welt‹ und stellt in Taiwans Kunstszene eben einen solchen Blick kritisch fest, der ›Moderne‹ als einzig die westliche Moderne mit ihren stilistisch-formalen Paradigmen beschreibt und jedwede Entwicklung hieran misst, wenn er zeigt, dass die Entwicklungen der 60er Jahre um Liu Kuo-sung und die Bewegung der modernen Malerei aufgrund einer stilistisch-formalistischen Argumentation als verwestlichte Kopie der einen künstlerischen Moderne dargestellt werden und nur die »amerikanische, von Greenberg formulierte, formalistische, sich von einer Diachronizität abwendende ästhetische Bedeutung des ›Modernismus‹« (Gong 3.34) beachtet wird. Wie eng dieser Blick mit 38 Dass auch die Bezeichnung ›westlich‹, die sich doch in der Bezeichnung xihua (der wörtlich ›westlichen Malerei‹) als Taiwan eigen zeigt, nicht mehr zur Verfügung steht, wird deutlich, betrachtet man den Titel des Textes Westliche Kunst – Made in Taiwan, in dem der Bezeichnung ›westliche Malerei‹ die Konnotation der Verspätung, des Nachahmens anhaftet, definiert sich der ›Westen‹ doch nun als Region. Interessant ist in diesem Kontext eine kleine Anekdote von meinem Forschungsaufenthalt in Taiwan 2012: Die selbst mit Tusche arbeitende zeitgenössische Künstlerin Yuan Shu verstand meine Bemerkung, ich würde zur nicht-westlichen Kunst (feixifang yishu) arbeiten, im Sinne, dass ich zur Tusche-Malerei arbeiten würde. Das ›Westliche‹ bezieht sich in ihrem Verständnis folglich auf die Art zu schaffen, weniger auf eine geografische Gegebenheit. Dass die alte Vorstellung, was ›westliche Kunst‹ bezeichnet, hier mitschwingt, zeigt sich. 39 Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 165.

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der zeitgenössisch-globalen Vorstellung des Verspätet-Seins zusammenhängt, zeigt sich aber vor allem an Gongs – an der Wiederaufarbeitung Wu Yaozhongs im Jahre 2012 geschehenden – Aufzeigen der Annahme, dass die taiwanische Kunstgeschichte der 70er Jahre als nicht »qualifiziert […], modern zu werden«, »nicht in vollem Maße die Eigenschaften der Moderne besitz[end]« (Gong 1.37) gesehen wird, und auf dieser Grundlage die Frage einer in die Weltgeschichte eingebetteten Moderne Taiwans von Beginn an ausgeschlossen wird. Die Neubetrachtung Wu Yaozhongs im Jahr 2012 wird also als ein Narrativ etabliert, das als lokalhistorisch und ethnisch wichtig und interessant dargestellt wird, aber – aufgrund des Fehlens der stilistischen Neuheit und damit jener wichtigsten ›Qualifikation‹ zum Erreichen des ›Zur-Welt-Gehörens‹ (›of the world‹) von dem Chakrabarty spricht – als künstlerisch und für den Kanon der modernen Kunst irrelevant. So zeigt sich, dass die Erzählung der Kunstgeschichte Taiwans, im Scheine des zeitgenössisch-globalen Narrativs der ›modernen Kunst‹ betrachtet, als immer ›verspätet‹ (als verspätete Kopie) eingeordnet wird und folglich als ›nicht qualifiziert‹ modern zu sein, als ›minderwertig‹40 gezeichnet, nur als Parallelnarrativ bestehen kann. Die Darstellung eines Parallelnarrativs, das nicht qualifiziert ist, modern zu werden, wird in der zeitgenössisch-globalen Nicht-Anerkennung der taiwanischen Erfahrung als Teil der nun als hegemonial und damit als westlich gekennzeichneten Moderne, in der offensichtlichen Unmöglichkeit, Teil einer globalen Diskussion von Kunst zu werden, gespiegelt. In Gongs Anmerkung der fehlenden Qualifikation drückt sich aus, dass die vor dem Eintritt in die globale Zeitgenossenschaft geschaffene Kunst nicht nur der von Chen kritisierten Abgrenzung wegen nicht als ›moderne Kunst‹ bezeichnet werden kann, sondern dass die schon fest verankerte und unhinterfragte Vorstellung der Nicht-Zugehörigkeit zur globalen Erzählung moderner Kunst diese Einordnung leitet und damit den Grundton des lokalen Parallelnarrativs bildet, deren ›Kunst-Sein‹ abseits einer rein handwerklichen und damit folglich formalen Einordnung gar nicht erst überlegt wird. Unter den Paradigmen, die die Erzählung des Globalen leiten, kann das Parallelnarrativ einzig unter der unterschwellig vorhandenen, unsichtbaren Messmarkierung und den Vorentscheidungen des Master Narrativs des Westens betrachtet und hieran gemessen werden.41 So wird aus der Perspektive der »global formation« die Geschichte der »developments in subaltern history« zur Erzählung eines der Weltgeschichte diametral gegenüberstehenden lokal eingebetteten Parallelnarrativs, das im Sinne des Strebens nach einer Gleichheit suggerierenden Pluralität gesucht und – betrachtet man die Entwicklung innerhalb Taiwans – gehypt wird,42 aber als das, was (vor allem stilistisch, verspätet) noch nicht zur ›Welt‹ gehört (wie Chakrabarty schreibt, noch nicht »of the world« sei), nur als Lokales gesehen werden kann. Als lokal eingeordnet steht das Kunstschaffen außerhalb der Schreibung einer Weltkunstgeschichte und kann nicht

40 Wahrgenommen als »deficient«, schreibt auch Chakrabarty (vgl: Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 166). Auch sei an dieser Stelle noch einmal auf die Diskussionen um das ›Minderwertigkeitsgefühl‹ (zibeigan 自卑感) verwiesen, die in Taiwans Kunstszene geführt werden (wie in II.1.2 dargelegt). 41 Die Vorstellung eines ›Aufholens‹ schwebt immer mit: Als noch nicht ›aufgeholt‹, als ein »›belated‹ project« werden laut Chakrabarty die Subaltern Studies gesehen (vgl. Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 165). 42 Vgl. dazu auch Kap. V.2.2.

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im kritischen Sinne in die Moderne eingeordnet betrachtet werden, ja, sie kann kaum als ›moderne Kunst‹ als welche sie doch explizit geschaf fen wurde, betrachtet werden. Das vor dem Hintergrund der »global formation« zu beobachtende Phänomen der aufwertenden Beachtung von lokalen und regionalen Kunstgeschichten geschieht also gleichzeitig mit dem aktiv betriebenen Ausschluss derselben aus der globalen Erzählung der modernen Kunst. Diese lokal geschriebenen Kunstgeschichten können somit immer nur als Abbild und als ethnologischer Spiegel der eigenen Kultur dienen, die das Wissen um eine Kultur in der global gewordenen Welt erweitern, können aber kaum eine ›Kunst‹ als ›Kunst‹ im Sinne der klassischen Moderne, die in der globalen Erzählung nur den Westen beschreibt und das Andere als Anderes sucht, beschreiben. Die (Um-)Wege, die die Moderne auf ihrem Weg nach und in Taiwan genommen hat und die von Gong als »gebrochene Moderne« angesprochen werden, werden mit Eintritt in die »emergent global formation« als mögliche Erzählung durch das in sich weitestgehend als geschlossen und gradlinig dargestellte Parallelnarrativ überschrieben. Die zeitgenössische Erzählung der Kunstgeschichte Taiwans als Parallelnarrativ in Taiwan, wie sie also in Bezug auf Wu Yaozhong festzustellen ist, zeigt eine Verinnerlichung der Paradigmen der »global formation«, die über die impliziten Paradigmen als einzige legitime Grundlage die westliche Moderne – diesen magischen Referenzrahmen – mitträgt und die subalterne Entwicklung der Kunst zu einer Geschichte macht, die nicht in das Narrativ der ›modernen Kunst‹ eingeordnet werden kann und der somit das ›moderne Kunst-Sein‹ verwehrt wird. Im nach Synchronizität strebenden globalen Zeitgenössischen wird die gebrochene und diachrone Moderne durch ein Verständnis als ›vor-postmodern‹ (wie Chen ironisch-kritisch schreibt) aktiv ausgeschlossen. Die Einordnung des als rein lokal verstandenen Parallelnarrativs als ›vor-postmodern‹ (oder ›vor-zeitgenössisch‹) anstatt als ›modern‹ macht – neben der Abgrenzung gegenüber der als westlich verstandenen ›modernen Kunst‹ – vor allem das Ausklammern der Bedeutung von Moderne als »Zeitlichkeit« (Chen 4.51) und damit als Teil Taiwans deutlich. Die vor dem Hintergrund der ›emergent global formation‹ geschehende Abgrenzung gegenüber der Moderne als westlich, wie sie von Chen und Gong als in Taiwan geschehend kritisiert und diskutiert wird, ignoriert also die historische Entwicklung der Auseinandersetzung mit ›Moderne‹ in Taiwan, schließt also das Modern-Sein des taiwanischen Parallelnarrativs und die Verstrickungen in die Behauptung der einsträngigen Moderne und der daraus hervorgehenden Normativität selbiger als Teil der Diskussion selbst aus den Überlegungen aus und folgt in der Bezeichnung als »Fremdkörper« (Chen 4.51) und Betrachtung als ein »einheitliches und gesamtes Phänomen« (Chen 5.34) einer Lesart von ›Moderne‹, wie sie im Zuge der Globalisierung des Kunstdiskurses im Westen entstand und sich fortsetzt. Die Bedeutung des Ausschlusses der Bewegung der modernen Malerei der 50er und 60er Jahre aus der taiwanischen Erzählung im Kontext der Diskussion um das Taiwan-Bewusstsein zeigt sich vor allem vor diesem Hintergrund: Werden also nur die 70er Jahre als Taiwan zugehörig beschrieben, jene Zeitspanne, die aufgrund ihres stilistischen Verspätet-Seins als »nicht qualifiziert, modern zu werden« nur als Parallelnarrativ beachtet werden kann, so besteht die Möglichkeit, Taiwans Modern-Sein außerhalb des direkten Vergleiches mit dem Westen zu betrachten kaum mehr, ein Zugang zur Modernisierung Taiwans besteht kaum mehr. Wird die Bewegung der modernen Malerei um Liu Kuo-sung also aufgrund ihres ›Westlich-Seins‹ ausgeschlossen, so wird das in diesem scheinbaren ›westlich‹ versteckte ›modern‹ nicht als verinner-

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lichter Teil Taiwans in seinen vielfältigen widersprüchlichen aber auch produktiven Verstrickungen gesehen. Die zeitgenössische Rhetorik des ›Erreicht-Habens‹ ignoriert diese Entwicklung der »Moderne an diesem Ort«, ignoriert diese »Moderneerfahrung« (wie Chen schreibt und damit immer auch auf den normativen Charakter von ›Moderne‹ verweist) und macht eine ref lektierende, vielschichtige Betrachtung der ›inneren Moderne‹ nahezu unmöglich, lässt immer nur den direkten Rückbezug auf die Begriffe und Konzepte des Westens zu, mit welchen das Parallelnarrativ dann erzählt wird ohne jene von Gong in Anlehnung an Kapur als Erfahrungsbahnen bezeichneten Wege der »gebrochenen Moderne« zu betrachten. Jenes Verständnis von ›moderner Kunst‹ bleibt so unbeachtet, das im Zuge der erzwungenen Öffnung und Modernisierung Ostasiens gegenüber dem Westen über den ›Umweg‹ China und Japan nach Taiwan kam, das – wie von Xu Fuguan festgestellt (vgl. Kap. II.2) – mit der neuzeitlichen Bezeichnung yishu gemeint sei, und auf dessen Fortentwicklung in der taiwanischen Diskussion und im Schaffen (welches wiederum im steten Bezug zur ›Welt‹ steht). Die im Globalen stehende zeitgenössische Diskussion Taiwans, die die Verstrickungen und Verf lechtungen (›entanglements‹) der Entwicklung der Moderne Taiwans ignoriert und so ein lokales Parallelnarrativ errichtet, das als nicht-modern, als vor-postmodern/vor-zeitgenössisch, den Widersprüchen der nicht-westlichen Moderne und Fragen um Legitimität und Minderwertigkeit zu entf liehen sucht, spiegelt diese Entwicklung des global-westlichen Kunstdiskurses wider. So ist der im Rahmen der Gleichsetzung von ›Moderne‹ und ›Westen‹ im Zuge der Debatte um das Taiwan-Bewusstsein auf kommende Ausschluss der Bewegung der modernen Kunst der 1950er/60er Jahre aus der Erzählung der taiwanischen Kunstgeschichte eng mit der Verfestigung des vergleichend westlichen Konzepten folgenden, als global nicht relevant gesehenen Parallelnarrativs verbunden.

6. Resümee und schlussfolgernde Überlegungen In Bezug auf die zeitgenössischen Problematiken im taiwanischen Sprechen über moderne Kunst, wie sie in Kapitel II erarbeitet wurden, zeigt sich im Vergleich der Analysen und in der schlussfolgernden Rückeinbettung derselben in die Erzählung der Kunstgeschichte Taiwans, dass die Veränderungen im Sprechen über Kunst als eng verwoben mit der Auseinandersetzung mit internen und externen Zu- und Beschreibungen gelesen werden müssen. Der schon von Liu gefundene Umgang mit der Vorstellung von ›Moderne‹ – der durch den ›kosmopolitischen, der Welt zugehörenden Charakter‹ (shijiexing 世界性) ausdrückte, dass ›Modern-Sein‹ nicht zwangsläufig ›Westlich-Sein‹ bedeutet, aber nicht versuchte den Einf luss des Konzeptes zu negieren – stößt im Zeitgenössischen an seine Grenzen und bedarf der erneuten Diskussion: Das Modern-Sein Taiwans ist nicht mehr selbstverständlich und wird ausgeschlossen. Während bei Liu das Modern-Sein noch sowohl den Zustand der Welt, als auch die Bestrebungen der Kunst universal, jedoch trotzdem in ihrem steten Bezug zum Westen, umfasste, ist im zeitgenössisch-globalen Umfeld, in dem Chen und auch Gong diskutieren, ›Moderne‹ auch von Taiwan aus gesehen immer zutiefst besetzt mit der Idee des hegemonialen ›Westen‹, was durch die im Westen sich vollziehende kritische Selbstref lexion von Moderne als hegemonial verstärkt wird. Jener normative Charakter der ›Moderne‹

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wird so verstärkt, den Gong in Anlehnung an Geeta Kapur als »Problemkomplex der Originalität des Schaffens« und »Nervosität in Bezug auf das Beeinf lusstwerden« bezeichnet. Durch Gongs und Chens Versuch, das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein Taiwans als ›modern‹ wieder zu stärken – einem ›Modern-Sein‹, das den im ins Globale eingebetteten Kunstdiskurs keine Beachtung findenden Widerspruch nicht ein ›ganz Anderer‹ der westlichen Moderne zu sein in Bezug auf die stilistischen, formalen und ideologischen Paradigmen, in die das künstlerische Schaffen eingebettet ist, und dem gleichzeitigen Nicht-integriert-Sein in die Idee der ›modernen Kunst‹, aushält und gar aktiv einbezieht –, kann ihre Haltung als an Lius Auffassung im Zeitgenössischen anknüpfend gesehen werden. Die tiefgreifenden Veränderungen der Vorstellung von moderner Kunst in der Kunstszene Taiwans möchte ich hier also als eng mit den Bewegungen im globalen Kunstdiskurs zusammenhängend verstehen, durch die ›Moderne‹ seit den 1990er Jahren zunehmend als dem nun geografisch verstandenen Westen zugehörig gezeichnet wurde. In der Folge bekam das Streben nach ›Moderne‹ in Taiwans Kunstszene zunehmend die Implikation des Illegitimen, während gleichzeitig die Idee der ›Neuheit‹ – das moderne Paradigma par excellence – nach wie vor die Vorstellung von zeitgemäßem künstlerischem Schaffen prägt. Was Chen schon an der Bezeichnung als ›postmodern‹ kritisierte, die doch nur die ›Moderne‹ überdecke, wird in Gongs Verhandlung des rein formalistischen Verständnisses von ›Moderne‹ als normativ fortbestehend deutlich. Das Zeitgenössische kommt in Taiwan also nie ohne die Verhandlung der Normativität der Moderne aus und zeigt sich damit als nicht von der im globalisierten Kunstdiskurs als hegemonial gekennzeichneten Moderne getrennt, sondern engstens mit dieser verbunden. Wenn also die »Identität vor allem der nicht-europäischen Länder immer in Frage«43 steht, wie Ōhashi feststellt, so zeigt sich dieses In-Frage-Stehen im zeitgenössisch-globalen Kontext nicht nur vor dem Hintergrund der historischen Modernisierung, sondern ist als in Bezug stehend zur Globalisierung des Kunstdiskurses und dessen implizit die Paradigmen der Moderne fortführenden Anforderungen an ein nicht-westliches Kunstschaffen zu sehen. Die Widersprüche und Fragen, die sich im zeitgenössischen Diskurs Taiwans öffnen, hängen also direkt mit dem zeitgenössischen Ausschluss der nicht-westlichen Moderne aus der Erzählung der Moderne zusammen. So zeigt sich, dass die Bewegung der Öffnung des Kunstdiskurses im Westen, der doch das Ziel der Inklusion der ehemaligen Peripherie hat, in Taiwan die verstärkte Vorstellung von Normativität im Zusammenhang des Schaffens und Sprechens von moderner Kunst zur Folge hat: Die Abgeschlossenheit der Moderne, die dem Zeitgenössischen anhaftende Idee des Endes der Moderne, macht die anhaltend präsenten Paradigmen der Moderne unverhandelbar, weil unsichtbar und lässt keinen Platz in einer globalen Erzählung für die Entwicklung der modernen Kunst in Taiwan. Die Allgemeingültigkeit, die die westlich-geprägten modernen Vorstellungen des künstlerischen Schaffens schon in den 1950er/60er Jahren (exemplarisch bei Liu gezeigt) hatten aufgrund der historisch erzwungenen und damit notwendigen modernen Auseinandersetzung, weicht im Globalen der Normativität, durch die die Auseinandersetzung mit ›Westen‹ und der dem ›Westen‹ nun gleichgesetzten ›Moderne‹ geprägt ist. 43 Ōhashi, Übersetzung als Problem der japanischen Moderne, S. 137.

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Das Narrativ einer pluralen, egalitären und global-universalen Zeitgenossenschaft, die sich von der als westlich-hegemonial definierten Moderne abgrenzt, wurde in Taiwan in großen Teilen – trotz der Ablehnung, wie sie in den Diskussionen zum Ausdruck kommt – übernommen und kommt in der anhaltenden Diskussion um das eigene Taiwanische zum Ausdruck und beeinf lusst die Unmöglichkeit einer Erzählung der ›nicht-westlichen Moderne‹ als Teil der ›Weltgeschichte‹. Die inhärente Hybridität von yishu und die Erfahrung der ständigen Auseinandersetzung mit ›Moderne‹ hat in der auf einer stilistischen Bewertung des ›Modernen‹ oder ›Zeitgenössischen‹ beruhenden »emergent global formation« also keinen Platz. Während jener historisch verankerte Bedeutungszusammenhang von ›Moderne‹ und ›Westen‹, den Escande feststellt (vgl. Kap. II.1.2), die ständige Aushandlung von Moderne und der Asymmetrie mit sich zieht, macht die zeitgenössische Gleichsetzung von ›modern‹ mit ›westlich‹ die ›gebrochene Moderne‹ zum Parallelnarrativ, dem die Nicht-Qualifikation anhaftet und das somit als global relevante künstlerische ›Moderne‹ ausgelöscht wird. Es ist diese widersprüchliche Disposition – das Suchen nach einem global geforderten und global zu verortenden ›Taiwan‹ im Zeitgenössischen, während gleichzeitig das historisch moderne, das modernisierte Taiwan aus dieser Auseinandersetzung des Globalen ausgeschlossen wird –, die die zeitgenössische Verhandlung und Diskussion weiterhin prägt. Es wird deutlich, dass in der taiwanischen Diskussion eine von der abendländischen unterschiedene Perspektive eingenommen werden muss. Denn die Selbstverständlichkeit, mit der von ›Moderne‹ gesprochen wird, und demnach auch jede wissenschaftliche Ref lexion, steht hier selbst in Frage. Dies ist der Punkt, an dem sich die Diskussion von der in Europa unterscheidet und wo es daher sinnvoll sein kann, eine (durchaus problematische) Trennung zwischen Westen und Nicht-Westen aufzumachen – denn die nach wie vor bestehende akademische Akzeptanz des Nicht-Beachtens von Fragestellungen und Blickwinkeln außerhalb der abendländischen, produziert unweigerlich eine Diskrepanz, die in Kao Jun-honns zu Eingang dieser Untersuchung dargelegter Feststellung anklingt.

VII. Forschungsperspektiven für die globale Kunstwelt Ist es ›Performance-Kunst‹, was Kao Jun-honn oder Tehching Hsieh machen? Können Termini der westlichen Kunstgeschichte genutzt werden, um Taiwans zeitgenössische und moderne Kunst zu beschreiben? Diese Fragen Kao Jun-honns und Gong Jow-jiuns stellte ich an den Beginn der vorliegenden Untersuchung und ließ die Fragen folgen, wieso dies infrage steht im zeitgenössischen Taiwan und wie ›moderne Kunst‹ hier verstanden wird. Die Untersuchung entstand vor dem Hintergrund der Beobachtung der Globalisierung des Kunstdiskurses und wurde daher von der Frage geleitet, ob Phänomene und Ausdrucksformen nicht global mit denselben Begriffen, die doch im Zuge der Globalisierung des Kunstdiskurses ref lektiert wurden, beschrieben werden müssten. Um diesen Fragen nachzugehen, richtete die vorliegende Untersuchung den Blick auf die Diskussion um ›Moderne Kunst‹ in der modernen und zeitgenössischen Kunstkritik Taiwans und ordnete diese Diskussion von der Perspektive des zeitgenössischen taiwanischen Diskurses aus ein in die Diskussion um die Globalisierung des Kunstdiskurses, wie sie seit den späten 1980er Jahren als Paradigmenwechsel vollzogen und proklamiert wurde. Dabei öffnete die Arbeit die taiwanische Diskussion für Europa in der Annahme, dass hieraus Erkenntnisse für die Diskussion der Globalisierung des Kunstdiskurses gewonnen werden können. Die Untersuchung stellte die Frage, wie ›Moderne Kunst‹ zu verstehen sei, erneut, explizit nachdem der Eintritt in den zeitgenössischen global-orientierten Kunstdiskurs geschehen ist. Diese Untersuchung setzte so an einem Punkt an, an dem die Ref lexion im Westen schon geschehen ist und fragte vor diesem Hintergrund, welches Kunstverständnis der globalen Diskussion zugrunde liegt. Es konnte gezeigt werden, dass die seit den späten 1980er Jahren geschehende Ref lexion des westlichen Kunstverständnisses als ›westlich‹ und als ›hegemonial‹ in der Beziehung zu jenem ›peripheren Anderen‹, die Vorstellung und das Selbstverständnis dessen, was ›Moderne Kunst‹ in Taiwan ist, maßgeblich prägte und beeinf lusste. Während sich bei Liu Kuo-sung in den frühen 1960er Jahren noch die selbstbewusste Auffassung findet, dass ›Moderne Kunst‹ ein universales Phänomen sei und eine solche somit selbstverständlich auch in Taiwan/China entstehen könne, kommt bei Chen Chuan-xing (1992) und Gong Jow-jiun (2012) klar zum Vorschein, dass in dem Umfeld, in dem sie sich bewegen, ›Moderne Kunst‹ stark westlich konnotiert ist und als Taiwan nicht zugehörig wahrgenommen wird. Über die historische Perspektivierung des Selbstverständnisses von ›Moderner Kunst‹ im taiwanischen Diskurs konnte ein Zugang zu den Diskursen, die hinter den Fragen Kao Jun-honns und Gong Jow-jiuns stehen, geschaffen werden und diese in Bezug zur Entwicklung des globalen Kunstdiskurses gesetzt werden.

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»Nun aber, im 21. Jahrhundert, entsteht weltweit eine Kunst mit dem Anspruch auf globale Zeitgenossenschaft ohne Grenzen und ohne Geschichte. Diese Kunst ist nicht mehr synonym mit moderner Kunst.«1 So stellt Hans Belting fest und schreibt weiter, dass »[d]ie moderne Geschichte […] die Welt getrennt [habe], denn sie war nicht jedermanns Geschichte.« Es ist hier, dass die Erfindung einer pluralen, egalitären und global-universalen Zeitgenossenschaft als neues, auch zeitlich sehr klar gefasstes Paradigma vollzogen wird, die auf der Abgrenzung gegenüber einer einsträngig verstandenen, westlichen Moderne beruht. Ein klares Narrativ wird geschaffen, ab wann und als was das nicht-westliche Kunstschaffen existiert: Es ist das ›plötzlich Entstandene‹2, von dem Belting spricht; dasjenige, das nicht der als hegemonial-westlich kritisierten und definierten Moderne zugehört, sondern einer ›Global Contemporary‹, die Gleichheit und die Auf lösung der Trennung von Zentrum und Peripherie anstrebt. Während somit der zeitgenössischen Kunst des Westens ›die Moderne‹ als Geschichte zugeschrieben wird, wird die zeitgenössische Kunst des Nicht-Westens als plötzlich entstanden und explizit nicht als an die Moderne anknüpfend dargestellt. In der hier zum Vorschein kommenden Forderung an die globale Kunst, eine ›wahre Zeitgenossenschaft‹ zu verkörpern (›truly contemporary‹, wie Chakrabarty erarbeitet, vgl. II.1.1), zeigt sich der Diskurs um die Globalisierung des Kunstdiskurses seit Ende der 1980er Jahre wie ihn Belting darstellt, als eine Art ›zweite Verallgemeinerung‹ (oder Universalisierung)3 der westlichen Definition dessen, was zeitgemäßes künstlerisches Schaffen bezeichnen kann, der die ›erste Verallgemeinerung oder Universalisierung‹ im 19. Jahrhundert4, die historische Auseinandersetzung mit Moderne und die Zeit dazwischen, sowie die Allgemeingültigkeit, die Moderne im Zuge dieser Auseinandersetzung schon erfahren hat, vollkommen ausblendet. Beltings Feststellung ignoriert – wie Franziska Koch in Bezug auf Magiciens de la terre kritisch feststellt – »dass selbst Künstler in entlegenen afrikanischen Dörfern oder die australischen Aborigines längst Erfahrungen, ein eigenes Bild von und moderne Strategien im Umgang mit den ehemaligen Kolonialherren und der vormals gepriesenen ›abendländischen Zivilisation‹ auf künstlerischem Gebiet besitzen.«5 Es bleibt kein Platz für die Beachtung der Tatsache, dass die nicht-westliche Verhandlung von ›Moderner Kunst‹ sowohl im Modernen als auch im Zeitgenössischen nicht zwischen den Polen ›Moderne‹ und ›Tradition‹ verläuft, sondern zwischen der historischen Entwicklung der nicht-westlichen Modernen, die die Verhandlung von ›Tradition‹ als modernes Moment (im Hobsbawm’schen Sinne) einschließt, und der globalen Zeitgenossenschaft, der die Verhandlung der nun als hegemonial definierten Moderne und die Anforderungen eines 1 Belting, Was bitte heißt ›contemporary‹?, S. 56. 2 Vgl. Belting, From World Art to Global Art, S. 178. 3 Der Kurator und Kritiker Bassam El Baroni spricht von einer seit den 1980er Jahren existierenden »paradoxical universality«, die auf einer multikulturellen Logik beruhe und sich von der »old school european universality«, die sich im Konzept einer ›fine art‹ widerspiegelt, unterscheidet. Vgl. Hassan Khan, Interview with Bassam El Baroni (Part I), 2011 auf der Onlineplattform ArtTerritories veröffentlicht. Online verfügbar unter: www.artterritories.net/?page_id=2063, Stand 16.5.17. 4 Natürlich gab es schon in der Neuzeit und davor wichtige Austauschbewegungen zwischen Ostasien und Europa, diese können aber in ihrer einschneidenden Bedeutung nicht mit denen des 19. Jahrhunderts verglichen werden. 5 Franziska Koch, Die »chinesische Avantgarde«, S. 148.

VII. Forschungsperspektiven für die globale Kunstwelt

als ›Tradition‹ bezeichneten ›Eigenen‹ der globalen Zeitgenossenschaft zugehört. Das Wissen um und die historische, erzwungene Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne und deren Bildpraktiken (und sei es in der Abgrenzung von selbiger) wird übersehen und ausgeblendet in einer zeitgenössischen Betrachtung nicht-westlicher Kunst, die die Moderne in einer Geste der selbstkritischen Ref lexion als rein westlich sieht. Es ist eine »falsche Rücksichtsnahme«6 wenn ignoriert wird, dass im Sinne der Chenʼschen »Zeitlichkeit« ›moderne Kunst‹ und die ›moderne Kunstgeschichte‹ zu Taiwan gehört. Wenn die Art über Kunst zu diskutieren, die Art Kunst auszustellen und die Methoden und Ansätze, die genutzt werden, um über Kunst zu sprechen und schreiben, selbstkritisch als ›rein westlich‹, als Zeichen einer »Westerness«7 beschrieben werden, so wird ignoriert, dass das, was als ›einseitig westlich‹ kritisiert wird, Teil von Taiwan ist und dass in der kritisierenden Bezeichnung dieser Herangehensweisen als explizit ›westlich‹ rückblickend die Möglichkeit genommen wird, jene Art der Beschreibung von und Form der Kunstgeschichte als historisch verankerten Teil der modernen Kunst Taiwans zu betrachten.8 Erinnert sei daran, dass ein Sprechen von Kunst, die als yishu und meishu bezeichnet wird, immer auch deren Begriffsgeschichte einbeziehen muss, wie sie Xu Fuguan in seiner Abhandlung Der Geist der chinesischen Kunst schon 1966 ansprach (vgl. II.2). Diese so bezeichnete Kunst muss daher immer als ›moderne Kunst‹ oder als ein Kunstschaffen im modernen Kontext und damit im Kontext der Auseinandersetzung damit, was ›Moderne‹ im Spannungsfeld als Hergeholtes und doch längst Internalisiertes bedeutet, gesehen werden. Die stete Verhandlung der Bedeutung und den Implikationen von ›Moderne‹, der Ungleichzeitigkeit und das selbstbewusste und aktive Bewusstsein, dass das Nachdenken über ›Moderne‹ immer auch das Nachdenken über die Beziehung zum ›Westen‹ einschließt, ist Teil der taiwanischen Moderne, die in dieser ref lexiven Haltung ihr Modern-sein bestätigt. Ihre Betrachtung als ›modern‹ beschreibt somit keinen eurozentrischen, einer ›Westerness‹ anhängenden Blick, sondern ist unabdingbar, da hierdurch erst ›moderne Kunst‹ als etwas explizit Taiwan Zugehöriges gesehen wird. Es geht also darum, durch die direkte Nutzung9 jener von Elkins als rein westlich bezeichneten Kategorien, den Wider6 Heubel, Chinesische Gegenwartsphilosophie, S. 25 (siehe auch Kap. II.3.2). 7 Besonders eindrücklich geschieht diese Kritik an der »Westerness of the question«, der »Westerness of methodologies«, der »Westerness of institutions« und der »Westerness of terms« bei James Elkins in seinem Text Can We Invent a World Art Studies? Vgl. James Elkins, »Can We Invent a World Art Studies?«, in: Zijlmans; van Damme, World Art Studies, S. 107-118. 8 An dieser Stelle sei noch einmal an die explizit moderne und zu Taiwan gehörende Bezeichnung xihua erinnert, die ›westliche Malerei‹, die explizit den Stil, das Material, die Art zu malen bezeichnet und eben nicht vorrangig als geografische Bezeichnung gesehen werden kann. In dieser Bezeichnung, in der auch immer die der xihua gegenüberstehende guohua – die moderne Bezeichnung für die klassische chinesische Tuschemalerei – mitschwingt, spiegelt sich die der taiwanischen Diskussion zugrundeliegende Erfahrung in der Auseinandersetzung mit Moderne, die Dimension der zeitlichen Entwicklung und das Internalisierte (jene ›innere Moderne‹) wider, die im ›Global Contemporary‹ keinen Platz haben. 9 Chakrabarty plädiert für eine solche direkte Nutzung, anstatt auf ›stand-ins‹ auszuweichen: Solche »stand-ins« entstehen laut Chakrabarty, wenn auf direktem Wege versucht wird, Bezeichnungen für das Nicht-Europäische zu finden, anstatt »consciously working through the limits of European thought.« Denn auch hier arbeite man schon »at and on the limits of European political thought«, auch dann, wenn man sich auf europäische Gedanken und Theorien berufe. So schlägt Chakrabarty

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»Moderne Kunst« in Taiwan

sprüchen, die sich aus der Übersetzung des ›Modernen‹ ergeben (das dadurch implizit »letztlich immer irgendwie westlich« [Gong, vgl. II.1.2] ist), zu begegnen und nicht in Parallelnarrativen auszuweichen, und somit die Widersprüche und die Auseinandersetzung aktiv einzubeziehen und damit die Einsicht, dass ›Moderne‹ keine rein Europa bzw. dem Westen zugehörige Kategorie ist, aber sie auch nie vollständig ihr Europäisch/Westlich-Sein abschütteln kann, zur Grundlage des Nachdenkens zu machen. Die Fokussierung auf das nicht-westliche Zeitgenössische als etwas plötzlich und im Globalen Entstandenes, wie es Belting schreibt, vereinnahmt hingegen die Moderne als rein westlich und dem Westen zugehörig und verhärtet so die Irrelevanz des nicht-westlichen modernen Kunstschaffens für ein Schreiben von Kunstgeschichte (und stärkt so den Kanon der westlichen modernen Kunstgeschichte).10 Die Erzählung, wie sie Ausstellungen wie Magiciens de la terre auf baute und wie sie weitergetragen wurde,11 kann zwar das zeitgenössische und auch das vormoderne, kulturell Andere einbeziehen, hat aber für die Hybride der nicht-westlichen Moderne seit dem 19. Jahrhundert keine Begriff lichkeiten und keine Betrachtungsweisen, beziehungsweise schließt sie die vor, den Ausweichcharakter der Kategorien, die ein essentielles Nicht-westlich-Sein suggerieren, anzuerkennen und nennt die Suche nach Eigenbezeichnungen für das Nicht-Europäische (in seinem historiografischen Ansatz das »revolutionary subject that is not-the-proletariat«) gar einen »global and theoretical failure« (Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 172). Übertragen auf die Diskussion um Kunst bedeutet das, dass die Bezeichnung ›Moderne‹ also nicht – ob ihrer hegemonialen Konnotation (sei es im ›Magier-‹ oder im ›Bentu-Stil‹) – vermieden werden sollte. 10 Betrachtet man, wie Künstler wie Lin Shou-yu/Richard Lin oder Li Yuan-chia 李元佳, Chu Teh-chun 朱 德群 oder Hsiao Chin – Künstler, die den größten Teil ihres Lebens, ihrer künstlerischen Ausbildung und ihres Schaffens in Europa verbrachten und dort, aktiv eingebettet in die moderne Kunstszene, ihr Werk schufen, beeinflusst wurden und auch selbst beeinflussten – heute dargestellt werden, so zeigt beispielsweise die Darstellung der Arbeiten Li Yuan-chias in einer posthumen Ausstellung 2014/15 in der Tate Modern als abstrakte Kunst, die »drew upon western modernism as well as Zen Buddhist and Daoist thinking« (www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/display/li-yuan-chia, Stand: 12.5.2017), wie sehr im Zeitgenössischen die Erzählung der einsträngigen Moderne implizit fortgetragen wird und das Bild einer additiv zu verstehenden Hybridität gefestigt wird: Li wird – wie sich auch bei den anderen Künstlern finden lässt – als Taiwaner (bzw. Chinese) dargestellt, der sich von dieser kulturell geprägten Position aus den Stil- und Ausdrucksmitteln der explizit ihm nicht-zugehörigen Moderne bedient und diese – ähnlich wie Picasso primitive Masken nutzte – als reine Bildsprache (recht oberflächlich oder, positiv ausgedrückt, als Inspiration) nutzte. Die Tiefe der Arbeiten, das, was sie zu mehr macht, als zu Kopien der westlichen Moderne, wird als im als ›eigen‹ dargestellten kulturellen Hintergrund, im Zen oder Dao liegend verortet: Eine ›jahrtausendealte Kultur‹ wird so oberflächlich dargestellt, die das exotische Anderssein beweisten soll. So festigt die Feststellung jener additiven Hybridität die Moderne als westlich: Das nicht-westliche künstlerische Schaffen wird als eine Verbindung aus einer ursprünglichen, dem Nicht-Westen zugehörigen ›Tradition‹ und der dem Westen zugehörigen ›Moderne‹ dargestellt. Wenn heute Künstler wie Lin Shou-yu/Richard Lin, als einer mit traditionell chinesischen Gedanken gespickten Minimal Art zugeordnet, eine Randbemerkung der Moderne sein können, so kreist die Erzählung doch um jene als ›westlich‹ definierte Moderne, die die Entwicklungen der Moderne der Kunst in Europa und Nordamerika sowohl formal als auch zeitlich/epochal als Standard festigt und so im globalen Heute die Erzählung des Westens als Original rezentriert. Lin oder Li sind dann explizit chinesische/taiwanische Künstler, die von der westlichen Moderne beeinflusst wurden, diese aber nicht mitbeeinflussten und mitschufen. 11 Dass sich hieran nur sehr langsam etwas ändert, zeigt besonders eindrücklich das von Chakrabarty 2009 erarbeitete ›truly contemporary‹, wie in Kap II.1.1 dargestellt.

VII. Forschungsperspektiven für die globale Kunstwelt

möglichen Betrachtungsweisen durch das weiterhin bestehende moderne Paradigma der Neuheit aus. Es ist der Schnitt mit der Moderne, die deklarierte Abgeschlossenheit der Moderne, vor deren Hintergrund der Diskurs um das globale zeitgenössische künstlerische Schaffen entstand. Somit baut das ›Global Contemporary‹, das als radikal von jener als hegemonial und damit westlich definierten Moderne getrennt dargestellt wird, genau auf dieser Trennung auf und ignoriert unter dem Paradigma der erreichten ›Gleichheit‹ auch die Asymmetrie, die in Bezug darauf besteht, wann das ›Zeitgenössische‹ ist: Im Proklamieren des seit 1989 bestehenden ›globalen Zeitgenössischen‹ scheint ein Unterschied auf zwischen einem ›Zeitgenössisch-Globalen‹ und einem ohne den Zusatz des ›Globalen‹ auskommenden ›Zeitgenössischen‹, das in der unbezeichneten Kunstgeschichte des Westens besprochen wird.12 In der zeitlichen Differenz und damit im Vakuum, das zwischen dem Ende der stilistischen Moderne der westlichen Erzählung in Form der Brillo-Boxen und dem Ende der hegemonialen Moderne der Erzählung des Globalen in Form der ›Magier‹ liegt, innerhalb dieses Bruchs in der Definition wird die Diskrepanz sichtbar, in der die zeitgenössische nicht-westliche Verhandlung der ›eigenen Moderne‹ angesiedelt ist, der folglich nur die Rolle eines Parallelnarrativs bleibt, das mit dem Status der verspäteten Kopie zu kämpfen hat. Die im Zeitgenössischen bestehenden Probleme mit dem Umgang mit ›Moderne‹, die sich in der Diskussion der ›Minderwertigkeit‹ (das Chakrabarty auch als Motiv des ›deficient‹ erwähnt), der ›Verspätung‹ oder des ›Eigenen‹ ausdrückt, werden ignoriert und ausgeklammert, wenn die Moderne als dem Westen zugehörige, abgeschlossene Epoche deklariert wird und ihre Bedeutung für die zeitgenössischen Diskussionen ausgeschlossen wird. Gongs Ansatz der Einbettung Wu Yaozhongs in eine Erzählung der Weltgeschichte von der Warte der ›Dritten Welt‹ aus, ist also die Suche nach einem Weg, jene explizit moderne Kunstgeschichte Taiwans heute, in der globalen zeitgenössischen Diskussion, in die Weltgeschichte einzubinden und damit die Frage nach der Moderne zu einer dezidiert unabgeschlossenen zu machen, die für eine zeitgenössische Diskussion unentbehrlich ist. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass Kao Jun-honns Selbsteinordnung ›kein Performer sein zu wollen‹ nicht eine einfache Abgrenzung bedeutet, sondern auf das Nicht-Einbezogen-Sein in die Geschichte der modernen Kunst referiert. Sie bezieht sich darauf, dass die nicht-westlichen Moderneerfahrungen und ihre Diskussionen keinen Platz haben in der modernen Kunstgeschichte, die angesichts des normativen Gehalts von Moderne die Allgemeingültigkeit von Moderne – die sich in den historischen Verhandlungen Liu Kuo-sungs oder auch Wu Yaozhongs zeigt – übersieht und die als abgeschlossen gesehen, Performance-Kunst und die zugehörigen Termini als rein westlich deklariert.13 12 2009 stellte Hal Foster westlichen Institutionen die Frage, was das Zeitgenössische sei, in einem Questionnaire on »The Contemporary« betitelten Fragebogen (in: October, Nr. 130, S. 3-124). Das Asian Art Archive (AAA) machte daraufhin mit einem Fragebogen, der The And: An Expanded Questionnaire on the Contemporary betitelt ist, auf die Diskrepanz in den gestellten Fragen aufmerksam (Claire Hsu; Chantal Wong: The And: An Expanded Questionnaire on the Contemporary; online verfügbar unter: www.aaa.org.hk/FieldNotes/Details/1167, Stand: 16.1.2017). 13 In jener zu Beginn der Untersuchung erwähnten Diskussion um Tehching Hsieh im TFAM, merkte ich an, dass sich für die westliche Kunstgeschichte so wichtige Künstler wie John Cage doch explizit auf Ostasien, auf dessen ästhetische Prinzipien und Ideen bezogen hätten und insofern eine Kunstform

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»Moderne Kunst« in Taiwan

Der vereinnahmenden Feststellung, die moderne Geschichte sei nicht jedermanns Geschichte gewesen, muss somit ein ›Doch‹ entgegengesetzt werden. So ist doch die moderne Disziplin der Kunstgeschichte selbst von Beginn an ein Hybrid, das nur in der abgrenzenden Auseinandersetzung mit dem ›Anderen‹ entstehen konnte: » […] the global or the ›non-Western‹ has always had a place in the history of art; indeed, […] putting that Other in its place has always been one of the acts that made the constitution of a history of art, particular a singular story of art, possible.«14 Craig Clunas verweist hier darauf, dass das ›Andere‹ als ein konstituierender Teil der Kunstgeschichte gesehen werden muss und somit der Verhandlung von ›Moderner Kunst‹ immer inhärent ist. Vor allem aber wurde und wird ›Moderne Kunst‹ nicht nur im Westen geschaffen, die Anerkennung der Modernen darf nicht im Sinne von Parallelnarrativen geschehen, die die Modernen als voneinander abgegrenzte Nationenkulturen verstehen. Vielmehr muss ›Moderne‹ im globalen Kunstdiskurs immer in dem Spannungsfeld ›Moderne‹ als übergeordnete Idee, als ›westliche, normative Moderne‹, und – um noch einmal eine Formulierung Chen Chuan-xings zu bemühen – als ›Moderneerfahrung an jenem Ort‹ diskutiert werden. Erst wenn dies auch für einen sich einer radikalen Provinzialisierung15 unterziehenden westlichen Kunstdiskurs gilt, der die normative moderne Kunstgeschichte nicht mehr als sein Eigen bezeichnet und trotzdem seine Rolle in dieser Beziehung nicht vergisst, so kann die Auseinandersetzung mit dem bisherigen Kanon der Kunstgeschichte in wirklich globaler Perspektive geschehen. Stilistische und epochale Zuschreibungen wie die ›Moderne‹ oder eben ›Performance-Kunst‹ könnten dann geöffnet werden und Bezeichnungen wie der ›Abstrakte Expressionismus‹ könnten dann auch Liu Kuo-sungs Theoretisierung des Abstrakten – und damit auch seine moderne Lesweise der chinesischen, ›traditionellen‹ Ästhetik – fassen und diese nicht nur als bisher ignorierte Parallelnarrativen einschließen, sondern genau wie die Überlegungen der New York School als die moderne Kunst konstituierenden Teil verstehen, ohne eine alle Unterschiede des Globalen negierende Homogenisierung zu vollziehen und ohne sich in einer kulturessentialistischen Geste auf das ›ganz Andere‹ zu berufen. wie die Performance-Kunst doch explizit als auch ›Ostasien‹ zugehörig gesehen werden müsse (vgl. das online verfügbare transkribierte Gespräch: www.tfam.museum/File/Book%5CMain%5C826 %5 C2014052118352677 9368.pdf, Stand: 21.1.2017). Dass dies als im Rahmen jener Diskussion als nahezu irrelevant angesehen wurde, verweist darauf, dass Dipesh Chakrabartys Feststellung, dass es irrelevant sei für eine Auseinandersetzung mit dem nicht-westlichen subalternen Subjekt, dass das europäische Original des Proletariers eventuell ebenso wie die außereuropäischen Ersatznamen ein Simulakrum sei, hier übertragen werden kann: Es ist ebenso irrelevant für die Frage nach der möglichen Diskussion der taiwanischen Moderne, dass die westliche Moderne in ihrer Entstehung selbst ein Hybrid ist (vgl. Chakrabarty, Belatedness as possibility, S. 172). Dies wiederum verweist darauf, dass der Kanon der Moderne sich durch die geschehende Reflexion nicht ändert – asiatische moderne Künstler stoßen nach wie vor gegen eine »gläserne Decke«, so Monica Juneja und Franziska Koch (vgl. Kap II), ihr (vermehrtes, aber doch immer kurzes) Auftauchen am Rande der großen Erzählung ist kaum mehr als eine zeitgemäße postkoloniale Perspektivierung, ein Parallelnarrativ zum erstarkten Master Narrativ. 14 Craig Clunas, »The art of global comparisons«, in: Maxine Berg (Hg.), Writing the History of the Global. Challenges for the Twenty-First Century, Oxford 2013, S. 165-176, S. 165. 15 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical dif ference, Princeton, N.J., 2000.

VII. Forschungsperspektiven für die globale Kunstwelt

Im Rahmen der die Arbeiten der Künstlergruppe Art et Liberté zeigenden Ausstellung Art et Liberté: Umbruch, Krieg und Surrealismus in Ägypten (1938 – 1948) des Kuratorenpaars Sam Bardaouil und Till Fellrath, schreibt Bardaouil im Aufsatz Die Gruppe Art et Liberté und die Neubestimmung des Surrealismus in Ägypten (1938-1948) in Anlehnung an Craig Clunas, dass wir den Anspruch, dass wir bezüglich des Surrealismus bereits alles wüssten, aufgeben müssen – »vorausgesetzt, dass wir überhaupt etwas lernen wollen.«16 An diese Überlegungen anschließend, weist die vorliegende Arbeit den Weg, dass wir unser Wissen, was ›moderne Kunst‹ ist, aufgeben müssen: Wie und vor allem wann und wo, was als ›moderne Kunst‹ geschaffen wurde, muss neu gedacht werden, um in der heutigen globalen Diskussion um Kunst eine Ebene zu erreichen, über ›moderne Kunst‹ zu sprechen.

16 Sam Bardaouil: »Die Gruppe Art et Liberté und die Neubestimmung des Surrealismus in Ägypten (1938-1948)«, in: Sam Bardaouil; Till Fellrath (Hg.), Art et Liberté: Umbruch, Krieg und Surrealismus in Ägypten (1938-1948), Mailand 2016. S. 16-53, S. 49. Die Ausstellung wurde als Wanderausstellung in den Jahren 2016-2018 im Centre Pompidou in Paris, im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf, in der Tate Liverpool und im Moderna Museet in Stockholm gezeigt.

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Anhang Glossar 1: Schriftzeichen der im Text in Hanyu Pinyin geschriebenen relevanten chinesischen Termini (alphabetisch, nach Hanyu Pinyin) bentu 本土 bentuhua 本土化 bentuxing 本土性 bentu yishi 本土意識 (siehe auch Glossar 2: ›Bewusstsein der eigenen Erde‹) chouxiang 抽象 chuncui huihua 純粹繪畫 dangdai 當代 | dangdaixing 當代性 dong 東 dongfang 東方 dongyang 東洋 dongyanghua 東洋畫 dongxi yishu 東西藝術 guo 國 guohua 國畫 (siehe auch Glossar 2) guohuajia 國畫家 guoyu 國語 hua 畫 huajia 畫家 huahua 畫畫 huihua 繪畫 (jap. kaiga) huihuashi 繪畫史  shuhua 書畫 mei 美 meigan 美感 meishu 美術 (jap.: bi-jutsu)

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»Moderne Kunst« in Taiwan

meishuguan 美術館 meishu jiaoyu 美術教育 meishushi 美術史 meixue 美學 meiyu 美育 minzu 民族 | minzuxing 民族性 (übersetzt als ›kulturell-nationaler Charakter‹) oumei 歐美 shijie 世界 shijiede 世界的 shijiexing 世界性 (übersetzt als ›kosmopolitischer Charakter‹) shijie yishu 世界藝術 shuhua 書畫 (jap.: shoga) xiandai 現代 xiandaihua 現代化 xiandaixing 現代性 xiandai yishu 現代藝術 xiandaizhuyi 現代主義 xiangtu 鄉土 xianshizhuyi 現實主義 (übersetzt als ›Realismus‹ bzw. als ›Zeigen der Realität‹) xie 寫 xiehua 寫畫 xiesheng 寫生 xieshi 寫實 xieshizhuyi 寫實主義 (übersetzt als ›Realismus‹, bzw. als ›Schreiben der Realität‹) xieyi 寫意 (übersetzt als ›Schreiben der Sinneshaltung‹) xi 西 xihua 西畫 xihuajia 西畫家 xifang 西方 xiyang 西洋 xiyang huihuashi 西洋繪畫史 xiyang yishujia 西洋藝術家 xiyanghua 西洋畫 xiyangren 西洋人 yi 意 yijing 意境 (übersetzt als ›künstlerische Sinneshaltung‹)  xieyi 寫意

Anhang

yi 藝 (jap.: gei 芸) yishu 藝術 (jap.: gei-jutsu 芸術) [shijue yishu 視覺藝術; zaoxing yishu 造型藝術] yishumei 藝術美 yishushi 藝術史 zhong 中 zhongguohua 中國畫 zhongxi huihua 中西繪畫 zhongxi meishushi 中西美術史

Glossar 2: Bewegungen und zeitgeschichtliche Begriffe ACT (kurz für: Art Critique in Taiwan)

藝術觀點 yishu guandian

an der Tainan National University of the Arts von Gong Jow-jiun herausgegebene Zeitschrift

Akademischer Modernismus

學院現代主義 xueyuan xiandaizhuyi

von Chen Chuan-xing geprägte Bezeichnung für Taiwans Modernismus der 80er Jahre

Ära des Kunstmuseums

美術館時代 meishuguan shidai

Bezeichnung für die 1980er Jahre in der Kunstgeschichtsschreibung Taiwans

Artist

藝術家 yishujia

seit 1975 monatlich erscheinende Kunstzeitschrift

Bewegung der modernen Malerei

現代繪畫運動 xiandai huihua yundong

Bewegung um Fifth Moon und Eastern Painting in den 1950er/60er Jahren

Bewegung der modernen Tuschemalerei

現代水墨運動 xiandai shuimo yundong

von Liu Kuo-sung maßgeblich initiierte Bewegung, in der Auseinandersetzung mit Xu Fuguan zu Beginn der 1960er entstanden

Bewegung des 4. Mai

五四運動 wusi yundong (auch kurz: 五四 wusi)

politische Bewegung Chinas in der frühen Republik China

Bewusstsein der eigenen Erde

本土意識 bentu yishi

Bewegung um das  Taiwan-Bewusstsein und die Kunst Taiwans in den beginnenden 1990er Jahren

Chinesische Renaissance

中國的文藝復興 zhongguo de wenyifuxing

von Hu Shih geprägte Bezeichnung für die Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts in China in Bezug auf Kunst und Kultur

Chinesische Kulturrenaissance

中華文化復興運動 zhonghua wenhua fuxing yundong

von Chiang Kai-shek 1966 initiierte Gegenbewegung zur festlandchinesischen Kulturrevolution

chinesische moderne 中國現代畫 zhongguo xiandaihua/ Malerei/moderne chine- 現代中國畫 xiandai zhongguohua sische Malerei

Debatte in den 50er/60er Jahren in Taiwans Kunstszene

Debatte um die Heimaterdeliteratur

鄉土文學論戰 xiangtu wenxue lunzhan

Debatte in den Jahren 1977-1979 in Taiwan

Debatte um die moderne Lyrik

現代詩論戰 xiandai shi lunzhan

Debatte in den frühen 70er Jahren in Taiwan

Debatte um die moderne Malerei

現代畫論戰 xiandai hua lunzhan

Debatte zwischen Xu Fuguan und Liu Kuo-sung in den frühen 1960er Jahren

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»Moderne Kunst« in Taiwan Debatte um die wahre guohua [chinesische Malerei/Malerei der Nation]

正統國畫論爭 zhengtong guohua lunzheng

Debatte in den frühen 1950er Jahren, die zwischen den aus Festlandchina kommenden Künstlern und den zur Zeit der japanischen Besatzung in Taiwan aktiven Künstlern

Democratic Progressive Party

民主進步黨 minzhu jinbu dang

taiwanische Partei, aus der Oppositionsbewegung zur Zeit des Kriegsrechts hervorgegangen, kurz: DPP

Eastern Painting Group

東方畫會 dongfang huahui

Künstlergruppierung moderner Künstler Taiwans (1957 gegründet)

Fifth Moon Painting Group

五月畫會 wuyue huahui

Künstlergruppierung um Liu Kuo-sung (1957 gegründet)

gebrochene Moderne (refracted modernity)

折射的現代性 zheshe de xiandaixing

von Gong Jow-jiun genutzter Begriff für Taiwans Moderne (von Yūko Kikuchi übernommen)

guohua

國畫 guohua

›chinesische‹/›nationale Malerei‹, moderne Bezeichnung für die klassische Tuschemalerei. In Taiwan auch zeitweise Bezeichnung für die  Klebfarbmalerei

Heimaterde-Bewegung

鄉土運動 xiangtu yundong

Bewegung in Kunst und Literatur in den 70er Jahren in Taiwan

Heimaterdeliteratur

鄉土文學 xiangtu wenxue

Literatur der  Heimaterde-Bewegung

Herholismus

拿來主義 nalaizhuyi

von Lu Xun geprägter Terminus

Hsiung Shih Art Monthly

雄獅美術月刊 xiongshi meishu yuekan

Kunstzeitschrift, von 1971-1996 monatlich erschienen

Imaginierter Modernismus

想像現代主義 xiangxiang xiandaizhuyi

von Chen Chuan-xing geprägte Bezeichnung für Taiwans Modernismus der 60er Jahre

Imperiale Ausstellung (Teiten)

帝展 teiten (jap.) (chin.: dizhan)

japanische staatliche Kunstausstellung

Journal of Taipei Fine Arts Museum

現代美術學報 xiandai meishu xuebao

seit 1983 halbjährlich erscheinende Zeitschrift

Klebfarbmalerei

膠彩畫 jiaocaihua

taiwanische Bezeichnung für den Malereistil der  Nihonga, um dessen entkolonisierte Bezeichnung während der  Debatte um die wahre guohua [chinesische Malerei/Malerei der Nation] heftig gestritten wurde. Bezeichnung wurde 1977 eingeführt.

Moderne Schule

現代派 xiandaipai

Bezeichnung für die modernen Künstler der 1950er/60er Jahre in Taiwan

Neue Generation

新生代 xin shengdai

Bezeichnung für die zeitgenössischen Künstler der 1990er Jahre

Neue Kunstbewegung

新美術運動 xin meishu yundong

Bewegung im japanisch besetzten Taiwan

Nihonga

日本画 nihonga (jap.) (chin.: ribenhua)

die wörtlich ›japanische Malerei‹, die im modernen Japan als Gegensatz zur yōga 洋画, der stilistisch ›westlichen Malerei‹ etabliert wurde. In Taiwan zunächst als ›östliche Malerei‹, später als  Klebfarbmalerei bezeichnet.

Anhang Östliche Malerei

東洋畫 dongyanghua

siehe  Nihonga

Provinzausstellung

省展 shengzhan (kurz für: 全省美展 quansheng meizhan)

Nachfolger der  Taizhan

Taiwan-Bewusstsein

台灣意識 Taiwan yishi

heftig debattierter Slogan in den beginnenden 1990er Jahren: Taiwans Kunst solle ein solches aufweisen, so die Forderung.

Taiwan-Kunst, Kunst Taiwans

台灣美術 Taiwan meishu

kann im Rahmen der Debatte um das  Taiwan-Bewusstsein als feststehender Terminus verstanden werden. Ni Tsai-chin suchte 1991/1992 nach dem ›Taiwan-Bewusstsein in der Kunst Taiwans‹.

Taiwan-Subjektivität Subjekt-Bewusstsein

台灣主題性 Taiwan zhutixing, 主體意識 zhuti yishi

im Rahmen der Debatte um das  TaiwanBewusstsein wurde nach einer subjektiven Identität Taiwans gesucht. Chen Chuan-xing setzt das  Taiwan-Bewusstsein mit der Suche nach einem taiwanischen SubjektBewusstsein gleich.

Taiyang-Ausstellung

台陽美展 taiyang meizhan

Ausstellung der  Taiyang-Kunstvereinigung

Taiyang-Kunstvereinigung

台陽美協 taiyang meixie

Künstlervereinigung des japanisch besetzten Taiwans

Taizhan (kurz für: Ausstellung der Kunst Taiwans)

台展 taizhan (Abkürzung für: 臺灣美 術展覽會 taiwan meishu zhanlanhui

staatliche Ausstellungsreihe im japanisch besetzten Taiwan (ab 1927), der japanischen  Imperialen Ausstellung ›Teiten‹ nachempfunden. Vorläufer der  Provinzausstellung

Unabhängige Kunstaus- 獨立美展 duli meizhan stellung

Ausstellung in Chongqing (China) von Künstlern wie Zao Wou-Ki initiiert

Verspätete Moderne

延遲現代性 yanchi xiandaixing (1) 遲到的現代性 chidao de xiandaixing (2)

Konzepte zur Beschreibung der Moderne Taiwans, von Chen Chuan-xing (1), bzw. Chen Fangming (2) geprägt

Wenxing

文星雜誌 wenxing zazhi

Kunst- und Literaturzeitschrift von 1957-1965

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»Moderne Kunst« in Taiwan

Personenregister (20. und 21. Jahrhundert Taiwan und China) Umschrift in Hanyu Pinyin ggf. in Klammern Cai Yuanpei 蔡元培/Cai Jiemin 蔡孑民 Chen Cheng-po [Chen Chengpo] 陳澄波 Chen Chieh-jen [Chen Jieren] 陳界仁 Chen Chuan-xing [Chen Chuanxing] 陳傳興 Chen Chun-Hao [Chen Junhao] 陳浚豪 Chen Dewang 陳德旺 Chen Fangming 陳芳明 Chen Kuan-Hsing [Chen Guangxing] 陳光興 Chen Laixing 陳來興 Chen Ruihua 陳瑞樺 Chen Yingzhen 陳映真 Chiang Hsun [Jiang Xun] 蔣勳 Chiang Po-shin [Jiang Boxin] 蔣伯欣 Cho Yeou Jui [Zhuo Yourui] 卓有瑞 Chou Pang-Ling [Zhou Bangling] 周邦玲 Chu Ge 楚戈 Chu Teh-chun [Zhu Dejun] 朱德群 Chuang Wei-Tzu [Zhuang Weici] 莊偉慈 Esther Lu [Lü Dairu] 呂岱如 Gao Minglu 高明潞 Gao Zhongli 高重黎 Gong Jow-jiun [Gong Zhuojun] 龔卓軍 Guo Bochuan 郭柏川 Ho Huai-Shuo [He Huaishuo] 何懷碩 Hong Ruilin 洪瑞麟 Hong Tong 洪通 Hsiao Chin [Xiao Qin] 蕭勤 Hsiao Chong-ray [Xiao Qiongrui] 蕭瓊瑞 Hsiao Mingxian [Xiao Mingxian] 蕭明賢 Hsieh Lifa [Xie Lifa] 謝里法 Hsieh Tung-Shan [Xie Dongshan] 謝東山 Hsieh, Tehching Sam [Xie Dejing] 謝德慶 Hsueh, Ava Pao-Shia [Xue Baoxia] 薛保瑕 Hu Shih [Hu Shi] 胡適 Huang Chien-hong [Huang Jianhong] 黃建宏 Huang Guangnan 黃光男 Huang Hai-ming [Huang Haiming] 黃海鳴 Huang Tu-Shui 黃土水

Hwang Jinn-Her [Huang Jinhe] 黃進河 Ji Xian 紀弦 Jiang Mingxian 江明賢 Ju Ming [Zhu Ming] 朱銘 Kang Youwei 康有為 Kuo Jen-Chang [Guo Zhenchang] 郭振昌 Lee Shih-chiao [Li Shiqiao] 李石樵 Li Mei-Shu [Li Meishu] 李梅樹 Li Yuan-chia [Li Yuanjia] 李元佳 Li Zaiqian 李再鈐 Li Zehou 李澤厚 Li Zhiming 李志銘 Li Zhongsheng 李仲生 Liao Hsin-tien [Liao Xintian] 廖新田 Lin Chi-ming [Lin Zhiming] 林志明 Lin Liyun 林麗雲 Lin Shou-yu/Richard Lin [Lin Shouyu] 林壽宇 Lin Xingyue 林惺嶽 Lin Yu-shan [Lin Yushan] 林玉山 Liu Haisu 劉海粟 Liu Kuo-sung [Liu Guosong] 劉國松 Lu Cheng-hui [Lü Zhenghui] 呂正惠 Lu Peiyi [Lü Peiyi] 呂佩怡 Lü Qingfu 呂青夫 Lu Xun 鲁迅 Lu, Victoria (Victoria Lu Hong) [Lu Rongzhi] 陸蓉之 Luo Qing 羅青 Mei Dean-E [Mei Dingyan] 梅丁衍 Mou Zongsan 牟宗三 Ni Tsai-chin [Ni Zaiqin] 倪再沁 Pan Chaosen 潘朝森 Qiu Yacai 邱亞才 Shiu, Margaret [Xiao Lihong] 蕭麗虹 Sing Song-Yong [Sun Songrong] 孫松榮 Su Ruiping 蘇瑞屏 Su Shufen 蘇淑芬 Tang Junyi 唐君毅 Tong, Grace Yang-Tze [Dong Yangzi] 董陽孜 Wang Hsiu-hsiung [Wang Xiuxiong] 王秀雄

Anhang Wang Molin 王墨林 Wang Pinhua 王品驊 Wang Yuezhi 王悅之 Wang, David Teh-yu [Wang Deyu] 王德育 Wu Chi-tsung [Wu Jicong] 吳季璁 Wu Hung [Wu Hong] 巫鴻 Wu Mali 吳瑪俐 Wu Tian-chang [Wu Tianzhang] 吳天章 Wu Yaozhong 吳耀忠 Xi Dejin 席德進 Xie Xiaode 謝孝德 Xu Beihong 徐悲鴻 Xu Fuguan 徐復觀 Xu Kuncheng 許坤成 Yang Maolin 楊茂林 Yao Jui-chung [Yao Ruizhong] 姚瑞中 Yen Shui-Long [Yan Shuilong] 顏水龍 Yu Guang-zhong [Yu Guangzhong] 余光中 Yu Peng [Yu Peng] 于彭 Yuan Shu 袁澍 Zao Wou-Ki [Zhao Wuji] 趙無極 Zhang Junmai (Carsun Chang) 張君勱 Zhang Wanchuan 張萬傳 Zhang Zhaotang 張照堂 Zheng Zaidong 鄭在東 Zhu Guangqian 朱光潛 Zhuang Zhe 莊喆

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Institutionenregister Academia Sinica (zhongyang yanjiuyuan) 中央研究院 Bywood Art Space (qiaotou baiwu) 橋頭白屋 Central Academy of Fine Arts Beijing (kurz: CAFA) (zhongyang meishu xueyuan) 中央美术学院 [früher: National Beiping Art School (guoli beiping yishu zhuanke xuexiao) 国立北平艺术专科 学校] Doktorprogramm Art Creation and Theory (yishu chuangzuo lilun yanjiusuo boshiban) 藝術創作理 論研究所博士班 Fu Jen Catholic University (furen daxue) 輔仁大學 Geschichtsmuseum (lishi bowuguan) 歷史博物館 ITPark (yitong gongyuan) 伊通公園 Kaohsiung Museum of Fine Arts (gaoxiong shili meishuguan) 高雄市立美術館 Museum of Contemporary Art Taipei (taibei dangdai yishuguan) 台北當代藝術館 National Cheng Kung University (guoli chenggong daxue) 國立成功大學 National Chengchi University (guoli zhengzhi daxue) 國立政治大學 National Institute of the Arts (guoli yishu xueyuan) 國立藝術學院 [heute: Taipei National University of the Arts (s.u.)] National Taiwan Museum of Fine Art (guoli taiwan meishuguan) 國立臺灣美術館 [früher: Kunstmuseum der Provinz Taiwan (taiwan shengli meishuguan) 臺灣省立美術館] National Taiwan Normal University (guoli Taiwan shifan daxue) 國立臺灣師範大學 National Taiwan University (guoli taiwan daxue) 國立台灣大學 National Tsing Hua University (guoli qinghua daxue) 國立清華大學 Nationale Kunsthalle (guoli yishuguan) 國立藝術館 Nationale Musikakademie (guoli yinyue yuan) 国立音乐院 [heute: Shanghai Conservatory of Music (shanghai yinyue xueyuan) 上海音乐学院] Peking-Universität (beijing daxue) 北京大學 Spring Gallery (chunzhi yilang) 春之藝廊/Spring Foundation (chunzhi wenhua jijinhui) 春之文化 基金會 Tainan National University of the Arts (guoli tainan yishu daxue) 國立台南藝術大學) Taipei Fine Arts Museum (kurz: TFAM) (Taibei shili meishuguan) 台北市立美術館 Taipei National University of the Arts (guoli taibei yishu daxue) 國立臺北藝術大學 [früher: National Institute of the Arts (s.o.)] Wistaria Tea House (ziteng lu 紫藤蘆)

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Abbildungen zu den in Kap. III.1 erwähnten Tuschemalereien (Stand 08.02.2017) sind zu finden unter: »Bild der vier Freuden« (sile tu 四樂圖): http://catalog.digitalarchives.tw/item/00/ 11/12/41.html »Bild eines Pferdetreibers« (muma tu 牧馬圖): http://vr.theatre.ntu.edu.tw/fineart/ painter-ch/hangan/hangan-02x.jpg »Bild eines Unsterblichen in gespritzter Tusche« (pomo xianren tu 潑墨仙人圖): https:// www.npm.gov.tw/dm/album/selection/c049.htm »Entlang des Flusses während des Qingming-Festes« (qingming shang he tu 清明上河 圖): https://zh.wikipedia.org/wiki/%E5%BC%A0%E6%8B%A9%E7%AB%AF »Glücksverheißende Kiefern in den Frühlingsbergen« (chunshan ruisong tu 春山瑞松圖): http://catalog.digitalarchives.tw/item/00/03/f b/40.html »Waldrebhühner und Spatzen im Jujubenbusch« (shanzhe ji que tu 山鷓棘雀圖): http:// vr.theatre.ntu.edu.tw/fineart/painter-ch/huangchutsai/huangchutsai-01-01x.jpg

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»Moderne Kunst« in Taiwan

Umschlagabbildung: Liu Kuo-sung, Wintry Mountains Covered with Snow (寒山雪霽), 1964, Tusche auf Papier, 85.4x55.8cm

Credit: Harvard Art Museums/Arthur M. Sackler Museum, The Chu-tsing Li Collection, Gif t of B U.K. Li in honor of Chu-tsing Li and in memory of Yao-wen Kwang Li and Teri Ho Li © Liu Kuo-sung Photo: © President and Fellows of Harvard College

Kunst- und Bildwissenschaft Elisa Ganivet

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Artur R. Boelderl, Monika Leisch-Kiesl (Hg.)

»Die Zukunft gehört den Phantomen« Kunst und Politik nach Derrida 2018, 430 S., kart., 21 SW-Abbildungen, 24 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4222-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4222-7

Chris Goldie, Darcy White (eds.)

Northern Light Landscape, Photography and Evocations of the North 2018, 174 p., hardcover, ill. 79,99 € (DE), 978-3-8376-3975-9 E-Book: 79,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3975-3

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Sigrid Adorf, Kathrin Heinz (Hg.)

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Barbara Oettl

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