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German Pages 600 [512] Year 2016
EDITION MARE BALTICUM Herausgegeben von der Böckler-Mare-Balticum-Stiftung Uwe Albrecht, Ulrike Nürnberger, Dietmar Popp, Gerhard Weilandt
Band 2
EDITION MARE BALTICUM
DIE AUSSTATTUNG DES DOBERANER MÜNSTERS Kunst im Kontext
Herausgegeben von Gerhard Weilandt und Kaja von Cossart
MICHAEL IMHOF VERLAG
Internationale wissenschaftliche Tagung Die Ausstattung des Doberaner Münsters – Kunst im Kontext, 25.–28. September 2014, in Kooperation mit den Doberaner Klostertagen. Veranstaltet von der Universität Greifswald, Caspar-David-Friedrich-Institut, Lehrstuhl für Kunstgeschichte; der Münsterverwaltung der Ev.-Lutherischen Kirchengemeinde Bad Doberan; der Stadt Bad Doberan; dem Landkreis Rostock, Untere Denkmalschutzbehörde; dem Verein der Förderer und Freunde des Klosters Doberan e.V. und dem Münsterbauverein Doberan e.V.
Gedruckt mit Unterstützung folgender Institutionen: Böckler-Mare-Balticum-Stiftung Fritz yssen Stiftung für Wissenschaftsförderung Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern Kirchengemeinde Bad Doberan
Einbandvorderseite: Doberan, Hochchorretabel Einbandrückseite: Doberan, Konversengestühl, Teufel und Konverse, Detail aus Abb. 67 Frontispiz: Doberan, Kreuzaltar, Christusseite, Verspottung Hiobs und Dornenkrönung Christi, Detail aus Abb. 28
© 2018 Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG Stettiner Straße 25 | 36100 Petersberg Tel.: 0661-2919166-0 | Fax: 0661-2919166-9 www.imhof-verlag.com | [email protected] Gestaltung und Reproduktion: Anna Wess, Michael Imhof Verlag Übersetzungen: Diane Winkler Druck: Gutenberg Beuys Feindruckerei GmbH, Langenhagen
ISBN 978-3-7319-0176-1 Printed in EU
INHALT
9
Grußwort der Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern
120
10
Geleitwort der Böckler-Mare-Balticum-Stiftung
152
11
Einleitung der Herausgeber
Die Nebenaltarretabel des Doberaner Münsters Stephan Kemperdick
Die Glasmalereien des Doberaner Münsters – Zu Geschichte, Rekonstruktion und Datierung des hochgotischen Scheibenbestandes Uwe Gast
ZISTERZIENSISCHE KONTEXTE MEMORIA UND TRADITION 16
Doberan – Die perfekte „Zisterzienserkathedrale“ Peter Kurmann
32
170
Das Doberaner Münster im Spiegel zisterziensischer Spiritualität
Die mittelalterliche Ausstattung des Doberaner Münsters und ihre Restaurierung im Spiegel der archivalischen Überlieferung Stefan Thiele
Jens Rüffer 184 50
Die mögliche Bedeutung der Typologie für die bildkünstlerische Ausstattung von Zisterzienserkirchen – Doberan und Neuzelle Ernst Badstübner
66
Doberaner Handschriften in der Bibliothek des Priesterseminars in Pelplin Mateusz Marszalkowski
190
Das Bild der Eucharistischen Mühle als Beispiel monastischer Apologetik – Die Doberaner Darstellung um 1415 und ihre Nachfolge
Die Mosaik-Grabplatten aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts für die Fürsten von Mecklenburg im Chor des Doberaner Münsters – Eine Bestandsaufnahme Christine Magin
Esther P. Wipfler 202 ÜBERGREIFENDE BILDKONZEPTE
Das Doberaner Oktogon – Grabmal zwischen dynastischem Anspruch und Heiliggrabzitat Dirk Schumann
86
Plan oder Zufall? – Gab es ein Gesamtkonzept für die mittelalterliche Ausstattung im Münster zu Doberan?
230
Gerhard Weilandt
Die nachreformatorische Ausstattung des Doberaner Münsters aus der Zeit Herzog Ulrichs zu Mecklenburg Carsten Neumann
106
Die Ausstattung des Doberaner Münsters und die Lübecker Werkstätten um 1300 Kaja von Cossart
244
Mit letzter Pracht – Das Grabmonument für Herzog Adolf Friedrich I. und seine Gemahlin Anna Maria von Ostfriesland Kilian Heck
254
Das Grabmal des Geheimen Rates und Hofmeisters Samuel Behr von Franz Julius Döteber und Daniel Werner im Doberaner Münster
348
Genese und Funktion des Doberaner Marienleuchters – Traditionsbewahrung und Multifunktionalität Vera Henkelmann
Detlef Witt Die spätmittelalterliche Ausstattung 266
Frühneuzeitliche Beschreibungen des Doberaner Münsters – Zur Herkunft mehrerer Peter Eddelin zugeschriebener Schriften des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts und ihrem Verhältnis zueinander Martin Heider
364
Die Gemälde des Kreuzaltarretabels des Doberaner Münsters Ulrike Nürnberger
380
Überlegungen zu Werkstatt und Datierung des Doberaner Sakramentshauses Peter Knüvener
400
Der Doberaner Sakramentsturm und die Sakramentsnischen und -häuschen im südlichen Ostseeraum Justin E. A. Kroesen
416
Doberan als Anspruchsniveau – Die regionale Rezeption der Klosterausstattung Anja Seliger
426
Die astronomische Großuhr in Doberan – Zum Bildprogramm des Uhrenblattes Julia Trinkert
438
Altarausstattung der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im Doberaner Münster Anja Rasche
FALLSTUDIEN UND EXEMPLARISCHE BEFUNDE Die Ausstattung bis 1350 276
Der Türzieher aus dem Vorgängerbau des Doberaner Münsters – Ein Beitrag zum Bronzeguss des 13. Jahrhunderts in Niedersachsen Ursula Mende
286
Die mittelalterlichen Glocken des Doberaner Münsters Claus Peter
298
Restauratorische Befunde zur mittelalterlichen Raumfassung – Das Südquerhaus des Doberaner Münsters Boris Frohberg
310
Makroarchitektur und Mikroarchitektur – Aspekte von Formfindung und Funktion am Doberaner Hochaltarretabel Juliane von Fircks
ANHANG 448
Aktuelle dendrochronologische Untersuchungen zur Ausstattung des Doberaner Münsters Tilo Schöfbeck
326
336
Unterzeichnung und Bildgenese der Malereien der mittelalterlichen Retabel im Doberaner Münster Jochen Sander, Alexandra König und Katharina Grießhaber Das Grab der Königin Margarete Sambiria im Doberaner Münster Ebbe Nyborg
452
Peter Eddelin, Was denckwürdiges zu Dobran, 1664 hg. v. Gerhard Weilandt
486
Quellen und Literatur
512
Abbildungsnachweis
Linke Seite: Abb. Doberan, Triumphkreuz nach Osten, Maria mit Kind, Detail aus Abb. 22
GRUSSWORT DER MINISTERIN FÜR BILDUNG, WISSENSCHAFT UND KULTUR MECKLENBURG-VORPOMMERN
Wer das Münster in Bad Doberan betritt, den versetzt das Bauwerk sofort in andächtiges Staunen: Ob Kenner oder Nicht-Kenner – jeder spürt sofort, dass er hier in etwas Großem steht, und das nicht wegen des reinen Volumens dieser Kirche. Das Münster ist ein echter Schatz. Kunst und Geschichte, Klerus und Adel, all dem lässt sich hier nachspüren. Und wer sich durch den Raum bewegt und so die Perspektive wechselt, entdeckt immer wieder Neues. Ähnlich erging es dem späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss, als er 1920 als Journalist nach Bad Doberan reiste. Er schrieb über das Münster: „Ein turmloser Cisterzienserbau, in seiner Außenwirkung, im Kapellenkranz und hochgetriebenen Querschiff aufs Klarste durchgebildet. […] Diese Kirche ist reich an Anekdoten, an Inschriften und altem Gestühl, vor allem aber hat sie zwei Altäre und ein steiles Sakramentshäuschen, deren Gold wunderbar heiter durch den Raum leuchtet.“ Es ist vor allem diese Ausstattung im Inneren der Kirche, die Wissenschaftler, Kunstfreunde und Touristen zu genau diesem Punkt auf der Europäischen Route der Backsteingotik lockt. Gestaltungswille und -können des Mittelalters sind in einer solchen Fülle zu sehen und zu erleben wie in keiner anderen Kirche im Norden Deutschlands. Den „Tag des offenen Denkmals 2017“ für Mecklenburg-Vorpommern hier zu eröffnen, war für mich ein besonderer Moment, weil das Münster den Geist dieses Tages mit beinahe jeder Fuge verkörpert: Es ist begehbare Geschichte. Es überrascht deshalb nicht, dass der Tagungsband zum internationalen Symposium „Die Ausstattung des Doberaner
Münsters – Kunst im Kontext“ ebenso monumental daherkommt wie das Bauwerk, um das es geht. Knapp 30 wissenschaftliche Beiträge sind es, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Schweiz, den Niederlanden, Dänemark, Polen, aus Deutschland und natürlich aus Mecklenburg-Vorpommern das Münster insgesamt und sein Inventar betrachten und würdigen. Dieser Band ist wie ein kenntnisreich geführter Rundgang, der den Blicks aufs Detail lenkt: sei es bei den Grabmonumenten, dem Scheibenbestand des Münsters, den Skulpturen des Doberaner Hochaltarretabels, der astronomischen Großuhr, den mittelalterlichen Glocken und vielem mehr. Mit seinen Schwerpunktkapiteln spiegelt er nicht nur den Verlauf des Symposiums wider, sondern bildet zudem ein Stück Kulturhistorie unseres Landes ab. Mein Dank gilt den Herausgebern, Professor Dr. Gerhard Weilandt und Dr. Kaja von Cossart sowie allen Autorinnen und Autoren. Der Böckler-Mare-Balticum-Stiftung und der Fritz Thyssen Stiftung danke ich für die großzügige Förderung. Ich wünsche allen Interessierten eine entdeckungsreiche Lektüre, die Lust macht auf einen (erneuten) Besuch in Bad Doberan.
Birgit Hesse Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern
Linke Seite: Abb. Kreuzaltarretabel nach Westen, Sündenfall, Detail aus Abb. 28
Grußwort der Ministerin für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern | 9
GELEITWORT DER BöCKLER-MARE-BALTICUM-STIFTUNG
In der von der Böckler-Mare-Balticum-Stiftung herausgegebenen Edition Mare Balticum erscheinen in lockerer Folge Studien zu Themen der Kunst- und Kulturgeschichte aus dem geographischen Bereich des Ostseeraums mit dem Schwerpunkt Baltikum. Im Fokus steht die Veröffentlichung der Tagungsakten der „Homburger Gespräche“, die die Stiftung jährlich an wechselnden Orten in Kooperation mit nationalen und internationalen Partnern veranstaltet. Hin und wieder werden in diese Reihe individuelle Studien aufgenommen, etwa Arbeiten zu einzelnen Künstlern oder zu ausgewählten Objekten, aber auch Beiträge zu komplexen kunst- und kulturhistorischen Fragestellungen, deren wissenschaftliche Ausrichtung im Einklang mit den satzungsgemäßen Zielen der Böckler-Mare Balticum-Stiftung stehen: „Förderung von Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der künstlerischen Kultur des Ostseeraums, insbesondere der baltischen Länder, sowie ihrer europäischen und außereuropäischen Zusammenhänge“. Die Reihe dient der Publikation neuer Forschungsergebnisse in angemessener editorischer Aufmachung und beabsichtigt, diesen noch wenig erschlossenen kulturellen Großraum einem breiten Publikum nahe zu bringen. Der hiermit vorgelegte zweite Band der Edition Mare Balticum, der unmittelbar der Veröffentlichung zum Hamburger Maler gen. Meister Francke (Meister Francke Revisited. Auf den Spuren eines Hamburger Malers, Petersberg 2017) folgt,
10 | Geleitwort der Böckler-Mare-Balticum-Stiftung
konzentriert sich auf die Zisterzienserklosterkirche in Doberan und deren Ausstattung. Allzu lange lag zu diesem Thema keine umfassende Studie vor. Umso erfreulicher ist es, dass die Beiträge der von Gerhard Weilandt und Dirk Schumann in Zusammenarbeit mit der Kirchengemeinde Bad Doberan im März 2015 veranstalteten Tagung nun in einem umfangreichen, von Kaja von Cossart redaktionell betreuten Ergebnisband zusammengestellt werden konnten. Erstmals gibt diese auf den jüngsten Forschungen basierende Publikation eine vielseitige Umschau über eines der bedeutendsten Monumente des Mittelalters am südlichen Rand der Ostsee, die als „offene Region“ für den internationalen Kunst- und Kulturtransfer bis in die Gegenwart von großer Bedeutung ist. Die Lage des Zisterzienserklosters Doberan in Küstennähe und seine geographische Nachbarschaft zu den Hansestädten Rostock und Wismar sind neben der herausragenden kunsthistorischen Bedeutung des Ensembles weitere Gründe, diesen Tagungsband in die Edition Mare Balticum aufzunehmen.
Uwe Albrecht, Ulrike Nürnberger und Dietmar Popp Bad Homburg v.d. Höhe im November 2017
EINLEITUNG DER HERAUSGEBER
Die Kunst der Zisterzienser ist einer der am intensivsten erforschten Themenbereiche des Mittelalters. Dabei stand vor allem die Architektur dieses erstaunlichen Ordens im Fokus, der binnen kurzem hunderte von Niederlassungen in ganz Europa gründete. Die Ausstattung der Kirchen – oder anders ausgedrückt: die Bildkunst der Zisterzienser – trat demgegenüber in den Hintergrund. Die tieferen Gründe sind in der problematischen Überlieferung zu suchen. Es gibt zwar hie und da einzelne Objekte, die aus Zisterzienserkirchen stammen, aber so gut wie keine geschlossenen Ensembles, die eine Vorstellung von der Gesamtwirkung einer Zisterzienserkirche zur Blütezeit des Ordens vermitteln könnten. In Frankreich, dem Gründungsland des Ordens, haben die Religionskriege und später die Französische Revolution zahlreiche Klöster mitsamt deren Kirchen, insbesondere aber die Ausstattung, vernichtet. In England hat bereits im 16. Jahrhundert die Auflösung der Klöster zu ihrer flächendeckenden Zerstörung geführt, es blieben meist nur Ruinen. Das prägte notgedrungen die Vorstellung der Forschung von der Zisterzienserkunst. Hinzu kam, dass eine leere Kirche ohne nennenswerte Ausstattung nur allzu gut dem Klischee eines asketischen Mönchsordens entsprach, dessen Mitglieder sich auf den Äckern in Handarbeit abmühten und ansonsten in kahlen Räumen beteten. Doch diese Vorstellung ist irrig. Die Ordensbauten waren durchaus reich geschmückt. Allerdings ist die Klosterkirche Doberan tatsächlich die einzige hochgotische Zisterzienserkirche, die diese historische Ausstattung bis heute weitgehend bewahrt hat. In ihrer goldglänzenden Pracht entsprach sie nicht der Vorstellung von mönchischer Askese. Dies führte paradoxerweise dazu, dass ihr in den älteren Gesamtdarstellungen zur Kunst der Zisterzienser nicht der herausragende Platz eingeräumt wurde, der ihr gebührt. Hinzu kommt, dass wir uns heute mit Superlativen schwertun. Etwas als außergewöhnlich, ja singulär zu bezeichnen, ist in der prahlerischen und werblichen Sprechweise unseres Alltags derart üblich geworden, dass die Skepsis groß ist, wenn von der Einzigartigkeit der Doberaner Ausstattung die Rede ist. Doch ist sie tatsächlich ohne Vergleich. Der Mönchschor verfügt mit Hochaltarretabel, Sakramentsturm, Chorgestühl und Levitenstuhl, Kelch- und Kredenzschrank bis heute über seine wichtigsten Funktionselemente, ebenso
der Konversenchor mit doppelseitigem Kreuzaltarretabel und Triumphkreuz sowie dem Chorgestühl der Konversen. Zahlreiche Nebenretabel sind ebenso erhalten wie das Zifferblatt der mittelalterlichen astronomischen Uhr, ein aufwändig geschnitzter Marienleuchter und Teile der bauzeitlichen Verglasung. Die neben den liturgischen Anforderungen zweite zentrale Funktion einer Kirche als Begräbnisstätte ranghoher Persönlichkeiten ist durch das Grabmal der Königin Margarete von Dänemark und zahlreiche weitere Dynastengrabmäler dokumentiert. Das gibt es in dieser Vollständigkeit nirgendwo sonst. Nur vielen glücklichen Zufällen verdankt das Doberaner Münster seine Erhaltung. Im Jahr 1171 holte der Slawenfürst Pribislaw Zisterziensermönche aus Amelungsborn herbei, um ein Kloster im nahe gelegenen Althof zu errichten. Es wurde schon wenige Jahre später von den Slawen zerstört, dann aber 1186 wiedergegründet, nun an dem Ort, wo noch heute das Münster steht. Pribislaw war in Lüneburg gestorben und zunächst auch dort bestattet, doch im frühen 13. Jahrhundert überführte man ihn nach Doberan. Damit wurde eine Grablege des mecklenburgischen Fürstengeschlechts etabliert, die im Laufe der Jahrhunderte zur bevorzugten Grabstätte der Herzöge von Mecklenburg, zu ihrem wichtigsten Gedächtnisort wurde. Das war zunächst einmal ein eher widerwilliges Zugeständnis der Doberaner Mönche, die den Gründern einer Abtei die Bestattung in der Klosterkirche nicht verweigern konnten. Im Laufe der Jahrhunderte erwies sich diese Grablege aber als ein Glücksfall für den Erhalt des Doberaner Münsters: Nur das beherzte Eingreifen Herzog Ulrichs konnte im mittleren 16. Jahrhundert verhindern, dass die von der Zerstörung bedrohte Kirche des aufgelösten Klosters abgerissen wurde. In der Folgezeit wurde sie als Denkmal der Mecklenburgischen Herzöge erhalten und weiterhin als Grablege genutzt. Diese Einschätzung als erhaltenswertes Monument mecklenburgischer Größe betraf auch die Ausstattung, die deshalb gleichfalls als erhaltenswert eingestuft wurde. Ist die herzogliche Grablege einerseits der wichtigste Grund für den Erhalt der Kirche als Ganzes, so brachte sie doch auch Veränderungen im Einzelnen mit sich. Zunächst ruhten die unmittelbaren Nachfolger des Klostergründers in einer Kapelle am nördlichen Querschiff der Kirche, doch bald genügte
Einleitung der Herausgeber | 11
ihnen dieser Seitenraum nicht mehr: Heinrich der Löwe von Mecklenburg ließ sich 1329 vor dem Hochaltar bestatten, weitere Bestattungen folgten dort, um 1400 kam eine Gruft unter dem sog. Oktogon hinter dem Hochaltar hinzu, auch die mittlere der Chorkapellen wurde später als Grabstätte genutzt. Immer weiter also breiteten sich die verstorbenen herzoglichen Klosterherren in ihrer Kirche aus. Der bereits erwähnte Herzog Ulrich von Mecklenburg ließ Porträts von sich, seiner Familie und seinen Vorfahren anbringen, außerdem lobende Inschriftentafeln für verstorbene Ahnen, um das Doberaner Münster ganz als Ruhmeshalle seines Geschlechts zu reklamieren. Später entstanden aufwändige Renaissance- und Frühbarockdenkmäler. Das blieb nicht ohne Folgen für die räumliche Disposition der Kirche: Mittelalterliche Altäre wurden abgebrochen und verlegt, vermeintlich Störendes wurde an den Rand gestellt – wenn auch glücklicherweise nur selten gänzlich zerstört. Dies alles geschah, um Platz zu schaffen für die Grab- und Ruhmesstätten der Herzöge. Es ist durch diese Umbauten Einiges durcheinandergeraten in der Doberaner Ausstattung. Am meisten hat das 19. Jahrhundert bei zwei umfassenden Restaurierungskampagnen in der Kirche verändert: Das Chorgestühl wurde ergänzt, eine neue Kanzel und ein Stuhl für den Herzog wurden neu geschaffen. Der 1837 verstorbene Herzog Friedrich Franz I. wurde 1843 direkt vor dem Hochaltar in einem massiven Granitsarkophag bestattet, ein radikaler Eingriff in die räumliche Struktur der Kirche. Manche dieser Veränderungen konnten durch die Restaurierungen der 1970er und 1980er Jahre rückgängig gemacht werden – auch die Versetzung des Triumphkreuzes an die Westwand der Kirche, wo es direkt der zerstörerischen Sonneneinstrahlung ausgesetzt war. Doch bleiben massive Eingriffe in die Originalsubstanz der Objekte, die irreversibel sind. So etwa die vollständige Neufassung des Hochaltarretabels, des Sakramentsturms, der Christusseite des Triumphkreuzes und des Kreuzaltarretabels. Auch die Beseitigung der Chorschranken, die in Form massiver Mauern den Hochchor umgaben und so das Allerheiligste vom Chorumgang auch optisch abtrennten, war ein schwerer Eingriff des 19. Jahrhunderts in die originale Substanz. Die Ausstattung des Doberaner Münsters ist also keinesfalls völlig unberührt aus dem Mittelalter überkommen. Doch sie bietet für den Forscher die einmalige Gelegenheit, die originale Struktur der Ausstattung
12 | Einleitung der Herausgeber
und ihre nachmittelalterlichen Veränderungen und Ergänzungen zu studieren und rekonstruierend zu erforschen. Dieses Ziel verfolgte die Tagung, die im Jahr 2014 stattfand und den Ausgangspunkt für diese Publikation bildet. Sie war die erste überhaupt, die sich monografisch mit der Klosterkirche beschäftigte. Zusammen mit Dirk Schumann haben wir das Konzept erarbeitet und die Tagung durchgeführt. Dieser hat mit einem gewichtigen Beitrag über das Doberaner Oktogon zum Tagungsband beigetragen, der, von geologischen Materialanalysen ausgehend, das Bauwerk in einen umfassenden Kontext einzubinden versucht. Die vorliegende Publikation ergänzt die Beiträge der Tagung durch weitere Aufsätze von Fachkollegen, die das Thema abrunden. Dennoch können natürlich nicht alle einschlägigen Problemfelder angesprochen werden, dazu ist das Thema zu komplex. Wir haben vier Sektionen gebildet, die sich schwerpunktmäßig mit einigen aus unserer Sicht zentralen Forschungsfragen beschäftigen. Die erste Sektion ordnet die Doberaner Klosterkirche in „Zisterziensische Kontexte“ ein, in die Gedankenwelt und die religiösen und ästhetischen Vorstellungen und Vorschriften des Ordens. In der zweiten Sektion geht es um „Übergreifende Bildkonzepte“, womit der Tatsache Rechnung getragen wird, dass es sich um eine höchst komplexe Ausstattung handelt – historisch gewachsen, doch keinesfalls ohne Plan, der sich in abgestimmten Bildprogrammen und Ausstattungskampagnen realisierte. Natürlich ist „Memoria und Repräsentation“ ein zentrales Thema. Hier wird den Wegen der Überlieferung nachgespürt, der nachmittelalterlichen Ausstattung und den Restaurierungen ebenso wie der literarischen Tradition und den mittelalterlichen Memorialdenkmälern. Letztere sind vergleichsweise knapp vertreten, da die unlängst publizierte geschichtswissenschaftliche Dissertation von Ilka Minneker (2007) dieses Thema monografisch behandelt hat. Doch können mit den Beiträgen aus Bauforschung und Epigraphik wesentliche neue Forschungsergebnisse vorgestellt werden. „Fallstudien und exemplarische Befunde“ tragen der Tatsache Rechnung, dass das Doberaner Münster zahlreiche herausragende Kunstwerke enthält, die monographische Behandlung nicht nur ermöglichen, sondern geradezu erfordern. Im „Anhang“ werden neue dendrochronologische Untersuchungen und die älteste und bedeutendste historische Beschreibung des Doberaner Münsters erstmals publiziert.
Die Referenten und einige Tagungsteilnehmer vor dem Kreuzaltar im Doberaner Münster
Die Durchführung der Fachtagung und die Drucklegung dieses Bandes wären ohne die intensive Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Unser herzlicher Dank gilt der der Böckler-Mare-Balticum Stiftung, welche den Band nicht nur finanziell gefördert, sondern auch in ihre Publikationsreihe „Edition Mare Balticum“ aufgenommen hat, außerdem der Fritz Thyssen Stiftung und dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Für die organisatorischen und finanziellen Beihilfen sowie die außergewöhnliche Möglichkeit, die Tagung zum Teil im Doberaner Münster durchführen zu dürfen, danken wir der Kirchengemeinde Doberan mit den Mitarbeitern der Münsterverwaltung, dem Verein der Freunde und Förderer des Klosters Doberan e.V., der Stadt Bad Doberan, insbesondere
Bürgermeister Thorsten Semrau, sowie den Mitgliedern des Münsterbauvereins Bad Doberan e.V. Anna Wess vom Michael Imhof Verlag hat das Buchprojekt sehr kompetent und mit geduldiger Nachsicht betreut. Unser herzlicher Dank gilt auch Sabine Schulze, Ellen Stage, Dr. Jost Ebert, Gunter Heilemann, Volker Hoffmann, Günter Rein und Dr. KarlReinhard Titzck. Besonders dankbar sind wir Martin und Konstanze Heider für ihre Großzügigkeit und ihr unermüdliches Engagement in jeglicher Hinsicht.
Gerhard Weilandt Kaja von Cossart
Einleitung der Herausgeber | 13
ZISTERZIENSISCHE KONTExTE
DOBERAN – DIE PERFEKTE „ZISTERZIENSERKATHEDRALE“ Peter KUrMANN
Das Kompositum „Zisterzienserkathedrale“ ist ein Widerspruch in sich1. Hält man sich an die kirchenrechtliche Begrifflichkeit, so haben die Zisterzienser Ordenskirchen und keine Kathedralen gebaut, es sei denn, ein dem Orden angehöriger Bischof war verantwortlich für den Bau eines Gotteshauses, das im kanonischen Sinne die Funktionen einer Kathedrale, d. h. der Mutter- und Hauptkirche einer Diözese innehatte. Die Kunstgeschichte hingegen verwendet den Begriff „Kathedrale“ sehr häufig im formengeschichtlichen Sinn und versteht darunter einen Bautypus, der im Zeichen der gotischen Architektur Frankreichs im 12. und 13. Jahrhundert seine vielschichtigste und reichste Ausprägung erfahren hat. Es handelt sich um eine besonders aufwendig gestaltete Form der Basilika. Ihr auffälligstes Kennzeichen ist der runde oder polygonale Chorschluss, der, meistens von einem Chorumgang umgeben, sich häufig zu einem Kranz von Kapellen öffnet. Der Aufriss des Mittelschiffs ist mehrgeschossig: Zwischen den großen Arkaden im Erdgeschoss und den Fenstern im Licht- oder Obergaden verläuft im 12. Jahrhundert oft eine Empore, die im 13. Jahrhundert durch das sogenannte Triforium, einen relativ niedrigen Laufgang ersetzt wird. Hinzu kommen in den meisten Fällen ein Querhaus und eine imposante Doppelturmfassade im Westen. Am Äußeren weist eine solche Kathedrale in der Regel ein offenes Strebewerk auf, mit anderen Worten eine Reihe schräg ansteigender Bögen, die auf den Strebepfeilern an der Umfassungsmauer der Seitenschiffe fußend sich mit den Wandteilen zwischen den Obergadenfenstern verbinden und so dem Seitenschub der Hochschiffwände und dem Druck der Gewölbe Widerstand leisten. Trotz vieler individueller Eigenheiten und namhafter Unterschiede zeigen die
Linke Seite: Abb. 1. Mittelschiff nach Westen
Kathedralen von Chartres, Reims und Amiens, die größtenteils in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erbaut wurden, in geradezu idealtypischer Ausformung die genannten Merkmale (Abb. 2, 3). Der Wesenszug des Normativen, der diesen drei „klassischen“ Kathedralen innewohnt, war für die Architektur der Gotik in Gesamteuropa prägend2. Dank ihrer „äquilibrierten Mustergültigkeit“3 erwiesen sie sich in vielen Fällen als ein nachzuahmendes Erfolgsmodell, wenn es darum ging, eine Großkirche von höchstem Anspruch zu errichten. Sämtliche Teile dieser Bauwerke wurden künstlerisch überhöht (Abb. 2, 3). Das gilt selbst für den Chor außen, dessen Strebewerk etwa in Le Mans durch zahlreiche ineinandergreifende Bögen prachtvoll zur Schau gestellt wird4. Anderswo wird es optisch überspielt. So werden in Reims die Strebebögen von riesigen, in Baldachinen stehen-
Abb. 2. Amiens, Kathedrale, Mittelschiff nach Osten
Abb. 3. Reims, Kathedrale, Chor von Osten
Abb. 4. Chor von Osten
den Engelsfiguren umsäumt5 oder am Chor von Amiens von einer durchsichtigen Arkatur bekrönt, die wie die Bespannung einer Harfe wirkt6. So entfaltet sich an Stellen, wo einfache, massive Bögen ausgereicht hätten, ein unerhörter architektonischer Luxus. Genau das Gegenteil von „Luxus“, nämlich „Zurückhaltung“, „Bescheidenheit“ „Reduktion auf das Wesentliche“ evoziert die landläufige Vorstellung der Zisterzienser. Ein Vergleich zwischen den Chören der Kathedrale von Amiens und der Abteikirche von Doberan (Abb. 4) vermag das zu verdeutlichen: Während an der Kathedrale der Kapellenkranz mit seinen mehrfach abgestuften Wasserschlägen wie der Sockel eines zerklüfteten, aber dennoch wohlgeordneten Gebirges wirkt, das in zahlreichen Fialen und Wimpergen gipfelt, erscheinen an der Zisterzienserkirche die polygonalen Chorteile als eine in sich gefestigte, klar und übersichtlich gestaltete Baumasse, in der sich die Vertikalen und Horizontalen einander die Waage halten. Wir empfinden in Doberan die Absenz eines offenen Strebewerks nicht als Verlust, erleichtert sie doch die „Lesbarkeit“ dieses wie aus geschliffenen Kristallen zusammengesetzten Gebildes. Aber ist diese von höchstem künstlerischen Können zeugende architektonische Komposition lediglich die Folge des zisterziensischen Gebots der Einfachheit? Dieses beruhte kaum auf textlichen Grundlagen, denn die Zisterzienser haben sich stets davor gehütet, konkrete Bauvorschriften zu kodifizieren7. Obwohl es also keine konkreten schriftlichen Anweisungen gab, wie zu bauen sei, hat der Zisterzienserorden die ideologischen Grundlagen für ein künstlerisches Verhalten vorgegeben, das sich theoretisch und in der Frühzeit der Ordengeschichte auch realiter äußerste Zurückhaltung auferlegte. Immer wieder wird im Bereich des Zisterzienserordens darauf hingewiesen, dass alles, was auf superbia (letztlich eine moralische Kategorie) hindeute und als superfluitas empfunden werden konnte, zu vermeiden sei. Mit anderen Worten wurden allgemein unbotmäßige Prachtentfaltung und überflüssiges Beiwerk ins Visier genommen. Das Verbot von Luxus und Überflüssigem betraf das liturgische Gerät und die Ausstattung der Kirchen, aber keine konkreten architektonischen Formen oder Bautypen. Letztere zu nennen wäre auch gar nicht möglich gewesen, denn dafür fehlte im Mittelalter weitgehend die Begrifflichkeit. Die Beschlüsse der Generalkapitel der Zisterzienser präzisierten im Laufe der Zeit die Verbote, die sie hinsichtlich der Ausstattung und Ausschmückung ihrer Kirchen erließen. Das betraf aber wieder nicht die Architektur. Grundsätzlich
20 | Peter Kurmann
werden Skulpturen und Gemälde aus den Klöstern verbannt. Solche Dinge würden den Mönch von der Meditation ablenken und die Strenge des monastischen Ernstes beeinträchtigen. Ein Erlass aus dem Jahr 1157 betrifft ausnahmsweise die Baukunst: Steinerne Glockentürme sind von da an ausdrücklich verboten. Vom generellen Turmverbot abgesehen, prangern die Beschlüsse der Generalkapitel in architektonischer Hinsicht nur Einzelfälle an. Dass davon in erster Linie nordfranzösische Klöster betroffen waren, ist kein Zufall, denn diese befanden sich im Ursprungsgebiet der Gotik und waren deshalb in baukünstlerischer Hinsicht dem besonders starken Konkurrenzdruck ausgesetzt, der vom großartigen „neuen Bauen“ der Gotik ausging, das seit der Mitte des 12. Jahrhunderts der Weltklerus und die Benediktiner in diesem Raum auf ihre Fahne geschrieben hatten. So musste 1217 in Boheries an der Oise der gegen die forma und instituta des Ordens gebaute Glockenturm wieder abgerissen werden. Von dem 1190 begonnenen Chorbau von Vaucelles heisst es: Sumptuosum nimis est et superfluum, et multos scandalizavit. („Er ist allzu prächtig und überflüssig [womit wohl nicht nur seine übertriebene Größe gemeint ist, sondern auch die zahlreichen Seitenkapellen und Anbauten angesprochen werden], so dass viele daran Anstoß nahmen“)8. In der Tat erweist sich allein schon der höchst komplizierte Grundriss als ein hypertrophes Gebilde. Die einzigen detaillierten Aussagen über Architektur stammen von Stephen of Lexington aus den Jahren 1231/33, zu dieser Zeit Abt im normannischen Kloster Savigny9. Er fordert die Entfernung der nodi (Knollen, damit sind wohl frühgotische Knospenkapitelle gemeint) und der cornua (Hörner, womit er die typisch zisterziensischen Hornkonsolen anspricht), und er kritisiert auch die Vielzahl der Säulen in den Kreuzgängen, was wohl generell auf die Form des Bündelpfeilers zielt. Wie aber die real existierende Zisterzienserarchitektur zeigt, muss Stephen mit seiner Meinung ziemlich allein gewesen sein, denn gerade die häufig vorkommenden Hornkonsolen scheinen eine Art Identifikationssymbol für den Orden gewesen zu sein. Überhaupt stellen die Bemerkungen des Stephen of Lexington in Sachen Baudekor eine absolute Ausnahme dar. 1237 bahnt sich auch eine gewisse Aufweichung der Vorschriften in Bezug auf die Türme an: solche aus Holz und von mäßiger Höhe – mit anderen Worten Dachreiter – sind jetzt erlaubt, weil sie die simplicitas des Ordens nicht verletzen. Auch die Existenz von Skulpturen und Bildern wird nicht mehr in Frage gestellt, sofern sie von superfluitates und curiositates nobiles frei sind, was auch von Bauten und Fußböden zu gelten hat. Es muss also die gesamte künstlerische Ausstattung
Abb. 5. Hauterive, Abteikirche, isometrische Darstellung des Bauzustandes um 1200
der Klöster genauso wie deren architektonischer Rahmen so beschaffen sein, dass die alte honestas – sprich die ehrenvolle Tradition des Ordens – nicht verletzt und seine paupertas – das Armutsideal – gewahrt wird. Von den theologischen Traktaten wurde die berühmte Apologia ad Guillelmum Abbatem Bernhards von Clairvaux von 1124/25 immer wieder als Beweis für dessen kritische Haltung gegenüber aufwendigen Kirchenbauten herangezogen10. Dabei beanstandet Bernhard nur die „grenzenlose Höhe der Bethäuser, ihre übermäßige Länge und unnötige Breite, ihre kostspieligen Marmorarbeiten und die Staunen erregenden Malereien. All das sind, wie die Forschung längst erkannt hat, Topoi der antiken und mittelalterlichen Kritik am baulichen Luxus. Wichtiger ist für Bernhard die theologische Wertung der aus Steinen errichteten ecclesia: Sie ist ein lebloses Abbild der lebendigen ecclesia, die aus der Gemeinschaft der Gläubigen besteht. Das steinerne oratorium erhält seine Weihe und letztlich seine Existenzberechtigung nur dadurch, dass darin die Mönche beten und Gott verehren. Deshalb soll es so beschaffen sein, dass es den Mönch nicht zur Schaulust verleitet, die ihn leicht zum Laster der superbia verführen kann. In Sachen Bauwesen begnügten sich die Ordensoberen auffallend häufig mit der Ermahnung, auf alles „Überflüssige“ zu verzichten. Man kann daraus nicht schließen, dass der Orden die Architektur seiner Kirchen grundsätzlich als sichtbaren Ausdruck eines wie auch immer begründeten „Einfachheitsgebots“ betrachtete, dem er sich unentwegt verschrieben hätte. So erweckt denn auch der reich gestaltete Chor von Doberan mit seinem sich in vielen komplizierten Brechungen abwickelnden Umgang wohl kaum die Vorstellung von „Armut“. Den Einwand, es handle sich bei diesem Bauwerk um einen Spätling aus einer Zeit, in der die Or-
densdisziplin bereits stark gelockert gewesen sei, kann man nicht gelten lassen, denn komplizierte Chorlösungen wurden von den Zisterziensern, wenn auch in anderer, aber ebenso aufwendiger Form bereits im 12. und frühen 13. Jahrhundert errichtet. In der Literatur zur Zisterzienserbaukunst wurde der Polygonalchor mit Chorumgang häufig als „kathedralhaftes“ und damit letztlich als ordensfremdes Element betrachtet. Es handelt sich dabei tatsächlich um eine vom Orden verhältnismäßig selten gewählte Sonderform11. Unter den von Frère Dimier europaweit zusammengestellten 696 Grundrissen von Zisterzienserkirchen zeigen nur gerade 40 Beispiele einen radial angelegten Chorumgang12. Das für eine Zisterzienserkirche typische häufigere Signet ist bekanntlich die Alternative: der Rechteckchor, der sich im sogenannten bernhardinischen Schema seit der Frühzeit des Ordens immer wieder manifestierte und häufig als zisterziensischer Idealplan bezeichnet wurde (Abb. 5)13. Er zeigt im Langhaus ein von Abseiten begleitetes Mittelschiff, das in ein Querhaus mündet, auf dessen Ostseite sich die rechtwinklig geschlossene Chorapsis im Zentrum einer Reihe quadratischer Kapellen abzeichnet. Tatsächlich folgen zahlreiche Zisterzienserkirchen des 12. und 13. Jahrhunderts diesem Plan, aber er stellte beileibe nicht die einzige Möglichkeit dar. Inzwischen hat
Abb. 6. Cîteaux II, Grundriss (nach Dimier)
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die Forschung erkannt, dass der Prototyp dieses „bernhardinischen Schemas“ die erste große Klosterkirche von Cîteaux war, deren Bau wohl bereits um oder bald nach 1120 begonnen wurde (Abb. 6). Sie ist heute vollkommen vom Erdboden verschwunden, aber mit ziemlicher Sicherheit spiegelt sich die Kirche dieser Primarabtei in derjenigen von Fontenay wider, die gut erhalten ist (Abb. 7). Diese ist nun alles andere als ein der Armut verpflichtetes, billig ausgeführtes Bauwerk. Es handelt sich nicht nur um einen großenteils aus sorgfältig gehauenen Quadern hergestellten Bau, sondern auch um einen, der formal eindeutig auf die große Abteikirche von Cluny und ihre Nachfolgebauten rekurriert (Abb. 8)14. Pfeiler und Arkaden sind durchaus mit denjenigen in Cluny vergleichbar – man beachte in beiden Fällen auf der Seite des Mittelschiffs die rechteckige Vorlage, auf der in Cluny ein Pilaster und in Fontenay eine Halbsäule steht – aber es fehlen in der Zisterzienserkirche die reich dekorierten Obergeschosse, so dass in Clairvaux bzw. Fontenay das Tonnengewölbe direkt auf die Arkaden gesetzt wurde, was den Verzicht auf den Obergaden zur Folge hatte. Das Zisterziensische manifestiert sich also lediglich im Verzicht auf die Oberteile. Man kann diese „Defizit“ mit dem Begriff simplicitas umschreiben, aber diese erweist sich als relativer Wert, denn „einfach“ sind die gleichsam im Zisterzienserbau verbliebenen Teile der cluniazensischen Basilika mitnichten. Letztlich verstoßen in Fontenay bereits die Seitenschiffe gegen die vom Orden häufig wiederholte Mahnung, alles Überflüssige zu meiden, denn wie waren sie in der Frühphase der Geschichte des Ordens, wo eine Vielzahl von Seitenal-
Abb. 7. Fontenay, Abteikirche, Langhaus nach Südosten
22 | Peter Kurmann
Abb. 8. Paray-le-Monial, Benediktinerinnenklosterkirche, Langhaus nach Nordosten
tären noch nicht erforderlich war, liturgisch zu nutzen? Sie waren aber nötig, um die Arkaden zu errichten; würden diese fehlen, (wäre also das Langhaus ein einfacher Saal), so wäre die Demonstration, dass die in Cluny reich gestalteten Oberteile eigentlich überflüssig sind, nicht zu leisten gewesen. Der Ermahnung der Ordensoberen, beim Bau einer Zisterzienserkirche den Eindruck von Einfachheit zu erwecken, ist nicht absolut, sondern relativ zu verstehen, denn sie bezieht sich häufig auf die formalen Gegebenheiten der Sakralarchitektur innerhalb des lokalen Umkreises, in dem der zisterziensische Neubau errichtet wurde. So war die Referenzgröße von Cîteaux und Fontenay die gleichzeitige, von Cluny bestimmte burgundische Romanik, und insofern lassen sich die ersten monumentalen Zisterzienserbauten aus der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts mühelos in die „Kunstlandschaft“ Burgund einordnen15. Dennoch zögerte der Orden schon bald nicht mehr, den basilikalen Aufbau mit direkt beleuchtetem Mittelschiff ebenfalls für sich zu beanspruchen. Für die Chorlösung hatte das zur Folge, dass von nun an die rechteckige Apsis (sofern an dieser Form festgehalten wurde) mancherorts von einem ebenfalls im rechten Winkel geführten Chorumgang umgeben wurde. Der Prototyp solcher Anlagen war der um 1147 in Planung begriffene Ostbau der Primarabtei Cîteaux (Abb. 9), der in der Folge, vermittelt über die an der Westgrenze des Sacrum Imperium gelegene Tochter Cîteaux’, Morimond, östlich von Mosel und Rhein eine reiche und vielfältige Nachfolge fand16. Kurz vor der Mitte des 12. Jahrhunderts, also noch zu Lebzeiten des hl. Bernhard, begannen die Mönche in Clairvaux ihre Kirche zu erneuern – es entstand nach der kunsthistorischen Nummerierung „Clairvaux II“ (Abb. 10). Der Bau war mit einem polygonal geschlossenen Chor versehen, der von einem auf Säulen stehenden Umgang umschlossen war, wobei letzterem aller Wahrscheinlichkeit nach der Kapellenkranz fehlte. Von diesem Bauwerk ist nichts erhalten geblieben, aber die Anlage ist einigermaßen gut dokumentiert. Die ältere Forschung hat den vieleckigen Chorschluss des Primarklosters als Vereinfachung des Vorbildes frühgotischer Kathedralen interpretiert – was mit einem Blick auf den 1140–1144 entstandenen Umgangschor von Saint-Denis plausibel erschien – aber Wilhelm Schlink hat den Nachweis erbracht, dass der Chor von Clairvaux viel eher eine von antikischem Dekor gereinigte und auf vernünftige Dimensionen zurückgeführte Version der riesigen Choranlage der dritten Abteikirche von Cluny darstellte17. Beiden Lösungen war das stufenweise Ansteigen der Choranlage eigen, d. h. der direkt beleuchtete Umgang
Abb. 9. Cîteaux III, Grundriss (nach Dimier)
Abb. 10. Clairvaux II, Grundriss (nach Dimier)
überragte den Kapellenkranz, und darüber erhob sich die Apsis des Hochchors wie ein halber Zentralbau. Selbst die Trennung der zahlreichen Apsisfenster durch Lisenen übernahm Clairvaux von Cluny. Der einzige namhafte strukturelle Unterschied ist im Bereich des Umgangs zu beobachten: Während Cluny der romanischen Tradition entsprechend mehrere räumlich voneinander getrennte Radialkapellen besaß, so scheinen diese in Clairvaux gefehlt zu haben. Leider wissen wir nichts über die Gestalt des Inneren von Clairvaux II. Die Art der Gewölbevorlagen ist unbekannt, aber sicher waren alle Teile kreuzförmig gewölbt, die Frage ist nur, ob mit Grat- oder Rippengewölben. Wie in Cluny III war der Umgang wohl mit einer Ringtonne geschlossen, die von Gurtbögen in einzelne Traveen zerlegt wurde. Über der Hochchorapsis befand sich wahrscheinlich eine Kalotte. Mit allen diesen Eigenschaften fügte sich der Bau von Clairvaux bruchlos in die Baukunst der cluniazensischen Romanik ein. Es bestand also kein grundsätzlicher Antagonismus zwischen der Baukunst der Cluniazenser und derjenigen der Zisterzienser. Die Unterschiede betrafen den Bereich des Baudekors. Von der frühen Gotik der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts blieben die Zisterzienser anfänglich unberührt. So zeigt der Polygonalchor von Clairvaux II keine Gemeinsamkeiten mit dem etwas älteren „Schöpfungsbau“ der Gotik, dem
Chor Abt Sugers in Saint-Denis. Der Chor mit dem wellenförmig ausbuchtenden Kapellenkranz dieser Benediktinerkirche, seine strukturelle Leichtigkeit und seine meisterhaft inszenierte Lichtfülle war zu seiner Zeit etwas Unerhörtes18. Diese neue Formel eines monumentalen Bauvorhabens wurde von den Entwerfern der nachfolgenden „gotischen“ Kathedralen bereitwillig übernommen und variiert. So war der Chor der Benediktinerabtei Saint-Denis eine der wichtigsten Voraussetzungen für die „Kathedralgotik“. Dennoch wäre es falsch, den Beginn der Gotik ausschließlich auf SaintDenis zurückzuführen. Ausgehend von denselben Voraussetzungen in der Kunst der Romanik wie Sugers Architekt, hat der Schöpfer der Kathedrale von Sens ein Werk geschaffen, das ebenfalls einen Neuanfang bezeugt19. Die Planung der Senser Metropolitankirche dürfte sogar ein paar Jahre weiter zurückliegen als diejenige von Sugers Chor. Legt dieser eine elegante, fast beängstigend dünne Struktur an den Tag, so erhebt sich in Sens die majestätische Weiträumigkeit der Kathedrale auf soliden, dicken Mauern. Da es aber dem Senser Architekten gelang, die überwältigende Größe mit Hilfe eines feingliedrigen Formenapparats zu mildern, war Sens für die Entwicklung der Gotik ebenso wichtig wie SaintDenis. Man hat die Kathedrale von Sens in die Nähe der Zisterzienser gerückt und sie als „Reformbau“ bezeichnet20.
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Abb. 11. Pontigny, Abteikirche, Chor von Südosten
Das ist wohl eine Übertreibung – dennoch wäre zu überlegen, ob der Senser Chorumgang, der ursprünglich ohne Kapellenkranz auskam und deshalb eine geschlossene Umrissform aufwies, Clairvaux II beeinflusst hat. Es ist auf jeden Fall bemerkenswert, dass die Kathedrale eines Erzbischofs zur selben Zeit ohne Umgangskapellen konzipiert wurde, als die Mönche in Clairvaux ebenfalls einen repräsentativen kapellenlosen Umgang errichteten. Ein weiterer Austausch zwischen dem Chorkonzept gotischer Kathedralen und der Lösung, welche die Zisterzienser in Clairvaux II gefunden hatten, lässt sich um 1190 im Neubau des Chors von Pontigny beobachten (Abb. 11)21. Hier umgibt den Chor ein Umgang, zu dem sich zwei viereckige und sieben polygonale Kapellen öffnen. Diese Kapellen werden von einer geschlossenen, am Chorhaupt polygonal geführten Umfassungsmauer eingehüllt. Die komplexe Schwingung der Umfassungsmauer des Umgangs nach außen wurde vermieden, indem sich der Kapellenkranz, der für die großen gotischen Bauwerke zur Norm geworden war, hinter der glatten Umfassungsmauer verbirgt. Es muss allerdings beachtet werden, dass einige Niederlassungen der Zisterzienser in Spanien, England und in der Normandie sich nicht davor gescheut haben, schon vor dem Baubeginn in Pontigny Sanktuarien mit hervorstoßenden Radialkapellen zu errichten22; offensichtlich nahmen sie den damit verbundenen Verlust eines architektonischen Distinktionsmerkmals – mit anderen Worten einer Reduktionsform – ohne weiteres in Kauf. In Pontigny täuscht die Einfachheit des Äußeren. Der komplizierte Schluss der Hauptapsis aus sieben Seiten des Zwölfecks war bisher selbst den frühgotischen Kathedralen fremd, erst Notre-Dame in Chartres wird ihn 1194 übernehmen. Die wie ein Lichterkranz wirkenden Apsisfenster in Pontigny und ihre raffinierte Rahmung sollen offenbar an Effekte erinnern, die den Architekten der Gotik so teuer waren. Un-
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weit von Pontigny errichteten die Benediktiner von Vézelay zur selben Zeit ihren neuen Chor, der als Variante von SaintDenis diesem Vorbild am nächsten kommt23. Die Eleganz und Lichtfülle von Vézelay war nicht Sache der Zisterzienser. Die Fenster sind in Pontigny relativ klein, so dass der Gesamteindruck von den nackten Wänden der Kapellen und des Umgangs bestimmt wird und nicht von den dünnen Säulchen und Gewölberippen, die den Mauern nur aufgelegt zu sein scheinen. In gewisser Weise wird damit die zeitgenössische Gotik der Kathedralen und Benediktinerkirchen in der Ile-de-France und den angrenzenden Gegenden in Frage gestellt. Die dort zelebrierte spielerische Leichtigkeit wird in ihr Gegenteil verkehrt, weil in Pontigny die „antigotische“ Kompaktheit der Mauern gewahrt bleibt. Phänomene dieser Art stellen keinen „Kompromiss“ zwischen Askese und modernem Zeitgeist dar, vielmehr verdeutlichen sie im Sinne einer architektonischen Rhetorik die Trennung zwischen dem Wesentlichen und dem „Überflüssigen“. Eine derart abstrakt formulierte architektonische Botschaft lief keine Gefahr, die Mönche vom Gebet und Meditieren abzulenken. Einige Zisterzienserkirchen der Zeit um 1200 zeichneten sich indessen durch schiere Größe und besondere Komplexität der architektonischen Gestaltung aus, so dass sie nun tatsächlich gegen das Gebot der „Einfachheit“ verstießen. Man hat den Eindruck, dass die Zisterzienser in einigen Fällen die gotischen Kathedralen als Herausforderung betrachteten, die ihre Kreativität beflügelte. Wie soll man sonst den komplizierten Grundriss der leider in der Revolution völlig zerstörten Kirche von Vaucelles verstehen (Abb. 12)24? In Anlehnung an Cluny mit seinem doppelten Querhaus hat man in Vaucelles am Übergang zwischen Längs- und Rundchor querschiffähnliche Annexbauten angefügt, die mit den ersten Radialkapellen auf beiden Seiten des Chorumgangs verbunden waren. Zudem wurde die rechteckige Achskapelle mit den beiden mittleren Radialkapellen zu einer Gruppe verschmolzen, diese aber von den weiter westlich gelegenen Annexbauten getrennt, ganz im Sinne der romanischen Tradition, wo Kapellen stets auseinandergerückt sind. Leider wissen wir nichts vom Aufriss in Vaucelles, aber allein der Gundriss deutet darauf hin, dass hier die gotische Kathedrale durch eine zisterziensische „Antikathedrale“ überboten werden sollte. Die Oberen lehnten dies entschieden ab, trotzdem hat der Konvent das Bauwerk zu Ende geführt. Zur selben Zeit wurde in der Zisterze Lilienfeld ein mehrschiffiger rechteckiger Chorumgang um einen polygonalen Kathedralchor herumgeführt25. Aus der Verbindung zweier Alternativlö-
sungen sollte wohl die Idealform einer Zisterzienserkirche entstehen. Möglich war dies nur in einer Abtei, hinter der ein Stifter von großem Prestige wie Herzog Leopold VI. von österreich stand. Aber die Lösung hat etwas Erzwungenes; es ist verständlich, dass sie keine Schule machte. Kurz nach dem Baubeginn von Lilienfeld schwenkten erstmals die Zisterzienser von Longpont in Nordfrankreich vollkommen in das Lager der Kathedralen26. Ihr Gotteshaus lehnt sich in allen Belangen an die benachbarte Bischofskirche an, in diesem Fall war es diejenige von Soissons. Trotzdem entstand keine exakte Kopie, denn alle von der Kathedrale übernommenen Elemente treten um wenige Grade bescheidener auf. So wurde im Bereich der Mittelschiffsarkaden der Rundpfeiler mit Dienst zur glatten Säule vereinfacht, das echte Triforium weicht einer Blende, und vieles andere ist in der Abteikirche gegenüber der Kathedrale zurückgestuft. Alle späteren vom Kathedraltyp geprägten Zisterzienserkirchen, z. B. Royaumont oder Ourscamp in Frankreich, Marienstatt, Altenberg oder Sedletz im Hl. Römischen Reich, variieren die Vorbilder immer dadurch, dass sie sich nicht in der Gesamtstruktur, aber in den Einzelheiten vereinfachen. Auf diese Weise wird die Reduktion zum Wiedererkennungswert des eigentlich Zisterziensischen, auch wenn die Formen selbst aus einem ordensfremden Bereich stammen. Als Beispiel diene die Triforiumsarkatur von Altenberg27. Ihre Form mit rechteckiger Rahmung ist zur Zeit ihrer Entstehung (Baubeginn der Kirche 1259) höchst modern, da sie aber nicht wie diejenige im benachbarten Kölner Dom von einem Laufgang mit verglaster Rückwand hinterlegt ist, sondern sich wie eine Scheinempore – ein zu dieser Zeit außerhalb Englands völlig veraltetes Motiv – zum dunklen Dachraum über den Seitenschiffen hin öffnet, wertet sie sich gleichsam ab und verwandelt sich in ein altertümliches Element. Aber ästhetisch erweist sich dieser Verlust als Gewinn, denn die Triforiumsarkatur mit ihrer zierlichen Graphik zeichnet sich vor dem schwarzen Dachraum viel kontrastreicher ab als diejenige im Kölner Dom, die vom hellen Hintergrund überstrahlt wird, so dass sie in den Einzelheiten kaum mehr fassbar ist. Die Forschung ist sich heute darüber einig, dass es eine ordensspezifische Zisterzienserarchitektur im strengen Sinne nicht gegeben hat28. Vielmehr ist innerhalb des Ordens eine Vielfalt architektonischer Lösungen zu beobachten, selbst wenn der so genannte bernhardinische Grundriss in vielen Varianten europaweit relativ breit gestreut vorkommt und deshalb als zisterziensisches Merkmal gelten kann. Einerseits lässt sich die häufige Verwendung rechteckiger Chorlösungen
Abb. 12. Vaucelles, Abteikirche, Grundriss (nach Dimier)
in den verschiedensten Ausformungen als Demonstration der Einheit des Ordens, sozusagen als sein Erkennungszeichen verstehen. Andererseits sind die Zisterzienser überall Meister der Anpassung, nämlich dort, wo es aus welchen Gründen auch immer galt, die Vorgaben und Gewohnheiten der lokalen Baukunst zu berücksichtigen. Es gibt aber auch einige „bedeutungstragende Formen“ (Untermann), die von den Zisterziensern offenbar als Chiffren für das Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrem Orden betrachtet wurden. Dazu gehört die sogenannte „Abkragung“ der Gewölbedienste und Wandvorlagen, die sich vorzugsweise an den Pfeilern und Wänden im Mittelschiff der Langhäuser vorfindet (Abb. 13). Hier werden Wandvorlagen und Gewölbedienste weit oberhalb des Bodenniveaus durch Konsolen aufgefangen, oder sie verschwinden einfach in der Wandfläche. Soll damit demonstriert werden, dass Dienste und Vorlagen von der Struktur her betrachtet eigentlich etwas Überflüssiges sind? Man könnte dies vermuten, weil solche „bedeutungstragende“ Elemente in allen von den Zisterziensern gewählten Bautypen verwendet wurden. Man findet sie auch im Inneren der Klosterkirche Doberan, die dem Typus der hochgotischen Kathedrale verpflichtet ist. Warum aber wählten die Bauherren in Doberan im 13. Jahrhundert einen „kathedralhaften“ Grund- und Aufriss für
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Abb. 13. Mittelschiff, Konsole
Abb. 14. Lübeck, Dom, Grundriss des romanischen Bauzustands
ihre neue Kirche? Eine eindeutige Antwort zu finden fällt wie in den meisten anderen vergleichbaren Fällen schwer. Die Kriterien für die Wahl eines bestimmten Bautypus können meistens nur indirekt erschlossen werden. In manchen Fällen vermochten wahrscheinlich die Stifter ein Wort mitzureden, aber die Entscheidung lag doch wohl in erster Linie bei den Ordensoberen. Im Falle der gotischen Kirche Doberans, der frühesten „Zisterzienserkathedrale“ des nordosteuropäischen Backsteingebiets, liegt der Grund im nahen architektonischen Umfeld. Als es in Doberan darum ging, die alte, auf dem typisch zisterziensischen Rechteckgrundriss errichtete Vorgängerkirche durch eine neue Anlage zu ersetzen, war in den benachbarten Handelsstädten des „Wendischen Quartiers“ der Bau einer Reihe bedeutender aus Backstein errichteten Kirchen zumindest geplant oder bereits im Gange. Bevorzugt wählten die reichen Hansestädte den aufwendigsten aller mittelalterlichen Sakralbautypen: die dreischiffige Basilika mit Umgangschor und offenem Strebewerk. Sofern man bei der herkömmlichen Datierung bleiben darf, war der Prototyp dieser Bauwerke an der Ostsee die große Pfarrkirche St. Marien in Lübeck, die von den Bürgern der Hansestadt ab den 1260er Jahren mit einem großen Chor erweitert wurde29. Dessen Grundriss
übernahm eines der Hauptmerkmale des nur wenig älteren bischöflichen Lübecker Doms (Abb. 14), nämlich nicht nur den polygonalen Chorumgang mit Kapellenkranz, sondern auch die räumliche Verschmelzung eines jeden Umgangsjochs mit der ihm entsprechenden Radialkapelle unter ein und demselben Gewölbe. Diese Disposition hatte die Kathedrale von Soissons in den frühen 1190er Jahren in die gotische Architektur eingeführt, sie wurde bald darauf vom Chor der Kathedrale von Tournai übernommen. Anschließend verbreitete sie sich an den Küsten der Nord- und Ostsee sowie der Bretagne. Im Gegensatz zur Halle des Lübecker Doms ist St. Marien jedoch eine Basilika, die sogar mit einem offenen Strebewerk versehen ist. Im 13. und 14. Jahrhundert machte die Lübecker Marienkirche wie bereits angedeutet Schule in Stralsund, Rostock und Wismar sowie in den weiter östlich liegenden Gebieten des Baltikums30. Ein weiteres wichtiges Kennzeichen dieser Bautengruppe ist der zweigeschossige Aufriss im Mittelschiff, bestehend aus hohen Arkaden und einer Obergadenzone, die das Arkadenmotiv in der Form großer Fensternischen in der oberen Hälfte des Aufrisses wiederholt31. Diese Fensternischen sind in ihrem unteren Teil wegen des Dachanfalls von Umgang und Seitenschiffen verblendet. Häufig sind sie durch Laufgänge
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miteinander verbunden. Trotz des Wettlaufs mit der nordfranzösischen Kathedrale, in den diese städtischen Pfarrkirchen eingetreten sind, verzichten sie meistens auf das große Querhaus; wo ein solches vorhanden ist wie in St. Marien in Rostock, ist es einschiffig. Als sich in Doberan gegen Ende des 13. Jahrhundert der Konvent entschloss, die alte, auf dem typisch zisterziensischen Rechteckgrundriss errichtete Vorgängerkirche zu ersetzen, entschloss sich die Bauleitung – wahrscheinlich war der aus Lübeck stammende Abt Konrad III. als Auftraggeber die maßgebliche Persönlichkeit32 – zur Errichtung einer „Bürgerkathedrale“, wie sie damals in den Städten des „Wendischen Quartiers“ entstanden33. Ausschlaggebend für die Wahl des Bautypus waren also nicht die nordfranzösischen Kathedralen, die der Abt vielleicht nur vom Hörensagen kannte und ebenso wenig die Kirchen mit polygonalen Chorumgängen des eigenen Ordens in den westeuropäischen Gebieten von denen weiter oben die Rede war, sondern die städtischen Pfarrkirchen des benachbarten Umlands, von denen allerdings zu diesem Zeitpunkt noch wenige im Bau
waren34. Bezugsgröße für die Planung Doberans war somit in erster Linie der entweder schon weit gediehene oder zumindest in der Planungsphase verharrende Chor sowie das Langhaus von St. Marien in Lübeck, aber sicher auch der noch in den unteren Teilen steckende Chor von St. Nikolai in Stralsund, der sich ebenfalls am Lübecker Vorbild orientierte35. Der Doberaner Architekt änderte diese Vorbilder aber in mehreren Punkten ab. Am Außenbau verzichtete er auf das offene Strebwerk und verlegte die Streben unter die Dächer der Seitenschiffe und Kapellen. Damit gewannen die Baukuben jene lapidare Einfachheit, die den ästhetischen Vorstellungen der Zisterzienser entsprach und die dem Gebot, alles „Überflüssige“ zu meiden, entgegenkam. Für die Erscheinung des Innenraums ist von entscheidender Bedeutung, dass der Architekt in Doberan auf das Nischensystem an der Obergadenwand verzichtete (Abb. 18). Vielmehr setzte er über den Gliederpfeilern, die er denjenigen von St. Marien in Lübeck anglich, die glatte Arkadenwand nach oben bis zum Gewölbe fort. Die Fenster lassen viel Platz für die rahmende Wand übrig. Auf die stark plastisch wirkende
Abb. 15. Hochwand des Mittelschiffs
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Bereicherung der Hochschiffmauer durch Nischen wird also verzichtet, so dass die glatten Wände zwischen den Akaden und den Obergadenfenstern den Eindruck des Innenraums bestimmen. Im Vergleich zu den meisten „Bürgerkathedralen“ an der Ostsee ist damit der Doberaner Wandaufriss weniger komplex und entspricht somit dem zisterziensichen Gebot der Einfachheit. Doch diese Bescheidenheit ist ambivalent. Die große blinde Wandfläche zwischen Arkaden und Fenstern trägt eine elegante gemalte Blendarkatur. Sie befindet sich an der Stelle, wo ein Triforium zu erwarten wäre. Mit diesem Surrogat eines normalerweise Kathedralen vorbehaltenen Elements erhebt zwar die Ordenskirche nun wieder den Anspruch, höherwertiger zu sein als die Pfarrkirchen, aber sie tut das nur zum Schein, denn das Triforium existiert ja nicht real als räumliche Einheit hinter der Maßwerkarkatur, sondern nur als zweidimensionale Zeichnung, die dem Betrachter ein Bild eines Laufgangs vermittelt. Weil das Triforium bloß virtuell vorhanden ist, verletzt es das Gebot der Bescheidenheit nicht. Trotz des ganzen architektonischen Raffinements, das Doberan an den Tag legt, zeigt die Kirche in erster Linie glatte, d. h. nackte Wände. Solche nudae parietes hatte Arnold von Bonneval, der Biograf des hl. Bernward beim Betrachten der Abteikirche von Clairvaux bereits 1131 lobend hervorgehoben36. Vom ideologischen Standpunkt des Ordens aus betrachtet, erfüllt die Architektur der Doberaner Kirche das Gebot der modestas sogar in doppelter Hinsicht: Erstens bleiben die Wände glatt und damit einfach, zweitens ist das zeichenhaft eingefügte Triforium, obwohl es auf den ersten Blick aufwendig erscheinen mag, als Hinweis auf etwas Höherwertiges, aber nicht Vorhandenes zu verstehen, das den Kirchen der obersten Kategorie zusteht und somit Doberan auf den zweiten Rang verweist In ähnlichem Sinne kann man die Existenz und die Gestalt des Doberaner Querschiffs interpretieren. Es besteht aus nur zwei Schiffen zu je zwei Jochen (wobei die Breite der Joche derjenigen der Seitenschiffe entspricht), was insgesamt ein Quadrat ergibt. In dessen Zentrum erhebt sich ein monumentaler achteckiger Pfeiler. Wolfgang Erdmann erklärt diese Form durch statische Probleme: der unstabile Baugrund habe den Bau eines größeren Querschiffs nicht erlaubt37. Baugrund hin oder her: Da weder St. Marien in Lübeck noch St. Nikolai in Stralsund ein Querhaus aufweisen, stellte sich wohl die Frage, ob ein solches einer Zisterzienserkirche im Umkreis des Wendischen Viertels überhaupt angemessen sei. Man hat in Doberan einen Kompromiss gewählt, der auf eine entschiedene Reduktion des Querhauses
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hinausläuft: Es fehlt das Mittelschiff, und die beiden Flügel sind sehr kurz. Ein Vorbild für diesen Kompromiss bot die Franziskanerkirche St. Katharinen in Lübeck. Deren Querarme sind noch kürzer, denn sie bestehen lediglich aus jeweils zwei Jochen des Seitenschiffs, die außen nur wenig über dessen Flucht hinausragen. Möglicherweise geht diese Anordnung auf italienische Franziskanerkirchen zurück38. Wie auch immer, so steht hinter all diesen Versuchen, das Volumen des Querhauses möglichst zu reduzieren doch wohl das besondere Armutspostulat, das sowohl für die Zisterzienser wie für die Franziskaner galt. Manifestiert sich am Äußeren der Doberaner Kirche das Querhaus trotz seiner reduzierten Form als eigenständiger Bauteil, so fristet es im Inneren ein nahezu verborgenes Dasein, indem im Mittelschiff die öffnungen zu den Flügeln in der gesamten Höhe des Erdgeschosses weitgehend durch „Scheinarkaden“ verstellt wurden (Abb. 1, 18). Letztere suggerieren ein fortwährendes Weiterlaufen der Arkaden im Erdgeschoss. Wiederum steht der Betrachter vor einem ambivalenten Phänomen: Zwar ist ein Querhaus da, aber es ist im Innenraum hinter der Arkadenwand versteckt. Der Zweck dieser Abschrankung der Querhausflügel besteht wohl darin, zu verhindern, dass die Blicke während der Liturgie vom Hochaltar allzu sehr abschweiften. Es wäre höchst interessant, der Frage nachzugehen, in welchem Wettbewerbsverhältnis die Doberaner Ordenskirche und die bischöfliche Kathedrale in Schwerin zueinander standen. Es handelt sich um zwei annähernd gleichzeitige Bauten, wobei aufgrund der jüngeren Forschungen wohl dem Zisterzienserbau eine zeitliche Priorität einzuräumen wäre39. Das hieße dann, dass Doberan vorbildlich auf Schwerin gewirkt haben könnte. Zwar unterscheidet sich Schwerin von Doberan und von den Pfarrkirchen des Lübecker Typus durch sein großes dreischiffiges Querhaus; dieses wurde offensichtlich als ein Element betrachtet, das einer Bischofskirche angemessen war. Andererseits fällt auf, dass beide, der Schweriner Dom und das zisterziensische Gotteshaus im Inneren auf die tiefen Obergadennischen verzichten, wenn auch nicht auf die gleiche Weise. In Doberan wird die Nische, eines der wichtigsten „Markenzeichen“ der basilikalen Backsteingotik, zur Gänze eliminiert, in Schwerin wird sie durch seichte Fenstergewände angedeutet (Abb. 16)40. Welche der beiden Varianten wurde als die edlere betrachtet? Reduktion bedeutet keineswegs immer nur Verlust. So ist z. B. die Absenz von Kapitellen an den Arkaden des Schweriner Doms ein deutliches Zeichen für einen Schritt in die damalige Moderne, hin zur Spätgotik, was das Design der
Abb. 16. Schwerin, Dom, Blick von der Vierung nach Südwesten
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Bischofskirche in der Zeit um 1300 vielleicht als „hochwertiger“ erscheinen ließ, verglichen mit dem etwas „altertümlicheren“ des Zisterzienserbaus. Es gibt, vielleicht mit Ausnahme der abgekragten Dienste im Binnenraum des Mittelschiffs, in ganz Doberan keine typisch zisterziensischen Bauformen. Die Art und Weise aber, wie hier die Backsteingotik in allen ihren Einzelheiten gehandhabt wurde, steht voll und ganz in der Tradition des Ordens. Wie viele ältere Zisterzienserkirchen kann diejenige von Doberan als bewusst inszeniertes, grandioses Understatement bezeichnet werden. Bescheidenheit und Einfachheit werden hier zur frommen Fiktion. Was auf den ersten Blick als „Reduktion“ einherkommt, erweist sich bei näherem Zusehen als ausgeklügelte Feinheit und kann als Hinweis auf etwas Höherrangiges verstanden werden. So fehlt im Gegensatz zu manchen „Bürgerkathedralen“ das offene Strebewerk, und es fehlen die horizontal gelagerten „Brücken“, die an anderen Backsteinbauten im Gebiet der Ostsee am Chorumgang unterhalb des Dachgesimses von einer Kapelle zur anderen überleiten. Im Gegensatz dazu ist in Doberan jedes Bauglied vom anderen sorgsam abgesetzt, so dass sich die Struktur auf den ersten Blick in ihrer ganzen Klarheit darbietet. Diese Klarheit des Aufbaus führt den monumentalen Charakter – mit anderen Worten das „Kathedralenhafte“ – von Doberan besonders eindrücklich vor Augen. Obwohl das in Doberan verwendete Formenmaterial kaum etwas typisch „Zisterziensisches“ aufweist, teilt dieses Bauwerk dem kundigen Betrachter sofort mit, dass er mit einer Zisterzienserkirche konfrontiert ist. Kein anderer wusste dies besser in Worte zu fassen als Georg Dehio. Es ist „die kühle Zurückhaltung der ganzen Erscheinung, die jedoch auf monumentale Großheit nicht verzichtet [...]“41, welche die Kirche von Doberan zum Inbegriff einer „Zisterzienserkathedrale“ werden ließ.
30 | Peter Kurmann
ABSTRACT Among the many hundreds of Cistercian churches in Europe, the examples of the „cathedral-like“ ambulatory with radiating chapels represent a tiny minority. For a long time, research has also interpreted this form as a kind of betrayal of the Cistercian ideals of simplicity and renunciation of all superfluous things. But since it has been recognized that the Church of Clairvaux had been endowed with a large radiating ambulatory during St. Bernard’s lifetime and apparently with his approval, this assessment has recently been revised. Obviously in the context of Cistercian architecture the term “simplicity” was not absolute. When the building of a large monastic church with many side-altars became necessary by space requirements, an ambulatory with radiating chapels offered a good solution. Cluny III and its Burgundian successors as well as early Gothic cathedrals offer models for early Cistercian churches with ambulatory. Compared to these, the Cistercian buildings are much simpler in some aspects, but also more monumental. The same is true for the High Gothic period: even if the Cistercian order adopts the structures of the fully developed cathedral (as in Longpont, Altenberg or Sedlec) the buildings are always reduced in their forms by several degrees. Even though the Doberan church definitely looks like a cathedral, it does not refer directly to the cathedrals of the High Gothic period, but to the large brick parish churches of the Baltic Sea cities in the succession of St. Marien in Lübeck, a building which in turn was inspired by the large cathedrals. In terms of perfection of design and performance, Doberan surpasses all comparable buildings, so that despite of all its reduced forms a masterpiece was created that unmasks the Cistercian demand for simplicity as a mere understatement.
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Es handelt sich bei diesem Beitrag um den überarbeiteten Text des an ein breiteres Publikum gerichteten Festvortrags, der zu Beginn der Tagung im Doberaner Münster gehalten wurde. Für die Publikation wurde die mündliche Fassung großenteils beibehalten und deshalb der Anmerkungsapparat auf das Notwendigste beschränkt. JANTZEN 1957. WIENER 2003, S. 20, Anm. 27. KIMPEL/SUCKALE 1985, S. 307, Abb. 314. Ebd. S. 279, Abb. 284. Ebd. S. 64, Abb. 56. Das Folgende nach UNTERMANN 2001a. Auf Einzelnachweise wird verzichtet. Siehe auch UNTERMANN 2001b, S. 603–682 und passim. UNTERMANN 2001a, S. 244. UNTERMANN 2001b, S. 117. UNTERMANN 2001b, S. 99–104. UNTERMANN 2001b, S. 427–450. DIMIER 1949/1967. UNTERMANN 2001b, S. 450–465. GILBERT 1979. SCHLINK 1970, S. 79–141. NICOLAI 1990. SCHLINK 1970, S. 108–119. Zuletzt dazu: LENIAUD/PLAGNIEUx 2012. HENRIET 1982. VON SIMSON 1972, 203–208. KIMPEL/SUCKALE 1985, S. 145–148, 530; UNTERMANN 2001b, S. 150–154, 427, 440. UNTERMANN 2001b, S. 427–437. Die Bauzeit des Chors von Vézelay erstreckt sich von ca. 1165 bis ca. 1200: TIMBERT 2009, S. 235–236. UNTERMANN 2001b, S. 442–445. SEEGER 1997. BRUZELIUS 1990. LEPSKy/NUSSBAUM 2005/2012. UNTERMANN 2001b, S. 603–675. Für eine Datierung des Baubeginns in die Zeitspanne 1270–90 oder vielleicht noch später siehe JACOBS 1998/1999 (dort auch Auseinan-
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dersetzung mit den älteren Datierungsvorschlägen in die 1260er Jahre, die nach wie vor plausibel sind). SANDRON 1998, S. 168, 229–232. Zum zweizonigen Wandaufriss im Backsteingebiet und seiner „ikonologischen“ Interpretation als Zeichensetzung für die Provinzen der Erzdiözese Bremen, s. die Kontroverse zwischen Matthias Müller und Manfred Finke (in Auswahl): MÜLLER 2000 und FINKE 2010. ERDMANN 1995, S. 4. Für einen kurzen Überblick über den derzeitigen Diskussionsstand der Chronologie der Abteikirche in Doberan siehe TROST 2006, S. 209, Anm. 222. Zur architekturgeschichtlichen Situation im nordostdeutschen Backsteingebiet um und nach 1300 zusammenfassend (wenn auch ausgehend von einem aus dem Ende des 14. und aus dem 15. Jahrhundert stammenden Spätling), siehe KOSSMANN 2005, S. 119–123. HUyER 2005. UNTERMANN 2001b, S. 646–648. ERDMANN 1995, S. 30. Alle Versuche einer Herleitung des Doberaner Querhauses werden diskutiert von TROST 2006, S. 206–211. Für eine kritische Stellungnahme zu den bisherigen Datierungsvorschlägen für den Schweriner Dom s. CREMER 1996, S. 277–282. (Verf. optiert für einen Baubeginn des Chors nach 1291 und für dessen Vollendung spätestens 1326). Seither siehe auch: HUyER 2005, S. 315– 316. In Doberan fehlen die Nischen gänzlich, weil wegen des gemalten Triforiums die unteren blinden Fensterteile wegfielen, dafür sind die Fenstergewände relativ tief. In Schwerin wird die blendenartige Verlängerung der Obergadenfenster nach Lübecker Vorbild beibehalten, und auch die Nischen sind andeutungsweise vorhanden, aber nur dank eines untiefen Rücksprungs des blinden gemauerten Rahmens, in den das Fenster mit seinen verglasten und blinden Teilen eingebettet ist. Trotz dieser leichten Einnischung bleibt der flächige Charakter des Obergadens gewahrt. DEHIO 1926, S. 294–295. Es handelt sich hier um die Beurteilung der Zisterzienserkirche von Salem, sie gilt aber ebenso für Doberan.
Doberan – Die perfekte „Zisterzienserkathedrale“ | 31
DAS DOBERANER MÜNSTER IM SPIEGEL ZISTERZIENSISCHER SPIRITUALITÄT JeNS rüffer
Das Thema der zisterziensischen Spiritualität ist zwar ein sehr wichtiges, jedoch auch sehr zwiespältiges, da der Grat zwischen dem historischen Klischee, das auch aus der Selbststilisierung der Zisterzienser erwuchs, und einer fundierten, detaillierten, differenzierten, historisch-kritischen Beschreibung äußerst schmal ist1. Spiritualität lässt sich weder direkt aus theologischen Theoremen noch aus ethischen Maximen ableiten. Im Kern geht es um die historische Rekonstruktion gelebter Erfahrung im Glauben, die Analyse religiöser Alltagspraxis eines Klosters vor dem Hintergrund normativer Maximen und spiritueller Texte. Das Problem ist schnell benannt: Während für das 12. Jahrhundert die religiöse Alltagspraxis, die normativen Rahmenbedingungen und die spirituellen Texte noch einigermaßen gut auf der Ordensebene rekonstruierbar sind, gibt es für die gelebte Erfahrung im Glauben, bezogen auf ein konkretes Kloster in jener Zeit, weit weniger aussagekräftige Zeugnisse. Dieses Problem verstärkt sich massiv, wenn man das 12. Jahrhundert verlässt und sich einer Abtei im frühen 14. Jahrhundert wie Doberan zuwendet, die über keine diesbezüglich relevante Quellenüberlieferung verfügt. Allerdings lassen sich für Doberan einige Hinweise auf die Architektur und die Ausstattung der Klosterkirche gewinnen. Die folgenden Überlegungen bieten nicht mehr als eine Annäherung an die Thematik. Insgesamt, das sei vorweggenommen, bleiben die Ergebnisse ambivalent2.
Linke Seite: Abb. 17. Triumphkreuz von Osten, Detail: Porta Clausa
DIE MONASTISCHE SPIRITUALITÄT IM ZISTERZIENSISCHEN KONTExT Der abstrakte Begriff „Spiritualität“ kann mit Blick auf die Zisterzienser weiter präzisiert werden, und zwar als eine Spielart monastischer Spiritualität, grundgelegt im christlichen Glauben und modifiziert durch die Tradition des benediktinischen Mönchtums, dessen Basis bekanntlich jene Klosterregel ist, als deren Autor der hl. Benedikt gilt3. Hinzu kommt der reformmonastische Anspruch, das klösterliche Alltagsleben wieder an jenen Grundwerten auszurichten, die nach Meinung der Mönche des Novum monasterium durch die cluniazensische Interpretation der Benediktregel an Geltung verloren hatten4. Im Hinblick auf die geistigen oder geistlichen Aspekte etablierten die Zisterzienser eine ausgeprägte affektive Marien- und Christusfrömmigkeit, die sich nicht aus einem rationalen theologischen Diskurs ergab, sondern eher auf Augustinus, den Wüsten- und Kirchenvätern sowie der monastischen Erbauungsliteratur aufbaute, in der lectio divina und im Gebet kulminierte, nach innen gerichtet war und Emotionen stimulierte5. Man könnte all dies in Analogie zu Pierre Bourdieus Konzept des Habitus als eine Geisteshaltung interpretieren, die sich sowohl im Denken als auch im individuellen und kollektiven Handeln ausdrückte. Erkennbar wurde dies vor allem in dem, was als Frömmigkeit zu bezeichnen ist6. Die sich darin manifestierende geistige Haltung, wie immer man sie im Detail auffassen möchte, war das symbolische oder kulturelle Kapital der Zisterzienser, das Stifter anzog, und Laien dazu bewog, als Mönche oder Konversen der Welt zu entsagen und ins Kloster einzutreten. Dieses religiös-spirituelle Angebot konkurrierte in einem dynamischen sozialen Raum mit anderen7.
Die innere Haltung der Mönche bedurfte jedoch, um gesellschaftlich überhaupt wirksam sein zu können, eines äußeren Ausdrucks, der das symbolische oder kulturelle Kapital gleichsam visualisierte, und dies geschah auf unterschiedlichen Ebenen. Kunstgeschichtlich relevant sind jene Aspekte, die quasi nonverbal funktionierten und modern gesprochen, eine korporative Identität durch ein corporate design herzustellen vermochten: der neue Habit, die Architektur – einerseits in ihrer formalen Ausprägung, andererseits in der effizienten Raumorganisation des Klosterlebens –, die Ausstattung der Räume, hier vor allem jene des Kirchenraumes, aber auch der liturgische Ritus im engeren Sinn (Stundengebet, Messe, Prozessionen) sowie dessen formale und materielle Ausgestaltung. Zeichen, Gesten und symbolisches Handeln sollten – in angemessener Form – die aktuellen Ansprüche in Abgrenzung zu anderen Religionsgemeinschaften repräsentieren. Diese Visualisierung einer kollektiven inneren Einstellung war Teil eines nonverbalen Kommunikationsprozesses, der zeichenhaft funktionierte, dessen Erfolg jedoch nicht durch einmalige Entscheidungen garantiert war, sondern ständig ausgehandelt werden musste. „Wenn die Zeiten sich ändern, dann ändern sich gleichfalls die Menschen“, schrieb Caesarius von Heisterbach († nach 1240)8. Die Mönche hingegen wollten der Fels in der Brandung sein. Das Vorhaben, die Doberaner Klosterkirche und ihre Ausstattung im spirituellen Kontext zu verorten, sieht sich mit zwei grundsätzlichen methodischen Problemen konfrontiert. Zum einen stammen die normativen und spirituellen Texte weitgehend aus dem 12. Jahrhundert und können, trotz Traditionsbildung, nicht unreflektiert auf das 14. Jahrhundert übertragen werden. Auch ist nicht bekannt, welche Autoren in Doberan damals gelesen wurden9. Zum andern haben die Zisterzienser ihre Kritiken durch die Zeit mit einem relativ konstanten normativen Vokabular, meist in Komplementärbegriffen ausgedrückt, wie: forma ordinis / contra formam ordinis, necessitas / superfluitas, humilitas / superbia, unitas / diversitas oder curiositas). Darin zeigt sich ein hohes Maß an Flexibilität im Handeln. Der Orden war offensichtlich in der Lage, die spirituellen Angebote in der Zeit zu aktualisieren. Der Neubau der Kirche sowie die Schaffung bzw. Modifikation ihrer Ausstattung erfolgte im Wesentlichen in den Jahren von 1291 bis 136810. Die grundlegenden Ordensdokumente, die frühen legislativen Texte11, die Ecclesiastica Officia12 sowie die wichtigsten Maßstab setzenden Generalkapitelstatuten13 der Zisterzienser stammen dagegen, wie die bedeutendsten spirituellen Autoren14, aus dem 12. Jahr-
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hundert. All diese normativen Texte besaßen im 14. Jahrhundert noch Geltung, wenn auch in teils unterschiedlichem Maße. Für diese Textgattungen fehlt uns heute ein hermeneutischer Schlüssel, der zeigt, wie diese Texte in jener Zeit aktualisiert und interpretiert wurden. Mit Blick auf die normativen Texte wird recht schnell klar, dass sich die obengenannten religiösen Schlüsselbegriffe wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte ziehen, ohne dass wir ihre konkrete Anwendung in der jeweiligen Zeit auch nur im Ansatz nachvollziehen können. Denn die Beschlüsse des Generalkapitels überliefern nur das Ergebnis, d. h. die Entscheidung, was contra formam ordinis sei, nicht aber die Argumente, die in den Diskussionen erörtert wurden und zur Entscheidungsfindung beitrugen15. Mit Blick auf die spirituellen Texte wird man auch davon ausgehen dürfen, dass prominente zisterziensische Autoren, allen voran der hl. Bernhard, weiterhin gelesen wurden. Wie aber wurden sie 200 Jahre später verstanden? Oder was glaubte man, nun damit begründen zu können? Das zweite methodische Problem schließt direkt daran an und betrifft den Wandel zisterziensischer Ansprüche in sich verändernden Zeiten. Die inzwischen etablierten Bettelorden, das sich entwickelnde Stadtbürgertum und die wachsende Rolle der Ware-Geldbeziehung stellten im 14. Jahrhundert andere Herausforderungen für die Zisterzienser dar als die kontemplativ ausgerichtete benediktinische Konkurrenz des 12. Jahrhunderts, deren wirtschaftliches Fundament aus Grundbesitz und landwirtschaftlicher Produktion bestand, unterstützt vom grundbesitzenden Adel. Die Zisterzienser waren vor allem deshalb so nachhaltig erfolgreich, weil sie sich bei aller Wertschätzung der Tradition und der damit verbundenen normativen Ansprüche letztlich immer den Realitäten anpassten, sich für das Machbare, für das Überleben entschieden. Aus der kunsthistorischen Perspektive gilt es mit Blick auf die Architektur und Ausstattung noch einen dritten Aspekt zu berücksichtigen, da immer die Frage nach dem „Zisterziensischen“ im Raum steht. Die schnelle, enorme geografische Ausbreitung über unterschiedliche kulturelle, politische und klimatische Räume lässt die Dimension des Anspruchs, die Einmütigkeit (unanimitas) nach innen und die Einheit (unitas) bzw. Einförmigkeit (uniformitas) nach außen zu sichern, deutlich werden. Den Zisterziensern fehlte eine charismatische Gründerfigur, die die Geschicke der Gemeinschaft über längere Zeit prägte. Autorität kam deshalb, so Gert Melville, vor allem verfassungsrechtlichen Texten zu, wie der Carta Caritatis oder den Statuten des Generalkapi-
tels16. An Letzteren wird deutlich, dass bis in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts prospektiv Recht gesetzt wurde, danach ging man dazu über, judikativ Einzelfälle zu entscheiden. Das Abschreiben der Bestimmungen, die im Liber correctorius kompiliert wurden und die jedem Teilnehmer des Generalkapitels zur Einsicht auslagen, bedeutet noch lange nicht, dass alles auch so befolgt wurde17. Zudem darf man nicht schließen, dass jeder Leser unter den Leitlinien des Handelns dasselbe verstand, und es gab wohl auch nie eine ordensinterne hermeneutische Grundregel a priori18. Die Beschlüsse des Generalkapitels legen Zeugnis ab, wie um die Einmütigkeit, Einheit und Einförmigkeit gerungen wurde. Die Aktualisierung der Ordensideale galt es immer wieder kommunikativ auszuhandeln. Dabei waren die Äbte gut beraten, Prioritäten zu setzen und nur das zu fordern, was angemessen schien und sich auch durchsetzen ließ. Die Zentralisation in der Ordensorganisation und die Tatsache, dass auf der Basis von Texten Recht gesprochen wurde, veranlassten die ältere architekturhistorische Forschung dazu, nach „Baugesetzen“ zu suchen oder diese und ihre normative Geltung einfach zu unterstellen19. Mit Blick auf die Architektur und Ausstattung sind jedoch selbst in der ersten Phase der Rechtssetzung nie Gestaltungsideale positiv ausformuliert, sondern nur wenige Verbote festgeschrieben worden, die materielle Auswüchse verhindern sollten. Erinnert sei an dieser Stelle an die Studie von Rupert Schreiber und Mathias Köhler, deren Recherche ergab, dass der Anteil der aus heutiger Sicht kunsthistorisch relevanten Beschlüsse bis 1245 sich gerade einmal auf 1,5% der gefassten Beschlüsse beläuft20. Die Beschränkungen, die vor allem auf das gerichtet waren, was Bernhard in seiner Apologia als Bau- und Ausstattungsluxus kritisierte, scheinen eher einem vorausschauenden Handeln geschuldet zu sein21. Einem klugen Abt wie Stephan Harding (1109–1133, †1134) dürfte klar gewesen sein, dass die Versuchung, sich für den Kirchenbau und seine Ausstattung zu verschulden, groß war und dass jene Abteien, die diesem Verlangen nachgaben, die gesamte zisterziensische Unternehmung gefährdeten. Denn gemäß den Grundsätzen der Carta Caritatis waren die anderen Häuser verpflichtet, im Notfall auszuhelfen22. Dahinter verbirgt sich noch ein wichtiger spiritueller Aspekt. Die genannten Texte entstanden in einer Zeit, in der die meisten Zisterzen in relativer realer Armut lebten, da sie erst langsam wirtschaftlich Fuß zu fassen begannen. Als arm im spirituellen Sinn galt jedoch nicht derjenige, der in realer Armut lebte, sondern derjenige, der über Besitz verfügen konnte, diesen aber nicht in Anspruch nahm und deshalb freiwillig in Armut lebte. Die be-
rechtigte Kritik am Bau- und Ausstattungsluxus der Klosterkirche von Cluny (Cluny III) sollte die Zisterzienser nur einhundert Jahre später selbst einholen. So leitete Hélinand von Froidmont eine Predigt, die um 1230 verfasst wurde, mit der rhetorischen Frage ein: „Warum errichtet ihr Zisterzienser denn so aufwendige und überflüssige Bauten, obwohl ihr alles zurückgelassen sowie Nüchternheit und Armut gelobt habt?“ Die rhetorische Antwort ist ganz im Stile Bernhards: „Darauf hättet ihr verzichten und das Geld dafür unter die Armen verteilen können, ja müssen“23. Vermögend geworden, hatten sich die Zisterzienser permanent der Frage zu stellen: Wie repräsentiert sich ein durch effiziente Wirtschaft, billige Arbeitskräfte und Steuervorteile reich gewordenes Kloster nach außen hin als arm? Mit Blick auf die Visualisierung der Ordensideale wie simplicitas, necessitas, paupertas, uniformitas, unitas oder unanimitas waren die Architektur und die Ausstattung der Klosterkirche geradezu dazu prädestiniert, zeichenhaft zisterziensische Werte darzustellen. Gelingen konnte dies nur, indem man sich für ein dynamisches Verfahren entschied, in dem die konkreten Formen kommunikativ immer wieder neu auszuhandeln waren und das zugleich formale aber auch asketisch-spirituelle Traditionen des Ordens, Eigenheiten der jeweiligen Region sowie grundlegende zeitliche oder epochale gestalterische Standards berücksichtigte24. Die Traditionen waren der Zeit anzupassen, überzeitliche Werte galt es in sich verändernden Zeiten zu aktualisieren. Es ging also um eine Hermeneutik des Wie und nicht des Was. Zudem lag um 1300 der Staffelstab reformmonastischer Erneuerung bereits in den Händen der Bettelorden, ohne dass das zisterziensische Klosterleben bereits religiös, sittlich oder wirtschaftlich in seiner Gesamtheit im Verfall begriffen gewesen wäre.
ZISTERZIENSISCHE ARCHITEKTUR? So sehr das Bemühen, eine spezifisch zisterziensische Spiritualität definieren zu wollen zum Scheitern verurteilt scheint, so ist auch die Suche nach einem zisterziensischen Baustil nie von Erfolg gekrönt gewesen. Wenngleich gewisse gestalterische Invarianten offensichtlich sind, so ist ein Stilbegriff, der allein auf formale Ähnlichkeiten abzielt, völlig ungeeignet, das Phänomen hinreichend zu fassen. Bereits nicht stilkritisch begründete formale Ordnungsversuche, wie jener von Matthias Untermann zu den Klosterkirchen, zeigen einen großen Variantenreichtum auf25. Den Versuch, einen
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Abb. 18. Chor nach Osten
strukturellen Stilbegriff auf zisterziensische Bauten anzuwenden, hat es bislang nicht gegeben. Die Gestalt der zweiten Klosterkirche in Doberan kann auf vielfältige Weise inspiriert gewesen sein, doch weisen alle Vergleichsbauten, die nie in Gänze als Vorbild dienten, vor allem auf die Hansestädte der Region, insbesondere auf die Dome in Lübeck und Schwerin26. Was aber sind die besonderen strukturellen Merkmale der Doberaner Kirche, die sie im zisterziensischen Kontext zu etwas Besonderem machen? Bereits im Grundriss (Abb. 125) fallen zwei Eigenarten auf. Zum einen fehlt die ausgeschiedene Vierung, zum anderen verschmelzen im Chorumgang räumlich die fünf Radialkapellen mit dem Umgang. Im Aufriss (Abb. 18) grenzt die durchlaufende Pfeilerreihung, deren Abstände am Beginn des Querhauses zwar kleiner werden, die sich aber optisch vom Mittelschiff des Langhauses bis in den Langchor relativ gleichmäßig durchzuziehen scheint, das Oratorium im engeren Sinn vom Rest des Kirchenraumes ab27. Der Eindruck eines Binnenraumes wird zusätzlich von den vierteiligen Kreuzrippengewölben verstärkt, die den Raum nach oben
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in scheinbar gleichbleibender Jochlänge abschließen und deren Gurtbögen zwar farblich akzentuiert, doch in derselben Stärke wie die Rippen ausgebildet sind. Das am Außenbau deutlich erkennbare Querhaus wird im Inneren geradezu negiert, nicht nur durch den Arkadenrhythmus im Mittelschiff, sondern auch, weil die Mittelpfeiler in den Seitenschiffarmen, die vier vierteilige Kreuzrippengewölbe tragen, die Räume von Umgang und Querhaus verschmelzen lassen. Gleichermaßen ist auch die strukturell angelegte und am Außenbau suggerierte Dreischiffigkeit des Querhauses im Innenraum quasi unsichtbar. Hier erscheint es als zweischiffiger Hallenraum. Mit Blick auf die Binnenraumgestaltung des Oratoriums bleibt sowohl im Mittelschiff von Langund Querhaus als auch im Langchor und am polygonalen Abschluss des Hochchores die Wand zwischen Arkaden und Obergaden erhalten28. Sie wird jedoch mit einem gemalten Triforium verziert, gleichsam einer Formenreduktion mit Ansage. Zudem betont dieser Mauerstreifen zusammen mit den Konsolen der Wandvorlagen im Mittelschiff die Horizontale und wirkt der Vertikalen optisch entgegen.
Im Umgangschor wird die Verschleifung der Räume vor allem durch das sechsteilige Kreuzrippengewölbe visualisiert. Auch hier wurde auf stärkere, die Kapellen trennende Rippen verzichtet. Die geringe Tiefe der Kapellen und deren hohe Fenster machen eine separate Belichtung des Umganges überflüssig. Die fehlende ausgeschiedene Vierung und das durchlaufende Gewölbe lassen keine Abstufung des Hochchores zu. Der Verzicht auf Strebebögen am Außenbau – Strebebögen gab es ursprünglich nur unter den Dächern der Seitenschiffe – und das originale Dach über den Radialkapellen, das diese einst zusammenfasste und nicht deren solitären Charakter betonte, verleihen dem Außenbau eine gewisse Klarheit und Schlichtheit, ohne auf Eleganz zu verzichten29. Der Monumentalität des Außenbaus wirkt auch die Querschnittfassade im Westen entgegen, eine Lösung, die sich zeitgleich vor allem an Bettelordenskirchen findet30. Klarheit und elegante Schlichtheit demonstrieren in Doberan schließlich der baugebundene Schmuck, einschließlich der Profilierung von Vorlagen, Rippen und Gewänden. In dieses Konzept fügt sich auch die farbliche Akzentuierung architektonischer Elemente ein, die vom einfachen Fugenmuster bis hin zur Verwendung mehrfarbiger Backsteine reicht. Hat nun Helinand von Froidmont recht mit seiner allgemeinen Kritik? Mit Blick auf die architektonischen Mittel ist Doberan ein gutes Beispiel dafür, dass eine formale Reduktion zu mehr Klarheit und Eleganz führen kann und die geforderte simplicitas keineswegs eine Einbuße an architektonischer Qualität bedeuten muss. Für die mittelalterliche Wahrnehmung von Architektur sind vor allem die allgemeinen ästhetischen Effekte von Bedeutung. Stephen Jaeger und Paul Binsky haben in diesem Zusammenhang auf die ästhetischen Konzepte von sublimitas (Erhabenheit) und magnificentia (Großartigkeit) hingewiesen, die zwar ihren Ursprung in der Rhetorik haben, aber auch in der Beschreibung von Architektur und Kunst angewandt wurden31. Doberan ist ein exzellentes Beispiel einer qualitativen ästhetischen Steigerung durch die einfache Reduktion der Mittel. Dass man einen Umgangschor anlegte, Grabstellen für Stifter einrichtete, liegt im Trend der Zeit und ist a priori nicht zu kritisieren. Die Eleganz und Klarheit der Klosterkirche wird aber auch durch die allgemeinen Proportionen von Langund Querhaus erreicht. Diese Strategie hingegen hat Bernhard in seiner Apologia für das Mönchtum scharf kritisiert und nur den Bischofskirchen zugestanden. Denn die Größe und Höhe der Bethäuser, so sah es Bernhard, diene einer emotionalen Überredungsstrategie, in der letztlich jene sublimitas und magnificentia zur Wirkung komme32. Die Laien
könnten so von der unermesslichen Größe und Allmacht des christlichen Gottes überzeugt werden. Denn aus mittelalterlicher Perspektive entstanden derartige Bauwerke weniger durch das ingenium der Baumeister, als vielmehr durch die Gnade des Schöpfers, der die Inspiration erst ermöglichte und damit das Kirchengebäude zum Zeichen seiner Allmacht erhob. Mit Blick auf die Proportion fallen vor allem die hohen Fenster der Seitenschiffe und der Kapellen im Umgangschor sowie das steil aufragende Querhaus auf. Wenngleich viele Abmessungen im Grundriss ihre Rechtfertigung durch die Disposition des Vorgängerbaus finden, so scheint es doch, dass die Zisterzienser das Gebot der Einfachheit und Schlichtheit mit gesteigerten Raumvolumina konterten und in diesem Punkt der sogenannten libido aedificandi erlagen. Denn trotz des Trends der tendenziell sinkenden Zahl der Mönche, vor allem aber der Konversen, ab dem 13. Jahrhundert wurden die Oratorien der Abteien in der Regel größer, ihre Gewölbescheitel lagen zunehmend höher. Diesen Trend teilten die Bauten der Zisterzienser mit jenen der Bettelorden, die sich mit Blick auf die Architektur in der spirituellen Intention sogar ad litteram an den zisterziensischen Texten orientierten. Auch sie kombinierten Schlichtheit in der architektonischen Durchbildung des Gebäudes mit gigantischen Raumvolumina. Dass dies überhaupt möglich war, liegt primär im technischen System der gotischen Skelettbauweise begründet. Doch zeigen Bauten auf den britischen Inseln, dass die Bewahrung einer regionalen Tradition auch zu Ergebnissen führen konnte, die um 1300 für kontinentale Baumeister wohl recht unbefriedigend gewesen sein dürften33. Alles in allem muss unser heutiges Urteil auch eine gewisse Fairness zeigen. Man sollte sich einfach fragen: Welcher intelligente Baumeister jener Zeit hätte es auf sich genommen, einen gotischen Gliederbau zu errichten, der in seinen Proportionen ästhetisch völlig unbefriedigend ist? Zumindest keiner, der noch einen Folgeauftrag erhalten wollte!
DIE AUSSTATTUNG DER DOBERANER KLOSTERKIRCHE Die frühe Kritik Bernhards am Ausstattungsluxus hatte neben der Kritik am falschen Einsatz des Geldes, das lieber für die Armenfürsorge investiert werden sollte, noch einen weiteren Aspekt. Dieser zielte auf ein Phänomen, das den Glauben an sich zu diskreditieren schien. Bernhard sah deutlich, dass die schlichten Gemüter (simplices) die Materialwertigkeit
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der Ausstattung zur religiösen Wirksamkeit ins Verhältnis setzten, vor allem bei Reliquiaren. Je edler die Materialien des Reliquiars, desto wirkmächtiger seien der oder die Heilige34. Die im Glauben bereits fortgeschrittenen Mönche ließen sich vor allem von den optischen Effekten der aus Gold und Edelstein gearbeiteten liturgischen Ausstattungsgegenstände ablenken35. Sie gaben damit der Neugier (curiositas) nach, dem ersten Laster auf dem Abstieg von der Demutsleiter hin zum Stolz (superbia)36. Die Zisterzienser mussten auch hier Kompromisse finden, denn es dürfte auf Dauer einem Stifter nicht zu vermitteln gewesen sein, dass sich die Wirksamkeit der Memoria nur aus der weitgehend für Laien unsichtbaren Lebensführung des Konvents und seines kollektiven Gebets ergebe. Die Heilsgewissheit bedurfte aktualisierter zeitgenössischer Strategien der Visualisierung, und je potenter der Stifter oder die Stifterin war, desto höher war auch der Druck, teure Ausstattungsgegenstände entgegenzunehmen. In einer Welt, die dem zeichenhaften oder symbolischen Handeln einen sehr hohen Stellenwert einräumte, mussten diese eher spirituellen Konflikte immer wieder erneut gelöst werden. Im Folgenden soll es jedoch nicht um die materialästhetischen Aspekte der Ausstattung gehen, sondern vielmehr um einen Denkmodus, der sich in typologischen Bildwerken ausdrückt und der in Doberan vor allem an den Altarretabeln und dem Triumphkreuz zu beobachten ist. Der Kontext ist kein primär kunsthistorischer. Die Objekte werden vor dem Hintergrund religiöser Bildung im Zisterzienserorden und dem damit verbunden Ideal spiritueller Einfalt (simplicitas) diskutiert.
BILDUNG UND AUSBILDUNG IN DOBERAN Die kontemplative Ausrichtung des Ordens und die Förderung einer affektiven Spiritualität sollten den einzelnen Mönch auf seinem Weg zur Erlösung befördern. Theologische Bildung im Sinne der Schulen war dafür nicht notwendig37. Caesarius von Heisterbach widmete in seinem Dialog über die Wunder die gesamte sechste Distinktion der Tugend der Einfalt (simplicitas). Einfalt bedeutet intentionales Handeln, gegründet in festem Glauben und guter Absicht38. Schon Bernhard von Clairvaux, dessen Primat auf der spirituellen Erfahrung lag, war klar, dass Wissen und Glauben nicht zu vereinen sind. Denn Glauben gründet wesentlich in Vertrauen und religiöser Erfahrung, Wissen hingegen basiert auf Kontrolle und rationaler Überprüfbarkeit. Gott
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Abb. 19. Triumphkreuz von Westen, Reliefs am Kreuz: Moses verwandelt bitteres Wasser, Elia und die Witwe von Zarpat, die Versiegelung der Zeugen
wohnt nicht im Verstand, sondern im Herzen. Neugier und Zweifel, für die Wissenschaft essenziell, sind der Anfang vom Ende des Glaubens, denn sie untergraben das Vertrauen und stellen die religiöse Erfahrung in Frage. Mit Blick auf die theologische Bildung sind bereits die frühesten Beschlüsse des Generalkapitels ambivalent. Das Lesen sollte erstens inhaltlich kanalisiert und das Verfassen von Texten kontrolliert werden39. Zweitens zeigen die erhaltenen Bibliothekskataloge, dass, abgesehen von einigen didaktischen oder historiografischen Werken, das Gros der Texte spirituell und mystisch ausgerichtet war. Dominierend war die Literatur der Kirchenväter, allen voran Augustinus. Derartige Werke trugen dem Bedürfnis nach Meditation und kontemplativer Schau Rechnung40. Drittens ist zu berücksichtigen, dass die Zisterzienser keine Klosterschulen unterhielten. Theologische Bildung und Latein wurden entweder vor dem Eintritt oder während des Noviziats in unterschiedlichem Maße erworben41. Es ist viertens zu beobachten, dass die Zisterzienser, nachdem der Enthusiasmus der Frühzeit abgeklungen war, großen Wert auf die soziale Herkunft ihrer zukünftigen Mitbrüder legten, denn Adligen wurde nun der Eintritt als Konverse untersagt42. Schließlich gerieten fünftens die kontemplativ ausgerichteten weißen Mönche durch die Bettelorden, deren Bildungsideal neue Maßstäbe setzte, zunehmend unter Druck. Im 13. Jahrhundert kamen sie nicht mehr umhin, eigene Studienhäuser einzurichten und ausgewählte Mönche zum Studium an diese und die neu entstehenden Universitäten zu delegieren43. Für Doberan hat Sven Wichert die spärlichen Daten zur Bildung zusammengetragen44. Die bildungspolitische Sternstunde Doberans war die Beteiligung an der Gründung der Universität Rostock, die allerdings erst nach dem hier zu betrachtenden Zeitraum erfolgte. Für die Zeitspanne des Kirchenbaus gibt es keine belastbaren Hinweise auf das konkrete Bildungsniveau im Konvent oder der Äbte. Man wird aber davon ausgehen dürfen, dass Abt Gottschalk Hoeppener (1361–1384), in dessen Amtszeit der Kreuzaltar und Triumphkreuz entstanden, zumindest ein ordenseigenes Studienhaus besucht hat. Mauerfundamente, die östlich der Klausur gefunden wurden und direkt an diese anschließen, werden als spätmittelalterlicher Bibliotheksbau gedeutet, der über eine Grundfläche von 10 x 15 m verfügte und zweigeschossig gewesen sein soll45. Im Inventar zur Auflösung der Abtei von 1552 sind zumindest mehrere Bücherkisten vermerkt, die ca. 300 Codices enthielten. Diesen spärlichen Angaben stehen die von Abt und Konvent in Auftrag gegebenen bzw. dem Kloster gestifteten (Bild-)Werke gegenüber.
Abb. 20. Triumphkreuz von Westen, Reliefs am Kreuzesstamm: Opferung Isaaks, Jakobs Kampf mit dem Engel, Simson mit den Türen von Gaza
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Abb. 21. Kreuzaltarretabel von Westen, geöffnet
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DER KREUZALTAR MIT TRIUMPHKREUZ Für das Kreuzaltarretabel mit Triumphkreuz (Abb. 25, 28) aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts – auch für das Sakramentshaus und das früher entstandene Hochaltarretabel – sind die reichen, typologisch angelegten Bildprogramme hervorgehoben worden46. Nun sind typologische Bildfolgen innerhalb der liturgischen Ausstattung von Kirchen im Hochmittelalter an sich nichts Neues47. Für unsere Betrachtung ist der zisterziensische Kontext bedeutsam, in dem die künstlerisch keineswegs homogenen Werke fungierten. Zu fragen ist hier nach der spirituellen Dimension von Triumphkreuz und Altaraufsatz, sowohl vor dem allgemeinen Hintergrund eines kontemplativen Klosterlebens als auch vor dem besonderen der konkreten Adressaten, d. h. eines geteilten Konvents von Mönchen und Laienbrüdern, der aus dem Selbstverständnis der Mönche nach dem biblischen Rollenmodell von Maria und Martha organisiert war und in dem die soziale Schranke letztlich nie wirklich aufgehoben wurde48. Dies wird durch die von Triumphkreuz und Kreuzaltar gebildete Schranke signifikant visualisiert49. Das Triumphkreuz, das seit 1984 wohl wieder am originalen Platz im Mittelschiff des Langhauses steht, hat zwei Schauseiten50. Die Konversen erblickten den Gekreuzigten an einem ins monumentale gesteigerten Kreuz als Baum des Lebens (arbor vitae), auf dessen Stamm und Querbalken Szenen, vornehmlich des Alten Testaments, im Hochrelief angebracht sind (Abb. 28)51. In der Achse von unten nach oben: Opferung Isaaks (Gn 22, 9–10); Jakobs Kampf mit dem Engel (Gn 32, 25–33); Simson mit den Türen von Gaza (Idc 16, 3); Melchisedek und Abel; dann oberhalb von Christus: Moses verwandelt bitteres Wasser (Ex 15, 22–25); Elia und die Witwe von Zarpat (1 Rg 17, 8–24) und schließlich die Versiegelung der Zeugen (Apc 7) (Abb. 19, 20). Die Zuordnung der letzteren Szene ist ikonografisch strittig, und wenn die Deutung stimmte, wäre es auch die einzige aus dem Neuen Testament. Am Querbalken befindet sich je eine Szene pro Seite, zur Rechten Christi die Errichtung der Ehernen Schlange (Nm 21, 8–9) und zu seiner Linken der Kampf Davids gegen Goliath (1 Sm 17). Hinzu kommen noch zehn Prophetendarstellungen in kleinen Medaillons mit Tituli, die am Stamm und am Querbalken angebracht sind und deren Sprüche sich mehrheitlich auf den Opfertod Christi beziehen lassen52. Auf dem Querbalken zwischen Triumphkreuz und Altaraufsatz ist seit 1986
Abb. 22. Triumphkreuz von Osten, Detail: Muttergottes
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Abb. 23. Triumphkreuz von Osten, oberes Relief, Marienkrönung
eine Sentenz zu lesen, die weder für diesen Ort gesichert ist, noch jemals an dieser Stelle gestanden haben dürfte: effigiem Christi * qui transis * pronus adora * Sed non effigiem * sed quem designat * adora – „Wenn du vorübergehst, bete, Dich verneigend, das Abbild Christi an, aber nicht das Abbild an sich, sondern den, den es bezeichnet, bete an“53. Diese Maxime hat,
ohne darauf näher eingehen zu können, eine längere Geschichte, die Herbert Kessler nachgezeichnet hat54. Der Flügelaltar zeigt im geöffneten Zustand sieben Szenen, drei in der Mitte und je zwei pro Flügel (Abb. 21). Auf den Außenseiten der Flügel waren einst Apostel und Propheten dargestellt. Die axiale Ausrichtung von mittlerem Bildfeld
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im Altarschrein und Stamm des Kreuzes führt bei Wahrung der Symmetrie zu einer ungeraden Anzahl von Bildfeldern und damit zu einem Problem der typologischen Zuordnung, die auf einer paarweisen Anordnung der Bilder beruht55. Zudem stimmen im Schrein die Rahmung und die Größe der Darstellungen nicht immer überein, weshalb man von einem Konzeptionswechsel während der Ausführung ausgeht56. Das zentrale Bildfeld stellt den Sündenfall (Gn 3.6) dar, flankiert von den Darstellungen Christus vor Pilatus (Mt 27, 1–14; Mc 15, 1–5; Lc 23, 1–5; Io 18, 28–40), heraldisch rechts, und der Kreuztragung (Mc 15, 21; Lc 23, 26–31; Io 19, 17), heraldisch links. Auf den Flügeln schließt sich rechts die Darstellung von Elia auf dem Berg Karmel (1 Rg 18, 42–45) nebst Christus in Gethsemane (Mt 26, 36–46; Mc 14, 32–42; Lc 22, 39–46) an, links folgen Die Verspottung des Hiob (Iob 2, 7–10) und die Dornenkrönung (Mt 27, 27–30; Mc 15, 16–19; Io 19, 17). Die Mönche sahen von ihren Chorstallen auf eine gekrönte Maria mit Christusknaben und Lilienzepter (Abb. 22). Am Kreuzesstamm befinden sich von unten nach oben folgende
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Darstellungen: Moses schlägt Wasser aus dem Felsen (Nm 20, 7–11), ein Engel für Matthäus, Josua und Kaleb mit der großen Traube (Nm 13, 23–27), Judith mit dem Haupt des Holofernes (Idt 13, 1–11), Esther bittet Ahasver um Freiheit für ihr Volk (Est 4) sowie ein Adler für Johannes. Das oberste Bildfeld wird als Marienkrönung interpretiert (Abb. 23), wobei unter dem typologischen Aspekt Salomo und seine Mutter, die Königin Bathseba (1 Reg 2, 19), als alttestamentarischer Typus inhaltlich passender wären. Auf dem Querbalken heraldisch rechts von Maria befinden sich die Darstellungen des Evangelisten Markus in Form eines Löwen sowie Der blühende Stab des Aaron (Nm 17, 16–28), links hingegen wird der Evangelist Lukas als Stier dargestellt. Dem folgt die Szene Ezechiel vor dem verschlossenen Tempeltor (Ez 44, 1–3). In die alttestamentarischen Szenen fügen sich die Evangelistensymbole ein, die ihren Ursprung im Tetramorph der Vision Ezechiels (Ez 1, 4–28 und 10, 8–17) haben. Der Altaraufsatz ist auch auf der Mönchsseite in sieben Bildfelder gegliedert (Abb. 24). Die zentrale Szene zeigt Moses
Abb. 24. Kreuzaltarretabel von Osten, geöffnet
am brennenden Dornbusch (Ex 3–4). Heraldisch rechts folgt die Geburt Christi (Mt 1, 18; Lc 2, 1–21), heraldisch links die Darbringung im Tempel (Lc 2, 22–35). Auf dem Flügel zur Rechten Mariens ist die Verkündigung an Gideon (Idc 6, 11–18) mit der Verkündigung an Maria (Lc 1, 26–38) kombiniert, zur Linken sind die Darbringung Samuels im Tempel (1 Sm 1, 24–28) und die Flucht nach Ägypten (Mt 2, 13–15) dargestellt. Mit Blick auf Ikonografie und Typologie bleibt festzuhalten, dass die narrativen Darstellungen auf Querbalken und Kreuzesstamm von Szenen aus dem Alten Testament dominiert werden. Eine klassische, d. h. paarweise typologische Zuordnung, findet sich nur im Altaraufsatz. Die alttestamentarischen Szenen auf der Marienseite des Kreuzes lassen sich weitgehend marianisch interpretieren, die auf der Christusseite können auf den Opfertod Jesu bezogen werden. Für die Kontextualisierung ist es nicht unerheblich, dass die Szenen am oberen Teil des Kreuzes aufgrund schlechter Belichtung und zu großer Entfernung nicht mehr hinreichend oder gar nicht zu erkennen sind, ein Problem, das bereits
Ludwig Dolberg beschäftigte57. Dem mittelalterlichen Betrachter dürfte das ästhetische Gesamterlebnis, im Sinne eines Staunens, völlig genügt haben. Vor allem das Triumphkreuz ist, durch Vergoldung und Farbfassungen, geradezu paradigmatisch als ornamentum – Schmuck im Kirchenraum – zu betrachten. Im Übrigen war den meisten Gläubigen wohl klar, dass etwas, das zur Ehre Gottes geschieht, nicht von der Möglichkeit der Wahrnehmung durch irdische Kreaturen abhing. Im Gegensatz zum Menschen entging Gott nichts. Die Typologie stellt eine Sonderform der christlichen Allegorie dar, in der durch Bilder oder Texte, oder durch Bilder und Texte, heilsgeschichtliche Personen oder Ereignisse aufeinander bezogen sind. Heilsgeschichte wird als ein Kontinuum verstanden, als historischer Lauf der Menschheit, beginnend mit dem Sündenfall und endend mit dem Jüngsten Gericht. In diesem Verfahren wird, wie Rudolph Suntrup resümierte, die Wortprophetie durch Realprophetie ersetzt, die auf konkrete als wahr verstandene Ereignisse rekurriert58. Große typologische Codices bzw. Text-Bild-Zyklen entstehen im 13. Jahrhundert. Zu den prominentesten Beispielen zählen die Rotae in medio rotae59, die Bible moralisée60, die Biblia pauperum61 sowie das Speculum humanae salvationis62. Zeitlich eingerahmt werden die Texte von zwei Werken, dem Pictor in carmine63 (um 1200), der aus dem zisterziensischen Milieu stammen soll, und den Concordantiae caritatis64 des österreichischen Zisterziensers Ulrich von Lilienfeld65, die kurz nach der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden. Obwohl die Verse des Pictor in Carmine als Vorlage für Maler dienen sollten, sind sie in den überlieferten Manuskripten nie verbildlicht, sondern in der Rezeption auf Predigtexzerpte verkürzt worden. Ulrichs Werk hingegen kombiniert durchgängig lateinische bzw. volkssprachliche Texte mit einfachen oder narrativen bzw. schematischen Darstellungen. Aber auch dessen Concordantiae stellen eine Sammlung von Predigt-Skizzen im Verlauf des liturgischen Jahres dar. In der Zeit, in der diese Werke entstanden, wird an den hohen Schulen damit begonnen, Einzelwissen zu sammeln, um es zu ordnen und zu systematisieren, entweder in Form der theologischen Summen oder der Enzyklopädien66. Die Autoren derartiger Kompendien sind in der Regel gelehrte Vertreter der Bettelorden. Das intellektuelle Milieu ist das der hohen Schulen, nicht das eines kontemplativen Klosters. Für den Pictor in Carmine, so Karl August Wirth, sind weder Auftraggeber, Schreiber noch Herstellungsort bekannt, nicht einmal der heute übliche Titel lässt sich quellenkritisch nachweisen67. Die Verortung des Autors im Zisterziensermilieu
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basiert lediglich auf dem Vorwort, in dem der Autor ganz in der Tradition des hl. Bernhard gegen den Missbrauch der Bilder polemisiert, allerdings nicht mit Blick auf den Kreuzgang, wie es Bernhard tat, sondern mit Blick auf den Kirchenraum der Pfarr- und Bischofskirchen68. Ob der Text jemals für den vom Autor vorgesehenen Zweck benutzt wurde, lässt sich nicht mehr sagen. Unter dem Aspekt der Spiritualität ist allerdings die Rezeptionsgeschichte bedeutsam. Die meisten Handschriften verkürzten die vollständige Fassung zu einem theologischen Nachschlagewerk für Predigt und Katechese69, und genau diese Funktion sollte Ulrichs Werk erfüllen. Im Prolog heißt es, das Buch sei verfasst worden, „um der Einfalt und Bedürftigkeit der armen Kleriker abzuhelfen, die keine große Zahl von Büchern besitzen; sind doch Bilder die Bücher der ungebildeten Laien“70. Während der Hinweis, dass die Bücher die Bilder der ungebildeten Laien seien, eine Anspielung auf Gregor den Großen (590– 604) darstellt71, interessiert hier vor allem die Aussage, dass die Kleriker nicht hinreichend gebildet seien, eine Behauptung, die bereits Durandus von Mende (†1296) zur Rechtfertigung seiner Liturgieerklärung, des Rationale divinorum officiorum, aufstellte72. Für den zisterziensischen Kontext ist von Bedeutung, dass weder der Autor des Pictor in Carmine noch Ulrich von Lilienfeld für Mönche schrieben, sondern als gelehrte Kleriker für Kleriker, und dies vor dem Hintergrund der Predigt. Wie sind nun die Altaraufsätze und das Triumphkreuz, die beide für einen primär klösterlichen Rezipientenkreis gestaltet worden sind, in Bezug auf die Frage nach der Spiritualität einzuschätzen? Während Ernst Badstübner in der typologischen Anlage der Bildprogramme eine Möglichkeit sah, das zisterziensische Bilderverbot zu umgehen73, scheinen mir die typologischen Programme von Triumphkreuz und Altarretabel sowohl mit Blick auf den Ort (Schranke zwischen Konversen und Mönchen) als auch unter dem Aspekt der Spiritualität eher unzisterziensisch zu sein. Das Problem ist die Typologie selbst als eine Denk- und Wissensform, die den Glauben primär rechtfertigend predigt und ihn institutionell sichern will. Die damit einhergehende Intellektualisierung des Glaubens hebelt die Einfalt (simplicitas) im Glauben aus. Das Bildprogramm von Triumphkreuz und Kreuzaltar ist in seinem thematischen Umfang, seiner reli-
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giösen Tiefe und den narrativen Strategien Repräsentant einer klerikalen Gelehrsamkeit, konzipiert als Zeichen der Stärke des christlichen Glaubens nach außen. Es funktioniert ästhetisch in seiner Gesamterscheinung, ohne dass es im Detail verstanden werden müsste und wohl auch sollte. Die Kunstgeschichte vollendet, was Bernhard in seiner Apologia so energisch bekämpfte: die Intellektualisierung des Glaubens, seine Rationalisierung und seine Veräußerlichung. Objekte wie die hier diskutierten werden gleichsam argumentativ seziert und als Denkmal oder museales Objekt säkularisiert. Triumphkreuz und Altar sagen uns viel über die Verfasstheit des Klosters als religiöse Institution, über die geistige Situation der Zeit, aber so gut wie nichts über die gelebte Erfahrung im Glauben. Das Werk negiert an einer für die Zisterzienser spirituell sehr sensiblen Stelle im Kirchenraum74 in ästhetisch grandioser Weise ein individuelles Frömmigkeitsstreben, das den Weg zu Gott im Herzen suchte. Hier ist die Affektivität, die Ansprache an das Herz verloren gegangen. Aber am Corpus Christi-Altar kann sie auf Augenhöhe auch in dieser Kirche nachvollzogen werden und der sogenannte Mühlenaltar bot den Zisterziensern genügend Stoff zur Meditation über das Wunder der Eucharistie.
ABSTRACT This article describes the spirituality of the Cistercians within the context of Benedictine monasticism, including the methodical problems that arise when dealing with this subject. It is an attempt to relate Cistercian spiritual claims to architecture and furnishings. Regarding its architecture, the monastic church of Doberan displays an ambivalent character. While its formal characteristics are basic, its spatial dimensions are overwhelming. Concerning its interior decoration and its furnishings the focus is laid on the altar for mass and the hours of the laybrothers – dedicated to the Holy Cross – with its altar screen and triumphal cross. Both display pictorial programs of typological content. Typological reasoning contradicts the simplicity (simplicitas) required by Cistercian spirituality. Typological thinking is related to preaching on the one hand, and it leads to an intellectualization of Christian faith on the other hand.
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BOUyER 1955; PENNINGTON 1985; SCHNEIDER 1986; S. 113–142; MIKKERS 1991; KASPER/SCHREINER 1994; PFEIFFER 1998; WIPFLER 2003. Zur Geschichte Doberans, der Architektur und ihrem Kontext sei nur auf einige Werke hingewiesen, die über die Literaturverzeichnisse die Forschungsliteratur erschließen: LORENZ 1958; Erdmann 1995; WICHERT 2000; BADSTÜBNER/BILLEB 2005; VOSS 2008. REGULA BENEDICTI; QUELLEN UND TExTE ZUR BENEDIKTUSREGEL; DE VOGÜé 1983; PUZICHA 2002; GREGOR DER GROSSE: BENEDIKT; PUZICHA 2012. Dies betraf vor allem die Neuorganisation des Klosteralltages, der ausgewogenes Arbeiten, Beten und Ruhen vereinen sollte, die Kürzung liturgischer Verpflichtungen und die Aufwertung des Stundengebets, des Weiteren die Neustrukturierung des Klosterlebens auf der Basis von Eigenwirtschaft und einem dualen System von Laienbrüdern und Mönchen sowie eine effizientere Organisation der Räume innerhalb der Klosteranlage, die eine wirksamere Weltflucht ermöglichen sollte. Zum zisterziensischen Reformprogramm mit weiterführender Literatur: RÜFFER 2008, S. 9–15. Zu den wichtigsten frühen Quellentexten zählen Formen der Exordia, der Carta Caritatis sowie die vom Generalkapitel beschlossenen Statuta bzw. Instituta (vgl. EINMÜTIG IN DER LIEBE). Zum Observanzenstreit und zur Interpretation der Regel Benedikts seien nur drei grundlegende Texte genannt: BERNHARD VON CLAIRVAUx: AD ROBERTUM; BERNHARD VON CLAIRVAUx: APOLOGIA sowie IDUNG VON PRÜFENING: DIALOGUS. Zur Apologia und Bernhards Interpretation der Regel Benedikts mit Blick auf Architektur und Ausstattung sind grundlegend: RUDOLPH 1990, UNTERMANN 2001b, S. 95–118; FRESE 2006; RÜFFER 2008, S. 19–23. Zur lectio divina sowie zur Christus- und Marienfrömmigkeit: LECLERCQ 1963; SPAHR 1981; WIPFLER 2003; MUSSBACHER 1986; CAESARIUS VON HEISTERBACH: DIALOGUS VII, Bd. 3, S. 1276–1503. BOURDIEU 1972; BOURDIEU 1983a; BOURDIEU 1983b; BOURDIEU 1985; ROBERTSON 2011. Natürlich gab es auch ganz irdische Beweggründe, ins Kloster einzutreten, dennoch ist das Motiv der Rettung des Seelenheils und der kollektiven Memoria nicht zu unterschätzen, vor allem deshalb nicht, weil die Idee des Fegefeuers, die sich zeitgleich mit den Zisterziensern durchzusetzen begann, eine Konkretisierung und ökonomisierung der Jenseitsvorstellungen bedeutete, zugleich aber auch eine Merkantilisierung des Seelenheils mit sich brachte. Die Sorge um das Seelenheil lastete nun nicht mehr allein auf den Schultern des Einzelnen, sondern konnte nach dessen Tod auf die vielen Schultern der Hinterbliebenen verteilt und an Kleriker delegiert werden, indem Erstere die finanziellen Rahmenbedingungen schufen und Letztere Messen und Gebete für das Seelenheil der Angehörigen lasen bzw. sprachen. Da im Mittelalter eine Verbindung zwischen Wirksamkeit der Gebete und dem Lebenswandel der Religiosen hergestellt wurde, sahen die Zeitgenossen gerade im Reformmönchtum eine besondere spirituelle Wirksamkeit der Fürsprache gegeben, die zu einer erhöhten Attraktivität der monastischen Gemeinschaft beitrug und zu einem größeren sozialen Ansehen führte. LE GOFF 1981; LE GOFF 1986. In Anspielung auf das lateinische Sprichwort tempora mutantur et nos mutamur in illis schrieb Caesarius: Sicut mutata sunt tempora, ita et homines. CAESARIUS VON HEISTERBACH: Dialogus VI, 7, Bd. 3, S. 1188.
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Es gibt zwar das bekannte Inventar von 1552, doch listet dieses die Bücher nur summarisch. Von den rund 300 Codices befanden sich ca. 200 in der Bibliothek. WICHERT 2000, S. 174. Zur Baugeschichte und zur neueren Forschung: LORENZ 1958; ERDMANN 1995; SCHöFBECK/HEUSSER 2005; VOSS 2008. EINMÜTIG IN DER LIEBE. ECCLESIASTICA OFFICIA. WADDELL 2002. Doberan wird in den Beschlüssen des Generalkapitels bis 1400 nur 14 mal genannt. Die meisten Beschlüsse verweisen auf Streitigkeiten unterschiedlicher Art, in die die Abtei entweder selbst verwickelt war oder die durch den Abt und andere geschlichtet werden sollten. Folgende Beschlüsse sind überliefert: 1241:49; 1250:50; 1251:75; 1252:34; 1254:21; 1257:27; 1258:52, 1259:56; 1261:48 (CANIVEZ 1933–1941, Bd. 2, 1934); 1266:55; 1274:45; 1277:49; 1344:57; 1344:67 (CANIVEZ 1933–1941, Bd. 3, 1935). Zu nennen wären hier vor allem: Bernhard von Clairvaux (†1153), Wilhelm von St.-Thierry (†1148), Guerric von Igny (†1157), Amadeus von Lausanne (†1159), Aelred von Rievaulx (†1167), Gilbert von Hoyland (†1172), Isaac von Stella (†1178) oder Johannes von Forde (†1191). Zur Bedeutung, zu den Beschlüssen und zur Institution des Generalkapitels: MELVILLE 1991; CyGLER 2002, S. 1–118; RÜFFER 2008, S. 21–23. MELVILLE 2002 und ders. 2012, S. 123–141. Zum Liber correctorius, Dijon, Bibliothèque municipale Ms 114 (82): WADELL 1999, S. 37–39. Mit Blick auf die Benediktregel und deren Interpretation fand die erste Generation von Zisterziensern eine radikale Lösung, indem sie nur das gestatten wollte, was die Regel ausdrücklich erlaubte. Doch ließ sich dies nicht lange durchhalten. Diskussionsbedarf entstand vor allem dort, wo die Regel nicht ausdrücklich ein Verbot aussprach. Die hier gegebenen Nachweise aus den frühen legislativen Texten erfolgen nach: EINMÜTIG IN DER LIEBE: Kapitel xII.6 zur Summa Cartae Caritatis, S. 48; Carta Caritatis Prior 2, S. 100; Institut 2, S. 120– 122; Carta Caritatis Posterior, Statuten 2 u. 3, S. 180–182. Kritisch dazu: UNTERMANN 2001a. Von den 3786 Beschlüssen sind 54 im engeren Sinn relevant. KöHLER/SCHREIBER 1987, S. 12. BERNHARD VON CLAIRVAUx: APOLOGIA xII, 28, S. 192–199. Carta Caritatis Posterior, Statut 17, in: EINMÜTIG IN DER LIEBE, S. 190. Cur ergo vos Cistercienses, quanquam reliquistis omnia, sobrietatem et paupertatem professi estis, tam sumptuosa et superflua construitis aedificia? Poteratis, imo debueratis ista dimittere; et expensas pauperibus erogare. HéLINAND VON FROIDMONT: SERMO xxIII, lateinisches Zitat und deutsche Übersetzung nach: BINDING/LINSCHEID-BURDICH 2002, S. 552. BICKEL 1986, S. 184 versuchte die Architektur über drei Determinantenpaare dynamisch als Kräftefeld zu verstehen: (a) die asketischspiritualistische und die sensitive Determinante; (b) die burgundische Determinante und die Ortsdeterminante und (c) die Traditions- und Epochendeterminante. UNTERMANN 2001b. Zu den wichtigsten Vergleichsbauten zählen die Lübecker Marienkirche (Chor begonnen nicht vor 1270), die Stralsunder Nikolaikirche
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(begonnen um 1270), der Schweriner Dom (begonnen um 1290/92) und die Rostocker Marienkirche (begonnen nach 1290). Den Nachklang bildet die Wismarer Nikolaikirche (begonnen vor 1380). Die Datierungen variieren in der Forschung. Für die ältere Forschung waren die Einschätzungen von LORENZ 1958, S. 56–60 maßgebend. Zur kritischen Diskussion der Datierung von Vergleichsbauten: HUyER 2005, S. 303, 315–316 u. 334. Mit dem sechsten Joch von Westen werden die Pfeilerabstände der Joche bis zum Hochchorpolygon enger. Nur im Querhaus sind Triforiumswand und Obergaden durch je zwei große öffnungen unterbrochen. Der Einsatz von Holzankern im Mittelschiff stabilisiert die Gewölbe. Die Zisterzienser verzichteten programmatisch auf Ein- oder Doppelturmfassaden im Westen, die aber für die städtischen Pfarrkirchen und die Bischofskirchen von Bedeutung waren. Denn der oder die Türme beherbergten das Geläut, wirkten zeichenhaft in die Landschaft und dienten in den Hafenstädten zugleich der Schiffsnavigation. JAEGER 2010; BINSKI 2010. BERNHARD VON CLAIRVAUx: APOLOGIA xII, 28, S. 192–196. Hier blieb die Wand in ihrer Stärke weitgehend erhalten. Zudem wurde auf den britischen Inseln weniger ein Wettbewerb um die höchste und in ihren Proportionen steilste Kirche geführt, sondern vielmehr um den längsten Chor. Diesem Wettbewerb, der im frühen 13. Jahrhundert einsetzte, haben sich auch die Zisterzienser gestellt, mit zum Teil beeindruckenden, aus heutiger Sicht ganz unzisterziensischen Lösungen (Fountains Abbey, Rievaulx Abbey). BERNHARD VON CLAIRVAUx: APOLOGIA xII, 28, S. 194; ANGENENDT 1994; FREy 2009. BERNHARD VON CLAIRVAUx: APOLOGIA xII, 28 und xII.29, S. 194– 198. BERNHARD VON CLAIRVAUx: DE GRADIBUS x, 28–30, S. 88–92; AELRED VON RIEVAULx: SPECULUM CARITATIS II, 24, 70–72, S. 99–101. Wenngleich Bernhard von Clairvaux einst gegenüber seinem Freund, dem Gelehrten Henry Murdac äußerte, er werde in den Wäldern mehr als aus den Büchern lernen und solle deshalb Zisterzienser werden, so ist dies kein Ausdruck einer allgemeinen Bildungsfeindlichkeit, sondern Zeichen des Widerstands gegenüber einer theologisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Gelehrsamkeit, die den Glauben rationalisierte und sich dadurch auch in Aporien verstrickte. In Caesarius’ Dialog über die Wunder werden an mehreren Stellen Seitenhiebe gegen die Schriftgelehrsamkeit ausgeteilt. Die 1210 in Paris verurteilten Gelehrten prangerte Caesarius als Häretiker völlig undifferenziert an und wenn Gelehrte (litterati) einmal irrten, meinte er, dass deren Irrtümer schlimmer seien als die der Ungebildeten (illiterati). Aber auch Konversen, die sich selbst literarische Bildung aneignen wollten, strafte Caesarius mit Missachtung. BERNHARD VON CLAIRVAUx: AD HENRICUM MURDAC, S. 772 u. 774; CAESARIUS VON HEISTERBACH: Dialogus V, 16, S. 1004–7; V, 21, S. 1030; V, 22, S. 1032. CAESARIUS VON HEISTERBACH: Dialogus VI, S. 1134–1275. Das Institut 21 [60] legt fest, dass derjenige, der ein Buch zu schreiben beabsichtigte, die Erlaubnis des Generalkapitels einholen müsse. Es ist nicht bekannt, ob sich überhaupt jemals ein Autor daran gehalten hat. Vgl. EINMÜTIG IN DER LIEBE, S. 158. BELL 1987 und BELL 1995. Schultheologische und juristische Texte waren seltener, letztere durften nur nach Erlaubnis konsultiert werden (Kapitel 20, EINMÜTIG IN DER LIEBE, S. 54). Medizinische Texte spielten ebenfalls eine marginale Rolle und wurden wohl nach ganz pragmatischen Erfordernissen angekauft.
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41 Wer als Novize in das Kloster eintreten wollte, musste mindestens 15 Jahre alt sein. Den Novizen allein war es vorbehalten, im Kloster lesen und schreiben zu lernen (Institut 41 [80], EINMÜTIG IN DER LIEBE, S. 172). Die Zisterzienser lehnten die Aufnahme von Knaben (pueri) kategorisch ab, weshalb sie auch keine Klosterschulen unterhielten. 42 In einem Statut aus dem Jahr 1188 (Nr. 10) heißt es: Nobiles laici uenientes ad monasterium non fiant conuersi sed monachi. WADELL 2002, S. 151. 43 1245 wurde auf Initiative von Stephan Lexington (†1258), ehemals Magister in Oxford und späterer Abt von Clairvaux (1243–1255), das Collège St. Bernard in Paris gegründet. Wie der englische Benediktiner Matthäus Paris (†1259) süffisant in seiner Chronica Majora für die Zeit um 1249 vermerkte, wollten die Zisterzienser nicht länger zum Gespött der Dominikaner und Franziskaner werden. MATTHÄUS VON PARIS: CHRONICA MAJORA, Bd. 5, S. 79–80; LAWRENCE 1960. 44 WICHERT 2000, S.173–179. 45 LORENZ 1958, S. 81. 46 KÜHNE 1896, S. 13–16 u. 54–56; JENSEN 1964; LAABS 2000, S. 21– 29 u. 55–74; WAGNER 2006; BADSTÜBNER 2007, S. 151–176; VOSS 2008, S. 63–72; WAGNER 2008. 47 Bereits der sogenannte Klosterneuburger Altar, den Nikolaus von Verdun 1181 vollendet haben soll und dessen Tafeln sich ursprünglich an einer Lesekanzel (Ambo) befanden, zeigt ein ausgeklügeltes typologisches Programm. BUSCHHAUSEN 1980; RöHRIG 2004. 48 Lc 10.38–42; AELRED VON RIEVAULx, SERMO xIx. 49 Zu Lettnern und Chorschranken allgemein: JUNG 2000; SCHMELZER 2004. 50 VOSS 1989; VOSS 1994, S. 122–123. 51 Die folgenden Bibelstellen beziehen sich auf die VULGATA. 52 Die Tituli innerhalb der Prophetenmedaillons sind bis auf eine Ausnahme im ausgehenden 19. Jahrhundert nur noch an der Christusseite lesbar gewesen. Vgl. KÜHNE 1896, S. 54–56; JENSEN 1964, S. 246–248. 53 Materialtechnische Untersuchungen haben keinen stichhaltigen Beweis für Ornamentik oder Schrift an dieser Stelle erbracht, obwohl Reste eines anders gefassten Feldes von ca. zehn Zentimeter Höhe festgestellt worden sind. Die Aufschrift geht auf einen Hinweis des Doberaner Pfarrers Peter Eddelin (1599–1676) zurück, den er in seinen Dobberanischen Denkwürdigkeiten (EDDELIN 1664, S. 82) notiert hat. Johannes Voss 1989 hat die Angabe ad altare versus orientem so verstanden, dass die Himmelsrichtung auf den Leser Bezug nimmt, der sich, um es lesen zu können, nach Osten wenden muss. Dies erscheint insofern fragwürdig, als dass spätere Autoren immer vom Bild ausgehen (VOSS 1989, S. 150). Bereits 1732 schrieb Dietrich Schröder, dass auf dem Kreuz die Jungfrau „gegen Osten“ und Christus „gegen Westen“ zu sehen seien (SCHRöDER 1732–1734, S. 150). Es ist deshalb wahrscheinlicher – auch mit Blick auf den Rezipienten –, dass die Inschrift, vorausgesetzt sie bezieht sich wirklich auf dieses Retabel, von der Seite des Mönchschores zu lesen war. 54 KESSLER 2007. 55 Dazu hätte es in der Mitte vier Felder bedurft, oder die beiden äußeren im Mittelteil müssten einander typologisch entsprechen. Dann wäre aber der alternierende Rhythmus von Szenen des Alten und Neuen Testaments verloren gegangen. 56 JENSEN 1964, S. 258–260. 57 DOLBERG 1893, S. 44. 58 In diesem Verfahren werden, Personen, Handlungen und Ereignisse aus drei Epochen zueinander in Beziehung gesetzt: die Zeit vor dem mosaischen Gesetz (ante legem), die Zeit unter dem mosaischen Gesetz (sub lege) – beide sind im Alten Testament verkörpert –, sowie die be-
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ginnende Zeit der Gnade (sub gratia), die mit Jesu Wirken auf Erden begonnen hat und letztlich erst mit dem Jüngsten Gericht enden wird. Die Denkfigur von typos (Vorbild) und Antitypos (Gegenbild) deutet Personen und Ereignisse des Alten Testaments zeichenhaft als Vorankündigung oder Präfiguration dessen, was sich im Neuen Testament erfüllt hat. SUNTRUP 2010, S. xxIV–xxVI. RöHRIG 1965, S. 7–113. HAUSSHERR 1992. UNTERKIRCHER 1962. NEUMÜLLER 1972; KRENN 2006; LUTZ/PERDRIZET 1907–1909; BREITENBACH 1930. WIRTH 2006. DOUTEIL 2010. Inhaltlich stellt die Schrift jedoch eine Predigtsammlung dar, die nach dem Kirchenjahr geordnet ist. Doch handelt sich nicht um ausformulierte Texte, sondern eher um Skizzen oder Entwürfe. Die typologische Darstellung beinhaltet bei Ulrich drei Ebenen, die klassische Gegenüberstellung von Szenen des Neuen und Alten Testaments sowie Darstellungen innerhalb der Natur, die sich auf das Evangelium beziehen lassen. Der Autor erläutert im Prolog dem Leser, wie die Buchseiten gegliedert sind, in welcher Reihenfolge die Anordnung der Szenen erfolgt ist und welcher liturgischen Logik das Werk insgesamt folgt. Vgl. SUNTRUP 2010, S. xxVII; DOUTEIL 2010, Prologus, Bd. 1, S. 4. Ulrich von Lilienfeld, vor 1308 in Klosterneuburg geboren, stammte aus einer Kaufmannsfamilie. Er trat wohl vor 1327 in Lilienfeld (Niederösterreich) ein und stieg bis zum Abt auf. Nach sechsjährigem Abbatiat trat Ulrich 1351 zurück und, so darf vermutet werden, vollendete in dieser Zeit die Concordantiae caritatis. Ulrich starb an einem 20. April. Das Jahr ist unbekannt. Es wird davon ausgegangen, dass Ulrichs Werk um 1355 vollendet wurde. SUNTRUP 2010, S. xx–xxI.
66 Beispielhaft seien als Autoren für die theologischen Summen Albertus Magnus (†1280), Thomas von Aquin (†1274) oder Alexander von Hales (†1245) genannt, für die Enzyklopädien Vinzenz von Beauvais (†1264) und Bartholomäus Anglicus († nach 1250). 67 WIRTH 2006, S. 13–15. 68 WIRTH 2006, S. 109–111 (Prolog). 69 WIRTH 2006, S. 78–79. 70 […] simplicitatem et penuriam pauperum cleri / corum multitudinem librorum non habencium / est specialiter conpilatus, quia picture sunt / libri simplicium laicorum. DOUTEIL 2010, Prolog, Bd. 1, S. 4. 71 Papst Gregor, der in den Jahren 599 und 600 in zwei Briefen an Bischof Serenus von Marseille über die Funktion der Bilder im Kirchenraum schrieb, hob hervor, dass diejenigen, die die Buchstaben nicht kennen, wenigstens aus den Darstellungen an den Wänden das erkennen mögen, was sie in den Büchern nicht zu lesen vermögen. Daraus wurde später die prägnante Kurzform: Bilder seien die Literatur für Laien – pictura litteratura laicorum. GREGOR DER GROSSE: EPISTOLAE Ix, 209, S. 768 und xI, 10, S. 873–876; zur Interpretation und Rezeptionsgeschichte: DUGGAN 1989; CHAZELLE 1990; RÜFFER 2014, S. 411–456. 72 DURANDUS: RATIONALE, Prolog 3, Bd. 1, S. 4. 73 BADSTÜBNER 2007, S. 173–176. 74 An einer derart prominenten und zugleich identitätsstiftenden Stelle wäre ein konsequent marianisches bzw. christologisches Programm zu erwarten gewesen, das eine affektive Frömmigkeit und meditatives Denken unterstützt: Szenen aus dem Leben Mariens und/oder der Kindheitsgeschichte Jesu bzw. Szenen aus der Passion Christi kombiniert mit Tugend und Lasterdarstellungen.
Das Doberaner Münster im Spiegel zisterziensischer Spiritualität | 49
DIE MöGLICHE BEDEUTUNG DER TyPOLOGIE FÜR DIE BILDKÜNSTLERISCHE AUSSTATTUNG VON ZISTERZIENSERKIRCHEN – DOBERAN UND NEUZELLE erNSt B ADStüBNer
ZUR TyPOLOGIE IN DER BILDGESCHICHTE Kunsthistorisch – vereinfacht gesehen – ist die Typologie ein Gegenstand der Ikonographie, theologisch eher Bestandteil der Bibelexegese. „Begriff und Methode der Typologie sind offensichtlich unter dem Einfluss des Neuen Testaments von den Anfängen an in der kirchlichen Exegese und Hermeneutik heimisch. Das bezeugen die Schriften der apostolischen Väter wie die Bilder der Katakomben“1. Exegese und Bildkunst gehören also zusammen, der Schriftauslegung folgen die Bilder. In Theologie und Kunstgeschichte versteht man unter „Typologie“ die Gegenüberstellung oder die Zusammensicht von alttestamentlichen Personen, Handlungen oder Ereignissen mit solchen im Neuen Testament, die auf die Person und das Leben Christi bezogen sind, „eine heilsgeschichtliche Aufeinanderbezogenheit…, da die Kontinuität zwischen der alttestamentarischen Geschichte und Jesus Christus im Sinne von Vorbereitung und Erfüllung feststeht“2. Was Bilder angeht, so haben die mit alttestamentarischen Inhalten Vorbildbedeutung, sind „Typen“ (oder Präfigurationen), denen die Bilder Christi und der mit ihm verbundenen Geschehnisse im Neuen Testament als „Antitypen“, im Sinne der Heilsgeschichte vollendet, bildlich („figural“) gegenüberstehen. Schon Worte Christi in den Evangelien sind typologisch zu deuten. Die Ankündigung von seinem Tod in der Rede mit Nikodemus (Joh. 3, 14), dass der Sohn des Menschen erhöht werden müsse wie die Schlange in der Wüste durch Moses (4. Mose 21, 6–9), ge-
hört als eine der wichtigsten Aussagen dazu. In der bildlichen Vorstellung wurde daraus die „Aufrichtung der ehernen Schlange“ als eine der alttestamentarischen Präfigurationen der Kreuzigung Christi3. Aber die eigentliche Grundlegung typologischer Ausdeutung der heiligen Schrift sind die sogenannten Schrifttypologien des Apostels Paulus in seinen Briefen, wobei die im Brief an die Galater (Gal. 4, 21–31) als die bedeutendste angesehen wird4. Seit dem 4. Jahrhundert gilt für die Lehre als verbindliche Voraussetzung die kirchenväterliche Aussage, auf Augustinus zurückzuführen, dass im Alten Testament das Neue vorgebildet und im Neuen Testament sich die Erfüllung des Alten vollzogen hat. Die „reichlich willkürliche allegorische, aber auch typologische Deutung“ der Kirchenväter – Gregor, Ambrosius, Augustinus und Hieronymus – „war für das Mittelalter vorbildliche Autorität“5. Der daraus erwachsenen Typologie eignet in der bildenden Kunst ein symbolischer wie allegorischer Zug, aus dem sich ihr lehrhafter wie belehrender Charakter ergibt6. Von den Anfängen christlicher Bildkunst, die sich ja entgegen der ursprünglichen Ablehnung von Bildern erst langsam im Verborgenen, nach dem konstantinischen Toleranzedikt 313 aber auch öffentlich zu entwickeln begann, sind typologisch intendierte, auf jeden Fall aber typologisch zu interpretierende Bilder im religiösen Gebrauch zu erkennen. Interessant ist die anfängliche Gewohnheit, nur die alttestamentarischen Typen darzustellen, während auf das Bild des Antitypus verzichtet wurde, also auf die bildkünstlerische
Linke Seite: Abb. 25. Triumphkreuz und Kreuzaltarretabel von Osten (Marienseite)
Darstellung einer Person oder eines Ereignisses aus den Schriften der nunmehr tolerierten Religion, was vor allem das Bild von Christus betraf. Im 12. Jahrhundert gewann die Typologie theologisch wissenschaftlichen Charakter. Die scholastischen Schulen erweiterten die Schriftauslegung der Kirchenväter. Aus der Zeitentrias, die man schon aus dem 1. Römerbrief des Paulus (5, 14) herauslesen kann7 und die Augustinus auslegte – ante legem, sub lege, sub gratia = vor dem Gesetz, unter dem Gesetz, unter der Gnade –, entwickelte sich in der bildenden Kunst eine nahezu kanonisch gewordene Form der typologischen Bildfolge: je drei Bilder, davon zwei alttestamentarische Typen aus den tempora ante legem und sub lege, die den jeweiligen Antitypus sub gratia begleiten und in einer Bildordnung zwischen sich nehmen. Das bekannteste und vollkommenste Werk dieser Art ist der sogenannte Klosterneuburger Altar, eine Goldschmiede- und Emailarbeit für das Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg bei Wien als bilderwandartige Verkleidung eines Lettnerambos, inschriftlich von Nikolaus von Verdun mit dem Entstehungsdatum 1181. Man vermutet als anregenden Vorangang die nicht mehr erhaltene monumentale Bildausstattung der Kirche des Benediktinerklosters St-Denis bei Paris. Dessen Abt Sugerius hat in den 1130er bis 1140er Jahren eine neue Kirche von beachtlicher Größe und in einem zukunftsweisenden Stil – architekturgeschichtlich der erste kathedralgotische Bau – erbauen und sie prunkvoll ausstatten lassen. Aus der Beschreibung des Sugerius in seinem Werk De administratione geht hervor, dass in St-Denis die Bilder auf den Kunstwerken nach einem typologischen Programm geordnet waren8. Die 63 Bilder des Klosterneuburger Altars sind von Inschriften verschiedener Art umgeben. Die Zeitentrias ist an den senkrechten Rahmenstreifen der drei Tafeln bezeichnet, auf den drei waagerechten Bildreihen sind die der jeweiligen Zeit zugehörigen Begebenheiten dargestellt. Die mittlere Reihe erzählt das Leben Christi in historischer Folge, die obere und die untere Reihe enthalten die Bilder des Alten Testaments nach ihrer theologisch bestimmten typologischen Bedeutung für die Christusgeschichte. Die einzelnen Bilder sind am Fuß benannt, als Beispiel die erste senkrechte Reihe mit den Verkündigungen: – annuciatio Ysaak – ante legem, Die Verkündigung Isaaks – annuciatio Domini – sub gratia, Die Verkündigung des Herrn – annunciatio Samson – sub lege, Die Verkündigung Samsons. Die dreipassbogigen Rahmen der Bildfelder tragen Senten-
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zen, die den abgebildeten Vorgang erläutern oder deuten, an unserem Beispiel in deutscher Übersetzung: „Diesem verheißt das Geschenk der Nachkommenschaft der Dreifaltige und Eine – Aus dir wird jener geboren werden, durch den der gefallene Mensch erlöst wird – Den Feinden zur Not wirst Du, Weib, einen Sprössling gebären“9. Die Bilder erhalten durch die Inschriften, die Tituli, ihre Authentizität, ihre kanonische Gültigkeit. Für das Ganze kommt mit der Stifterinschrift, die in vier waagerechten Streifen die drei Bildreihen sowohl voneinander trennt als auch oben und unten begrenzt, noch eine „Zusammenfassung“ des Inhalts und eine Art „Gebrauchsanweisung“ zum Lesen hinzu, sie lautet, wieder in der Übersetzung: „Wie die Heilsgeschehnisse der Zeitalter übereinstimmen, siehst Du in diesem Werk dargestellt. Die Anfänge der Welt suche in der ersten Zone; die Schattenbilder des Gesetzes sind in der unteren; in der Zwischenzone gibt die Gnade den noch währenden Zeitabschnitt. Was früher die Propheten in dunklem Vorbild sangen, das macht klar die neue Zeugung des Schöpfers, die in göttlicher Kraft kam, den Fall zu heilen, der durch die Schlange die beiden Stammeltern vertrieben hat. Wenn Du die Vorschriften des alten Gesetzes recht überdenkst, so enthalten sie in ihrer äußeren Gestalt fast nichts von der Herrlichkeit. Daraus wird offenbar, dass sie wahrhaftig nur das Vorbild jenes Gesetzes gewesen sind, das die göttliche Liebe der zweiten Schöpfung schenkte“10. Alles in allem eine nicht zu übertreffende lehrhafte Funktion des typologischen Bilderzyklus zur Rezeption des Gebildeten, des Literatus im Kloster, durch Kontemplation und zur Belehrung des Laien, des Illiteratus, der des Lesens unkundig ist, durch die Anschauung. Um auf die Zisterzienser zu kommen: Dass sie keine Bilder erlauben wollten, ist hinlänglich bekannt. Die als Bilderverbot bezeichnete und als Kunstverbot verstandene Haltung Bernhards von Clairvaux ist in dieser Konsequenz nicht zutreffend, die Abstinenz gegenüber Bildern im religiösen Gebrauch aber entsprach dem Rückbezug des Reformmönchtums auf das frühe Christentum. Der Orden sah sich jedoch bald mit dem Wunsch nach Bildern in den Klostergemeinschaften konfrontiert. Den Bischöfen gestand Bernhard Bilder ja auch zu, nicht aber den Mönchen, den Pauperes Christi; der Verzicht war Ausdruck ihres Elitebewusstseins. Bei der Suche nach einem Kompromiss mit dem Bilderbedürfnis im Orden scheint man auf die Typologie gestoßen zu sein als einem rationalen Bibelverständnis, mit dem den Bildern die Anbetung verlangende Heiligkeit genommen werden könnte. Entsprechend hat man sie in den Dienst der heils-
geschichtlichen Lehre gestellt. Die Gefahr, das Bild könne göttlichen Ursprungs sein und zur Anbetung zwingen, war damit umgangen und der Auffassung Bernhards Rechnung getragen, nach der ein bildnerisches Kunstwerk eine von Menschenhand geschaffene und für Geld aus irdischem Material gemachte Sache sei, die für den Mönch seines Ordens hinsichtlich des materiellen Wertes überflüssig und hinsichtlich eines ideellen Wertes sinnlos sei. So etwa die Tendenz des Briefes, den Bernhard an den Abt Wilhelm des Kloster St-Thierry gerichtet hat, eine Streitschrift, die unter dem Namen Apologia ad Guillelmum Sancti Theodorici Abbatem bekannt ist und offenbar zu seiner Zeit im Orden, vielleicht auch darüber hinaus verbreitet war11. Auf jeden Fall lässt die erste bekannte Schrift mit Empfehlungen für typologische Bilder, der um 1200 entstandene Pictor in carmine (in Versen malen), die Kenntnis der Apologia beim Verfasser erkennen und deshalb den Schluss zu, dass die Handschrift zisterziensischen Ursprungs ist. Der Pictor ist bezeichnenderweise nicht bebildert, dafür aber mit erklärenden Texten zum Gegenstand reichlich versehen12. Man gewinnt den Eindruck, dass der oder die Autoren als Ordensmitglieder eine Illustrierung noch gescheut oder nicht gewagt haben. Später waren entsprechende Bücher überbordend mit Bildern versehen, auch die in Zisterzienserklöstern entstandenen wie die Concordantiae caritatis des Lilienfelder Abtes Ulrich aus dessen Amtszeit von 1345–51, in der die typologischen Bilder nach den Perikopen des Kirchenjahres geordnet und nicht ausschließlich auf das Leben Christi bezogen sind13. Meinem Beitrag liegt die Annahme zugrunde, die Zisterzienser hätten für ihre Bildkunst den lehrhaften Charakter, die heilsgeschichtliche Didaktik der Typologie, ihre Symbolik und Allegorese in bildlichen Darstellungen bevorzugt. Ein Grund dafür könnte in dem Versuch oder dem Bemühen gelegen haben, sich gegenüber dem ursprünglichen „bernhardinischen“ Bilderverbot zu rechtfertigen und zu legitimieren. Ein Verlangen nach Bildern ist im 13. Jahrhundert allgemein festzustellen, man kann es auch im Orden von Cîteaux voraussetzen14. Die vom Generalkapitel bis ins frühe 14. Jahrhundert wiederholten Bildverbote lassen keinen anderen Schluss zu. Einen definitiven Hinweis auf eine erlaubte Bilderpraxis nach typologischen Programmen gibt es jedoch nicht, wenn man nicht eben die Bildempfehlungen des aller Wahrscheinlichkeit nach zisterziensischen Pictor in carmine als einen solchen verstehen will. Die mir bekannten zwei erhaltenen Denkmale, die diesem postulierten Anspruch genügen würden – in Doberan aus dem Zeitraum um 1300
bis in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts und in Neuzelle aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg –, genügen vielleicht nicht, um meine These ausreichend zu untermauern. Obwohl sich die Veröffentlichungen zur bildenden Kunst in Zisterzienserkirchen in jüngster Zeit häufen und meist die Doberaner Ausstattung in den Mittelpunkt stellen, wird die darin enthaltene typologische Programmatik nicht als charakteristische Praxis für die zisterziensische Bildkunst herausgestellt15. Bei den großen Verlusten an Bauten und Ausstattungen von Zisterzienserkirchen und -klöstern in der Neuzeit als Folge der Reformation und der Aufklärung ist auch der Verlust von Bildern vorauszusetzen16. Man wird annehmen dürfen, dass es weitaus mehr bildkünstlerische Ausstattungen nach typologischen Programmen in Zisterzienserkirchen gegeben hat. Andererseits lässt die europäische Entwicklung der bildenden Künste Gründe erkennen, weshalb die Typologie in der zisterziensischen Bildkunst trotz quellenmäßig zu belegender Empfehlung keine allzu große Breitenwirkung gehabt zu haben und vielleicht auch nicht von langer Dauer in Gebrauch gewesen zu sein scheint. Malerei und Plastik gewannen im späteren Mittelalter einen stärkeren Realitätsgrad in der Widerspiegelung der natürlichen Umwelt. An die Stelle der mehr zum Abstrakten und Schematischen neigenden frühmittelalterlichen Bildkunst traten Bilder nach dem Vorbild der Natur in das Blickfeld des Künstlers. Ein Wandel in der Weltwahrnehmung hatte sich vollzogen und auf die Bildschöpfungen ausgewirkt. Ein neues Glaubensverständnis bedurfte schließlich auch der lehrhaften Bildprogramme nicht mehr. So könnte die Abstinenz gegenüber bildlichen Darstellungen im kirchlichen Raum aufgegeben worden sein und damit auch der Kompromiss mit den Bilderverboten, die Typologie. Dass die Typologie aber im Orden nicht vergessen war, beweisen die zum Teil relativ späten „Bilder“ in Doberan und die neuzeitlichen in Neuzelle. Schließlich beweist die Fülle der lutherischen Dogmenbilder „Gesetz und Gnade“, das sich der Protestantismus in seiner lehrhaften Bildkunst wieder der typologischen Tradition annahm.
ZU DOBERAN Bildträger der typologischen Zyklen in Doberan sind mehrere Flügelretabel und ein Triumphkreuz, Ausstattungsstücke aus zwei Entstehungszeiten, aus der Zeit um 1300 nach weitgehender Fertigstellung des hochgotischen Zweitbaus der Klosterkirche wie auch aus der Zeit um die überraschend
Die mögliche Bedeutung der Typologie für die bildkünstlerische Ausstattung von Zisterzienserkirchen – Doberan und Neuzelle | 53
späte Weihe von 1368. Als erstes und ältestes Werk wird meist der Kelchschrank (Abb. 53, 54) geführt, obwohl eine annähernde Gleichzeitigkeit der Entstehung mit dem Hochaltar durch „dendrochronologische Daten“ (Voss: um 1300) wahrscheinlicher geworden ist, wenn auch die dreipassbogig gerahmten Blendfelder für den einstigen, heute zum größten Teil verlorenen figürlichen Schmuck noch spätromanisch erscheinen. Typologisch ist die einzig erhaltene Figur im unteren Teil der linken Schranktür zu deuten: Ezechiel vor der Porta clausa, vor der verschlossenen Tempeltür sitzend (Abb. 26), als einem der alttestamentlichen Typen, die symbolisch die Jungfräulichkeit Mariens meinen und typologisch auf
Abb. 26. Kelchschrank, Detail: Ezechiel
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die Ankündigung und die Geburt Christi hinweisen, auf die wohl auch die anderen typologisch zu vermutenden Figuren in den heute leeren Bildfeldern bezogen waren (so auch Johannes Voss). Eindeutig typologisch sind die nahezu lebensgroß gemalten Bilder auf den Innenseiten der Schranktüren zu verstehen (Abb. 49, 56), auf dem linken Flügel der Hohepriester Melchisedek mit Kelch und Hostie in den erhobenen Händen und auf dem rechten Flügel Abel mit einem hoch gehaltenen Lamm. Augustinus hat die Darbringung von Brot und Wein durch Melchisedek für Abel nach einer siegreichen Schlacht (1. Mos. 14, 18–20) als Vorbild für das Messopfer gedeutet, und schon seit frühchristlicher Zeit sind beider Opfer alttestamentarische Typen als Garantie für die Gültigkeit des eucharistischen Mahls, dem der Schrank als Aufbewahrungsort der Messkelche diente17. Das Hochaltarretabel, das keine Reminiszenzen an vergangene Stilarten aufweist, trägt – in einem hochgotischen Stilkontext von Figuren und Architekturformen – die typologisch unterlegte Kindheits- und Passionsgeschichte Christi in zwei Registern vor (Abb. 27, 284). Das dritte untere, später hinzugefügte und der zweiten Ausstattungsphase um 1370 zuzurechnende Register gehört nicht in unsere Betrachtung. In alter Tradition stehen die neutestamentlichen Antitypen jeweils über den Typen aus dem Alten Testament, wobei immer, bis auf eine Ausnahme (die Geißelung Christi über dem Quellwunder Moses und der Verspottung Hiobs), nur ein Typus zum neutestamentlichen Antitypus steht; später werden es weitaus mehr. Aus welchen Quellen, bildliche und/oder literarische, der Programmautor schöpfte, wissen wir nicht. Aus dem zisterziensischen Pictor in carmine könnten die Verkündigung an Maria mit Ezechiel vor der Porta clausa (I. Colloquium Gabrielis et virginis de incarnatione verbi, Luk. 1, 26–38; (14) Dominus ingreditur per clausam portam apud ezechielem Ez. 44, 1–2), die Darbringung im Tempel mit der Überbringung Samuels zum Tempeldienst (xVI. Oblatum in tempo virgo mater filium tradit Symeoni, Luk. 2, 27–28; (3) Anna Samuelem filium suum oblatum in Sylo tradit Heli sacerdoti, 1.Sam., 24–25), die Kreuztragung Christi mit der Opferung Isaaks (xCIx. Baiulat sibi crucem Jesus, Luk.19, 17; (2) Ysach portat sibi ligna pergens cum padre ad immolandum, 1. Mos. 22, 6) und die Kreuzigung mit der Aufrichtung der ehernen Schlange (CI. Crucifigur Christus, Mt. 27, 35; Mc. 15, 24; Luk. 23, 33; Joh. 19, 18; (13) Serpens eneus exaltatus in deserto sanat vulneratuos ab ignitis serpentibus, 4. Mos.21, 9) entnommen worden sein. Ausschließliche Quelle war die aus England stammende und auf zisterziensische, genauer
auf Anschauungen des Abtes von Clairvaux zu Bildern bezugnehmende Schrift des Pictor aber nicht. Es sind mehrere Quellen für das typologische Programm des Doberaner Hochaltars vorauszusetzen. Seit dem 12. Jahrhundert sind ausführliche typologische Bildprogramme überliefert, das auf Abt Sugerius von St-Denis zurückgehende für die Ausstattung seiner Klosterkirche hält man für eines der ersten und ältesten. Vom Klosterneuburger Altar des Goldschmieds und Emailmalers Nikolaus von Verdun war schon die Rede. Im 13. Jahrhundert häufen sich illustrierte Bücher mit typologischem Inhalt. Die Bible moralisée ist die bekannteste französische Kreation mit einer Unzahl von schriftlich kommentierten Bildern, je acht auf einer Seite. „Die Bible moralisée gehört (jedoch) nicht zu den typologischen Bilderschriften, die immer von einem Leben-JesuZyklus ausgehen“18. Vielmehr handelt es sich um eine „typologisch-moralische Bearbeitung“, wobei aber immer der Bibeltext der Ausgangspunkt ist19. Deshalb finden sich in ihr durchaus auch klassische typologische Bildpaare, die als Vorlagen für anderweitige künstlerische Verwendung vorstellbar sind. Eine dem Pictor in carmine als Vorbild folgende, in österreich nach der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene und aus Chorherrenstiften und Zisterzienserklöstern stammende typologische Schrift ist die nach der Vision des Propheten Ezechiel (Hes. 1, 15–21) so benannte Rota in medio rotae. Für bayrischen Ursprung hält man die Biblia Pauperum. Sie gehört zu den in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandenen und bebilderten typologischen Büchern. In ihr sind zwei und mehr alttestamentarische Typen, aber auch solche aus der Geschichte oder aus der Natur dem einen Antityp aus dem Neuen Testament zugeordnet20. Das ist ebenso im Heilsspiegel (Speculum humanae salvationis) von 1324 aus dem Straßburger Dominikanerkloster oder in der Concordantiae caritatis aus dem Zisterzienserkloster Lilienfeld von 1345–51 der Fall21. Dies sind nur einige der bekannten typologisch bebilderten Bibelformen. Es sind klösterliche Schöpfungen, die Entstehung der Bibles moralisées wird im Auftrag des französischen Hofs vermutet22. Im zisterziensischen Bereich war um 1200 der bilderlose Pictor in carmine geschrieben worden mit Empfehlungen für typologische Bildprogramme23. 138 neutestamentarische Antitypen sind verzeichnet mit zwei (zur Kreuztragung) bis zu 21 alttestamentarischen Typen (zur Verkündigung der Geburt Christi). In der Schriftform waren sie wohl zur Auswahl für monumentale Zyklen gedacht, eine Illustrierung des Buches hätte ins uferlose Bilderchaos geführt. Die Lilienfelder Concordantiae caritatis hat eine an
Abb. 27. Hochaltarretabel, schematische Darstellung
der Biblia Pauperum orientierte Bilderordnung nach den Festen des Jahres geschaffen, nun zur individuellen Lektüre des Bibeltextes und zur privaten Andacht, wie sie im 14. Jahrhundert anfing, gepflegt zu werden. Seit dem 15. Jahrhundert fanden die typologisch bebilderten Bibeln durch den aufkommenden Buchdruck weitere Verbreitung. Dass wir in ihnen Bilder und Bildgruppen finden, die auch in den Ausstattungen zisterziensischer Kirchen begegnen wie in Doberan, versteht sich von selbst. Die zweite Phase der bildkünstlerischen Ausstattung in der Klosterkirche von Doberan liegt im dritten Drittel des 14. Jahrhunderts, die Weihenachricht von 1368 steht für die Vollendung der Hauptstücke. Wir richten den Blick auf den Lettner- oder Kreuzaltar und auf das Triumphkreuz (Abb.
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Abb. 28. Triumphkreuz und Kreuzaltarretabel von Westen (Christusseite)
Abb. 29. Triumphkreuz und Kreuzaltarretabel von Osten (Marienseite), schematische Darstellung
Abb. 30. Triumphkreuz und Kreuzaltarretabel von Westen (Christusseite), schematische Darstellung
25, 28). Die stilistische Zugehörigkeit zum Werkumkreis des Meisters Bertram aus Hamburg durch die ältere Forschung hatte über längere Zeit Gültigkeit, wird aber neuerlich in Zweifel gezogen, zumindest aber relativiert24. Die typologische Erzählfreudigkeit dagegen scheint zur Doberaner Tradition geworden zu sein. Die Bestandteile – zwei Flügelretabel und das auf beiden Seiten mit szenischen Reliefs und den Monumentalfiguren von Christus und Maria versehene Kreuz – bilden innerhalb der liturgischen Ausstattung ein inhaltlich determiniertes Ganzes. Vom architektonischen Aufbau her erscheint das Retabel als Sockel für das monumentale Kreuz; man assoziiert Sugerius’ Goldenes Kreuz, und der typologische Bildschmuck tut das umso mehr. Die Ikonographie, die typologischen Bilderpaare oder -zyklen dürften wieder den einschlägigen Schriften entnommen sein,
die inzwischen zahlreicher und bebildert vorlagen, auch die zisterziensischen Ursprungs wie die Concodantiae caritatis. Was im Pictor in carmine als möglichem Anreger zu finden ist, sei wieder angegeben. Die Marienseite des großen Kreuzes ist nach Osten zum Mönchschor gerichtet (Abb. 25, 29). Das zugehörige Retabel hat hier keine Mensa unter sich, eine Altarfunktion ist also nicht wahrscheinlich. Flügel und Schrein enthalten szenische Reliefs, neutestamentliche Antitypen mit je einem alttestamentlichen Typ, auf dem linken Flügel die Verkündigung an Maria mit der Ankündigung an Gideon, einen Sieg zu erringen (nicht im Pictor, aber in der Darmstädter Handschrift 2505 des Speculum humanae salvationis), im Schrein die Geburt Christi mit Moses vor dem brennenden Dornbusch (wie am Hochaltar, im Pictor I. wie auch in anderen
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Abb. 31. Kreuzaltarretabel von Westen (Christusseite), rechter Flügel, Verspottung Hiobs und Dornenkrönung
Schriften zur Verkündigung) und die Darbringung im Tempel, der die Darbringung Samuels zum Priester Eli (im Pictor xVI (3)) auf dem rechten Flügel zugehört. Der zweiten Szene auf dem rechten Flügel, der Flucht nach Ägypten, fehlt der Typ des Alten Testaments aus Platzgründen. Nicht in den christologischen, sondern mehr in den marianischen Zusammenhang gehört am rechten Ende des Kreuzbalkens Ezechiel vor der Porta clausa und gegenüber am linken Ende der grünende Stab des Aaron, beides symbolische Hinweise auf die Jungfräulichkeit Mariens und Typen für die Verkündigung und die Geburt Christi (im Pictor I (14) und VIII (10)), zu denen auch, Moses vor dem Dornbusch, der nicht verbrennt, gehört, gewissermaßen in einer die Horizontale typologisch und die Vertikale historisch kombinierenden Bedeutungsgebung. Über dem Mosesrelief am Fuße des
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Kreuzstamms folgen aufsteigend das Quellwunder Moses (im Pictor zum Lanzenstich CV (2)), die beiden Kundschafter aus Kanaan mit der großen Traube (im Pictor zur Kreuzigung C I (11)), und Judith mit dem Haupt des Holofernes (im Pictor zur Heimsuchung II (4) und zur Taufe Christi xLVIII (14)) als Typen für die Antitypen des Marienlebens und der Passion, doch wohl gleichzeitig mit der Bedeutung, auf die Schmerzen Mariens hinzuweisen. Offenbar sind auch die auf dem Kreuz der Marienseite verteilten Symbole der Evangelisten in diesem Sinne zu verstehen. Man hätte sie eher auf der Seite mit dem Kruzifix erwartet25. Am oberen Abschluss des Kreuzbalkens endet das Programm mit den Darstellungen der Esther, die den König Ahasver um die Freiheit für ihr Volk bittet (im Pictor zur Geburt Christi VIII (13)), und der Marienkrönung. Die Christusseite ist dem Konversen- und Laienbereich im Westen der Klosterkirche zugewandt (Abb. 28, 30). Im Retabelsockel des Kreuzes sind auf den Flügeln je zwei Bildfelder mit Reliefs, links Christi Gebet am ölberg und das des Elias auf dem Berge Karmel (im Pictor LxxxVIII (2)), rechts die Dornenkrönung und die Verspottung Hiobs (im Pictor xCVII (2)) als eindeutige typologische Bildpaare dargestellt und schon vom Hochaltar bekannt, im Schrein dagegen die Handwaschung des Pilatus und die Kreuztragung, die den Sündenfall als einen der 17 Typen im Pictor in carmine zum Antitypus Kreuzigung (CI (2)) flankieren (Abb. 31, S. 2). Die anderen folgen über dem Sündenfall, analog zu Moses vor dem brennenden Dornbusch auf der Marienseite am Kreuzesstamm aufsteigend, die versuchte Opferung Isaaks durch Abraham (CI (5)) zur Kreuzigung, Jakobs Kampf mit dem Engel (CIIII (2)) zum Gebet Christi für seine Mörder (Luk. 23, 34), Samson mit den ausgebrochenen Toren der Stadt Gaza (CVIII (6)) zur Höllenfahrt und die opfernden Melchisedek und Abel (LxxxVII (1)) zum Abendmahl, weiter an den Querbalken links die Aufrichtung der ehernen Schlange (CI (13)) noch einmal zur Kreuzigung und rechts der Sieg Davids über Goliath (im Pictor zur Versuchung Christi (xxx (4)). Moses, wie er das bittere Wasser von Mara in süßes verwandelt (xCIx (4)) und Elias, der die Witwe von Sarepta trifft (xCIx (6)), beide zur Kreuztragung sowie die Zeugenversiegelung (Off. Joh. 7, 3) beschließen am oberen Ende die Typenreihe, die sich auf die Ereignisse der Passion um die Kreuzigung beziehen. Auf beiden Seiten des Kreuzes auf dem Doppelretabel, an der Stelle in der Kirche, wo sich üblicherweise ein Lettner mit dem Kreuzaltar davor befunden hat, begegnet die Vielzahl der alttestamentarischen Typen zu einem Antityp des
Neuen Testaments, wie sie in den typologischen Schriften, bebildert oder ohne Bilder wie im Pictor in carmine, anzutreffen sind. Die Übereinstimmung mancher Bildpaare des Kreuzaltars mit denen am Retabel auf dem Hochaltar und am Kelchschrank lässt an die Benutzung gleicher Text- und Bildquellen denken, die möglicherweise in Doberan selbst oder einem benachbarten Kloster vorhanden waren, wobei hierfür im 14. Jahrhundert nicht nur Zisterzienserklöster in Frage gekommen sein müssen. Die Bettelorden benutzten für ihre Bildausstattungen gerne die Typologie, besonders in der Glasmalerei26. Man könnte sich das Goldene Kreuz in St-Denis aus dem 12. Jahrhundert, dem Doberaner Kreuzaltar ikonographisch ähnlich, als mögliches Muster vorstellen, wenn zu Recht, dann hätten wir in Doberan das einzige erhaltene Beispiel einer Nachfolge der untergegangenen Kreation des Sugerius vor uns. Vom Ausgang und der Zielsetzung meiner Betrachtung müsste es denkbar sein, dass Sugerius die Typologie als Darstellungsform gewählt hat, um der Invektive Bernhards gegen Bilder, die er doch wohl kannte, zu begegnen. Die Konsequenz, mit der an den beiden Hauptstücken der liturgischen Ausstattung in der Doberaner Klosterkirche die Typologie bildkünstlerisch zum Vortrag gekommen ist, in zwei Entstehungsphasen, die zeitlich über mehr als zwei Generationen auseinanderliegen, lässt auf eine traditionsverbundene Führung der Kommunität schließen. Wir wissen nicht um die Autoren der Bildprogramme, auch nicht um die Fähigkeit der Rezipienten, diese Programme allein durch die Anschauung zu „lesen“ und zu verstehen. Doberan war aber kein unbedeutendes Kloster. Seine Architektur, nicht nur die vielleicht doch mehr der Gotik der Hansestädte verbundene und lokal verankerte Kirche, sondern vor allem die noch erhaltenen und möglicherweise älteren Gebäude der Wirtschaft, der „Große Speicher“ und das „Kornhaus“, machen das deutlich und weisen auf internationalen Kontakt, auf Frankreich und England gleichermaßen27. Der intellektuelle Charakter der inhaltlichen Gestaltung und die künstlerische Qualität der liturgischen Kirchenausstattung mögen den gleichen Einflüssen zu verdanken sein.
Freiberg in Sachsen. Die neue Zisterze geriet Anfang des 14. Jahrhunderts mit Teilen der Niederlausitz an die Markgrafschaft Brandenburg, kam aber 1370 an das Königreich Böhmen unter Karl IV. Durch die Bindung an Böhmen blieb das Kloster in der Zeit der Reformation von einer Aufhebung verschont, auch als die Lausitzen 1635 an das damals noch lutherische Kurfürstentum Sachsen gefallen waren. Kurfürst Johann Georg I. (1611–1656) hatte im Prager TraditionsRezess den lausitzischen Klöstern Marienthal, Marienstern und Neuzelle, die einer 1616 geschaffenen Ordensprovinz der Zisterzienser „Böhmen, Mähren und Lausitz“ angehörten, den Fortbestand garantiert. Neuzelle fiel der Säkularisierung erst 1817 zum Opfer, nach dem die Niederlausitz aufgrund der Beschlüsse des Wiener Kongresses Preußen zugeschlagen worden war28.
ZU NEUZELLE Das Zisterzienserkloster Neuzelle, zwischen Eisenhüttenstadt (früher Fürstenberg) und Guben nahe der Oder gelegen, hat 1268 Heinrich der Erlauchte, Markgraf von Meißen, gegründet als Filia des wettinischen Hausklosters Altzella bei
Abb. 32. Neuzelle, Klosterkirche, schematische Darstellung der Deckenmalerei
Die mögliche Bedeutung der Typologie für die bildkünstlerische Ausstattung von Zisterzienserkirchen – Doberan und Neuzelle | 59
Kirche und Kloster sind als Backsteinbauten im 14. Jahrhundert errichtet worden und im Kern der heutigen barocken Anlage erhalten. Schon nach Zerstörungen infolge eines Hussiteneinfalls 1429 sind die Baulichkeiten während des 15. Jahrhunderts erneuert worden. Die entscheidenden Veränderungen erfolgten erst nach dem Dreißigjährigen Krieg, nun im Stil böhmischen Barocks des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Innere der Kirche verlor schon im 17. Jahrhundert den spätgotischen Charakter. Unter den jetzigen Stuckgewölben ist die spätgotische Netzwölbung noch vorhanden. Ihre Verkleidung ist eigentlich nur erklärlich aus der Absicht, geeignete Flächen für geplante Malereien zu erhalten. Als führender Stuckateur wird ein Italiener Giambartolomeo Cometa, vermutlich aus Prag kommend, genannt, und 1654–1658 schuf Giovanni Vanetti, ein Landsmann von Cometa, die Malereien auf den Gewölbefeldern der sieben Joche – laut den Inschriften JOeS VANet ItALUS feCIt Inceptum Anno M.D.C.LIV Perfectum Anno M.D.C.LVIII.
Abb. 33. Neuzelle, Klosterkirche, Mittelschiff nach Osten
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Ein typologischer Leben-Christi-Zyklus von der zwar verlorenen, aber erschließbaren Verkündigung bis zur Himmelfahrt zieht sich im Mittelschiff mit je zwei zugeordneten alttestamentarischen Vorbildern in den Seitenschiffen von Ost nach West über das Gewölbe (Abb. 32). Wir haben es also mit einem Programm nach dem traditionellen Muster typologischer Bilderzyklen und bebilderter Bücher zu tun, wobei die Auswahl der Bilder überraschende Verwandtschaften mit dem Zyklus des Klosterneuburger Altars aus dem 12. Jahrhundert erkennen lässt. Abt Martinus Graff (1727–1741) hat an das Mittelschiff der spätgotischen Halle einen einschiffigen Chor mit Apsis anbauen lassen (Abb. 33), wodurch der ursprünglich mit geradem Ostschluss endende, richtungsindifferente Rechteckraum in einen richtungsdeterminierten „Wegebau“ verwandelt wurde. Das Gewölbe des neuen Chores erhielt an das Mittelschiff zwei formgleich anschließende Felder mit den Bildern vom Lobpreis Gottes (te Deum Laudamus) und von Gottes Heilsratschluss. Letzteres Bild reicht bis in das erste Mittelschiffsjoch und hat dort das Bild von der Verkündigung an Maria als dem ersten in der Christus-LebenReihe verdrängt. Das einstige Verkündigungsbild kann aber durch die zwei alttestamentlichen Typen in den flankierenden Seitenschiffsjochen erschlossen werden. Im nördlichen Seitenschiff ist es die Ankündigung der Geburt Isaaks an die Eltern Abraham und Sara und im südlichen die Ankündigung der Geburt des Samson an die Frau des Manuoch durch den Engel des Herrn. Hier begleiten die Typen aus dem Alten Testament, aus den Zeiten ante legem und sub lege, den Antityp im Neuen Testament aus der Zeit sub gratia gemäß der Zeitentrias, also in gleicher Weise wie auf dem Klosterneuburger Altar. Und im Pictor in carmine finden sich die gleichen Typen, Nummer 2 und 14 von den 21 dort angebotenen, zum Antityp I, der Verkündigung an Maria. Der Zyklus endet an der Westseite der Kirche mit der Himmelfahrt Christi (im Mittelschiff über der Orgel) zwischen der Aufnahme Henochs in den Himmel im nördlichen und der Fahrt des Elia zum Himmel im südlichen Seitenschiff (Abb. 34). Wieder entspricht die Bildgruppe mit der Einhaltung der Zeitentrias und der Verwendung der für den Antityp gewählten Typen wörtlich der zur Himmelfahrt auf dem Klosterneuburger Altar wie auch dem Angebot des Pictor. Im Ganzen scheint die Zeitentrias derart berücksichtigt, dass im nördlichen Seitenschiff die Bilder aus der Zeit ante legem und im südlichen die aus der Zeit sub legem zur Darstellung gekommen sind, die die Bilder aus der Zeit sub gratia analog zum Klosterneuburger Altar zwischen sich nehmen.
Abb. 34. Neuzelle, Klosterkirche, Mittelschiff: Geburt Christi, Taufe, Abendmahl, Kreuzigung, Grablegung
Dem Entwerfer oder Autor des Programms für die Gewölbemalereien in Neuzelle müssen traditionelle Quellen, die bis auf das 12. Jahrhundert zurückgeführt werden können, zur Verfügung gestanden haben, auch wenn sich nicht alle Vorbilder oder Präfigurationen für die darzustellenden Typen nachweisen lassen. Andererseits kann man wohl ebenso davon ausgehen, dass der gebildete Programmschöpfer selbständig Vorbilder gewählt und neue gefunden hat. Bauherr
war Bernhard von Schrattenbach, er könnte der Erneuerer des Inneren der Klosterkirche von Neuzelle, der Initiator (und Autor?) des Bildprogramms in dieser althergebrachten Form der Typologie gewesen sein29. Die Zeitentrias, ante legem, sub legem, sub gratia, anscheinend obligatorisch und seit dem Klosterneuburger Altar in der monumentalen Ausstattung nachweisbar, ist in Doberan nicht ersichtlich. Die strikte Einhaltung der Zeitentrias
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Abb. 35. Neuzelle, Klosterkirche, Mittelschiff, Kreuzigung
scheint keine Bedingung gewesen zu sein30. Auch der Pictor berücksichtigt sie ja nicht. Am Hochaltar stehen jeweils nur ein Typ im unteren Register mit seinem Antityp im oberen zusammen – die Ausnahme haben wir benannt. Aber am Kreuzaltar oder, genauer, an der Christusseite des Triumphkreuzes findet sich gleich eine Serie von Typen aus dem AltenTestament für den neutestamentarischen Antityp Christus am Kreuz oder die Kreuzigung Christi (Pictor CI). Die Menge von Typen auf einen Antityp zu bringen ist also möglich gewesen, ebenso wie auch nur mit einem auszukommen. Ist in Doberan am Triumphkreuz über dem Kreuzaltar ein beliebiges Programm nach den Schriften zusammengestellt oder ist es mit der Kenntnis eines Vorbildes realisiert worden? Hinweise auf das Kreuz des Sugerius in St-Denis fehlen nicht31, und in der Tat finden sich Übereinstimmungen in der Vielzahl von ausgewählten alttestamentarischen Typen für die Darstellung am Kreuz mit dem Corpus Christi in St-Denis. Sugerius schreibt in De administratione: „Den Fuß aber, geschmückt mit den vier Evangelisten und den Schaft, auf dem das heilige Bildnis thront und welcher in feinster Emailarbeit gefertigt ist, die Geschichte des Heilands mit dazu dargestellten allegorischen Zeugnissen des Alten Testaments … konnten wir durch mehrere lothringische Goldschmiede in kaum zwei Jahren vollendet haben“32. Sugerius nennt die „allegorischen Zeugnisse“ des Alten Testaments, die einzelnen Typen nicht. Aber ein im Musée de la
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Ville von St-Omer erhaltenes Emailwerk der Kleinkunst aus dem Kloster St-Bertin im Maasland, der Fuß eines Altarkreuzes, gilt „seit langem als verkleinerte Replik des Fußes von jenem monumentalen Kreuz …“ in St-Denis33. Die alttestamentarischen Präfigurationen zur Kreuzigung von dessen Sockel und von dem ihm aufsitzenden Pfeiler lassen Rückschlüsse auf die entsprechenden Bilder in St-Denis zu: Die Eherne Schlange (4. Mos. 21, 8), Jakob segnet die Söhne Josephs, Manasse und Ephraim (1. Mos. 48, 14), der Tauschreiber, der die Häuser der Juden mit dem Blut des Lammes zeichnet (2. Mos. 12, 7) und das Quellwunder Moses (2. Mose 17, 6), ferner die Kundschafter mit der großen Traube (4. Mos. 13, 23), Elias und die Witwe von Sarepta (1. Kön. 17, 10), Aaron als Tauschreiber (Hes. 9, 4) und Isaak mit dem Holzbündel auf dem Weg zur Opferung (1. Mos. 22, 6)34. Von den acht genannten alttestamentarischen Bildern sind vier auch am „Schaft“ des Kreuzes in Doberan vorhanden. Bei den Beispielen von St-Denis und von StBertin aus dem 12. Jahrhundert fehlt die am annähernd gleichzeitig entstandenen Klosterneuburger Altar so prägnant vorgetragene Ordnung nach der Zeitentrias, was aber offensichtlich die Gültigkeit der Bildaussage nicht in Frage gestellt hat, ebenso wenig wie das Fehlen von Tituli, die den Bildern hätten beigefügt sein müssten, was für verschiedene Autoren als Argument für die Annahme dient, dass der Pictor in carmine auf die Wahl von typologischen Bildpro-
grammen in Zisterzienserkirchen keine Wirkung gehabt habe35. Umso mehr erstaunt es, dass mehrere Jahrhunderte später, in Neuzelle im 17. Jahrhundert, die Zeitentrias analog zum Klosterneuburger Altar die Zeitentrias weitgehend eingehalten ist (Abb. 35, 36). Es erklärt sich vielleicht in erster Linie aus der Möglichkeit, am Gewölbe der dreischiffigen Kirche die Dreiergruppen in der althergebrachten Weise realisieren zu können. Andererseits möchte man annehmen, dass die Kenntnis typologischer Bildausstattung aus mittelalterlichen Kirchen noch wach war und dass es sich deshalb um einen bewussten Rückgriff auf eine Tradition, ein Vorgang, der doch noch einmal mehr den Gedanken nahelegt, dass es für die bildende Kunst bei den Zisterziensern eine Präferenz für typologische Bildprogramme gegeben hat.
ABSTRACT It is well known that the Cistercians wouldn’t allow imagery in their churches. Abstinence from images in a religious context corresponded to the reform monasticism’s reflection on early Christianity and was an expression of its elite consciousness. However, the order’s leadership was soon confronted with the desire for images in the monastic communities. With the help of the typology customary since the time of the church fathers, comparing the exemplary prototype in the Old Testament with the fulfilment and completion in the New Testament as a rational intellectual understanding of the history of salvation, one found the compromise in order to be able to counteract an unallowed image worship. In Doberan, the typologically determined furnishings of the
Abb. 36. Neuzelle, Klosterkirche, nördliches Seitenschiff, Moses erhöht die Schlange, Josef wird von seinen Brüdern in den Brunnen geworfen, das Kind Moses wird aus dem Nil gerettet
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monastery church have remained uniquely consistent to this day, and it has always been at the centre of art-historical investigations on the subject. The rarity of such pictorial equipment does not have to speak against the assumption of widespread dissemination, it is rather the result of post-medieval purification. The fact that there exists a tradition of
pictorial typology among the Cistercians is suggested by the Pictor in Carmine, a nonetheless pictorial recommendation for the use of typology, and illustrated writings from the Order (Concordantiae caritatis, Heilsspiegel) as well as by the decoration of the church of the Cistercian monastery Neuzelle in Lower Lusatia during a renewal in the 17th cen-
ANMERKUNGEN
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GOPPELT 1939, S. 4f.; Grundsätzlich und mit dem Versuch einer terminologischen Klärung: THÜMMEL 1972, S. 195–222.; BLOCH 1969, S.127–142; OHLy 1988; HOLLÄNDER 1988; MOHNHAUPT 2000 mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen zum Thema. GOPPELT 1939, S. 239ff. EBERLEIN/JAKOBI-MIRWALD 2004, S. 98, wo auch Christi Ankündigung seiner „Höllenfahrt“ und Auferstehung nach drei Tagen unter dem Bild des Jonas, der vom Wal nach drei Tagen wieder ausgespien wird (Math. 12, 38–40), erwähnt ist. Ebenda und JULIUS 1999, S. 12. GOPPELT 1938, S. 7. EBERLEIN/JAKOBI-MIRWALD 2004, S. 96–108 und 118–136; MOHNHAUPT 2000, S. 11 und S. 93–95 widerspricht mit Nachdruck der „weitverbreiteten Auffassung, dass Typologie als vorgeblich theologisches Phänomen in der Kunstgeschichte zum Aufgabengebiet der Ikonographie gehöre“. Wenn die Betrachtung aber ausschließlich der Bildkunst und ihrer Geschichte gilt, wie es bei mir der Fall ist, kann es sich bei der typologischen Bildgruppe oder dem Zyklus auch hinsichtlich des Inhalts nur um einen Gegenstand der Ikonografie handeln. Ebd S. 118. SPEER/BINDING 2000, S. 337–339. BUSCHHAUSEN 1980, S. 20. BUSCHHAUSEN 1980, S. 40. Die entsprechenden Passagen bei BRAUNFELS 1969, S. 297–300. WIRTH 2006. ROLAND 2002. NIKOLAI 1994, S. 29–43, hier S. 32; SWIECHOWSKI 1994, S. 303–310. Vgl. LAABS 2000. Auf den Verlust an künstlerischer Ausstattung von Zisterzienserklöstern in Frankreich verweist WIPFLER 2003, S. 10. RDK VI, Sp. 158, Abb. 4 und Sp. 162–183. LCI 1, Sp. 291 (Reiner Hausherr). RDK II, Sp. 496 (Wilhelm Neuß).
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SCHMIDT 1959. KRENN 2006; ROLAND 2002. HAUSHERR 1998, S. 27; HAUSHERR 2009. JAMES 1951, S. 141–166 (verfasst 1932 als Beitrag zur geplanten, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland nicht mehr zustande gekommenen Festschrift für Arthur Haseloff ). Nach WIRTH 2006, S. 339 (ausgewählte Literatur zum P.i.c.). Zusammenfassend nach der bisherigen Literatur WOLF 2002, S. 135– 138. BEITZ 1926, S. 51 mit Anm. 40: „Die Evangelisten werden nur um Christus und sein Symbol, das Lamm … gruppiert, in äußerst seltenen, theologisch wohl begründeten Fällen auch um die Madonna“. MARTIN/RUF 1997, S. 19–20 beschreibt Frank Martin die drei Apsisfenster der Oberkirche von San Francesco in Assisi mit einem „südlich der Alpen eher seltenen Typologiezyklus“ als Arbeiten einer aus dem Norden stammenden Werkstatt und datiert sie nach 1253 als die ersten Stücke der Bildausstattung. Ebenda S. 20 Anm. 19 eine Aufzählung der „bekanntesten Typologiefenster“, darunter die in den Dominikanerkirchen von Köln, Stetten und Wimpfen und in der Franziskanerkirche von Esslingen. BADSTÜBNER 2015. MAUERMANN 1840, S. 241: „Aufhebungsurkunde des Klosters: Se. Königl. Majestät von Preußen haben mittels allerhöchster Cabinetsordre vom 8. Februar 1817 das in der Niederlausitz gelegene Stift und Kloster Neuzell aufzuheben geruhet“. Über die führende Rolle des Abtes Bernhard bei der Erneuerung von Kirche und Kloster nach dem Dreißigjährigen Krieg s. KUNZ 2011. BUSCHHAUSEN 1980, S. 18, verweist darauf, dass die Schrift „De civitatis“ des Augustinus, in der zahlreiche, später in der Bildkunst angewendete Typologien enthalten sind, nicht nach der Zeitentrias aufgebaut ist, obwohl sie sich in anderen Werken des Kirchenvaters findet. JENSEN 1964, S. 229–277. Zitiert nach SPEER/BINDING 2000, S. 337–339. KöTZSCHE 1972, S. 254. Auch WIRTH 2006, S. 76–93, der aber die Benutzung des Pictor zur
Rechte Seite: Abb. 36a. Detail aus Abb. 21
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DAS BILD DER EUCHARISTISCHEN MÜHLE ALS BEISPIEL MONASTISCHER APOLOGETIK – DIE DOBERANER DARSTELLUNG UM 1415 UND IHRE NACHFOLGE eStHer P. WIPfLer
Das Doberaner Retabel ist der älteste erhaltene Altaraufsatz mit der Darstellung der Eucharistischen Mühle, es zeigt das Motiv auf der mittleren Tafel, die nur bei der Feiertagsöffnung sichtbar war (Abb. 37, 47). Eine derartig zentrale Position erhielt das Motiv sonst nur auf dem Hochaltar in Tribsees aus der Zeit um 14301 und dem Retabel aus Ertingen (bei Riedlingen) im Ulmer Museum, um 14702. Das Retabel in Doberan ist mit etwa 145 cm Höhe und 262 cm Breite3 für einen der mindestens 14 Nebenaltäre bestimmt gewesen4. Der ursprüngliche Aufstellungsort ist nicht überliefert; das Retabel wurde nach Beschreibungen des 18. und 19. Jahrhunderts im ersten Joch des Chorumganges südwestlich vom Hochaltar aufgestellt5.
ZUR ENTSTEHUNG DES MOTIVS Als völlig neue Allegorie wurde um 1400 das Bildthema der Eucharistischen Mühle geschaffen6. Anders als die bereits existierenden eucharistischen Motive wie z. B. der Keltertreter wurde sie nicht aus der Passionsikonographie abgeleitet, sondern aus der Lehre von der Inkarnation des Wortes Gottes entwickelt. Diese wurde zudem in ihrem ekklesiologischen Zusammenhang dargestellt, das heißt als Basis des Selbstverständnisses der Kirche von ihrem Auftrag in der Heilsgeschichte. Diese apologetische Botschaft ist als Reaktion auf die Thesen des Oxforder Theologieprofessors John Wyclif († 1384) gegen die Transsubstantiationslehre zu verstehen, die – 1381 im
Traktat De eucharistia veröffentlicht – auf dem Kontinent gerade um 1400 ihre Wirkung entfalteten. Zu dieser Zeit verbreiteten vor allem die aus Böhmen stammenden Schüler Wyclifs dessen Ideen dort. Laut Wyclif gibt es für die Transsubstantiation keine Grundlage im Evangelium; Brot und Wein der Eucharistie sind als von Christus eingesetzte Zeichen zu betrachten, in denen Christus jedem empfangenden Laien geistlich begegnen konnte. Das Konstanzer Konzil bestimmte 1415, alle Schriften Wyclifs zu verbrennen, und erklärte ihn zum Ketzer. Die Forderung nach der Einführung des Laienkelches formulierte dann der Böhme Jakob von Mies († 1429). Die Umsetzung dieser Forderung in Böhmen hatte zur Folge, dass man auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) auch zur Frage des Laienkelches Stellung beziehen musste. Während man dort derartige Gedanken verdammte, gestand man auf dem Baseler Konzil 1433 den Anhängern dieser Forderung, den Utraquisten beziehungsweise Calixtinern unter der Führung des Prager Erzbischofs Jan Rokyczana († 1471) bereits regional begrenzt den Gebrauch des Laienkelches zu. In dieser Zeit nahmen Mönchsorden wie die Zisterzienser dagegen eine sehr zurückhaltende Haltung ein, indem sie schließlich 1437 selbst den Altardienern, denen bis dato noch außer den Priestermönchen die Kelchkommunion erlaubt war, diese untersagten. So wundert es nicht, dass zu jener Zeit gerade die Zisterzienser das Motiv der Eucharistischen Mühle an der Ostseeküste verbreiteten. Aufgrund der zeitlichen Abfolge und der Verteilung der Darstellung
Linke Seite: Abb. 37. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel, Detail
in dieser Region darf man annehmen, dass die Verbreitung ihren Ausgangspunkt von Doberan aus nahm und weiterhin vom Zisterzienserorden getragen wurde.
VORKOMMEN UND VERBREITUNG Das Motiv der Eucharistischen Mühle tritt fast ausschließlich im deutschsprachigen Raum auf: Von den insgesamt 26 unterschiedlichen Darstellungen der Eucharistischen Mühle in allen Kunstgattungen, die mittlerweile bekannt sind7, lassen sich zehn dem Bereich der Tafelmalerei und der gefassten Skulptur zuordnen. Diese befinden sich fast alle in Mittelund Nordostdeutschland. Im süddeutschen Raum tritt das Motiv sehr früh und vor allem in der Wandmalerei auf – das älteste Beispiel befindet sich in der Wallfahrtskirche Unserer Lieben Frau in Eriskirch am Bodensee und ist als Stiftung der Grafen von Monfort wohl um 1410 entstanden8. Dieser Befund lässt sich nur mit Vorsicht deuten, denn gerade in Südwestdeutschland ging durch Bildersturm und Bauernkrieg viel Inventar verloren, möglicherweise überlebten deshalb nur die Wandgemälde bis auf das Retabel, das im Ulmer Museum bewahrt wird.
DAS BILDSCHEMA UND SEINE BEDEUTUNG Eine der ersten sicher datierten bildlichen Darstellungen ist die ganzseitige unkolorierte Federzeichnung in der sogenannten Mettener Armenbibel. Sie wurde offenbar im Jahr 1415, nach Robert Suckale von einem Maler aus dem Atelier des Josua-Meisters, auf einer Leerseite nach dem letzten Kapitel des Johannesevangeliums und vor dem Liber de laudibus Sanctae Crucis des Hrabanus Maurus – also ohne Bezug zu einer bestimmten Textstelle – eingefügt9. Die Zeichnung zeigt die vielfach variierte Struktur der Allegorie, die auch der Doberaner Darstellung zugrunde liegt: Sie ist durch einen mehrzonigen Aufbau geprägt, dessen Leserichtung von oben nach unten verläuft. Die Komposition wird mit der Szene der Verkündigung eingeleitet. Darunter entleeren die anthropomorph gestalteten Evangelistensymbole die länglichen Säcke, die an Spruchbänder erinnern, in den Trichter einer Mühle im Zentrum des Bildes. Mit der Wahl der Symbole anstelle der Autoren selbst wurde das Höchstmaß an Abstraktion gewählt, das auf die Evangelien und damit auf das geschriebene Wort hinweist.
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Die nächste Ebene der Allegorie ist den zwölf Aposteln vorbehalten, von denen die Mühle angetrieben wird. Gewissermaßen als ‚Erzeugnis des Mahlvorgangs‘ geht aus der Mühle das Christuskind hervor, das von den vier Kirchenvätern in einem Kelch empfangen wird. Zahlreiche Schriftbänder ergänzen die Allegorie. Sie sind hier ohne Text geblieben. Die Ebenen des Bildes lassen sich von oben nach unten als Weg der Vergegenwärtigung des Wortes Gottes in der Welt und damit auch als Bild kirchlichen Selbstverständnisses lesen: Verkündigung an Maria, Inkarnation und Verbreitung des Evangeliums und zuletzt die andauernde Präsenz der Heilsgeschichte in der Eucharistie durch die institutionalisierte Kirche. Die Schriftbänder haben hier keineswegs nur eine erläuternde oder bedeutungserweiternde Funktion, sondern sind Träger des Bildgedankens, wie sonst nur selten in der Bildenden Kunst. Die Kirchenväter, die als Papst, Kardinal und Bischof gleichzeitig Vertreter der kirchlichen Hierarchie darstellen, empfangen das im Mahlvorgang zur Eucharistie gewordene Wort von den Evangelisten, fungieren aber auch als dessen zweite Exegeten – darauf deuten die Schriftbänder hin. Die Mühle selbst verweist auf einen Vers im Lukasevangelium (17, 35): „Von zwei Frauen, die mit derselben Mühle Getreide mahlen, wird die eine mitgenommen und die andere zurückgelassen“. Dies wurde im Mittelalter als Konkordanz zwischen Ecclesia und Synagoge interpretiert und auch z. B. in Vézelay im 12. Jahrhundert so dargestellt. Ein solcher Zusammenhang wurde in der Eucharistischen Mühle jedoch nicht so explizit hergestellt. Es geht nahezu ausschließlich um Ecclesia, die Kirche. Die Mühle, die zur Herstellung des grundlegenden Lebensmittels Brot dient, verweist jedoch eindeutig auf die existenzielle Bedeutung des gewandelten Wortes in Anlehnung an Johannes 6, 51: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (ich gebe es hin) für das Leben der Welt“. Insofern ist die Miniatur auch ein Bildkommentar zum Johannesevangelium, das mit den Worten In principio erat verbum beginnt und in Vers 14 den Inkarnationsgedanken enthält: et verbum caro factus est. Einen klar definierten Kontext besitzt das Motiv in der Initiale des Introitus zum ersten Adventssonntag eines zisterziensischen Graduales, das ungefähr gleichzeitig oder sogar etwas früher, um 1400, entstanden ist. Es befand sich zuletzt im Zisterzienserinnenkloster Gnadenthal im Aargau, stammt
Abb. 38. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel, Detail: Evangelisten
aber sicherlich ursprünglich aus einem böhmischen Zisterzienserkloster, man vermutet u. a. das Kloster Königssaal10. Bei dieser Position des Motives wird eindeutig auf die Inkarnation verwiesen. Sowohl die Mettener Darstellung als auch die Gnadenthaler Initiale lassen sich aufgrund ihres stilistischen Befundes nach Böhmen lokalisieren. Martin Schawe hielt daher eine böhmische Provenienz des Bildmotivs für möglich und nahm eine Entstehung im Kreise deutscher Magister an der Prager Universität an. Im böhmischen Kerngebiet selbst haben sich allerdings keine Beispiele dieser Ikonografie erhalten, möglicherweise aufgrund des hussitischen Bildersturms. Wenn man die wohl mindestens gleichzeitigen, aber vielleicht auch früheren Darstellungen im Südwesten betrachtet (Eriskirch, Worms), die aber nicht so systematisch aufgebaut sind, gab es das Motiv schon, auf jeden Fall in der volkssprachlichen Überlieferung; in Prag könnte daher allenfalls eine weitere Schematisierung des Bildmotivs stattgefunden haben. Sicherlich ging es dabei einerseits um die Festigung der Glaubensinhalte bei den Betrachtern, aber wohl andererseits auch um die Selbstvergewisserung bei den Auftraggebern selbst.
DIE MERKMALE DER DOBERANER DARSTELLUNG Die Doberaner Mühlen-Darstellung zeichnet sich durch ein ikonographisches Motiv aus, das auf keinem anderen Mühlenbild verwendet wurde: In der oberen, hier durch den Goldgrund hervorgehobenen Zone, wo in anderen Mühlenallegorien die Verkündigung an Maria dargestellt ist, befindet sich nun ein Bild mit der Weissagung der tiburtinischen Sibylle: In der linken Bildhälfte sieht man den Kaiser Augustus und die Sibylle (Abb. 39), wie sie auf die rechte Seite mit dem Bild ihrer Vision, die Maria mit dem Kind (Abb. 40), hindeutet. Dies entspricht der ikonographischen Tradition für die Darstellung der Ara-coeli-Legende, wie sie in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine überliefert wird. Diese Vision war die Antwort der Sibylle auf die Frage des Herrschers, ob je ein größerer Mensch als er geboren werden würde. Die Szene wurde als Ankündigung der Geburt Christi verstanden. Damit wurde indirekt auf die Verkündigung an Maria verwiesen, die ja auf dem Retabel in Doberan nicht eigens verbildlicht ist. Doch scheint das Ara-coeli-Motiv nicht nur um seines typologischen oder marianischen Gehaltes willen ausgewählt
Das Bild der Eucharistischen Mühle als Beispiel monastischer Apologetik – Die Doberaner Darstellung um 1415 und ihre Nachfolge | 69
worden zu sein, sondern es korrespondiert mit den anderen Szenen des Gesamtprogramms, in denen ein weltlicher Herrscher zu den Antagonisten gehört. Dies war gerade in Doberan, Ort der Grablege der mecklenburgischen Herzöge, von denen Albrecht III. († 1412) die schwedische Krone erlangte, nicht ohne Brisanz: Albrecht wurde nicht nur von Margarethe von Dänemark 1389 im Kampf um dessen Thron besiegt, sondern musste auch die darauffolgenden sechs Jahre in Gefangenschaft verbringen. Darüber hinaus eignete sich das Ara-coeli-Motiv auch als versteckter Hinweis auf die Vita des wichtigsten Ordensheiligen Bernhard von Clairvaux, wie sie ebenfalls in der Legenda aurea überliefert ist. Danach habe Bernhard eine vergleichbare Vision der Ge-
burt Christi gehabt, die ihn zu seinem Weihnachtskommentar Missus est angelus gabriel inspiriert haben soll. Der Text des Lukasevangeliums, der mit diesen Worten beginnt, wird bis heute am Fest der Verkündigung, am 25. März, gelesen. Vor diesen Hintergründen erscheint die Abwandlung des ikonographischen Bildschemas in der Zone der Verkündigung gerade durch das Ara-coeli-Motiv äußerst absichtsvoll. Bei der Doberaner Darstellung sind noch weitere signifikante Abweichungen von der bekannten Ikonographie der Darstellung der Eucharistischen Mühle zu erkennen: Die Repräsentanten der vier Evangelien schütten ihre Zitate aus Krügen und nicht aus Säcken in den Mühlentrichter (Abb.
Abb. 39. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel Detail: Kaiser Augustus und die Tiburtinische Sibylle
Abb. 40. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel Detail: Ara-coeli-Motiv
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38)11. Auch bei späteren Darstellungen wie jenen in Tribsees, Rostock, Bern, Beinstein und Padua finden sich ikonographische Elemente wie Krüge, Schleusen oder Wasserströme. Dies verweist auf die Ikonographie der vier Paradiesflüsse, wie sie beispielsweise auf Taufbecken (z. B. in Rostock, St. Marien, um 1290 etc.) dargestellt werden. Im niederdeutschen Mühlenlied werden sie sogar explizit genannt. Die Paradiesflüsse wurden schon von den Kirchenvätern typologisch mit den Evangelisten in Beziehung gesetzt. Die vier Flüsse verweisen einerseits auf die Schöpfung (vgl. Gen 2, 10–14) und damit den Heilsplan als Ganzes, sind aber auch Sinnbilder für die allumfassende Verbreitung der Lehre Christi in der Welt12. Der die Zone der Evangelistensymbole abschließende Regenbogen, Sinnbild für den Alten und Neuen Bund des Menschen mit Gott, unterstreicht dies noch einmal. Betrachtet man nun die nächste Zone der Mühlendarstellung in Doberan, so verdienen insbesondere die Texte der Spruchbänder, welche die Evangelisten in die Mühle schütten, Beachtung. Wie schon Renate Krüger erkannte13, bauen die Zitate der Evangelisten – Johannes: In principio e[r]at v[er]bu[m] et (Jo 1, 1); Matthäus: No[n] o[mne]s capiu[nt] v[er]bu[m] istud (Mt 19, 11); Lukas: Vid[e]a[mus] h[o]c v[er]bu[m] q[uod] fa[ct]um est (vgl. Lk 2, 15); Markus: Qui seminat verbum seminat (vgl. Gal 6 ,8) – aufeinander auf und bedingen sich gegenseitig: Zuerst ist mit Johannes 1, 1 vom Wort die Rede, dem Logos, der vor allem anderen existierte. Der johanneische Logos-Begriff zeichnet sich, wie das im folgenden Text deutlich wird (Jo 1, 14), durch eine ausschließliche Christus-Bezogenheit aus, das heißt der Logos ist nach Johannes und nur hier so eindeutig mit dem präexistenten Christus gleichzusetzen. Dem folgenden Zitat nach wird der Logos nicht von allen Menschen erfasst. Deshalb wird die Veranschaulichung in Form der Inkarnation notwendig. Anschließend erfolgt die Aufforderung, Zeuge der Inkarnation des Wortes zu werden. Die Schlussfolgerung aus der Zeugenschaft wird dem Markussymbol zugeordnet: Sie besteht in der Verbreitung der Lehre, die passend zum Mühlensymbol im Saatgleichnis nach dem Galaterbrief veranschaulicht wird, wofür es eine Parallele im Markusevangelium (Mk 4, 14) gibt. Aus der Mühle führt ein Schriftband in den Kelch mit dem Wortlaut: [verb]um caro factum est et habitavit i[n] nobis, et vidi[mus] gloriam e[ius] (Jo 1, 14). Hier wird noch einmal der Kern der Lehre verdeutlicht, dass das Wort nun durch die Existenz Christi sichtbar geworden ist (Abb. 41). Bezeichnender Weise landet das Wort im Kelch, nicht das Kind
Abb. 41. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel Detail: Kirchenväter
wie in den anderen Darstellungen, somit wurde noch eine weitere Stufe der Abstraktion erreicht. Als erste Exegeten des Wortes nach den Evangelisten kommentieren die Apostel im Bild den Vorgang mit ihren Worten. Sie stehen dicht gedrängt an den Wellen der Mühle. Ihre Hände umfassen zwar die Stangen, doch erscheint dies mehr als symbolischer Akt, denn für eine handelnde Bewegung wäre bei der Anordnung der Figuren kein Raum. Dieses Element der ostentativen Teilnahme tritt bei den späteren Darstellungen wie zum Beispiel der Miniatur, die wohl um 1420 in das Graduale aus dem Neuwerkskloster der Augustiner-
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Chorfrauen in Erfurt aus dem 14. Jahrhundert eingefügt wurde14, noch stärker auf. Die Hände der Apostel greifen auch dort an, wo es für das Betreiben der Mühle überhaupt keinen Sinn hat. Realistisch ist dagegen die Darstellung der Mühle mit ihrem Mechanismus. Geradezu paradox wirkt es deshalb, dass sie, wenn man die Überschneidung mit dem roten Gewand des Apostels links im Bild betrachtet, zu schweben scheint. Die Standmotive der Apostel erlauben keine eindeutige Zuordnung zu einer Sphäre. „Festen Boden“ unter den Füßen haben jedoch die Kirchenväter und die ihnen nachgeordneten Laien. Dadurch wird nicht nur die transzendente Sphäre von der diesseitigen geschieden, sondern auch die Eucharistie als „Himmelsbrot“ vor Augen geführt, wie es im Hymnus zu Fronleichnam besungen wird15. Die Texte der Spruchbänder der Apostel haben alle das Wort Verbum gemeinsam, es wurde zuweilen sogar erst in das Zitat der Vulgata, an das man sich anlehnte, eingefügt. So verhält es sich zum Beispiel beim Zitat nach dem Markusevangelium (16, 15) und dem 1. Brief an die Korinther (1, 23): Verbum bonu[m] et suave personamus Verbum dei praedicamus o[mn]i creature (vgl. Mk 16, 15) In mansuetudi[n]e suscipite i[n]situ[m] verbum (Jk 1, 21) Verbum abb[re]viatu[m] faciet domi[nus] sup[er] te[rram] (vgl. Röm 9, 28 /Js 10, 23) Hoc v[er]bu[m] q[uo]d p[rae]dicam[us] ch[rist]um c[ru]cifixu[m] (vgl. 1. Cor 1, 23) r[e]nati n[on]ex se[m]i[n]e corrup[tibil]i s[ed] i[n]corrupt[ibili] v[er]bo d[e]i (vgl. 1. Petr 1, 23/1. Cor 15, 42) Co[n]g[r]em[in]i ad v[er]bu[m] i[n]carnatu[m] (?) Man[us] n[os]tre tractav[erun]t de v[er]bo vite (1. Jo 1, 1) Verbu[m] dei multiplicabat[ur] et cresceb[a]t (vgl. Apost 12, 24) Non erit impossibile ap[u]d deum o[mn]e verbum (Lk 1, 37) Sufferatis verbu[m] solacii“ (Hebr 13, 22) Voluntarie genuit nos verbo dei (vgl. Jk 1, 18) Durch die Vermittlung der Apostel nehmen die Kirchenväter den Gedanken von der Inkarnation des Wortes auf. Dies geschieht im Bild durch das Auffangen des Wortes Gloria mit dem Messkelch. Auf jeder Seite steht ein Mönch, der eine Gruppe von Laien anführt. In ihnen dürfen wir wohl die Stifter des Retabels se-
Linke Seite: Abb. 42. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, heraldisch linker Innenflügel Detail: Kaiser Valentinianus, der widerwillig Bischof Martin empfängt
hen. Die Spruchbänder in den Händen der Mönche bestätigen noch einmal das im Bild Veranschaulichte: Non lib[er]aretur gen[us] hu[m]anum nisi verbu[m] dei fieret homo und Opus r[e]stauracion[i]s no[st]re est incarnacio verbi d[e]i (Das menschliche Geschlecht könnte nicht befreit werden, wenn nicht das Wort Gottes Mensch geworden sei), und noch einmal wird betont: „Das Werk unserer Wiederherstellung ist die Inkarnation des Wortes Gottes“. Die Argumentation verweist auf Augustinus, Hugo von St. Viktor und die Diskussion über die Menschwerdung Christi bei Thomas von Aquin16. Die Mönche machen sich also hier buchstäblich zu Wortführern der Laien! Auf den Flügeln werden weitere Bezüge zur monastischen Welt hergestellt: Die auf dem rechten Flügel dargestellten Szenen lassen sich anhand der Ikonographie und der erhaltenen Inschrift des unteren Bildes in der Vita des Heiligen Martins lokalisieren, wie sie auch in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine beschrieben wird: Oben ist der Kaiser Valentinianus dargestellt, der widerwillig Bischof Martin empfängt (Abb. 42). Als der Kaiser ihm nicht den nötigen Respekt erweisen und sich nicht erheben will, helfen Flammen nach, die aus seinem Thron lodern17. Im unteren Bildfeld ist die Szene dargestellt, in welcher der Teufel, in Purpur und mit Krone als König verkleidet, den Heiligen zu täuschen versucht (Abb. 43). Entsprechend lautet auch die Inschrift: Diabolus cur in me dubitas christus ego sum. Auf diese Frage soll, wie zuerst Peter Eddelin 1664 überlieferte18, der Heilige Martin ‘geantwortet’ haben: Dominus Jesus Christus, non se purpura venturum esse, praedixit (Der Herr Jesus Christus kündigte an, dass er nicht in Purpur kommen werde). Dieser Teil ist nicht mehr erhalten. Der Dialog entspricht nahezu wörtlich dem Text der Legenda aurea19. Den weltlichen Gütern in der Nachfolge Christi zu entsagen und Askese zu üben, war das Prinzip monastischen Lebens. Deshalb war die Versuchungsthematik häufig Stoff für Bildmotive im klösterlichen Bereich. Bemerkenswert ist die Kombination des Martin-Patroziniums mit der eucharistischen Thematik auf dem Retabel in Doberan. Bereits das nicht mehr erhaltene Tafelbild in Worms20 befand sich in einer Martinskirche, die sich zudem an einem der Wirkungsorte des Heiligen befand, der mittlerweile als „Gründervater des abendländischen Mönchtums“ gilt21, noch vor Benedikt von Nursia und Augustin. Dabei repräsentiert er, wie Walter Kasper es formulierte, „nicht eine reiche und mächtige, sondern eine arme und eine evangelisierende Kirche, welche aus den durch das Mönchtum repräsentierten Quellen Evangeliums gemäßer Spiritualität lebt“22. Er festigte die Christianisierung der Landbevölkerung durch die Er-
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Abb. 43. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Detail heraldisch linker Innenflügel: Teufel, in Purpur und mit Krone als König verkleidet, der den Heiligen zu täuschen versucht
richtung von Pfarreien, ähnlich wie es die Zisterzienser in Mecklenburg versuchten. Dem ist auf dem Doberaner Mühlenaltar in der heute nur noch fragmentarisch erhaltenen Malerei auf dem linken Flügel eine Begebenheit aus der Vita des Heiligen Nikolaus gegenübergestellt (Abb. 44) 23; sie gibt den Moment des Eingreifens des Heiligen bei der Hinrichtung der drei unschuldigen Ritter Nepotianus, Ursos und Herpylion/Apilio, das sogenannte Stratelatenwunder, wieder24. Der Heilige Nikolaus wird insbesondere in der Ostkirche stark verehrt, so ist auch diese Szene auf Ikonen mit seiner Vita seit dem 12. Jahrhundert überliefert25. Eine Vermittlung des Motivs durch dieses Medium ist sogar naheliegend, denn durch die Handelsbeziehungen der Hanse im Baltikum bestanden vielfältige Kontakte zu dieser Kulturregion. Das Patrozinium des Heiligen Nikolaus, der als Patron der Seefahrer verehrt wird, ist vor allem in den Küstengebieten sehr verbreitet. Der Doberaner Konvent besaß darüber hinaus noch eine besondere Beziehung zu diesem Heiligen: Wie aus dem Inventar des Hochaltars bei der Aufhebung des Klosters 1552 hervorgeht, besaß die Abtei Reliquien von ihm26. Für den ikonographischen Kontext des Mühlenbildes lässt sich deshalb festhalten, dass es einerseits in engem Zusammenhang mit der mönchischen Lebenswelt steht und andererseits auf das Spannungsverhältnis zwischen weltlicher und
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geistlicher Macht abzielt. Denn bemerkenswerterweise wurde aus der Vita des Heiligen Martin gerade die Szene ausgewählt, die den Teufel in der Gestalt eines Königs und nicht in einer allgemeinen menschlichen Gestalt zeigt, wofür es in der Vita auch ein Beispiel gibt. Die beschriebenen für den klösterlichen Bereich typischen Merkmale der Ikonographie lassen auf eine Entstehung des Bildprogramms in Doberan schließen. Denn die Texte waren sicher vor allem an ein geistlich gebildetes Publikum gerichtet, das ja in den Mönchen zu beiden Seiten der Kirchenväter repräsentiert wird. Allerdings ist eine Identifikation der beiden Mönche als Zisterzienser nicht ohne weiteres möglich; zwar ist deren Ordenstracht in der Regel weiß oder naturfarben, Bernhard wird aber auch oft in dunkelgrauem Habit dargestellt, somit könnte es sich bei dem Mönch, der eine braune Kappa trägt, um einen Vertreter des BenediktinerOrdens handeln, dem sich die Zisterzienser als Reformorden auch nach wie vor zugehörig fühlten. Dies zeigt sich auch andernorts, wenn man die gleichberechtigte Darstellung der beiden Heiligen im Rahmen der Ausstattung von Zisterzienserklosterkirchen betrachtet27.
Rechte Seite: Abb. 44. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Detail heraldisch rechter Innenflügel: Stratelatenwunder
Deshalb scheint mir dieses Werk, wenn nicht im Doberaner Kloster selbst, so doch in engem Kontakt mit ihm entstanden zu sein. Für die Tätigkeit einer eigenen Werkstatt in Doberan zu dieser Zeit gibt es keine sicheren Belege. Man muss wohl davon ausgehen, dass sich die Klosterwerkstatt nach der Schlussweihe der Kirche 1368 weitgehend aufgelöst hat. Wahrscheinlicher ist es, dass der Künstler, der mittelbar oder direkt mit niedersächsisch-westfälischer Kunst vertraut gewesen sein muss28, aus einer der Werkstätten in den Hansestädten stammte und für seinen Auftrag die Weisungen aus Doberan bekam. Den hohen theologischen Anspruch des klösterlichen Publikums und die spezielle Bezugnahme auf den Doberaner Konvent zeigt auch der Vergleich mit Darstellungen des Motivs auf dem Hochaltarretabel der ehemaligen Zisterzienserinnenklosterkirche Hl. Kreuz in Rostock und dem Retabel in der Dorfkirche in Retschow.
zwei Szenen aus dem Leben und Sterben heiliger Mönche. Der links dargestellte Mönch in brauner Kutte wurde zumeist als Antonius, der während des Gebets vom Teufel versucht wird33, oder als Benedikt identifiziert34. Bei dem rechts in schwarzer Kutte und mit rotem Birett dargestellten Mönch handelt es sich wohl um Benedikt, der bei der Niederschrift der Ordensregel gezeigt wird – allerdings widerspricht dem die rote Farbe des Biretts, die spätestens ab dem 15. Jahrhundert den Kardinalsrang bezeichnete35. Es könnte auch der bedeutendste benediktinische Kardinal, der hl. Petrus Damianus, gemeint sein, sicherlich aber nicht der hl. Bernhard36. Die Sterbeszenen sind dabei als Ausdruck der Ars moriendi zu verstehen37. Wie auch die weitere Betrachtung des Programms der ersten Wandlung mit Szenen aus dem Leben Christi und Mariens sowie der Darstellung der wichtigsten Heiligen nach der zweiten Wandlung zeigt38, sind auf dem Retabel alle entscheidenden Themen der christlichen Heilsvermittlung berücksichtigt. Dabei bildet die Kreuzigung im
DER VERGLEICH MIT DEN DARSTELLUNGEN IN ROSTOCK UND RETSCHOW In Rostock befindet sich die Darstellung der Eucharistischen Mühle auf der Werktagsseite des Hochaltarretabels, das auch in der jüngeren Forschung als Rostocker Arbeit aus der Zeit um 1450 gilt (Abb. 45)29. Die Allegorie nimmt den vom Betrachter aus gesehen rechten Flügel ein. Der Mühlenallegorie ist hier das Bild der Verlobung der Heiligen Katharina mit dem Christusknaben, umgeben von christologischen und marianischen Symbolen (Einhorn, Pelikan, Löwe und Phönix), gegenübergestellt. Bei den Bildinschriften wurde aus dem Crinale beatae Mariae Virginis des Kartäuserpriors Konrad von Gaming († 1360) geschöpft30. Vermutlich war der Doberaner Abt Visitator des Klosters31, womit schon ein Anhaltspunkt für die Vermittlung des Motivs gegeben ist. Das Hochaltarretabel mit der Mühlendarstellung befindet sich offenbar noch an seinem ursprünglichen Standort im Chor der ehem. Klosterkirche. Das Pentaptychon mit den beträchtlichen Ausmaßen von 3,80 m Breite und 1,54 m Höhe wurde aus Eichenholz gefertigt. Die Inschrift der Predella nennt die Heiligen, denen der Altar geweiht ist und die dementsprechend auf dem Retabel verbildlicht wurden32. Das von eucharistischer Allegorie und mariologischer Komposition gewissermaßen eingeleitete Gesamtprogramm zeigt eine Ausgewogenheit zwischen mariologischen und christologischen Themen, aber auch einen monastischen Bezug: Auf den Seitenflügeln der bei der ersten Wandlung sichtbaren Tafelmalereien erkennt man links und rechts außen jeweils
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Abb. 45. Rostock, Kloster Heilig-Kreuz, Hochchorretabel, Detail: Eucharistische Mühle
Abb. 46. Retschow, Retabel, Detail: Eucharistische Mühle
Mittelschrein nach der letzten Wandlung den Höhepunkt des Gesamtprogramms. Indem die Mühlenallegorie diesem vorangestellt ist, wird einerseits der Ursprung des verbildlichten Heilsplans, die Inkarnation des göttlichen Wortes, betont und andererseits wird der Bezug zum eucharistischen Sakrament und damit zu der damals wirkenden Kirche hergestellt. Insbesondere in Nonnenklöstern war die eucharistische Frömmigkeit sehr stark ausgeprägt39.
Das Rostocker Mühlenbild unterscheidet sich in bedeutenden Einzelheiten von der Doberaner Mühlendarstellung. Die ausgewählten Textstellen für die Spruchbänder haben zumeist keine Parallelen zu den anderen Darstellungen. Es fehlt bei den Zitaten der Evangelisten häufig der in Doberan zu findende ausgesprochene „Wort“-Verweis. Dies trifft schon beim ersten Zitat nach Lukas 1,26 zu. Mit den Worten Missus est angelus gabriel wird auf den Text verwiesen, der
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auch am Fest der Verkündigung (25. März) gelesen wurde und gleichzeitig dem Ordensheiligen Bernhard von Clairvaux die Reverenz erwiesen, der nach der Legenda aurea aufgrund eines visionären Erlebnisses zu einem Kommentar dieser Stelle angeregt wurde40. In der Zone der Kirchenväter fehlen Darstellungen von Zeitgenossen, seien es Ordensleute oder Laien. Meiner Auffassung nach ist der individuelle Kommentar schon in den Texten der Kirchenväter zu finden. Darüber hinaus könnte man vermuten, dass man auf eine weitere, die Allegorie überschreitende Spezifizierung verzichten wollte, um dem Motiv der mystischen Verlobung ein ebenso geschlossenes metaphorisches System gegenüberzustellen. Denn der Goldgrund steht in deutlichem Kontrast zu der räumlichen Auffassung der Mühle, den höchst realistisch beobachteten menschlichen Figuren mit ihren feingezeichneten Gesichtern und dem Bemühen um detailgetreue Wiedergabe der kostbaren Stoffe. Im Gegensatz zur Doberaner Darstellung stehen Apostel und Mühle aber eindeutig auf dem Boden und sind so der irdischen Sphäre zugeordnet. Die nahezu gleichzeitige Entstehung dieses Retabels und des mittelniederdeutschen Mühlenliedes um 1450 (Erstdruck in Rostock, um 1512) gab Anlass zu der Vermutung, der Liedtext könnte Einfluss auf die Gestaltung des Bildes gehabt haben. Das bekannte, ältere Bildschema wird jedoch, wie gezeigt, kaum variiert; es enthält sogar Elemente, die dem Liedtext widersprechen. So ist zum Beispiel in Strophe acht von den Paradiesflüssen die Rede, welche die Mühle in Gang halten, und in Strophe zehn werden Säcke erwähnt, aus denen das Korn geschüttet wird. Auf dem Rostocker Bild wird die Mühle jedoch von Hand durch die Apostel angetrieben, und die anthropomorphen Evangelistensymbole schütten aus Flaschen ihre Zitate in den Mühlentrichter. Ferner finden sich im Liedtext keine Bibelzitate. Die Reihe der Unterschiede ließe sich fortsetzen. In diesem Liedtext ist also lediglich eine gleichzeitige Verarbeitung desselben Themas zu sehen41, die jeweils auf einer eigenen Tradition beruht. Auch die jüngste der mecklenburgischen Darstellungen der Eucharistischen Mühle folgt der Bildtradition und nicht der Texttradition. In der sieben Kilometer südlich von Doberan gelegenen Dorfkirche zu Retschow befindet sich das aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts stammende und damit jüngste der Altarretabel mit der Darstellung der Eucharistischen Mühle in Mecklenburg und Vorpommern (Abb. 46). Hof und Dorf Retschow waren seit 1358, als beide an das Kloster in Doberan verkauft wurden, bis zur Reformation in
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dessen Besitz42. Das Kloster Doberan übte jedoch noch lange einen erheblichen geistlichen Einfluss auf den Sprengel aus, wie die Kirchenvisitations-Protokolle aus den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts belegen43. Bemerkenswert für die historische Bedeutung des Ortes ist die Tatsache, dass sich der mecklenburgische Herzog bei dem Verkauf von 1358 das Patronatsrecht vorbehielt44. Dessen Wahrnehmung ist erst wieder für 1534 durch Herzog Heinrich V. belegt45. Doch da aufgrund der Quellenlage für die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts und der mangelnden Erschließung der Quellen für das 15. Jahrhundert diesbezüglich bisher nur wenige, aber auch keine gegenteiligen Informationen bekannt sind, kann man unter Vorbehalt von der Kontinuität des Patronatsrechtes bei den Mecklenburgischen Herzögen ausgehen. Die Kirche in Retschow wurde im 14. Jahrhundert wahrscheinlich auf Veranlassung des Klosters Doberan erbaut. Das Patrozinium ist aufgrund der Schwerpunkte der Ikonographie in der Wandmalerei, das Marienleben an der Südwand, und des Mittelschreins des Hochaltars mit der Marienkrönung und der bekrönenden Leiste mit der Inschrift AVe§ regina§ celorum§ mater§ regis§ angelorum§ o § maria§ flos virginum§ velud § rosa § maia als Marienpatrozinium erschließbar. Das Polyptychon mit den beträchtlichen Ausmaßen von ca. 450 cm Breite und 180 cm Höhe ohne Aufsatz und Predella46 befindet sich im Chor der dreijochigen Hallenkirche. Das Retabel mit zwei Standflügeln und zwei beweglichen Flügelpaaren trägt drei Bildprogramme: Bei Ansicht der geöffneten Außenflügel und geschlossenen Innenflügel wird die Passion in acht Bildern erzählt; die Wandlung dieses Zustandes durch Schließung der Außenflügel eröffnet die Sicht auf vier die ganze Fläche der Tafel einnehmende Malereien, von denen die dritte die Darstellung der Eucharistischen Mühle zeigt. Mit der letzten Wandlung wird ein umfangreiches Skulpturenprogramm sichtbar, in dessen Zentrum die Krönung Mariens steht47. Die Mühlenallegorie erscheint auf diesem Retabel in einer Reihe mit einem anderen eucharistischen Bildthema, der Darstellung der Messe des Heiligen Gregors, neben der Heiligen Sippe und der Verkündigung an Maria. Bei der Retschower Darstellung ist die Eucharistische Mühle erstmalig in einen perspektivisch genau beobachteten Raum gestellt. Das heißt, dieser ist in Form eines engfluchtenden Kastenraums mit quadriertem Fußboden gestaltet. Der auf diese Weise konstruierte Innenraum steht bühnenartig vor einer freien flachen Landschaft, die nur durch wenige schlank aufragende Bäume und Gruppen kugeliger Büsche näher charakterisiert ist. In der
oberen Zone der Darstellung sind die vier anthropomorph gestalteten Evangelistensymbole auf serpentinenartig geformten Wolken schwebend zu erkennen. Diese im Gegensatz zu den Aposteln viel heller gekleideten Gestalten schütten ihre Zitate aus großen weißen Säcken in den Mühlentrichter. Johannes: In principio erat verbum et verbum (Jo 1, 1) Matthäus: quod in ea natu[s] est de spirito sancto (Mt 1, 20) Lukas: videamus h[oc] v[erbu]m, quod d[omi]n[u]s ostendit no[bis] (Lk 2, 15) Markus: Hic est filius me[us] dilect[us] in quo michi (vgl. Mk 9, 6) Die Mühlenarchitektur wird dreidimensional im Raum gezeigt, auch der Mechanismus wird wirklichkeitsnah vor Augen geführt. Dieser betonte Realismus zeigt sich ebenso in der Imitation der Holzmaserung. Deshalb wirkt die Beleuchtung gänzlich irreal, sie geht, ohne eine für den Betrachter nachvollziehbare Quelle zu besitzen, von der Mühle aus und erhellt die Gestalten der Kirchenväter so, dass sie von ihren Schatten kreisförmig umgeben werden. Die Kirchenväter halten alle vier kniend den Kelch mit dem Christuskind und blicken zu ihm. In den Kelch führt das Spruchband mit dem bekannten Zitat Johannes 1, 14 erat ... et verbum caro factum est et habitabit [sic] i. Die Kirchenväter sind durch ihre Kopfbedeckungen und die Art ihrer liturgischen Gewänder unterschieden. Die Apostel stehen dem bekannten Schema entsprechend eng aufgereiht an beiden Stangen. Dieser Reihung entspricht auch die Anordnung der s-förmig geschwungenen Spruchbänder, die fast senkrecht über den Köpfen der Apostel schweben. Die Texte sind bis auf zwei alle lesbar. Die Übereinstimmung mit den Texten der Erfurter Miniatur ermöglicht die Zuschreibung an bestimmte Apostel und die Ergänzung der ersten beiden Spruchbänder48. Jakobus: [Suscipite verb]um in [s]alv[ationem] (rekonstruiert nach Jk 1, 21) Petrus:[Sa]cri(?)[fica]mi[ni enim per verb]u[m et ornamentum] (?) Paulus: Videte verbum domini, quod est vita (Hauptsatz vgl. Jer 2, 31) Thaddäus: erudit[us] verbo reportat bona (nach Prov 16, 20) Bartholomäus: exemplum esto in verbo et doctrina (vgl. 1. Tim 4, 12) Matthäus: fons sapiencie verbum dei in gloria (vgl. Sir 1, 5) Simon: misit verbum et sanavit egrotos (Ps 106, 20) Philippus: verbum breviatum perfecit devotos (Röm 9, 28) Thomas: sufferatis verbum solacii et hilariter (vgl. Hebr 13,2 2)
Jakobus: loquimini verbum domini constanter (vgl. Apost 26, 25f.) Andreas: verbum dulce multiplicat amicos (Sir 6, 5) Johannes: ubi est v[er]bum domini congregat dispersos (vgl. Jer 17, 15) Auch wenn angesichts der Nachbarschaft zum Mühlenretabel in Doberan eine Anfertigung nach diesem Vorbild im Kloster vielleicht nahegelegen hätte, so sprechen doch die deutlichen Unterschiede in der Ikonographie und den Inschriften gegen diese These49. Für die Tätigkeit einer Klosterwerkstatt gegen Ende des 15. Jahrhunderts gibt es bislang auch keine Belege. Selbst wenn das Kloster Doberan vom allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang gegen Ende des 15. Jahrhunderts nicht so stark betroffen war wie andere Klöster50, ist es dennoch sehr fraglich, ob es sich eine eigene Werkstatt mit allen notwendigen Spezialisten für die Herstellung eines Retabels zu diesem Zeitpunkt noch leisten konnte, zumal die Notwendigkeit angesichts einer vollständig ausgestatteten Kirche äußerst gering gewesen sein dürfte. Auch die stilistischen Merkmale sprechen stattdessen für eine Rostocker Provenienz. Darüber hinaus können die Malereien ihrem Charakter nach, vor allem wenn man die Passionsszenen mit ihrer Liebe zu modischen Details in der Kleidung und der Schilderung einer Stadtsilhouette betrachtet, nur schwerlich Klosterarbeiten sein. Dies gilt auch für die Mühlendarstellung, denn wie der Vergleich der Kopftypen der Apostel besonders gut zeigt, stammen beide von derselben Hand. Ebenso ist die genrehafte Schilderung der Heiligen Sippe in der Art eines „Familienporträts“ gegen Ende des 15. Jahrhunderts eines der beliebtesten Themen des Stadtbürgertums, wie beispielsweise die vielen erhaltenen Zeugnisse auch des damit verbundenen Annenkultes dieser Zeit aus Lübeck belegen51. Demnach lässt sich für die Entstehung des Retabels auf ein solches städtisches Milieu schließen. Als Ort für die Werkstatt kommen im näheren Umkreis, der für die Ausstattung einer Dorfkirche zunächst anzunehmen ist, nur Wismar und Rostock in Frage. Vergleicht man beispielsweise die Passionsdarstellungen in Retschow mit entsprechenden Rostocker Malereien, so zeigen sich die augenfälligsten Übereinstimmungen bei der Auffassung des Raumes, in der stringenten Wiedergabe der Fluchtlinien im quadrierten Fußboden und der Darstellung des Innenraums als zentralperspektivisch gesehenen Kasten. Diese Merkmale sind zwar dem Prinzip nach aus der niederländischen Kunst stammendes Allgemeingut der Malerei der Zeit, können jedoch in ihrer etwas vereinfachten allzu stringenten Anwendung als typisch für die Malerei der Ostseeküste und insbesondere Rostocks gelten. Bei
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der Behandlung der Figuren lässt sich sogar eine direkte Vorbildfunktion der Rostocker Kunst erkennen: Die Gestalt des Gegeißelten in Retschow scheint geradezu seitenverkehrt von der Darstellung der gleichen Szene auf einem um 1440 entstandenen Altarretabel in St. Marien in Rostock „übernommen“ worden zu sein52. Diese Reihe ließe sich noch fortsetzen, so dass man zu keinem anderen Schluss kommen kann, als dass hier eine Werkstatt mit überkommenem Formengut arbeitete und dieses gegebenenfalls neu arrangierte. Für ein solches Vorgehen sprechen auch die erheblichen perspektivischen Fehler bei der Auffassung der Figuren, wie sie besonders bei der Kreuznagelung deutlich sind. In der Gethsemane-Szene findet sich schließlich der schlagende Beweis für eine Rostocker Provenienz: Im Hintergrund ist die Silhouette einer Stadt zu erkennen, wie sie ähnlich schon auf dem um 1430 entstandenen Rostocker Dreikönigsaltar die Hansestadt an der Warnow darstellt. Auch der Vergleich mit einem 1550/60 entstandenen Holzschnitt mit einer Ansicht der Stadt lässt die Übereinstimmung erkennen53. Auf beiden Darstellungen wurde Rostock von der Seeseite abgebildet, während in Retschow die Stadt vom Land aus gezeigt ist. Man kann somit festhalten, dass das Werk, auch wenn sich Zweifel an der einheitlichen Konzeption des Retabels in seinem heutigen Zustand erheben lassen54, insgesamt in der Tradition der Rostocker Kunst steht. Diese lässt sich schlüssig bei den Malereien aufzeigen. Denn sowohl hinsichtlich des Stils als auch bezüglich der Darstellung spezifischer Themen wie der Stadtsilhouette, der Sunte Hülpe, der Eucharistischen Mühle und der Heiligen Sippe lassen sich Parallelen in der Kunst Rostocks finden.
RESÜMEE Die Allegorie der Eucharistischen Mühle entstand in der Auseinandersetzung um Eucharistielehre und Ekklesiologie um 1400. Der Zisterzienserorden trug – ausgehend von Doberan – zu ihrer Verbreitung im Ostseeraum bei. Dabei verwendete man ein Bildschema, das in der monastischen Literatur verbreitet war und sich durch eine Systematisierung der Bildelemente auszeichnete, die der Verdeutlichung der Analogie von Inkarnation und Transsubstantiation dienten. Die Elemente sind dort im Gegensatz zu den Darstellungen in Zyklen (z. B. auf dem Wandgemälde in Eriskirch) stringent hierarchisiert. Bezüge auf den Zisterzienserorden und dessen spezielle Dienstbarkeiten werden in Doberan (Grablege der mecklenburgischen Herzöge) nicht nur durch die Auswahl
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der in der Mühlenallegorie zitierten Texte, sondern auch durch die Darstellung von Szenen aus der Vita der Heiligen Martin und Nikolaus auf den Seitenflügeln hergestellt. Auf der Textebene wurde mit den Zitaten aus der Vulgata eine streng biblizistische Argumentation in Bezug auf die Inkarnationslehre verfolgt, anstatt einen volksprachlichen Hymnus zu zitieren, wie es beispielsweise für die Wormser Tafel nachweisbar ist. Auf den Hochaltarretabeln in Rostock und Retschow erscheint die Allegorie vereinfacht, in anderem Kontext und mit einer anderen Textauswahl. Die Struktur des Bildes bleibt jedoch gleich. Deshalb ist zu vermuten, dass hier zwar dieselbe Bildvorlage verwendet wurde, sie aber − ähnlich wie die Mettener Miniatur − keine Inschriften enthielt.
ABSTRACT The uncommon allegory of the Eucharistic mill (also known as the mystic mill) was created around 1400 when with John Wycliffe’s controversial tract “De Eucharistia” the dispute over the Eucharistic doctrine and ecclesiology reached the European continent. The Cistercian monastery of Doberan preserved the earliest depiction of a Eucharistic mill on an altarpiece; from Doberan it spread in the region around the Baltic Sea. The Eucharistic mill is meant as an analogy for the incarnation of Christ from word into flesh, the transubstantiation. It combines the motif of the grain mill with traditional Christian iconography (e.g. Annunciation and Apostles) and Eucharistic imagery (e.g. chalice, host and/or Christ child). The key element is the word (Logos), with the crucial verse (John 1:1, in principio erat verbum) placed at the centre of the composition. Around it Gospel verses are linked with hierarchically arranged (with the exception of the wall painting in Eriskirch) pictorial elements that refer metaphorically to the Eucharistic mill. The Doberan Eucharistic mill displays some unique features. For example, the Cistercian Order is specifically referred to not only through selected scriptures but also through the depiction of the Tiburtine Sibyl and her prophecy, rather than through the Annunciation. Similarly, the Ara Coeli motif refers both to Marian typology and to a similar vision of the birth of Christ experienced by St. Bernard. The Ara Coeli is also juxtaposed with scenes from the lives of St. Martin and St. Nicholas on one of the wings of the retable that show a secular ruler in an antagonistic role. These scenes reflect the actual tension between spiritual and secular world at Doberan, as the Cistercian monastery was also the burial place of the Dukes of Mecklenburg.
ANMERKUNGEN 1 2 3
WIPFLER 2003, S. 234–244. KRUEGER 1978. Nach den Maßen des rechten Seitenflügels (145 cm x 65,5 cm), s. HARNISCH 1986, S. 21. 4 Im 18. Jahrhundert zählte Schröder 13 Altäre außer dem Hochaltar und dem Kreuzaltar (SCHRöDER 1732–1734, S. 316) und im Inventar von 1811 waren noch insgesamt 14 Altäre verzeichnet (Verzeichnis der in den einzelnen Kirchen befindlichen Glocken, Fenster, Altäre, [...] aus dem Jahre 1811 (Superintendantur Doberan) im Staatsarchiv in Schwerin unter der Signatur: Regierung Nr. 9757). Siehe dazu den Aufsatz von Stephan Kemperdick in diesem Band. 5 SCHRöDER 1732–1734, S. 342: „... 2. An einen (sic) Altar / am 2. Pfeiler / in den (sic) Süder-Gange [Zitat der Inschrift des Retabels mit der Darstellung der Kreuzigung Christi durch die Tugenden]... 3. Gleich gegen über an der Wand siehet man an einen (sic) Altar das Bild des Teuffels / [Beschreibung des Retabels mit der Darstellung der Eucharistischen Mühle]...“; LISCH beschrieb 1843 den Standort: „An der östlichen Wand des südlichen Kreuzschiffes, rechts von der Pforte, steht ein Altar, auf welchem Peter Wise´s Grabstein liegt, mit einem eigenthümlichen Gemälde: wie das Wort vom Himmel durch eine Mühle in den Kelch geht ...“ (LISCH 1844b, S. 422). 6 Die Bezeichnung „Eucharistische Mühle“ wird hier verwendet, da andere Begriffe wie „Hostienmühle“ (Rye-Clausen u. a.) und „Evangelienmühle“ (Grampp) nur jeweils nur einen Teil der Darstellung bezeichnen, der zwar wesentlich ist, aber den komplexen allegorischen Gesamtzusammenhang außer Acht lässt. Gegen den häufig verwendeten Begriff der „Hostienmühle“ spricht, dass vielfach nicht nur die Hostie gemeint ist, sondern dass es um die Kommunion in beiderlei Gestalt geht, wie es gerade die Tribseeser Darstellung und auch die Retschower zeigen. Die Bezeichnung „Sakramentsmühle“ (Schulz) ist dagegen unnötig weit gefasst, da das Sakrament eindeutig als eucharistisches benennbar ist. Der Ausdruck „Mystische Mühle“ (Thomas und Heimann) hat eine ähnlich verunklärende Aussage und weckt falsche Assoziationen, die mit dem inflationären Gebrauch des Wortes „mystisch“ verbunden sind (vgl. WIPFLER 2003, S. 189f. mit den dazugehörigen Belegen). 7 Zur Zählung: WIPFLER 2003, S. 190 mit Anm. 113; Bekannt wurde seitdem die allerdings nur fragmentarisch erhaltene Darstellung im Wandgemälde in der Dorfkirche St. Maria (?) in Tremmen, heute Ortsteil der Stadt Ketzin im brandenburgischen Landkreis Havelland, das unter dem Patronat des Brandenburger Domkapitels stand. Die Malerei wird in die Zeit bald nach der Errichtung des Dachstuhls (1416/17) um 1420 datiert: JOKSCH 2011, S. 339–345. 8 MICHLER 1992, S. 76 mit Abb. 183. Die etwa gleichzeitig entstandene Liederhandschrift des Hugo xII. von Montfort-Bregenz (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod.pal.germ. 329), die von Heinrich Aurhaym, nach 1410, illuminiert wurde, weist böhmisches Formengut auf (vgl. AKL V, 1992, 669). 9 SUCKALE 2012, S. 21, 141, 62–64 mit Taf. 89. 10 Luzern, Zentral- und Hochschulbibliothek, P.19.fol. 1r; Initiale A(d te levavi animam meam): Introitus zum ersten Adventssonntag, wohl Prag, zwischen 1403 und 1414; Seitenformat 61 x 41 cm (STUDNIčKOVá 2006, S. 524–526, bes. Anm. 3). 11 Vgl. HEIMANN 1982, S. 241. 12 WIPFLER 2014, S. 39f.
13 KrüGER 1966, S. 29. 14 Karlsruhe, Landesbibliothek, St. Peter perg. 44, fol. 9r.; s. WIPFLER 2003, S. 198 mit Anm. 143. 15 Siehe die vorletzte Strophe des Hymnus Sacris solemniis, der 1264 anlässlich der Einführung des Hochfestes Fronleichnam durch Papst Urban IV. von Thomas von Aquin für die Matutin des Stundengebets verfasst wurde: Panis angelicus fit panis hominum; Dat panis coelicusfiguris terminum: O res mirabilis! manducat Dominum pauper, servus et humilis.te trina Dietas unaque poscimus: Sic nos tu visita, sicut te colimus; Per tuas semitasduc nos quo tendimus, Ad lucem quam inhabitas. Amen. 16 Vgl. Augustinus: Non liberaretur humanum genus, nisi sermo Die dignaretur esse humanus“ (S. Augustini Episcopi Sermo CLxxIV, MIGNE PL 38, Sp. 940) und Hugo von St. Viktor Opus restaurationis est incarnatio Verbi cum omnibus sacramentis suis (De scripturis, cap. 2: MIGNE PL 175, Sp. 11B); zu Thomas von Aquin mit zahlreichen Belegen: NEUHEUSER 2001, S. 167–169. 17 BENZ 1984, S. 863. 18 WIPFLER 2003, S. 207. 19 BENZ 1984, S. 868. 20 WIPFLER 2003, S. 196f. 21 KASPER 1997, S. 12. Dazu HAPP 2006, S. 124. 22 KASPER 1997, S. 15. Zu anderen Deutungen: HAPP 2006. 23 HARNISCH 1986. 24 BENZ 1984, S. 29. 25 ŠEVčENKO 1983, S. 104–108; weitere Beispiele s. WIPFLER 2003, S. 206 mit Anm. 189–191; MEZGER 1993, S. 59–62. 26 „1 Sunt Nicolaus Handt mit silber beslagenn und dar anhe eine sunte Nicolaus thene mith einem Ringe vorvatet“, zit. nach LISCH 1849, S. 354. 27 WIPFLER 2003, S. 92f. 28 Vgl. die Tradition der betont langen, nicht weiter untergliederten Finger sowie die Gesichtstypen auf dem Retabel aus Hannoversch Münden, um 1400 (WOLFSON 1992, Nr. 49) und der sogenannten „Goldenen Tafel“ aus Lüneburg, 1418/20 (ebd., Nr. 39); die Malereien der Doberaner Tafel stehen den letztgenannten Werken auch hinsichtlich des Stils der Kostüme und Kronenformen näher, was auch für die Datierung um 1415 spricht. 29 WAGNER 2011, S. 43–69. 30 So schon VETTER 1954, S. 34; Textvergleich s. WAGNER 2011, S. 61f. 31 Winter schloss dies aus einer zu 1278 ausgestellten Urkunde für das Kloster, in welcher der Name des Abtes neben dem des Priors in der Zeugenreihe aufgeführt wird (vgl. WINTER 1871, S. 111). 32 Istud altare est consecratum in honorem summe sancte trinitatis sancte marie virginis matris xpi beati johannis apostoli et ewangeliste beati jakobi majoris et beati bartolomei apostoli sancti blasii martyris et beati benedicti et bernardi abbatum ac sancte barbare virginis cujus anniversarius habetur dominica ante festum circumcisionis domini, zit. nach SCHLIE 1896, S. 184. 33 So bereits SCHLIE 1896, S. 181; weitere Belege: WIPFLER 2003, S. 230, Anm. 275; ferner WAGNER 2011, S. 58. 34 KRÜGER 1966, S. 47f. Nach ihrer Auffassung sei aus der Vita Benedicti die wundersame Speisung anlässlich des Osterfestes dargestellt, wie sie in der Legenda aurea beschrieben wird (s. BENZ 1984, S. 237).
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35 Siehe: V. MAyR, Benedikt von Nursia, in: LCI 5, 1973, Sp. 353ff. Zur Typengeschichte und Farbe siehe: JOSEPH BRAUN, Birett, in: RDK 2 (1948), Sp. 746–750. 36 Nach Krüger handelt es sich um die Darstellung von Bernhard bei der Niederschrift des Kommentars zu Missus est Gabriel angelus (KRÜGER 1966, S. 47f.). Dagegen spricht, dass die Ordenstracht der Zisterzienser in der Regel weiß bzw. naturfarben war. Es gibt jedoch auch bildliche Darstellungen, die Bernhard in dunkelgrauem, braunem oder schwarzem Habit zeigen (s. PAFFRATH 1990), allerdings wird Bernhard nie mit rotem Birett dargestellt. Hegner wies die vier Szenen pauschal den Viten Benedikts und Bernhards zu (HEGNER 1996, S. 38), Wagner folgte diskussionslos der traditionellen Identifikation mit Benedikt (WAGNER 2011, S. 58). 37 HAMM 2007, S. 305–345. 38 Bei der letzten Wandlung ist die Kreuzigungsgruppe von einem reichhaltigen Skulpturenprogramm umgeben: Auf der linken Seite vom Betrachter aus sind die Figuren der Heiligen Thomas, Philippus, Jakobus, Benedikt, Bartholomäus, Andreas und Petrus zu erkennen. Auf der gegenüberliegenden Seite sind von innen nach außen Paulus, Johannes, Jacobus der Ältere, Matthäus, Simon, Judas und Klara dargestellt. Wie Schlie bereits vermutete, ist die letzte Figur wohl später ergänzt. Darauf verweist auch der Schreibfehler „Sanctus clara“ im Nimbus (SCHLIE 1896, S. 183). Allerdings ist zu bezweifeln, ob sie wirklich dahin gehört, wie Schlie meinte, analog zu Benedikt wäre Bernhard passender. In der unteren Zone des Schreins befindet sich eine Gruppe von thronenden Heiligen, alttestamentarischen Propheten und Kirchenlehrern, ferner der Erzengel Michael, Vitus, Cosmas und Damian, ein Ritterheiliger (wahrscheinlich Georg), Mauritius, ein Heiliger mit Buch [nach SCHLIE 1896, S. 183 möglicherweise Blasius] und Antonius. Die Szenen auf der Predella ergänzen das Programm, indem im Zentrum Anna-Selbdritt dargestellt ist, die auf jeder Seite von je drei sitzenden weiblichen Heiligen umgeben ist: Dorothea, Agnes, Katharina, vielleicht Ursula, Barbara und Gertrud oder Hedwig. Die Predellenflügel zeigen auf ihrer Innenseite Malereien mit den Darstellungen der klugen und törichten Jungfrauen und auf der Außenseite die Propheten. Bemerkenswert ist, dass diese Flügel auch so zu öffnen sind, dass lediglich die Figur der Anna-Selbdritt zu sehen ist (vgl. SCHLIE 1896, S. 183 und HEGNER 1996, S. 38); stilistische Einordnung der Schnitzarbeiten: WAGNER 2011, S. 48–51. 39 Siehe dazu WIPFLER 2003, S. 21–25. 40 BENZ 1984, S. 610. 41 Vgl. STEINMANN 1931, S. 66. 42 MUB Nr. 8489. Vgl. WICHERT 2000, S. 33. 43 Im Visitationsprotokoll von 1535 ist beispielsweise zu lesen: „16. Wyr verneme auch, wie alle pharhern und predicanten ynn den dorffer der abtey dobran zugehörig das folk, dem sy predigen, jamerlichen verfüren und doch von herzen dursten nach dem wort gottes“, zit. nach LISCH 1843, S. 46. 44 MUB Nr. 8490. 45 Nach SCHLIE 1899, S. 547. 46 Exakte Maße s. SCHAFT 1993, S. 34f. 47 Dazu: WIPFLER 2003, S. 221–223. 48 Während das erste Schriftband ohne Schwierigkeiten mit der Hilfe des Erfurter Textes zu ergänzen ist, kann man beim zweiten Spruchband, für das nur ein Zitat nach Petrus in Frage kommt, lediglich unter Vorbehalt die wenigen verbliebenen Buchstaben mit dem Erfurter Text in Übereinstimmung bringen. Denn einerseits ist dieser nicht eindeutig zu transkribieren, und andererseits stellt sich angesichts
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der Tatsache, dass er in allen transkribierbaren Versionen weder in der Vulgata noch in den angegliederten Apokryphen zu finden ist, die Frage, ob er in Retschow auch wirklich Verwendung fand. Möglicherweise wählte man hier aus einer größeren Werktreue heraus einen anderen Text. Es kommen jedoch aufgrund des spärlichen Buchstabenbestandes allein in den Petrusbriefen schon mehrere Stellen in Frage. Bei der Restaurierung entschied man sich mit Rücksicht auf den historisch gewordenen Zustand auch an dieser Stelle für eine Neutralretusche (SCHAFT 1993). Abb. 47. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, geöffneter Zustand
49 Fründt schlug Doberan als Entstehungsort vor; Wismar sei abzulehnen, da für diesen Ort zu jener Zeit nur weniger qualitätvolle Malerei belegt seien. Die Zuschreibung an eine Rostocker Werkstatt wies sie ebenfalls zurück, weil das Thema der Marienkrönung für Rostock untypisch sei (FRÜNDT 1954, S. 71–73). Wagner diskutiert das Retabel nicht, erwähnt nur das dortige Vorkommen des Mühlenmotives (WAGNER 2011, S. 67).
50 Eine 1478 in Doberan tagende Äbteversammlung äußerte sich entsprechend: quedam erecta edificia inter feliciora omnium putatur opulentum (nach SCHLIE 1899, S. 584, Anm. 3). 51 Zahlreiche Beispiele s. WIPFLER 2003, S. 225. 52 WAGNER 2011, Farbtafel 59. 53 BAIER/ENDE/OLTMANNS 1990, S. 332. 54 Ausführlich: WIPFLER 2003, S. 221–227.
Das Bild der Eucharistischen Mühle als Beispiel monastischer Apologetik – Die Doberaner Darstellung um 1415 und ihre Nachfolge | 83
ÜBERGREIFENDE BILDKONZEPTE
PLAN ODER ZUFALL? – GAB ES EIN GESAMTKONZEPT FÜR DIE MITTELALTERLICHE AUSSTATTUNG IM MÜNSTER ZU DOBERAN? GerHArD WeILANDt
Die Ausstattungen mittelalterlicher Kirchen erscheinen dem modernen Betrachter häufig als eine Anhäufung von Kunstwerken verschiedenster Gattungen und Formen, die nur schwer als eine Einheit zu erkennen sind. Das gilt insbesondere dann, wenn so zahlreiche Ausstattungselemente erhalten sind wie in Doberan. Es gab im Mittelalter – so scheint es – keine Gesamtkonzepte aus einem Guss, wie sie etwa im Zeitalter des Barock von einzelnen Werkstätten in wenigen Jahren realisiert wurden. Doch gab es durchaus eine allgemein verbindliche Vorstellung von dem, was an bestimmten Stellen der Kirche möglich war und was nicht. Die Ausstattung ordnete sich in ein hierarchisches System ein, das sich jedoch nicht allein, ja nicht einmal vornehmlich formal-ästhetisch, sondern in der Wahl der Bildthemen manifestierte. Es gab hochrangige Bildthemen und solche niederen Werts, sie alle hatten ihren Platz im Kirchenraum, der in gleicher Weise hierarchisch gegliedert war1. Hierarchie bedeutet eine horizontale Ordnung, eine Abstufung von oben nach unten. In diesem Sinne war die mittelalterliche Gesellschaft gegliedert, und genau so stellte man sich auch den Himmel mitsamt seinen Bewohnern vor. Auf Albrecht Dürers Allerheiligenbild von 1511 (Abb. 50) sieht man die himmlische Gesellschaft der Heiligen. Illustrationen zu der Civitas Dei des Augustinus hatten Dürer bei diesem Bild als Anregung gedient, und die Civitas Dei, den himmlischen Gottesstaat, stellt Dürer dar2. Zwei einfache Grundprinzipien ordnen die Vielgestalt: Da die Spitze der himmlischen Hierarchie Gott einnimmt, nimmt die Darstellung der göttlichen Dreieinigkeit die oberste Position
Linke Seite: Abb. 48. Hochaltarretabel, Gesamtansicht, geöffnet
auch im Bildgefüge ein, darunter gliedern sich die Ränge der Himmelsbürger, auch sie hierarchisch abgestuft: in der Zone unter der Dreifaltigkeit knien Maria und Johannes der Täufer, hinter ihnen finden sich weitere Heilige, in der Zone darunter die Menschen, die nicht heilig, jedoch würdig waren, in den Himmel aufgenommen zu werden. Darunter die Erde mit ihrer von Gott geschaffenen Schönheit. Das erste, sehr einfache Ordnungsprinzip ist also die Abstufung von oben nach unten. Das zweite, genauso wichtige Ordnungsprinzip ist die Abstufung von der Mitte zum Rand. In der Mittelachse schwebt die Dreieinigkeit, ihr sind seitlich und etwas tiefer Maria und Johannes zugeordnet, wobei zur Rechten Gottes Maria kniet, die Höherrangige gegenüber dem Täufer auf der linken Seite. Die Rangfolge ist stets vom Bild selbst aus zu sehen, wie sie auch in der Heraldik Anwendung findet, d.h. sie ist in diesem Fall von der göttlichen Trinität aus zu sehen: Zur Rechten Gottes ist vom Betrachter aus links – zur Unterscheidung von der Sehweise des Betrachters werden künftig die Begriffe heraldisch rechts bzw. links verwendet. So lässt sich die himmlische Ordnung weiterverfolgen: Heraldisch rechts geht vor links, je weiter von der Mittelachse entfernt, desto niedriger ist die Bildposition: Die Märtyrer mit ihren Palmen stehen heraldisch rechts hinter der Himmelskönigin Maria. Sie hatten ihr Blut für den christlichen Glauben vergossen. Deshalb sind sie den Heiligen heraldisch links hinter Johannes übergeordnet. Es handelt sich um Bekenner, die zwar heiligmäßig gelebt hatten, aber nicht für den Glauben gestorben waren. In der Stufe darunter befindet sich heraldisch rechts der Papst mit Tiara
und Goldgewand, er ist dem erfunden3, was im Fall des auf gleicher Höhe, aber heDoberaner Münsters nicht raldisch links schwebenden sehr glücklich ist. Denn es Kaiser übergeordnet, hinter handelt sich bei dem Hochbeiden ordnen sich die Klealtarretabel keinesfalls um riker, Fürsten und Ritter bis eine unabhängige, in den herab zu den einfachen BürRaum als eigenständige Eingern. Die Position des Maheit eingefügte Kleinarchiteklers Dürer ganz am unteren tur, sondern um einen inteund am heraldisch linken gralen Bestandteil der GroßBildrand ist die unterste architektur mit demselben denkbare Position im Bild. Formenapparat. Das Retabel Es ist einerseits eine Geste ist kein bewegliches Möbel, äußerster Bescheidenheit im sondern kann nur an dem Verhältnis Dürers zu den originalen Ort seine Wirkung Heiligen und zu Gott. Anentfalten. dererseits ist es für ihn als Das 13. Jahrhundert ist die sündigen Menschen durchZeit der systematischen Geaus eine Auszeichnung, in dankengebäude und Enzydieser Himmlischen Hierarklopädien, der theologischen chie überhaupt einen Platz Summe eines Thomas von zu finden. Die Darstellung Aquin oder des Speculum ist also durchaus ambivalent: maius des Vinzenz von BeauTiefe Demut vor Gott vervais. Der Versuch, Mensch, Abb. 49. Kelchschrank, Türflügelinnenseiten, Melchisedek und Abel bindet sich mit einem hohen Natur und Gott in eine groSelbstbewusstsein Dürers als ße, alles übergreifende OrdKünstler. nung einzufügen, ist allentDie einfachen Ordnungsprinzipien: oben vor unten, heralhalben spürbar. Für den Bereich künstlerischer Tätigkeit gilt disch rechts vor links mit der von einer Gottesdarstellung das nicht minder. Hier sind es die großen Kirchenbauten, eingenommenen Mittelachse als Ausgangs- und Orientiesymbolische Abbilder des himmlischen Jerusalem, die das rungspunkt, diese Ordnungsprinzipien wurden im Mittelalles bestimmende Maß für die Ausstattung abgeben. Die alter allgemein angewandt. Ja sie waren geradezu verbindlich, sakrale Architektur ist nicht nur eine Hülle, sondern wirkt immer dann, wenn man komplexe hierarchische Strukturen wie ein lebendiger Organismus mit den Ausstattungsstücken abbilden wollte. Die mittelalterlichen Kirchen galten als ein als seinen funktionierenden Organen. Abbild der Himmelsstadt, und auch deshalb lag es nahe, sie Im Schreinzentrum des Doberaner Retabels stand ursprünglich eine Muttergottesfigur (Abb. 343, 346): Die Darstellung hierarchisch nach dem Vorbild der soeben vorgestellten der vornehmsten Doberaner Kirchenpatronin4, gleichzeitig himmlischen Ordnung zu formen. aber auch eine Darstellung des kleinen Jesuskindes und daNehmen wir das Beispiel des Doberaner Hochaltarretabels mit ein Abbild Gottes. Maria trägt in der Hand ein Gefäß, (Abb. 48) in seiner ursprünglichen Form, wie sie um 1300 das wohl zur Aufnahme einer Pyxis mit geweihter Hostie entstand. Es fügt sich perfekt in die von der Architektur vordiente5. Dies ist nach christlicher Überzeugung der wahre gegebenen Proportionen: Sein mittlerer Gesprengeturm Leib Christi. Das rein ästhetisch betrachtet unscheinbare reicht genau bis zur Spitze der Chorscheitelarkade. Die Breite geweihte Stück Brot war vom Rang her das gerade Gegenteil: seines Korpus fügt sich optimal in dieselbe Arkade ein, die Der höchste denkbare Bildgegenstand: Gott selbst. Als ein Flügel sind so dimensioniert, dass sie zwar die Steinmassen Lübecker Ratsherr namens Gottschalk Wessler im Jahr 1306 der Chorpfeiler verdecken, nicht jedoch die seitlichen Lichtdem Kloster Doberan eine große Summe Geldes für ein ewig quellen der Chorumgangsfenster. Für derartige Architektubrennendes Licht auf dem Hochaltar der Klosterkirche für ren hat die Kunstgeschichte den Begriff Mikroarchitektur
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sein und seiner Familie Seelenheil stiftete, da wird als Ort nicht etwa das damals schon existierende Retabel genannt. Vielmehr sollte das Licht brennen „vor der Eucharistie bzw. dem Leib des Herrn, der in unserem Altar bewahrt wird“6. Flankierend finden sich im Schrein in zwei Registern Gefache für Reliquien, die nicht erhalten sind (Abb. 48). Es handelte sich zwar meist nur um kleine Teile von Heiligenknochen, doch für die mittelalterlichen Zeitgenossen waren die Märtyrer und Bekenner in jedem Partikel ihres Körpers vollständig präsent7. Damit waren sie höherrangig als vergoldete Skulpturen und aufwändige Malereien, und deshalb gebührte ihnen der Platz zu Seiten der Muttergottes mit der Hostie. Welche Reliquien genau an welchen Stellen aufbewahrt wurden, ist nicht sicher zu sagen, ein beschreibendes
Inventar von 1552 scheint nicht mehr die originale Ordnung zu reflektieren8 Die Rangfolge der weiteren Bildwerke ergibt sich – wie in Dürers Allerheiligenbild – von der Mittelachse nach außen absteigend. (Abb. 48) Auf den Flügelinnenseiten finden sich Reliefs in zwei Registern, die wiederum dem hierarchischen Prinzip folgen, diesmal dem von Oben und Unten: Oben finden sich neutestamentliche Szenen. Im unteren Register hingegen sind Szenen aus dem Alten Testament dargestellt. Sie weisen typologisch auf das Heilsgeschehen des Neuen Testaments voraus, sie sind untergeordnet und daher auch im unteren Register angebracht. In der horizontalen Abfolge der Darstellungen jedoch galten andere als die bisher benannten Ordnungsprinzipien. Die
Abb. 50. Kunsthistorisches Museum Wien, Allerheiligenbild, Albrecht Dürer, 1511
Plan oder Zufall? – Gab es ein Gesamtkonzept für die mittelalterliche Ausstattung im Münster zu Doberan? | 89
Abb. 51. Hochaltarretabel, Predella, Detail: Marienkrönung
obere Bildreihe beginnt links mit Johannes dem Täufer als einem der Kirchenpatrone9 und letztem Propheten, der auf das Kommen Christi hingewiesen hat. Es folgt unmittelbar anschließend die Erfüllung der Prophezeiung: Die Verkündigung an Maria, Geburt Christi, Darbringung im Tempel, dann auf dem rechten Flügel Passionsszenen: Geißelung, Kreuztragung, Kreuzigung und als Abschluss der Auferstandene Christus. Es sind erzählende Darstellungen, die sich nur als kontinuierlich-lineare Szenenfolge darstellen ließen, d. h. nach der üblichen Leserichtung des Betrachters von links nach rechts, nicht in der zu Beginn beschriebenen Form, wonach die Entfernung von der Mittelachse den Rang der Bildorte bestimmte. In diesem Fall stand der Wunsch, eine nachvollziehbare und kontinuierliche Serie herzustellen, einer axialsymmetrischen Ordnung entgegen. Der Erzählfluss der Heilsgeschichte erforderte eine horizontale Anordnung der Szenen. Um 1300, als das Retabel als eines der ersten Flügelretabel überhaupt entstand10, eröffnete diese völlig neue Formgelegenheit auch neue Möglichkeiten der Hierarchisierung. Durch das Auf- und Zuklappen der Flügel konnte eine weitere Abstufung erreicht werden: Was auf den Flügelinnenseiten angebracht war, lag näher am Zentrum als die Bilder der Flügelaußenseiten, die daher niedriger im Rang waren. Diese Flügelaußenseiten waren an den Werk-
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tagen sichtbar, während eine öffnung des Retabels nur an Festtagen stattfand. Auf den Flügeln der Festtagsseite finden sich in Doberan goldgefasste Reliefs, während die Flügelaußenseiten mit niederrangigen Malereien geschmückt waren, die heute verloren sind. Durch Beschreibungen überliefert sind Darstellungen der Kirchenpatrone11. Das Flügelretabel diente also nicht nur zur Präsentation von Reliquien, sondern mehr noch zu einer Differenzierung von Bildorten innerhalb eines Ausstattungsstückes. Die Rangfolge innerhalb des Retabels war klar: An erster Stelle im Schreinzentrum stand Christus in Realpräsenz in der Hostie und als Darstellung auf dem Arm der Muttergottes, es folgten die Reliquien der Heiligen im Schrein, die ebenfalls real anwesend waren, dann die erzählenden Reliefs mit der Heilsgeschichte und zugehörigen Typologien, schließlich Malereien von einzelnen Heiligen als unterste Kategorie auf den Flügelaußenseiten. Aufgrund veränderter liturgischer Dispositionen wurde um 1370 das Retabel um einen Unterbau erhöht (Abb. 48), der nun wieder ganz der hergebrachten axialsymmetrischen Ordnung folgt: Im Zentrum findet sich die Marienkrönung (Abb. 51), eine Christusdarstellung, der Maria zugeordnet ist, seitlich schließen sich – analog zur Gestaltung des Schreines – Reliquiengefache an, auf den Flügelinnenseiten ist die höchste Ordnung der Heiligen dargestellt, die Apostel, an-
geführt heraldisch rechts von dem Apostelfürsten Petrus, links dem Apostel Paulus. Ihnen sind ganz außen zwei weitere, in der himmlischen Hierarchie nachrangige Heilige zugeordnet, heraldisch rechts der hl. Papst Fabian, links der hl. Sebastian (Abb. 52), zwei Patrone des Doberaner Münsters12. Beide waren Märtyrer, stehen also auf derselben hierarchischen Stufe der Heiligen. Die Überordnung des Papstes resultiert aus seinem geistlichen Amt, das hier ganz explizit dem Laien Sebastian gegenübergestellt wird, der ungewöhnlicherweise als Ritter dargestellt ist. Hier kommt der traditionelle Vorrang der Geistlichen vor den Laien in der Rangordnung des Mittelalters zum Ausdruck, so wie wir ihn auch auf Dürers Allerheiligenbild erkennen konnten und wie er sich z. B. auch darin ausdrückt, dass bei mittelalterlichen Urkunden üblicherweise die Geistlichen vor den Laien als Zeugen genannt werden. Innerhalb der Predella wird nur an einer Stelle die Konsequenz der Bildhierarchie durch ein szenisches Bildelement außer Kraft gesetzt: Bei der Marienkrönung im Zentrum ist Maria zur Rechten Christi platziert – wohin sie ranggemäß eigentlich nicht gehört. Hier gilt es, die literarischen Quellen zu befragen. Im Psalm 45 (44),10 heißt es: „die Braut steht dir zur Rechten im Schmuck von Ofirgold“, was im Mittelalter stets auf Maria als Braut Christi und goldgeschmückte Himmelskönigin bezogen wurde13. Bereits in den frühesten Darstellungen der Marienkrönung thront deshalb Maria zur Rechten Christi. Gegen biblische Autorität und ikonografische Tradition kam keine noch so konsequente Hierarchievorstellung an: Maria gehörte deshalb an die rechte Seite Christi. Insgesamt ergibt sich für das Hochaltarretabel also eine in sich stimmige hierarchische Komposition von oben nach unten und von innen nach außen, wobei die neuen Möglichkeiten des Flügelretabels zur weiteren Differenzierung genutzt wurden. Nur wegen der Erfordernisse der erzählerischen Kontinuität auf den Innenseiten der Flügel und der Anforderungen der schriftlichen Überlieferung im Falle der Marienkrönung waren im Einzelfall Abweichungen von diesen Regeln erforderlich. Das Hochaltarretabel war ein in sich geschlossenes komplexes Bildsystem, doch es war im Rahmen der Großarchitektur des Doberaner Münsters nur Teil eines umfassenderen Kosmos, gleichsam ein Fixstern unter mehreren. Nicht nur das Hochaltarretabel, sondern auch jedes weitere komplexere Ausstattungsstück hatte seine eigene Bildhierarchie, die sich jedoch in das Ganze der Kirchenausstattung einfügte. Ich möchte im Folgenden zeigen, wie diese Rangordnung in außergewöhnlicher Konsequenz nach den beschriebenen Kri-
terien umgesetzt wurde. Um das Gesamtkonzept zu analysieren, muss vorausgeschickt werden, dass es Oben und Unten auch in der mittelalterlichen Architektur gab: Zunächst gab es natürlich das reale Oben und Unten, und hier galt: Je weiter entfernt vom Fußboden sich ein Objekt befand, desto höherrangig war es. Die Gewölbe mittelalterlicher Kirchen sind häufig mit Sternen als Zeichen des Himmels geschmückt, während sich niedere, z. T. sogar drastische Bildthemen in Bodennähe befinden – wie wir gleich sehen werden. Doch es gibt noch ein weiteres Oben und Unten im Kirchenraum. Oben, das war in einer Kirche das Sanktuarium mit dem Hochaltar im Osten, es folgten weiter nach Westen fortschreitend: der Chor mit dem Mönchsgestühl (Abb. 58) und der Choreingang mit dem Kreuzaltar (Abb. 25), dann das restliche Mittelschiff, in Doberan gefüllt mit dem Gestühl der Konversen (Abb. 59). Der Raum zwischen den Chorpfeilern und denen des Mittelschiffs bildete den Kern des Gebäudes, dem sich als periphere Regionen die Seitenschiffe und der Chorumgang zuordneten. Je weiter ein Ort vom Hochaltar entfernt war, desto weniger ausgezeichnet war sei-
Abb. 52. Hochaltarretabel, Predella, Detail: Hl. Papst Fabian, hl. Sebastian
Plan oder Zufall? – Gab es ein Gesamtkonzept für die mittelalterliche Ausstattung im Münster zu Doberan? | 91
Abb. 53. Kelchschrank, geschlossen
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ne Position. Auch in den zeitgenössischen mittelalterlichen Beschreibungen ist „oben“ in einer Kirche in aller Regel im Osten beim Hochaltar, „unten“ hingegen im Westen. Das zweite Ordnungsprinzip im Kirchenraum, das der Zentrierung, ausgehend von der Mittelachse – wie auf dem Dürerbild – lässt sich in Doberan ebenfalls gut nachverfolgen. In der Mittelachse des Münsters finden sich ausschließlich Darstellungen Gottes: Die Muttergottes mit dem Christuskind und mit der Hostie im Hochaltarschrein erwähnten wir bereits. Weiter unten in der Kirche, d. h. weiter im Westen, steht ferner das riesige doppelseitige Triumphkreuz (Abb. 25, 28) mit dem Gekreuzigten auf der einen, der Muttergottes – wieder mit Christuskind – auf der anderen Seite: Beide Skulpturen stehen in der Mittelachse des Kreuzes ebenso wie in der Mittelachse der Kirche, weit in der Höhe und sind damit in jeder Hinsicht als hochrangig ausgezeichnet. Die Mariendarstellungen im Hochaltarschrein und auf der Ostseite des Triumphkreuzes rahmen den liturgischen Chor der Kirche, sie definierten diesen Raumteil um 1300 als die abgeschlossene Welt der Mönche. Als man die Muttergottesfigur des Hochaltarretabels im späteren 14. Jahrhundert aufgrund gewandelter liturgischer Gewohnheiten aus dem Hochaltarretabel entfernte, da suchte man einen Platz, der ihrer würdig war. Man fand ihn westlich des Hochaltars, damit an rangniederer Stelle, was allerdings dadurch ausgeglichen wurde, dass man die Figur in die Höhe erhob und in einen Leuchter integrierte, der bis heute hoch oben im Kirchenraum hängt – selbstverständlich in der Mittelachse (Abb. 73). So wahrte die Figur ihre herausgehobene Position im Gefüge der Bildhierarchie. Die übrigen Bildorte innerhalb der Kirche wurden hierarchisch nach dem Prinzip von Rechts und Links geordnet: Heraldisch rechts vom Hochaltar als dem Referenzort aus gesehen lag der Norden, heraldisch links der Süden. Damit waren die nördlichen Teile des Mönchs- und Konversenchores den südlichen übergeordnet. Bleiben wir aber zunächst noch im Sanktuarium und wenden uns dort dem berühmten Kelchschrank zu (Abb. 53). Er muss ehemals in die gemauerten Chorschranken eingefügt gewesen sein, die im späten 19. Jahrhundert beseitigt wurden14. Dies belegen Reste von Putz am Schrankcorpus. Johannes Voss und ihm folgend Annegret Laabs nahmen als wahrscheinliche ursprüngliche Position das zweite Joch der Nordseite zwischen dem zweiten und dritten Chorpfeiler als originalen Standort an, unmittelbar hinter dem um 1370 aufgestellten Sakramentshaus15. Im späten 19. Jahrhundert stand er dort (Abb. 54), wenn auch bereits aus der Chorschranke herausgelöst,
und bildete zusammen mit Sakramentshaus und Hochaltarretabel eine breite Schauwand aus nebeneinander aufgereihten Elementen – eine ganz und gar unmittelalterliche Komposition, wie wir nun mit unserer Kenntnis mittelalterlicher Hierarchisierung feststellen können. Nach einigen Umstellungen steht der Schrank heute wieder in der Nähe dieser Stelle, und zwar unmittelbar hinter dem Sakramentshaus, weshalb er nur schräg von der Seite betrachtet werden kann. Diese Position ist nicht gesichert und erscheint mir nicht naheliegend. Wahrscheinlicher stand er etwas weiter westlich, im nächsten Joch zwischen dem dritten und vierten nördlichen Pfeiler, wo er nicht von dem Sakramentshaus verdeckt wurde. Blicken wir zunächst auf die Bildhierarchie des geschlossenen Zustands (Abb. 53): Das Corpus des Kelchschranks wird von einem zeitgleich entstandenen Aufsatz bekrönt, wo zentral Christus als Salvator dargestellt ist, dem zwei steigende Löwen zugeordnet sind. Sie sind wohl nicht als Auferstehungssymbole zu deuten wie Annegret Laabs annahm16, sondern verweisen in Anlehnung an die Offenbarung des Johannes
Abb. 54. Hochchor mit Hochaltarretabel, Sakramentsturm und Kelchschrank
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Abb. 55. Kelchschrank, geschlossen, Detail: Marienkrönung
(Off. 5,5) auf Christus als den siegreichen Löwen aus dem Stamme Juda, den Spross Davids17. Im obersten Register der Schranktüren ist die Marienkrönung dargestellt (Abb. 55). Genau wie auf der Hochaltarpredella thront wieder Maria zur Rechten Christi, flankiert von den Apostelfürsten Petrus und Paulus – wobei das Petrusrelief in jüngerer Zeit gestohlen wurde. Darunter im zweiten Register war ehemals eine Anbetung der Könige über vier Bildfelder geführt, man erkennt nur noch den Stern von Bethlehem über der ehemals im rechten Bildfeld thronenden Maria, der sich die drei Könige näherten, deren jeder ein eigenes Bildfeld einnahm. Im Register darunter ist allein noch Ezechiel mit der geschlossenen Pforte als typologischer Hinweis auf die Jungfräulichkeit Mariens und den kommenden Erlöser erhalten. In den drei heute leeren Feldern dürften weitere alttestamentarische Typologien als Verweis auf die Epiphanie des Heilands angebracht gewesen sein. Die Positionen im untersten Register sind schon lange leer, hier muss es hierarchisch niedrigere Darstellungen gegeben haben. Die Verbindung der Heilsgeschichte – die Epiphaniedarstellung der Hl. Drei Könige – mit alttestamentarischen Typen ist eindeutig vom Hochaltarretabel inspiriert. Dadurch werden beide liturgischen Möbel als Teil eines Gesamtkonzepts definiert. Das übrige
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Bildprogramm des Kelchschranks hat wiederum offensichtlich Einfluss auf die Gestaltung der nachträglich um 1370 angebrachten Predella des Hochaltarretabels gehabt, wo die Marienkrönung und flankierende Apostel nachgebildet sind. Dieser enge Zusammenhang der Bildthemen am Kelchschrank und an der Hochaltarpredella lässt vielleicht Rückschlüsse auf die Darstellungen des untersten Kelchschrankregisters zu. Hier könnten in Parallele zu den auf der Predella an den Außenecken angebrachten Altarpatronen Fabian und Sebastian ebenfalls Weihepatrone der Kirche dargestellt waren – doch muss das letztlich offenbleiben. Mit dem Bildprogramm geschlossenen Zustandes war die Einbindung des Kelchschrankes in das Gesamtprogramm des Sanktuariums, insbesondere des Hochaltarretabels gewährleistet. Der geöffnete Zustand (Abb. 56) hatte jedoch nicht den Hochaltar als Referenzort. Hier sind in vier Registern insgesamt 20 Gefache für Messkelche und Patenen angeordnet, möglicherweise waren hier auch wertvolle Urkunden der Abtei gelagert18 – jedenfalls keine Reliquien, wie die ältere Forschung annahm19. Der Bildschmuck konzen-
Rechte Seite: Abb. 56. Kelchschrank, geöffnet
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Abb. 57. Levitengestühl
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triert sich auf die Flügel, die ältesten erhaltenen Tafelmalereien in Mecklenburg-Vorpommern (Abb. 49). Sie stellen den alttestamentlichen Priesterkönig Melchisedek mit einem Kelch dar. Ihm gegenüber opfert Abel ein Lamm. Beide Figuren sind zusammengenommen durchaus übliche alttestamentliche Präfigurationen des Messopfers in beiderlei Gestalt: Brot und Wein. Der jüdische Priester und der Sohn Adams recken ihre Arme empor zum Salvator im Schrankaufsatz, es sind zwei Helfer bei der Ausführung des Messopfers. Vis-à-vis vom Kelchschrank, am südlichen Rand des Chores, heraldisch links der Mittelachse und damit an untergeordneter Position, stand ursprünglich und steht auch heute noch der sog. Levitenstuhl, auch Dreisitz genannt (Abb. 57). Er hat zwar zahlreiche Veränderungen und Restaurierungen zu erleiden gehabt20, doch war er ehedem wie auch heute ohne Schmuck durch religiöse figürliche Darstellungen. Damit wird die Unterordnung unter den Kelchschrank im Norden
auch bildlich umgesetzt. Allerdings gab es zumindest zeitweise eine gewisse Angleichung. Der Levitensitz diente dem Priester und seinen beiden assistierenden Diakonen als Sitzgelegenheit während der Messe. Zur Messvorbereitung wurden aus dem Kelchschrank die Messutensilien, insbesondere Kelch und Patene entnommen, damit dürfte der Kelchschrank während der Messe geöffnet gewesen sein, zumal Melchisedek und Abel mit ihren Gaben direkt auf das Messopfer hinweisen. Während der Messe war also Christus mit Melchisedek und Abel dem Priester mit seinen Mess-Assistenten räumlich gegenübergestellt. Der lebendige Priester mitsamt seinen Messhelfern wurde so zu dem bildlich präsenten Christus mitsamt seien alttestamentlichen „Assistenten“ in Beziehung gesetzt. Diese Gegenüberstellung funktioniert durchaus auch dann, wenn der Kelchschrank im zweiten Joche des Chores stand, aber sie wird natürlich einleuchtender, wenn er im dritten Joch direkt gegenüber dem
Abb. 58. Mönchsgestühl von Osten
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Abb. 59. Konversengestühl von Westen
Levitenstuhl stand – ein meiner Meinung nach wesentliches Argument für seine ursprüngliche Position an dieser Stelle. Damit wird der liturgisch agierende Mensch in das ikonische Programm der Chorausstattung einbezogen. Das bei Ausstattung des Sanktuariums erkennbare Bildsystem mit der Abstufung von Ost vor West und Nord vor Süd wurde bei der Erstausstattung des Doberaner Münsters konsequent weitergeführt. Auf das Sanktuarium als Aktionsbereich des Priesters und der Messhelfer folgt der Chorbereich. Er wird im Wesentlichen von dem Chorgestühl der Mönche ausgefüllt (Abb. 58), dem sich westlich das der untergeordneten Konversen, der Laienbrüder, anschloss (Abb. 59). Das bedeutet natürlich auch, dass der Hierarchie der Bilder auch eine Hierarchie der Benutzer der durch Schranken getrennten Räume der Kirche entsprach. Mönchs- und Konversengestühl bestehen aus einander gegenübergestellten Sitzreihen, die sehr selektiv mit bildlichen Darstellungen versehen sind. Sie konzentrieren sich im Wesentlichen auf die Gestühlswangen, welche die Reihen der Sitze nach West und Ost abschließen. Man kann nun erwarten, dass die östlichen, zum Hochaltar hin ausgerichteten Gestühlswangen die hierarchisch höheren Bildthemen aufweisen als die nach Westen gerichteten. Außerdem ist zu erwarten, dass von diesen öst-
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lichen Bildthemen wiederum die der Nordseite einen höheren Bildrang gegenüber denen der Südseite einnehmen. Und genau so ist es tatsächlich. Die Wangen der Ostseite, die zum Hochaltar hin gerichtet ist (Abb. 60, 61), zeigen auf der heraldisch rechten, ranghöheren Seite figürliche Reliefs. Sie werden ausgezeichnet durch einen architektonischen Aufbau. Innerhalb der Darstellung findet sich eine weitere Differenzierung: Oben die Verkündigung der Geburt Christi an Maria (Abb. 61), die sich auch an herausragender Stelle auf dem Hochaltarretabel findet. Darunter stehen zwei einfache, aber für den Zisterzienserorden wichtige Heilige: Bernhard und Benedikt, die ebenfalls auf dem Hochaltarretabel dargestellt waren, allerdings auf den Flügelaußenseiten21, also an deutlich niedrigerer Position – durchaus vergleichbar mit der Hierarchisierung der Gestühlswangen. Auf der Südseite (Abb. 60) finden sich lediglich Blattranken und zwei Drachen, welche die nach oben rankenden Gewächse ausspeien. Schon damit ist die Bildhierarchie akzentuiert: Verkündigung und Heilige stehen über Rankenornament und Drachen. Auch gibt es auf der Südseite keine Architekturbekrönung wie über der Verkündigungsdarstellung. Innerhalb der vegetabilen Bildwelt gibt es eine weitere Differenzierung: Die Blattranken enden in einer Lilie, einem Mariensymbol nach
dem Hohen Lied, das auf dieser niedrigen Ebene immerhin auf die Muttergottes der Nordseite verweist. Die vom Hochaltar abgewandte Westseite des Mönchsgestühls (Abb. 62, 63) zeigt im Norden oben unter einem architektonischen Aufsatz den Pelikan, der seine Brust aufreißt, um mit seinem Blut seine Jungen zu nähren, so wie Christus sein Blut für die Menschheit vergossen hat (Abb. 172). Es ist eine Tiertypologie nach dem im Mittelalter weitverbreiteten Physiologus. Der Pelikan steht als nichtmenschliches Wesen in der Bildhierarchie natürlich unter den alttestamentlichen Typologien, wie sie an Hochaltar und Kelchschrank erscheinen, aber immerhin: Das Tier verweist auf Christus, ist Teil der christlichen Heilslehre. Die originale Wange der Südseite ist nicht erhalten, so dass keine Aussage über die ursprüngliche Gestaltung möglich ist. Auf der Ostseite des Konversengestühls (Abb. 64, 65) tragen beide Wangen eine Architekturbekrönung, die der Nordseite ist jedoch höher. Bei den bildlichen Darstellungen überwiegen die Tiere ohne symbolische Bedeutung: Fuchs oder Wolf – genau ist das nicht erkennbar – auf der Südseite, dazu Fabelwesen wie Drachen, jeweils umgeben von Blattranken, die zumeist aus den Tiermäulern sprießen. Nur auf der heraldisch rechten, der Nordseite ist ein letzter Hinweis auf
die göttliche Heilsgeschichte angebracht, wieder nach dem Physiologus als tierische Typologie: Ein Löwe brüllt seine totgeborenen Jungen an und erweckt sie – so der Physiologus – damit nach drei Tagen zum Leben – eine Parallele zur Auferstehung Christi (Abb. 260). Eine weitere Eigenart schreibt der Physiologus dem Löwen zu: „Wenn der Löwe schlummert in seiner Höhle, so ist‘s doch eher ein Wachen; denn geöffnet bleiben seine Augen“22. Das Relief befindet sich auf der Höhe der Konversensitze. Man könnte es auf deren Benutzer beziehen, als eine Ermahnung: Wenn die Konversen schlaftrunken die nächtlichen Stundengebete absolvieren, so sollen sie wie der Löwe zumindest ihre Augen offen halten. Die Wangen der Westseite des Konversengestühls (Abb. 66, 67), am weitesten entfernt vom Hochaltar, nahe der Westwand der Kirche, also an der hierarchisch niedrigsten Position der Kirche, zeigen wiederum eine veränderte Bildwelt. Am Abschluss der nördlichen Wange findet sich ein Vogel, den man spontan wiederum als einen Pelikan nach dem Physiologus interpretieren möchte. Allerdings ist die Darstellung nicht eindeutig: Zwar geht der Schnabel des Vogels zu seiner Brust, doch ist nicht erkennbar, ob er sie öffnet, um an sein Blut zu gelangen, auch fehlen die Jungen als Empfänger der Liebestat
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Abb. 60. Mönchsgestühl, Ostseite, Südwange
Abb. 61. Mönchsgestühl, Ostseite, Nordwange
des Elternvogels. So bleibt offen, ob nicht ein normaler Vogel beim Putzen des Gefieders ohne symbolischen Hintersinn gemeint ist. Ansonsten überwiegen an dieser Wange Blattranken. Im unteren Teil gibt es zwei Blattfratzen, die eine Vorstellung von dem Bösen vermitteln (Abb. 68). Sie finden sich nur hier.
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Abb. 62. Mönchsgestühl Westseite, Nordwange
Abb. 63. Mönchsgestühl Westseite, Südwange
Ganz unten auf der Südwestwange, am untersten Ende der Werteskala, findet sich das unterste Wesen, das existiert: Es ist der Teufel (Abb. 69). Er ist gerade dabei, einen Konversen in Versuchung zu führen, nicht an den Stundengebeten teilzunehmen. Spruchbänder erläutern den Dialog in lateinischer
Abb. 64. Konversengestühl Ostseite, Südwange
Abb. 65. Konversengestühl Ostseite, Nordwange
Sprache: „Bruder was machst du hier; komm mit mir!“ (QVID. fACIS. HIC. frAter.VADe MeQVM), spricht der Teufel. Doch der Konverse ist standhaft und antwortet: „An mir wirst Du nichts Böses finden, Du grausame Bestie!“ (.NIHIL. IN.Me. rePerIeS. MALI. CrUeNtA. BeStIA.).
Abb. 66. Konversengestühl Westseite, Nordwange
Abb. 67. Konversengestühl Westseite, Südwange
Es gibt nur wenige Stellen innerhalb des Bildsystems, an denen Darstellungen von Menschen vorkommen. Nur an einer Stelle ist ein Konventsmitglied dargestellt, der bereits genannte Konverse im Gespräch mit dem Teufel. Die Konversen werden ferner ermahnt, beim Chorgebet die Augen eben-
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Abb. 68. Konversengestühl Westseite, Nordwange, Detail: Blattmasken
Abb. 69. Konversengestühl Westseite, Südwange, Detail: Teufel und Konverse
so offen zu halten, wie es der Löwe des Physiologus tut. Auf der Schwelle zum Sanktuarium finden sich Darstellungen mittelalterlicher Heiliger: die Ordensgründer Benedikt und Bernhard von Clairvaux (Abb. 61, 442). Im Sanktuarium schließlich ist die Anwesenheit der Messoffizianten vorausgesetzt, doch verdienen sie offenbar keine ikonische Realisierung, es gibt mit den leeren Priestersitzen nur einen Platzhalter. Anders als die Menschendarstellung ist die Architektur ein eminent wichtiger Faktor in dem hierarchischen System der Doberaner Ausstattung. Die perfekt durchgeführte Einbindung des Hochaltarretabels in die Chorarchitektur erwähnten wir bereits. Es erzielt seine prachtvolle Wirkung aus der Ferne ganz überwiegend durch seine reiche Architektur mit ihren Wimpergen und den schlank emporragenden Turmaufbauten. Auch bei Kelchschrank (Abb. 53, 56) und Levitenstuhl (Abb. 57) hat die Architektur einen großen Anteil
am Erscheinungsbild, beim Kelchschank nimmt der Aufsatz knapp die Hälfte der Gesamthöhe ein, beim Levitenstuhl ist es sogar mehr, womit offenbar die Tatsache ausgeglichen wurde, dass hier keine Bildwerke angebracht wurden. Das Mönchsgestühl besitzt an der höchsten hierarchischen Position zwei Geschosse architektonischer Rahmung um die Heiligen bzw. die Figuren der Verkündigung, darüber einen Wimperg, der mit Rose und Dreistrahl gefüllt ist (Abb. 61). Auf der niederrangigen Südseite (Abb. 60) fehlt hingegen jeglicher architektonischer Aufbau. Die Westseite des Mönchsgestühls (Abb. 62, 63) verfügt im Norden allein über einen Wimperg, wiederum gefüllt mit Rose und Dreistrahl; die südliche Wange ist hier zu großen Teilen erneuert, so dass keine genauen Aussagen über den Aufbau möglich sind. Die Ostseite des Konversengestühls (Abb. 64, 65) entspricht in Bezug auf den architektonischen Abschluss in etwa der gegenüberliegenden Westseite des Mönchsgestühls. Die
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Westseite hingegen, ganz am unteren Ende der Werteskala ist ohne jegliche architektonische Zier (Abb. 66, 97). Zusammengefasst ergibt sich, dass auch die Architektur die hierarchische Abstufung vom Hochaltar bis Westende des Mittelschiffs konsequent nachvollzieht. Noch ein letztes Moment der Differenzierung sei genannt: Der Detailreichtum und die Sorgfalt bei der Ausführung der schnitzerischen Arbeiten. Die höchste Stufe an detaillierter Ausarbeitung zeigt das Hochaltarretabel: reich ist der Giebel des Wimpergs profiliert und mit naturalistisch gestalteten Krabben in Form von Weinblättern verziert. Ihm nur wenig nach steht der Giebel des Kelchschrankes. Der zentrale Wimperg des Levitenstuhls ist weniger stark profiliert, er ist mit Laubwerk in Flachrelief gefüllt und mit stark stilisierten, fast schematisch ausgeführten Weinblättern verziert. Auch die Gestühle sind differenziert behandelt. Das Mönchsgestühl hat ein ähnliches Formenrepertoire wie das Hochaltaretabel, doch ist alles einfacher gestaltet, weniger differenziert und gröber geschnitzt. Am Konversengestühl schließlich behielt man auf der Westseite die Formen wiederum bei, verzichtete aber vollständig auf durchbrochene Schnitzarbeit; die Krabben sind gegenüber dem Mönchsgestühl wiederum vereinfacht. Interessant ist die Behandlung des Laubwerks am Gestühl. Man könnte vermuten, dass die Relieftiefe von Ost nach West abnimmt, und tatsächlich ist die Ostwange des Konversengestühls flacher geschnitzt als die Ostwange des Mönchsgestühls, auch das Blattwerk ist stärker stilisiert. Doch der entscheidende Unterschied ist ein anderer: Die Ranken des Mönchsgestühls sind in einer strengen geometrischen Ordnung ausgeführt. Sie sind symmetrisch angeordnet, und zwar so, dass alle Weinblätter nach oben streben. An der Ostseite des Konversengestühls gibt es zwar noch eine große Kreisform, die aus dem Maul des Wolfes herauswächst (Abb. 64). Doch die Blätter sind nicht mehr sämtlich nach oben gerichtet, sondern streben ungeordnet in alle Richtungen, ja sie überschneiden gar die Ranke selbst, was auf dem Mönchsgestühl sorgsam vermieden wurde. Der Eindruck des Ungeordneten verstärkt sich auf der Westseite des Konversengestühls (Abb. 66). Hier streben die Ranken in die verschiedensten Richtungen, einige hängen schlaff herab, das Wurzelwerk deutet an, dass wir es nicht mit symbolischen Gewächsen zu tun haben, sondern mit Gebilden, die unter die Erdoberfläche hinab reichen, in die Dunkelheit der Unterwelt. Der Höhepunkt der Unordnung findet sich auf der Teufelswange (Abb. 67): In einem chaotischen Hor-
ror Vacui ist die Wange gefüllt, wild treiben die Ranken über- und untereinander her. Sie entspringen nicht der Erde, sondern unmittelbar der Sphäre des Teufels, dementsprechend strebt die Mehrzahl der Ranken nach unten, nicht zum Licht, sondern zur Finsternis der Hölle. Ein äußerstes Zeichen der Unordnung, welche in diesem Bereich der Bildwelt herrscht, zeichnet die Teufelswange aus. Sie ist die einzige Wange, die ohne Rahmung bleibt. Noch das Pendent auf der Nordseite hat eine schmale Rahmenleiste (Abb. 66), wenn auch nicht mit differenzierten Profilen wie die höherrangigen Objekte im Sanktuarium. Sie gibt dem Rankenwerk Halt, fasst und kultiviert es. Diese Ordnung fehlt auf der Teufelswange. Teufel und Konverse sind äußerst derbe gestaltet, fast wie von Laienhand, ihnen fehlt die Eleganz der höherrangigen Bildwerke im Sanktuarium. Das hat – so meine ich – nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie mit dem künstlerischen Vermögen des Bildschnitzers zu tun. Vielmehr ist hier der grobe Stil das angemessene Darstellungsmittel für einen groben Verführer. Wir sind am Ende der Analyse der Bildhierarchie im Doberaner Münster angelangt. Das Ordnungssystem, das hier angewandt wurde, ist keine Erfindung der Doberaner Mönche. Oben und Unten, Rechts und Links waren sehr allgemeingültige Ordnungskriterien bei der Ausstattung mittelalterlicher Kirchen. Doch die Konsequenz, mit der dieses System auf allen Ebenen und bis in Einzelheiten hinein angewandt wird, ist außergewöhnlich, ja beinahe einmalig. Einbezogen sind die Bildthemen im Hochaltarretabel von der Realpräsenz Christi in der Hostie über die Anwesenheit der Heiligen in ihren Reliquien, die Heilsgeschichte des Neuen Testaments und deren typologischen Vorläufer im Alten Testament bis zu den einfachen Heiligen. Nach Westen zu wird kontinuierlich abgestuft: Die im Osten ungemein reiche architektonische Zier nimmt nach Westen ab, verliert sich schließlich ganz, die christlichen Bildthemen reichen von der Heilsgeschichte bis herab zur Tiertypologie des Physiologus. Doch auch die darunterliegende Sphäre der Natur wird einbezogen: Drachen, Pflanzen, Fratzen sind in feiner Abstimmung an den beiden Gestühlen angebracht. Man nähert sich immer mehr dem Boden, Wurzeln reichen unter die Erde. Ganz unten dann erscheint der Teufel, der rangmäßig unter dem Konversen steht, der also auch auf dem Relief niedriger angebracht ist. Seine Welt ist ohne Ordnung. Die Geschlossenheit dieses erstaunlichen Konzepts erweist die Erstausstattung des Doberaner Münsters als einen großen
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Wurf im Sinne der Enzyklopädien des 13. Jahrhunderts, der sicher von einer Person oder einer kleinen Gruppe von Klerikern erdacht wurde. Das Konzept folgt konsequent dem hochgotischen Ordo-Gedanken. Der Bau der Kirche ist letztlich das symbolische Abbild der Architektur der Himmelsstadt. Sie konstituiert die übergeordnete Einheit, der sich die Ausstattung hierarchisch einfügt und unterordnet. So ist das Schwinden der architektonischen Gestaltung der Ausstattungsstücke als ein Entfernen von der Vollkommenheit und klaren Ordnung der Himmelsstadt zu verstehen. Am untersten Ende der hierarchischen Skala dann herrscht das Chaos des Teufels. Allerdings nimmt auch er in dem großen theologisch-architektonischen Gebäude seinen Platz ein, der ihm von Gott zugewiesen wurde.
ABSTRACT The original furnishings of the Doberan Minster were designed and executed according to a coherent concept. It follows a consistently implemented hierarchy of the pictorial themes and designs, which starts from the high altar in the
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central axis of the church in the east as the highest-ranking place and extends to the western end of the church. The north-south axis also has such gradations, with the north side being the right side of the church starting from the high altar and standing hierarchically above the south side. Following this simple basic order, the furnishings can be interpreted and classified as follows: the high altar is followed by the cupboard for the chalices and the sedilia, then one step deeper by the choir stalls of the monks, thereunder those of the converses, clearly visible in the very different design of the side pieces of the pews. The same hierarchy also applies to complex pieces of equipment such as the high altar retable: its centre ranks higher than its periphery, its top is more important than its bottom. At the very bottom of the hierarchy ladder in the church stands the object that is farthest away from the high altar and on the south side. It is the south-western end piece of the converses’ stalls which shows the devil wanting to prevent a lay brother from praying. The order is adhered not only within the pictorial themes, but also in the pictorial design, whereby the use of architectural elements leads to a nobilisation of the pictorial location.
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SUCKALE 1999; WEILANDT 2007, S. 133–340. Die vorliegende Studie ist die erweiterte und überarbeitete Fassung von WEILANDT 2016. SCHÜTZ 1994, bes. S. 35. KURMANN 1996, S. 135ff.; KRATZKE 2008. Das Kirchenpatrozinium lautete nach der Weiheurkunde vom 4. Juni 1368 (MUB 16, Nr. 9794, S. 342) Christus und Maria, Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist, die Märtyrer Fabian und Sebastian sowie die Ordensheiligen Benedikt und Bernhard, vgl. WICHERT 2000, S. 151. VOSS 2008, S. 37. Am 9. Oktober 1306 (MUB 5, Nr. 3114, S. 297f.) bezeugt Abt Gerhard mit seinem ganzen Konvent eine Stiftung von 520 Mark Lübischer Münze von Seiten des einstigen Lübecker Ratsherrn Gottschalk Wessler (Godscalus dictus Campsor). Er verpflichtet sowohl sich als auch seine Nachfolger, pro salute animarum ipsius Godscalci et parentum suorum et vxoris sue ac omnium progenitorum suorum coram eucharistia siue corpore domini recondito in altari nostro ceream candelam de sex marcalibus talentis in pondere die noctuque sine intermissione semper ardentem habeamus et habere perpetuo teneamur („dass wir zum Seelenheil des Stifters, seiner Eltern, seiner Frau und aller seiner Vorfahren vor der Eucharistie bzw. dem Leib des Herrn, der in unserem Altar bewahrt wird, eine Wachskerze von sechs Mark Talenten Gewicht Tag und Nacht ohne Unterlass immer brennen lassen und dafür Sorge tragen, dass sie ewig brenne“); vgl. MALCHOW 1880, S. 30; LAABS 2000, S. 25. DINZELBACHER 1988; ANGENENDT 1997, S. 154f. Vgl. LISCH 1849, S. 354; eine abweichende Liste findet sich bei Peter Eddelin in diesem Band, S. 476f. Dort sind äußerst merkwürdige Reliquien aufgeführt wie „Die Serviette, so der Braütigam zu Cana in Galilæa auf der Hochzeit gehabt“, „Ein Stück von Judas Darmen, die Jhm entfallen, alß er entzweÿ geborsten“ oder „Ein Stück von dem Schürtztuch, so der Schlachter vorgehabt, als Er bey des verlohrnen Sohnes Wiederkunfft das Kalb abgeschlachtet“. Sie sind offensichtlich ein Produkt protestantischer Antireliquien-Propaganda, keine authentische Quelle für den mittelalterlichen Reliquienschatz; vgl. auch WICHERT 2000, S. 15. S. Anm. 4.
10 Zur Einordung in die Geschichte des Flügelretabels vgl. WOLF 2002, S. 22–39; KAHSNITZ 2005, S. 15; zur Datierung zuletzt FIRCKS 2009, S. 107. 11 Vgl. die Beschreibung bei LISCH 1849, S. 358: „Die Rückseiten der Flügel waren mit Gemälden auf Goldgrund bedeckt, und zwar mit eben so viel Figuren als vorne Doppelnischen sind. Der rechte Flügel enthielt: Maria, Johannes Ev. und einen Abt (H. Benedict?), der linke Flügel enthielt Johannes d. T., Andreas und einen Abt (H. Bernhard), alle fast in Lebensgröße. Von den Rückseiten der beiden einzelnen Nischen enthielt jede zwei ganz kleine Gemälde, von denen nur eines, der bethlehemitische Kindermord, zu erkennen war“. Dieser Beschreibung folgt MÜNZENBERGER 1885/90, S. 49. Es handelt sich (mit Ausnahme des Andreas) um die Kirchenpatrone, s. Anm. 4; vgl. ferner SCHLIE 1899, S. 596f.; LAABS 2000, S. 22; WOLF 2002, S. 28; VOSS 2008, S. 41. 12 S. Anm. 4. 13 SCHILLER 1980, S. 114. 14 Letztmalig erwähnt bei DOLBERG 1889b, S. 227, kurz danach während der Restaurierung durch Möckel entfernt. 15 VOSS 2008, S. 41f.; LAABS 2000, S. 97–102. 16 LAABS 2000, S. 100. 17 DITTRICH 2005, S. 291f. mit weiterer Literatur. 18 Ein solcher Schrank wird in einer Doberaner Urkunde erwähnt. Am 1. Dezember 1336 ließ sich Abt Conrad vom Bursarius Johann Wiese claues ad bursam, ubi priuilegia omnia, instrumenta et littere, in quibus salus et honor monasterii Doberan consistit, necnon calices et preparamenta missalia recludebantur („die Schlüssel zu dem Behältnis, wo alle Privilegien, Urkunden und Briefe, die das Heil und die Ehre des Klosters Doberan ausmachten, sowie Kelche und Messutensilien verschlossen waren“) geben. Und während der Konvent beim Frühstück saß, entwich er mit diesen Sachen nach Rostock, MUB 9, Nr. 6596, S. 726; vgl. MALCHOW 1880, S. 81. Möglicherweise ist hier der Kelchschrank gemeint, so SCHLIE 1899, S. 612f.; LAABS 2000 Anm. 719. 19 Vgl. KELLER 1965, S. 126, der die Forschung lange Zeit in die Irre geführt hat; dagegen zu Recht VOSS 2001. 20 S. dazu S. 111 und 178f. in diesem Band. 21 S. Anm. 11. 22 PETERS 2013, S. 8.
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DIE AUSSTATTUNG DES DOBERANER MÜNSTERS UND DIE LÜBECKER WERKSTÄTTEN UM 1300 KAJA VON COSSArt
Über die mittelalterliche Werkstattpraxis, Auftragsvergabe und die konkreten Herstellungsbedingungen wissen wir für die Zeit um 1300 nur sehr wenig, ebenso wie über die beteiligten Handwerker und Künstler. Darum erscheint es erst einmal wenig erfolgversprechend, die Doberaner Ausstattung in Hinblick auf die Herkunft ihrer Werkstatt befragen zu wollen. Doch angesichts der Vielfalt dort erhaltener Ausstattungsobjekte, die zu großen Teilen sogar noch an ihren originalen Standorten in dem für sie errichteten architektonischen Gehäuse stehen, kann eine detaillierte Befundanalyse der teilweise sogar in ihrer ursprünglichen Fassung auf uns gekommenen Objekte aufschlussreiche Ergebnisse liefern: Vergleicht man die Objekte der in Doberan umfangreich erhaltenen Erstausstattung miteinander, werden künstlerische und handwerkliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich, die zu anderen zeitgenössischen Objekten in Bezug gesetzt werden können. Auf dieser Grundlage ist es möglich, eine vorsichtige Annäherung an den offensichtlich weitläufigen kunst- und kulturhistorischen Kontext dieser Doberaner Ausstattung zur Diskussion zu stellen1. Aufgrund der lange vorherrschenden und erst von Tilo Schöfbeck mithilfe umfangreicher dendrochronologischer Daten korrigierten Annahme, dass die Doberaner Klosterkirche erst zur Chorweihe 1368 vollendet wurde, entging der Forschung die Tatsache der Zusammengehörigkeit der gleichzeitig schon um 1300 konzipierten und ausgeführten Architektur und ihrer Ausstattung2. Dabei war stets bekannt, dass das Hochchorretabel stilistisch auf den Anfang des 14. Jahrhunderts zu datieren ist, dies wurde jedoch mit einer um Jahrzehnte vor der Endweihe erfolgten partiellen Nutzung des Chorpolygons erklärt3.
Linke Seite: Abb. 70. Blick vom Mittelschiff in das südliche Seitenschiff
Einstiger Mittelpunkt des Hochchorretabels war die sogenannte Leuchtermadonna, die vielleicht schon Anfang des 15. Jahrhunderts in einem Hängeleuchter im Chor aufgehängt wurde, ursprünglich aber in der Mittelnische des Retabelschreins stand(Abb. 343)4. Unmittelbar im Rang dem Hochchorretabel nachgeordnet war der Levitenstuhl, der stets auf der Epistelseite des Retabels stand und repräsentativer Sitz des die Messe zelebrierenden Diakons und seiner beiden Subdiakone war (Abb. 57). Wohl zur Vorbereitung der für die Messe benötigten Utensilien und deren sicherer Aufbewahrung diente ein großer Schrank, der ursprünglich östlich des Levitenstuhles in die 1899 abgerissene Chormauer eingebaut war5. Mit Voss ist anzunehmen, dass es sich um einen im „Liber usuum“ als Ministerium bezeichnetes Funktionsmöbel handelte (Abb. 71)6. Seitlich davon stand einst ein ähnlich gestaltetes und einst als verschließbares Schränklein geplantes Möbelstück, dass heute im Nordquerhaus aufgestellt ist. Es war ursprünglich ebenfalls in die Chormauern eingelassen und diente eventuell als Piscina (Abb. 72). Die genannten Objekte ähneln sich in ihrem Aufbau, den Formen und verzierenden Motiven derart, dass anzunehmen ist, dass sie zur selben Zeit in derselben Werkstatt entstanden. Schwieriger ist die Beurteilung des Kelchschranks (Abb. 53, 55), der heute dem Levitengestühl gegenübersteht und offensichtlich aus Elementen verschiedener Herkunft zusammengesetzt wurde. Zudem entspricht er nicht den noch zu beschreibenden Konstruktionsprinzipien der genannten Möbel, so dass er – zumindest im ursprünglich geplanten Ausstattungskonzept – einem anderen liturgischen Kontext zugeordnet war. Wie noch zu zeigen sein wird, lassen sich auch an anderen Ausstattungsstücken Spuren einer nicht vollendeten bzw. veränderten Planung finden.
Form und Stil von Architektur und deren Ausstattung erklären sich unter anderem aus den jeweiligen liturgischen Anforderungen. Im Zentrum der klösterlichen Liturgie stand nicht die Messe, sondern das sieben Mal täglich stattfindende Chorgebet, für das der Konvent in den sich gegenüberliegenden Reihen des Mönchschorgestühls Platz nahm. Demzufolge befindet sich der liturgische Mittelpunkt einer Klosterkirche stets im Gestühl der Mönche und nicht im Sank-
Abb. 71. Chor, Südseite, Ministerium
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Abb. 72. Nordquerhaus, kleiner liturgischer Schrank
Abb. 73. Blick nach Westen: Mönchschor, Triforium, Stuckkonsolen und Kämpferband
tuarium7 (Abb. 58). Somit zählt das in Doberan in seltener Vollständigkeit erhaltene Mönchschorgestühl ebenfalls zur Hochchorausstattung8. Schon Baier äußerte die Vermutung, dass das Mönchschorgestühl einst über die Vierung hinweg bis an die Stufen des Sanktuariums geführt war9. Dem entspricht die gleichbleibende Höhe der Stuckkonsolen im Sanktuarium, die die Dienste oberhalb des Chorgestühls abfangen10. Die Rückseiten des Dorsales schrankten den Chorbereich ausreichend zu den Seitenschiffen und nach Westen zum Konversenchor hin ab11. Dafür mussten sie im Westen im rechten Winkel abgeknickt werden, wofür sich freilich in Doberan keine Anhaltspunkte finden12. Doch fällt auf, dass die Anschlüsse der drei erhaltenen hohen Abschlusswangen sämtlich gestört sind und keinerlei konstruktive Ver-
bindung zu den sich anschließenden Stallen und deren Accoudoir besitzen, wie es sonst an anderen Gestühlen nachweisbar ist13. Dies könnte mit der Entfernung der ursprünglich die Vierung und den Anschluss nach Westen verschließenden Gestühlsteile zusammenhängen, die wahrscheinlich einfach abgesägt wurden14. Formen und Motive des Chorgestühls, insbesondere der erhaltenen Abschlusswangen, wiederholen die der übrigen Chorausstattung. Auffällig ist dabei das Fehlen eines wimpergbesetzten Abschlusses oberhalb der Stallen, wie er am Hochchorretabel, dem Levitengestühl und den liturgischen Schränken vorhanden ist. Setzt man voraus, dass der gesamte Bereich des Sanktuariums und des Mönchschorgestühls auch optisch als Einheit konzipiert war und der geplante obere
Die Ausstattung des Doberaner Münsters und die Lübecker Werkstätten um 1300 | 109
Abb. 74. Hochchorretabel, Mittelschrein mit aufsitzender Dach- und Turmkonstruktion
Abschluss des Mönchschorgestühls unterhalb der die Gewölbedienste abfangenden Stuckkonsolen liegen sollte, so lässt sich dieser leicht als abwechselnd mit Fialtürmchen und krabbenbesetzten Wimpergen gestaltet vorstellen. Die fehlende Vollendung des gleichwohl einst geplanten Abschlusses wäre eine Erklärung für die um 1400 erfolgte Anfertigung des noch heute vorhandenen, maßwerkverzierten Baldachins und der Schleierbretter15. Ein letzter Beleg für das Gestaltungsprinzip der Aneinanderreihung von wimpergüberfangenen Spitzbogen findet sich schließlich oberhalb des Ge-
Abb. 75. Hochchorretabel, Inneres des Mittelschreines mit Zugankern und Kreuzrippengewölbe
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stühls, das gesamte Langhaus und somit den „ausgeschlossen“ Konversenbereich im Westen einschließend, in der wirkungsvoll durch die Obergadenfenster belichteten Triforiumszone der Kirche16 (Abb. 73). Ein solcherart nach außen hin abgeschlossener und damit „unsichtbarer“ Chorraum, der das Konversengestühl, dessen Dorsale, Zwischenwände, Baldachin sowie Schleierbretter ausschloss, die sämtlich erst 1844 zur Angleichung an das Mönchsgestühl geschaffen wurden, entspricht der Umsetzung einer Vorstellungen Gregors des Großen: „…Denn wer von den Gläubigen möchte daran zweifeln, dass gerade in der Stunde des Opfers (…) die Himmel sich öffnen und (…) die Chöre der Engel zugegen sind? Oben und unten verbinden sich, Himmel und Erde, Sichtbares und Unsichtbares werden eins“17. Die Kleinarchitektur des Doberaner Hochchorretabels ist als statisch selbstständiges Gehäuse nach Art eines Ständerwerks mit Aufsatz konzipiert, das die Formen der zeitgenössischen Großarchitektur genau nachbildet (Abb. 74). Der massive Corpus trägt ein von Nord nach Süd ausgerichtetes, kammverziertes Satteldach, dass sich hinter jedem Wimperg mit einem weiteren Satteldach kreuzt. Um die Drucklasten der darauf sitzenden, dreigeschossigen Türme aufzufangen, werden Vorder- und Rückseite des Mittelteils durch Eisenanker zusammengezogen, jeweils unter jedem Gurtbogen des Gewölbes, wie es bauzeitlich in der Großarchitektur der
Klosterkirche selbst ebenfalls angewendet wurde18 (Abb. 75). Das Gewölbe wurde dann von innen gesondert eingesetzt. Dessen aufwändig gearbeitete, über beide Geschosse durchlaufende Gewölbedienste stützen ein Kreuzrippengewölbe, dessen Rippen jeweils in rosenartigen Schlusssteinen zusammenlaufen (Abb. 76). Die Retabelflügel wiederholen die Grundstruktur des Mittelschreins in einfacheren Formen. Die enge liturgische Nähe des Levitenstuhles zum Retabel wird angezeigt, indem er dieses in Aufbau, Konstruktion und Einzelformen nachbildet, im Unterschied dazu aber nie farbig gefasst war. Seiner Funktion als Sitz von Diakon und den beiden Subdiakonen entsprechend, handelt es sich lediglich um drei wimpergbekrönte Spitzbögen, die ebenfalls vor die sich kreuzende Satteldachkonstruktion gelegt wurden. Darüber erheben sich die dreigeschossigen Turmaufbauten, welche zusätzlich mit einem Strebewerk ausgesteift sind19. Obwohl einfacher gestaltet, entsprechen die am Levitenstuhl verwendeten Formen und Motive denen des Retabels. Die vorderen und seitlichen Wimperge des Gestühls sind wie die des Retabelmittelschreins mit variierenden Blattranken gefüllt, die an sie angelegten Blattleisten verwenden jeweils verschiedene Blattmotive. Diese Varianz ist am Hochchorretabel nicht zu finden, vielmehr fällt hier die Verwendung stets derselben Blattform auf. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um Ergänzungen während der Restaurierung Mitte des 19. Jahrhunderts handelt, dass das Retabel ursprünglich also im Vergleich zum Levitenstuhl wesentlich abwechslungsreicher gestaltet war. Sowohl handwerklich-konstruktiv als auch nach den verwendeten Maßwerkformen, Laubrankenmotiven und Profilen wurden das Hochchorretabel und der Levitenstuhl in derselben Werkstatt und nach denselben künstlerischen Vorlagen angefertigt. Bemerkenswert ist jedoch der Unterschied zwischen den Stallen des Levitensitzes und
Abb. 76. Hochchorretabel, Blick in die Nische des Mittelschreins
denen des Mönchs- und Konversengestühls: Sie unterscheiden sich durch Konstruktion und die differenzierte Profilierung der Kopfstücke des Accoudoirs voneinander, so dass vermutet werden kann, dass der Levitenstuhl in einer anderen Gestühlswerkstatt entstand20. Nur die Stallen des in Doberan aufgestellten Levitenstuhls und deren Unterkonstruktion sind original erhalten, der heutige Zustand ist Ergebnis einer vereinfachenden Rekonstruktion des Gestühls Ende des 19. Jahrhunderts nach den andernorts noch vorhandenen Originalteilen21. Auf Geheiß des Großherzoges war das wohl schon seit dem frühen 17. Jahrhundert als Beichtstuhl umgenutzte Levitengestühl 1808 zerlegt worden, um aus dem dreitürmigen Aufsatz mit Satteldach und vorgesetzten Wimpergen ein Retabel für die neuerbaute katholische Kapelle St. Helena in seinem Schlosspark in Ludwigslust zu fertigen22. Die Rückseite des Gestühls fand dann 1853 als Retabel der Kapelle in Althof eine neue Verwendung23. Nachdem die Ludwigsluster Kirchengemeinde 1986 des Retabels überdrüssig geworden war, wurde es auseinandergebaut und über 10 Jahre in einer undichten Garage eingelagert. Dem Restaurator Jörg Schröder gelang es 1997, diese Reste zu sichern und vor der Rekonstruktion in Doberan neu zusammenzufügen24. Vergleichbar dem Hochchorretabel war dem Levitenstuhl wohl einst ebenfalls ein Kreuzrippengewölbe eingelegt. Noch original erhalten ist ein solches Gewölbe im großen liturgischen Schrank („Ministerium“), der sich vermutlich an seinem originalen Standort befindet, doch war er bis zum Abriss der Chorumgangsmauern einst in diese eingemauert. Er wurde nie restauriert und kann deshalb dabei helfen, den ursprünglichen Zustand der anderen Objekte zu rekonstruieren. Die Gewölbekappen des Ministeriums werden durch eine über die Rippen gespannte, weiß getünchte Leinwand verschlossen (Abb. 77). Das Mi-
Die Ausstattung des Doberaner Münsters und die Lübecker Werkstätten um 1300 | 111
nisterium entspricht in Aufbau und Form Hochchorretabel und Levitenstuhl, im Gegensatz zu diesen besteht es aber lediglich aus einem „Joch“ und besitzt keinen Turmaufsatz. Dem kammverzierten, sich kreuzenden Satteldach ist auf jeder Seite ein wimpergbekrönter Spitzbogen vorgeblendet. Der bekrönende Wimperg der Schauseite ist zudem mit durchbrochenem Maßwerk gefüllt, der rückseitige Wimperg hingegen mit Blendmaßwerk. Wahrscheinlich sollten auch die verschlossenen, seitlichen Wimperge mit Maßwerk verziert werden, wie sorgfältige Ritzungen im Holz vermuten lassen25 (Abb. 78). Der heute offene Spitzbogen der Schauseite wurde ursprünglich vollständig mit einer doppelflügeligen Tür verschlossen; darauf verweisen die Spuren von entfernten Scharnieren, die im unteren Bereich in derselben Form noch vorhanden sind (Abb. 79). Ein weiterer kleiner Schrank, der sich heute im nördlichen
Abb. 77. Ministerium, Blick ins „Gewölbe“
Abb. 78. Ministerium, linker Seitengiebel, Ritzungen
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Querhausarm befindet, entspricht in seiner Gestalt ebenfalls den genannten Objekten, ist diesen aber nachgeordnet und befand sich einst wohl ebenfalls im Hochchorbereich. Der sauber ausgearbeitete Falz der Schauseitenöffnung zeigt an, dass eine Verschlussmöglichkeit anfänglich ebenfalls geplant war, aber nicht ausgeführt wurde, da es keine Spuren von deren Befestigung gibt. Beide Schränke sowie der bisher noch nicht angesprochene Kelchschrank zeigen seitlich Spuren ihrer Einmauerung in die 1893 abgerissenen Chorschranken26. Die allseitig wimpergbekrönten Giebel überragten diese und waren somit vom Chorumgang aus sichtbar. Darum sind die beiden beschriebenen Schränke an ihren Rückseiten ebenfalls mit Schmuckformen versehen. Das trifft allerdings nicht auf den Kelchschrank zu, der sich auch sonst in seinen Formen von den beschriebenen Objekten unterscheidet (Abb. 56). Der seinem Corpus aufsitzende, gesondert gearbeitete Salvatorschrein ist so schmal gehalten, dass er genau auf dem aus der Chormauer herausragenden Teil des eingemauerten Corpus aufgestellt werden konnte und somit vor dieser anlag. Unklar muss vorerst die Zusammengehörigkeit mit dem darauf locker aufsitzenden Giebelwimperg und den seitlich beigestellten Fialen bleiben. Dieser Bereich überragte die Mauer, ist aber nicht rückseitig verziert – ein Indiz für seine spätere Anbringung? Die beiden seitlichen, doppelgeschossigen Fialen enden in einer offenen Kammverbindung, die an dieser Stelle funktionslos und zudem nur für rechtwinklige Verbindungen gedacht ist, die an dieser Stelle keinen Sinn ergäbe. Sie sind durch grob eingeschlagene Nägel am Corpus befestig und überragen ihn leicht. Auch einige der verwendeten Maßwerkformen kommen sonst nicht vor; der Achtpass oder der gespitzte sphärische Vierpass des Giebelmaßwerks sind zudem auch handwerklich anders gefertigt als das Maßwerk der übrigen Objekte, indem beispielsweise die Strahlen des Achtpasses nicht wie sonst als Rundstäbe ausgeführt, sondern gekehlt werden27. Ich vermute darum eine etwas spätere Zusammenstellung des Wimpergs und der Fialen mit dem Kelchschrankcorpus und dessen Aufsatz. Der heutige Standort im Hochchorbereich als ursprünglicher Aufstellungsort ist schon von Esther Wipfler bezweifelt worden, die einen Platz in den Chormauern des Umgangs vorschlug28. Letztlich wiederholen alle Objekte der Hochchorausstattung das Schema, das durch das Hochchorretabel vorgegeben war. Dabei gleichen sich die Einzelformen so sehr, dass von einer Anfertigung in derselben Werkstatt ausgegangen werden muss. Gerade Details wie die Kapitellchen, die Profile der
Abb. 80. Originaler seitlicher Wimperg des Levitenstuhles Abb. 81. Wimperg des Hochchorretabels
Abb. 79. Ministerium, Vorderseite, Abdrücke der ursprünglichen Befestigung einer der die Mittelnische verschließenden Türen
Abb. 82. Lübeck, Marienkirche, Kapitelle des zerstörten Lettners (a und b) und Doberaner Konsole
Spitzbögen oder die verwendeten Blatt- und Maßwerkmotive scheinen alle derselben Vorlage entnommen zu sein. Das trifft auch auf die architekturgebundenen, aus Stuck gefertigten Schmuckformen wie die Konsolen, die Kapitelle, Kämpferbänder und Schlusssteine zu (Abb. 82). Da der größte Teil davon ebenfalls original erhalten ist, kann man also von einer jeweils zeitgleichen Planung und Ausführung von Ausstattung und den architekturgebundenen Elementen sprechen. Wipflers These zum Kelchschrank erklärte die Wahl schlichterer Formen am Kelchschrank durch den Rangunterschied in Standort und Funktion des Schrankes: ein lediglich als Stufengiebel konzipierter oberer Abschluss und die mit rundbogigen offene Dreipässen anstelle einer von spitzgiebeligen Bögen gestalteten Schaufront unterscheidet sich deutlich von der Hochchorausstattung. Sie vermutete als Funktion des Schrankes die gesicherte Unterbringung der vasa sacra der Nebenaltäre. Das Schrankinnere beherbergt 20 Nischen, in die diese eingestellt werden konnten. Dem entspricht ungefähr die von Kemperdick rekonstruierte
Anzahl von 14–15 Nebenaltären, die entweder erhalten oder in den Schriftquellen nachweisbar sind29! Zu fragen ist abschließend nach den künstlerischen Zusammenhängen. Bei genauer Betrachtung der verwendeten Blattmotive der Ausstattung fällt auf, dass es sich grundsätzlich nur um fünf verschiedene Einzelformen handelt, die jeweils neu kombiniert und variiert werden (Abb. 80, 81). Da es sich um eine Umsetzung in verschiedene Materialien handelt, ist anzunehmen, dass sie von spezialisierten und darum unterschiedlichen Kräften hergestellt wurden, da jedes Material andere Bearbeitungsbedingungen besitzt und grundsätzlich andere Kenntnisse voraussetzt. Das würde bedeuten, dass es, abgesehen von einem langfristig geplanten Gesamtkonzept30, gezeichnete Vorlagen gab, die allen Ausführenden zur Verfügung standen. Zudem vermute ich, dass in dieser Reduktion auf wenige Grundformen auch schon die rationalisierte Organisation serieller Anfertigungsprozesse zu fassen ist, in der routiniert und arbeitsteilig mit bereits bekannten Vorlagen umgegangen wird, die jeweils von spezialisierten
Die Ausstattung des Doberaner Münsters und die Lübecker Werkstätten um 1300 | 113
Abb. 83. Lübeck, St. Katharinen, Detail der Endwange
Schreinern, Bildschnitzern, Stuckateuren etc. umgesetzt wurden31. Diese wenigen Grundformen lassen sich in Lübeck lokalisieren. Dort gab es im 13. Jahrhundert bereits eine lange Tradition der qualitativ hochwertigen Fertigung kleinformatigen Bauschmuckes sowie großformatiger Skulpturen aus Stuck, wie schon Hans Wentzel zeigen konnte32. Problematisch ist, dass die aussagekräftigsten Objekte 1942 verloren gingen, so dass man auf erhaltene Fotografien zurückgreifen muss33. Das betrifft zum einen den steinernen Unterbau des Lettners der Marienkirche (Abb. 82). Seine Kapitelle geben genau den Typus der Doberaner Motive wieder34. Hinzuweisen ist besonders auf die eigenartige Form der wohl als Feige gemeinten Frucht, die sich, wie noch gezeigt werden soll, in verschiedenen Varianten und Materialien mehrfach auch in Doberan finden lässt. Schwierig ist die Datierung des steinernen Lettners in Lübeck, der erstmalig anlässlich einer Memorialstiftung 1377 erwähnt wird, aber im Unterbau aufgrund der nahen Verwandtschaft mit den um 1300 datierbaren Doberaner Formen wahrscheinlich schon früher fertiggestellt war35. Die Forschung geht von einer Bauunterbrechung an der Marienkirche um 1290 aus, zu diesem Zeitpunkt könnte der Chorneubau, also wahrscheinlich auch der Lettner, schon abgeschlossen gewesen sein36. Die benannte Feigenfrucht ist in Lübeck noch an anderer Stelle, aus anderem Material zu finden: am Chorgestühl der Franziskanerklosterkirche St. Katharinen37 (Abb. 83). Obwohl der Chor von St. Katharinen nach den jüngsten bauhistorischen Untersuchungen schon 1304 unter Dach war, ergaben dendrochronologische Untersuchungen des Chor-
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gestühls dessen Fertigstellung erst gegen 132938. Da dieses Motiv jedoch ausschließlich in Lübeck und Doberan (hier wie da in Stuck sowie Holz ausgeführt) auffindbar ist, kann zumindest von einer langen Verwendung derselben Vorlagen in denselben Werkstätten ausgegangen werden. Betrachtet man die Weinblätter, Ranken und anderen Motive des Katharinengestühls im Detail, so fällt die trotz großer motivischer Ähnlichkeit unterschiedliche Behandlung der Formen auf. Sie sind wulstiger, kräftiger gebildet, die einzelnen Weintrauben werden stärker akzentuiert. Insgesamt ist jedes Motiv weniger geometrisch aufgefasst. Die sich wellenden Weinblätter treten stärker als in Doberan aus der Oberfläche heraus; mit einem Holzbohrer wurden die Blattzwickel tief ausgearbeitet. Ganz ähnliche Weinblätter, wenn auch auf geringerem handwerklichen Niveau und wahrscheinlich unvollendet, besitzen die Reste des Gestühls des Zisterzienserinnenklosters Sonnenkamp (Neukloster), die ebenfalls auf um 1330 datiert werden können39 (Abb. 84). Auch dafür haben sich im Kloster Doberan Beispiele erhalten: so gehört in diese jüngere Gruppe das „Retabel der Leiden Christi“, das heute in der nordöstlichen Umgangschorkapelle aufgestellt ist und dessen Fialtürmchen zwischen den Wimpergen, Maßwerkformen und die bereits genannten stark gewölbten Weinblätter große Gemeinsamkeiten mit den Lübecker Chorgestühlen aufweisen, so dass sie sehr wahrscheinlich sogar in derselben Werkstatt entstanden40 (Abb. 85). Bedeutendstes Werk dieser Gruppe ist das Bocholtgestühl im Lübecker Dom, dessen Anfertigung um 1335 urkundlich belegt ist41. Diese, freilich später als die Doberaner Erstausstattung entstandeAbb. 84. Neukloster (ehem. ne Gruppe weist auf eine äu- Zisterzienserinnenkloster ßerst enge Beziehung der je- Sonnenkamp), Rest einer weils ausführenden Handwer- Endwange des Gestühls
Abb. 85. Ostkapelle, Detail des Retabels der Leiden Christi
Die Ausstattung des Doberaner Münsters und die Lübecker Werkstätten um 1300 | 115
ker hin. Vermutlich handelte es sich aber nicht um dieselbe Gruppe von Handwerkern, wohl aber um dasselbe Werkstattumfeld und dieselben Motivvorlagen. Unklar muss bleiben, wie groß der zeitliche Abstand zwischen den genannten Werken tatsächlich ist. Für die nordwestliche Endwange des Doberaner Konversengestühls, dessen Weinblattmotive den jüngeren Weinblättern der Lübecker Gestühle eher entsprechen als den vergleichbaren Blattmotiven des Doberaner Mönchschorgestühls, wurde jüngst eine Datierung um 1310 (d) vorgeschlagen42. Denkbar wäre, dass die Abschlusswangen der Doberaner Gestühle nicht alle gleichzeitig entstanden, da sie sich sowohl stilistisch, als auch ihren Formen nach zum Teil erheblich unterscheiden. Die Dendrodatierung des unter den Stallen liegenden Schwellbalkens auf um 1293 (+/-10) entspricht der des gesamten Dachwerkes auf um 1296/97 (+/-10) und den überlieferten Schriftquellen, die mit der Fertigstellung der Klosterkirche in Einklang zu bringen sind43. Bisher wurde keine überzeugende Erklärung für die obere und seitliche Verkürzung der Endwangen des Lübecker Katharinengestühls angeboten. Neuerdings wurde eine „frühzeitige, wohl noch während des Aufbaus erfolgte Planänderung“ vermutet44. Wie sämtliche Befunde an Architektur und Ausstattung der Doberaner Klosterkirche zeigen, wur-
Abb. 86. Lübeck, Dom, Levitenstuhl, Vorkriegsaufnahmen des 1942 verbrannten Gestühls Abb. 87. Lübeck, Dom, Levitenstuhl, Detail: Kleeblattmotiv
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den dort Bau und Ausstattung zeitgleich geplant und angefertigt. So erscheint durchaus möglich, dass bereits vor der 1304 erfolgten Vollendung des Chores (unter Dach) von St. Katharinen in Lübeck ebenfalls die Chorausstattung in Auftrag gegeben und begonnen wurde. Sie blieb aber möglicherweise infolge des Interdiktes in Lübeck und des damit zusammenhängenden Baustopps an Dom und Katharinenkirche unvollendet und wurde erst mit Wiederaufnahme der Bauarbeiten in den Zwanzigerjahren des 14. Jahrhunderts unter veränderten Bedingungen fertiggestellt45. Ebenso unsicher gestaltet sich die Datierung des 1942 verbrannten Levitenstuhles des Lübecker Domes (Abb. 86). Bekannt ist, dass sich der Dom 1266 im Bau befand46. Dendrochronologische Untersuchungen an den Resten des ältesten Chorgestühls des Domes ergaben Fälldaten von um 1280 und um 1316 – sie spiegeln damit wohl die Bauunterbrechungen infolge des lang anhaltenden Streites zwischen Bischof, Rat und Bettelorden um das Begräbnisrecht, der den Bischof 1277 ins Exil zwang, woraufhin die Dombaustelle ruhte47. Erst unter Bischof Heinrich Bocholt, der seit 1317 amtierte, wurde der Bau fortgeführt. Besonders der dreitürmige Aufsatz des Domlevitenstuhles erscheint in naher Verwandtschaft zu den Doberaner Turmaufsätzen. Auch die Wangen des Gestühls sind durch wimpergbekrönte Spitzbögen mit eingelegten Dreipässen und trennenden Fialtürmchen gegliedert, die Blätter der abschließenden Ranke sind ebenfalls vergleichbar. Neben weiteren stilistischen Ähnlichkeiten möchte ich nur auf ein Detail aufmerksam machen, das die Datierung des Gestühls ermöglichen könnte: Das dreiteilige Blatt mit Mittelsteg an den die Sitze trennenden Säulchen findet sich bereits am südlichen Turmportal der Marienkirche in Rostock und am vor 1278 eingebauten Südportal der Stiftskirche der Schweriner Bischöfe in Bützow. Es fand dort nachweislich in den fortgeschrittenen 1270er Jahren Verwendung48 (Abb. 87–89). Demnach ist eine Anfertigung des Gestühls vor 1277, also vor dem Baustopp, denkbar. Ich habe die liturgische Zusammengehörigkeit der Doberaner Erstausstattung, die sich in deren Einheitlichkeit manifestiert, betont. Gleiches kann von der geplanten Lübecker Domchorausstattung vermutet werden, doch kamen die dazugehörenden Objekte wahrscheinlich nie zur Ausführung. Zu rekonstruieren wäre ein Hochchorretabel, analog der Doberaner Disposition als Flügelretabel mit dreitürmigem Aufsatz und tiefem Mittelschrein ausgebildet, dem der fotografisch überlieferte Domlevitenstuhl hierarchisch untergeordnet in seinen Formen folgte, und entsprechendes Chorgestühl sowie liturgische Schränke. Eine ähnliche Disposition
kann auch für den Levitenstuhl im Dom der Nachbardiözese Verden, dessen dreitürmiger Aufsatz zeichnerisch überliefert ist, und das dazu gehörende, allerdings später stark veränderte Hochchorretabel angenommen werden49. Zeichnerisch überliefert ist eine ähnliche Ausstattung für das Kloster Loccum, fragmentarisch erhalten im Falle des Klosters Løgum50. Den Ausführenden standen vermutlich zeichnerische Vorlagen zur Verfügung. Dass diese, wie auch die Risse für die Doberaner Klosterarchitektur, über Lübeck vermittelt wurden, ist zu vermuten. Die Beziehungen des Doberaner Klosters zu Bischof und Rat in Lübeck waren außerordentlich eng, nicht nur, weil die Mönche dort einen Stadthof unterhielten51. Nachgewiesen ist für 1243 die Gebetsverbrüderung des gesamten Doberaner Konventes mit den Lübecker Ratsherren und ihren Familien52. Als noch aussagekräftiger müssen jene Quellen eingestuft werden, welche die engen Beziehungen von Nikolaus III. von Mecklenburg mit dem Kloster Doberan und dem Schweriner sowie Lübecker Domkapitel belegen: Schon 1246 wurde er Domherr in Schwerin, wo er 1248–1261 als Scholastiker genannte wird, seit 1266 war er dort Domprobst53. Noch im gleichen Jahr wurde er zudem Domherr im Domkapitel des Lübecker Domes, wo er 1271 ebenfalls eine Propstei erhielt54. In der Funktion eines Lübecker Domprobstes war Nikolaus nicht unwesentlich an den politischen Machtkämpfen in Lübeck beteiligt, die seit 1270 zu eskalieren begannen. Nikolaus III. war während der 28-jährigen Abwesenheit seines Bruders Heinrich I., des Fürsten von Mecklenburg, rechtlicher Vormund für seine Schwägerin Anastasia und zunächst auch für die beiden unmündigen Neffen55. Genau in diese Zeit fallen nach den jüngsten Bauforschungen die Planungen und die anschließende Ausführung des Baus und der Ausstattung der Doberaner Klosterkirche sowie des gesamten Klosterbezirkes56. Es ist anzunehmen, dass auch das Kloster Doberan mit dem Aufschwung der städtischen Bettelordenskonvente zunehmend in Gefahr geriet, seine Stellung als Herrschaftsgrablege zu verlieren57. Ein repräsentativer Neubau kann unter anderem auch als Reaktion auf diese sich langfristig seit Mitte des 13. Jahrhunderts abzeichnende Entwicklung interpretiert werden. Aufgrund der wichtigen Rolle an der Seite des Lübecker Bischofs, die Dompropst Nikolaus III. von Mecklenburg während dieser Zeit zukommt, dürfte er sich der Relevanz dieser Entwicklungen für das Doberaner Kloster, die Grablege seiner Dynastie, bewusst gewesen sein muss. Darum ist sehr wahrscheinlich, dass er während der seit den Siebzigerjahren in Doberan durchgeführten Bau- und Ausstattungskampagne Einfluss auf diese genommen hat und
Abb. 88. Rostock, St. Marien, Westportal, Detail
Abb. 89. Bützow, Stiftskirche, Südportal, Detail
für die Übermittlung von Baukonzepten, Rissen und anderen Vorlagen zumindest mitverantwortlich war. Denn als hochrangiger Kleriker, Vorstand des mecklenburgischen Fürstenhauses und gebildeter, weitgereister Diplomat und Politiker besaß er sowohl die Möglichkeiten als auch die Motive, ein solches Projekt zu fördern. Da er ab 1280 mit dem Lübecker Bischof für zwei Jahre in Rom weilte, um im erwähnten Begräbnisstreit die bischöfliche Seite zu vertreten, muss der Beginn dieser Vermittlung in Doberan davor angesetzt werden, was den nun bekannten Baudaten der Doberaner Klosterkirche entspricht.
ABSTRACT Due to the extremely small number of monuments and the lack of significant written sources for the period around 1300, we know little about the specific circumstances of the commissioning, the transfer of artistic models and the working techniques as well as the workshop practice at that time. Were there fixed groups that met the requirements of an experienced master craftsman? Or were craftsmen organized separately within trades and united only to carry out a specific commission? How widespread were model-books? Were they passed on within a workshop or is it also imagineable
Die Ausstattung des Doberaner Münsters und die Lübecker Werkstätten um 1300 | 117
that high-ranking clients could act as intermediaries? The unique, almost completely preserved original equipment of the Doberan monastery which remained in its original locations within the architectural housing built for it can provide valuable advice in answering these questions. Thus it is possible to gain useful insights by analyzing and comparing the construction of the objects within and outside the
Doberan ensemble. The results are complemented by a critical stylistic discussion which, placed in the contemporary religious context, not only sheds light on the origins of the Doberan original furnishings, but also on the reconstruction of the lost items and their workshops outside the Doberan monastery that may have once existed in Lübeck. 1
Der Vortrag bezieht sich auf meine in Vorbereitung zum Druck be-
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findliche Dissertation „Studien zur Erstausstattung um 1300 der Zisterzienserklosterkirche Doberan“, die 2018 erscheinen wird. SCHöFBECK/HEUSSNER 2005, S. 282ff. Die Dendrodatierung des gesamten, die Kirche überspannenden Dachwerkes wurde 2000/2001 durchgeführt und ergab ein durchgehendes Fälldatum von 1296/97. Die Einheitlichkeit des Konzeptes war größtenteils schon auf dem 1996 durchgeführten Colloquium „Entstehung und Frühgeschichte des Flügelaltarschreins“ an der TU-Berlin Voraussetzungen der Forschung, KROHM/KRÜGER/WENIGER 2001. SCHLIE 1899, S. 592f. datierte bereits auf das 1. V. 14. Jahrhundert, was von WENTZEL 1938, S. 77f. und 150f. auf „um 1310“ präzisiert wird. Wentzel ist der Einzige, der auch die Doberaner Schränke und den Levitenstuhl mit in diese Betrachtung einbezieht, jedoch fällt ihm die stilistische Nähe der beiden Schränke und des Levitenstuhles zum Hochchorretabel nicht auf. WENTZEL 1938, S. 150, Kat.-Nr. 13; VOSS 1990, S. 124f.; LAABS 2000, S. 84f.; WOLF 2002, S. 27; VON FIRCKS 2012, S. 138f.; HENKELMANN 2014, S. 47. Alternativ ist auch zu überlegen, ob die Hängeleuchterkonstruktion nicht ursprünglich für eine andere Marienskulptur angefertigt wurde, die verloren ist. Da Mondsichel und die heutige Marienfigur weder konstruktiv noch in ihren Proportionen zueinander passen, könnte diese ebenso erst im 18. oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingestellt worden sein. Eine mittelalterliche Entfernung der wichtigsten Skulptur des Hochchorretabels erscheint merkwürdig. Ausführlich dazu VOSS 1990, S. 124ff.; LAABS 2002, S. 102, VON COSSART 2015 (Druck in Vorbereitung). VOSS 1990, S. 124. UNTERMANN 2001b, S. 233f. mit Nachweisen für diese Disposition. Dazu gehörte auch das wahrscheinlich in Form von Bänken ausgeführte Novizengestühl, dass in O-W-Richtung vor den um eine Stufe erhöhten Stallen des Mönchsgestühls stand. Einige der niedrigen Endwangen des Novizengestühls sind noch erhalten. Zur Unterscheidung von architektonischem und liturgischem Chor: WEILANDT 2007, S. 146f. BAIER 1980, S. 108. ERDMANN 1995, S. 38. UNTERMANN 2001b, S. 237f. UNTERMANN 2001b, S. 238 mit mehreren Beispielen für diesen Typus. WOLF 2002, S. 374, Abb. 239f. zeigt genau diese Anordnung in der Zisterzienserklosterkirche Loccum. NITZ 2003, S.7f. für das etwas jüngere Chorgestühl des Erfurter Domes.
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14 Der Grund dafür könnte in der Umgestaltung der Doberaner Klosterkirche in eine lutherisch-protestantische Predigerkirche zu suchen sein, für die Sicht- und Durchgangsachsen erforderlich waren. Zeitlich ist diese Veränderung zwischen 1580 und 1604 anzusetzen, als am westlichen Ende der Nordreihe des Mönchschorgestühls eine Predigerkanzel eingefügt wurde (heute im Landesmuseum Güstrow). S. dazu VOSS 2008, S. 81f. 15 Zu dieser Kampagne, die in engem Zusammenhang mit dem Aufstieg der Mecklenburger Landesherren zu Herzögen steht (1348 durch Karl IV. im Prager Veitsdom erhoben) sowie dem weiteren Ausbau der Klosterkirche als Grablege des Herrscherhauses gehören neben dem sogenannten Oktogon hinter dem Hochalter als Grabstätte Herzog Albrecht III außerdem der Sakramentsturm, das Kreuzretabel mit Triumphkreuz und das untere Register des Hochchorretabels sowie die Konstruktion des Hängeleuchters. 16 S. dazu den Aufsatz von Boris FROHBERG in diesem Band. 17 MIGNE PL 77, Sp. 425, zitiert nach: SUCKALE 1999, S. 17. Diese Abgeschlossenheit ist freilich nicht spezifisch für die Doberaner Klosterkirche. Erhalten ist eine solche Disposition bspw. in Kloster Maulbronn. 18 Doch bleibt zu überprüfen, ob es sich bei dieser Konstruktion tatsächlich um eine ursprüngliche Gestaltung handelt oder diese während der 1848/49 erfolgten Restaurierung des Retabels eingezogen wurde. 19 Es ist vorstellbar, dass eine solche aussteifende Strebwerkskonstruktion ebenfalls zwischen den Türmen des Hochchorretabels bestand. BOECK 1971, S. 111 rekonstruiert eine solche Gestaltung für das Hochchorretabel des Verdener Domes, ca. 1310/20. 20 Das Accoudoir des Mönchs- und Konversengestühls besteht jeweils aus ca. 8 m langen, durchlaufenden, mächtigen Eichenbalken und wurde aus einem Stück gearbeitet. Während normalerweise, um Holz zu sparen, die Kopfstücke des Accoudoirs im Rückenteil eingezapft werden (wie am Levitenstuhl), schnitt man hier die Rundung aus dem Balken und ließ so nur die Kopfstücke stehen. 21 SCHLIE 1899, S. 623; WENTZEL 1937, S. 9; SCHRöDER 1998, S. 21ff. 22 SCHLIE 1899, S. 262. 23 Ebd. S. 691. 24 Im Unterschied zur 1808 geschaffenen Version eines Retabels mit eingestelltem „Eucharistiekarussell“ auf dem Choraltar der Kapelle, rekonstruierte Jörg Schröder eine Kopie des Levitenstuhls, der in der Ludwigsburger Kapelle als solcher genutzt werden konnte. SCHRöDER 1998. 25 Auf dem Dach des Levitenstuhls hat sich der eingeritzte Riss einer
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Maßwerkrose erhalten. Sie wurde vielleicht als Vorbild für die Konstruktion der Rosen an den Schränken genutzt. VOSS 2001, S. 130. Verwiesen werden muss auch darauf, dass es sich um den einzigen Achtstrahl innerhalb der klösterlichen Ausstattung handelt: sonst kommen nur Siebenpässe vor. Ein Grund dafür könnte in der Schwierigkeit liegen einen Siebenpass geometrisch zu konstruieren, während ein Achtpass einfach aus den entsprechenden Zirkelschlägen konstruiert werden kann. So passten Siebenpässen gut zu den zisterziensischen Gepflogenheiten, die mit dem aus der Rhetorik stammenden Begriff der „affektierten Bescheidenheit“ umschrieben werden können. S. dazu: MARKSCHIES 2006, S. 69ff. WIPFLER 2003, S. 303; zur Standortfrage s. auch Gerhard Weilandt in diesem Band. S. dazu den Aufsatz von Stephan KEMPERDICK in diesem Band. S. dazu den Aufsatz von Gerhard WEILANDT in diesem Band. Beispielhaft für dieses Vorgehen KIMPEL 1979/80, S. 277–292; ders. 1983, S. 246–272. WENTZEL 1938, S. 65f. Noch Vorhandenes, wie die die aus Stuck gearbeitete Kapitellzone am Portal der Briefkapelle, werden erst um 1310 datiert, sprechen aber für die Existenz von Vorlagen einer Doberan vergleichbaren stilistischen Herkunft. HIRSCH 1906, S. 184ff. ALBRECHT 2012, S. 572ff. HASSE 1983, S. 28f. SEIDEL 1997, S. 9. ALBRECH 2012, S. 351, leider ohne Angabe der genauen Stelle der dendrochronologischen Beprobung: Die aufwändigen Endwangen können zum Teil schon vorangefertigt gewesen sein. HEGNER 2015, S. 178, Kat.-Nr. 106 datiert „um 1400“ aufgrund zweier Ablassbriefe von 1139 und 1400, die für eine Finanzierung gesorgt haben könnten. Doch spricht der stilistische Befund der zudem unvollendeten Wange dagegen. S. dazu den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band. TROST 2006, S. 111, Anm. 55; ALBRECHT 2012, S. 61f. Tilo Schöfbeck ermittelte 2014 eine Dendrodatierung des Doberaner Flügelretabels auf um 1347 (jüngster ermittelter Kernholzjahrring 1326). Vortrag auf der Doberaner Fachtagung 2014 durch Tilo Schöfbeck. Vermutlich wurde das gesamte zum Bau verwendete Holz in einer Fällkampagne im Winter 1296/97 eingeschlagen. LAABS 2000, S. 25 verweist auf eine Ewiglichtstiftung in Doberan, die eine Fertigstellung des Hochchorbereiches und des Altares auf um 1306 sicherstellt, da der Zusatz „vor unserem Altar“ sowie die Unterzeichnung der Urkunde durch den gesamten Doberaner Konvent keinen anderen Schluss zulässt. MUB 3114. Zudem trägt die Glocke des Vierungsturmes die inschriftliche Datierung 1301. Laut MUB 2779 stiftete 1302, wohl im Zusammenhang mit dem Tod seines Vaters, Landesherr Fürst Heinrich II. zwei jährliche Messen mit der dazugehörenden Altarausstattung, ein ewiges Licht und „lobenswerte Fenster“ in „unserer Kapelle und der unserer Ahnen“, woraus MINNEKER 2007, S. 73 und Anm. 277–280 schloss, dass es sich dabei um die ursprünglich im Nordquerhaus situierte Fürstengrablege handelte, die zu diesem Zeitpunkt demnach als Grabstätte Heinrichs I. genutzt werden konnte, also unter Dach war. ALBRECHT 2012, S. 341. TROST 2006, S. 111 vermutet, „dass die ursprüngliche Disposition
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eines Chorzugangs geändert werden musste, nachdem der Gestühlskörper – wohl um mehr Sitzplätze für eine inzwischen angewachsene Bruderschar zu integrieren – weiter nach Osten reichte, als zunächst vorgesehen war.“ Überlegenswert ist m.E. auch die These, ob es sich bei den Wangen überhaupt um ursprünglich für St. Katharinen vorgesehene Wangen handelte oder diese nicht noch aus der alten Gestühlsplanung des Lübecker Domes stammten und übernommen wurden, als dort das komplett um 1335 neu angefertigte Bocholtgestühl in Auftrag gegeben wurden. Dann hätten die Katharinenwangen verändert werden müssen, um überhaupt an dem neuen Ort Aufstellung zu finden. Denn abgesehen von dem Chorpolygon des Lübecker Domes wurde dort die anfangs intendierte Grundrissvariante nicht vollendet: dort wäre aber das Gestühl aufgestellt worden. KUNST 1986, S. 16f.; BöKER 1988, S. 144. Entgegen der älteren Forschungsmeinung, die die Lübecker Stadtpfarrkirche St. Marien als ersten gotischen Bau sah und damit die Macht der reichen Lübecker Bürger gegenüber dem Bischof betonen wollte, war jedoch der Lübecker Dom das erste Kathedralprojekt der Umsetzung des „opus francigenum“ in das Material Backstein – mit bautechnologisch völlig anderen Grundbedingungen also. REETZ 1955, S. 128ff. ausführlich zu den Ursachen und den tiefgreifenden langfristigen Folgen des Streites und der beteiligten Persönlichkeiten. SCHöFBECK 2014, S. 208, Anm. 515; S. 210, Abb. 375; S. 212, Abb. 380, Anm. 531 mit weiteren Beispielen an Dorfkirchen, die für eine Verbreitung des Motivs innerhalb einer Bauhütte (St. Marien/Rostock) sprechen. BOECK 1971, S. 103ff. Zu Loccum s. WOLF 2002, S. 375, Abb. 239f.; zu Løgum s. WISSING 1972, S. 134f. und WOLF 2002, Anm. 617. WICHERT 2000, S. 117. Der Doberaner Stadthof befand im Dombezirk in unmittelbarer Nähe des Domes und des bischöflichen Hofes. UB HL I, S. 98f., Nr. 99. MUB I (1863), Nr. 583; UB HL I, Nr. 609, 631, 645, 775; MUB x (1877), Nr. 7171; MUB II (1864), Nr. 1059, 1060, 1215, 1353, 1373, 1546. Außerdem war er seit 1269 Pfarrer an der Kirche St. Marien in Wismar und Bergedorf: MUB II (1864), Nr. 1060. UB HL I, Nr. 178, Nr. 219. Noch 1285 wird er als Inhaber einer Minorpräbende des Lübecker Domkapitels erwähnt. UB HL I, Nr. 295. Letzte Erwähnung 1289. Zusammen mit seinem Bruder Johann II. von Mecklenburg, Herr zu Gadebusch. MUB II (1864), Nr. 1382. Heinrich I. war 1271 zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land aufgebrochen. Auf dem Weg wurde er in Geiselhaft genommen. Da die Auszahlung des Lösegeldes scheiterte, blieb er in Kairo 27 Jahre inhaftiert. Vgl. RöPCKE 2011, S. 153ff.; EISENSTEIN 2001, S. 33ff. Dazu gehören ein Mehrzweckgebäude mit Mühle, Brauerei, Verwaltungs- und Herbergsräumen sowie Speicherböden, das sogenannte Kornhaus, die Torkapelle, die 1,4 km lange Klostermauer mit Vorhof und ein Gästehaus. Über die Bauzeit des Abtshauses ist nichts bekannt. S. dazu KAySER/REHM 2013; LORENZ 1958. MINNEKER 2007, S. 66ff. Insbesondere die 1251/52 erfolgte Niederlassung der Franziskaner und die anschließende Gründung des Franziskanerklosters Hl.-Kreuz in Wismar, in der Nähe der fürstlichen Stadtresidenz gelegen, wurde zur Doberaner Konkurrenz nachdem mehrere Mitglieder des fürstlichen Hauses dort bestattet wurden.
Die Ausstattung des Doberaner Münsters und die Lübecker Werkstätten um 1300 | 119
DIE NEBENALTARRETABEL DES DOBERANER MÜNSTERS StePHAN KeMPerDICK
Die besondere Attraktion der ehemaligen Zisterzienser-Klosterkirche in Doberan besteht nicht allein in ihrem prachtvollen gotischen Bau, sondern mindestens ebenso in der Fülle und Qualität der erhaltenen Ausstattungsstücke. Einen vornehmen Platz nehmen darunter die Altaraufsätze ein. Außer dem berühmten, um 1300 entstandenen Hochaltarretabel und dem Lettnerretabel mit Triumphkreuz vom Ende des 14. Jahrhunderts blieben acht kleinere Tafeln und Triptychen sowie vier Predellen aus dem Mittelalter bewahrt1. Allerdings wurden bislang nur drei von diesen Werken ausführlichere Forschungen zuteil, während die anderen in der Literatur meist lediglich gestreift werden. Dies ist nicht zuletzt dem Zustand der Stücke geschuldet: erheblich beschädigt sind alle, bei vier Triptychen aber ist von den ehemaligen Darstellungen fast gar nichts geblieben – man sieht sich dort mehr oder weniger dem blanken Holz gegenüber. Indes handelt es sich gerade bei zwei der so sehr mitgenommenen Retabel um höchst bemerkenswerte Objekte. Im Folgenden sollen die einzelnen Werke bzw. die Werkgruppen, die sich aus einigen Stücken bilden lassen, erfasst werden, wobei Fragen nach den künstlerischen Zusammenhängen und der Datierung im Vordergrund stehen. Entstehungszeitliche Quellen fehlen völlig, erste Erwähnungen einzelner Retabel finden sich in den Aufzeichnungen des Doberaner Pastors Peter Eddelin aus dem mittleren 17. Jahrhundert. Mit den Bemerkungen von Friedrich Ludwig Röper von 1808 und von Georg Christian Friedrich Lisch (1801–1883), einem Altertumsforscher und Denkmalpfleger, wird das Material dann ein wenig reicher. Trotz der Knappheit sind ihre Bemerkungen vor allem deshalb wertvoll, weil sie einige seither verlorene Retabel aufführen und bei anderen, heute extrem
beschädigten Stücken die seinerzeit noch ablesbaren Darstellungen benennen. Eine Zuordnung des Erhaltenen zu den jeweiligen Beschreibungen ist freilich nicht immer ganz problemlos. Die in jenen älteren Publikationen noch auftauchenden, heute aber ganz verschwundenen Tafeln sollen am Schluss dieses Beitrags ebenfalls gewürdigt werden, wenn es um die Rekonstruktion des ursprünglichen Bestandes und möglicher Ausstattungskampagnen in Doberan gehen wird.
ZWEI RETABEL DES FRÜHEN 14. JAHRHUNDERTS Die älteste Gruppe der kleineren Altarbilder besteht aus den beiden bekanntesten Stücken des gesamten Ensembles, dem zur Gänze gemalten Triptychon mit der Kreuzigung Christi durch die Tugenden und dem Corpus-Christi-Schrein. An letzterem blieb der rechte, beidseitig bemalte Flügel erhalten, dessen Bilder unzweifelhaft aus derselben Werkstatt, wahrscheinlich sogar von demselben Maler wie das genannte Triptychon stammen. Die stilistischen Übereinstimmungen sind in der Forschung oft festgestellt worden2, mögen aber auch schon in weit früheren Zeiten ins Auge gefallen sein, was erklären würde, warum die beiden Retabel (kurz?) vor 1664 zu einem einzigen Ensemble vereint und übereinander montiert wurden3; das so geschaffene Kompositretabel bestand für Jahrhunderte, bis es um 1890 bei der Neugestaltung der Klosterkirche durch Baurat Gotthilf Ludwig Möckel wieder auseinander genommen wurde4. Der Corpus-Christi-Schrein (Abb. 91) besteht de facto aus zwei separaten, ineinander gestellten Schreinen. Das kleinere,
Linke Seite: Abb. 90. Corpus-Christi-Schrein, Außenseite des rechten Flügels, Detail: Trauernder Johannes
Abb. 91. Corpus-Christi-Schrein, um 1320, geöffnet
innere Gebilde, das aus dem größeren herausgenommen werden kann, misst maximal 47 x 106 cm bei 16 cm Tiefe. Seine Fassade gliedert sich in fünf Achsen mit gleichartigen Bogenstellungen, die von feinen Maßwerkschleiern unter Wimpergen bekrönt werden. Das äußere, relativ grob gearbeitete Gehäuse ist ca. 65,5 cm hoch, 112,5 cm breit und ca. 21 cm tief; es ist hinten offen und konnte an der Vorderseite mit bemalten Flügeln verschlossen werden. Von diesen blieb nur der rechte erhalten; er zeigt innen das Abendmahl vor Goldgrund (Abb. Abb. 91, 93), außen den trauernden Johannes einer Kreuzigungsgruppe vor Rot. Da dieser Flügel, der mit Rahmen 62,5 x 40,5 cm misst, lediglich drei Achtel des Schreininneren abdeckt, dürften auf der linken Seite zwei Flügel angebracht gewesen sein: ein äußerer von der gleichen Breite wie sein Pendant rechts, auf dem die trauernde Muttergottes zu sehen war, und ein etwas schmalerer Flügel in der Mitte mit der Gestalt des Gekreuzigten. Bei einer solchen Gliederung wäre es möglich gewesen, nur den
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mittleren Flügel aufzuklappen und so die Mittelnische des inneren Schreins zu öffnen, in der aller Wahrscheinlichkeit nach zeitweilig das Sakrament ausgestellt wurde – die Darstellung des geopferten Christus außen hätte also dem dahinter im Innern „real“ befindlichen Leib des Herrn entsprochen. Das Letzte Abendmahl auf der Innenseite des erhaltenen rechten Flügels passt ebenso hervorragend zur eucharistischen Thematik des Ganzen. Hinweise auf die Ikonografie der beiden linken Flügelinnenseiten fehlen; dort könnten weitere Szenen aus dem Leben Christi, ein typologisches Pendant zum Abendmahl, ein Bild der Gottesmutter oder anderer Heiliger präsentiert worden sein5. Dass dieser Schrein tatsächlich der Ausstellung der Eucharistie diente, belegt die darüber angebrachte Inschriftentafel, die zwar erst im 15. Jahrhundert entstanden ist, jedoch zweifellos zur näheren Kennzeichnung des Schreins bzw. seines Aufstellungsortes gedacht war6. Sie gibt an, dass „dieser Altar“ (ara) den Namen Corpus Christi trage und der Leib des
Abb. 92. Corpus-Christi-Schrein, um 1320, geschlossen
Herrn hier „ausgeteilt, verehrt, verherrlicht“ und ebenso die reine Jungfrau Maria verehrt werde7. Im Jahr 1341 tätigten die Mönche Johannes und Heinrich Wise eine Messstiftung für ihren 1338 verstorbenen Bruder Peter, der Bürger in Lübeck gewesen war und drei Altäre in Doberan gestiftet hatte; deren Patrozinien Corpus Christi, hl. Andreas und 11.000 Jungfrauen lauteten8. Wo die von Peter Wise gestifteten Altäre standen, lässt sich nicht ermitteln, auch, ob Wises Corpus-Christi-Altar mit dem auf der Inschriftentafel genannten identisch ist, steht nicht unbedingt fest. Gleiches gilt für die Annahme, jener vor 1338 gestiftete Altar sei der ursprüngliche Standort des hier diskutierten Schreins gewesen. Plausibel scheint indes die These von Annegret Laabs, dass der Schrein an einem Ort stand, wo andere Personen als die Mönche den Leib des Herrn, die konsekrierte Hostie, schauen und verehren durften9. Zu Seiten des Sakraments müssten zudem Reliquien ausgestellt gewesen sein, denn anders wären die fünf Nischen des Schreins nicht erklärbar.
Da die Eucharistie für die Mönche ursprünglich im Hochaltar ausgestellt war – in einer Pyxis in der Hand der zentralen Madonnenstatue – gab es im Mönchschor keine Notwendigkeit für einen zusätzlichen Schrein zur Präsentation. Laien aber durften den Klausurbezirk und die Kirche nicht betreten, obgleich auch in weltlichen Kreisen die Sakramentsfrömmigkeit um 1300 stark zunahm. Laabs zufolge könnte der Corpus-Christi-Schrein deshalb auf dem Altar der Torkapelle des Klosters aufgestellt gewesen sein und damit in demjenigen Raum, der Laien allein zugänglich war. Dort hätte der Schrein dazu dienen können, das Sakrament zur Verehrung auszusetzen, was in Doberan am Sonntag der Oktav des Fronleichnamsfestes geschah10. Alternativ wäre denkbar, dass der Schrein auf dem Altar des Konversenchors installiert war, womit er der Vorgänger des heutigen Kreuzretabels gewesen wäre, denn auch die Konversen durften den Mönchschor nicht betreten und mussten das Sakrament in ihrem eigenen Bereich verehren bzw. emp-
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fangen. Eine Mauer oder Abschrankung zwischen dem Mönchschor und dem westlich davon gelegenen Konversenchor könnte überdies mit der Konstruktion des Schreins zusammenpassen. Dessen äußeres Gehäuse ist hinten offen, so dass der innere, bewegliche Schrein von dort aus herausgenommen und hineingestellt worden sein dürfte – das wäre wesentlich praktischer gewesen, als von der Vorderseite her zu operieren, denn vor dieser befand sich der Altartisch, und sie war gewöhnlich durch die Flügel verschlossen. Wenn der innere Schrein aber bei geschlossenen Flügeln von der Rückseite her eingestellt wurde, konnte man anschließend die
Flügel feierlich öffnen und das Allerheiligste damit enthüllen. Das Retabel hätte also, wenn es auf einem Altar vor der Abschrankung zwischen Konversen- und Mönchschor gestanden hätte, vom Mönchschor aus bestückt werden können – man hätte das Sakrament im herausnehmbaren inneren Kasten nur vom Hochaltar herübertragen müssen11. In beiden Fällen wäre die im überlieferten Bestand wohl einmalige Konstruktion des Stücks als Mittel zur Überführung des Sakraments erklärlich: Der äußere Schrein mit Flügeln war sicherlich fest installiert, der innere, herausnehmbare Schrein aber diente dazu, das Sakrament zu bestimmten Ge-
Abb. 93. Corpus-Christi Schrein, Innenteil des rechten Flügels, um 1320, Abendmahl
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Abb. 94. Triptychon der Tugendkreuzigung, um 1320, geöffnet
legenheiten von seinem üblichen Standort in der Kirche – der Madonnenstatue im Hochaltar, ab dem späten 14. Jahrhundert dem Sakramentsturm – zum Ort der temporären Aussetzung zu bringen. Da der innere Schrein rückwärtig undekoriert und sogar recht nachlässig gearbeitet ist, kann diese Rückseite keine Schauseite gewesen sein; als Behältnis bei feierlichen Prozessionen wird dieses Gehäuse daher kaum gedient haben. Auch die geringe Höhe des Innenschreins ist bemerkenswert: Die vorderen Arkadenöffnungen sind wenig mehr als 20 cm hoch, entschieden zu niedrig, um dahinter eine gotische Monstranz aufzustellen, hoch genug hingegen für die Unterbringung einer Pyxis. Solch ein niedriges Behältnis mit der konsekrierten Hostie muss in Doberan auch der Madonnenstaue im Hochaltar in die Hand gegeben worden sein, denn in dem flachen, acht Zentimeter breiten Gefäß, das sie zusammen mit dem Knaben in Händen hält, konnte ein hoher Behälter nicht ohne größte Gefahr des Umkippens aufgestellt werden. Aufgrund dieser Kongruenz liegt es nahe, dass es die von der Madonnenskulptur gehaltene Pyxis war, die zu den festgesetzten Gelegenheiten in den Corpus-Christi-Schrein übertragen wurde.
Unter künstlerischen Gesichtspunkten macht der erhaltene rechte Flügel den Schrein zu einem bedeutenden Werk. In Stil und Machart stimmt er ganz mit den Bildern des ausund inwendig gemalten Triptychons überein, dessen Hauptbild die Kreuzigung Christi durch die Tugenden zeigt (Abb. 94, 95, 96a). Charakteristisch sind die meist länglichen Gesichter, deren ausgeprägte Brauen und herabgezogene Mundwinkel einen strengen, beinahe mürrisch wirkenden Ausdruck besitzen. In den ockerfarben modellierten Formen leuchten rote Wangen, die Züge sind in Dunkelbraun gezeichnet und mit harten weißen Lichtern gehöht; kompakte, ornamental gelockte Haare und Bärte umrahmen die Häupter. Wegen ihrer wenig vertriebenen, an Nasenwurzeln und Lidern fast geometrischen Zeichnung erinnern die Gesichter noch etwas an spätromanische Malerei. Demgegenüber werden die Draperien jedoch sehr weich und lappig gebildet; Ärmel, Tischtücher, Mäntel hängen in beinahe schlaff zu nennenden Falten herab. Markant wirkt die Farbgebung, die sich von der Palette der zeitgleichen westlichen Malerei, beispielsweise in Köln, deutlich unterscheidet: es dominieren ein violettes Rot und Dunkelgrün, dazu kommen Graublau und eine bräunliche Ockerfarbe sowie als Fond oder zur Hervorhebung Zin-
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Abb. 95. Triptychon der Tugendkreuzigung, um 1320, geschlossen
noberrot. Draperien sind mit vertriebener Farbe zu Weiß hin gehöht, so dass die Gewänder teils fast metallisch wirken. Wie der äußere Schrein und der Flügel des Corpus-ChristiRetabels besteht das Triptychon der Tugendkreuzigung (Abb. 94) aus Eichenholz, seine Mitteltafel misst ca. 88 x 92 cm, die Flügel messen ca. 88 x 45,5 cm; die ursprüngliche Malerei ist auf Innen- und Außenseiten erhalten, wenngleich, vor allem auf dem Mittelbild, stark beschädigt. Auch die originalen Rahmen mitsamt den Scharnieren sind noch vorhanden, wo-
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bei die Rahmen auf der Innenseite jede der drei Tafeln ringsum umschließen, während die Leisten bei geschlossenen Flügeln nur an deren Außenkanten entlanglaufen, nicht jedoch die beiden Flügel voneinander trennen; die vier Szenen der Außenseite werden somit als ein einheitliches Bildfeld begriffen. Auf dieser Außenseite werden vier Darstellungen aus der Kindheit Christi gezeigt: die Verkündigung an Maria, die Geburt Christi, die Anbetung der Könige und die Darbringung im Tempel (Abb. 95). Bei geöffneten Flügeln (Abb.
94) wird die Mitteltafel mit der Tugendkreuzigung von den vier großen Propheten flankiert, die auf Thronsesseln unter Arkaden sitzen: links erblickt man oben Jesaias, unten Ezechiel, rechts Jeremias, darunter Daniel. Ihnen sind ebenso Spruchbänder beigegeben wie den sieben Tugenden der Kreuzigung, die jeweils in den Nimben bezeichnet sind mit misericordia, veritas, oboedientia, caritas, preserverantia, justitia, pax12. Das Bild der allegorischen Kreuzigung, in der Christus nicht durch historische Personen, die Schergen, sondern durch seine eigenen Tugenden ans Kreuz geheftet wird, geht auf eine Osterpredigt Bernhards von Clairvaux zurück und war überwiegend in Zisterzienserklöstern verbreitet13. Auf stilistischer Basis wurden die Malereien beider Retabel in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts – um 1320 oder um 1340 – datiert und die verantwortliche Werkstatt mit Lübeck in Verbindung gebracht14. Diese Lokalisierung beruht anscheinend im Wesentlichen darauf, dass Lübeck gerade in dieser frühen Zeit als künstlerischer Hauptort in der Ostseeregion angesehen wurde, wohingegen es an überzeugenden Stilvergleichen bisher gemangelt hat: die von Alfred Stange angeführten monumentalen Wandmalereien in der Lübecker Jakobikirche und im Heilig-Geist-Spital weisen andere, geradezu „gotischer“ aussehende Kopftypen und Faltensysteme auf und sind schon generell aufgrund des Erhaltungszustands nur schwer zu vergleichen15. Plausibel ist hingegen Stanges Vergleich der Doberaner Tafeln mit dem Hofgeismarer Altar, dessen Werkstatt ganz zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Soest tätig gewesen sein dürfte16. Die Verwandtschaft fällt insbesondere bei den Köpfen, etwa der Christusgestalten, auf, die ähnliche Grundtypen und Färbung, eine vergleichbare Zeichnung der Augen, der Lichthöhungen aufweisen (Abb. 96a, b).
Auch sei auf die goldenen Nimben verwiesen, die sowohl bei den Propheten des Doberaner Triptychons als auch bei den Heiligen in Hofgeismar mit einem fast identischen Zickzackmuster in ölvergoldung versehen sind. Dennoch stimmt der Stil der beiden Werkgruppen keineswegs völlig überein, und wenn das Atelier der Doberaner Tafeln auch seine Wurzeln in der westfälischen Kunst um die Hofgeismarer Tafeln gehabt haben mag, ist es doch schon aus geographischen Gründen naheliegend, dass es in der Ostseeregion ansässig war. Tatsächlich besteht eine Verbindung von den Hofgeismarer Ta-
Abb. 96. Corpus-Christi-Schrein, um 1320, Detail: Christus – Hofgeismar, Kirche, Hofgeismarer Altar, Soester (?) Werkstatt
Abb. 97. London, Victoria & Albert Museum, Passionsbüchlein auf Elfenbein, Abendmahl, um 1330 (?), Lübecker (?) Werkstatt
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Abb. 98. Triptychon der Tugendkreuzigung, Mittelschrein, Detail: Prophet Jesaias – Cismar, Hochaltarretabel, Flügelaußenseite, Detail: Apostel
Abb. 99. Triptychon der Tugendkreuzigung, Mittelschrein, Detail: Füße Christi – Cismar, Hochaltarretabel, Flügelaußenseite, Detail: Füße Christi und Stifter
feln dorthin, denn ein möglicherweise in Lübeck geschaffener großer Altarflügel aus dem schwedischen Toresund wird als Nachfolgewerk jener Tafeln angesehen17. Von Hans Wentzel wurde zudem ein bemaltes Elfenbeinbüchlein im Londoner Victoria & Albert Museum in die Diskussion eingebracht18, das einerseits mit den Hofgeismarer und Toresunder Gemälden verwandt ist, und andererseits den Doberaner Tafeln so nahe steht, dass von einem Werkstattzusammenhang ausgegangen werden kann, was insbesondere an den Abendmahlsdarstellungen des Buches (Abb. 97) und des Corpus-Christi-Schreins (Abb. 93) deutlich wird. Trotz des ganz unterschiedlichen Maßstabs und der abweichenden Technik weisen die Häupter der Figuren nicht allein den gleichen Typus, sondern auch die gleiche Art der Weißhöhungen auf. Die Zeichnung wirkt in den Bildern des Büchleins allerdings etwas schwungvoller, was ein Indiz für eine etwas spätere Entstehung sein mag. Wentzel ordnet das Büchlein wiederum der Lübecker Kunst zu, was in unserem Zusammenhang jedoch ohne Belang ist, da er sich dabei eben auf die Werke in Doberan stützte. Eine Lübecker Herkunft der Doberaner Retabel lässt sich indes weit schlagender als über solche Umwege belegen: Auf den erst kürzlich freigelegten, wenngleich extrem beschädigten Flügelaußenseiten des großen Schnitzretabels im holsteinischen Benediktinerkloster Cismar, das sicherlich zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Lübeck geschaffen wurde, haben sich unter den kleinen verbliebenen Farbinseln einzelne Köpfchen erhalten, die den Doberaner Figuren in schlagender Weise gleichen (Abb. 98). Selbst in ihrem sehr beeinträchtigen Zustand erkennt man die gleiche Gesichtsform, die gleichen Augen und Haare, die kleinen roten Münder mit weißem Glanz-
licht auf der Oberlippe, die gehöhten Falten an der Nasenwurzel. Zehen und Finger werden in beiden Werken ähnlich elastisch wiedergegeben, wobei die dunkelbraunen Konturen auf der „verschatteten“ Seite jeweils von einem roten Streifen als Modellierung begleitet werden (Abb. 99). Ferner lässt sich das Gliederungsschema der Flügelinnenseiten des Doberaner Triptychons auf den Flügelaußenseiten der Cismarer Flügel wiederfinden, denn dort waren sitzende Apostel ebenfalls in Rundbogenarkaden untergebracht, deren Proportionen und seitliche Säulenstellungen den Doberanern gleichen19. Die stilistischen Gemeinsamkeiten der Cismarer Malereifragmente und der Doberaner Tafeln dürften die Entstehung in derselben, sicherlich Lübecker Werkstatt hinreichend belegen. Ob die relativ kleinen Doberaner Retabel auch in Lübeck gefertigt wurden oder aber vor Ort im Kloster entstanden – etwa weil die Werkstatt dort an weiteren, größeren Aufträgen beteiligt war wie beispielsweise der Fassung des Hochaltarretabels, das die Malereien seiner Außenseite durch Überstreichen im 19. Jahrhundert verloren hat – lässt sich kaum entscheiden20. Datiert wird das Cismarer Retabel meist zwischen etwa 1310 und 1330, was ungefähr mit der vorherrschenden Datierung der beiden Doberaner Retabel übereinstimmt. Die kürzlich erhobenen dendrochronologischen Befunde vermögen die zeitliche Ansetzung dieser beiden Stücke zu präzisieren: Für den Corpus-Christi-Schrein wurde Eichenholz verwendet, das um 1311 +/-10 gefällt wurde; die Rückwand des inneren Schreins besteht zudem aus Kiefernholz aus Südschweden, das gleichfalls nach 1311 geschlagen wurde21. Damit wird eine Entstehung bereits im zweiten Jahrzehnt und damit in zeitlicher Nähe zu dem allgemein in die Jahre um oder bald nach 1300 datierten Doberaner Hoch-
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altarretabel wahrscheinlich. Die verantwortliche Werkstatt mag zunächst für oder sogar in dem Zisterzienserkloster gearbeitet haben und, entsprechend der wahrscheinlichen Chronologie, im Anschluss für Cismar tätig geworden sein.
EIN VEREINZELTES TRIPTyCHON DER ZEIT UM 1350 Das nächstälteste Retabel in Doberan ist ein Stück, das seine Bemalung fast vollständig verloren hat (Abb. 100, 101)22. Es handelt sich um ein größeres, aus Eichenholz gefertigtes Abb. 100. Leiden-Christi-Retabel, um 1350/60, geöffnet
Triptychon von einem ungewöhnlich hochrechteckigen Format, dessen Mitteltafel ca. 175 x 140 cm und die oberen Flügel jeweils ca. 88 x 69,5 cm messen, die aufgesetzten, ca. 19 cm hohen Kammleisten nicht mitgerechnet. Auf diesem oberen Abschlusskamm sind innen noch die Worte habitabit in… lesbar, weshalb das Werk mit einem von Röper 1808 aufgeführten „Altar des Leidens Christi“ gleichgesetzt werden kann, dessen „innere Inschrift“ lautete et Verbum caro factum est, et habitabit in nobis …. (Johannes 1,14, „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“)23. Röper beschreibt die Tafel, die damals auf dem Altartisch der ersten südlichen Chorumgangskapelle stand, wie folgt: „Die Reste des Haupt-
gemäldes stellen Christum in seinem Leiden vor, umgeben von vielen Heiligen und Märtyrern. Das untere noch sehr wohl erhaltene Gemälde zeigt Jesum in der Kelter mit gleicher Umgebung“24. Mit dem „unteren“ Gemälde, das der Formulierung nach vom „Hauptgemälde“ unterschieden ist,
scheint Röper eine Predella zu meinen. Mit Johannes Voss mag man darin die heute unter dem Triptychon der Jungfrau im Strahlenkranz platzierte Predella des späteren 15. Jahrhunderts (Abb. 432) erkennen25, wobei Röpers „Jesus in der Kelter“ eine leicht vorstellbare Fehlinterpretation des im Sar-
Abb. 101. Leiden-Christi-Retabel, um 1350/60, geschlossen
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Abb. 102. Leiden-Christi-Retabel, um 1350/60, Rekonstruktion der ursprünglichen Gliederung
kophag stehenden Schmerzensmannes wäre. Fraglich bleibt, ob bereits Eddelin 1664 von demselben Retabel spricht, wenn er einen Altar mit einer Inschrift nach Johannes 1,14 erwähnt, auf welchem man „Christi blutiges Angesicht“ sehe, das sich im Tuch der Veronika abgedrückt habe; weitere Darstellungen darauf erwähnt Eddelin nicht26. Sollte es sich hier nicht um ein anderes Retabel mit demselben JohannesZitat gehandelt haben, müsste Veronika mit dem Schweißtuch unter den von Röper genannten Passionsdarstellungen gewesen sein. Schreiber weiß dann 1855 zu berichten, dass der „Altar, wahrscheinlich der Leiden Christi, mit alten Bildern auf Goldgrund und mit neuen“ in einen kurz zuvor errichteten Beichtstuhl eingefügt sei; seltsamerweise gibt er an, dass das Altarbild, das sich de facto auf dem schon von Röper genannten Platz befand, 1848/49 vom „Hochaltar“ dorthin versetzt worden sei27. Trotz des desolaten Zustands lassen sich die Gliederung und die Farbigkeit der Innenseite dieses Triptychons noch annä-
hernd rekonstruieren. Fast die ganze obere Hälfte wird von einem reich ausgeschmückten Maßwerkrelief eingenommen, das aus Wimpergen mit üppigem Blattschmuck und kleinen Fialen dazwischen besteht; gegenüber den drei Wimpergen der Mitteltafel weisen die Flügel mit jeweils eineinhalb Wimpergen eine asymmetrische Gliederung auf. Diese Wimperge waren blau hinterlegt, die Architektur- und Blattformen überwiegend vergoldet; die Felder zwischen den einzelnen Architekturelementen und innerhalb der nach unten abschließenden Arkatur waren rot. Auf diesen roten Flächen waren über alle Tafeln hinweg oben, zwischen Wimpergen und Fialen, anbetende Engel in goldenen Gewändern gemalt (Abb. 103); von diesen sind nur Reste erhalten, doch trugen sie dem Werk den durch Hans Wentzel geprägten Namen „Altar der Goldenen Engel“ ein28. Unter den Arkaden befanden sind kleine Heiligenfiguren, die entweder saßen oder als Halbfiguren gebildet waren; erhalten blieb davon indes nur die Muttergottes mit Kind unter dem zentralen Wim-
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perg der Mitteltafel; auch sie ist ganz in goldene Gewänder gehüllt (Abb. 104). Diese oberen Hälften der Bildfelder waren nach unten hin durch einen grünen Streifen abgegrenzt, an den sich entlang der Unterkante der Flügel ein Streifen mit gemalten goldenen Ranken anschloss. Die untere Hälfte der Mitteltafel war vertikal durch zwei dünne Säulchen gegliedert, die auf der unteren Rahmenleiste aufsetzten und zu den Konsolen der mittleren Wimpergarkade führten. Horizontal teilte ein roter, schwarz eingefasster Streifen die glatte untere Tafelhälfte nochmals in zwei gleiche Hälften. Auf diese Weise entstanden sechs ungefähr quadratische Bildfelder. Auch die unteren Flügeltafeln waren durch senkrechte Säulchen, die oben zu den Konsolen der Wimpergarkaden führten, vertikal geteilt29. Zudem dürfte sie wie die Mitteltafel durch einen horizontalen Streifen nochmals gegliedert worden sein. Ins-
gesamt präsentierte das geöffnete Triptychon in seiner unteren Hälfte also zehn annähernd quadratische Bildfelder in zwei Registern (Abb. 102). Auf ihnen waren die von Röper genannten Passionsszenen und, möglicherweise, Heiligenmartyrien untergebracht. Auf den seitlich verbleibenden jeweils zwei hochrechteckigen Feldern auf den Flügeln mögen stehende Heilige gemalt gewesen sein. Von den Malereien auf der Mitteltafel sind lediglich kleine Inselchen erhalten. Die Szenen spielten vor Goldgrund, der durch diagonale Ritzlinien in kleine stehende Quadrate gegliedert war, die jeweils eine punzierte sechsblättrige Rosette enthielten. Die Figuren standen anscheinend auf grünen Bodenstreifen; die Gewänder waren teils blau und rot, zu großen Teilen aber auch von gebrochenen und bräunlichen Farben. Im mittleren Feld der unteren Reihe standen mehrere Frauen am linken Bildrand, von deren Gesichtern noch Reste vorhanden sind (Abb. 105); im rechten unteren Feld befanden sich Heilige, von denen einer die Hand in einer Trauer- oder Erstaunensgeste erhoben hatte. Bemalt waren ebenso die Außenseiten der Flügel, die geringfügigen Reste lassen aber allenfalls vermuten, dass dort größere Heiligenfiguren vor rotem Grund dargestellt waren.
Abb. 103. Leiden-Christi-Retabel, um 1350/60, Detail: goldener Engel
Abb. 104. Leiden-Christi-Retabel, um 1350/60, Detail: Muttergottes
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Einer stilistischen Beurteilung der minimalen Malereireste sind enge Grenzen gesetzt. Was noch zu sehen ist, weist eine zeichnerische Wiedergabe von Konturen und Einzelheiten in schwarzen Linien auf und macht einen lockeren, nicht übermäßig präzisen Eindruck. Am meisten ist von der Maria mit Kind unter der mittleren Wimpergarkade erhalten geblieben (Abb. 104), die auf einem Thron sitzt oder aber vor einem eckigen Gegenstand hockt. Schwarze, ziemlich ungleichmäßige Linien umreißen die Formen auf Gold, der Körper wirkt weich und gebogen. Das rosafarbene Inkarnat mit roten Wangen ist nur summarisch modelliert, Gesichtszüge sind mit schwarzen Linien eingetragen. Maria trägt eine flüchtig in Weiß skizzierte Krone, ihr Nimbus und der des fast völlig verlorenen Kindes sind mit großen weißen Farbtupfen besetzt, die Perlen darstellen. Diese Malerei hat wenig Ähnlichkeit mit der viel präziseren, härteren und zugleich stärker modellierenden Ausführung der eben betrachteten älteren Retabel. Zwar wird das Triptychon seit Wentzel durchweg zu den frühen Ausstattungsstücken der Zeit um 1320 gezählt30. Seine flüchtigere Ausführung sowie die mitunter etwas schmutzige Farbigkeit sprechen aber für eine Entstehung nicht vor Mitte des 14. Jahrhunderts31. Ein enges Vergleichswerk lässt sich freilich nicht benennen, was sicherlich mit der äußerst niedrigen Erhaltungsrate an Malereien jener Zeit in Norddeutschland zusammenhängt. Entfernt mag man allenfalls an das ehemalige Hochaltarretabel der Soester Wiesenkirche von etwa 1350 erinnert werden (Abb. 106), wo zumindest eine ähnliche zeichnerische Artikulation der Gesichter, ähnlich rundlich-schematisierend gebildete Glieder und teils auch eine ähnlich gebrochene Farbigkeit wie bei dem Doberaner Triptychon vorliegen32. Für ein Datum ab der Jahrhundertmitte spricht weiterhin die Punzierung des Goldgrundes: Die tief eingeschlagenen Rosetten – ein zentraler Kreis, der von sechs gleichgroßen Kreisen umgeben ist (Abb. 105) – kommen in ähnlicher Art etwa bei Nürnberger Werken der Zeit um 1360 oder in Meister Bertrams Hamburger Petri-Altar von 1379–83 vor33. Johannes Voss hat bemerkt34, dass das reliefierte Maßwerk des Doberaner Retabels auf die architektonische Gliederung des Hochalters Bezug nimmt. Zudem gleichen auch die merkwürdigen runden Krabben, beinahe Knollen, an den Fialen auf den Tafeln ganz den Formen, die an den Wangen des Doberaner Mönchsgestühls35 sowie an den später angefügten seitlichen Fialen des Kelchschranks vorkommen. Ebenso finden die üppigen Blätter mit ihren gebohrten Vertiefungen zwischen den Fingern Vorläufer im Gestühl. Indes sind alle Formen gegenüber dem Gestühl und dem Hochaltar dichter, dafür weniger klar artikuliert. Anders als an den äl-
Abb. 105. Leiden-Christi-Retabel, um 1350/60, Detail: Frauengruppe
Abb. 106. Soest, Wiesenkirche, Hochaltarretabel, Detail, Westfälischer Meister, um 1350, Berlin, Gemäldegalerie
teren Ausstattungsstücken sind die Fialen im Schnitzwerk des Triptychons gerundet wie Pfeilspitzen, überlappen sich die riesigen Blätter. Überlappende Blätter kommen bereits auf den Wangen des 1335 datierten Bocholt-Gestühls im Lübecker Dom vor, sind dort jedoch qualitätvoller ausgeführt36. Höchst merkwürdig, beinahe sogar einmalig ist an den Maßwerken des Triptychons zudem die Gliederung der unteren Arkadenbögen: Diese sind, wie üblich, mit Dreipässen gefüllt, in deren Bögen wiederum sekundäre Bögen eingefügt sind. Allerdings enden die Nasen sowohl der Dreipässe als auch
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Abb. 107. Leiden-Christi-Retabel, um 1350/60, Detail: Inschriftenkamm über Mitteltafel innen
Abb. 108. Schnitzretabel, um 1380, mit Skulpturengehäuse (17. Jahrhundert?)
der sekundären Bögen in großen Blättern, und da die Profile der sekundären Bögen recht kräftig gebildet sind, wirkt es fast, als seien zwei Dreipässe verschoben übereinandergelegt; jedenfalls wurden die heute teilweise zerstörten Arkaden fast völlig mit Bögen und Blättern angefüllt. Für die übergroßen Sekundärbögen gibt es kaum Vergleichsbeispiele. Zu nennen wären das Blendmaßwerk am Nordportal der Liebfrauenkirche in Herrenberg in Schwaben, das bald vor 1356 entstand, oder, geographisch erheblich näher, das Maßwerk an einer Ampel für das Ewige Licht in Kloster Wienhausen vom Ende des 14. Jahrhunderts37. Künstlerische Kriterien legen somit eine Datierung nicht vor Mitte des 14. Jahrhunderts nahe, die von der jüngsten dendrochronologischen Untersuchung gestützt wird: Das Triptychon besteht aus regionalem Eichenholz, das um 1346 +/-10 geschlagen wurde38. Wesentlich später scheint das Werk allerdings noch eine Ergänzung erfahren zu haben: den oberen Abschlusskamm mit
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der Inschrift nach Johannes 1,14. Er war aus- wie innwendig mit einer Inschrift in gotischer Textura in Gold versehen, die über der Mitteltafel vor blauem Grund mit roter und gelber Einfassung, auf den Flügeln vor rotem Grund mit blauer und gelber Einfassung erschien (Abb. 107). Diese Einfassung erzeugt eine illusionistische Räumlichkeit, vor der die Buchstaben zu stehen scheinen. Mehr noch, die goldenen Lettern selbst sind mit Hilfe von dünnen gelben und schwarzen Strichen als plastische, gleichsam aus Metall gebildete Objekte dargestellt. Ein derartiger Illusionismus setzte indes erst mit Jan van Eycks fingierten Metallinschriften ein; vom Erscheinungsbild her scheint der Inschriftenkamm eine Hinzufügung aus der Mitte oder der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu sein. Finden sich schon für das Maßwerk des Retabels kaum Vergleichsbeispiele, ist die originale Gliederung seiner Flügel noch ungewöhnlicher. An jeder Seite der Mitteltafel waren übereinander zwei separate Flügel angebracht, von denen die oberen erhalten blieben, während von der Existenz der unteren nur mehr die verbliebenen Scharniere zeugen. Die oberen Flügel sind auf der Außenseite an der Unterkante durch eine Rahmenleiste eingefasst, jedoch nicht an den Innenkanten, so dass das geschlossene Altarbild (Abb. 101) oben und unten je ein ringsum gerahmtes, querrechteckiges Bildfeld präsentiert haben muss; diese Gliederung des einzelnen Registers mit einem außen umlaufenden, doch die Mitte nicht teilenden Rahmen glich der Außenseite des oben besprochenen älteren Triptychons mit Tugendkreuzigung (Abb. 95). Auf der Innenseite des hochrechteckigen Retabels waren zwischen den oberen und den unteren Flügeln dagegen keine Leisten vorhanden. Offenbar sollte die einheitliche Wirkung der Mitteltafel auch auf den Flügelinnenseiten erzielt werden. Diese horizontale Teilung in zwei separate Flügelpaare ist im erhaltenen Bestand mittelalterlicher Altarbilder beinahe einmalig39. Ihr Zweck muss in einer größeren Variationsmöglichkeit der Wandlungszustände gelegen haben. Da die oberen Flügel im Wesentlichen vergoldetes Maßwerk und nur sehr kleine Figuren aufwiesen, dürften sie in erster Linie zur Steigerung der Pracht gedacht gewesen sein: Bei geschlossenen oberen und geöffneten unteren Flügeln sah man Passionsszenen und darüber Heilige vor Rot (oder möglicherweise auch eine Szene wie die Verkündigung). öffnete man dann auch die oberen Flügel, prunkte das Retabel mit goldener Architektur; es bekam gleichsam eine prachtvolle Bekrönung, die an das Hochaltarretabel denken ließ. Möglicherweise zeugt diese spezielle Konstruktion der Flügel von einer Experimentierphase in der Entwicklung des Wandel-
altars, wie sie ebenso das um 1320/30 geschaffene Hochaltarretabel aus Kloster Altenberg an der Lahn verkörpert, dessen Flügel in sich gefaltet werden konnten40. Mit der in Norddeutschland spätestens 1379 beim Petri-Altar Meister Bertrams erreichten Standardisierung der mehrfachen Wandelbarkeit durch doppelte Flügelpaare wäre die Zeit solcher Experimente dann wenig später vorbei gewesen.
Seite enthielt, während in den Flügelkästen jeweils eine einzelne, maßstäblich etwas größere Heiligenfigur untergebracht war. Voss hat die geschnitzten Figuren des Kruzifixus und des hl. Paulus (Abb. 110), die sekundär in einen Kasten aus dem 16.(?) Jahrhundert eingestellt sind, als Überreste der
EIN SCHNITZRETABEL DES SPÄTEN 14. JAHRHUNDERTS Von einem weiteren Triptychon in Doberan blieb nur die aus Eichenholz gefertigte Konstruktion samt den originalen Scharnieren erhalten (Abb. 108), während die einst im Innern von Mittelstück und Flügeln befindlichen Skulpturen und Kleinarchitekturen ebenso wie die Fassung entfernt wurden. Der quadratische Mittelschrein misst ca. 117 zu 117 cm bei einer Tiefe von 13 cm. Im 17. Jahrhundert wurden an den Außenkanten der geöffneten Flügel geschnitzte Voluten mit Büsten von Adam und Eva angebracht, weshalb der Schrein seit spätestens dieser Zeit nicht mehr geschlossen werden konnte. Damals müssen die Skulpturen im Innern noch vorhanden gewesen sein, zumal sich die Stammeltern als Urheber des Sündenfalls auf die einst im Zentrum des Retabels befindliche Kreuzigung Christi bezogen haben. Auskunft über diese Ikonografie geben heute allein noch die Abdrücke der Punzierungen, die sich trotz des vollständigen Verlusts der Fassung in den Rückwänden erhalten haben: An ihnen lässt sich ablesen, dass der Mittelschrein den Gekreuzigten mit jeweils zwei stehenden Heiligen auf jeder
Abb. 109. Schnitzretabel, um 1380, Fotomontage mit ergänzten Nimben, Skulpturen, Predella
Abb. 110. Schnitzretabel, um 1380, hl. Paulus
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Skulpturen des Retabels erkannt und jenen Kasten deshalb im Jahr 2008 auf das leere Triptychon gestellt41. Da Größe und Position des punzierten Nimbus rechts auf der Mitteltafel hervorragend zur Paulusfigur passen und ebenso der Gekreuzigte sehr gut in die Mitte der Tafel platziert werden kann – wie es die Fotomontage (Abb. 109) verdeutlicht – dürfte diese Rekonstruktion zutreffen. Alle übrigen Bildwerke des Retabels sind verloren; man wird aber davon ausgehen können, dass Maria und Johannes unmittelbar neben dem Kreuz standen. Über den Figuren waren vermutlich Baldachine angebracht, und sie waren auf einem einst mit durchbrochenem Maßwerk verschlossenen, innen blau gefassten Sockelgeschoss platziert. In seinem Aufbau ähnelte das Triptychon folglich Werken wie dem um oder nach 1381 geschaffenen Flügelretabel in Arendsee in der Altmark, das möglicherweise in Lübeck entstand42. Die sorgsam gerahmten Flügelaußenseiten des Doberaner Stücks dürften ursprünglich figürlich bemalt gewesen sein, doch blieben dort nicht einmal Spuren von Malerei oder Punzierung erhalten43. In den Kirchenbeschreibungen des 19. Jahrhunderts werden mehrere Altäre mit der Kreuzigung Christi genannt, doch lässt sich der vorliegende Schrein nicht eindeutig identifizieren. Röper spricht 1808 von einem „jetzt unkenntlichen Altar, ohne vollständige Tafel. Nur noch Reste der Kreuzigung, und eines Gemäldes Christi mit 8 Heiligen sind vorhanden…“, der sich auf dem Altartisch in der südlichen Umgangskapelle mit der Grablege der Familie von Axekow befand44. Weiterhin erwähnt Röper, über dem Altarbild der „Ehrenreichen Jungfrau Maria“ (Abb. 432) habe „vormals Christi Kreuzigung in Figuren“ gestanden, was insofern bemerkenswert ist, als der genannte neuzeitliche Kasten mit
Abb. 111. Predella, um 1380, Detail: Zwei Apostel
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den Schnitzfiguren zumindest im Jahr 1883 über jenem Triptychon platziert war45. Freilich gibt Röpers „vormals“ zu denken. Falls die beiden erhaltenen Figuren im Jahr 1808 noch in ihrem ursprünglichen Gehäuse, dem Triptychon, gestanden haben sollten, könnte dieses schon wegen seiner Tiefe kaum über der Tafel der „Ehrenreichen Jungfrau“ aufgestellt gewesen sein. Daher könnte wohl allenfalls die „unvollständige Tafel“ mit „Reste(n) der Kreuzigung“ mit dem hier besprochenen Retabel identisch sein – allerdings nur, wenn dieses seinerzeit noch einige Skulpturen enthielt; sollte es bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ganz geleert gewesen sein, dann taucht es in den Beschreibungen überhaupt nicht auf. Doch selbst wenn diese Identifikation zutrifft, ist damit nicht gesagt, dass der Altar in der Axekow’schen Grabkapelle auch der ursprüngliche Standort des Schreins war. Das „Gemälde Christi mit 8 Heiligen“ jedenfalls war eine nicht zugehörige Predella (Abb. 112), von der unten noch zu handeln sein wird. Hingegen könnte eine andere in Doberan bewahrte, heute unter dem Triptychon der Tugendkreuzigung aufgestellte Predella zu unserem Schnitzretabel gehört haben (Abb. 94). Dieses 163 cm breite Möbel würde gut unter dessen Mittelschrein passen und mit 20 cm Tiefe auch genügend Standfläche bieten. Zwar ist die Predella etwas breiter als der Schrein, was bei Werken des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts nur selten vorkommt, doch steht dieser Schrein auf einem alten Brett, dass mit 162 cm Breite nur einen Zentimeter kürzer ist als jene Predella; das Brett könnte zur ursprünglichen Konstruktion gehört haben und bei der Neuaufstellung durch Möckel um 1890 wiederverwendet worden sein. Weiterhin entspricht die Höhe jener Predella, 17 cm, der des unteren, ursprünglich mit Maßwerk verschlossenen Sockelgeschosses auf den drei Tafeln des Triptychons. Vor allem aber harmonieren die Reste der Malerei auf der Predella (Abb. 111) in Zeitstil und Qualität hervorragend mit der Figur des hl. Paulus aus dem Schrein (Abb. 110). Dieses Bildwerk wurde von Voss mit den besten Schnitzreliefs auf der Marienseite des Triumphkreuzes vom Doberaner Lettneraltar verglichen46, die, wie Peter Knüvener in diesem Band zeigen kann, wohl nicht vor etwa 1380 entstanden sind. Gemeinsamkeiten zwischen den besagten Skulpturen existieren ohne Zweifel, z.B. auch darin, dass die Augen nicht detailliert geschnitzt, sondern ihre Ausgestaltung der Fassmalerei vorbehalten wurde. Andererseits aber erscheint der Paulus viel feiner gearbeitet; Körper und Draperie wirken organischer und subtil aufeinander abgestimmt, während sie auch bei den besten Figuren des Triumphkreuzes ver-
gleichsweise additiv wirken. Ähnliche Unterschiede lassen sich zwischen den gemalten Köpfen der Predella und den Tafelbildern des Lettneraltars feststellen: Letztere stehen den Werken des Hamburgers Meister Bertram sehr nahe und besitzen auch dessen Derbheit. Die beiden halbwegs gut erhaltenen Köpfe der Predella dagegen (Abb. 111) sind sehr viel weicher modelliert, erscheinen malerischer und rundplastischer; im Unterschied zum Lettneraltar und zu Bertram werden die Ohren nicht nur gezeigt, sondern auch besonders groß gestaltet. Sie lassen stärker an die zeitgleiche böhmische Malerei denken. Mit dem Lettneraltar und dem Retabel in Arendsee dürften gleichwohl Anhaltspunkte für eine Datierung des Doberaner Schnitzretabels in das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts gegeben sein, die ganz generell dem Stilbefund der Paulusfigur und der Malereifragmente der Predella entspricht. Sollte die hier vorgeschlagene Rekonstruktion stimmen, dürfte das Retabel annähernd zur selben Zeit wie der Lettneraltar, doch vermutlich von einer anderen Werkstatt geliefert worden sein, einer Werkstatt, deren Skulpturen und Malereien zu den besten Produkten der Epoche in der südlichen Ostseeregion gezählt werden müssen.
TAFELMALEREIEN DES INTERNATIONALEN STILS UM 1400 Entfernte Beziehungen zur Malerei Meister Bertrams lassen sich bei der chronologisch anschließenden Doberaner Werkgruppe feststellen. Sie umfasst das sogenannte Mühlenretabel sowie eine kleine Tafel mit dem Martyrium der hl. Dorothea und die rechte Hälfte einer Predella, die 1972 gestohlen wurde und nur durch ein Schwarzweißfoto bekannt ist. Die Mitteltafel des Mühlenretabels (Abb. 37) misst ca. 145 x 132 cm und präsentiert eine Darstellung der Eucharistischen Mühle, über die Esther Wipfler in diesem Band ausführlich handelt. Die Innenseite des linken Flügels zeigt oben eine Szene aus dem Leben des hl. Nikolaus von Myra, der drei zu Unrecht zum Tode verurteilte Ritter vor dem Schwertstreich des Henkers rettet47. Diese Legende wurde nur sehr selten dargestellt, und da sie hier den besten Platz auf den Flügeln einnimmt, wäre ein direkter Bezug zu den Stiftern denkbar. Beispielsweise könnte eine Erinnerung an den sogenannten „Mönchskrieg“ vorliegen, der bis 1362 das Kloster erschütterte hatte und in dessen Verlauf es zu Überfällen, Einkerkerungen und Mord gekommen war48. Ebenso wäre denkbar, dass einer der Stifter in Rechtshändel verwickelt
war, in denen ihn vielleicht nur himmlischer Beistand vor einer Hinrichtung bewahrt hatte oder ähnliches. Die Stifter knien in zwei Gruppen vor der Mühle, wobei jede von einem Mönch angeführt wird. Erstaunlicherweise unterscheidet sich deren Habit in der Farbe; doch muss es sich bei beiden um Mönche handeln, nicht etwa um einen Mönch und einen Konversen, denn beide sind gleichartig tonsuriert und bartlos49. Der heraldisch linke trägt Braun, was bei den Doberaner Zisterziensern üblich gewesen zu sein scheint50. Der andere aber ist in Grau gekleidet, und so fragt man sich, ob er, trotz nicht sichtbaren Gürtels, einen Franziskaner darstellt, die in Wismar und Rostock „grawe brodere“ genannt wurden51. Sind es zwei Familien, in deren Reihen jeweils ein Mönch war, die sich für die Stiftung zusammengetan haben, oder repräsentieren die Figuren verschiedene Gruppierungen oder Parteien? Eine Antwort scheint wegen fehlender historischer Überlieferung nicht möglich. Auf dem rechten Flügel des Triptychons erblickt man oben den hl. Martin von Tours vor Kaiser Valentinian, aus dessen Thron Flammen schlagen, da er nicht vor dem Bischof aufstehen wollte52. In der nur noch in kleinen Resten erhaltenen Szene darunter trat der Teufel in der Gestalt eines Königs vor Martin und gab sich als Christus aus; der Heilige durchschaute ihn jedoch, da der Herr nicht in prachtvollem Purpur erscheinen würde53. In dem vollständig verlorenen unteren Bild des linken Flügels war vermutlich eine weitere Begebenheit aus der Legende des hl. Nikolaus zu sehen. Von den Bemalungen der Flügelaußenseiten zeugen allein noch Abdrücke der Punzierungen von Heiligenscheinen; demnach waren auf jedem Flügel vier stehende Heilige zu sehen, jeweils zu zweit nebeneinander und in zwei Registern angeordnet. Die punzierten Nimben waren genauso groß wie diejenigen der Innenseiten, so dass die Figuren maßstäblich den stehenden Bischofgestalten oben auf den Innenseiten der Flügel entsprochen haben müssen. Peter Eddelin gab 1664 eine ziemlich unsystematische Beschreibung des Retabels, in welcher er den Dialog von Martin und dem Teufel festhält, die vier Evangelistensymbole des Mühlenbildes nennt (ohne die Mühle selbst zu erwähnen) und dann fortfährt: „auch an selbigen [Retabel]. Daran wird ein solch Gemähld gefunden, darin ein armer Mann / gemahlet, wie der vor des reichen Mannes Thür köm(m)t und um eine / Almosen bittet, der Herr Christus ist neben ihm gemahlet und ge/het mit ihm von einer Thür zur andern, nicht anders als wäre / Er selbst der arme Mann, der ums Brodt bettelte. / Desgleichen da ein Krancker Mann im Bette lieget, lieget Christus / bey ihm in seiner Schwach-
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heit und was dem Krancken Gutes ge/schicht, siehet Christus und mercket es etc. / Noch wird daselbst ein Gemähld gefunden darin gemahlet ist / 1) Ein Hungriger mit dem Christus, der mit ihm gehet, die Almosen / bekömt und spricht: esurivi et dedistis mihi manducare 2) Ein durstiger etc. aus Matth(äus) V“ 54. Irgendwo an dem Retabel befanden sich also Darstellungen von vier Werken der Barmherzigkeit: (vermutlich) Fremde beherbergen, Kranke pflegen, Hungrigen zu Essen und Durstigen zu Trinken geben. Christus erschien jeweils neben einem Armen gemäß seinen Worten in Matthäus 25,40: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“. Es handelt sich um seltene Darstellungen, die jedoch im 14./15. Jahrhundert vorkommen55, so dass es keinen Grund gibt, sie nicht für ursprünglich zu halten. Gewöhnlich umfasst die Reihe allerdings sechs Werke der Barmherzigkeit; möglicherweise hat Eddelin die fehlenden beiden mit seinem „etc.“ abgedeckt. Da die besagten Szenen weder auf den Innen- noch den Außenseiten der Flügel untergebracht waren56, können sie sich eigentlich nur auf der Predella befunden haben; auch die Predella des unten noch zu besprechende Tempziner Altars zeigt sechs Szenen (aus der Kreuzlegende), allerdings auf den Predellenflügeln. Die Darstellungen auf den Flügelinnenseiten legen nahe, dass das Mühlen-Triptychon für einen Altar mit Nikolaus- und Martinspatrozinium bestimmt war57, doch kann ein solcher nicht identifiziert werden. Spätestens seit 1808 stand das Retabel auf dem Altar an der Ostwand des südlichen Querschiffs, der mutmaßlichen Grabkapelle der Familie Wise aus Lübeck58, der auch der ursprüngliche Standort gewesen sein mag. Stilistisch stimmt eine 1972 in Doberan gestohlene, im Foto dokumentierte Predella (Abb. 112) mit dem Mühlenaltar überein59. Weniger wahrscheinlich ist ihre funktionale Zu-
Abb. 112. Predella, um 1400, rechte Hälfte, verschollen
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gehörigkeit zu dem Triptychon, denn erstens ist sie mit ca. 34,5 x 208 cm doch erheblich breiter als dessen 132 cm messende Mitteltafel, und zweitens sind die Halbfiguren dieser Predella in doppelt so großem Maßstab wie die Gestalten auf Innen- wie Außenseite des Triptychons gehalten, was sehr ungewöhnlich wäre. Als dessen ursprüngliche Predella käme sie auf keinen Fall in Frage, wenn jene tatsächlich die von Eddelin beschriebenen Barmherzigkeitsszenen gezeigt haben sollte. Bei der teilerhaltenen Predella handelt es sich jedoch zweifellos um jenes „Gemälde(s) Christi mit 8 Heiligen […], nebst der Umschrift: Venite ad me omnes, qui laboratis et onerati estis, et ego —, das Röper auf dem Altar in der Grabkapelle der Familie von Axekow sah und über dem sich die oben erwähnten „Reste der Kreuzigung“ befanden60. Das Zitat aus Matthäus 11,28, „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, und ich (will euch erquicken)“, kann noch auf dem um die Büste Christi geschwungenem Spruchband entziffert werden. Auf der noch vorhandenen linken Hälfte der Predella verblieben nur kleine Malschichtreste, die zumindest belegen, dass der Hintergrund rot war. Auf der heute verschollenen rechten Hälfte erblickte man zur Linken Christi Johannes den Täufer, Petrus, Jakobus d. Ä. und eine gekrönte Märtyrerin, vielleicht Katharina. Der Täufer wendet sich mit gefalteten Händen Christus zu, und so dürfte auf der anderen Seite die Muttergottes die Fürbittgruppe vervollständigt haben. Möglicherweise gehörte die Predella zu einem größeren Retabel, dessen Schrein vor dem frühen 19. Jahrhundert aus der Kirche entfernt worden war. Bei dem dritten stilistisch zugehörigen Werk handelt es sich um eine aus Eichenholz gefertigte, mitsamt dem originalen, doch überarbeiteten Rahmen erhaltene Tafel mit dem Martyrium der hl. Dorothea (Abb. 113)61. In einer angedeuteten Landschaft kniet die Heilige rechts vor einem Hügel; der
Abb. 113. Tafel mit dem Martyrium der hl. Dorothea, um 1400
mittig im Bildfeld stehende Henker schickt sich an, sie mit einem Schwert zu enthaupten, während Gottes segnende Hand rechts oben im Himmel erscheint und Dorothea das Paradies verheißt. Am linken Bildrand sitzt, in verkleinertem Bedeutungsmaßstab, der Schreiber Theophilus an einem Schreibpult, ein Tintenfass in der linken Hand. Er hatte gespottet, die Märtyrerin möge ihm Blumen und Früchte aus dem Paradies schicken, wenn sie dort angelangt sei. Nun er-
scheint vor ihm ein kleiner Knabe, der, mitten im Winter, ein Körbchen mit Blumen und Früchten bringt. Theophilus wird durch dieses Wunder bekehrt. Dass die Tafel ursprünglich weder zum Mühlenaltar noch zur Predella gehörte, geht aus den Maßen zweifelsfrei hervor; ihre Bildfläche misst lediglich 37,3 x 38,3 cm, mitsamt Rahmen ungefähr 48 cm im Quadrat. Da an der rechten Seite des Rahmens Scharnierspuren vorhanden sind und auf der
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bis auf das Holz abgekratzten Rückseite nah dem oberen Rand noch die Punzierungsabdrücke von zwei Nimben erhalten sind, muss die Tafel ursprünglich der linke Flügel eines kleinen Triptychons gewesen sein62. Dieses war beinahe 50 cm hoch und geöffnet ungefähr zwei Meter breit; mit einer mutmaßlich gemalten Mitteltafel von etwa einem Meter Breite wäre es als Retabel einer kleineren Altarmensa gut vorstellbar. Auf der Suche nach künstlerischen Vergleichsstücken zu den drei hier diskutierten Werken wurde auf die westfälische und niedersächsische Malerei, insbesondere die Nachfolge des Conrad von Soest63, vor allem aber auf den Hamburger Meister Bertram hingewiesen. Vollrat Dreyer hat beobachtet, dass der Henker der Dorotheentafel motivisch mit der Gestalt des Kain im Brudermord auf Meister Bertrams St. Petri-Altar zusammenhängt und dass die Landschaftselemente der Tafel, Gräser und Blätter, in dem Bertram als Spätwerk zugeschrieben Buxtehuder Altar ähnlich wiederkehren64. Beides trifft zu, wenngleich die Verwandtschaft keineswegs eine enge ist. Aus Bertrams nächster Umgebung stammen die Doberaner Tafeln nicht. Näher als die Hamburger Werke kommen ihnen die Malereien eines Kreuzigungsretabels aus der Antoniterpräzeptorei Tempzin (Abb. 114)65, das gewöhnlich mit einer Stiftung von 1411 in Verbindung gebracht wird. Diese Verknüpfung ist jedoch alles andere als zwingend, da die Stiftung nicht ein Retabel, sondern die Bestallung von zwei Priestern an
einem Altar betraf66. Zudem könnte das Kreuzigungsretabel ursprünglich nicht für Tempzin, sondern für die Franziskanerkirche Hl. Kreuz in Wismar bestimmt gewesen sein67. Ob es im frühen 15. Jahrhundert entstanden ist oder aber am Ausgang des vorangegangenen, wie es der dendrochronologische Befund erlauben würde68, bleibt schwer zu entscheiden. Mit den Werken um den Mühlenaltar haben seine Malereien die biegsamen, mitunter gestreckten Gestalten und einige Gesichtstypen, die überlangen, gummiartigen Finger sowie manche Einzelmotive gemein. Form und Ausdruck einiger Männerköpfe, und zwar des länglich, spitz zulaufend geformten Typs, zeigen sich verwandt – so ähnelt der Tempziner Pilatus dem Nikolaus und den Verurteilten in Doberan (Abb. 115, 116). Die grüne, mit einem Perlenband besetzte, zylinderförmige Mütze jenes Pilatus gleicht darüber hinaus der Kopfbedeckung des Mannes hinter Martin auf dem Mühlenaltar. Das markante Profil des vorderen Reiters in der Kreuzigung, das sichelförmig in einem spitzen Bart ausläuft, stimmt mit demjenigen des ersten Apostels ganz links im Mühlenbild oder des Mannes hinter Valentinian in der Martinsszene überein (Abb. 115, 116). In Doberan geraten diese Profile jedoch meist zu Karikaturen, denen deutlich weniger Gefühl für eine organische Bildung anzusehen ist als auf der Tempziner Tafel. Schließlich lässt sich die Palette der Werke vergleichen, in der Rot dominiert und von Grün sekundiert wird – im Unterschied zu Bertrams Malereien –, wozu sich Blau und ein dunkleres Vio-
Abb. 114. Güstrow, Schlossmuseum, sog. Tempziner Altar, Wismarer Werkstatt, um 1390/1410
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Abb. 115. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Details: hl. Nikolaus, Henker, Zuschauer – Kaiser Valentinian, Höfling
Abb. 116. Güstrow, Schlossmuseum, sog. Tempziner Altar, Details Christus vor Pilatus – Reiter unter dem Kreuz
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Abb. 117. Wismar, Heilig-Geist-Kirche, Glasmalerei, Detail: ölmarter eines Heiligen, Wismarer Werkstatt um 1400/1420
lett-Rot gesellen; im Tempziner Altar hat Blau allerdings mehr Gewicht. Beim Tempziner Altar handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Arbeit aus Wismar69, und in dieser Stadt hat sich eine weitere Werkgruppe erhalten, die den Doberaner Gemälden in manchen Aspekten sehr nahe steht. Die Rede ist von den Glasmalereien der Wismarer Heilig-GeistKirche, die ihrerseits in nächster Nähe zum Tempziner Altar gesehen werden70. Wieder stellt sich eine Verbindung über die Gesichtstypen her, etwa wenn man den richtenden König in der Scheibe mit dem ölkesselmartyrium eines Heiligen (Veit?) mit dem Kaiser Valentinian auf dem Mühlenretabel vergleicht (Abb. 115, 117). Von Grundtypus und Ausdruck abgesehen, stimmen selbst Details wie die langen V-Falten an der Nasenwurzel trotz der unterschiedlichen Medien überein. In einer Scheibe mit Maria als stickender Tempeljungfrau (Abb. 118) erinnern die Gesichter in Umriss und Zügen, mit ihren spitz zulaufenden Stirnen sowie den großen, freiliegenden Ohren an das kleine Apokalyptische Weib oben rechts im Mühlenbild und an die hl. Dorothea auf der Einzeltafel. Höchst bemerkenswert aber sind die Ähnlichkeiten zwischen der Schwarzlotzeichnung der Scheiben und der Unterzeichnung von Dorotheentafel und Mühlenretabel: In der Glasmalerei mit Maria weisen die Achseln an den engen Gewändern der Frauen eine charakteristische Zeichnung
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mit zwei Schlaufen auf. Genauso sind die Achseln in den Doberaner Unterzeichnungen angelegt (Abb. 119). Ebenso finden sich dort die bemerkenswert schwungvollen Faltenund Umrisslinien wieder, die gelegentlich eingesetzten kammartigen Schraffuren, die Faltenschlaufen am Ende einer Linie. Worin der Zusammenhang zwischen dem Meister der Doberaner Tafeln und den für die Gemälde und Scheiben verantwortlichen Wismarer Ateliers konkret bestand, lässt sich nicht feststellen. Eine Identität der für die Tempziner und die Doberaner Tafeln verantwortlichen Maler ist jedoch wenig wahrscheinlich, allein schon weil in ersteren etliche Gestalten viel stärker an Meister Bertram gemahnen; sie sind gedrungen, die Köpfe runder und oft von einem Typus, der im Petri-Altar begegnet. Ebenso erinnern die verkürzten Ansichten einiger Köpfe an Bertrams Werke, während solche Motive in Doberan komplett fehlen. Dort sind dagegen die Finger tentakelartiger, dabei einzeln artikuliert und sorgsam gerundet. Eine motivische Idiosynkrasie des Malers der Doberaner Tafeln besteht in den trichterförmig abstehenden Manschetten, die viele seiner Figuren tragen. Offenbar handelt es sich um die Abwandlung eines Modedetails, des bis auf den Hand-
Abb. 118. Wismar, Heilig-Geist-Kirche, Glasmalerei, Detail: Maria mit Jungfrauen, Wismarer Werkstatt um 1400/1420
rücken reichenden Ärmels, das in Norddeutschland gelegentlich in Bildern auftaucht, beispielsweise bei den Marien in Bertrams St. Petri- und Buxtehuder Altar, auf einem um 1400 angesetzten Altarflügel aus Lübeck (?) im St. AnnenMuseum oder in manchen Gemälden des Meisters des Göttinger St. Jacobi-Retabels von 1402 (Abb. 120)71. Dieses Modedetail, das vor und um 1400 geläufig, jedoch schon im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts nicht mehr aktuell war, gibt zugleich einen Datierungsanhaltspunkt für die Werkgruppe, deren Einschätzung in der Literatur um 30 bis 40 Jahre schwankt: Von Fründt, Erdmann und Voss um 1410/20 datiert, wird der Mühlenaltar von Stange und Laabs bereits um 1380/90 angesetzt72. Laabs zieht dabei die 1390 entstandenen Malereien auf dem Ziffernblatt der Astronomischen Uhr in der Klosterkirche sowie die gemalten Außenseiten des oben erwähnten, um 1381 geschaffenen Arendseer Retabels als Vergleichstücke heran. Indes ist das Ziffernblatt völlig übermalt, und was noch motivisch zu erkennen ist, weist in meinen Augen wenig Gemeinsamkeiten mit unserer Werkgruppe auf. An den Arendseer Malereien kann ich weder in den Typen noch in der Ausführung eine Verwandtschaft entdecken. Verwiesen wurde andererseits auf Conrad von Soest, dessen 1403 fertiggestellter Wildunger Altar im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts zum wichtigsten Vorbild für Maler in Westfalen, Thüringen, Niedersachsen bis hin nach Lübeck und darüber hinaus wurde73. Eine Verbindung zur Doberaner Werkgruppe lässt sich allerdings an keiner motivischen Übereinstimmung festmachen. Trotzdem lassen etwa die leicht geschwungenen, aber voluminösen Gestalten der Bischöfe Nikolaus und Martin auf den Flügelinnenseiten des Mühlenretabels an die stehenden Heiligen auf der Außenseite des Wildunger Altars denken. Etliche Physiognomien in Doberan erinnern an Conrad und seine Nachfolger in Niedersachsen – beispielsweise der Täufer auf der Predella (Abb. 112) oder die Heilige ebendort, deren scharf geschnittenes Profil bei einigen Figuren in Wildungen ähnlich vorkommt. Zu dem eckigen Gesicht der Stifterin links vor der Eucharistischen Mühle, deren Kinnkontur einen rechten Winkel bildet, oder dem der hl. Dorothea auf der kleinen Tafel finden sich Gegenstücke in Gemälden aus dem Umkreis des Meisters des Göttinger Jacobi-Retabels von 1402 (Abb. 120)74. Köpfe, die in ihrer Grundform wie auch im Ausdruck an Physiognomien auf den Doberaner Tafeln gemahnen, kommen noch in Werken der 1420/30er Jahre in Thüringen vor75, die wiederum in der weiteren Nachfolge des Conrad von Soest stehen.
Abb. 119. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel, Infrarotreflektographie
Abb. 120. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Detail: Stifter – Meister des Göttinger Jacobialtars, Verkündigung, 1402, Detail
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Mit Werken der Zeit um 1400 hat das Doberaner Mühlenretabel darüber hinaus gemein, wie die Struktur von Brokatstoffen mittels kleiner geritzter Striche in den Goldpartien wiedergegeben wird. Diese Art der Darstellung setzt sich in Norddeutschland offenbar erst um 1400 durch; das älteste sicher datierte Beispiel dürfte wieder der Wildunger Altar von 1403 sein, doch kommt sie ebenso bei Bertrams Buxtehuder Altar von ca. 1400/10, jedoch noch nicht auf seinem Petri-Altar von 1379/83 vor. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Werkstatt, aus der die Tafeln um das Mühlenretabel hervorgegangen sind, wahrscheinlich in Wismar beheimatet war. Sie nahm Anregungen sowohl aus der Kunst Meister Bertrams als auch aus der Malerei in Westfalen oder Niedersachsen auf. Die Vergleichbarkeit mit Werken wie dem Göttinger Jacobi-Retabel oder Conrad von Soests Tafeln legen eine Datierung zu Beginn des 15. Jahrhunderts nahe, selbst wenn es hier keine direkten Zusammenhänge geben sollte. Ein modisches Detail wie die genannten trichterförmigen Enden der Ärmel spricht indes gegen eine Ansetzung erst im zweiten oder dritten Jahrzehnt. Die Kampagne, in der die drei fraglichen Doberaner Werke entstanden, mag daher ganz ungefähr um 1400–1410 anzunehmen sein.
Abb. 121. Triptychon, um 1450/1500
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TAFELN DER ZEIT NACH 1450 Bereits im fortgeschrittenen 15. Jahrhundert entstanden die beiden letzten Triptychen, die aus dem Bestand der Klosterkirche noch zu nennen sind. Beide haben extreme Beschädigungen erlitten und bislang kaum Beachtung gefunden. Das eine, heute im nördlichen Chorumgang aufgestellte Retabel hat seine Malerei auf Außen- wie Innenseiten gänzlich verloren (Abb. 121). Hingegen blieben die aus Eiche gefertigten Holzkonstruktionen, deren Mitteltafel 106 x 105 cm misst, komplett erhalten einschließlich der 8,5 cm breiten Rahmen und der originalen Scharniere. Damit gibt das Triptychon ein ebenso interessantes wie seltenes Beispiel dafür ab, wie ein spätmittelalterliches Retabel in etwa ausgesehen hat, wenn es aus der Werkstatt des Tischlers in das Atelier des Malers kam. Wie das Stück so vollständig die Malschicht und die Grundierung verlieren konnte, lässt sich nicht ermitteln, doch scheint es fast, als sei es zeitweilig dem Wetter oder aufsteigender Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen. Die Zerstörung fand vor dem 19. Jahrhundert statt, vielleicht schon lange vorher, denn unter den vereinzelten, meist schwer entzifferbaren Kritzeleien auf den ehemaligen Malflächen findet sich
auf der Innenseite des rechten Flügels unten das ins Holz geritzte Monogramm mit Jahreszahl „ER 1785“. In den älteren Beschreibungen der Kirche wird das bild- und textlose Stück nicht erwähnt. Zwei Eigenheiten unterscheiden das ramponierte Triptychon von den allermeisten Tafelbildern seiner Zeit: die geschnitzten „Edelstein“-Fassungen auf den Innenseiten der Rahmen und die kleine, oval abgerundete Mulde am unteren Rand der Mitteltafel. Voss hat letztere plausibel als Reliquienrepositorium identifiziert, von dessen Abdeckung durch einen Bergkristall oder ein Glasstück noch die Nagelspuren einer Metalleinfassung ringsum zeugen76. Voss‘ Identifikation des Triptychons mit einem von Röper genannten Altarbild, welches eine Reliquienkapsel am Fuß eines gemalten Kreuzes aufwies, trifft jedoch nicht zu77. Kaum weniger einzigartig sind die geschnitzten Vierpässe in den inneren Rahmenleisten. Diese Vertiefungen haben Reste von Grundierung und Fassung bewahrt: Sie waren innen abwechselnd rot und grün bemalt, so dass die einst ohne Zweifel eingesetzten Kristall- oder Glasstücke den Anschein von roten und grünen Edelsteinen erwecken sollten. Möglicherweise hängt ihre Existenz direkt mit dem Reliquienrepositorium zusammen, denn sie könnten als angemessener Schmuck für das ebenfalls mit einem Kristall oder ähnlichem versehene Behältnis empfunden worden sein. Ein solches Verständnis der goldschmiedeartigen Verzierungen wird jedenfalls durch ältere Werke nahe gelegt: Bei einem Kölner Triptychon von ca. 1330 enthielten die Rahmen in kleinen Gefachen Reliquien und sind an ihren Innenkanten mit imitierten Edelsteinen aus Glas verziert78. Die Rahmen eines anderen, um 1380 datierten kleinen Kölner Triptychons weisen abwechselnd kleine Reliquiengefache und geschnitzte und vergoldete Vierpässe auf, die eine gewisse Ähnlichkeit zu den Vierpässen des Doberaner Triptychons besitzen79. Chronologisch aber steht die Doberaner Tafel diesen Kölner Stücken fern. Zwar hielt Voss sie für eine Arbeit des frühen 14. Jahrhunderts, doch verrät die Konstruktion der Rahmen eine weit spätere Entstehung. Sie sind als Nutrahmen gebildet, deren Ecken mittels Gehrung verbunden sind. Diese Konstruktion kommt in Norddeutschland wohl frühestens ab Mitte des 15. Jahrhunderts vor und begegnet bei keinem anderen Doberaner Retabel80. Nicht einmal bei dem späten, vermutlich aus Lübeck stammenden Triptychon der Strahlenkranzmadonna (Abb. 432) wurde diese Holztechnik verwendet, was ein Hinweis auf eine andere Herkunft des Triptychons mit Reliquienmulde sein mag. Was in diesem Repositorium verwahrt wurde – und was dementsprechend
auf der Malfläche dargestellt war – lässt sich nicht mehr feststellen. Es wäre aber denkbar, dass es als neues Behältnis für den schon 1298 dem Kloster geschenkten Splitter vom Wahren Kreuz Christi dienen sollte81; dann hätte sich eine Kreuzigung auf der Tafel befinden müssen, die von den Proportionen auch gut unterzubringen wäre. Ein weiteres Triptychon sowie eine derzeit unter diesem aufgestellte Predella blieben als letzte Werke spätmittelalterlicher Tafelmalerei in Doberan erhalten (Abb. 430, 432). Bei dem Triptychon, dessen Mitteltafel 128 cm im Quadrat misst, handelt es sich um das von Röper als „Altar der Ehrenreichen Jungfrau Maria“ bezeichnete Stück, das auf einer Mensa im nördlichen Chorumgang, am achten Pfeiler von Westen, aufgestellt war82. Da die Mitteltafel auf einer Zeichnung von 1883 mit der seinerzeit noch vorhandenen Altarmensa in der Breite übereinstimmt, dürfte dies der originale Aufstellungsort sein83. Röper sah auf der Mitteltafel noch die Madonna im Strahlenkranz, die aber seither fast vollständig abgeblättert ist84. In den vier Ecken der Tafel waren typologische Verweise auf die Jungfräulichkeit Mariens untergebracht; heute lässt sich nur noch Moses vor dem Brennenden Dornbusch links oben identifizieren85. Auf den Flügelinnenseiten standen in zwei Registern je zwei Heilige in Innenräumen nebeneinander. Auf dem linken sind unten noch Barbara und Dorothea an ihren Attributen erkennbar, auf dem rechten standen oben Andreas mit seinem Kreuz und ein Heiliger mit Buch; die übrigen Darstellungen sind vollständig verloren. Auf den ein wenig besser erhaltenen Außenseiten der Flügel erblickt man als Ganzfiguren zwei Apostel, wobei nur Judas Thaddäus identifizierbar ist, vor rotem, mit Silbersternchen besetztem Grund86. Nach den Resten der Malschicht geurteilt, entstammte das Werk dem Umkreis des Lübeckers Hermen Rode: Die mit Rosa und Mittelblau arbeitende Farbgebung erinnert an ihn, und die goldenen Ranken auf den horizontalen Teilungen der Flügel finden das passende Pendant in den entsprechenden Teilungsstreifen der Flügel von Rodes Hochaltarretabel aus der Stockholmer Storkyrkan von 146887. Ebenso entspricht die in Doberan noch erkennbare Wiedergabe von Brokaten mittels paralleler diagonaler Ritzungen diesem Werk, und schließlich zeigen sich auch die Gesichter der Apostel auf den Außenseiten des Doberaner Triptychons mit den Physiognomien des Stockholmer Retabels verwandt (Abb. 436, 438)88. Damit sollen die Gemälde indes nicht notwendig Rode selbst zugeschrieben sein; sieht man von dem sehr erschwerenden schlechten Zustand ab, erscheinen sie doch etwas schwächer als dessen gesicherte Werke. Mög-
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Abb. 122. Friedrich Lisch, Zeichnung nach dem Retabel in der Fürstenkapelle Doberan, 1854
licherweise war ein Mitarbeiter oder Nachfolger Rodes für die Klosterkirche tätig. In den Umkreis Rodes gehört ebenso die wesentlich besser erhaltene Predella89, die seit einigen Jahren unter dem Triptychon der Strahlenkranzmadonna steht. Sicherlich war daran ein anderer Künstler tätig, der sich durch weiße Inkarnate mit roten Wangen und dunkle Knopfaugen auszeichnet. Er scheint der von Miriam Hoffmann mit „Frühe Werkgruppe im Stil Hermen Rodes“ benannten Richtung sehr nahe zu stehen90. Johannes Voss ordnete diese Predella hypothetisch der verlorenen Tafel der „Schmerzenreichen Jungfrau“ zu, die ein Pendant zur „Ehrenreichen Jungfrau“ gebildet haben könnte91. Zwei bislang nicht identifizierte Wappen zieren die Predella: der heraldisch rechte Schild ist Silber und Blau schräggeteilt, rechts mit einer goldenen Lilie, links mit einer roten Rose belegt; in seiner Mitte zeigt er einen Abtsstab, weshalb es sich bei der Predella vermutlich um die Stiftung eines Doberaner Abtes handelt – chronologisch kommt wohl nur Johann VII. Wilken (reg. 1465–1489) in Frage92.
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SECHS VERLORENE RETABEL Mit den besprochenen Werken sind alle mittelalterlichen Altartafeln der Klosterkirche aufgeführt, ausgenommen eine Predella, die heute unter dem Triptychon der „Leiden Christi“ steht (Abb. 101). Sie zeigt die geschnitzten Halbfiguren des Schmerzensmannes und sechs Heiliger, entstand um die Mitte des 15. Jahrhunderts und muss zu einem Skulpturenretabel gehört haben93, von dem sich ansonsten keine Spur erhalten hat. Aus den Aufzeichnungen des 17. und des 19. Jahrhunderts lassen sich darüber hinaus jedoch fünf weitere, durchweg gemalte Retabel zumindest hinsichtlich ihrer Ikonografie benennen. Einen hervorragenden Platz unter ihnen muss das Retabel auf dem Altar der Fürstenkapelle im Nordquerhaus eingenommen haben, das von Röper als „ansehnlicher Altar“ bezeichnet und von Lisch in einer mehrseitigen Beschreibung gewürdigt wird94. Diese und eine allerdings erstaunlich dilettantische Schemazeichnung Lischs (Abb. 122)95, geben noch eine Ahnung von dem Stück. Es handelte sich um ein
komplett gemaltes Triptychon, dessen Mitteltafel in zwei Register geteilt war. Als Hauptbilder sah man unten das Letzte Abendmahl, darüber die Kreuzigung Christi mit den Frauen, Johannes und dem Hauptmann. In vier kleineren Bildfeldern zu Seiten der Kreuzigung waren eine schon 1854 unkenntliche Szene, Christus am ölberg, seine Auferstehung und seine Himmelfahrt (?) dargestellt. Auf den jeweils in sechs Bildfelder unterteilten Flügelinnenseiten sah Lisch links nur noch die Reste einer Verkündigung, rechts aber allem Anschein nach die Dornenkrönung, Christus vor Pilatus, den Weltenrichter sowie drei Szenen aus Heiligenlegenden96. Auf den jeweils in vier Felder geteilten Flügelaußenseiten befanden sich stehende Heiligenfiguren, darunter ein Mönchsheiliger; zudem gab es eine Predella, die zu einem in der Ostseeküstenregion geläufige Darstellungstyp des halbfigurigen Schmerzensmannes mit den Arma Christi und flankierenden Heiligen gehörte, 1854 aber schon weitgehend zerstört war. Merkwürdigerweise verliert Lisch kein Wort über ein Reliquienrepositorium am Fuß des Kreuzes, das Röper erwähnt – hatte sich letzterer hier vielleicht getäuscht? Lisch hielt das Triptychon für sehr bedeutend und bezeichnete es als „sehr schön gemalt“. Gleichwohl entfernte er selbst es aus der Kirche, denn es sei „leider so verfallen, daß an eine Erhaltung oder Restaurierung nicht zu denken ist“97. Röpers Feststellung, dieses verlorene Werk gehöre „den Schriftzügen nach, zu den ältesten hieselbst“, scheint wenig verlässlich. Anhaltspunkte zu seiner Datierung lassen sich hingegen bei Lisch herauspräparieren: In einer der Heiligenszenen erblickte man eine Jungfrau „in grünem, golddurchwirkten Gewande“; die Wiedergabe von goldenen Brokatstoffen setzte aber in der norddeutschen Malerei erst gegen 1400 ein. Auf jene Zeit verweist ebenso das Detail einer weiteren Szene, in welcher Christus (?) mit einem „gespaltenen Bart“ dargestellt war, also wohl jenem typischen zweizipfligen Bart, der für das spätere 14. und das frühe 15. Jahrhundert typisch ist und in Doberan beispielsweise am Mühlenretabel begegnet. Ferner schreibt Lisch, dass die Gestalt des Pilatus in der Vorführung Christi „mit dem Rücken dem Beschauer zugewandt“ sei – man kann dabei an den Pilatus in der Dornenkrönung des Tempziner Altars denken (Abb. 114), der gleichfalls den Rücken zum Betrachter dreht. Und schließlich enthält Lischs Schemazeichnung ein kleines gegenständliches Detail, das verräterisch sein könnte (Abb. 123): die „zylinderförmige Mütze“ eine „Art Turban“ des Pilatus98, die in ihren Proportionen und mit dem oben leicht auskragenden Rand der Mütze eines Verurteilten im Wunder des hl. Nikolaus auf dem Mühlenretabel (Abb. 115) recht
genau entspricht. Das außergewöhnlich szenenreiche, „ansehnliche“ Triptychon könnte also ungefähr zur Zeit des Mühlenretabels entstanden sein99. Einen weiteren, doch anders gearteten Zusammenhang legen die Proportionen des Triptychons auf Lischs Zeichnung nahe: Diese sowie die horizontale Teilung der Mitteltafel in zwei Hälften entsprechen erstaunlich genau dem älteren Triptychon der „Leiden Christi“ (Abb. 100). Gemeinsam entstanden sind die beiden sicher nicht, allein schon weil das verlorene Retabel ohne Schnitzmaßwerk auskam. Vielleicht wurde es aber mit zeitlichem Abstand als ein Pendant für jenes ältere geschaffen. Unglücklicherweise macht Lisch keinerlei Maßangaben zu dem Werk; wenn es aber schon ursprünglich auf den Altar der Fürstenkapelle gehörte, könnte seine Mitteltafel so breit wie dessen ehemalige Mensa, 155 cm100, oder ein wenig schmaler gewesen sein. Mit ihren 140 cm Breite würde die Mitteltafel des „Leiden Christi“-Retabels dann ein sehr ähnliches Maß besitzen. Auch dies würde eine Art Pendant nahelegen. Vielleicht könnte die „ansehnliche“ jüngere Tafel ein Ersatz für die ältere, bis heute erhaltene gewesen sein, die dann anderweitig verwendet wurde, oder sie könnte auf einem im Rang oder in der Funktion entsprechenden Altar gestanden haben. Zu Röpers Zeiten waren andere gemalte Retabel bereits verschwunden, die noch 1664 von Eddelin angeführt wurden, so eine Tafel mit dem Marientod und darüber befindlicher Marienkrönung101. Um das Bett der Sterbenden standen die Apostel mit Lichtern in Händen, ihre Seele wurde von Engeln nach oben geführt – die Details deuten auf ein spätgo-
Abb. 123. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, linker Flügel, Detail: Verurteilte Ritter – Friedrich Lisch, Detail aus Abb. 122: Christus vor Pilatus, Hut Pilati
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tisches Gemälde. Eddelin erwähnt ferner ein Altarbild, das „unter andern Biblischen Historien“ Hiob zeigte, der von seinem Weib und dem Teufel verhöhnt wird102. Hier könnte es sich um die entsprechende Darstellung auf der rechten Flügelinnenseite des Kreuzaltares handeln (Abb. 31), möglicherweise aber auch um ein anderes Werk, da Eddelin es im Zusammenhang mit Stücken im Chorbereich der Kirche aufführt. Sollte es ein vom Kreuzaltar verschiedenes Werk mit einer prominenten Darstellung Hiobs gewesen sein, wie auch Röper 1808 vermutete, wird man, mit aller Vorsicht, eine Entstehung im Spätmittelalter vermuten dürfen103. Röper kannte hingegen noch das Retabel der „Schmerzenreichen Jungfrau Maria“, in dessen Zentrum die Pietà umgeben von anderen Darstellungen zu sehen war; Voss‘ Überlegung, in dem Stück ein Pendant zum Triptychon der „Ehrenreichen Jungfrau“ zu sehen, klingt verlockend, zumal wenn die erhaltene gemalte Predella mit dem Schmerzensmann zugehörig gewesen sein sollte104. Und schließlich gab es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein mehrfach beschriebenes, von Lisch als „klein“ bezeichnetes Triptychon, auf dessen Mitteltafel die Trinität in Form des Gnadenstuhls gemalt war: Gottvater saß in einem „hochroten“, grün gefütterten Mantel auf einem Thron, dessen vier Pfosten mit Löwen bekrönt waren, und hielt den Gekreuzigten vor sich105. Links kniete ein Mönch in brauner Kutte im Gebet mit Spruchband; die Gemälde der Flügel waren schon 1843 unkenntlich. Wie dieses Stück nach 1899 spurlos aus der Kirche verschwinden konnte, bleibt ein Rätsel. Das seltsame Detail der Thronpfosten mit bekrönenden Löwen – das für Gottvater weder geläufig noch besonders sinnvoll ist – spricht in meinen Augen abermals für ein Werk des fortgeschrittenen 15. Jahrhunderts. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stand unter diesem Triptychon die eben erwähnte Predella mit Schmerzensmann und Heiligen, die aber, da geschnitzt, auf keinen Fall ursprünglich dazu gehört haben kann.
BESTAND UND AUSSTATTUNGSKAMPAGNEN DER DOBERANER RETABEL
In den beiden Jahrhunderten nach Fertigstellung des gotischen Chores waren in den Kapellen und an Pfeilern der Doberaner Kirche etliche Altäre errichtet worden. Im 17. Jahrhundert zählte Pastor Eddelin ihrer 15, Hoch- und Kreuzaltar offenbar eingeschlossen106. Mindestens zwei weitere müssen ursprünglich in den beiden Kapellen gestanden haben, in de-
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nen 1621 und 1634 die Grabmonumente für Samuel Behr und Herzog Adolf Friedrich errichtet wurden. Damit ergäben sich wiederum 15 Nebenaltäre. Es gibt allerdings keinen Grund anzunehmen, dass ihre Anzahl um 1500 deutlich höher gewesen sein sollte als 1664. Die naheliegenden Standorte in Kapellen und an den Pfeilern von Chor und Querhaus ergeben zusammen tatsächlich etwa 15 Plätze. Allgemein wird angenommen, dass auch aus dem vergleichsweise noch reich ausgestatteten Doberaner Münster ein wesentlicher Anteil der einst vorhandenen Altarbilder des Mittelalters spurlos verschwunden sei. Zählt man indes die bewahrten und die in Beschreibungen greifbaren Tafeln zusammen, ergibt sich ein bemerkenswertes Resultat: Hochund Kreuzaltarretabel weggelassen, blieben acht Retabel ganz oder in Teilen erhalten; mindestens eine, doch eher zwei der noch vorhandenen Predellen gehörten weder zu einem der erhaltenen noch zu einem in der Literatur erwähnten Retabel, sondern zu unbekannten, verlorenen Stücken. Beschrieben werden von Eddelin, Röper und Lisch fünf weitere, seither verschwundene Tafeln. Addiert man diese drei Gruppen, ergibt das 14 bzw. 15 ehemalige Nebenaltarretabel. Die exakte Übereinstimmung mit den in der älteren Literatur genannten Altären mag Zufall sein. Dennoch dürfte die Differenz zwischen der Anzahl der einst vorhandenen Altarmensen und der nachweisbaren Retabel nicht groß sein. Es hat also den Anschein, dass ein bedeutender Teil, beinahe Alles, was es an Altartafeln in Doberan am Vorabend der Reformation gab, erhalten oder wenigstens doch noch benennbar ist. Eine zu mehr als 50 Prozent bewahrte und ansonsten größtenteils rekonstruierbare Retabel-Ausstattung ist eine exzeptionelle Situation und unterstreicht noch einmal nachdrücklich die Bedeutung des Denkmals Doberan. Aus der chronologischen Ordnung der erhaltenen Stücke ergibt sich eine Einteilung in unterschiedliche Ausstattungskampagnen. Insbesondere aus der frühen Zeit kurz nach Vollendung des Chores stammen deutlich weniger Stücke als bisher angenommen. Lediglich zwei Werke (Abb. 90–95) können dem frühen 14. Jahrhundert zugeordnet werden. Ihre ungewöhnliche Konstruktion bzw. Ikonografie legt nahe, dass sie besonderen Zwecken dienten. Wie schon ausgeführt, dürfte eines von ihnen der Aussetzung der Eucharistie für nicht-Mönche gedient haben, sei es in der Torkapelle, sei es als Vorgänger des heutigen Lettnerretabels. Als letzteres dann gegen Ende des 14. Jahrhunderts errichtet wurde, könnte das weit kleinere, aber altehrwürdige Stück auf einen anderen Altartisch gewandert sein. In Anbetracht des Umstands, dass es im frühen 14. Jahrhundert auch in
größeren Kirchen allgemein viel weniger Retabel gab als im folgenden Jahrhundert, könnte die Doberaner Ausstattung anfangs vielleicht überhaupt nur aus dem Hochaltarretabel und den beiden erhaltenen kleineren Tafeln bestanden haben, die jeweils einen besonderen Ort auszeichneten. Sollte dies zutreffen, wäre die Erstausstattung des gotischen Neubaus mit Retabeln vollständig bewahrt geblieben. Etwas erratisch steht heute das ungefähr 30 bis 40 Jahre später gefertigte Retabel der „Leiden Christi“ (Abb. 100) unter dem Inventar; seine Größe und sein ungewöhnliches Hochformat legen abermals einen herausgehobenen Standort nahe, doch lässt sich dieser nicht rekonstruieren. Als im letzten Drittel des Jahrhunderts mit der Aufstockung des Hochaltars und dem Lettneraltar sowie dem Sakramentshaus aufwendige Werke der Schnitzkunst für das Kloster entstanden, wurde bemerkenswerterweise auch ein geschnitzter Nebenaltarschrein (Abb. 108) angeschafft. Um oder bald nach 1400 kamen dann vermutlich vier komplett gemalte Werke (Abb. 37, 112, 113, 122) hinzu, was einem damals in Mittel- und Westeuropa einsetzenden Trend zur Vermehrung von Altartafeln entspricht. Und wie überall setzte sich diese Tendenz im Laufe des Jahrhunderts anscheinend auch in Doberan fort, wo in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation möglicherweise noch sieben oder mehr neue Retabel angeschafft wurden. Einzelne Retabel, die verschiedenen Ausstattungskampagnen angehörten, glichen sich wiederum in den Maßen. Dies war offenbar beim Retabel der „Leiden Christi“ und dem verlorenen Triptychon der Fürstenkapelle der Fall (Abb. 100, 122), trifft aber ebenso auf das Mühlenretabel und das Triptychon der Strahlenkranzmadonna (Abb. 37, 430, 432) zu, deren annähernd quadratische Mitteltafeln 132 bzw. 128 cm breit sind und bei denen die Proportionen und die Rahmenbreiten sich gleichfalls sehr nahe kommen. Vielleicht fungierten auch sie als Pendants. Ihre möglicherweise ursprünglichen Standorte befinden sich jedenfalls exakt auf gleicher Höhe in der Ost-Westachse der Kirche. Vielleicht waren auch lediglich die Mensen der beiden Altäre zur gleichen Zeit und mit gleichen Maßen gefertigt worden, woraus sich die gleiche Breite der Retabel auch ohne spezielle Absicht ergeben hätte. In den Nebenaltarretabeln der Doberaner Klosterkirche spiegeln sich eineinhalb Jahrhunderte Malerei im südwestlichen
Ostseeraum. Insbesondere mit den beiden ältesten Stücken dürften die einzigen nennenswerten Zeugnisse für einen Stil in der Tafelmalerei erhalten sein, der einst ebenso das große Cismarer Retabel und möglicherweise auch die Außenseiten des Doberaner Hochaltarretabels auszeichnete. Ihr Ursprungsort war Lübeck, im frühen 14. Jahrhundert vermutlich der wichtigste, wenn nicht der einzige Ort in der Region, in dem Werke von internationalem Standard entstanden. Auch am Ende des hier interessierenden Zeitraums wurden in Doberan Retabel von dort angeschafft, zu einer Zeit also, als der Lübecker Kunstexport die ganze Ostsee dominierte. Um 1400 aber scheint eine Werkstatt in Wismar eine ganze Ausstattungskampagne bestritten zu haben. Woher das Triptychon der „Leiden Christi“ stammte, bleibt unbekannt. Indes stellt es, trotz seines jämmerlichen Zustands, mehr oder weniger das einzige Zeugnis der Tafelmalerei des mittleren 14. Jahrhunderts dar, das in der Region erhalten blieb. Für die Geschichte von Malerei und Altartypologie ist Doberan ein Schatzhaus, dessen Juwelen sich freilich nicht alle auf den ersten Blick erschließen.
ABSTRACT Other than the well-known retable of the main altar and the double sided retable of the cross altar, the Doberan church preserves further eight panels and triptychs designated for side altars either completely or in parts as well as three predellas of which however only one can be assigned to one of the eight preserved altarpieces. Five further retables, mentioned in descriptions of the 17th and 19th century, have since disappeared. With this total of 15 works of art, the pre-reformation inventory of side altar retables of the church seems to be largely, maybe even completely preserved or verifiable – an exceptional situation. The remaining works have come down to us in very different states of preservation. While one of the triptychs is preserved with its complete painting on the inside and outside, other panels are reduced to the mere timber structure and have lost all painting and polychromy. This paper focusses on the reconstruction of the iconography and the artistic characteristics of all these works, including the nearly lost ones.
Die Nebenaltarretabel des Doberaner Münsters | 149
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Nicht berücksichtigt sei hier die Dreikönigsdarstellung von ca. 1420/30 auf der Innenseite der Maßwerkbrüstung des Oktogons (VOSS 2008, S. 78), die in Anbetracht ihrer skizzenhaften Ausführung und ihrer Anbringung kaum als Retabel gedient haben kann. Vgl. STANGE 1934, S. 121f.; STANGE 1967, Nr. 602, 603; WENTZEL 1962, S. 210; KRAFT 1976, S. 143; LAABS 2000, S. 76–80, 220f.; VOSS 2008, S. 54–57, 146. Anders HABICHT 1919, S. 44– 46, 71–74, der die beiden trennt und den Schrein gegen 1300, das Triptychon um 1340 datiert. Ähnlich ERDMANN 1995, S. 42, 49, Schrein um 1315/25, Triptychon um 1330/40. EDDELIN 1664, S. 32f. (s.u. S. 467f.) beschreibt bereits das komposite Ensemble. Eine Fotografie von ca. 1878 zeigt beide Teile noch vereint; VOSS 1990, Abb. 74; VOSS 2008, S. 84; THIELE 2016, S. 212, Abb. 215.1 VOSS 1986, S. 673; ders. 1990, S. 128; ders. 2008, S. 56, rekonstruiert Geißelung und Kreuztragung. Mit größerer Wahrscheinlichkeit aber wären Szenen mit einem Bezug zu Inkarnation oder Eucharistie anzunehmen, beispielsweise Verkündigung und Geburt Christi. So bereits ERDMANN 1995, S. 41. VOSS 1990, S. 128, und LAABS 2000, S. 78f., datieren die Tafel dagegen gleichzeitig mit dem Schrein um 1320. Die Schrift der Tafel spricht jedoch für das spätere Datum; freundliche Auskunft von Christina Meckelnborg, Berlin, 2014; außerdem entspricht die Darstellung der Monstranz auf der Tafel klar dem mittleren 15. Jahrhundert, wie bereits WIPFLER 2003, S. 310f., bemerkt; sie vermutet einen Zusammenhang mit den neuen Ablässen für den Besuch des Sakraments in Doberan von 1450 oder 1461. Die Tafel ist heute in wenig befriedigender Weise auf eine bemalte Leiste gesetzt, die ursprünglich zur Abstützung hinter der Inschriftentafel angebracht war. Die Inschrift lautet: Are dic isti nomen de corpore cristi / Istic fundatur veneratur glorificatur/ et colitur munus immensum trinus et unus/ Hic semperque pia veneratur virgo maria; vgl. LAABS 2000, S. 95; VOSS 2008, S. 56. ERDMANN 1995, S. 42; LAABS 2000, S. 78f.; WIPFLER 2003, S. 310. LAABS 2000, S. 94–97; ähnlich schon VOSS 1990, S. 130f. WIPFLER 2003, S. 307. Nicht ursprünglich dürfte die kleine Tür in der Mitte des inneren Kastens sein, die ganz unsauber aus der innen bereits gefassten Rückseite herausgesägt wurde. Sie könnte notwendig geworden sein, als die Arkaden mit einem Drahtnetz verschlossen wurden, das mir, anders als VOSS 1990, S. 128–130, nicht original erscheint. Die Texte u.a. bei LAABS 2000, S. 230. Zur Ikonografie KRAFT 1976, bes. S. 143; WIPFLER 2003, S. 173– 188; VOSS 2008, S. 52–54. S. Anm. 2. STANGE 1934, S. 120–122, Abb. 118. Die Gesichts- und Augenformen, die Lockenpracht etwa des von Stange abgebildeten Christophorus in St. Jakobi, Lübeck, weichen deutlich ab; bei Betrachtung des Originals fällt das noch mehr ins Auge. Die ebenfalls „gotischer“ aussehenden Wandbilder im Schiff der Heilig-GeistKirche sind vollständig übermalt. STANGE 1934, S. 80, 92f., 122; KAT. MÜNSTER 1964, S. 21–28. Stockholm, Historisches Museum; TåNGEBERG 2005, S. 59–65, hält ihn aber für einen westfälischen Import. WENTZEL 1962; vgl. auch VAN OS 1994, S. 114f., 182, Nr. 35.
150 | Stephan Kemperdick
19 Von den Cismarer Arkaden sind nur die Vorritzungen erhalten; nach Martin Friedrich Arendt, 1819, saß unter jeder Arkade ein Apostel; FREITAG 2001, S. 67. 20 Die dendrochronologische Untersuchung des Schreins (s. Anm. 21) belegt, dass das verwendete Eichenholz aus dem westmecklenburgischen Bereich, also auch der Gegend um Doberan, stammen dürfte; allerdings könnte Holz von dort auch nach Lübeck importiert worden sein. 21 Gutachten von Karl-Uwe Heußner und Tilo Schöfbeck vom 28.8.2014. Das Eichenbrett enthält Splintholz; der jüngste Kernholzjahrring stammt von 1291. 22 WENTZEL 1938, Taf. 132; LAABS 2000, S. 75f., 221; VOSS 2008, S. 144f. 23 LAABS 2000, S. 75f., 221. 24 RöPER 1808, S. 231. 25 VOSS 2008, S. 145. 26 EDDELIN 1664, S. 39 (s.u. S. 470, Nr. 33). 27 SCHREIBER 1855, S. 26, 90. 28 WENTZEL 1938, Tf. 132. 29 Am unteren Abschluss der oberen Flügel sind mittig die Ansätze der vertikalen roten Streifen erkennbar. 30 VOSS 2008, S. 51f., 144f., Nr. 43; WENTZEL 1938, Tf. 132; ERDMANN 1995, S. 56; LAABS 2000, S. 75, 221. 31 Eine etwas unreine und gebrochene Farbgebung kennzeichnen z.B. den Kölner Klarenaltar von ca. 1350, das Retabel in Netze, um 1370, teilweise auch Meister Bertrams Petri-Altar von 1379/83. 32 Berlin, Gemäldegalerie SMB, KEMPERDICK 2010, Nr. 6. 33 Berlin Gemäldegalerie SMB, Josephszweifel, KEMPERDICK 2010, Nr. 10; Hamburg, Kunsthalle, PORTMANN 1963, Tf. 5, zuletzt KAT. HAMBURG 1999, Nr. 1. 34 VOSS 2008, S. 51f., 144f., Nr. 43. 35 Mönchgestühl, Nordreihe, östliche Wange, Wimperge über den heiligen Mönchen. 36 Vgl. ALBRECHT 2012, Nr. 8, Abb. 8.2. 37 BINDING 1989, S. 306, Abb. 344; APPUHN 1986, Tf. 66. 38 Jüngster Kernholzjahrring von 1326; Bericht von Karl-Uwe Heußner und Tilo Schöfbeck, 28.8.2014. 39 Das einzige andere mir bekannte Beispiel ist der 1432 vollendete Genter Altar der Brüder van Eyck. 40 Frankfurt, Städel Museum, BRINKMANN/KEMPERDICK 2002, Nr. 1 (Stephan Kemperdick). 41 VOSS 2008, S. 85. 42 LAMBACHER 1994. Das Arendseer Retabel ist mit den Werken in Petersdorf/Fehmarn und aus Munktorp (Schweden) eng verwandt. 43 1875 waren die Außenseiten schon mehr oder weniger im heutigen Zustand, als sich der Güstrower Maler K. Hering dort in roter Farbe schwungvoll verewigte. 44 RöPER 1808, S. 231f. 45 EBD., S. 230; sichtbar auf einer Zeichnung von Carl Elis, Schwerin, Staatliches Museum; s. THIELE 2015, S. 212 und hier Abb. 130. 46 VOSS 2008, S. 143. 47 BENZ 1984, S. 29f.; WIPFLER 2003, S. 206. der Goldgrund ist komplett erneuert, weshalb die Nimbeninschrift fehlt. 48 WICHERT 2000, S. 211–242. 49 Gelegentlich, so von VOSS 2008, S. 76, wird in einem ein Konverse vermutet; die berühmte Wange mit Konverse und Teufel am Laienbrüdergestühl zeigt jedoch, dass deren Haar- und Barttracht, wie üblich, nicht der der Mönche entsprach.
50 Vgl. u. die verlorene Tafel der Trinität. Zum oftmals braunen statt weißen Habit von Zisterziensern im Mittelalter SLAWIK 2015. 51 ULPTS 1995, S. 419–424 u. passim. 52 BENZ 1984, S. 863. 53 BENZ 1984, S. 868. Der Text der heute teils verlorenen Banderolen bei EDDELIN 1664, S. 36 (s.u. S. 469, Nr. 24). 54 EDDELIN 1664, S. 37 (s.u. S. 469, Nr. 24). 55 Beispielsweise in einem Wandbild des späten 14. Jahrhunderts in St. Peter und Paul, Weissenburg/Wissembourg im Elsass, wo, wie in Doberan, jeweils auch Christus in den Szenen erscheint. 56 Sie waren auch nicht nachträglich auf den Flügelaußenseiten angebracht worden, denn auf der rechten ist unten groß in Schwarz das Alphabet in einer barocken Schrift auf das nackte Holz gemalt. 57 Ein Martinsretabel vermutet LAABS 2000, S. 80, 223; das ist als alleiniges Patrozinium nicht wahrscheinlich, zumal der hl. Nikolaus die heraldisch rechte Seite einnimmt. 58 RöPER 1808, S. 231; VOSS 2008, S. 139. 59 STANGE 1967, Nr. 606; FRÜNDT 1969, S. 22; VOSS 2008, S. 77. 60 RöPER 1808, S. 231f. 61 DREyER 1975; zugeordnet auch von HABICHT 1919, S. 218–222; STANGE 1936, S. 153; ders. 1967, Nr. 607; LAABS 2000, S. 81; VOSS 2008, S. 146. Das Ornamentband innen am Rahmen ist eine Ergänzung des 19. Jahrhunderts. 62 DREyER 1975, S. 280, der bereits einen Retabel- oder Predellenflügel vermutet. In Anbetracht der beinahe quadratischen Proportionen ist eine Predella weniger wahrscheinlich, die durchweg ein langgestrecktes Format aufweisen. 63 FRÜNDT 1969, S. 21 (Schüler Conrads von Soest); ERDMANN 1995, S. 72–74; VOSS 2008, S. 75. 64 DREyER 1975, S. 282–284; ebenso VOSS 2008, S. 75; der Buxtehuder Altar in der Hamburger Kunsthalle; KAT. HAMBURG 1999, Nr. 4. 65 Bereits angedeutet von MAERCKER 1990, S. 46, Anm. 34; HEGNER 2015, S. 63. 66 HEGNER 2015, S. 59–63. 67 Frdl. Hinweis von Kaja von Cossart. 68 Gemessen an einer rückseitigen Verstrebung, Eichenholz aus dem Raum Uckermark/Nordpolen, jüngster Kernholzjahrring 1371, 2 Splintholzringe vorhanden, Fälldatum 1387 +/-10, freundliche Auskunft von Tilo Schöfbeck, Schwerin; HEGNER 2015, S. 21. 69 Auch weil für das dortige Dominikanerkloster ein weiteres Retabel in der derselben Werkstatt gefertigt wurde, heute in der Neuen Kirche von 1950/51 ebendort. 70 MAERCKER 1990. 71 KAT. HAMBURG 1999, Kat. 1, Kat. 4; ALBRECHT 2005, Kat. 22; CARQUé/ RöCKELEIN 2005, Tf. 21, 27–29. 72 FRÜNDT 1969, S. 21; ERDMANN 1995, S. 72–74; VOSS 2008, S. 75–77, 139f.; STANGE 1936, S. 151; ders. 1967, Nr. 606, LAABS 2000, S. 80f., 223f. 73 CORLEy 1996, S. 183–194, 149–181. 74 Retabel aus der Göttinger St. Marien-Kirche, Hannover, Landesmuseum, CARQUé/RöCKELEIN 2005, Tf. 27. 75 Z.B. erinnern einige Köpfe in Doberan an das Retabel aus Arnstadt, um 1430, Berlin, Gemäldegalerie, s. KEMPERDICK 2010, Nr. 33. 76 VOSS 2008, S. 57, 142f., Nr. 38. 77 EBD.; RöPER 1808, S. 232, spricht von dem Retabel der Fürstenkapelle, s.u. 78 Köln, Wallraf-Richartz-Museum, WRM 1, ZEHNDER 1990, S. 94–98.
79 Hamburg, Kunsthalle, SITT 2007, Nr. 791, S. 382–382. 80 Eine der frühesten Stücke ist das Retabel der Mühlenknechte in Lübeck, um 1450, ALBRECHT 2012, Nr. 16. 81 LAABS 2000, S. 29, 221; sie vermutet diesen Splitter in dem Retabel der Fürstenkapelle; s.o. 82 RöPER 1808, S. 230. Röper beginnt seine Beschreibung „Im Umgang des Chores und Kreuzes, von Süden gegen Osten und Westen. A. Zur linken Hand, oder an der innern Seite.“ Demzufolge entspricht die Reihenfolge der genannten Retabel den Nebenaltären der Vierungspfeiler in entgegengesetzter Uhrzeigerrichtung. Der „Altar der Ehrenreichen Jungfrau“ wird an vierter Stelle genannt, also handelt es sich um den ersten Pfeiler im nördlichen Chorumgang (Pfeiler 18.2. bei THIELE 2015, hinterer Einband). 83 Bleistiftzeichnung von Carl Elis, Schwerin, Landesarchiv; Abb. in THIELE 2015, S. 212. 84 Eine ausführliche Beschreibung des Retabels und der Predella im Aufsatz von Anja Rasche in diesem Band. 85 Gerhard Weilandt danke ich für folgenden Hinweis: Es gibt im Kunsthistorischen Museum in Rostock eine Tafel (Retabel, ehemals mit Flügeln) mit Strahlenkranzmadonna und vier symbolischen Darstellungen der Jungfräulichkeit Mariens aus der dortigen Dominikanerkirche, Mitte 15. Jh. Wie bei der Doberaner Tafel befindet sich links oben Moses mit dem Brennenden Dornbusch. Desweiteren Ezechiel und Porta clausa (oben rechts), unten links Augustus und die tiburtinische Sibylle, unten rechts: Fell des Gideon. Hier scheint eine direkte ikonografische Parallele vorzuliegen. 86 Voss 2008, S. 79, 150 vermutet Matthias, da als Attribut ein Buch und der Rest eines Schwertgriffs erkennbar sind. 87 RASCHE 2013, S. 153–180; HOFFMANN 2015, S. 74–79. Allerdings ist dieses Ornament im Stockholmer Werk sorgfältiger ausgeführt, vgl. RASCHE 2013, Abb. 110. 88 Vgl. z.B. Abb. 116 bei RASCHE 2013. 89 So bereits ERDMANN 1995, S. 74. 90 HOFFMANN 2015, S. 106–114, Abb. 239–249. 91 VOSS 2008, S. 150f. 92 Dessen Wappen anscheinend nicht überliefert ist. 93 Die überzeugende Datierung nach VOSS 2008, S. 145. 94 RöPER 1808, S. 232f; LISCH 1854, S. 363–365; LAABS 2000, S. 221, Nr. 14. 95 Schwerin, Hauptstaatsarchiv, Nachlass Lisch, 10.9–2/6, Nr. 195. 96 Lisch identifiziert alle fälschlich als Passionsszenen. 97 LISCH 1854b, S. 363. 98 LISCH 1854b, S. 365; Zeichnung Lisch (Abb. 121). 99 Eine solches Datum vermutet bereits ERDMANN 1995, S. 74. 100 Diese wurde von Möckel um 1890 in den Fußboden der Kapelle eingelassen. 101 EDDELIN 1664, S. 38 (s.u. S. 469f., Nr. 27); seine Beschreibung paraphrasiert RöPER 1808, S. 233f. 102 EDDELIN 1664, S. 38 (s.u. S. 470, Nr. 28); ebenso RöPER 1808, S. 234. 103 Prominente Hiobs-Darstellungen sind eher aus jener Zeit bekannt, etwa der Hiobs-Altar des Meisters der Barbara-Legende, Brüssel um 1480 (Köln) oder Dürers Jabach-Altar (Köln, Frankfurt). 104 RöPER 1808, S. 230, SCHREIBER 1855, S. 91; VOSS 2008, S. 150f. 105 LISCH 1844b, S. 425; RöPER 1808, S. 230; Eddelin 1664, S. 34; SCHLIE 1899, S. 608. 106 Peter Eddelin, Hss. Rostock, Univ.Bibl., Kl-108.28, S. 33, Nr. 38 und Mss. Meckl. O 6, S. 83, s. die Edition von Gerhard Weilandt in diesem Band, S. 476.
Die Nebenaltarretabel des Doberaner Münsters | 151
DIE GLASMALEREIEN DES DOBERANER MÜNSTERS – ZU GESCHICHTE, REKONSTRUKTION UND DATIERUNG DES HOCHGOTISCHEN SCHEIBENBESTANDES UWe GASt
Von allen sakralen Großbauten in der nordostdeutschen Küstenregion hat allein das Doberaner Münster umfangreiche Reste seiner hochgotischen Farbverglasung bewahrt. Während die Dom- und Stadtkirchen von Lübeck, Schwerin, Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald keine oder allenfalls nur noch einzelne mittelalterliche Glasmalereien besitzen, sind in und aus Bad Doberan immerhin einige Dutzend Scheiben der Zeit um 1300 erhalten, die aus verschiedenen Fenstern der ehemaligen Zisterzienserkirche stammen und die sich, sofern sie nicht schon im 19. Jahrhundert an die Großherzogliche Altertümersammlung in Schwerin abgegeben wurden, heute deponiert in zwei Fenstern des Langhauses befinden. Doch was heißt „umfangreiche Reste“? Angesichts der Vielzahl der hohen, zwei- bis vierbahnigen Fensteröffnungen, durch welche die Kirche in Chor, Quer- und Langhaus in zwei Geschossen ihr Licht erhält, muss mit ursprünglich mehreren Hundert gemalten Glastafeln gerechnet werden, selbst dann, wenn nicht alle Fenster Glasmalereien besessen haben sollten. Die folglich zwar zahlreichen, im Ganzen aber bruchstückhaften hochgotischen Reste sind, wie auch einige wenige spät- und nachmittelalterliche Fragmente, in eine moderne Verglasung integriert, die den Restaurierungskampagnen des Baues im 19. Jahrhundert unter Ludwig Bartning (1799–1864), Theodor Krüger (1818–1885) und Gotthilf Ludwig Möckel (1838–1915) entstammt1. Kurzum, auch die mittelalterliche Verglasung des Doberaner Münsters ist zum überwiegenden Teil verloren. Damit der
Probleme nicht genug. Die erhaltenen Scheiben – vor allem Ornament-, aber auch Figuren- und Architekturfelder (Abb. 126, 127) – haben eine komplizierte Geschichte2. Mehrere Male sind sie ausgebaut und restauriert, nicht immer an denselben Stellen wiedereingesetzt worden. Über ihre ursprünglichen Standorte im Bau herrscht deshalb viel Unklarheit. Christa Richter, die zweifellos beste Kennerin des Bestandes, resümierte schon 1979 ganz lapidar: „Die ursprüngliche Anordnung der Doberaner Scheiben ist nicht bekannt“3. Gerade sie wäre aber von größtem Interesse. Sie könnte nicht nur Hinweise auf die Identifizierung einzelner figürlicher Darstellungen, insbesondere der Stifterin mit einem Ornamentfenster (Abb. 127, 133), und auf das ikonografische Programm geben, sondern auch, vielleicht, die Gruppierung der Fenster und die Datierung der verlorenen Gesamtverglasung ermöglichen. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich einen Blick auf die Literatur zum Gegenstand meines Beitrags werfen. Sieht man von einer ersten, marginalen Erwähnung der Doberaner Glasmalereien im Jahr 1664 und in der Zeit um 1800 ab4, setzt deren Erforschung in den 1830er-Jahren mit den Arbeiten von Georg Christian Friedrich Lisch (1801–1883) ein. Lisch förderte vor allem Quellen zur Verglasungsgeschichte von Kirche und Klausur zutage: Für den ab dem Jahr 1552 abgebrochenen Kreuzgang konnte er einen gemalten Stammbaum des Hauses Mecklenburg aus der Mitte des 14. Jahrhunderts nachweisen5; in das Nordquerhaus der Kirche, wo er das Grab des Klostergründers Pribislav gefun-
Linke Seite: Abb. 124. Langhausfenster n xIV, 8a, Hl. Johannes Bapt., um 1300
Abb. 125. Grundriss mit Bezeichnung der Fensterplätze
den zu haben glaubte, lokalisierte er eine Fensterstiftung Fürst Heinrichs II., des Löwen, vom Januar 13026. Er ging aber auch auf erhaltene Fragmente ein, so zum Beispiel auf den mecklenburgischen Wappenschild im Ostfenster der so genannten Pribislav-Kapelle (Abb. 128), dessen ältester überlieferter Standort das Achsenfenster in der Scheitelkapelle des Chorumgangs ist7. Doch erst am Ende des 19. Jahrhunderts kamen mit der Monografie von Ludwig Dolberg und dem Kunstdenkmälerband von Friedrich Schlie zwei Arbeiten heraus, in denen der erhaltene Bestand an mittelalterlichen Glasmalereien jeweils vergleichsweise genau aufgelistet wurde8. Gleichwohl blieb er auch weiterhin so gut wie unbekannt. Denn abgesehen von den Zeichnungen vier einzelner Ornamentfelder, die Carl Elis publiziert hatte9, gab es, soweit ich sehe, keine gedruckten Abbildungen der vor Ort schwer lesbaren Kunstwerke. Selbst deren Sicherstellung in den Kriegsjahren 1942–1945 wurde nicht für Untersuchungen und fotografische Einzelaufnahmen genutzt, was Hans Wentzel sehr beklagt hat10; es scheinen lediglich einige unscharfe, in Maßen aussagekräftige Gesamtaufnahmen angefertigt worden zu sein (Abb. 131). So blieb es auf Jahrzehnte bei wenigen pauschalen Erwähnungen11. Als die mittelalterlichen Verglasungsreste im Chor-Obergaden und im Langhaus gegen Ende der 1970er Jahre wieder einer Res-
154 | Uwe Gast
taurierung unterzogen wurden, war für das Corpus Vitrearum Medii Aevi der DDR erstmals die Möglichkeit einer Autopsie gegeben. Die damalige Mitarbeiterin Christa Richter publizierte in der Folge eine Reihe von Beiträgen, in denen sie sich grundlegend mit dem hochgotischen Scheibenbestand auseinandersetzte12. Der Gesamtbestand wurde in neue Inventarwerke aufgenommen, und auch in neu erarbeiteten Kloster- und Kirchenführern wurden die Glasmalereien nun entsprechend gewürdigt13. Als weiterer, ausschließlich der Glasmalerei gewidmeter Beitrag erschien in jüngeren Jahren ein Aufsatz von Johannes Voss, der, gewissermaßen als Ergänzung zu Richter, das Thema fürstlicher Fensterstiftungen aufgriff14. Außerdem erschienen in der Nachfolge von Richter zahlreiche Arbeiten, in denen – so in einem Aufsatz von Elisabeth Oberhaidacher-Herzig und den Dissertationen von Annegret Laabs und Juliane von Fircks – die Stifterinnenscheibe intensiv diskutiert wurde15. Insgesamt ist der Forschungsstand aber wenig befriedigend. Was fehlt, ist in allererster Linie der Band des Corpus Vitrearum Deutschland zu den mittelalterlichen Glasmalereien in Mecklenburg-Vorpommern (CVMA Deutschland xxI). Von ihm ist zu erwarten, woran es bisher zum Teil noch mangelt: – An der Aufarbeitung der Verglasungsgeschichte, in welcher die Maßnahmen des 19. Jahrhunderts auf ihren Umgang
Abb. 126. Langhausfenster s xV
mit dem mittelalterlichen Scheibenbestand hin untersucht werden16. Sie ist die Voraussetzung, um den ursprünglichen Zustand der Verglasung rekonstruieren zu können. – An einer solchen Rekonstruktion, zumindest an einer Diskussion, wie der erhaltene Bestand im Bau verteilt gewesen sein könnte. In Ansätzen ist das zwar schon geleistet worden, so etwa für die Scheibe mit der Stifterin eines (Ornament-)Fensters, dessen Standort entweder im Chor oder im Nordquerhaus vermutet wird17. Es empfiehlt sich aber, dabei nicht den Zusammenhang aus den Augen zu verlieren, in dem die einzelne Scheibe gestanden hat beziehungsweise gestanden haben könnte. Folglich muss der gesamte überlieferte Bestand an Figuren-, Architektur- und Ornamentfeldern berücksichtigt und, so gut es geht, geordnet werden. Christa Richter hat hierzu erste Überlegungen angestellt18. – An der stilistischen und zeitlichen Einordnung des Bestandes, wozu wiederum nur Christa Richter einen Vorschlag unterbreitet hat, „von etwa 1270 bis nach 1300“19. Was dabei die Stifterinnenscheibe betrifft, ist Richter mit ihrer unabhängig von der Baugeschichte ermittelten Datierung um 1270–1280 und ihrer daraus abgeleiteten Identifizierung der Figur als Königin Margarete von Dänemark (†1282/83) sowohl auf Zustimmung als auch auf Ablehnung gestoßen20. Ihre allgemeine Einordnung des Bestandes hingegen ist nicht diskutiert worden. Ich möchte im Folgenden auf diese drei Fragenkomplexe etwas genauer eingehen, als es bisher geschehen ist. Meine Ausführungen zur Wiederherstellung der Kirchenverglasung im 19. Jahrhundert, zur Rekonstruktion des hochgotischen Scheibenbestandes und zu dessen Gruppierung und Datierung können zwar bei Weitem nicht die Bearbeitungstiefe eines Corpus-Bandes erreichen; einige Irrtümer, die in der Literatur kursieren, lassen sich indes schon jetzt aufklären. Wie in vielen Sakralbauten des Mittelalters, wird auch im Doberaner Münster der Raumeindruck von einer Verglasung des 19. Jahrhunderts geprägt. Es ist eine helle, ornamentale, verhalten figürliche Verglasung, die gut zu dem Bau mit seiner reichen Ausstattung passt und, ohne eine Rekonstruktion im strengen Sinn zu sein, das ursprüngliche Erscheinungsbild seines Innern sogar einigermaßen adäquat wiedergeben dürfte21. Alle Renovierungs- beziehungsweise Restaurierungskampagnen der Kirche im 19. Jahrhundert waren von Arbeiten an
Abb. 127. Langhausfenster n xIV
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den Fenstern begleitet22. Schon unter dem Oberlandbaumeister Carl Theodor Severin (1763–1836) wurden Fenster wiederhergestellt, und zwar um 1829–1834 durch den Meißener Porzellan- und Glasmaler Carl Samuel Scheinert (1791–1868)23. Im Zuge der nächsten, langen, in die Jahre 1848–1875 datierten Kampagne unter den Architekten Ludwig Bartning und Theodor Krüger wurde ab 1851/52 wieder ein Teil der Verglasung erneuert. Für diese Arbeit wurde nicht noch einmal Scheinert herangezogen, sondern auf Vorschlag von Georg Christian Friedrich Lisch der in Schwerin ansässige, damals schon renommierte Glasmaler Ernst Gillmeister (1817–1887)24. Lisch hatte im August 1851 mit dem Großherzog Friedrich Franz II. von Mecklenburg und dessen Frau das Doberaner Münster besucht und bald darauf, im September 1851, eine Reihe von Maßnahmen „betr. die Restaurierung einiger historischer Denkmäler“ vorgeschlagen25. Zu den Glasmalereien schrieb Lisch: „Nicht minder wichtig und nöthig ist die Restauration der alten Glasgemälde. Es sitzen in der Höhe noch viele einzelne alte Tafeln, welche ohne Zweifel bald eine neue Verbleiung erheischen, wenn sie nicht zerfallen sollen. Diese Tafeln ließen sich aber sehr passend zur Herstellung einiger gemahlter Fenster an mehreren Stellen der Kirche verwenden, wo sie mehr passend sein würden. Diese Stellen würden sein: a, das Fenster hinter dem Hochaltare, in welchem mehrere Tafeln fehlen, [unleserlich] jetzt interimistisch mit blauer Farbe bemalt sind, die jedoch einen störenden Eindruck macht, namentlich seit der Vollendung der Restauration des Hochaltars und des Tabernakels, […]; b, das Fenster dem großherzoglichen Stuhle gegenüber, […]; c, die Fenster in der alten fürstlichen Begräbnißkapelle, […]. Ich möchte mir daher den unmaaßgeblichen [unleserlich] Vorschlag erlauben, den Glasmaler Gillmeister die [unleserlich] Restauration der noch vorhandenen gemalten Fenster in der Kirche […] zu übertragen“26. Eine Notiz Lischs aus den frühen 1850erJahren belegt, dass Gillmeister daraufhin beauftragt wurde, „die alten Glasmalereien hinter dem Altare zu restauriren“ (Chor I) und „ein neues Fenster im nördlichen Seitenschiffe […] zu malen“ (Langhaus n xIV, um 1979/80 entfernt, seit 2005 Querhaus n xIII)27. Beide Arbeiten scheinen noch im Jahr 1852 von Gillmeister ausgeführt worden zu sein28; das neue Ornamentfenster mit eingestreuten Wappen trägt zudem die Jahreszahl „1852“29. Es wurde von Wilhelm Lübke, der es in Schwerin in Gillmeisters Werkstatt gesehen hatte, sehr gelobt. „Ich sah“, schrieb Lübke, „eines jener Fenster, das nach der in Cisterzienserkirchen üblichen Weise mit wenig hervorleuchtenden Farben ausgestattet, ein reizvolles
Abb. 128. Querhausfenster n x, 1–5a–c
Weinlaubgewinde auf damascirtem Grunde zeigt. […] [Es] verräth ein verständnissvolles Eingehen und geschicktes Fortbilden der alten Muster und wird seinem Meister zur Ehre und der Kirche zur Zierde gereichen“30. Damit hatte Gillmeister sich sowohl für die Restaurierung vorhandener, schadhafter Fenster als auch für die Anfertigung ganzer neuer Fenster empfohlen, sodass er in den Folgejahren Teile der Verglasung nach und nach erneuern konnte31, so zum Beispiel die Fenster der „Pribislav-Kapelle“ (Querhaus n x[?]– xIII), die in den 1850er-Jahren zur Erinnerung an den Klostergründer eingerichtet worden ist32, und die Fenster im Chor-Obergaden, dessen Achsenfenster H I ursprünglich das Restaurierungsdatum 1863 trug33. Bis 1875 waren zahlreiche Fenster wiederhergestellt beziehungsweise neu verglast34. Doch auch während der dritten und letzten Kampagne des 19. Jahrhunderts unter dem Architekten Gotthilf Ludwig Möckel wurden in den Jahren 1884–1900 Vergla-
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Abb. 129. Blick in den Chor, Zustand um 1865
Abb. 130. Carl Elis, Blick aus dem Chorumgang in die Scheitelkapelle des Doberaner Münsters, 1882
sungsmaßnahmen durchgeführt, wofür die Werkstatt Schulze & Stockinger, Leipzig, herangezogen wurde35. Damals wurde das von Gillmeister erst im Jahr 1852 restaurierte Achsenfenster der Chorscheitelkapelle mit geringen Ornament- und Figurenresten aus dem Hoch- und Spätmittelalter offenbar zur Gänze in das Nordquerhaus versetzt (n x, Abb. 128, 130), um an seiner Stelle einen Christuszyklus, flankiert von den zwölf Aposteln in den Stirnfenstern der nördlich und südlich folgenden Chorumgangskapellen, unterzubringen36. Das darüber hinaus einzige mittelalterliche Scheibenfragment, das sich im Chorumgang befunden hatte ‒ das Wappen der Fürsten von Mecklenburg (ehemals Chor I[?], zu unbekannter Zeit versetzt nach Chor s IV) ‒, war bereits 1856/57 auf Betreiben von Lisch „in das ostliche Fenster der fürstlichen Grab-Kapelle“ übertragen worden37. Unter Möckel wurde zudem der Neigungswinkel der seit dem 17. Jahrhundert an die Fenster des Obergadens anlaufenden Chorumgangs- und Seitenschiffdächer reduziert, sodass die unteren Zeilen der Fenster geöffnet werden konnten und
entsprechend ergänzt oder neu verglast werden mussten (Abb. 129)38. Berücksichtigt man die wenigen nachweisbaren Versetzungen von Scheiben, so gab es nach Abschluss der – hier maßgeblichen – Arbeiten Gillmeisters neun Fenster, in denen mittelalterliche Glasmalereien erhalten waren. Doch wie war Gillmeister mit dem überlieferten Bestand umgegangen? Auf unterschiedliche Weise. Zum einen gab es Fenster, in denen er den originalen Bestand belassen und lediglich fehlende Scheiben nach den vorhandenen Mustern ergänzt zu haben scheint. Dies dürfte bereits auf das ehemalige Achsenfenster der Scheitelkapelle, das heutige Ostfenster der „Pribislav-Kapelle“, dessen originaler Ornamentbestand aber gering ist, zutreffen (Abb. 128). Ebenso auf zwei Ornamentfenster im Obergaden, in denen sich bis in die 1970er-Jahre jeweils noch eine größere Anzahl mittelalterlicher Scheiben befunden hatte (Chor N V und S V, Abb. 132). Es besteht zwar hier wie dort die Möglichkeit, dass Gillmeister die Scheiben aus anderen Fenstern hierher versetzt hatte39, doch
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Abb. 131. Chorfenster N II, Zustand 1942
Abb. 132. Chorfenster N V, Zustand vor 1979/80
waren durch Lisch, wie erwähnt, „in der Höhe noch viele einzelne alte Tafeln“ nachgewiesen, womit unter anderem ebendiese Fenster gemeint gewesen sein könnten. Auch ökonomische Gründe sprechen für ein rekonstruktives Vorgehen. Zum anderen gab/gibt es im Südseitenschiff ein Fenster, das Gillmeister als „Depotfenster“ konzipiert hatte; es diente und dient als Standort für aussortierte Scheiben und wurde um 1979/80 neu zusammengestellt (Langhaus s xV, Abb. 126). Das Muster der Scheiben in der unteren Reihe – in roten, leicht gespitzten Ovalen stehende, gestreckte Vierpässe – war Gillmeister Vorbild für den Rapport in einem der Nordquerhausfenster (Querhaus n xII). Hat er in diesem, in den 1850er-Jahren neu geschaffenen Fenster das ursprünglich in ihm vorhandene Ornament überliefert? Man muss sich dies fragen, und ich möchte – bei aller gebotenen Vorsicht – die Hypothese wagen, dass Gillmeister sowohl Ornamentscheiben an ihrem ursprünglichen Ort belassen hatte (Chor N V und S V) als auch den ursprünglichen Standort von Ornamentfenstern überliefert hat (Querhaus n xII).
Doch wie stand es um die drei Fenster im Polygon des Hochchors? Dort waren bis um 1979/80 – bis zur konservatorisch notwendigen Versetzung aller mittelalterlichen Originale im Hochchor in die Langhausfenster n xIV und s xV40 – figürlich-ornamentale Kompositionen vorhanden, die Gillmeister in der überlieferten Zusammenstellung nicht vorgefunden haben kann (Abb. 129). In der Mitte war eine nahezu frontal auf den Betrachter ausgerichtete, ursprünglich zwei Zeilen hohe, wohl nur zum Teil originale Madonna in einem Tabernakel zu sehen, die von der Stifterin eines (Ornament-) Fensters und dem Heiligen Johannes Ev. flankiert wurde (Chor H I, Abb. 127, 129, 133). Da letztere Figuren in ihrem Maßstab um die Hälfte kleiner als die Madonna sind, können sie nicht zu ihr gehört haben41. Gillmeister hatte also aus Scheiben unterschiedlicher Herkunft ein Fenster komponiert, dem er durch Angleichung der Architekturbekrönungen und der Randstreifen sowie durch den gemeinsamen, neuen Ornamentgrund ein einheitliches Gepräge zu geben gewusst hatte. Die Flankenfenster enthielten dagegen
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nur in ihren Mittelbahnen je ein Figurenfragment, links, im Fenster Chor N II, den Oberkörper einer weiteren Muttergottesfigur (Abb. 126, 131), rechts, im Fenster Chor S II, den Oberkörper eines Heiligen mit Buch, vermutlich nochmals den Heiligen Johannes Ev. (Abb. 126, 129). Die äußeren Bahnen waren mit Ornamentscheiben gefüllt, bei denen wiederum die Frage zu stellen ist, ob Gillmeister sie hier vorgefunden haben kann. Auf den Kriegsbergungsaufnahmen von 1942 fällt auf, dass die Randstreifen von Figuren, Architekturbekrönungen und Ornamenten original zu sein scheinen und fensterweise auch jeweils identisch sind (Abb. 131). Gillmeister hatte also entweder dort zwei Scheibengruppen richtig zusammengeführt oder er hatte, was nun äußerst bemerkenswert wäre, in beiden Obergadenfenstern noch originale Reste angetroffen. In letzterem Fall wären diese beiden Fenster der Ausgangspunkt für jede Rekonstruktion! Es bedarf, wie deutlich wird, genauerer Nachforschungen, um das Vorgehen Gillmeisters verstehen und für die Rekonstruktion der mittelalterlichen Verglasung des Doberaner Münsters nutzbar machen zu können. Alles Schriftgut, alle Zeichnungen und Pläne, kurz, alle Unterlagen, welche die Arbeiten Gillmeisters betreffen, sind hierfür noch durchzusehen42. Ohne Kenntnis dieses Materials lassen sich nur allgemeine Überlegungen zur Rekonstruktion anstellen. Der Theologe Ludwig Dolberg ‒ ein, so Heinrich Oidtmann, „warmer Vertheidiger des [Zisterzienser-]Ordens“43 ‒ hatte für die Tatsache, dass die Glasfenster der Kirche nicht nur von Farben durchsetzt, sondern zum Teil auch mit Figuren versehen waren, eine ebenso einfache wie grundsätzlich falsche Erklärung parat. „Bunte Gläser“, nahm Dolberg mit Hinweis auf die strengen Ordensvorschriften an, denen zufolge die Glasfenster weiß und ohne Darstellungen von Kreuzen und sonstige Bilder sein sollten, bunte Gläser „füllten ehedem nicht wie jetzt die Fenster“44. Er vermutete: „Die geringen Reste alter gemalter Fenster in der Doberaner Kirche werden dahin erst später aus anderen abgebrochenen klösterlichen Gebäuden gebracht sein“45. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass Dolbergs abenteuerliche Idee keine Resonanz gefunden hat. Schon Oidtmann vermochte den Bestand trotz falscher Datierung überzeugend in einen größeren Zusammenhang einzuordnen46. Nicht-farblose, auch Heiligenfiguren umfassende Verglasungen gab es demnach bei den Zisterziensern als erkennbaren Trend seit der Mitte des
Abb. 133. Langhausfenster n xIV, 1/2b, Stifterin, um 1300
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13. Jahrhunderts, mithin seit der Zeit, als das Verbot farbiger figurenloser Fenster aus den Statuten des Ordens zu verschwinden begann47. Hatten zunächst die im Orden entwickelten Ornamentfenster befruchtend auf die Verglasungssysteme von Pfarr-, Stiftsund Klosterkirchen gewirkt, so kam es jetzt zu Rückwirkungen auf die farblich reduzierten, strengen Ornamentfenster in den Zisterzienserbauten selbst48. Ein möglicherweise frühes, allerdings nicht unumstrittenes Beispiel für die Aufnahme von Figuren in eine Ornamentverglasung war das Chorfenster der 1268 geweihten Kirche des Klosters Sancta Maria ad Portam bei Naumburg (Schulpforte); in ihm soll es – nach der Überlieferung des 17./18. Jahrhunderts – Darstellungen von Maria mit dem Kind und Christus am Kreuz gegeben haben49. Auch im 1284 geweihten neuen Chor der Klosterkirche zu Heilsbronn sind keine alten, sondern lediglich im 19. Jahrhundert übergangene Reste erhalten. Deren Vorzustand war immerhin 1838 von Rudolf Freiherr von Stillfried festgehalten worden. Nach dessen Bestandsaufnahme gab es auch in Heilsbronn eine Darstellung des gekreuzigten Christus, sicherlich auch eine Darstellung der Gottesmutter, ferner Bilder von Stiftern, die inschriftlich als der Nürnberger Burggraf Friedrich III. und seine Frauen Elisabeth und Helena ausgewiesen waren (Abb. 134)50. In dieser Tendenz zur Bildlichkeit ließe sich mit Daniel Parello durchaus annehmen, dass die „Reformorden der Barfüßer und Dominikaner, die dem Bilderschmuck ebenfalls skeptisch, aber nicht mit gleicher Strenge gegenüberstanden – immerhin waren ihnen im Achsenfenster einfache Darstellungen der Muttergottes und des Kruzifixus sowie der wichtigsten Ordensheiligen erlaubt –, eine nicht unbedeutende Vermittlerrolle“ gespielt hatten51. Was Doberan betrifft, hat es im näheren Umfeld der Zisterze sogar eine jener Bettelordenskirchen-Verglasungen gegeben, auf die Parello anspielt. Im Chor der in den 1280er-Jahren erbauten Franziskanerkirche in Wismar gab es, wiederum einer Überlieferung des 17. Jahrhunderts zufolge, drei Fenster, die Anastasia, die Frau des in Doberan begrabenen Fürsten Heinrich I., der Pilger, gestiftet hatte und in denen Darstellungen der Muttergottes, des Heiligen Franziskus und des Heiligen Antonius von Padua enthalten waren52. Was lässt sich aus diesen Beispielen für die Rekonstruktion der Verglasung gewinnen? Im Hinblick auf die Überlieferung möchte ich von drei sicherlich berechtigten, im Grunde selbstverständlichen Annahmen ausgehen (zum Folgenden vgl. Abb.125): – Das Figurenprogramm war kaum umfangreich und blieb auf – auch mehrfache – Darstellungen von Maria, der Pa-
Abb. 134. Heilsbronn, ehem. Zisterzienserklosterkirche, Chorfenster I (nach Stillfried 1838)
tronin des Ordens, und Christus sowie den Heiligen Johannes Bapt. und Johannes Ev., Benedikt und Bernhard und möglicherweise auch Fabian und Sebastian beschränkt53. Die Figuren standen fensterweise allein oder in Gruppen unter bekrönenden Architekturen, sie waren flankiert und/oder überfangen von Ornamentbahnen, die den Rest des jeweiligen Fensters füllten. – Die großen, zweizeiligen Heiligenfiguren hatten ihren Platz an zentralen, weithin sichtbaren Stellen des Baues: nachweislich in den Fenstern des Hochchors (H I, N II und S II), vielleicht in den Fenstern des Querhauses, in dem sowohl die Ostfenster (n x, s x) als auch die Stirnfenster nach Norden (n xII, n xIII) mögliche Standorte waren, vielleicht im großen Westfenster (w I). – Die kleinen, nur einzeiligen Heiligenfiguren waren für die Nahsicht bestimmt und hatten ihren Platz am ehesten in den Fenstern des Chorumgangs (I, n IV, s IV, n VII, s VII) und/oder in den Ostfenstern des Querhauses (n x, s x).
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Wie könnte die Rekonstruktion im Einzelnen aussehen? Ausgehend von den Scheiben mit figürlichen und architektonischen Darstellungen lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Von den sechs Figurenscheiben, die erhalten sind, sind drei Scheiben einer kleinfigurigen Gruppe zuzurechnen. Sie stellen die Heiligen Johannes Bapt. (Abb. 124, 127) und Johannes Ev. sowie die Stifterin eines (Ornament-)Fensters (Abb. 127, 133) dar54, die bisher nicht zweifelsfrei identifiziert werden konnte. Die Scheibe mit letzterer Figur hat zwar ihre originalen Randstreifen eingebüßt, sie hat aber ihre ar-
Abb. 135. Langhausfenster n xIV, 11b, Madonna, um 1300
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chitektonische Einfassung bewahrt, die sich, was auf einen engeren Zusammenhang hindeutet, identisch in der Scheibe mit Johannes Bapt. wiederfindet. Allein bei dieser Scheibe ist im Übrigen auch der Randstreifen original: aneinandergereihte Quadrate, die alternierend mit blauen/roten Streifen und stilisierten gelben/grünen Blättern gefüllt sind. Überfangen wurden jede Figur von einer lediglich ein Feld hohen Architekturbekrönung, einem Wimperg, hinter dem eine Brüstung mit gedrungenen Tabernakel- und Fialentürmchen aufragt (Abb. 127)55. Vielleicht flankiert, sicher überfangen wurden die figürlich-architektonischen Felder von einem geometrisch-vegetabilen Ornamentrapport, von dem, nach dem Randstreifen der Johannes-Bapt.-Scheibe zu schließen, noch drei Stücke in Schwerin erhalten sind56. In dem schon von Ernst Gillmeister angelegten Depotfenster im südlichen Seitenschiff befand sich über dem Heiligen Johannes Bapt. eine Architekturbekrönung, die, wie an den unterschiedlichen Randstreifen leicht zu erkennen war, nicht zu der Figur gehörte. Sie gehört auch nicht zu der Stifterin, über der sie seit der letzten Restaurierung im Depotfenster im nördlichen Seitenschiff montiert ist (Abb. 127, 133)57. Sie zeigt einen mit Passformen reich gefüllten Wimperg, der eine Blendfenstergalerie und Fialentürmchen vor rotem Grund überschneidet. Er bekrönte eine offenbar verlorene kleine Figur auf blauem Grund, über der eine sechsblättrige Rosette stand, und vermutlich war dies – in Analogie zu der großfigurigen Darstellung in der oberen Zone desselben Fensters (Abb. 127, 135) – die Gottesmutter Maria. Somit ist die isoliert stehende Scheibe, zu der ein weiteres Ornamentfeld in Schwerin gehören könnte58, als Hinweis auf ein weiteres Fenster mit kleineren, eine Zeile hohen Figuren zu werten. Außer den drei kleinfigurigen Scheiben sind drei weitere Scheiben mit figürlichen Resten erhalten, eine Madonna, von der nur etwa zwei Drittel Originalbestand sind (Abb. 127, 135), und die Oberkörper einer weiteren Madonna und eines Heiligen mit Buch, vermutlich Johannes Ev. (Abb. 126, 131)59. Warum nur die Oberkörper? Bis um 1979/80 befanden sich die drei Figurenfragmente im Obergaden des Chorpolygons. Eine um 1865/70 entstandene Fotografie des Innern gibt den Zustand der Verglasung noch vor der Veränderung der Chorumgangsbedachung unter Gotthilf Ludwig Möckel wieder (Abb. 129). Sie zeigt, dass die Fenster bis in das späte 19. Jahrhundert leicht verkürzt waren. Sie waren im 17. Jahrhundert verändert worden60, und diese Veränderung respektive ihre Verkürzung könnte den Verlust der Unterkörper der großen Standfiguren erklären, unter
der Voraussetzung, dass der Obergaden der ursprüngliche Standort dieser Figuren gewesen ist. Wie ich bereits angedeutet habe, könnte dies auf jene Halbfiguren zutreffen, die sich bis um 1979/80 in den Fenstern zuseiten des Achsenfensters im Obergaden befunden hatten, vielleicht an ihrem ursprünglichen Standort, mit Sicherheit zusammen mit den zu ihnen gehörenden einzeiligen Architekturbekrönungen und Ornamenten (Abb. 129, 131). Im Fenster mit der Muttergottes waren dies so viele Ornamentscheiben, dass es im Grunde nur so ausgesehen haben kann: in der Mittelbahn unten die zwei Zeilen große Standfigur, über ihr in der nächsten Zeile die Architekturbekrönung, darüber und in den Seitenbahnen der Ornamentrapport (Abb. 136). Das Fenster mit der männlichen Heiligenfigur sah gegebenenfalls genau so aus. Vergleichbar komponierte, im späten 13. Jahrhundert und im frühen 14. Jahrhundert entstandene Fenster dieses ‒ so Hartmut Scholz ‒ nicht eben gängigen, die Mittelachse betonenden Verglasungstyps sind noch im Chor der Zisterzienserkirche Heiligenkreuz (Niederösterreich) und in der ehemaligen Benediktinerabteikirche Saint-Pierre in Chartres erhalten61. Für das um 1300 verglaste Westfenster der ehemaligen Dominikanerkirche in Freiburg im Breisgau wurde von Rüdiger Becksmann eine Standfigurengruppe in Tabernakeln zwischen Ornamentbahnen rekonstruiert62. Die Doberaner Fenster sind folglich als eines der seltenen Beispiele für diesen Typ einer Ornamentverglasung mit zentralen Standfiguren anzusehen. Das Achsenfenster im Hochchor trug seit dem 19. Jahrhundert Merkmale eines nicht-ursprünglichen Zustands63. Es enthielt in seiner Mittelbahn eine vielleicht schon von Ernst Gillmeister übergangene, von der Werkstatt Schulze & Stockinger offenbar nochmals veränderte Figur der Maria, deren Kind frontal auf den Betrachter ausgerichtet ist (Abb. 127, 129, 135). Unter diesem Gesichtspunkt wäre es zwar naheliegend, dass die Madonna hier ihren Platz gehabt hatte; wahrscheinlicher scheint indes zu sein, dass die beiden Flankenfenster sich bis um 1979/80 an ihrem ursprünglichen Standort befunden hatten und die Figur der Madonna erst von Gillmeister in den Obergaden versetzt wurde, wo ursprünglich keine zwei Madonnendarstellungen nebeneinandergestanden haben können. Im Zentrum des Chor-Obergadens dürfte sich vielmehr eine verlorene Darstellung Christi am Kreuz befunden haben, wie es sie vielleicht schon in Schulpforte gegeben hatte und wie sie für Heilsbronn gesichert ist (Abb. 134). So wäre im Kirchenraum eine inhaltliche Achse von der Madonna im Schrein des Hochaltarretabels zum Gekreuzigten im Achsenfenster des Chor-Obergadens
Abb. 136. Rekonstruktion des Chorfensters N II,1–4a–c
verlaufen, wären Geburt und Opfertod Christi als die zentralen Bilder am und über dem Altar zu sehen gewesen64. Für die Madonna aus dem Obergaden, die von einer reizvollen, mit Vögeln besetzten zweizeiligen Architekturbekrönung überfangen wurde – die Komposition wurde am neuen Standort übernommen (Abb. 127, 129)65 –, bietet sich alternativ eine Herkunft aus einem Querhausfenster (so dem Fenster n xIII über dem ehemaligen Hauptportal) oder aus dem großen Westfenster (w I) an. Dort stand sie entweder nicht für sich, oder es gab ein weiteres Fenster, das eine ähnliche Komposition zeigte: Unter den nach Schwerin abgegebenen Scheiben befindet sich ein Architekturfeld, das den Aufbau des oberen Teils der Architekturbekrönung mit Vögeln wiederholt und auf eine entsprechende weitere, verlorene Standfigur hinweist66.
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Abb. 137. Langhausfenster s xV, 3b, Ornamentscheibe, um 1300
Anders als Christa Richter noch 1979 geglaubt hat, gibt es mehrere Indizien, wie die erhaltenen Reste der Verglasung in der Kirche der Doberaner Zisterzienser verteilt gewesen sein könnten. Die Scheiben der kleinfigurigen Gruppe waren vermutlich nahsichtig in kleinere öffnungen der unteren Fensterzone eingesetzt. Entsprechend ist für die Scheiben der großfigurigen Gruppe eine Herkunft aus dem ChorObergaden und aus den größeren Fensteröffnungen im Nordquerhaus und im Westteil anzunehmen. Für die Ostfenster n x und s x des Querhauses lässt sich nicht zweifelsfrei entscheiden, ob sie Scheiben der einen oder der anderen Gruppe enthielten. Maria als Patronin des Zisterzienserordens und als Hauptpatronin der Kirche war in mehreren Fenstern präsent, und zu ihnen ist vermutlich auch das Achsenfenster der Chorscheitelkapelle zu rechnen, das eine Stiftung der Fürsten von Mecklenburg gewesen sein dürfte. Die Stifterinnenscheibe stand in Verbund mit den kleinfigurigen Scheiben (Abb. 133). Die heraldisch nach links gewandte, fürstlich gekleidete Figur, die ein Fenster präsentiert, wurde von Christa Richter mit der 1283 in Rostock gestorbenen, nach alter Überlieferung in Doberan begrabenen Kö-
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nigin Margarete von Dänemark identifiziert67. Dies ist insofern nicht unproblematisch, als der Dargestellten die Krone als Insigne ihres Königtums fehlt – im Unterschied zu der Grabfigur in der Klosterkirche68. Ist in ihr folglich nicht eher eine Angehörige des mit Doberan eng verbundenen Hauses Mecklenburg zu erkennen, möglicherweise, wie Wolfgang Erdmann vermutet hat, die bereits erwähnte, in Wismar als Fensterstifterin fassbare Fürstin Anastasia, die Frau Heinrichs I., des Pilgers, und Mutter Heinrichs II., des Löwen69? Letzterer hatte am 18. Januar 1302 – etwa zwei Wochen nach dem Tod seines Vaters, der am 2. Januar 1302 gestorben war – in die zum Begräbnisort seiner Vorfahren bestimmte Kapelle „lobenswerte Fenster“ (fenestras laudabiles) gestiftet70. Diese im Nordquerhaus gelegene Kapelle der Fürsten von Mecklenburg kommt daher wohl nicht als Standort für die Scheibe infrage, wie auch immer die Stifterin zu identifizieren ist. Die Scheibe dürfte aus einer der Kapellen des Chorumgangs stammen, wo sie sich in einer linken Fensterbahn zuseiten eines der in Doberan verehrten Heiligen befunden haben muss. Ihre Position im Fenster auf der heraldisch höherrangigen Seite ließe sich damit erklären, dass die Stifterin entweder allein für die Finanzierung verantwortlich war oder dass ihr Ehemann, der sich dann rechts befunden haben müsste, zum Zeitpunkt der Stiftung schon verstorben war71. Ebendiese Annahme würde zu der Fürstin Anastasia als Stifterin trefflich passen, allerdings auch eine Umdatierung der Scheibe um/nach 1302 erfordern. Indes, was mittlerweile obsolet geworden sein dürfte, ist die von Christa Richter auf stilistischer Basis versuchte differenzierte, eine Spanne von etwa dreißig Jahren umfassende Datierung des Bestandes. Ausgehend von der Stifterinnenscheibe schied Richter Figuren-, Architektur- und Ornamentscheiben im Wesentlichen in zwei Gruppen: eine aus der Stifterinnenscheibe und den Ornamentscheiben bestehende Gruppe, die sie sehr früh, nämlich um 1270–1280 datierte72, sowie eine aus den Heiligen- und Architekturscheiben bestehende Gruppe, für die sie einen Zusammenhang mit der Fensterstiftung Fürst Heinrichs II. und entsprechend eine Entstehung um 1302 annahm73. Dass aber diese Gruppen sich mischen könnten, indem einzelne Ornamente zu einzelnen Figuren und Architekturbekrönungen zugeordnet werden können, stellte Richter – ein gravierender methodischer Mangel ihrer Arbeiten – nicht in Rechnung. Nachdem außerdem aufgrund der Bauforschungen von Tilo Schöfbeck und Karl-Uwe Heußner bekannt ist, dass die Kirche nicht in einem langwierigen Bauprozess errichtet wurde (Baubeginn, nach Brand 1291, um 1294–1299 unter Abt
Johann von Dalen, Schlussweihe 1368)74, sondern ab circa 1275/80 so zügig entstand, dass der Dachstuhl des gesamten Baus um 1296/97 aufgeschlagen werden konnte75, woran sich Einwölbung und Verglasung unmittelbar angeschlossen hatten, müssen alle Glasmalereien in die Jahre um 1300 datiert werden. So wurde es im Übrigen auch von den wenigen Autorinnen und Autoren gesehen, die sich kritisch mit Richters Datierungsvorschlag auseinandergesetzt hatten76. Am Beispiel der Ornamentscheiben sei dies zum Schluss kurz verdeutlicht. Richter hatte den Bestand an erhaltenen Ornamenten – also die erste, „ältere“ Scheibengruppe – nochmals in drei Untergruppen unterteilt77: eine erste Gruppe, deren „Ornamenttypen noch deutlich an die vorangegangenen Gliederungssysteme der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts“ anknüpften (Langhaus n xIV, 5–7a, Abb. 127; Langhaus s xV, 3b und 4b, Abb. 126, 137); eine zweite Gruppe mit „Ordnungsprinzipien […], die bis in das frühe 14. Jahrhundert gültig blieben“ (Langhaus n xIV, 3–8b, Abb. 127; Langhaus s xV, 1a–c, 4/5a/c, Abb. 126); schließlich eine dritte Gruppe mit Übergangsformen (Langhaus n xIV, 1–4a, Abb. 127; Langhaus s xV, 2b, Abb. 126)78. Deutlich herrscht in zwei Scheiben der ersten Gruppe das grafische Element des einheitlichen Ranken- und Blattgrundes vor, auf den farbige geometrische Formen gelegt sind (s xV, 3b und 4b, Abb. 126, 137)79. Hier dürften ordenstypische Muster der Zisterzienser zur Verwendung gekommen sein; in Haina findet sich, wie schon Richter bemerkt hat, um 1260/70 ein nahezu identisch gestaltetes Ornamentmotiv80. Dementgegen sind die Ornamente der zweiten und dritten Gruppe im Großen und Ganzen so komponiert, dass es teils scheibenfüllende, teils scheibenübergreifende, stets plakative Großformen gibt, in denen blanke Farbflächen mitwirken und das Grisaille-Blattwerk nur mehr eine füllende Funktion besitzt (vor allem n xIV, 1–4a, 1–4c, Abb. 127 und s xV, 1a–c, 2b, Abb. 126). Ohne dass unmittelbar verwandte Scheiben benannt werden können, fügen diese Ornamente sich doch gut in die allgemeine Entwicklung der Zeit um
1300 hin zu einer stärkeren Architektonisierung beziehungsweise Tektonisierung der Muster ein81. Wichtig ist festzuhalten, dass beide Musterarten aber offensichtlich zur gleichen Zeit wie die Figuren- und Architekturscheiben entstanden sind, wie die gelegentlich zwischen ihnen zu fassenden Zusammenhänge zeigen. Dabei vermag ich nicht zu entscheiden, ob die Verglasung in einer großen, überaus leistungsfähigen Werkstatt entstanden ist oder ob sie ‒ angesichts der beträchtlichen Anzahl an Fenstern, die binnen kurzer Zeit zu verglasen waren, ist dies eine bedenkenswerte Möglichkeit ‒ von mehreren neben- und miteinander arbeitenden Werkstätten geschaffen worden war82. Offen bleibt schließlich auch die Frage nach deren Lokalisierung. Der nahezu vollständige Verlust hochgotischer Verglasungen an der deutschen Ostseeküste verbietet im Grunde alle Spekulationen, doch geht man, angesichts der vielen großen Bauaufgaben in der Region, sicherlich nicht fehl, sie im engeren Umfeld des Klosters zu verorten.
ABSTRACT The gothic glass paintings of Doberan minster dating from around 1300 have been poorly studied. Apart from the publications by Christa Richter (1989, 1993) and Johannes Voss (2009), there are hardly any noteworthy examinations on the inventory of several dozen panels and fragments. Their history in the 19th century, which is outlined here for the first time, was unclear. It provides clues for the reconstruction of the glazing; some of the preserved figured, architectural and ornamental panels can be brought together again. At the same time, it can be disproved that the stock – as Richter assumed – can be stylistically divided into an older and a younger panel group. The entire inventory is to be dated around 1300, which is in line with recent research into the construction and furnishings of this former Cistercian church.
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Zur Verglasung des 19. Jhs. (mit Erwähnung der älteren Scheiben) s. KUHL 2001, S. 27–32, 41–43. Der mittelalterliche Bestand ist noch nicht systematisch erfasst worden; einstweilen: RICHTER 1989; RICHTER 1993; VOSS 2009. Zu den nach Schwerin abgewanderten Scheiben s. HEGNER 2015, S. 294f., Nr. 3. BAIER 1980, S. 103f.; RICHTER 1991, S. 140f. und KUHL 2001, S. 28–30. Grundlegend jetzt THIELE 2016, S. 262–273. Die Arbeit von Stefan Thiele ist nach Abschluss des vorliegenden Beitrags erschienen. Seine Ausführungen zu den Glasmalereien beruhen auf einer wesentlich größeren Quellenbasis, decken sich im Kern aber mit meinen eigenen Ergebnissen. DRACHENBERG/MAERCKER/RICHTER 1979, S. 197. EDDELIN 1664; s. Anhang S. 472, Nr. 36 in diesem Band. RöPER 1808, S. 249, Nr. 13. LISCH 1836; LISCH 1837. LISCH 1854b, S. 352f. LISCH 1848, S. 423. DOLBERG 1893, S. 14, 95f.; SCHLIE 1899, S. 679f. ELIS 1891, S. 114–116 zu Fig. 69–72. WENTZEL 1948, S. 71. OIDTMANN 1898, S. 162, 170, bes. S. 306; WENTZEL 1951; WENTZEL 1954, S. 43. DRACHENBERG/MAERCKER/RICHTER 1979, S. 197; Kat. Erfurt 1989, S. 18, 22, Nr. 14–17; RICHTER 1989; RICHTER 1991; RICHTER 1993; GLASMALEREIEN AUS ACHT JAHRHUNDERTEN 1997, S. 42. Zusammenfassend zur Restaurierung der 1970er Jahre s. THIELE 2016, S. 272f. BAIER/ENDE/OLTMANNS 1990, S. 254f. (Gerd Baier); ERDMANN 1995, S. 27, 94; DEHIO 2000, S. 28; KUHL 2001, S. 31f., 32, 41; VOSS 2008, S. 33, 116 und S. 136f., 140, Nr. 20f., 29. VOSS 2009. OBERHAIDACHER-HERZIG 1993, S. 142f.; LAABS 2000, S. 113f.; VON FIRCKS 2012, S. 141. Hierzu jetzt THIELE 2016, S. 262–273. ERDMANN 1995, S. 27; LAABS 2000, S. 114; VOSS 2009, S. 29; VON FIRCKS 2012, S. 141. Siehe bereits RICHTER 1989, bes. S. 55, 57f.; ausführlich RICHTER 1993. GLASMALEREIEN AUS ACHT JAHRHUNDERTEN 1997, S. 42. Vgl. hierzu vor allem OBERHAIDACHER-HERZIG 1993, S. 142f.; ERDMANN 1995, S. 27; LAABS 2000, S. 113f.; VOSS 2009, S. 28f. und VON FIRCKS 2012, S. 141. Die Nummerierung der Fenster und Fensterfelder, wie sie im Folgenden gehandhabt wird, folgt den eingeführten Regeln des internationalen Corpus Vitrearum (www.corpusvitrearum.org, Richtlinien 2016, § Ix). Im Grundriss sind alle erwähnten Fenster entsprechend ausgewiesen. Vgl. hierzu: BAIER 1980; HERMANNS 1996, Katalog S. 383–388 und KUHL 2001, S. 28–30. Neuerdings THIELE 2016, S. 262–273. QUANDT 1834, S. 13. Zu Leben und Werk Scheinerts s. MAHN 1991, S. 149–157 und VAASSEN 1997, bes. S. 138–141. Zu Leben und Werk Gillmeisters s. erneut MAHN 1991, S. 172– 193 und VAASSEN 1997, bes. S. 133f.; ergänzend s. KUHL 2001, S. 15f.
166 | Uwe Gast
25 Schwerin, Landeshauptarchiv, Best. 10.9–L/6, Nr. 195, Entwurf zu einem Brief von G. Chr. Friedrich Lisch an Großherzog Friedrich Franz II. von Mecklenburg, 03.09.1851. 26 Ebd. S. auch THIELE 2016, S. 265, 266. 27 Schwerin, Landeshauptarchiv, Best. 10.9–L/6, Nr. 195, undatierte Notiz von G. Chr. Friedrich Lisch, nach 26.08.1851. 28 Ebd. 29 Zu diesem Fenster: KUHL 2001, S. 28, 32, 41; VOSS 2008, S. 92f. und S. 141f., Nr. 35; VOSS 2009, S. 36–38. 30 LÜBKE 1852, S. 306. 31 Vgl. die Auflistung bei KUHL 2001, S. 28f. 32 LISCH 1854b; vgl. BAIER 1980, S. 104 und VOSS 2008, S. 125. 33 RICHTER 1993, S. 178, Anm. 12. 34 BAIER 1980, S. 105; VOSS 2008, S. 93. Vgl. THIELE 2016, S. 264– 268. 35 KUHL 2001, S. 16. Nochmals THIELE 2016, S. 144–148. 36 Zu diesen Fenstern s. KUHL 2001, S. 29–31 sowie VOSS 2008, S. 99 und S. 143, Nr. 39. Ob das Querhausfenster n x damals noch nicht farbig verglast war, geht aus der Literatur ebenso wenig hervor, wie bisher erkannt worden ist, dass es vollständig die Scheiben aus dem Gillmeister’schen Achsenfenster Chor I enthält. 37 Schwerin, Landeshauptarchiv, Best. 10.9–L/6, Nr. 195, undatierte Notiz von G. Chr. Friedrich Lisch zur Versetzung des Wappenschildes um 1856/57. Siehe außerdem VOSS 2008, S. 125 und 140, Nr. 29 sowie VOSS 2009, S. 23 (mit falscher Angabe zur Versetzung des Wappenschildes). 38 Vgl. hierzu HERMANNS 1996, S. 334f., Katalog S. 384f. Die Auskunft, dass die offenbar teilweise vermauerten unteren Fensterzeilen nicht ursprünglich waren, gab mir freundlicherweise Dr. Stefan Thiele, Leipzig. Jetzt THIELE 2016, S. 144–148. 39 Vgl. hierzu BAIER 1980, dem zufolge in den Jahren 1854 und 1858 „die damals auch zahlenmäßig recht beachtlichen Reste mittelalterlicher figürlicher Glasmalerei in wenigen Fenstern der Schiffs- und Chor-Obergaden zusammengefaßt“ wurden (S. 104). Laut KUHL 2001 soll es zu einer solchen Versetzung bereits „um oder kurz nach 1840“ gekommen sein (S. 28). Mangels Quellenangaben sind beide Angaben nicht verifizierbar und grundsätzlich infrage zu stellen. 40 Zusammenfassend zu diesen Maßnahmen s. RICHTER 1991. Die Figuren im Achsenfenster H I wurden durch Kopien ersetzt. 41 Vgl. dagegen LAABS 2000, S. 114 und VOSS 2009, S. 28f. Insbesondere Johannes Voss rechnete mit der Ursprünglichkeit der Komposition. 42 Für den vorliegenden Beitrag konnte ich nur den Nachlass von G. Chr. Friedrich Lisch im Landeshauptarchiv Schwerin flüchtig einsehen; s. Anm. 24, 26 und 36. Vgl. jetzt THIELE 2016, S. 264–268. 43 OIDTMANN 1898, S. 162, Anm. 1. 44 DOLBERG 1893, S. 14. Zu den Ordensvorschriften bezüglich der glasmalerischen Ausstattung s. UNTERMANN 2001b, S. 114. 45 DOLBERG 1893, S. 95. 46 OIDTMANN 1898, S. 162, 170, 306, dort noch mit Datierung Ende 14. Jh. in Anlehnung an ELIS 1891, S. 116; vgl. auch OIDTMANN 1912, S. 144–146. 47 Vgl. hierzu LAABS 2000, S. 174f.
48 OIDTMANN 1912, S. 148; WENTZEL 1951; SCHOLZ 1998, S. 52f. 49 BERGNER 1905, S. 84; vgl. zuletzt PARELLO 2004, der – entgegen HAyWARD 1973 – die Überlieferung von Justin Bertuch für glaubhaft hält (S. 166f. mit Anm. 10). Zur Restverglasung der Kirche s. LEHMANN 1986; KAT. KöLN 1998, S. 158–161, Nr. 18.1–2 (Hartmut Scholz), und neuerdings SIEBERT 2013. 50 STILLFRIED 1838, Glasgemälde im Chor der Münsterkirche zu Heilsbronn. Zum heutigen Bestand s. SCHOLZ 2002, Bd. 1, S. 188–198. 51 PARELLO 2004, S. 166. 52 CRAIN 1841, S. 111; ULPTS 1995, S. 61. 53 Die Kirche wurde 1368 zu Ehren der genannten Heiligen geweiht; vgl. WICHERT 2000, S. 151. Größtenteils sind/waren sie im Schrein und auf den Innen- und Außenseiten der Flügel des Hochaltarretabels von ca. 1300 dargestellt. Die verlorenen Malereien der Flügelaußenseiten hat LISCH 1849, S. 358 überliefert, s. auch den Beitrag von Gerhard Weilandt in diesem Band. 54 Langhaus n xIV, 1b (Stifterin mit Ornamentfenster), 8a (Hl. Johannes Bapt.), 8c (Hl. Johannes Ev.). Die Randstreifen von 1b sind ergänzt; bei 8c ist außer den Randstreifen auch die äußere Einfassung der rahmenden Architektur ganz erneuert. 55 Langhaus n xIV, 9a. Die Randstreifen der Scheibe sind ergänzt. 56 Schwerin, Staatliches Museum, Inv.-Nr. KG 6057, KG 6059 und KG 6060; HEGNER 2015, S. 294, Nr. 3a, 3c, 3d. Abgebildet ist die Scheibe Inv.-Nr. 6060 bei RICHTER 1993, S. 300, Fig. 21. Eine weitere Scheibe zeigt das gleiche Muster, besitzt aber einen anderen Randstreifen; s. Anm. 57. 57 Langhaus n xIV, 2b. 58 Schwerin, Staatliches Museum, Inv.-Nr. KG 6058; HEGNER 2015, S. 294, Nr. 3b. 59 Langhaus n xIV, 11b (Madonna); Langhaus süd xV, 2a (Fragment einer Madonna) und 2c (Fragment eines Hl. Johannes Ev.). 60 Siehe hierzu oben Anm. 38. 61 SCHOLZ 1998, S. 59. 62 KAT. KöLN 1998, S. 224–227, Nr. 43.1–3; BECKSMANN 2010, Bd. 2, S. 551–562, bes. S. 552f., 556 mit Fig. 673. 63 Siehe hierzu oben S. 158. 64 Schon WOLF 2002 hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass „das Retabel [sich] vermutlich auch auf das zentrale Obergadenfenster des Chors bezog“ (S. 34). Er ging jedoch davon aus, dass das Bildprogramm dieses Fensters intakt überliefert ist. 65 Langhaus n xIV, 11–13b. 66 Schwerin, Staatliches Museum, Inv.-Nr. KG 6056; HEGNER 2015, S. 295, Nr. 3n. Ein hierzu gehöriges Ornamentfeld, auf das auch
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Hegner hingewiesen hat, ist im Langhausfenster s xV, 3b, erhalten; s. RICHTER 1989, Abb. 1, 3. RICHTER 1989, S. 58, 60f.; vgl. HILL 1995, S. 25f. VOSS 2008, Abb. S. 17. Auf das Fehlen der Krone hat bereits ERDMANN 1995, S. 27, hingewiesen. Siehe auch Anm. 19. ERDMANN 1995, S. 27; zustimmend MINNEKER 2007, S. 74, und VOSS 2009, S. 28f. MUB 5, Nr. 2779. Das wohl prominenteste Beispiel, an dem das Links und Rechts von Frau und Mann im Bild entsprechend interpretiert wurde, ist das sog. Otto-Mathilden-Kreuz in Essen, Domschatzkammer, um 985/90; vgl. BEUCKERS 2002, S. 51ff. Es gibt aber für Stifterdarstellungen, in denen die Frau gegenüber dem Mann die höherrangige Position einnimmt, keine Regel, die es erlauben würde, daraus auf das vorzeitige Ableben des Mannes zu schließen. RICHTER 1989; RICHTER 1993, S. 165–170. RICHTER 1993, S. 170–174 und S. 174–176. Zusammenfassend DEHIO 2000, S. 24f. SCHöFBECK/HEUSSNER 2007, S. 172; vgl. auch SCHöFBECK 2014, S. 39f., 90–92, Katalog S. 332f. Der Bauverlauf wurde von KAySER/REHM 2013 rekonstruiert. Aufseiten der Glasmalereiforschung vor allem OBERHAIDACHERHERZIG 1993, S. 142f. RICHTER 1989, S. 55, 57f. (die folgenden Zitate S. 55); vgl. auch RICHTER 1993, S. 167–170. Einteilung nach RICHTER 1989; davon leicht abweichend RICHTER 1993. Zugehörig zu s xV, 4b eine Kopfscheibe in Schwerin, Staatliches Museum, Inv.-Nr. 6030; KAT. ERFURT 1989, S. 22, Nr. 16 (mit Abb.); HEGNER 2015, S. 294, Nr. 3e. Haina, ehem. Zisterzienser-Klosterkirche, Langhaus S xIV, 7/8a; RICHTER 1989, S. 57 und PARELLO 2008, S. 190f., Abb. 105. Vgl. hierzu SCHOLZ 1998, S. 61f. Es sollte jedoch wenigstens beiläufig erwähnt werden, dass der untere Teil der westlichen Wange am südlichen Teil des Doberaner Mönchsgestühls, das um 1295 datiert wird, als Füllung Weinlaub und -früchte enthält, auf denen – wie in einer Ornamentscheibe – ein feldgroßer gelängter Vierpass aufliegt; vgl. VOSS 2008, Abb. S. 31 und S. 132, Nr. 11. Bei Großbauten, die zügig verglast werden sollten, war ein solches Vorgehen gang und gäbe. Als frühes Beispiel sei hier die Elisabethkirche in Marburg genannt, deren Ostteile in den Jahren 1235– 1243 erbaut und unmittelbar darauf in einer ersten Kampagne um 1245/50 von verschiedenen Werkstätten verglast wurden; s. PARELLO 2008, S. 334, 336–339, 346.
Die Glasmalereien des Doberaner Münsters | 167
MEMORIA UND TRADITION
DIE MITTELALTERLICHE AUSSTATTUNG DES DOBERANER MÜNSTERS UND IHRE RESTAURIERUNG IM SPIEGEL DER ARCHIVALISCHEN ÜBERLIEFERUNG StefAN tHIeLe
Die Marienkirche des ehemaligen Zisterzienserklosters Doberan steht seit rund zwei Jahrhunderten im Fokus intensiver wissenschaftlicher Beschäftigung1. Von Anfang an galt die Bewunderung nicht allein dem Bauwerk, sondern stets auch der in ihrer Geschlossenheit und Originalität singulären Ausstattung des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Der überwältigende Gesamteindruck des Ensembles kann dabei leicht den Eindruck erwecken, als sei dieses unbeschadet und frei von Eingriffen und Veränderungen über die Jahrhunderte gekommen (Abb. 138–140). Wie für die meisten Werke mittelalterlicher Bau- und Bildkunst ist jedoch auch hinsichtlich der Doberaner Klosterkirche festzustellen, dass weder Bauwerk noch Inventar ohne die Erinnerungskultur des Historismus überlebensfähig gewesen wären. Der Fortbestand dieses einzigartigen Ensembles war – bedingt durch mehrere, voneinander abhängige Faktoren – spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts in höchstem Maße gefährdet. Die Sicherung und würdige Präsentation ist im Wesentlichen einer Restaurierungskampagne zu verdanken, die in den späten 1820er Jahren einsetzte, um sich dann bis zum Ende des Jahrhunderts zum umfangreichsten denkmalpflegerischen Einzelunternehmen des Großherzogtums MecklenburgSchwerin zu entwickeln. Das Resultat konnte gar nicht anders als vom Ideal des in vollendeter Perfektion glänzenden Baudenkmals intendiert sein. Gerade dieser Ansatz galt jedoch den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Denkmalpflege am Doberaner Münster Verantwortlichen als kritikwürdig. So kam es zwischen 1964 und 1984 zu einer weiteren, nicht minder eingreifenden Restaurierungskampagne, die mittels Rücknahme der historistischen Ele-
mente eine Korrektur hin zum vermeintlich bauzeitlichen Erscheinungsbild anstrebte. Der bei allen Restaurierungsphasen an den Tag gelegten handwerklichen wie auch künstlerischen Sorgfalt ist es indes zu verdanken, dass vor allem hinsichtlich der Ausstattungsstücke Restaurierungsgrad und -umfang gar nicht oder kaum erkennbar sind. Es bedarf daher neben der Analyse des Denkmalbestandes des zusätzlichen Aktenstudiums, um mittelalterliche von neuzeitlicher Substanz zu scheiden. Die folgenden Ausführungen versuchen, die Instandsetzungs- und Restaurierungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts zu umreißen. Auf eine Analyse der seit 1964 geleisteten denkmalpflegerischen Arbeiten muss an dieser Stelle verzichtet werden.
Abb. 139. Inneres nach Osten, Lithographie, um 1855
Linke Seite: Abb. 138. Inneres nach Osten, Zustand zwischen 1867 und 1886
Abb. 140. Mittelschiff nach Nordosten, Zustand um 1910
ZUR QUELLENLAGE Die Restaurierungsgeschichte vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ist quellenmäßig gut belegt. Die wichtigsten Standorte sind das Landeskirchliche Archiv, das Mecklenburgische Landeshauptarchiv sowie das Aktenarchiv des Landesamtes für Archäologie, Kultur und Denkmalpflege, sämtlich in
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Schwerin. Den umfangreichsten Bestand verwahrt das Landeskirchliche Archiv. Es enthält die Aktenüberlieferung aus den oberen und mittleren kirchlichen Behörden (Oberkirchenrat2 und Landessuperintendentur3) sowie aus der staatlichen Verwaltung (Großherzogliches Finanzministerium4). Besonders aufschlussreich sind die darin enthaltenen Unterlagen der Zentralen Bauverwaltung, die grundlegendes
Material über die Zeit zwischen 1840 und 1870 enthält. Wichtige Einzelüberlieferungen zum Umgang mit weiteren Ausstattungsstücken umfasst darüber hinaus der Nachlass des für das kirchliche Bauwesen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts höchst bedeutenden Schweriner Kirchenbaurats Theodor Krüger5. Hinsichtlich des Mecklenburgischen Landeshauptarchivs ragt insbesondere die in den Beständen Acta ecclesiasticarum et scolarum specialia6, Geheimes Staatsministerium und Regierung7, Domanialamt Doberan8 sowie Großherzogliches Kabinett9 enthaltene Überlieferung über die Bau- und Restaurierungstätigkeit zwischen 1570 und 1840 heraus. Ihr verdanken wir grundlegende Einsichten in baugeschichtliche Zusammenhänge, während die Ausstattung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Anders verhält es sich dagegen mit dem ebenfalls im Landeshauptarchiv verwahrten Nachlass von Georg Christian Friedrich Lisch, der als erster staatlich bestellter Konservator ab 1852 die Grundlagen der institutionalisierten Denkmalpflege in Mecklenburg entwickelte10. Lisch befragte die von ihm betreuten Objekte auf geschichtliche und kunsthistorische Zusammenhänge und leitete daraus Paradigmen für notwendige Instandsetzungs- und Restaurierungsmaßnahmen ab. Den Aufzeichnungen kommt insofern eine hervorragende quellenkundliche Bedeutung zu, als sie meist direkt vor Ort angefertigt wurden. Damit vermitteln sie ein authentisches Bild über die jeweilige Situation noch vor den – meist eingreifenden – Maßnahmen. Auch für Doberan lässt sich aus diesem Material z. B. manche ältere, heute nicht mehr nachweisbare Ausstattungskonstellation erschließen. Den chronologischen Anschluss an die Überlieferung des Landeshauptarchivs bilden die Unterlagen des Landesamts für Archäologie, Kultur und Denkmalpflege11. Darin ist die für das Erscheinungsbild der Kirche entscheidende Restaurierungsphase zwischen 1880 und 1900 enthalten. Als wichtigster Bestandsbildner ist die „Kommission zur Erhaltung der Denkmäler und Altertümer des Landes zu Schwerin“ zu nennen. Die Akten spiegeln in anschaulicher Weise die vielfältigen Auseinandersetzungen der Kommission mit dem Architekten Gotthilf Ludwig Möckel wider. Methodische und praktische Fragestellungen stehen dabei im Vordergrund. Auffällig ist die nachlassende Dichte der Überlieferung gegen Ende der 1890er Jahre. Gleiches gilt übrigens auch für die den gleichen Zeitraum umfassende Parallelüberlieferung im Landeskirchlichen Archiv. Dies legt den Verdacht nahe, dass Verluste an Archivgut in schwer abschätzbarem Ausmaß eingetreten sind. Die Zerstreuung des Möckelschen Nachlasses nach 1915 sowie kriegs- und nach-
kriegsbedingte Verluste im Rostocker Hochbauamt sind dafür als Gründe anzuführen. Einen wesentlichen Bestandteil der archivalischen Überlieferung bilden Zeichnungen und Planunterlagen. Schwerpunkte dabei bilden das Landeskirchliche Archiv sowie das Landeshauptarchiv. Dort befindet sich ein umfangreiches Konvolut von Zeichnungen aus der Restaurierungsphase der 1840er Jahre – prachtvolle, großformatige Blätter u. a. zum Fürstengestühl, Kanzel und Orgelprospekt sowie zu den verschiedenen Restaurierungsvorschlägen des Levitengestühls. Ein Teil der Zeichnungen besticht durch beachtliche künstlerische Qualität sowie hohen ästhetischen Reiz. Weniger durch diesen Vorzug, vielmehr durch die darin enthaltenen Informationen zeichnen sich die Handskizzen Lischs aus, die im Zusammenhang mit den bereits besprochenen handschriftlichen Aufzeichnungen entstanden und diese optisch nachvollziehbar werden lassen. Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang der schwer kontrollierbare Bestand an fotografischen Aufnahmen. Insbesondere ist auf verschiedene Bilderserien der Doberaner Hoffotografen Adolf und Benjamin Beckmann hinzuweisen, die zwischen 1875 und 1920 entstanden. Einen Teil verwahrt die Deutsche Fotothek in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden; viele weitere Abzüge finden sich in den bereits genannten Archiven sowie verstreut in Privatbesitz.
ERHALTUNG UND RESTAURIERUNG DES MÜNSTERS VOM 16. BIS ZUM 19. JAHRHUNDERT – EIN ÜBERBLICK Die Vorgeschichte der umfassenden Restaurierung von Kirche und Ausstattung ab 1829 reicht bis in die Zeit der Säkularisation und die damit verbundenen tiefen Umwälzungen zurück. Nach der Aufhebung der Abtei 1552 standen Kirche und Klausur zunächst sich selbst überlassen. Der Materialwert weckte bald Begehrlichkeiten, und so kam es nach kurzer Zeit zu ersten Abbrüchen. Damit geriet auch die Ausstattung in höchste Gefahr: So kassierte die Sequestrationskommission wahrscheinlich nicht allein den Bestand an Reliquiaren und vasa sacra, sondern auch die Grabplatte des Fundators Pribislav in der Fürstenkapelle. Es blieb der Intervention des Herzogspaares Ulrich I. und Elisabeth vorbehalten, die Kirche von den im Jahr 1552 begonnenen Abrissarbeiten auszunehmen. Dieses vordergründig mit der herzoglichen Memorialkultur begründete Anliegen er-
Die mittelalterliche Ausstattung des Doberaner Münsters und ihre Restaurierung im Spiegel der archivalischen Überlieferung | 173
scheint umso bemerkenswerter, als es zunächst keine adäquate Nutzung zu geben schien. Erst seit 1578 stand sie schließlich als lutherische Hof- und Amtskirche wieder in regelmäßigem Gebrauch. Man richtete sich unter den gegebenen Umständen ein, wobei sich die liturgische Nutzung vorzugsweise auf den ehemaligen Psallierchor sowie das Sanktuarium beschränkte. In den folgenden Jahrzehnten kam es zur Ergänzung bislang nicht benötigter Ausstattungsstücke wie Kanzel, Orgel und Gemeindegestühl sowie mehrerer Emporen- und Logeneinbauten. Auch die Funktion der Kirche als landesherrliche Begräbnisstätte bestand fort. So fand beispielsweise 1634 Herzogin Anna Maria in einer neu errichteten Grabanlage in der Scheitelkapelle des Chorumgangs ihre letzte Ruhestätte12. Diesem Umstand ist die weitere Existenz nach den einschneidenden Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zu danken. Herzog Adolf Friedrich I. sorgte nach den Plünderungen 1637 nicht allein für die Instandsetzung des beschädigten Monuments, sondern auch der stark geschädigten Kirche. Indes machte sich der provisorische Charakter dieser Sicherungsmaßnahmen je länger je mehr bemerkbar. Schadhafte Dächer, eindringende Nässe sowie eine zunehmende Verformung der südlichen Bauwerkspartie infolge der nach wie vor ohne Rücksicht laufenden Abbrucharbeiten an der Klausur bedrohten den Bestand in immer stärkerem Maße. Den mit wachsender Intensität auftretenden Schäden begegnete man während des 17. und 18. Jahrhunderts nur halbherzig und kaum mit dem nötigen Nachdruck und Sachverstand. Dem Problem der ausweichenden südlichen Seitenschiffsumfassung versuchte man beispielsweise seit 1727 durch den Abbruch des verdeckten Strebesystems zu begegnen. Zwar klangen die Bauwerksbewegungen damit weitgehend ab, doch entwickelte sich im Gegenzug für das Hochschiff eine latente Einsturzgefahr. Auch andere entbehrlich erscheinende Bauteile entfernte man, um sich der Kosten einer Instandsetzung zu entledigen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Verfall schließlich ein Ausmaß angenommen, das den Totalverlust befürchten ließ. Das nach wie vor ungebrochene Interesse des großherzoglichen Hauses an der Kirche, die sich seit dem 18. Jahrhundert zu einer Art touristischer Sehenswürdigkeit entwickelt hatte, sorgte jedoch ab 1829 für eine verstärkte Bau- und Instandhaltungstätigkeit. Sie mündete in eine beinahe sieben Jahrzehnte währende Kette von Restaurierungen, die – mit kurzen Unterbrechungen – den Zeitraum bis 1900 umfasste und sich in drei Perioden gliedern lässt: 1. Zwischen 1829 und 1832 ging es unter Leitung des Doberaner Landbaumeisters Carl Theodor Severin und seines
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gleichnamigen Neffen (Severin jun.) um die Sicherung des Gebäudes in Dach und Fach. Im Anschluss daran erfolgte eine mit bemerkenswertem Geschick und Einfühlungsvermögen ausgeführte Neuausmalung nach Maßgabe des überlieferten Zustandes. Zudem kam es zu vorsichtigen Korrekturen an der Ausstattung. 2. Eine unter dem Mandat Großherzog Paul Friedrichs agierende „Kommission zur Restaurierung und Erhaltung der Doberaner Kirche“ sorgte zwischen 1841 und 1867 für eine purifizierende Herrichtung des Innenraumes. In ihr wirkten neben dem örtlichen Geistlichen Friedrich Crull der Schweriner Baurat Ludwig August Bartning sowie der oben bereits genannte Konservator Friedrich Lisch. Unterstützt wurden sie durch den Schweriner Baukondukteur Hermann Willebrandt sowie Severin jun. Im Mittelpunkt standen die Restaurierung der bedeutendsten mittelalterlichen Ausstattungsstücke sowie die würdige Herrichtung der durch Lisch mit großem archäologischem Aufwand identifizierten Fürstenkapelle. Darüber hinaus kam es zum Ersatz nahezu sämtlicher nachreformatorischer Prinzipalien durch „stilgerechte“ Neuschöpfungen: Kanzel, Orgelprospekt, Fürsten- und Gemeindegestühl entstanden als hervorragende Kunsttischlerarbeiten neu. Der ambivalente Charakter des Unternehmens kommt darin zum Ausdruck, dass dem übergeordneten Ideal der Stilreinheit nicht nur frühneuzeitliches Inventar, sondern im Zweifelsfall auch mittelalterliche Stücke geopfert wurden, deren versehrter Zustand dem angestrebten Gesamtbild scheinbar zuwiderlief. Zu den bedauerlichsten Verlusten gehört zweifellos das Retabel der Fürstenkapelle. 3. Nach einer etwa zehnjährigen Atempause (die Restaurierung oder – sachlich richtiger – die historistische Neuschöpfung von Bülowkapelle und Karner gehören in diesen Abschnitt) entwickelte die Bautätigkeit ab 1882 noch einmal eine ungeheure Dynamik und fand im Jahre 1900 ihren glänzenden Abschluss. Der eigens zu diesem Zweck von Dresden nach Doberan berufene Architekt Gotthilf Ludwig Möckel13 sah in der „Restauration“ der Kirche sein Lebenswerk. Gegen den Widerstand der einheimischen Baubeamten sowie in dauerndem Konflikt mit der durch Friedrich Schlie geleiteten Kommission zur Erhaltung der Kunstdenkmäler vollbrachte er an den mittelalterlichen Bauten Doberans eine der herausragenden denkmalpflegerischen Leistungen des Historismus. Ihm wird die Konsolidierung bzw. die Bewahrung wesentlicher mittelalterlicher Baubestandteile, wie z. B. die Dachkonstruktion über den Hochschiffen oder die Gewölbe des Kapellenkranzes verdankt. Beides wäre nach den Plänen der Schweriner Architekten Theodor Krü-
ger und Georg Daniel – die sich ebenfalls mit der Instandsetzung befasst hatten – aufgegeben worden. Hinsichtlich der Ausstattung ist die restauratorische Bearbeitung wesentlicher Stücke bzw. Einbauten zu erwähnen, die während der vorangegangenen Bauphasen unberücksichtigt geblieben waren. Hierzu zählen insbesondere der Kreuzaltar, das Levitengestühl sowie die Rekonstruktion des Oktogons.
EINZELDARSTELLUNGEN ZUR RESTAURIERUNG DER MITTEL ALTERLICHEN AUSSTATTUNG Im Folgenden sollen an Hand exemplarischer Beispiele Konzeption und Methodik der Restaurierungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts vorgestellt werden. Die Auswahl ergibt sich nicht allein aus ihrer kunsthistorischen Wertigkeit, sondern – dem Thema entsprechend – auch aus der Verfügbarkeit aussagekräftigen Aktenmaterials. So ist das Fehlen des Kreuzaltars allein dem Umstand geschuldet, dass ausgerechnet zu diesem Schlüsselwerk Doberaner Kunst bislang nur ein vergleichweise marginaler archivalischer Bestand nachweisbar ist, der zudem bereits an anderer Stelle ausführlich publiziert wurde14. Die Anordnung folgt den oben vorgestellten Restaurierungsphasen zwischen 1829 und 1900. Daraus ergibt sich nicht nur eine chronologische Abfolge, sondern auch ein Überblick über den Wandel der denkmalpflegerischen Methodik im Verlauf eines Dreivierteljahrhunderts. Der Hochaltar galt den Verantwortlichen des 19. Jahrhunderts als das bedeutendste Kunstwerk Doberans und fand auch überregional Beachtung bis hin zu Nachahmungen in zeitgenössischen Kirchenneubauten (Abb. 141)15. Nachweise über Instandsetzungen und Veränderungen liegen seit dem späten 17. Jahrhundert vor. Seit 1692 erwuchs dem Retabel eine akute Gefährdung, indem Herzog Christian Ludwig I. seine Entfernung plante, um eine Sichtachse aus dem Mittelschiff auf das Grabmonument seiner Eltern Adolf Friedrich I. und Anna Maria zu schaffen16. Glücklicherweise scheiterte das Vorhaben, und in der Folgezeit erfuhr das Retabel wiederholte Ausbesserungsarbeiten, wobei u. a. „einiger gekrümmter Zierrat gerichtet“ wurde. Möglicherweise entschloss man sich in diesem Zusammenhang auch zur Verblendung der hohlen Gefache des Mittelschreins durch barocke Tafelgemälde mit Darstellungen aus der Passionsgeschichte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befand sich der „Hohe Altar“ in beklagenswertem Zustand, so dass Carl Theodor Severin 1834 erste Vorschläge zu einer Instandsetzung entwickelte.
Seine Kostenanschläge lassen den Grad der Beschädigungen erkennbar werden17. So war beispielsweise die Neuanfertigung von 156 Kapitellen, 120 Krabben und drei Dutzend Kreuzblumen erforderlich. Indes verging bis zur Realisierung noch geraume Zeit, und es waren diverse Hindernisse zu überwinden: 1844 demontierte man die drei großen Fialen des Mittelschreins und brachte sie in die Werkstatt des Schweriner Tischlers Heinrich Petters18. Die künstlerische Leitung sollte Hofmaler Louis Fischer übernehmen, der jedoch durch seinen plötzlichen Tod daran gehindert wurde. Erst im Dezember 1847 kam wieder Bewegung in die Sache, indem nun auch die beiden Flügel nach Schwerin gebracht wurden. Eine Arbeitsgemeinschaft hoch qualifizierter und motivierter Handwerksmeister und Künstler wurde gebildet, in der Johann Christiansen als Tischler, Franz Scholinus als Bildhauer, Christian Freitag als Vergolder und Hofmaler Gaston Lenthe als Maler wirkten. Diese Namen sind in der Folge aufs engste mit der Restaurierung der mittelalterlichen Ausstattung Doberans verbunden. Obwohl bislang keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet vorlagen und die Restaurierung mittelalterlichen Kunstguts – noch dazu von der Güte des hier in Rede stehenden – absolutes Neuland war, hat man hier die notwendigen methodischen Grundlagen und Maßstäbe gewissermaßen treffsicher gefunden und umgesetzt. Dies ist insbesondere das Verdienst Friedrich Lischs, der die Arbeiten wissenschaftlich begleitete. Im Bewusstsein um die Signalwirkung, die diesem Pilotprojekt innewohnte, legte er jedem der Beteiligten präzise Arbeitsanweisungen vor, die er auf Grundlage von Befunderhebungen erstellte. Beispielhaft angeführt seien die Vorgaben für die Maler- und Vergolderarbeiten: „Alle Unterseiten der Obergewänder sind blau. Alle Ränder der Obergewänder sind blau. […] Alle Unterseiten der Untergewänder bei den Füßen sind roth. Alle Fußbretter sind grün. Alle Ränder der Untergewänder sind roth […] Moses, Wasser aus dem Fels schlagend: Unter dem Fuß des Moses ist in abwechselnd grünen und schwarzen Streifen Wasser gemalt, wie es von den braunen Felsen herunterläuft“19. Nahezu sämtliche Attribute der Apostel waren verloren. Lisch ergänzte sie nach Maßgabe der erhaltenen Reste bzw. der Vorzeichnungen im Kreidegrund. So teilte er beispielsweise an Scholinus folgende Beobachtung mit: „Johannes d. T. Das Lamm im Agnus dei hat eine Kreuzesfahne getragen. Das Kreuz steht noch am oberen Rande.“20 Drei leere Register in der mittleren Zeile des linken Flügels galt es neu zu füllen. Unter Berücksichtigung des typologischen Prinzips wählte Lisch die Darstellungen von Eva sowie Sarah und Eli. Die durch Scholinus vorgenommenen Ergänzungen und Neuan-
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fertigungen verraten ein derartig hohes Maß an künstlerischem Einfühlungsvermögen, dass sie innerhalb des mittelalterlichen Bestandes kaum als solche wahrnehmbar sind (Abb. 142). Lisch nutzte die seltene Gelegenheit, das demontierte Retabel einer gründlichen wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Ihm gelang es dabei, wesentliche Aspekte der Entstehungsund Nutzungsgeschichte zu erörtern. So erkannte er beispielsweise die Predellenzone als nachträgliche Hinzufügung
und identifizierte den Mittelschrein als Reliquiendepositorium. Dessen Ausmalungssystem erschien ihm als Reflex der – zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr bestehenden – mittelalterlichen Erstausmalung des gesamten Kirchenraumes21. Das alles sind Hypothesen, die erst mehr als 100 Jahre später, im Zuge der Gesamtrestaurierung ab 1964, durch moderne wissenschaftliche Untersuchungen in weiten Teilen ihre Bestätigung fanden.
Abb. 141. Blick auf Hochaltar und Sakramentsturm, Zustand um 1880
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Abb. 142. Hochaltar, linker Flügel: Eva, Sarah (F. Scholinus, 1848), Ezechiel, um 1300
Bei aller Wertschätzung für das damals Geleistete ist dieser Restaurierung doch auch eine erhebliche methodische Ambivalenz eigen. Die Entfernung der barocken Tafelgemälde mag im Interesse der Freilegung und Präsentation des mittelalterlichen Bestandes noch angehen, zumal man sie an anderer Stelle wieder verwendete22. Einen wesentlichen Eingriff in den originalen Bestand stellen dagegen die Beseitigung der Konsolen für die Auflagebretter im Mittelschrein, die Korrektur der Predella23 sowie insbesondere die Tilgung der Reste der Flügelgemälde dar. Nach Ansicht Lischs wurden sie „für die heutigen Zwecke nicht mehr gebraucht“24. Dieser „Zweck“ bestand in der stilistisch einwandfreien und würdigen Herrichtung eines hoch geschätzten Kunstwerks, an dem keine Verfallsspuren ersichtlich sein sollten. Die Flügelrückseiten sind seitdem alternierend blau und rot gefasst, das heutige Dekorationssystem mit Weinlaubmotiven wurde erst unter Möckel hinzugefügt. Weitere geplante Eingriffe gelangten nicht zur Durchführung. So gab es Bestrebungen, die leeren Gefache durch Gemälde oder Skulpturen zu füllen, wobei die Vorstellung einer Abendmahlsgruppe oder des von den Evangelisten umgebenen christus triumphans am längsten diskutiert wurden.25. Parallel zur Restaurierung des Hochaltars vollzog sich diejenige des Sakramentshauses (Abb. 143–145). Lisch schildert 1849 seinen beschädigten und vernachlässigten Zustand26. So waren von den sechs Maßwerkrosetten am Fuß fünf verloren. Darüber hinaus fehlte ein Satz von fünf Figuren. Bart-
ning gelang es, vier von ihnen in sekundärer Verwendung an anderer Stelle in der Kirche ausfindig zu machen. Sie waren an verschiedenen Nebenretabeln montiert. Die fünfte blieb verschollen. Nahezu sämtliche Skulpturen hatten darüber hinaus ihre Attribute sowie ihre Spruchbänder eingebüßt, was ihre zweifelsfreie Identifikation außerordentlich erschwerte und bis heute zu teils kontroversen Deutungen führt27. Im Dezember 1847 erfolgten Demontage und Transport nach Schwerin28. Schon im Juli des kommenden Jahres konnten die Teile wieder nach Doberan gebracht und neu aufgerichtet werden, wobei der gesamte Turm wahrscheinlich um einen halben Meter nach Südosten verschoben und leicht gedreht wurde – eine Maßnahme, die man 1897 noch einmal korrigierte29. Lisch legte seine beim Hochaltar erprobten Prinzipien auch der Restaurierung des Sakramentshauses zu Grunde. So orientierte er sich hinsichtlich der Polychromie am mittelalterlichen Bestand. Für die Rekonstruktion fehlender Details (etwa bei den Lilienendigungen der Krone Davids) wählte er verwandte Beispiele als Vorlage – in diesem Fall diejenige des Melchisedek30. Eine besondere Herausforderung stellte die Ergänzung bzw. Neuerstellung der fehlenden Figur dar. Lisch interpretierte – wohl zu Unrecht – die Darstellung des Melchisedek als Hl. Benedikt, was ihn dazu bewog, den Hl. Bernhard v. Clairvaux als Pendant vorzusehen31. Die wahrscheinlich von Christiansen gefertigte Skulptur nimmt in
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Abb. 143. Sakramentshaus, Ansicht und Schnitte, Lithographie, 1864
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Haltung und Proportionen Bezug auf die umgebende originale Plastik. Allerdings geben sich die jugendlichen Gesichtszüge im Gegensatz zu den von kraftvoller Prägnanz charakterisierten mittelalterlichen Physiognomien als nazarenisch-flaue Schöpfung der Zeit nach 1840 zu erkennen. Neben Hochaltar und Sakramentshaus stand auch das Chorgestühl im Fokus der Maßnahmen der 1840er Jahre. Auch hier waren in der Vergangenheit Schäden eingetreten, die schon in der Barockzeit – beispielsweise 1765 und 1781 – wiederholt ausgebessert wurden32. Möglicherweise versah man dabei das Holz mit einem ölanstrich, den Severin 1847 mit viel Mühe wieder beseitigen ließ. Ungeklärt sind der Zeitpunkt des Abbruchs sowie der Verbleib des Novizengestühls, welches möglicherweise 1831 oder 1847 ausgebaut und wahrscheinlich verkauft wurde33. Am Mönchsgestühl waren methodisch unproblematische Ausbesserungen notwendig. Mit den „kleinen Flickereien an den oberen Verzierungen der Chorstühle“34 waren die Doberaner Tischlermeister Müller und Kasch im Sommer 1845 beschäftigt. Eine Neuerung bildete der Einbau des Fürstengestühls in die sechs westlichen Stallen der Südreihe. Als Ersatz für die renaissancezeitlichen Emporeneinbauten oberhalb der Baldachinzone entwickelten Bartning und Willebrandt eine neuartige Lösung, die sowohl von ihrer formalen Einbindung in den mittelalterlichen Bestand als auch in ihrer sorgfältigen kunsthandwerklichen Ausführung als ausgesprochen glücklich zu bewerten ist. Dies gilt gleichermaßen für die umfangreichen Arbeiten am Laiengestühl, welches nicht allein Ausbesserungen und Reparaturen, sondern eine bislang nicht vorhandene dekorative Bereicherung der Baldachinzone erfuhr. Analog zum Mönchsgestühl versah Severin diesen bislang anspruchslos gestalteten Bereich ebenfalls mit Schleiermaßwerk und abschließender Maßwerkleiste, um „die Symmetrie mit den jetzt fertigen Chorstühlen zu halten“ (Abb. 146)35. Doch damit nicht genug: Gleichzeitig ließ er Nord- und Südreihe nach Osten hin um jeweils vier Stallen erweitern. Alles geschah in dem Bestreben, die beiden bislang heterogenen Gestühlskomplexe so weit wie möglich einander anzugleichen36. Dieses Ansinnen ist symptomatisch für das Bestreben der zweiten Restaurierungsphase, Raum und Ausstattung als eine sich gegenseitig beantwortende künstlerische Einheit zu begreifen und in einem idealiter vollendeten Zustand zu präsentieren. Eine ungemein sorgfältige Ausführung ist kennzeichnend für alle diese Arbeiten, so dass die Neuschöpfungen kaum vom mittelalterlichen Bestand zu unterscheiden sind. Das Levitengestühl bildet gewissermaßen das Bindeglied zwischen der zweiten und dritten Restaurierungsphase: Seine
Wiederherstellung war zwar unter Lisch und Bartning geplant und konzeptionell vorbereitet, konnte jedoch erst unter Möckel zur Ausführung gebracht werden (Abb. 57, 147). Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kündeten nur noch einzelne in situ befindliche Fragmente vom charaktervollen Erscheinungsbild des liturgischen Mobiliars und der erlesenen Schönheit seiner Einzelformen. Schrittweise hatte sich bis dahin ein stetiger Prozess von Umbauten und Demontagen vollzogen: Das seit dem Ende des 16. Jahrhunderts als Sakristei- und Beichtgehäuse umfunktionierte und dazu in Re-
Abb. 144 (li. unten). Sakramentshaus, Detail: Hl. Bernhard von Clairvaux, J. Christiansen (?), 1848 Abb. 145 (re. oben). Sakramentshaus, Detail: Rosette mit Signatur von C. Freitag, 1848 Abb. 146 (re. unten). Konversengestühl, nördliche Reihe während der Entfernung der neugotischen Bestandteile, 1978
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naissanceformen überarbeitete Gestühl verlor im Jahre 1808 seinen Baldachin, der seitens des Hoftischlers Blieffert aus Ludwigslust demontiert und in die dortige Katholische Pfarrkirche St. Helena transferiert wurde37. Dort diente das durch den örtlichen Schnitzer Jacoby nicht eben sachgerecht ausgebesserte und mit Gemälden von Rudolph Suhrlandt versehene Stück als Altarretabel. Das verbliebene Fragment erfuhr 1823 eine weitere Dezimierung, indem das Dorsale ausgebaut und in die soeben durch Severin restaurierte Kapelle nach Althof überstellt wurde38. Noch 1846 entfernte man eine der seitlichen Wangen39, so dass zum Schluss lediglich noch der eigentliche Sitzbereich bis in Höhe der Schulterringe verblieben war. Als auch diesem schließlich im Jahre 1850 der Abbruch drohte, schritt Lisch ein. Sein Votum rette das unikate Stück vor dem endgültigen Verlust40. Seit 1862 lassen sich dann erste Bestrebungen nach einer Wiederherstellung nachweisen. Bartning entwickelte gemeinsam mit dem Baukondukteur Hermann Schlosser und Lisch verschiedene Varianten zur Ergänzung der fehlenden Teile, insbesondere der seitlichen Wangen sowie des Baldachins. Die Existenz des Originals in Ludwigslust blieb den Akteuren damals seltsamerweise verborgen. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn sich die ersten Entwürfe formal sehr eng am Levitengestühl des Doms zu Verden/Aller orientieren41. Nachdem Lisch den Ludwigsluster Altaraufsatz durch archivalische Forschungen als originären Bestandteil des Levitengestühls identifiziert hatte42, entstand eine weitere Serie von z. T. hervorragend schönen Detailzeichnungen. Da eine Rückführung ausgeschlossen war, blieb nur die Anfertigung einer Kopie übrig, die durch Abreibungen bzw. Abformungen vom Original diesem so weit wie nur möglich entsprechen sollte. Auf Grundlage dieser sehr sorgfältigen Vorarbeiten setzte Bartning alles an eine baldige Rekonstruktion. Kostengründe ließen das Projekt indes im Sande verlaufen.
Abb. 147. Levitengestühl, Zustand vor der Wiederherstellung, Aufnahme um 1890
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Erst unter Möckel wurde die Wiederherstellung schließlich Realität. Seit 1893 arbeitete er darauf hin, wobei er sich teilweise von schwer nachvollziehbaren Vorstellungen leiten ließ. Mit seinem Vorhaben, die „Fragmente des alten frühgothischen Chorgestühls sowie die künstlerisch höchst werthvollen frühgothischen Schränke […] zu einem […] Liturgenstuhl zusammenzubauen und zu restaurieren“43 löste er bei der Kommission einen Sturm der Entrüstung aus. Schlie reagierte bestürzt: „Das werthvolle Alte soll umgestaltet werden, damit ein modernes Composit-Möbel zum Vorschein komme!!! Nie und nimmer darf so etwas geschehen.“44 Angesichts des eisernen Widerstands blieb schließlich allein die Rekonstruktion auf Grundlage der ausführungsreifen Detailzeichnungen Bartnings und Schlossers. Auch dagegen erhob sich noch einmal Widerstand, und zwar seitens des Finanzministeriums. Man suchte nach Möglichkeiten zur Kostenersparnis – und fand sie bei den Turmaufsätzen, die man als zu hoch und entsprechend zu kostspielig empfand45. Erst die Intervention Großherzog Johann Albrecht sicherte Möckel eine Ausführung getreu dem Original. 1899 kam die in der Werkstatt von A. Kasch gefertigte hervorragende Kunsttischlerarbeit zum Abschluss. Als kostbare Zeugnisse mittelalterlichen Memorialwesens verfügt die Kirche über zwei figürlich gestaltete Deckplatten von Tumben, die seit alters mit Königin Margarethe v. Dänemark (Abb. 149) sowie König Albrecht III. von Schweden und dessen Gemahlin Richardis (Abb. 148) identifiziert werden. Zum ursprünglichen Bestand zählten kistenartige Gehäuse mit Klappläden, die ein öffnen bzw. Verschließen der Bildnisse ermöglichten. Die mittelalterlichen Standorte sind nicht überliefert. Im 18. Jahrhundert lassen sie sich im westlichen Bereich des südlichen Seitenschiffes bzw. im südöstlichen Chorumgang nachweisen. Lisch beschäftige sich seit 1872 mit der Restaurierung der „Bildsäulen“46. Er wollte die bislang aufrecht stehenden Platten künftig liegend präsentieren und dazu auf hölzerne Unterbauten platzieren. Die setzte die Preisgabe der bisherigen Gehäuse voraus, deren geringe Höhe man ebenso unvorteilhaft empfand wie den Kontrast zu den differenziert modellierten Oberflächen der Plastiken. Einen Kompromiss in Form einer ornamentalen Bemalung der Deckelinnenseiten verwarf man recht bald wieder. Indes blieb die beabsichtigte Anordnung in der Art von Kenotaphen nicht unwidersprochen, da derartige Anlagen in der mittelalterlichen Kunst Mecklenburgs unbekannt seien47. Da man die typologisch verwandte Standfigur des Helmold v. Plessen in Hohen Viecheln bei Wismar zum damaligen Zeitpunkt noch nicht als originären Bestand-
teil eines Kenotaphs identifiziert hatte, musste Lisch mit dem Grabmal Herzog Barnims VI. v. Pommern-Wolgast (†1404) in St. Marien zu Kenz ein Beispiel aus dem vorpommerschen Raum bemühen, um derartige Bedenken zu zerstreuen. Zwar blieb Lisch die Realisierung seiner Pläne versagt, doch wirkten seine Gedanken weiter. So dachte Möckel daran, die Platten auf steinerne Unterbauten zu montieren. Doch auch dagegen legte die Kommission ihr Veto ein: Eine derartige Anordnung würde den Bestand verfälschen, da man „in späteren Zeiten die Steinhochgräber [...] leicht für die ursprünglichen zu halten verführt werden“ könnte. Schlie fühlte sich darüber hinaus beim Gedanken an die von Möckel vorgeschlagene schräge Lagerung der Platten an Paradebetten der feudalabsolutistischen Zeit erinnert. Den Ausweg bildete schließlich ein Kompromiss: Auf die vehement eingeforderten hölzernen Unterbauten – die insgesamt den Charakter einer Stellage mit später ebenfalls kritisierten „maurischen“ Hufeisenbögen gewannen – montierte man, wie von Möckel gewünscht in schräger Anordnung – die kostbaren Bildwerke. 1898 konnte die Maßnahme abgeschlossen werden. In den sepulkralen Themenbereich gehört auch der als Oktogon bezeichnete kapellenartige Einbau zwischen den Scheitelpfeilern des Binnenchores (Abb. 170, 177). Die zweigeschossige Anlage hatte die Jahrhunderte nur in reduzierter Gestalt überstanden. Folgen wir der Beschreibung Lischs48, so bestand das offene Obergeschoss zu seiner Zeit lediglich aus den drei in den Chorumgang hinein ragenden Kompartimenten sowie den zwischen die Pfeiler eingespannten Segmenten einschließlich der zugehörigen Gewölbekappen. Es handelte sich somit nicht mehr um ein „Oktogon“, sondern um ein 5/8-Polygon. Der westliche Stützenapparat samt Gewölbekonstruktion fehlte. Von seiner einstigen Existenz kündeten indes noch die vom Schlussstein aus in westliche Richtung verlaufenden Ansätze der Gewölberippen sowie mehrere Fragmente von Säulenschäften, die an verschiedenen Stellen der Kirche aufbewahrt wurden. Die Ursache für die Verstümmelung sah Lisch in der Erweiterung des Gruftgeschosses nach Westen, um darin die Grablege für Herzog Albrecht VII. († 1547) anlegen zu können. Die Abmessungen dieses neuen Gruftraumes machten die Entfernung des westlichen Säulenpaares notwendig. Den Gewölbeschub fing man durch einen zwischen die Scheitelpfeiler gespannten Segmentbogen ab. Lisch spielte zwar gedanklich mehrere Rekonstruktionsmodelle durch, ließ das Oktogon jedoch unberührt. Seine Untersuchungen bildeten indes die theoretischen Grundlagen für die zwischen 1887 und 1899 durchgeführte Rekonstruktion unter Möckel. Am Beginn stand eine vom speziellen
Abb. 148. Tumba König Albrecht v. Schweden und Richardis, um 1380/1412, Zustand um 1890
genealogischen Interesse des Hofes getragene Inspektion des Gruftgeschosses49. Die Hoffnung nach einer eindeutigen Identifikation der Gebeine wurde indes durch die erheblich gestörte Befundsituation enttäuscht: Zu Tage kam ein wüstes Durcheinander von Knochenresten, die teils offen herum lagen, teils in einem hölzernen Sarg deponiert waren. Der Rostocker Anatom Albert v. Brunn ordnete sie zehn oder elf Personen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren zu. In westliche Richtung erstreckte sich jene stollenartige Erweiterung von 1547, die Möckel auf Grund ihrer baulichen Beschaffenheit zwar als nachträgliche Hinzufügung erkannte, jedoch in Verbindung mit den Raubgrabungen der 1630er Jahre brachte. Die sorgfältige Wiederbeisetzung der Gebeine bildete 1887 einstweilen den Abschluss der Untersuchungen. Erst 1894 taucht ein Posten zur Restaurierung des Kapellengeschosses in den Kostenanschlägen Möckels auf50. Das besondere Augenmerk galt dabei der Ergänzung der fehlenden westlichen Bauglieder, wobei die Abtragung des gesamten Aufbaus zunächst unausweichlich erschien. Möckel war jedoch auf eine sorgfältige Wiederverwendung sämtlicher noch
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dieser Einschränkungen eröffnen die Doberaner Restaurierungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts inhaltlich und methodisch eine neue Phase im Umgang mit den mittelalterlichen Bau- und Kunstdenkmälern des Landes. Sie stehen am Beginn einer neuen, stark verwissenschaftlichten Qualität denkmalpflegerischen Handelns. Über seinen kunstgeschichtlichen Rang hinaus ist das Münster mitsamt seiner Ausstattung dadurch auch zu einem exemplarischen Denkmal der Denkmalpflege geworden.
ABSTRACT Abb. 149. Tumba für Königin Margarethe von Dänemark
brauchbarer Materialien bedacht, zog jedoch – ganz selbstverständlich – für die neu zu erstellenden Elemente die Verwendung von Eisen und Zement in Betracht. Besonders aufschlussreich ist die Absicht Möckels, den reichen Maßwerkdekor der Ostteile, den er als spätgotische Hinzufügung erkannt hatte, am neu aufzuführenden Westteil nicht zu wiederholen. Somit erhielt diese Ansicht des Kapellengeschosses einen gleichsam auf die architektonischen Grundformen reduzierten, sehr strengen Charakter, der im Gegensatz zu der in vielgliedriger Kleinteiligkeit strahlenden Ostseite steht. Gerade dieser Umstand galt der Kommission als kritikwürdig. Möckel vermochte sich jedoch mit seinem Vorschlag – der weniger von stilkritischen Erwägungen als vielmehr von der Sorge getragen war, dem Hochaltar könnte durch die in reicher Maßwerkdekoration prangende Westseite des Oktogons unliebsame Konkurrenz erwachsen – letztlich durchsetzen. Nachdem es durch ein revidiertes Konzept schließlich gelungen war, die noch aufrecht stehenden mittelalterlichen Bauwerksteile doch zu erhalten und somit den Verlust kostbarer Substanz zu umgehen, konnte die sehr sorgfältig vorbereitete und handwerklich hervorragend gelöste Rekonstruktion im Sommer 1898 beendet werden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass man bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts um die herausragende Qualität des Doberaner Kunstbestandes wusste und Maßnahmen zu seiner Konservierung und einwandfreien Präsentation ergriff. Dabei wurde in vielerlei Hinsicht Neuland betreten. Die an den Tag gelegte Akribie und Sorgfalt nötigt bis heute tiefen Respekt ab. Die eingetretenen Verluste an Originalsubstanz mag man zwar bedauern. Sie sind indes charakteristisch für ein Denkmalverständnis, dass sich in erster Linie der gestaltenden Vollendung des Objektes verpflichtet fühlte. Trotz
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The Church of Our Lady in the former Cistercian Abbey of Doberan has been within the focus of intensive scholarly research for about two centuries. The overwhelming overall impression of the ensemble can easily give the impression that it has come unscathed and free of interventions and changes over the centuries. As for most of the works of medieval architecture and visual art, however, it should be noted that neither the building nor the inventory would have survived without the commemorative culture of 19th century Historicism. Due to several interdependent factors, the survival of this unique ensemble has been highly endangered since the beginning of the 19th century at the latest. The conservation and worthy presentation is substantially due to a restoration campaign that began in the late 1820ies and ended up by the end of the century with the most extensive conservation campaign of an individual monument of cultural heritage in the Grand Duchy of Mecklenburg-Schwerin. The intention was to achieve the ideal of a monument sparkling in absolute perfection. However, this approach became particularly reprehensible in the eyes of the conservators of Doberan Minster in the second half of the 20th century. Between 1964 and 1984, a further, no less intrusive restoration campaign was launched, which aimed to reconstruct the supposedly medieval appearance by withdrawing the later historical elements. However, the craftsmanship and artful diligence shown during all phases of the restoration work has made it impossible, especially with regard to the furnishings and fittings, to recognize the degree and extent of restoration. In addition to the analysis of the historical monuments, it is therefore necessary to carry out additional studies of the written sources in order to distinguish between medieval and modern times. The article attempts to outline the restoration and construction activities of the 19th century. An analysis of the conservation work carried out since 1964 could not be included at this point.
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Die vorliegende Abhandlung basiert auf der 2011 am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig eingereichten Dissertationsschrift des Verfassers: Das Münster zu Bad Doberan. Die Geschichte seiner Erforschung und Denkmalpflege im 19. und 20. Jahrhundert (im Druck erschienen als: THIELE 2016). Dort finden sich ausführliche Angaben zu Quellen, Plänen und Literatur sowie eine umfangreiche fotografische Dokumentation der Münsterrestaurierung zwischen 1829 und 1984. Einen instruktiven Überblick über die Maßnahmen des 19. Jh. (mit Hinweisen auf Archivalien) vermittelt HERMANNS 1996, S. 334–338 und 383–388. Landeskirchliches Archiv Schwerin (nachfolgend: LKAS), Oberkirchenrat Schwerin, Spezialia (OKR), Nr. 76–78, 81, 85. LKAS, Landessuperintendentur Doberan (nachfolgend: LSI), Nr. 43, 86–88, 96. LKAS, Großherzogliches Finanzministerium, Patronatsbauakten (nachfolgend: FM), Nr. 1, 2, 92–98, 98–1, 98–2, 98–3. LKAS, ohne Nr.: Handakten Baurat Krüger, Schriftverkehr und Gutachten, 1864–1884. Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin (nachfolgend: MLHAS), 2.12–3/4 Acta ecclesiasticarum et scolarum specialia, AES 2043 Dobran, Kirchenbau, 1571–1900; AES 2045 Kirchenund Pfarrbau. MLHAS, 2.21–1 Geheimes Staatsministerium und Regierung (GSR), Nr. 11064-11067. MLHAS, 2.22-10/7 Domanialamt Doberan (nachfolgend: DA), Nr. 1990–1998. MLHAS, 2.26–1 Großherzogliches Kabinett I und III (nachfolgend: Kab. I und III), Kab. I: Nr. 8732, 8733, 8736, Kab. III: 5612. MLHAS, Nachlass Friedrich Lisch, 194; 195, 1843–1887. Landesamt für Kultur und Denkmalpflege (nachfolgend: LAKD) (ohne Nr.), Bad Doberan, Kirche, 23. December 1892–22. December 1894; Bad Doberan, Kirche, 1892–1927; Bad Doberan, Klosterkirche, Mappe 1 (1885–1963). S. dazu den Beitrag von Kilian Heck in diesem Band. Zu Möckel vgl. zusammenfassend: BARTH 2001. Vgl. die umfassenden Aufsätze: VOSS 1980; VOSS 1989; VOSS 1994; VOSS 2007. So z. B. der 1886 aufgestellte Hochaltar in St. Martin zu Freiburg/Br. Vgl.: BROMMER 1981, S. 24. MINNEKER 2007, S. 339–340. LHAS, Kab. I 8732. LKAS, FM 98–1, Nr. 12. LHAS, Nachlass Lisch, Notizen zum Doberaner Altar (n. pag.).
20 Ebenda. 21 LISCH 1851, S. 288. 22 Sie wurden 1849 angeblich an das Retabel der „Leiden Christi“ übertragen. Vgl.: SCHREIBER 1855, S. 26, 40. Über den weiteren Verbleib ist nichts bekannt. 23 VOSS 1990, S. 123–124. 24 LISCH 1849, S. 358. 25 LHAS, 195 Nachlass Lisch (n. pag.), undatierte Notiz Lischs sowie Otte am 17.5.1844. 26 LISCH 1849, S. 374. 27 Eine vor der Restaurierung angefertigte Zeichnung hält den fragmentarischen Zustand fest. Vgl.: MLSH, 195, Nachlass Lisch, Doberan, Tabernakel. 28 LKAS, FM 98–1, Nr. 92. 29 LKAS, FM 98–3, Nr. 46, 26.2.1897; Nr. 47, 3.3.1897; Nr. 50, 20.5.1897. 30 LHAS, 195 Nachlass Lisch, Doberan, Tabernakel (n. pag.). 31 LISCH 1849, S. 380. 32 LHAS, DA 1990, Bl. 122, 26.3.1781. 33 LKAS, FM 98–1, ad 90, 6.9.1847. 34 LKAS, FM 98–1, Nr. 36, Bl. 1. 35 LKAS, FM 98–1, Nr. 51. 36 Die 1847 hinzu gefügten Stallen wurden im Rahmen der Innenrestaurierung 1978 wieder entfernt. 37 LKAS, FM 98–2, Nr. 169, 171. 38 LHAS, Kab. III 5608, Nr. 20, 7.7.1852. 39 LHAS, Kab. III 5612, Nr. 24, 19.6.1846. 40 Ebenda, ad 52, 3.9.1851. 41 MLHAS, Bildersammlung Doberan (Kirche), Mappe 5, Plan Nr. 117/84–117/86. 42 LHAS, Kab. III 5612, Nr. 108, 18.11.1862. Lisch identifizierte zunächst lediglich die Dachzone als mittelalterlichen Originalbestand, während er die Turmaufsätze sowie die frei stehenden Säulen der Umsetzung von 1808 zuordnete. 43 LKAS, FM 98–3, ad 15, 30.9.1893. Mit den Schränken sind die Kredenz sowie die drei kleineren liturgischen Geräteschränke aus dem frühen 14. Jahrhundert gemeint. 44 LAKD, Schlie am 30.11.1893. 45 LKAS, FM 98–3, ad 74, 19.8.1899. 46 LHAS, Nachlass Lisch, 194. 47 Ebenda, 8.1.1873. 48 LISCH 1854a, S. 368. 49 LHAS, 195, 17.4.1887; 5.10.1887. 50 LKAS, FM 98–3, ad 15, 30.9.1893.
Die mittelalterliche Ausstattung des Doberaner Münsters und ihre Restaurierung im Spiegel der archivalischen Überlieferung | 183
DOBERANER HANDSCHRIFTEN IN DER BIBLIOTHEK DES PRIESERSEMINARS IN PELPLIN MAteUSz MArSzALKOWSKI
In der Diözesanbibliothek in Pelplin werden über 500 Handschriften aufbewahrt1. Ein Teil davon stammt aus der Bibliothek des Pelpliner Zisterzienserkonvents. Die anderen gelangten im 19. Jahrhundert nach Auflösung der zahlreichen, nördlich von Toruń (Thorn) liegenden Ordensgemeinschaften als ihr literarisches Erbe hierher. Dazu gehörten u.a. die Handschriften der Franziskaner aus Lubawa (Löbau) und Zamarte (Jacobsdorf / Bonstetten); der Zisterzienser aus Oliwa (Oliva); der Lazaristen aus Chełmno (Kulm) und Gdańsk (Danzig); der Benediktinerinnen aus Żarnowiec (Zarnowitz) und Grudziądz (Graudenz); der Jesuiten aus Grudziądz und Stare Szoty (Alt Schottland); der Dominikaner und Benediktinerinnen aus Toruń; der FranziskanerReformaten aus Wejherowo (Neustadt), Dzierzgoń / Kiszpork (Christburg), Toruń-Podgórz und Brodnica (Strasburg); der Karmeliten und der Erlöserorden aus Gdańsk, der Kartäuser aus Kartuzy (Karthaus), der Kirchenbibliothek Radzyń und der Bibliothek der Bischofsburg in Starogród (Althausen)2. Im heutigen Bestand der Pelpliner Bibliothek befinden sich auch die Bücher, deren Herkunft ohne Zweifel mit Doberan – dem Mutterkloster des Pelpliner Klosters – zu verbinden ist. Die Pelpliner Mönche gründeten nämlich erst im 14.3, vielleicht am Ende des 13. Jahrhunderts4, ihr eigenes Skriptorium. Bis dahin benutzten sie importierte und von dem Doberaner Konvent zu ihrer Erstausstattung geschenkte Bücher. Sechs Handschriften (Sign.: 10/125, 11/256, 65/1327, 93/1888, 113/2999, 114/19510) besitzen Einträge, die ihre Herkunft aus dem Mutterkloster bestätigen (z.B. Liber Ste Marie in Doberan). Sieben weitere (Sign.: 1/2, 4/8, 13/14, 54/23, 58/55, 112/196, 149/222) werden in der bisherigen Forschung als aus Doberan stammende Bücher angesehen11. Für eine weitere, in der Bibliothek der Nikolaus-
Kopernikus-Universität in Torun aufbewahrte Handschrift mit der Inschrift Liber Ste Marie in Polplin, wird ebenfalls eine Herkunft aus Doberan vermutet12. Darauf verweist die Verzierung der Filigraninitialen, die auf die 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert werden können. Die Handschriften mit den Signaturen 10/12 und 11/25 bilden das Fragment einer Bibel. Sie beinhalten die Bücher des Alten Testaments: 1. und 2. Buch der Könige, 1. und 2. Buch der Chronik, Buch der Sprüche, Kohelet, Weisheit Salomons, Hiob, Tobit, Judith, Esra, 1. und 2. Buch Makkabäer13. Die beiden Handschriften (Größe 36 x 25,5 cm) be-
Abb. 151. Pelplin, Handschrift 10/12, f. 1r.
Abb. 152. Pelplin, Handschrift 11/25, Vorsatz des hinteren Belags
Linke Seite: Abb. 150. Kreuzaltarretabel, Ansicht von Osten (Marienseite), Detail: Geburt Christi
Abb. 153. Pelplin, Handschrift 65/132, f. 3r.
Abb. 154. Pelplin, Handschrift 113/299, f. 1r.
inhalten 151 bzw. 175 Pergamentbögen und werden um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts datiert14. Der Einband besteht aus mit Leder überzogenen Holzdeckeln. Die Initialen werden entsprechend der romanischen Tradition mit Ranken und grünem, blauem und rotem Flechtwerk, stellenweise mit Tierdarstellungen dekoriert (z.B. Hs. 10/12, f. 28v, 75v, 99r; Hs. 11/25, f. 96v). Außerdem kommen hier kleinere rote und grüne Initialen vor, die mit zarten grünen, blauen und roten Filigranformen verziert sind. Die kalligraphischen Verzierungen bestehen hauptsächlich aus hängenden, palmettenähnlichen Blättern. Es tauchen außerdem sog. Konturbegleitstriche auf15 – typische Merkmale der französischen Skriptorien um die Mitte des 12. Jahrhunderts16. Die Filigranverzierung besitzt floralen Charakter. Sie löst sich leicht vom Block der Buchstaben ab und schlingt sich nach unten oder oben. Insgesamt befinden sich in der Handschrift 10/12 acht größere ornamentale und 45 kleinere Filigraninitialen (Abb. 157–159); in der Handschrift 11/25 sind es vierzehn ornamentale und über 70 Filigraninitialen (Abb. 160–162). In der erstgenannten Handschrift auf f. 1r, befindet sich die teilweise abgetragene Inschrift Liber Ste
186 | Mateusz Marszalkowski
Marie in … (Abb. 151). Der Vorsatz des rückwärtigen Einbandes der zweiten Handschrift besitzt dagegen die folgende Inschrift: Venerabili Matthaeo in Doberan patri fatur A. dictus Abbani, in Sora orationem17 (Abb. 152). Die Handschrift Jeremias Glossatus (Sign. 65/132), wird auf das 13. Jahrhundert datiert18. Sie besitzt 104 Pergamentbögen mit der Größe 29 x 19 cm. Ihre sehr bescheidene Dekoration bilden zwei rote Initialen auf f. 2r (I[hieremias]) i f. 3r (V[erba]). Es ist erwähnenswert, dass die Schriftform mehrmals im Text des Buches geändert wird (zum ersten Mal auf f. 74r, später auf 82r und f. 94v). Die die Zugehörigkeit zum Bestand des Doberaner Münsters bestätigende Inschrift befindet sich auf f. 3r und lautet: Liber Ste Marie Virginis Perpetue in Doberan (Abb. 153). Die Handschrift mit der Signatur 93/188, welche die vom hl. Hieronymus geschriebenen und mit seinem Prolog versehenen Parabolae Salomonis beinhaltet, stammt laut der bisherigen Forschung aus der Zeit um 120019. Sie enthält 76 Bögen der Größe 24,5 x 15,5 cm. Die Dekoration dieser Handschrift besteht aus drei Initialen. Zwei davon (auf f. 1v und 8v) haben keine Verzierungen. Die Initiale I[ungat] auf f. 1v wurde mit der grünen Tusche gezeichnet, das zweiteilige Korpus der Initiale A[udiens] (f. 2v) dagegen mit roter. Ebenfalls grün ist die Incipit-Initiale P[arabole] (f. 2r) mit zweiteiligem Korpus und schmalem Zwischenraum, in die eine rote Linie eingeführt wurde. Das Ornament im Feld des Zeichens, das ein wenig seine Konturen überschreitet, besteht aus einer Ranke, die in Palmetten endet und einem herzförmigen Blatt.
Abb. 155. Pelplin, Handschrift 114/195, f. 37r.
Abb. 156. Pelplin, Handschrift 114/195, f. 99r.
Abb. 157. Initiale „E“. Handschrift 10/12, f. 50v.
Abb. 158. Initiale „O“. Handschrift 10/12, f. 99r.
Das Innere der Ranken wurde mit der verwässerten grünen Tusche gemalt. Die Eigentums-Inschrift befindet sich auf f. 1r und lautet: Liber Ste Marie Ppe Virg in Doberan. Die auf das 13. Jahrhundert datierten Sermones von Petrus Comestor (Sign. 113/299) sind ein Buch von 118 Pergamentbögen (13 x 20 cm) 20. Seine Dekoration bilden vierzehn zweizeilige, elf dreizeilige und zwei vierzeilige Initialen – alle sind rot, mit der ebenso roten und bescheidenen Filigranverzierung. Die kalligraphische Dekoration ist eng mit dem Block der Buchstaben verbunden, sie taucht fast ausschließlich im Umriss des Zeichens auf. Das Repertoire der Motive ist hier sehr gering – es beschränkt sich auf zarte, kurze Ranken und kleine Kreisformen. Zusätzlich wurde auf f. 1v mit schwarzer Tinte eine Incipit-Initiale gezeichnet, die noch an die romanische Tradition erinnert. Außerdem besitzt die Handschrift eine mittelalterliche Paginierung (235 Seiten). Auf f. 1r befindet sich die Inschrift: Liber Ste Marie Perpetue in Doberan (Abb. 154). Die letzte der mit einer Inschrift versehenen Doberaner Handschriften (Sign. 114/195) beinhaltet die Sermones des
Hl. Augustinus. Sie wurde im 13. Jahrhundert auf 144 Pergamentbögen der Größe 22,5 x 14,5 cm geschrieben21. Die Dekoration besteht aus einigen roten Initialen mit gleichfarbiger Filigranverzierung und acht rot-grün-blauen Initialen. Die schlichten kalligraphischen Verzierungen umfassen einzelne Flügel- und Blumenmotive sowie kleine Trauben, die mit dem Block der Buchstaben verbunden sind und nur leicht seine Kontur überschreiten. In der Handschrift befinden sich zwei Inschriften – die erste Liber Ste Marie in Doberan befindet sich auf f. 37r (Abb. 155), die zweite auf f. 99r lautet: Anno ab incarnatione Domini 1207 intravit frater id est monachus in Doberan (Abb. 156). Erwähnenswert ist auch eine Handschrift, die heute in der Staatsbibliothek in Berlin aufbewahrt wird. Es handelt sich um Vita Sanctorum (Sign. Theol. lat. fol. 482) mit dem Eintrag: Liber Sancte Marie in Doberan. Abbas Conradus libri fecit eum22. Eine weitere Gruppe bilden die Handschriften mit nur mutmaßlicher Doberaner Provenienz. Höchstwahrscheinlich wurden sie importiert. Sie besitzen keine Einträge, die ihre
Doberaner Handschriften in der Bibliothek des Prieserseminars in Pelplin | 187
Abb. 159. Initiale „M“. Handschrift 10/12, f. 111v.
Abb. 160. Initiale „V“. Handschrift 11/25, f. 17r.
ursprüngliche Zugehörigkeit zum Bestand des Mutterklosters bestätigen würden. Unter diesen Büchern befinden sich solche, deren Dekoration noch romanische Formen besitzt: Homiliarius (Sign. 1/2), Kommentar des hl. Ambrosius zu den Briefen des hl. Paulus (Sign. 54/23) und Glossa super Duodecim Prophetas (Sign. 58/55). Das Fragment einer Bibel (Sign. 149/222) besitzt schon die mit dem schlichten grün-blauroten Filigran verzierten Initialen. Typische kalligraphische Verzierungen tauchen in der die Evangelien des Lukas und des Johannes beinhaltenden Bibel (Sign. 13/14) und in den Kommentaren zu den Briefe des hl. Paulus von Petrus Comestor (Sign. 4/8) auf. Es ist zu bemerken, dass die letzte Handschrift mit ihrer Dekoration sich von allen oben genannten unterscheidet. Die Verzierung ist außergewöhnlich sorgfältig und von einem erfahrenen Dekorateur gezeichnet. Der Pelpliner Bestand erfordert noch weitere umfassende Erforschung, die vielleicht in Zukunft weitere Handschriften
aus der vom Mutterkonvent geschenkten ursprünglichen Ausstattung des Pelpliner Klosters zu Tage fördert.
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ABSTRACT The Diocesan library in Pelplin contains several manuscripts which originate from its mother monastery in Doberan. They probably came here with the first monks from Doberan to the newly founded monastery in Pogódki (1258), which moved to Pelphin a few years later (1276). The stock consists of six manuscripts with a definite possession note of Doberan Monastery and seven further handwritings which are classified by research work as originating from Doberan. The article presents the manuscripts and the current state of research.
Abb. 161. Initiale „A“. Handschrift 11/25, f. 96v.
Abb. 162. „I“. Handschrift 11/25, f. 128v.
ANMERKUNGEN 1 2 3
Nach Recherchen des Autors. GóRA 2007, S. 95–158; NADOLNy 2010, S. 13–31. KARłOWSKA-KAMZOWA 1987, S. 375; KARłOWSKA-KAMZOWA 1990, S. 193; NIERZWICKA 2002, S. 170. 4 ROZANOW 1969, S. 36; BłASZCZyK 1981, S. 119. 5 ROZANOW 1969, S. 35; NIERZWICKA 2002, S. 176f.; GóRA 2007, S. 175. 6 NIERZWICKA 2002, S. 170, 176f.; GóRA 2007, S. 175. 7 GRZESZEWSKI 1998, S. 6, 19; GóRA 2007, S. 169. 8 GóRA 2007, S. 169. 9 GRZESZEWSKI 1998, S. 6, 20; NIERZWICKA 2002, S. 170; GóRA 2007, S. 169. 10 GRZESZEWSKI,1998, S. 6, 20. 11 ROZANOW 1969, S. 35–36; GRZESZEWSKI 1998, S. 6; NIERZWICKA 2002 S. 170, 176; GóRA 2007, S. 175.
12 Pseudo Galenus, Prognostica, Biblioteka Uniwersytecka w Toruni, sygn. 12/II; http:// kpbc.umk.pl/dlibra/docmetadata?id=77162& from=publication (28.04.2016). 13 SEńKO 1969, S. 8. 14 Ebd. 15 JAKOBI-MIRWALD 2008, S. 66. 16 STIRNEMANN 1990, S. 61. 17 ROZANOW 1969, S. 35. 18 GRZESZEWSKI 1998, S. 19. 19 GóRA 2007, S. 169. 20 Ebd. S. 19f. 21 Ebd. S. 20. 22 KARłOWSKA-KAMZOWA 1990, S. 372.
Doberaner Handschriften in der Bibliothek des Prieserseminars in Pelplin | 189
DIE MOSAIK-GRABPLATTEN AUS DER ERSTEN HÄLFTE DES 14. JAHRHUNDERTS FÜR DIE FÜRSTEN VON MECKLENBURG IM CHOR DES DOBERANER MÜNSTERS – EINE BESTANDSAUFNAHME CHrIStINe MAGIN
Im Jahr 1844 schrieb Georg Christian Friedrich Lisch (1801–83), herzoglich Mecklenburg-Schwerin’scher Archivar, Bibliothekar und später auch Konservator für die Kunstdenkmäler des Landes, über das Doberaner Münster, in dem er viele Jahre wirken sollte: „Je öfter man die Kirche betrachtet, desto mehr Schönheiten offenbaren sich dem staunenden Auge, welches nimmer satt wird“1. Dass dieses Urteil auch nach mehr als 150 Jahren noch zutrifft, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. Für Heinrich II. mit dem Beinamen „der Löwe“, Fürst von Mecklenburg (†1329), wurde in Doberan ein in höchstem Maße ungewöhnliches Grabmal angefertigt, das, vom Langhaus der Kirche aus betrachtet, links hinter der ersten Stufe des Hochchors liegt (Abb. 164). Da es seit mehr als hundert Jahren durch ein aufklappbares Metallgitter geschützt wird, ist es normalerweise nicht sichtbar und daher nahezu unbekannt geblieben. Bei geöffnetem Gitter ist zu erkennen, dass das Bodenniveau des flachen Grabmals, dessen Untergrund aus festem Sand zu bestehen scheint, etwa 7 cm tiefer liegt als der heutige Fußboden. Die Grababdeckung misst 172 x 90 cm und wurde aus einer Vielzahl von Tonfliesen unterschiedlicher Formate mosaikartig zusammengesetzt2. Zunächst fallen zwei große quadratische Tonplatten oben im Innenfeld auf. Die untere (35 x 35,5 cm Seitenlänge) steht über Eck auf einer Spitze, die obere (34,5 x 34 cm) auf einer Seite. Diese Platten trugen einst ein Relief des fürstlichen Wappens, einen gelehnten Schild mit dem mecklenburgischen Stierkopf und eine
Helmzier, sind heute aber so stark abgetreten, dass nur noch schwache Reste der Reliefumrisse zu erkennen sind. Lisch wagte 1858 einen Rekonstruktionsversuch der oberen Platte, dem zufolge der oben erkennbare Bogen als Umriss der Helmzier, eines Pfauenwedels, gedeutet wird, der sich auf
Abb. 164. Grabplatte für Fürst Heinrich II. von Mecklenburg, mit geöffnetem Schutzgitter
Linke Seite: Abb. 163. Grabplatte für Fürst Heinrich II. von Mecklenburg, Gesamtansicht
dem rechtsgewendeten Helm befand, dessen Visier links unten angedeutet ist, während der Bogen rechts unten zur seitlichen Helmdecke gehörte3. Das Wappen wird von einer Stange getragen, die auf einem schmalen Sockel steht. Die Fliesen der Stange sind mit eingeritztem Blattwerk, die des Sockels mit Maßwerkreliefs dekoriert. Um das Wappen herum liegen zumeist über Eck kleine Fliesen (5–5,5 cm Seitenlänge), die unterschiedlich gestaltet sind: unbearbeitet rot, einfach schwarz, gelb und weiß glasiert oder auch in Inkrustationstechnik mit figürlichen Darstellungen (Hirsche, verschiedene Vögel, Greifen, auch Sterne usw.) versehen (Abb. 165)4. Nicht in allen Fällen sind diese Gestaltungselemente vollständig erhalten. Am Kopfende der Grabplatte liegen zu beiden Seiten der Helmzier zweieinhalb geschlossene Fliesenreihen, die vor allem einfach glasierte oder mit figürlichen Darstellungen versehene Stücke zeigen; darunter ist als eine Art Abschluss eine Reihe von mit eingeritztem Blattwerk verzierten Fliesen angebracht, die jedoch, wie auch das bereits erwähnte Wappenrelief, weitestgehend abgetreten sind. Die Oberfläche der Grabplatte Heinrichs II. wurde also ursprünglich durch Fliesen unterschiedlicher Formate, Farben und Bearbeitungstechniken gegliedert. Sie muss einstmals einen deutlich lebhafteren Eindruck vermittelt haben als heute. Um den Rand der Grabplatte umlaufend ist eine erhaben in vertiefter Zeile ausgeführte Inschrift in gotischer Minuskel zu sehen, die aus 24 teilweise gebrochenen Ziegeln mit querrechteckiger Oberfläche zusammengesetzt ist (H. 6–6,5 cm, Br. 20,5–22 cm, Buchstabenhöhe 4 cm). Die Inschrift ist wie üblich vom Platten-Innenfeld aus zu lesen (Abb. 163). Als Worttrenner sind vierteilige, rautenfömige Blüten zu sehen, die paarweise untereinander stehen;
zwei vertieft geprägte Blütenornamente zieren die Ecken der oberen Schmalseite. Die epigrafische Schriftart der gotischen Minuskel lässt sich im deutschen Sprachraum vereinzelt seit dem frühen 14. Jahrhundert nachweisen. In ihrer späteren, entwickelten Form entspricht sie idealerweise der Textura (Textualis formata) der Buchschrift. Wesentliches Kennzeichen ist die Brechung von Schäften und Bögen, die dieser Schrift in ihrer vollendeten Ausprägung einen gleichförmig-gitterartigen Charakter verleiht. Allerdings werden in der hier vorliegenden frühen gotischen Minuskel die Buchstabenschäfte von i, m, n und u oft noch nicht gebrochen, sondern enden stumpf5. Diese Merkmale zeigt auch die Inschrift für Heinrich II., wo Schaftbrechungen stellenweise (Anno und milleno), aber nicht durchgängig (hin, Demonis, ameN) auftreten. Die rechte u-Haste endet oben stumpf, v und y zeigen gebogene Schräghasten, die oben in einem Quadrangel enden. Auch Bogen-r, rundes s und x weisen noch gerundete oder gebogene Elemente auf. Das Alphabet, aus dem einige der eigenartigen Versalien (Schmuckbuchstaben) stammen, lässt sich indes nicht recht bestimmen (vgl. Abb. 165); nur A, M und H können der gotischen Majuskel zugeordnet werden. Für Inschriften, die in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts ebenfalls bereits in gotischer Minuskel ausgeführt wurden, lassen sich Vergleichsbeispiele etwa aus Schwerin (1314 oder früher) und wohl auch Stralsund (1318 und 1329) anführen6. Angesichts dieser in Stein gehauenen Inschriften spricht nichts dagegen, auch die Doberaner Inschrift für Heinrich II. in sein Todesjahr 1329 (oder bald danach) zu datieren7. Es handelt sich um ein lateinisches Gedicht in zweisilbig leoninisch gereimten Hexametern, deren erster Vers allerdings gestört ist8.
INSCHRIFT A (Abb. 163, 165)9
Abb. 165. Grabplatte für Fürst Heinrich II. von Mecklenburg, obere Schmalseite
192 | Christine Magin
Anno • mil⁞leno • tricen⁞tenoq(ue) • vice⁞a) ⁞ / Natus • vt • ⁞ est • ille • que(m) ⁞ predixere • ⁞ sibille • Dicta ⁞ • die • magne • ⁞ proch • hin • de⁞fungitur • ⁞ agne • Mychil⁞/burgh • prin⁞ceps • que(m) • tris⁞tis • obisse • dolet ⁞ • plebs • Huic • ⁞ / genitrix • cristib) ⁞ • succurrat • ne • ⁞ nece • tristi • ⁞ Demonis • ⁞ artetur ⁞ • s(ed) • iustisc) ⁞ (con)gratuletur • • ⁞ • ameN • a) Zu noueno vgl. unten, S. 195 – b) genitrix • cristi] Ziegel um 180° gedreht. – c) • s(ed) • iustis] Ziegel um 180° gedreht. iustus bei Lisch 1844b, S. 429.
„Im Jahr tausend und dreimal hundert, zwanzig und neun, nachdem jener geboren wurde, den die Sprüche der Sibylle vorhersagten (Christus), am Tag der heiligen Agnes (21. Januar), oh weh, stirbt Hein(rich), Fürst von Mecklenburg, dessen Heimgang das traurige Volk beklagt. Ihm möge die Mutter Christi zu Hilfe kommen, dass er nicht durch den beklagenswerten, mörderischen Zugriff des Teufels bedrängt wird, sondern sich mit den Gerechten freuen kann. Amen“. Die Verse orientieren sich am traditionellen Anno-domini-Formular: Es werden Todesjahr, Todestag, der aus metrischen Gründen zu hin verkürzte Name des Verstorbenen sowie sein Titel genannt. Das Jahr wird unter Rückgriff auf die Weissagungen der antiken Sibyllen – hier der Sibylla Tiburtina – formuliert, die der Legende nach dem heidnischen Kaiser Augustus die Bedeutung der Geburt Christi darlegte10. In der folgenden Fürbitte wird Maria um Beistand ersucht, damit Heinrich „mit den Gerechten“ der Auferstehung teilhaftig werden kann. Heinrich II. wurde im Jahr 1266 geboren und starb am 21. Januar 1329 in Sternberg. Von 1287 bis 1301 oder 1302 war er (Mit-)Regent, danach alleiniger Landesherr in Mecklenburg. Seine Ehefrauen waren Beatrix von Brandenburg und Anna von Sachsen-Wittenberg11. Bereits am Tag nach seinem Tod wurde er in Doberan bestattet12, jedoch nicht in der bereits bestehenden fürstlichen Grabkapelle im nördlichen Querhaus. Bei genauerer Betrachtung seiner Grabinschrift ist zu erkennen, dass der Ziegel noueno aus dunklerem Ton besteht, seine Kanten wesentlich schärfer ausfallen und dass schließlich die Buchstabenhöhe mit 5 cm größer ist als auf den übrigen Ziegeln. Es handelt sich mithin um ein erneuertes Stück. Zahlreiche Fragmente des ursprünglichen Ziegels sind am oberen Ende der linken Langseite nach AmeN in das umlaufende Schriftband eingefügt. Eine weitere Unregelmäßigkeit ist zu beobachten: Zwei Ziegel (genitrix • cristi und s(ed) • iustis) sind um 180° gedreht verlegt, sodass die Buchstaben-Unterlängen nicht in das Innenfeld, sondern zum Rand der Platte weisen. Auf einer von mehreren hölzernen Schrifttafeln, die im nördlichen Seitenschiff der Kirche hängen und teilweise lange lateinische Versinschriften tragen, ist im unteren Bereich erstaunlicherweise auch der Wortlaut der Grabinschrift zu lesen (Abb. 166)13. Dieser Befund lässt sich nicht recht deuten, denn die Entstehungsumstände der Tafeln sind nicht geklärt. Lisch nahm an, der herzogliche Rat, Kanzler und Doktor beider Rechte Nikolaus Marschalk (†1525) habe sie im frühen 16. Jahrhundert auf Betreiben des Herzogs verfasst14. Einer jüngeren Studie zufolge sind als Urheber der Tafeln, die als Epitaphien bezeichnet und ins 15. Jahrhundert datiert
Abb. 166. Schrifttafel im südlichen Seitenschiff
werden, die Mönche anzusehen; unter Marschalk habe bereits eine erste Erneuerung stattgefunden15. Die historische Einordnung der Tafeln wird aus epigrafischer Sicht dadurch erschwert, dass alle Inschriften im Jahr 1750 vollständig in einer manierierten Bandminuskel mit Versalien erneuert wurden16, weshalb paläografische Beobachtungen an der ursprünglichen Schrift nicht mehr möglich sind.
VARIANTE VON INSCHRIFT A: HOLZTAFEL Anno milleno, tricen • vicenque noueno, / Nat(us) ut est ille, que(m) praedixere Sybillae, / Dicta die magnae proh Hin • defu(n)gitur Agnae, / Michilburch pri(n)ceps que(m) tristis obisse dolet plebs, / Huic genitrix Christi saccurrata) ne nece tristi, / Daemonis artetur, sed iustis congratuletur. a) So statt succurrat.
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Sicher ist nur, dass zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Tafel die Grabinschrift entweder im Original sichtbar oder in einer anderen Überlieferungsform verfügbar gewesen sein muss. Der auf der Holztafel gebotene erste Vers (tricen vicenque) weicht ab vom Wortlaut der Grabplatte (tricentenoque vice), ist aber in metrischer Hinsicht einwandfrei17. Der gravierende metrische Verstoß zweier überzähliger Silben im ersten Vers der durchaus anspruchsvollen, metrisch geradezu ehrgeizigen Grabinschrift sowie die Diskrepanz zwischen Tafel und Grabplatte lassen sich bislang nicht erklären18. Allerdings fällt auf, dass ein Ziegel mit eben dieser fraglichen Stelle der Inschrift (tenoque vice) in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht im Kontext der Mosaikgrabplatte, sondern im Erdreich darunter aufgefunden wurde19. Sein Aussehen und die darauf angebrachten Buchstaben unterscheiden sich indes nicht von den übrigen ursprünglichen Ziegeln. Lischs auf dem genannten metrischen Argument beruhende Vermutung, es müsse sich um ein Fragment einer anderen Inschrift handeln, lässt sich also durch Augenschein nicht bestätigen. Weiter rechts im Chor unter einem zweiten Gitter befindet sich eine weitere Grababdeckung. Sie ist wie die Platte für Heinrich aus kleinen quadratischen Tonfliesen zusammengesetzt, es fehlen jedoch Reliefs und ein Wappen (Abb. 168). Um den Rand umlaufend sind zwei Fliesenreihen verlegt; diejenigen der äußeren Reihe stehen auf den Seiten, die der inneren Reihe über Eck auf einer Spitze. Das Innenfeld besteht aus Fliesen, die auf den Seiten stehen und wie diejenigen des Heinrich-Grabmals unbearbeitet, einfach glasiert oder mit figürlichen Darstellungen versehen sind. Die Platte weist jedoch mit 218 x 100 cm deutlich größere Maße als diejenige für Heinrich auf. In der Plattenmitte ist ein Andreaskreuz zu sehen. Weiterhin sind jeweils in die Mitte der oberen und unteren Schmalseite zwei Inschriften eingelassen, die ebenfalls die Frühform der gotischen Minuskel zeigen. Sie sind aus drei (B) bzw. zwei querrechteckigen Fliesen (C) zusammengesetzt, die Worttrenner sind wie auf der Heinrichs-Grabplatte als doppelte Hochpunkte in Form rautenförmiger Blüten ausgeführt und wohl etwas schlichter gestaltet. Die Ziegelmaße gleichen einander und denen der Heinrichs-Grabplatte (H. 6–6,5 cm, Br. 21–21,5 cm). Das Bogen-r ist gerundet, v und w zeigen gebogene Hasten.
INSCHRIFT B (Abb. 167)
vxor • d(omi)ni • ⁞ nicolai • de • ⁞ werle Die Ehefrau des Herrn Nikolaus von Werle.
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INSCHRIFT C (Abb. 169)
[- - -]mena) • quiuis • ⁞ nunc • postul(et) [- - -] a) Statt [—-]men liest LISCH 1844b, S. 430, nunc. Nicht nur die symmetrische Platzierung der Inschriftenreste, sondern auch die Tatsachen, dass die Buchstaben beider Fragmente mit 4–5 cm (B) bzw. 3,5–4 cm (C) unterschiedlich hoch sind und Inschrift B stärker abgetreten ist als C, fallen auf. Beide Beobachtungen deuten darauf hin, dass auch diese zweite Grabplatte nicht mehr im ursprünglichen Zustand erhalten ist, dass die Schriftreste vielmehr zu zwei verschiedenen Inschriften gehörten und in diese Platte integriert wurden. In sprachlicher Hinsicht handelt es sich bei Inschrift B um Prosa. Es wird lediglich der Name des Ehemanns der Verstorbenen angeführt, doch deutet ein vor vxor eingeritztes Gittermuster darauf hin, dass es sich hier tatsächlich um den Anfang des Textes handelt, der somit vollständig überliefert wäre. Inschrift C stellt den Rest eines Hexameters dar, dessen letzter Versfuß fehlt. Vor dem Hochchor des Münsters liegen also zwei unterschiedlich große, aus Tonfliesen verschiedener Größe und Gestaltung zusammengesetzte Grabplatten des frühen 14. Jahrhunderts, an denen in späterer Zeit Veränderungen vorgenommen wurden. Stellt man sich die Aufgabe, der kunstund kulturgeschichtlichen Bedeutung dieser ganz besonderen Grabmalsart im Kontext der zeitgenössischen Sepulkralkultur und der Geschichte des Doberaner Klosters nachzugehen, wird aus der Literatur schnell zweierlei deutlich: zum einen, dass die Platten lange Zeit verdeckt waren und offenbar erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts freigelegt und anschließend hergerichtet wurden20. Zum anderen fand diese besondere Grabmalsart von punktuellen Funden und Beobachtungen abgesehen bisher kaum Beachtung. Im Folgenden sollen daher zunächst die in der Mitte des 19. Jahrhunderts publizierten archäologischen Befunde in Erinnerung gerufen und anschließend einige weiterführende Fragen gestellt werden21. Die beiden Grabstellen wurden 1843 (oder 1842?) bei Erdarbeiten unter Lischs Leitung aufgedeckt. Für den neuen, schweren Steinsarkophag des Vaters von Großherzog Friedrich Franz II. sollte im Chor ein Fundament gelegt werden22. In den Jahrbüchern des Mecklenburgischen Vereins für Geschichte und Altertumskunde 1844 wurden die TonfliesenGrabplatten und die darunter entdeckten Grabstellen das erste Mal beschrieben und erste Schlüsse gezogen. „Im Chor sind drei Grabstätten mit schmalen Ziegeln abgegrenzt“ berichtet Lisch dort23. Ende September 1843 war die Grab-
platte Heinrichs II. „gehoben“ worden24. Zur Inschrift heißt es: „In einer Tiefe von 5 Fuß ward unter jungem Bauschutt der fehlende vierte Stein mit den Buchstaben tenoq(ue) • vice völlig wie neu erhalten gefunden. Der Stein muss also schon Jahrhunderte verschüttet gewesen sein und Marschalk den Inhalt conjecturirt haben, da er die Lesung vicenque hinterlassen hat. – Uebrigens war die Inschrift schon früher gerückt und falsch eingesetzt. Zwei Steine mit den Worten nunc • postulet und nunc • quiuis •, welche nach der neuern Legung an der 4. und 5. Stelle [der Inschrift für Heinrich II., CM] lagen, gehören gar nicht zu dieser Inschrift. – Der Stein 4 noueno war in mehr als 30 Stücke zertreten“. Schon zu Lischs Zeiten lag also mindestens eine der beiden kürzeren Inschriften, aber gewiss auch die Inschrift für Heinrich II. (A) nicht mehr (vollständig) in ihrem ursprünglichen Ziegelverband: 1. Von den 24 Steinen, die den Wortlaut der Heinrichs-Inschrift bilden, war Ziegel 3 (tenoq(ue) • vice) längere Zeit im Erdreich unter der Grabplatte verschüttet. 2. Die beiden Steine des Fragments C waren stattdessen in die obere Schmalseite der Heinrichs-Inschrift eingefügt; dies wohl deshalb, weil 3. der ebenfalls in diese Schriftleiste gehörende Ziegel 4 (noueno) zerborsten war. Die Bruchstücke wurden im Zuge der Bodenuntersuchung nicht beseitigt, sondern wie erwähnt an die linke Langseite im Anschluss an das Ende der Inschrift versetzt25. Um sie zu vervollständigen, ließ Lisch für die obere Schmalseite einen neuen Ziegel anfertigen, dessen Erscheinungsbild von den ursprünglichen Ziegeln nur geringfügig, aber wie bereits erwähnt deutlich genug abweicht (vgl. Abb. 165). Unter der Grabplatte stieß Lisch zunächst auf jüngere Gebeine zahlreicher Verstorbener, sodann auf den trapezförmig gemauerten Sarkophag, der teilweise mit Bauschutt gefüllt war, in dem aber noch ein vollkommen zerfallener hölzerner Innensarg nachgewiesen werden konnte, der die Gebeine Heinrichs barg: „Alles verrieth [...] eine große, kräftige Heldengestalt“26. Südlich im Chor, etwa 180 cm (6 Fuß) vom Grab des Fürsten entfernt, befand sich eine zweite Grabstelle, deren Grabplatte zunächst nur an der oberen Schmalseite auf drei Ziegel verteilt die bereits erwähnte Inschrift B trug. Der zugehörige Ziegel-Sarkophag mit den Gebeinen der Herrin von Werle stand nicht unmittelbar senkrecht darunter, sondern leicht versetzt27. In Lischs Publikationen nach 1843 wurde die bestattete Fürstin als Ehefrau Nikolaus’ I. (†1277) namens Jutta von Anhalt identifiziert, während Ferdinand von Quast die Ehefrauen Nikolaus II. von Werle (†1316), Rixa von Dänemark und Mechthild von Braunschweig-Lüneburg, ins Spiel brachte28. Die neuere Literatur folgt vor allem dieser
zweiten Identifizierung, wobei vielleicht eher an die zweite Gemahlin Mechthild zu denken wäre, da Rixa bereits zwischen 1303 und 1308 verstarb. Die Ehe Mechthilds mit Nikolaus II. wurde 1315 geschlossen29. Bei beiden Herren von Werle, Großvater und Enkel, handelt es sich um entfernte Verwandte Heinrichs II. Auch hinsichtlich der Tonfliesen, ihres Alters, ihrer Ornamente und Vorbilder vertraten Lisch und Quast unterschiedliche Meinungen, die hier jedoch nicht im Detail wiederholt werden sollen30. Zwischen den beiden bislang erwähnten Grabstellen, jedoch weiter östlich und damit näher am Hochaltar, befand sich „eine dritte Grabplatte von kleinen Mosaikziegeln, ohne Inschrift“, unter der keine Bestattung entdeckt wurde31. Dem Quast’schen Beitrag war ein Stahlstich beigegeben, der alle drei Mosaikplatten und einzelne Tonfliesen mit figürlichen
Abb. 167. Grabplatte für eine Herrin von Werle, Ehefrau Nikolaus’ II.(?), obere Schmalseite
Abb. 168. Grabplatte für eine Herrin von Werle, Ehefrau Nikolaus’ II.(?), Gesamtansicht
Abb. 169. Grabplatte für eine Herrin von Werle, Inschriftenfragment an der unteren Schmalseite
Die Mosaik-Grabplatten aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts | 195
Darstellungen erstmals im Bild zeigte (Abb. 170)32. Die dritte Platte ohne Inschrift und Grabstelle wies demzufolge ein über die gesamte Platte sich erstreckendes, aus dunklen Fliesen zusammengesetztes Kreuz auf, unter dessen Armen zwei kleine Andreaskreuze platziert waren. Über die obere Plattenhälfte waren einige dekorierte Fliesen verstreut. Es ist ferner zu erkennen, dass das Inschriftenfragment C, das Lisch zufolge bei der Freilegung im Ziegelverband der Inschrift für Heinrich lag, sich nunmehr am Fußende der WerleGrabplatte befand, wo es auch heute zu sehen ist. Die dritte Grabplatte, die auch im Text erwähnt wird, verschwand später. Im Jahr 1900 heißt es nur noch: „Nicht mehr vorhanden. Man hat die bemalten Steinchen dieser ehemaligen dritten Anlage zu Ergänzungen für die beiden [...] Grabdecken Fürst Heinrich’s des Löwen und der Fürstin von Werle benutzt“33. Beide Grabstellen waren zu dieser Zeit „mit einem neuen Stein bedeckt“34. Die Reduktion von drei auf zwei Mosaikplatten fand 1897 statt, die Anbringung der beiden Schutzgitter erfolgte auf Betreiben Gotthilf Ludwig Möckels, der in der gesamten Kirche zwischen 1880–1900 umfangreiche Sanierungsmaßnahmen durchführte35. Das Bodenniveau im Chor war wahrscheinlich bereits zwischen 1573 und 1587 auf Befehl der Herzogin Elisabeth (1524–86), die sich als Erste in besonderem Maße um die Erhaltung und Neuausstattung der Kirche bemühte, erhöht worden36. Ilka Minneker vermutet, es könnte sich bei der zerstörten dritten Grababdeckung um diejenige für den 1316 verstorbenen Nikolaus II. von Werle gehandelt haben, die sich nicht mehr an ihrer ursprünglichen Position befand, weshalb darunter
Abb. 170. Stich „Ziegelgrabplatten“, aus Quast 1858
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keine Bestattung gefunden wurde. Die Grabstelle könnte sich einst in zentraler Lage vor dem Hochchor, neben der seiner Ehefrau befunden haben; dafür spreche auch die vergleichbare Gestaltung beider Platten37. Quadratische Fliesen, die die gleichen Maße und Darstellungen wie diejenigen der beiden Grabplatten aufweisen, finden sich auch an anderen Stellen im Kirchenfußboden, nämlich konzentriert, aber stark abgetreten, hinter dem Hochaltar ebenso wie im nördlichen Querhaus in der fürstlichen Grabkapelle (sog. Pribislawkapelle) vor dem Altar, dort offenbar ohne Darstellungen. Diese Fliesen wurden auf Veranlassung Lischs zusammengetragen, um sie vor der Vernichtung zu schützen. In der Pribislawkapelle sind zudem sechs größere Ziegel mit gelehnten Schilden und Reliefs des mecklenburgischen Stierkopfes erhalten, deren Maße in drei Fällen denen des Wappenreliefs auf der Grabplatte für Heinrich gleichen und die als Markierungen der in dieser Kapelle in großer Zahl nachgewiesenen Fürstengräber gedeutet werden (Abb. 171)38. Die stellenweise abgetretenen, größtenteils aber intakten Reliefs weisen noch Reste schwarzer und weißer Glasur auf39. Auch in der Kapelle im wenige Kilometer entfernten Althof, wo sich der Zisterzienserkonvent zunächst angesiedelt hatte, sind links und rechts des Altars einige Tonfliesen erhalten, die teilweise den kleinen, glasierten und mit figürlichen Darstellungen geschmückten Fliesen im Münster gleichen. Eine Versinschrift für die Fürstin Woizlawa, die auf Ziegeln in vertiefter gotischer Majuskel ausgeführt und heute mit modernen gemalten Ergänzungen in der Nordwand vermauert ist, sowie einige Ziegel mit ähnlichen Schriftresten außen an der Kapellen-Ostwand weisen darauf hin, dass auch hier fürstliche Bestattungen stattfanden40. Zwar sind diese verschiedenen Überreste in Doberan und Althof noch nicht ausreichend dokumentiert, untersucht und im Zusammenhang mit den Mosaik-Grabplatten betrachtet worden; sie deuten jedoch darauf hin, dass die Verwendung von beschrifteten Ziegeln zur Markierung fürstlicher Grabstätten nicht als Einzelfall anzusehen ist. Die drei Inschriften auf den beiden noch erhaltenen Grabplatten im Chor des Doberaner Münsters für Heinrich II. und die Ehefrau Nikolaus’ (II.) von Werle sind paläografisch in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts bzw. in die Zeit bald nach dem Tod Heinrichs II. (1329) zu datieren. Die für sie angefertigten Inschriften A und B sind wohl vollständig erhalten, Inschrift C kann einer weiteren, verlorenen Mosaikplatte und damit einer dritten bestatteten Person zugeordnet werden. Indes bringt die Zusammensetzung dieser Mosaik-Grabplatten aus Tonfliesen unterschiedlicher Größe
Abb. 171. Wappenreliefs in der fürstlichen Grabkapelle im nördlichen Querhaus
und Gestaltung ein besonderes Überlieferungsproblem mit sich: Die vielen verschiedenen Teile können bei Bau- oder Restaurierungsmaßnahmen dem ursprünglichen Zusammenhang entnommen und neu kombiniert werden, ohne dass ein solcher Eingriff Spuren hinterließe – oder auch gänzlich verloren gehen. Da schriftliche Informationen über die fürstlichen Begräbnisse im Chor und den Zustand der Mosaikgrabplatten vor den 1840er Jahren bislang nicht bekannt sind, bleiben am Ende dieser Bestandsaufnahme viele Fragen offen. Wieviele Grabstellen hat es ursprünglich im Chor gegeben, die durch Mosaikfliesen markiert waren: drei mit Inschriften und eine vierte ohne Inschrift, die im späten 19. Jahrhundert beseitigt wurde? Lassen sich die Veränderungen, die zwischen dem frühen 14. Jahrhundert und dem Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden haben müssen, noch genauer rekonstruieren? Wie lässt sich der gestörte erste Vers in der Inschrift für Heinrich II. erklären? Beide Grabplatten müssen längere Zeit frei zugänglich im Kirchenfußboden gelegen haben, bevor sie zu einem unbekannten Zeitpunkt, vielleicht im späten 16. Jahrhundert, unter dem Fußboden verschwanden und dann 1843 (oder 1842) durch Georg Christian Friedrich Lisch wieder freigelegt wurden. Bergen vielleicht ältere Aufzeichnungen und der Nachlass von Lisch41 weitere Hinweise? Eine kulturgeschichtliche Kontextualisierung der höchst ungewöhnlichen Doberaner Grabplatten im Hinblick auf die Grabmalskultur allgemein, auf künstlerische Konventionen im Zisterzienserorden sowie auf die ordensspezifischen Vorschriften zu Laienbestattungen steht noch aus. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurden fürstliche Bestattungen vor dem Hochchor, nahe dem Hochaltar als liturgischem Zentrum und den davor betenden Mönchen, vorgenommen und durch flache Grabmäler markiert. Man wird nicht fehlgehen, diese besonderen Grabstellen als Auszeichnung des Konvents für Heinrich II. und seine Verwandten zu werten42. In diesem Zusammenhang ist auch von Belang, dass bis zu
den bereits erwähnten Baumaßnahmen des späten 16. Jahrhunderts das Chorgestühl ein Joch weiter östlich begann, also wohl dort, wo sich heute die erste Stufe befindet, und damit den Grabplatten deutlich näher war als heute43. Keine der beiden erhaltenen Mosaikplatten liegt in der Chor-Mittelachse, sondern nördlich und südlich davon. Diese Platzierung im Raum lässt die Rekonstruktion einer dritten Grabstelle in zentraler Position (für Nikolaus II. von Werle?) plausibel erscheinen und könnte auch als Indiz dafür gewertet werden, dass die Vergabe (und Gestaltung?) der dann drei Grabstellen gleichzeitig erfolgte. Bei Inschrift C könnte es sich um den geringen Rest einer vierten Grabplatte handeln. Die Tatsache, dass der schriftlichen Überlieferung zufolge bis zum Todesjahr Heinrichs II. (1329) bereits mehr als zwanzig Mitglieder des Mecklenburger Hauses in Doberan bestattet worden waren44, verdeutlicht, wieviele Grabmäler im Laufe der Jahrhunderte verschwunden sind. In jüngerer Zeit hat sich lediglich Christine Kratzke mit den Doberaner Beispielen näher befasst und dabei sowohl auf deren Bedeutung als auch auf die fehlende Würdigung hingewiesen45. In einer jüngeren kunsthistorischen Untersuchung über Malerei und Plastik im Zisterzienserorden ist etwa zu lesen: „Einen figürlichen Grabstein erhielt er [Heinrich II., CM] jedoch nicht; die Grablege wurde lediglich mit einer flachen, aus schwarzen und rotbraunen Ziegelsteinen zusammengesetzten Platte mit Inschrift und Helmzier kenntlich gemacht“46. Weiterhin datiert die Autorin eines umfassenden Katalogs der mittelalterlichen ornamentierten Bodenfliesen zwar einige ihr aus Abbildungen in der Literatur bekannte Doberaner Beispiele ins erste Viertel des 14. Jahrhunderts, hat die Fliesen aber nie im Original gesehen47. Da das Modellieren, Gestalten, Glasieren und Brennen von Tonfliesen eine aufwändige, kostspielige Technik darstellt48, sind Grababdeckungen, die aus Tonfliesen zusammengesetzt sind, nicht als Denkmäler minderer Kategorie zu klassifizieren. Obwohl nicht mehr in unbeeinträchtigtem Zustand erhalten, lassen
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beide Doberaner Grabmäler noch einen differenzierten Gestaltungswillen erkennen. Für Heinrich II. wurde anspruchsvoller sprachlicher Schmuck, eine Inschrift in lateinischen Hexametern, angefertigt. Darüber hinaus sind nicht nur die Gestaltung und Größe, sondern ist auch der Ort eines Grabmals in einer Kirche von zentraler Bedeutung für seine Wertigkeit in mehrfachem Sinn, für die soziale Position eines Verstorbenen ebenso wie für dessen Präsenz in der Gemeinschaft der Gläubigen49, hier: zwischen dem für das Gebetsgedenken verantwortlichen Zisterzienserkonvent im Westen und dem Hochaltar im Osten. Jedoch scheinen die Überlieferungsbedingungen solcher Grabplatten aufgrund ihrer – verglichen mit Werkstein – fragilen Beschaffenheit schwierig. Nach erhaltenen Vergleichsbeispielen aus dem Gebiet des mittelalterlichen Reichs bleibt zu suchen. Einige Beispiele für Tonfliesen-Grabplatten auf dem Gebiet der heutigen Länder Frankreich (Normandie) und der Schweiz nennt Christine Kratzke, darunter auch mehrfarbige Mosaikgrabplatten mit figürlichen Darstellungen der Verstorbenen50. Grabmäler aus farbigen oder mit Reliefs dekorierten Tonfliesen stellen letztlich vor allem in fertigungstechnischer Hinsicht eine Sonderform des spätmittelalterlichen Schmuckfußbodens dar, wie er sich außer in Doberan auch in anderen Kirchen und Gebäuden Kontinentaleuropas und Englands, möglicherweise gerade in Zisterzienserklöstern, findet51. Für Doberan ist angesichts zahlreicher, über den Bereich der Grabmäler hinaus erhaltener Fliesen nicht auszuschließen, dass der Chorfußboden insgesamt mit Fliesen ausgelegt war. Somit ist auch unklar, ob und inwiefern die Grabplatten sich optisch überhaupt von ihrer Umgebung abhoben: Waren es möglicherweise lediglich die Inschriftenziegel und im Falle Heinrichs II. die Wappenfliesen, die darauf hinwiesen, dass es sich nicht nur um Fußboden, sondern um Grabstellen handelte? Vielleicht konnte auf diese besondere Weise auch den normativen Vorgaben des Ordens Rechnung getragen werden, die möglichst wenig erhabene Grabmäler verlangten, um Vorübergehenden keine Hindernisse zu bie-
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ten52. Handelt es sich um eine vermeintlich schlichte Form des Grabmals, die Laienbestattungen an einem höchst würdigen Ort, vor dem Hochaltar, dem religiös-liturgischen Mittelpunkt der Abteikirche, optisch bestmöglich einzugliedern vermochte?
ABSTRACT The choir of Doberan Minster houses two highly unusual grave slabs which were made in the first half of the 14th century for members of the princely house of Mecklenburg. One monument covers the tomb of Henry II (the Lion) who died in 1329, the other one was probably created for one of the wives of Nicolas II of Werle. They are not made of hewn limestone slabs, but are composed of clay tiles of different sizes and types (untreated, glazed with or without motifs, in relief technique) and show Latin inscriptions in an early form of Gothic minuscule script (littera textualis). In the middle of the 19th century, these grave slabs were excavated in the course of construction measures in the choir area of the church, and subsequently partly complemented and modified. A third grave slab, also uncovered but without inscription, was later removed. Since these monuments, which are probably unique at least within the boundaries of the late medieval empire, are hardly known so far, the objects as well as their inscriptions are described and analyzed in detail. Their present form of appearance, as well as the extent to which changes in the 19th century or those caused by even earlier interventions can be understood, are discussed. In a second step, an attempt is made to offer reflections on the historical and cultural implications of the grave slabs: How is the unusual technique to be explained? Are there comparable tombs in other Cistercian monasteries or in medieval sepulchral culture in general? What is the significance of the burial place which was in itself distinguished by its location within the church?
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LISCH 1844b, S. 408. – Für ausführliche Hinweise vor allem zu den Baumaßnahmen und Veränderungen des 19. Jh., aber auch darüber hinaus, danke ich vielmals Herrn Martin Heider, Kustos des Doberaner Münsters. Bei den auf den folgenden Seiten angegebenen Objektmaßen gilt, dass an erster Stelle die Höhen-, an zweiter Stelle die Breitenmaße genannt werden. Vgl. dazu die Abbildung bei LISCH 1858, S. 348. Die Herstellung inkrustierter Fliesen beschreibt LANDGRAF 1993, Textbd., S. 32–34. Zu den Charakteristika der frühen gotischen Minuskel vgl. DI GREIFSWALD 2009, S. 42. Gemeint ist zunächst die Grabplatte für Bischof Rudolf I. (†1262) im Schweriner Dom. Sie wurde von seinem Nachfolger Rudolf II. in Auftrag gegeben, der 1314 verstarb, woraus sich ein wahrscheinlicher Terminus ante quem ergibt. Zu den Beispielen aus Stralsund, zwei allerdings schlecht erhaltenen Bauinschriften an der Westfassade von St. Nikolai, vgl. DI STRALSUND 2015, Nr. 1, 3. Eines der von Lisch vorgebrachten Argumente, die Inschriften müssten längere Zeit nach dem Tod Heinrichs II. entstanden sein, da in der ersten Hälfte des 14. Jh. die gotische Minuskel noch nicht gebräuchlich gewesen sei, ist somit hinfällig. Vgl. LISCH 1844b, S. 428; auf dieser Grundlage auch SCHLIE 1899, S. 630. Im vierten Vers ist der Reim lediglich einsilbig. Die hier wiedergegebenen Inschriften werden ediert nach den Richtlinien des interakademischen Projekts Die Deutschen Inschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit, siehe Deutsche Inschriften online, http://www.inschriften.net/projekt/ richtlinien/edition.html (III. 3., Textteil; 3.5.2017). Darüber hinaus gilt für den vorliegenden Beitrag, dass die Übergänge von einem Ziegel auf den nächsten durch eine senkrechte, gepunktete Linie (⁞) markiert sind. Für ausführliche Hinweise zur sprachlichen Form der im Folgenden behandelten Inschriften danke ich Prof. Dr. Fidel Rädle, Göttingen, herzlich. Zu den Sibyllenweissagungen im Mittelalter vgl. BISCHOFF 1966, S. 150–171. Zur Vita Fürst Heinrichs II. vgl. THIERFELDER 1969 mit weiterer Literatur. Der Bestattungstag nach MINNEKER 2007, S. 76. Der obere Teil der Tafel mit der Inschrift der Mosaikplatte trägt ein aus 13 Versen bestehendes Gedicht, dessen Wortlaut beispielsweise bei SCHLIE 1899, S. 632, wiedergegeben wird. So LISCH 1844b, S. 429f., dazu SCHLIE 1899, S. 630f. So MINNEKER 2007, S. 78, 117, ohne Angabe von Gründen. Es folgen ebd. S. 117f., weitere Ausführungen zur bildlosen Gestalt und ursprünglichen Funktion der Tafeln, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Fragwürdig erscheint jedoch die stillschweigende Prämisse der Autorin, die jetzige Gestalt der Tafeln entspreche deren ursprünglicher Erscheinungsform. Die Nachricht zur Erneuerung der Tafeln im Jahr 1514 ebd. S. 188; es ist 1514 jedoch nur relativ unspezifisch von epitafien die Rede. Vgl. dazu auch SCHLIE 1899, S. 632. Unter den Versen ist in deutlich kleineren Buchstaben zu lesen: renov(atum) a(nn)o 1750 • regnante s(erenissi)mo Duce Christiano. Ludovico.
17 Eine geringfügig abweichende Version der sechs Verse für Heinrich II. auf der Holztafel bietet KLÜVER 1728, S. 18; eine weitere Fassung bei SCHRöDER 1732–1734, 6. Stück, 1734, S. 323, ebenso bei WESTPHALEN 1745, Sp. 287 (Wortlaut aus Bernhard Latomus, Genealochronicon), und bei KÜHNE 1938, S. 57; eine deutsche Nachdichtung dieser Inschrift ebd., S. 38. 18 Vgl. zur Gestalt des inschriftlich ausgeführten Gedichts auch LISCH 1854b, S. 388f.; dazu QUAST 1858, S. 30f. 19 Vgl. dazu unten, S. 195. 20 Die Grabplatte mit Inschrift B für die Ehefrau des Nikolaus von Werle scheint im 18. Jh. sichtbar gewesen zu sein, da ihr Wortlaut in der Literatur zitiert wird; vgl. dazu unten, Anm. 27. 21 Wahrscheinlich blieben die Grabstellen auch zwischen ihrer Entstehungszeit und der Kampagne Lischs in der Mitte des 19. Jh. nicht unberührt. Darauf deuten einige Beobachtungen Lischs hin, etwa einzelne, tief im Boden aufgefundene Ziegel, die Bestandteile der Inschrift für Heinrich II. waren. Vgl. dazu unten, S. 195. 22 THIELE 2016, S. 297, zufolge fanden die Erdarbeiten im Chor im September 1842 statt. Hingegen schreibt Lisch selbst in seiner ersten, 1844 zu den Neuentdeckungen erschienenen Publikation, er habe am „Ende des Monats September 1843“ im Chor gegraben (LISCH 1844b, S. 429). Wie aus dem Untertitel des genannten Beitrags hervorgeht, wurde dieser „niedergeschrieben in Doberan im August 1843 und revidirt in Doberan im September 1843“. Es ist nicht auszuschließen, dass Lisch seinen Fundbericht bereits unmittelbar im Anschluss an die Erdarbeiten verfasste, sodass beide Ereignisse im September 1843 stattfanden. – Der Sarkophag für Friedrich Franz I. wurde 1976 aus dem Chorbereich entfernt und am westlichen Ende des nördlichen Seitenschiffs aufgestellt (VOSS 2008, S. 134f. Nr. 17). 23 Zu den Grabmälern im Chor siehe LISCH 1844b, S. 428–432, Zitat S. 428. Eine ausführliche Schilderung der Fundumstände auch bei THIELE 2016, S. 297. 24 Ebd. – Aus Lischs detaillierter Beschreibung lässt sich erschließen, dass die Grabplatte für Heinrich II. wohl 1843 nach längerer Zeit erstmals wieder freigelegt wurde. Werke des 18. Jh. erwähnen zwar nicht das Grabmal für Heinrich II., in einem Fall aber ohne weitere Angaben die Inschrift Uxor Domini Nicolai de Werle; vgl. SCHRöDER 1732–1734, 6. Stück, 1734; KLÜVER 1728, hier S. 398. Bereits gut sechzig Jahre früher zitiert der Doberaner Pastor Peter Eddelin den Anfang der Verse für Heinrich II. sowohl im Wortlaut der Inschrift als auch in derjenigen Variante, die die Holztafel bietet. Die kurze Inschrift für die Herrin von Werle war ihm ebenfalls bekannt; zu Eddelin und den verschiedenen Fassungen seiner Memorabilia Doberanensis templi vgl. die Beiträge von Martin Heider und Gerhard Weilandt in diesem Band. 25 Die Frage, was für ein Ziegel sich zuvor an dieser Stelle, hinter ameN, befand, lässt sich nicht beantworten. 26 Zur Bestattung Heinrichs und zu den Maßnahmen Lischs vgl. genauer LISCH 1844b, S. 430f., Zitat S. 430. „[D]ie jungen Gebeine vieler doberaner Einwohner“ über dem Sarkophag werden nur erwähnt bei LISCH 1858, S. 343. 27 Zu dieser zweiten Bestattung und zu den Maßnahmen Lischs vgl. genauer LISCH 1844b, S. 431. 28 Vgl. LISCH 1844b, S. 431, ihn zitierend SCHLIE 1899, S. 633. Dagegen QUAST 1858, S. 31f. – Es existiert eine mit der soeben ge-
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nannten textgleichen Publikation Quasts (ders.: Grabplatten von Ziegeln in der Klosterkirche zu Doberan. Mit einer Tafel in Stahlstich, in: Jahrbücher des Vereins für meklenburgische Geschichte und Alterthumskunde 23, 1858, S. 334–341), die für diesen Beitrag nicht herangezogen wurde. Vgl. KRATZKE 2005b, S. 279; MINNEKER 2007, S. 80f. Vgl. dazu auch die Genealogie der mecklenburgischen Fürsten und Herzöge mit besonderem Fokus auf deren Grabstätten bei Minneker (auf einem separaten Faltblatt). Dazu LISCH 1854a, passim, unter Einbeziehung der Ziegel in der Kapelle in Althof; widersprechend QUAST 1858, S. 29f.; sich wiederum auf Quasts Kritik beziehend LISCH 1858, passim. Zu dieser dritten Grabplatte und den dazu geäußerten Vermutungen vgl. LISCH 1844b, S. 432; QUAST 1858, S. 32f. In einem 1855 entstandenen „Grundriss der Kirche zu Doberan“ sind die drei Grabstellen als Nr. 2, 3 und 4 eingetragen. Der Sarkophag des 1837 verstorbenen Großherzogs Friedrich Franz I. (Nr. 1) stand dazwischen. Vgl. THIELE 2016, S. 56f. QUAST 1858, Abb. nach S. 28. Offenbar bildete dieser Stich auch die Grundlage für die Abbildung der Grabplatten bei SCHLIE 1899, S. 629, einzelne Ziegel sind dort jedoch nicht wiedergegeben. Vgl. auch KRATZKE 2005b, S. 278 Fig. 4. Zitat SCHLIE 1899, S. 634 Anm. 2. Zitat SCHLIE 1899, S. 628. Da Schlie wegen dieser neuen Steine auf den Mosaik-Grabplatten die Grabmäler nicht selbst in Augenschein nehmen konnte, folgte er weitestgehend den Angaben von LISCH 1844b. Dazu THIELE 2016, S. 297. Zu dieser Maßnahme der Herzogin Elisabeth vgl. BAIER 1980, S. 102. Bei THIELE 2016, S. 32–35, ist im Kontext der Ausführungen zum Wirken Elisabeths von einer Erhöhung des Fußbodenniveaus nicht die Rede. Vgl. MINNEKER 2007, S. 79–81, mit Ausführungen zu den umfangreichen Stiftungen Nikolaus’ II. von Werle für Doberan. Diese sechs Fliesen weisen von links nach rechts gezählt die folgenden Maße auf (Höhe mal Breite): 1 u. 5: 37,5 x 35,3 cm, 2–4: 35,5 x 37 cm, 6: 27,5 x 27,5 cm. – Vgl. die Abbildung der Fliesen bei SCHLIE 1899, S. 625. Es heißt dort auch, dass Bernhard Latomus zu Beginn des 17. Jh. noch zwölf Wappenfliesen vorgefunden habe. Zur Fundsituation und zu den Angaben bei Latomus vgl. LISCH 1854b, bes. S. 345, 347, 351f. Zu den Wappenreliefs vgl. auch MINNEKER 2007, S. 59f.; THIELE 2016, S. 284, 286, Abb. 291.1. Drei oder vier Stiere sind mit Halsfell dargestellt. Bei dreien ist das Halsfell sicher zu sehen, unsicher ist jedoch der Befund am relativ stark abgetretenen zweiten Wappen von rechts. Eine detaillierte Beschäftigung mit diesen höchst interessanten Ziegelresten und Inschriften würde sicher lohnen, war aber im Rahmen dieser Studie nicht möglich. Vgl. vorerst LISCH 1837, bes. die Abbildung auf S. 1, dazu S. 28–35; LISCH 1854a, hier v. a. S. 140f., 145; auch SCHLIE 1899, S. 682–685. Aus jüngerer Zeit stammen die knappen Ausführungen von VOSS 2008, S. 110, der hinsichtlich der Fliesen in der Althofer Kapellenwand von „schlichten Bodenfliesen“ spricht, also wohl an eine Mosaikgrabplatte mit umlaufender Inschrift als ursprüngliches Objekt denkt; vgl. ferner LANDGRAF 1993 (Fundortkatalog), S. 63; KRATZKE 2005b, S. 273f.; zu der Woizlava-Inschrift besonders ausführlich jetzt THIELE 2016, S. 374–377. Die Ausführungen bei THIELE 2016, die auch auf einer Auswertung des Nachlasses von Georg Christian Friedrich Lisch beruhen,
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gehen hinsichtlich der Freilegung der Mosaik-Grabplatten im Chor kaum über die von Lisch selbst publizierten Angaben hinaus. In diesem Sinne wird der Bestattungsort Heinrichs II. auch gedeutet bei MINNEKER 2007, S. 77f.; LAABS 2000, S. 112; KRATZKE 2005b, S. 279. Laabs und Minneker bieten eine Zusammenstellung von Heinrichs II. Aufenthalten in und Stiftungen für das Kloster bis hin zu seinem Testament. LAABS 2000, S. 121 schreibt: „Begräbnisse prominenter, zur Familie der Landesherrschaft gehöriger Wohltäter im Chor vor dem Hochaltar [...] gehörten im Orden zu Beginn des 14. Jahrhunderts bereits zur üblichen Praxis.“ Dazu BAIER 1980, S. 102. Ebd. wird als Ergebnis einer 1975 erfolgten Grabung vermerkt, dass das mittelalterliche Fußbodenniveau in der gesamten Kirche das gleiche war. Vgl. dazu MINNEKER 2007 (separates Faltblatt). KRATZKE 2005b, S. 278–283. LAABS 2000, S. 112. Die Angaben bei LANDGRAF 1993 (Fundortkatalog), S. 62, trennen nicht klar zwischen den kleinen Fliesen mit figürlichen Darstellungen und den größeren Relief-Wappenfliesen bzw. zwischen den Fundorten in der fürstlichen Begräbniskapelle und dem Hochchor. Vgl. ebd. die Nummern W 83 und ZG 1 aus der Klosterkirche, die Nummern ZF 1, ZF 3 und ZS 5 aus der Kapelle in Althof. Die Inschriften werden nicht erwähnt. So sinngemäß auch KRATZKE 2005a, S. 280. In diesem Sinne seien hier zwei Zitate aus der Literatur angefügt. In einer Studie zu den Grabmälern der Dominikanerkirche Santa Maria Novella in Florenz heißt es: „[...] ein Flachgrab [konnte] auch durch eine Lage, welche besondere inhaltliche Bezüge schaffte[!], die gesellschaftliche Position des Verstorbenen signalisieren und zum Bezugspunkt memorialer Handlungen werden“; SCHWARTZ 2009, S. 167. Ich danke Frithjof Schwartz, Mainz, für Hinweise zu Mosaikgrabplatten. Bezogen auf Funde in der Normandie werden solche Grabplatten wie folgt charakterisiert: „Cette pratique [...] distingue certains personnages de haute condition sociale, inhumés dans des lieux de culte privilegiés“; BROINE 2003, hier S. 16. Vgl. KRATZKE 2005b, S. 281. Für das Gebiet des mittelalterlichen Reichs wird auf das Kloster Heilsbronn sowie auf den Hamburger Dom verwiesen. Bei den beiden Heilsbronner Beispielen handelt es sich 1. um die nicht erhaltene Grabplatte für Friedrich III. von Hohenzollern, die außer einer Wappenfliese wohl auch eine Inschrift trug, sowie 2. um eine figürliche Grabplatte, die von sekundär[!] dort verlegten Relieffliesen mit figürlichen Darstellungen gerahmt wird; vgl. LANDGRAF 1993 (Fundortkatalog), S. 108f.; dazu Textband, Abb. 154. Zur nicht erhaltenen, prächtigen Tumbenplatte für Papst Benedikt V. im Hamburger Dom vgl. LANDGRAF 1993 (Textband), S. 171f. mit Abb. 173. Kratzke zufolge befanden sich auch im Brandenburger Dom „verschiedene Platten aus Ton, die zu einer Grabplatte komponiert waren“. Für diese Beobachtung (KRATZKE 2005b, S. 281) fehlt jedoch ein Nachweis, bei Landgraf kommt der Fundort Brandenburg nicht vor. – Vgl. zu figürlichen Mosaikgrabplatten des späten 13. und frühen 14. Jh. in der Normandie auch den Katalog ARTS FUNéRAIRES 2003. Zur Bedeutung des Zisterzienserordens für die Produktion und Ausbreitung ornamentierter Bodenfliesen vgl. LANDGRAF 1993 (Textband), S. 72–88. Vgl. dazu die Zusammenstellung relevanter Ordensstatuten bei KRATZKE 2005a, S. 14–16; auch MINNEKER 2007, S. 44–46.
Abb. 172. Mönchsgestühl, Westseite, Nordwange, Detail: Pelikan
DAS DOBERANER OKTOGON – GRABMAL ZWISCHEN DyNASTISCHEM ANSPRUCH UND HEILIGGRABZITAT DIrK SCHUMANN
„Die Grabkapelle hinter dem Hochaltar; ein oktogonaler Freibau in der Art der heiligen Gräber; Arkadenmauerwerk und Balustraden aus Holz geschnitzt in spätgotischen Formen, die das Gewölbe tragenden schwarzen Marmorsäulen haben feine spätromanische Kapitelle; die heraldischen Bestandteile weisen auf E. 15. Jh.“. So lautete die knappe Einschätzung von Georg Dehio für die Ausgabe der deutschen Kunstdenkmäler von 1906 zu einem der ungewöhnlichsten Einbauten der mittelalterlichen norddeutschen Sakralarchitektur1, dessen Funktion und Bedeutung bis heute kontrovers diskutiert wird und dessen genauer Entstehungszeitpunkt und -kontext bisher nicht befriedigend geklärt werden konnten (Abb. 173–175). Im Folgenden soll daher der bauliche Bestand des Doberaner Oktogons noch einmal genauer untersucht und geologische Materialanalysen der Spolien einbezogen werden, um auf dieser Grundlage neue Vorschläge zur Datierung und zum Entstehungskontext des Bauwerks zu machen2. Nur wenige Jahre vor dem Erscheinen von Dehios sachlicher Einschätzung schrieb Friedrich Schlie in dem entsprechenden Band der Kunst- und Geschichtsdenkmäler: „Nur ist viel zu wenig bei dieser Anlage auf die Geschmacklosigkeit, Flüchtigkeit und Unsolidität aufmerksam gemacht worden, die sich in der stil- und verständnislosen Zusammenstoppelung der heterogensten Elemente offenbart“ 3. Die nachträgliche Einzwängung des „Kapellchens“ ist ein zusätzliches Argument für den unvorteilhaften Eindruck der Anlage auch wenn dieser „jetzt, nachdem eine Wiederherstellung stattgehabt hat, weniger schnell empfunden“ wird als früher4. Bereits 1854 hatte Georg Friedrich Lisch anhand des Fundes zweier schwarzer – von ihm als aus Marmor bezeichneter –
Abb. 174. Oktogon vom Binnenchor aus gesehen, heutiger Bestand, Blick von Nordwesten
Linke Seite: Abb. 173. Oktogon vom Chorumgang aus gesehen, heutiger Bestand, Blick von Süden
Säulen und mehrerer entsprechender Fragmente vermutet, dass diese „zu einem und demselben Bau“ gehörten, „welcher nach der Construction ursprünglich ein Achteck überdeckt haben muß, jetzt aber nur etwas mehr als zur Hälfte vorhanden ist“5. Dieser für Lisch hochgradig merkwürdige Bau besitzt Merkmale des „Übergangsstyls“ und weist Bezüge zu Heilig-Grab-Bauten auf. Er muss nach der Weihe der Klosterkirche 1368 angelegt worden sein, da er sich an die Chorpfeiler anlehnt bzw. sich auf dessen Dienste stützt6. Schließlich bringt Lisch den Bau des Oktogons und der darunter befindlichen Gruft mit einer Stiftung der Witwe Herzog Johanns IV. vom 18. Oktober 1422 in Verbindung7. Seiner Meinung nach verdient der Bau, der „bei dem Begräbnisse des Herzogs Albrecht des Schönen im Jahr 1547“ verstümmelt wurde, eine Wiederherstellung „in alter Gestalt“8. Während Georg Friedrich Lisch zu diesem Zeitpunkt noch auf Vermutungen über den Bestand der Grabanlage unter
dem Oktogon angewiesen ist, ergab sich schließlich 1887 die Möglichkeit, den Grabraum in Augenschein zu nehmen, als Baurat Möckel auf allerhöchsten großherzoglichen Befehl den dazugehörigen Zugang öffnete9. Dabei wurde der Gewölberaum aufgenommen (Abb. 178), der dort aufgefundene hölzerne Sarg geöffnet und ein Teil der darin befindlichen Gebeine Herzog Johann Albrecht VII. zugewiesen10. Noch vor dem Druck der Kunst- und Geschichtsdenkmäler des Großherzogthums Mecklenburg-Schwerin vervollständigte und restaurierte Gotthilf Ludwig Möckel im Jahr 1898 das Oktogon, dessen Aufbau seit 1547 nur mehr als Fragment existierte (Abb. 176, 177). Der erste Hinweis auf eine Wiederherstellungsabsicht des Oktogons ist im Kostenvoranschlag vom 30.09.1893 unter der Position acht aufgeführt: „Das Octogon über der Gruft Herzog Albrecht des Schönen, hinter dem Hauptaltar gelegen, zu ergänzen und zu restaurieren, beziehungsweise zu bemalen ca. 2500,- M“11.
Abb. 175. Oktogon vom Chorumgang aus gesehen, heutiger Bestand, Blick von Norden
Abb. 176. Oktogon vom Chorumgang aus gesehen, vor der Rekonstruktion 1898, Blick von Süden
204 | Dirk Schumann
Im Kostenvoranschlag zur „Restauration des Oktogons“ vom 30.12.1896 kalkulierte Möckel zunächst den vollständigen Abbruch der noch vorhandenen mittelalterlichen Teile des Bauwerks12. Offenbar fand aber der durch Herzog Friedrich Franz III. genehmigte Abbruch bei seinem Nachfolger Johann Albrecht keinen Anklang mehr13. Der Kostenvoranschlag zur „Restauration in Vervollständigung des Oktogons“ vom 31.12.1897 plante nun eine Wiederherstellung unter größtmöglicher Beibehaltung der vorhandenen mittelalterlichen Teile, auch wenn sich die Kosten einschließlich der Rekonstruktion der Gewölbe, der Ergänzungen der beschädigten Balustraden und Maßwerkfelder sowie der Restaurierung der an der Ostseite befindlichen Malereien jetzt auf 15000 Mark beliefen14. Das vervollständigte Oktogon ermöglichte – trotz seiner gestalterischen Unwägbarkeiten – eine weitere Annäherung an dessen vielschichtige Funktion und Bedeutung. Zuvor
war Schlie davon ausgegangen, „dass die Sache als Gruftanlage vom Umgang her verstanden sein will“15. Dabei gelangte er in der Datierung weiter als zuvor Lisch, indem er aus der altertümlichen Schildform der Wappen in der oberen Verkleidung des östlichen Oktogonfeldes eine Datierung in das 14. Jahrhundert ableitete. Der Grabbau müsse somit älter sein als die zum Oktogon gehörigen Herzogsdarstellungen und der Zierrat mit dem Wappen der Herzogin Katharina von Sachsen-Lauenburg16. die nach dem Tod ihres Gemahls Herzog Johann IV. für ihren unmündigen Sohn die Regierungsgeschäfte führte. Wie Adolf Friedrich Lorenz folgte später auch Wolfgang Erdmann der These einer Entstehung der unter dem Oktogon befindlichen Gruftanlage für die Bestattung des 1379 verstorbenen Albrecht II.17, während beide ebenso wie Schlie eine zusammenhängende Ausführung des Obergeschosses des Oktogons und der vier gemalten Herzogsdarstellungen
Abb. 177. Oktogon vom Chorumgang aus gesehen, vor der Rekonstruktion 1898, Blick von Norden
Abb. 178. Schnitt durch die Gruft unter dem Oktogon, 1887, Blick nach Süden
Das Doberaner Oktogon – Grabmal zwischen dynastischem Anspruch und Heiliggrabzitat | 205
an der Ostseite des Bauwerks in einer Zeit nach 1422 annahmen. Die Bearbeiter des Handbuchs der Deutschen Kunstdenkmäler entschieden sich für eine vollständige Errichtung des Oktogons ab 142218. Wolfgang Erdmann stellte zudem eine liturgische Verbindung zwischen der Gruft unter dem Oktogon und der Chorscheitelkapelle mit dem dort angenommenen Corpus Christi Altar her, welche sich auch in einer ausgeklügelten Lichtregie äußere19. Ilka Minneker hingegen richtete den Blick wieder verstärkt auf die Bedeutung des Oktogons als Heiliggrabzitat, erinnerte an die Pilgereisen verschiedener mecklenburgischer Herzöge und stellte den Bau damit ebenfalls in einen Zusammenhang mit den vier gemalten Herzogsdarstellungen auf der Ostseite des Oktogons20. Doch anders als die allein aus der Überlieferung bekannten Darstellungen der Schweriner Grafen in der Scheitelkapelle des Schweriner Domes, die im Kontext ihrer dortigen Grabkapelle vor allem der Repräsentation und Legitimation ihres landesherrlichen Anspruchs dienten, zeigen sich die etwas jüngeren Darstellungen der mecklenburgischen Herzöge als Gedächtnisbilder innerhalb einer auf die Heilsgewissheit gerichteten architektonischen Inszenierung21. Noch weiter geht schließlich Annegret Laabs in ihren umfangreichen Überlegungen zum Entstehungszeitpunkt und zur Bedeutung des Oktogons in der Doberaner Klosterkirche, das sie als komplexe Memorialeinrichtung der in der Mitte des 14. Jahrhunderts zu Reichsfürsten aufgestiegenen mecklenburgischen Herzöge sieht, die neben ihren territorialen Zugewinnen schließlich unter Albrecht III. auch noch die schwedische Königskrone erlangten22. Ihr zufolge ist die „politisch-ideologisch aufgeladene Grablege“ mit ihrer Lage am Scheitel des Binnenchores23, wie bereits von Schlie angedeutet, auf einen umfangreichen Publikumsverkehr hin angelegt24. Um von einer einheitlichen Konzeption des gesamten Bauwerks einschließlich des Zierrats bald nach dem Tode Albrechts II. ausgehen zu können25, führte Annegret Laabs allerdings die Anbringung des für Katharina von Sachsen-Lauenburg belegten Wappens in der östlichen Maßwerkbrüstung auf eine 1378 beschlossene, dann aber nicht vollzogene Heirat mit dem Hause Sachsen-Lüneburg zurück26. Dem widersprach wiederum Johannes Voss mit Hilfe stilkritischer Überlegungen zu den vier Fürstendarstellungen sowie zur Darstellung der Heiligen Drei Könige auf der nach Westen gewandten Rückseite des östlichen Brüstungsbrettes27. Schließlich ergeben sich für ihn wieder mindestens zwei Bauphasen der Grabanlage: eine noch vor dem Tod Al-
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brechts II. und eine nach 142228. Zuletzt beschäftigte sich Peter Knüvener mit den stilistischen und handwerklichen Aspekten der Skulptur des Oktogons und näherte sich wiederum dem Ausgangspunkt der kunsthistorischen Beschäftigungen mit der Skulptur des Oktogons an, indem er die Bogenverkleidungen und die Brüstungsfelder in gleicher Weise in eine Zeit „deutlich“ nach 1400 datierte29. Schließlich wies er auf charakteristische Details der Kleidung der südöstlichen Wächterfigur der Bogenverkleidung, die er am ehesten um 1420 entstanden sieht30.
DAS BAUWERK DES „OKTOGONS“ Das sogenannte „Oktogon“ des Doberaner Münsters ist im Kern ein achtseitiger Baldachin, der sich hinter dem Hochaltar im Scheitel des Binnenchores befindet. Eingespannt zwischen das östliche Pfeilerpaar des Binnenpolygons wird das achtteilige Rippengewölbe heute durch vier Säulen getragen, die sich auf der Seite zum Hochaltar auf eine steinerne Brüstung und auf der Seite zum Chorumgang auf das Chorschrankenmauerwerk stützen, welches sich nach innen in einen Altarblock aus Backsteinmauerwerk erweitert. Dabei verfälscht die aktuelle Westansicht des Bauwerks den ursprünglichen Eindruck. Die bereits von Schlie postulierte „Geschmacklosigkeit“31 des Oktogons wurde zuletzt noch einmal von Stefan Thiele aufgegriffen, indem er auf das „Missverhältnis der Säulen zum Gewölbe“ wies32. Tatsächlich lastet heute auf dem 1898 rekonstruierten westlichen Säulenpaar ein massiver, zinnenbekrönter Aufbau, der jedoch ebenfalls kein mittelalterlicher ist, denn der 1898 rekonstruierte Teil der Gewölbekappe dürfte ursprünglich wie an der Ostseite für eine Verblendung mit einem feingliedrigen Zierrat aus Holzschnitzwerk vorgesehen gewesen sein33. Der zum Oktogon gehörige Fußboden (aus kleinteiligen glasierten mittelalterlichen Bodenfliesen) befindet sich genau einen Meter über dem jetzigen Fußboden des Chorumgangs. Der Zugang erfolgt gegenwärtig beidseitig am Hauptaltar vorbei vom Hochchor aus. Konstitutiv für die Ausführung des gesamten Bauwerks ist offenbar eine direkt darunter befindliche gewölbte Grabkammer, die in ihre Länge jedoch über die rekonstruierte Ausdehnung der achtseitigen Laube hinausgeht (Abb. 178, 179), so dass sich die Frage nach dem zeitlichen Zusammenhang von Laube und vorhandener Grabkammer stellt. Hierfür stehen nur die Angaben der letzten öffnung dieser Anlage im Jahr 1887 zur Verfügung, bei der auch ein partielles Aufmaß erfolgte (Abb. 178)34.
Abb. 179. Schnittdarstellung durch das Oktogon und die darunterliegende Grabkammer, Blick nach Süden
Demzufolge war die Grabkammer ein „Gewölbe von ca. 3,55 Meter Länge, 2,35 Meter Breite, 1,10 Meter Höhe“ (im Lichten), deren vorderer Teil fast zur ganzen Höhe „mit einem Schutthaufen“ bedeckt war, während man im „hinteren Theile des Gewölbes auf einen in festen Mauerwerk eingebetteten hölzernen Sarg“ stieß35. Die aus dem Schutt geborgenen Knochen konnten bei der folgenden Begutachtung durch den Rostocker Anatom Albert von Brunn elf oder zehn Individuen im Alter von zwanzig bis sechzig Jahren zugeordnet werden36. Im Sarg befanden sich außer verschiedenen Knochen „am Kopfende neben einander liegend drei menschliche Schädel, davon der mittlere anscheinend größer als die beiden anderen“37. Lisch vermutete unter den im Sarg bestatteten Personen auch Herzog Johann Albrecht VII.38. Aus diesen Angaben lassen sich allerdings keine sicheren Schlüsse auf die Bauzeit sowie mögliche spätere Veränderungen ziehen39. Da es aus statischen Gründen jedoch nicht vorstellbar ist, dass die Grabkammer bereits bei der Errichtung des Oktogons über dieses hinausreichte, dürfte hier eine spätere Veränderung stattgefunden haben, die schließlich auch zum Abbruch des westlichen Teils des Oktogons führte. Wahrscheinlich war die Bestattung Herzog Albrecht VII. im Jahr 1547 der Grund für die Erweiterung der Grabkammer und des Abbruchs der drei westlichen Seiten des Oktogons40. In der Folge führte man einen offenen Bogen aus, der das fragmentierte Oktogon zum Chor hin abstützte.
In dieser Form bestand der Bau bis zur Wiederherstellung im Jahr 1898 (Abb. 177). Der im Zuge der Untersuchung 1887 geöffnete Zugang zur Grabkammer wurde wieder verschlossen und erhielt bei den späteren Restaurierungsarbeiten eine spitzbogige Blende mit einem neu angefertigten Formsteingewände (Abb. 173, 174). Dem Kostenvoranschlag von 1897 zufolge war die vermauerte öffnung „mit einer Kupfer getriebenen Inschriftentafel zu versehen u. Ecken und Bögen stilvoll einzufassen“41. Der heutige Zustand ermöglicht jedoch keine Rückschlüsse auf die ursprüngliche Gestalt sowie auf den Entstehungszeitpunkt42. Möckel datierte das Bauwerk des Oktogons anhand zweier Säulen und der vier spätromanischen Kapitelle (von denen zwei als Basen verwendet sind) in „frühgotische“ Zeit43. Doch wies bereits Georg Christian Friedrich Lisch darauf hin, dass das Oktogon nachträglich in den Zwischenraum zwischen die zwei östlichen Chorpfeiler eingefügt wurde44. Dieser Beobachtung lassen sich trotz zahlreicher Überformungen des 16. Jahrhunderts und der Rekonstruktion von 1898 weitere bauhistorische Beobachtungen zur Seite stellen. Die Aufnahme eines Längsschnittes (Abb. 179) macht deutlich, dass die Umgebung des Bauwerks ursprünglich eine andere Fußbodenhöhe besessen haben muss, die mehr als
Abb. 180. Schnittdarstellung durch das Oktogon und die darunterliegende Grabkammer als Baualtersplan, Blick nach Süden
Das Doberaner Oktogon – Grabmal zwischen dynastischem Anspruch und Heiliggrabzitat | 207
Abb. 181. Grundriss des Oktogons
einen viertel Meter unter dem jetzigen Fußboden des Oktogons lag. Denn der an den Hochaltarblock anschließende Fußboden dürfte sich ursprünglich unter der Sohle eines im Altarblock befindlichen mittelalterlichen Einbauschrankes befunden haben (Abb. 179, 181, 182)45. Da die vorhandene Grabkammer im Bereich des Oktogons jedoch nur die heutigen Fußbodenhöhe zulässt, sind für den Fußboden des Oktogons sowie für den Boden am Hochaltar unterschiedliche Höhen anzunehmen46. Wahrscheinlich musste man zum höhergelegenen Oktogon eine Stufe überwinden. Somit dürfte das Oktogon baulich stärker von der Umgebung separiert gewesen und auch nach Westen als ein abgeschlossenes Bauwerk wahrzunehmen gewesen sein. Interessant ist schließlich der Vergleich der beiden Altarbauwerke (Abb. 183, 184). Der Altarblock des Oktogons wurde offenbar in einem dem Mauerwerk des Hochaltarblocks entsprechenden Mauerverband ausgeführt, bei dem neben den Backsteinformaten auch der verwendete Mörtel und die Fu-
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gengestaltung übereinstimmen47. Schließlich dürfte der Bau des Oktogons überhaupt erst den Grund dafür geliefert haben, dass der Altarblock des Hochaltars an seine heutige Stelle versetzt wurde. Ursprünglich wird der Hochaltar weiter östlich am Rand des Binnenchores gelegen haben, wie es vergleichbare Kirchenbauten mit Kapellenkranz nahelegen: Dort schließt der Hochaltarblock in der Regel direkt an die Chorschranke an, wie es in Doberan heute für den Altarblock des Oktogons der Fall ist. Es wäre plausibel, in der Neuaufstellung des Hochaltarretabels an seinen heutigen Platz auch den Zeitpunkt für die Aufstockung des Hochaltarschreins um ein Geschoss bzw. Register anzunehmen. So weisen die für das neue Geschoss ausgeführten Skulpturen in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts. Schließlich besitzen einige der dazugehörigen Maßwerkmotive Entsprechungen im Schnitzwerk der oberen Verkleidung des Oktogons48. Kunsthistorische Indizien legen jedoch nahe, dass das eingefügte untere Geschoss des Hochaltarretabels dem Schnitzwerk des Oktogons stilistisch vorrausgeht. Der entsprechenden Datierung Peter Knüveners zufolge wäre es sogar denkbar, dass die überlieferte Weihe der Doberaner Klosterkirche von 1368 bereits für das aufgestockte Hochaltarretabel galt, während er für die Wächterfiguren des Oktogons eine Entstehung kaum vor 1400 annahm49. Letztlich muss es für die Verlagerung des Hauptaltares einen wichtigen Grund gegeben haben. Die Konzeption einer herrschaftlichen Grablege, die Gedächtnis und Jenseitsfürsorge in eine direkte räumliche Nähe zum eucharistischen Geschehen bringt, liefert einen solchen Grund. In diesem Sinne war die Rekonstruktion eines Oktogons aus dem vor 1898 vorhandenen polygonalen Bauwerk durchaus folgerichtig. Es war wiederum Lisch, der anhand des Fundes einer Säule sowie mehrerer Säulenfragmente aus schwarzem Gestein (die zudem in den Maßen mit den noch vorhandenen Säulen dieses Bauwerks übereinstimmten) die Existenz eines achtseitigen Bauwerks annahm, dass einst auch auf der Westseite von zwei Säulen getragen wurde50. Letztlich wäre auch aus gewölbestatischen Gründen jede andere Rekonstruktion schwierig. Allerdings muss der mittelalterliche Bau des Oktogons an der Nord- und der Südseite nicht dem geometrischen Ideal gefolgt sein, wie es Möckel rekonstruierte (Abb. 180). Plausibler wäre hier analog zur mittelalterlichen Ostseite ein Anschluss am runden Kantenprofil des Chorpfeilers, das hier die Aufgabe der Säule übernommen hätte, womit der Grundriss des Oktogons etwas in die Länge gezogen worden wäre.
Bei den der Rekonstruktion des Oktogons vorangegangenen Sanierungsarbeiten 1894 und 1893 traten allerdings zwei weitere Bruchstücke der schwarzfarbigen Säulen mit fast identischem Durchmesser auf51, was zu der Frage führt, ob für das Oktogon auch andere Varianten der Rekonstruktion denkbar wären oder ob es noch weitere vergleichbare Innenarchitekturen gegeben haben könnte. Schließlich ist auch eine repräsentative Rahmung der ehemaligen öffnung des Grabraums unter dem Oktogon denkbar, die beim Umbau in der Mitte des 16. Jahrhunderts verloren ging. Wie für die gotische Architektur des Küstenraumes üblich, kamen auch hier schmiedeeiserne Anker zum Einsatz, die die Kämpferpunkte des Gewölbes miteinander verspannten52. Ein abgesägtes Ankereisen im Gewölbezwickel des östlichen mittelalterlichen Kappenmauerwerks belegt, dass es nicht nur die Anker in der Achse der Oktogonseiten gab, sondern auch in der Achse der Gewölberippen (Abb. 192)53. Die Gewölbekappe wird durch ein charakteristisches Rippenprofil des 14. Jahrhunderts mit gespitztem Rundstab und begleitenden Rundstäben getragen (Abb. 193). Auf den drei östlichen Oktogonseiten hat sich eine in Eichenholz geschnitzte aufwendige Verkleidung erhalten, die aus von Maßwerkzierrat durchbrochenen Brüstungsfeldern besteht, die in die Bogenöffnungen eingehängt wurden. Daneben sind die Ansätze der Gewölbekappen durch raumgreifende Bogenarchitekturen verkleidet, die ebenfalls aus Eichenholz bestehen. Während die Brüstungsfelder auch nachträglich in die Bogenöffnungen eingehängt worden sein könnten, zeigt das rohe, in der Ebene verspringende und nicht auf eine Außenansicht gearbeitete Mauerwerk hinter der höl-
zernen Blendarchitektur (Abb. 194), dass es bereits bei der Errichtung auf eine Verkleidung hin ausgeführt worden ist. Demnach ergibt sich aus der Datierung der hölzernen Verkleidung auch eine Datierung für das gesamte Bauwerk. Bereits früh wurde auch ein Zusammenhang des Oktogons mit den Wandmalereien von vier überlebensgroßen Herzogsdarstellungen an den beiden östlichen Pfeilern des Binnenchores angenommen54. Diese sind zum Umgang hin sichtbar an den Außenflächen der Pfeiler übereinander angeordnet und präsentieren sich heute in der vereinheitlichenden Restaurierung der Malereien im Jahr 1899. Es liegt nahe, eine Beziehung der Dargestellten zur Grabanlage zu vermuten, worauf später noch zurückzukommen sein wird.
Abb. 182. Blick in den Einbauschrank unter dem Hochaltarblock
Abb. 183. Altarblock des Oktogons
DIE SPÄTROMANISCHEN KAPITELLE UND SÄULEN DES OKTOGONS – SPOLIEN ALS TRADITIONSBEZUG Ein wichtiges Detail der bei genauerem Blick durchaus als elegant zu bezeichnenden Architektur des Oktogons sind die schlanken schwarzen Säulen sowie deren Sandsteinkapitelle (Abb. 185). Während die beiden westlichen Säulen und ihre Kapitelle bei der Rekonstruktion des Bauwerks 1898 nachgefertigt wurden55, gehören die beiden östlichen Säulen zum originalen Baubestand des Oktogons. Dabei verwendete man außer den Kapitellen im Kämpferbereich jeweils zwei weitere gleichartige Sandsteinkapitelle als Säulenbasis (Abb. 186). Die noch teilweise vorhandene bauzeitliche Mörtelbindung legt nahe, dass dieser Teil des Oktogons (einschließlich des
Das Doberaner Oktogon – Grabmal zwischen dynastischem Anspruch und Heiliggrabzitat | 209
Abb. 184. Altarblock des Hochaltars mit Schranknische
Abb. 185. Oktogon, rückseitig abgearbeitetes nordöstliches Kapitell
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sich auf die zwei Säulen stützenden Teils des Gewölbes) zum mittelalterlichen Originalbestand gehört (Abb. 190, 196). Die vier Sandsteinkapitelle der östlichen Oktogonfassade wurden kelchblockförmig gearbeitet und weisen Variationen eines stilisierten Palmettendekors auf. Alle vier erhaltenen Kapitelle besitzen das gleiche Grundmotiv bei dem das mittlere Blatt einer dreiblättrigen Auffächerung einen volutenförmigen Überschlag und damit zugleich die Kante des Kelchblocks bildet. Charakteristisch für den „Entwicklungsstand“ dieses Kapiteldekors ist die geschwungene Berührung der jeweils äußeren Blätter und dadurch die Überschneidung und Überdeckung weiterer aus dem Halsring wachsender Blätter56. Stilistisch gehört der Kapitelldekor in die Übergangsphase von der Spätromanik zur Frühgotik und besitzt Analogien im rheinisch-westfälischen Raum, in Mitteldeutschland, aber auch vereinzelt in Norddeutschland. Es fällt jedoch auf, dass nicht nur die Kapitelle des Oktogons auf der Innenseite flach abgearbeitet worden sind (Abb. 185), sondern auch die als Basen verwendeten Spolien, auch wenn in späterer Zeit die Halsringe an diesen Stellen jeweils mit Mörtel ergänzt worden sind57. Demnach wurden die Kapitelle nicht erst nachträglich verändert, um beispielsweise ein Retabel dort aufzustellen, sondern sie wiesen diese Veränderung bereits beim Einbau auf. Das könnte auf eine ursprünglich paarweise Verwendung der Spolien als Doppelkapitelle oder aber auch als Zierrat in einer relativ flachen Blende deuten58. Bei den 90 Zentimeter hohen schwarzen Säulen, die sich nach oben leicht verjüngen, handelt es sich geologischen Untersuchungen zufolge um einen Kohlekalk, der im Mittelalter im Raum Namur, um Lüttich, aber auch nahe der Stadt Dinant abgebaut und über Maas und Rhein auch nach Deutschland gelangte59. Aus diesem Material gefertigte Säulen, deren Erscheinung den Eindruck antiker Marmorspolien erweckt, fanden insbesondere im Rheinland bei hochrangigen Bauten als Zierrat Verwendung und wurden von hier aus weiter verbreitet. Dabei hat man diese Dekorationsmotive nicht selten an herrschaftlichen Sakralbauten rezipiert wie bei den repräsentativen Burgkapellen der Thüringer Landgrafen auf der Neuenburg bei Freyburg (Unstrut) und der Runneburg oder auch der Hauptburg der Herren zur Lippe im westfälischen Rheda60. Anregungen aus dieser Richtung kennzeichnen offenbar auch die vier erhaltenen mittelalterlichen Kapitelle des Doberaner Oktogons. Dementsprechend lässt sich an Kapitellen der rheinischen Spätromanik und des benachbarten westfälischen Raums vegetabiler Dekor aufzeigen, der recht ähnliche Motive wie die Doberaner Konsolen aufweist. Aber auch an verschiedenen spätromanischen
Bauten des mitteldeutschen Raumes gibt es Entsprechungen, wie an dem um 1213 unter rheinisch-westfälischen Einfluss begonnenen Neubau des Naumburger Domes oder der um 1220 im Bau befindlichen Chorempore des Magdeburger Domes (dem sog. Bischofsgang)61. Ein prominentes norddeutsches Beispiel führte diesen von spätromanischer rheinischer Architekturgestaltung inspirierten vegetabilen Kapiteldekor regelrecht zu neuer Blüte: Es handelt sich um den konzeptionellen Bau der nördlichen Vorhalle des Lübecker Domes, dessen Errichtung mit der von 1254 bis 1259 dauernden Amtszeit des aus dem Rheinland stammenden Bischofs Johann II. von Diest verbunden wird62. Die hier tätigen Steinmetze entfalteten ein umfangreiches Kapitellrepertoire und verwoben es mit figürlichen Darstellungen63. Die virtuosen vegetabilen Motive bleiben dabei nicht auf Palmetten beschränkt, sondern zeigen Varianten von moderneren Knospenkapitellen, die einer Datierung in die Mitte des 13. Jahrhunderts entsprechen (Abb. 186). Diese qualitätvolle, größtenteils speziell für die jeweilige bauliche Situation angefertigte Bauskulptur spricht für spezialisierte Handwerker, die vor Ort in Lübeck tätig gewesen sein dürften. Das Motiv dunkel gefärbter, wertvoller Säulen wird in den Gewändereihungen des Portals und der Vorlagen regelrecht gesteigert. Dass die Vorhalle des Lübecker Doms in dieser Zeit (Abb. 187, 188) keinesfalls das einzige von rheinischen Vorbildern geprägte Bauvorhaben im norddeutschen Raum ist, zeigt der Neubau des Bremer Domes, wobei es sicher kein Zufall ist, dass diese ambitionierten Bautätigkeiten in die von 1219–1258 reichende Regierungszeit Erzbischof Gerhards II. aus dem Hause der Herren zur Lippe fällt, die in dieser Zeit auch die Doppelkapelle in Rheda
errichteten. Schließlich reichten die Anregungen dieses rheinischen Dekors bis zu den Zieglern, die um 1230 das Südportal der Stadtkirche im mecklenburgischen Gadebusch anfertigten.
Abb. 187. Lübeck, Dom, östliches Kämpferband am Portal der nördlichen Vorhalle
Abb. 188. Lübeck, Dom, westliches Kämpferband am Portal der nördlichen Vorhalle
Abb. 186. Oktogon, als Basis verwendetes Kapitell der nordöstlichen Säule
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Abb. 189. Fragment eines Sandsteinkapitells bzw. einer Sandsteinkonsole
Abb. 190. Detail der Unterkante der südöstlichen Sandsteinkonsole und der Oberkante der Säule
Mit Blick auf diesen Kontext wäre die Vermittlung eines rheinisch geprägten, spätromanischen Kapitelldekors nach Doberan durchaus plausibel, zumal auch in der Backsteinarchitektur des um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Beinhauses des Klosters Doberan Gestaltungsstrategien rheinischer Architekturdetails anklingen. Die Qualität der Ausführung und die feine Variation der Doberaner Konsolen könnten dabei vielleicht auf einen Zusammenhang mit der
Baustelle der Lübecker Domvorhalle weisen. Sicher erscheint jedoch auch mit Blick auf die Vorbilder der Doberaner Kapitelle eine Datierung in die Mitte oder in die Zeit kurz vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, womit es sich bei den Säulen um exklusive Spolien handelt, die beim Bau des Oktogons in konzeptioneller Weise wiederverwendet wurden. Bereits Ludwig Dolberg und Friederich Schlie datierten die Kapitelle in „romanische“ Zeit64. Adolf Friederich Lorenz
Abb. 191. „Balustraden-“ Brett auf der Innenseite mit der Darstellung der Heiligen Drei Könige
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Abb. 192. Oktogon, mittelalterliches Gewölbemauerwerk von oben
vermutete deren Herkunft aus dem ehemaligen östlichen Kreuzgang65, während Wolfgang Erdmann eine umfangreiche Bau- bzw. Ausstattungsphase des Vorgängerbaus der heutigen Klosterkirche für die Anfertigung dieses Zierrats verantwortlich machte66. Passend dazu konnten bei den Restaurierungsarbeiten der Klosterkirche zwischen 1892 und 1894 die Reste verschiedener spätromanischer bzw. frühgotischer Baudetails aufgefunden werden67.
Abb. 193. Detail der Säule mit Kapitell und Eisenanker von innen
Eine andere Überlegung brachte Johannes Voss in die Diskussion ein, indem er auf die Möglichkeit eines Imports von Spolien aus dem Magdeburger Raum verwies, die erst zum Zeitpunkt der Errichtung des Oktogons nach Doberan gelangten68. Der Nachweis von Jarosit in einem aus Doberan stammendenden spätromanischen Kapitellfragment69, dessen Relief mit der Gestaltung der Kapitelle des Oktogons übereinstimmt (Abb. 189), gibt einen deutlichen Hinweis auf den Hildesheimer Raum. Denn das nur im Hildesheimer Rhätsandstein anzutreffende Mineral lässt eine ganze Reihe anderer, in dieser Zeit genutzte Sandsteinlagerstätten in Nordund Mitteldeutschland für deren Herkunft ausscheiden70. Wenn dieser für das Kapitellfragment nachgewiesene Befund auch für die anderen spätromanischen Kapitelle des Oktogons zutrifft71, würde die Bautätigkeiten am Oktogon der Doberaner Klosterkirche in einem anderen Licht erscheinen. Denn der dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg benachbarte Hildesheimer Raum lässt sich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht als bevorzugte Transferregion für künstlerische Einflüsse auf den mecklenburgischen Küstenraum belegen72, so dass auf der Grundlage der geologischen Indizien die These einer bewussten Übernahme von Spolien zum Zeitpunkt der Errichtung des Oktogons stärker in den Mittel-
Abb. 194. Oktogon, an den Chorpfeiler anstoßendes mittelalterliches Gewölbemauerwerk und Rückseite der Maßwerkattika mit eingeklinktem Holz zur Verankerung
Abb. 195. Oktogon, unsauber ausgeführte Kante der Gewölbekappe hinter der hölzernen Verblendung
Das Doberaner Oktogon – Grabmal zwischen dynastischem Anspruch und Heiliggrabzitat | 213
Abb. 196. Detail der Säule mit Kapitell und Eisenanker vom Umgang gesehen
punkt rückt73. Die Kapitelle im Kreuzgang des Hildesheimer Michaelskloster belegen zumindest, dass auch hier die Motive jenes zuvor behandelten charakteristischen, vegetabilen spätromanischen Kapitelldekors Verwendung fanden.
DAS SCHNITZWERK DER HöLZERNEN VERKLEIDUNG – SKULPTURALE BILDWAND UND LANDESHERRLICHES GEDÄCHTNIS Wie sehr der oktogonale Baldachin von vornherein für eine Verblendung gearbeitet worden ist, zeigt das rohe Mauerwerk des Oktogons und seines Gewölbes hinter der hölzernen Verkleidung. Unsaubere Mauerflächen und verspringende Kanten belegen, dass hier kein mittelalterliches Sichtmauerwerk ausgeführt worden ist (Abb. 194) das Bauwerk des
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Baldachins oberhalb der Bogenzwickel offenbar zu keinem Zeitpunkt eine steinsichtige Außenkante besaß. Umso größer ist die Bedeutung der aufwändig aus Eichenholz geschnitzten Verblendungen des Oktogons. Dabei handelt es sich wie erwähnt um zwei konstruktiv voneinander getrennte Arbeiten: die vorgeblendeten Verkleidungen des Bogenmauerwerks (Abb. 173, 195, 202) sowie die in die Bogenöffnungen eingehängten Brüstungsfelder aus durchbrochenem Maßwerkzierrat (Abb. 197, 198), deren mittleres Feld zwei Reihen von Wappenschilden besitzt. Diese Brüstungsfelder wurden aus mehr als einen Meter breiten Eichenbohlen gefertigt und durch schmiedeeiserne Angeln miteinander verbunden, um sie in ihrer Position zu halten. Die Plastizität der raumgreifenden Verkleidungen des oberen Bogenmauerwerks wurde durch das mehrschichtige Aneinanderfügen von Hölzern erreicht. Angesetzte Strebepfeiler und an den beiden Ecken auskragende Baldachine mit eingestellten Skulpturen geben den Blenden die Erscheinung einer anspruchsvollen Miniaturarchitektur. In den beiden gerüsteten Standfiguren mit Schild und Lanze sah Johannes Voss einen Bezug auf die Stiftung von Katharina von Sachsen-Lauenburg – der Gemahlin Johannes IV. Er deutete diese als die beiden Söhne Heinrich IV. und Johann V.74, die als Grabwächter dem Memorialbau Präsenz und Würde verleihen. Die hölzernen Blenden des Oktogons besitzen einen zweizonigen Aufbau. Die eigentlichen Bogenblenden erhielten in den Scheiteln durchbrochene, virtuos gearbeitete Maßwerkschnitzereien. Die darüber sitzende Attika weist ein in seiner Ausführung auffällig zierliches, feingliedrig durchbrochenes Maßwerk auf (Abb. 198). Der Abschluss aus zwei übereinander angeordneten Reihen gebuckelter Blattkrabben ist heute nur noch an der mittleren Blende weitestgehend vorhanden75. Diese Schauwand aus Eichenholz stützt sich auf zwei große hölzerne Kämpferplatten, deren Einzelteile mittels schwalbenschwanzförmiger Überkämmungen das Sandsteinkapitell umlaufen (Abb. 193). Zentrales Motiv und deutlicher Beleg der Memorialfunktion des Bauwerks sind die Wappenschilde, die sich im östlichen Feld und damit im Scheitelbereich der Verkleidung befinden (Abb. 173). Die drei gespitzten Schilde zeigen den mecklenburgischen Stierkopf, den Rostocker Greif und darunter im Bogenscheitel das Wappen der 1358 durch die Mecklenburger Herzöge erworbenen Grafschaf Schwerin76. Mit ihrer gespitzten traditionellen Form heben sich diese Wappenschilde deutlich von den vier, im Brüstungsfeld darunterliegenden Wappenschilden ab, deren Enden weit weniger gespitzt auslaufen. (Abb. 199)77.
Das Maßwerk und der Zierrat, in welche die Wappendarstellungen eingebettet wurden, gehören zu den ambitioniertesten skulpturalen Werken in der Doberaner Klosterkirche. Bereits die Attika zeigt fein ausgearbeitete Motive von radialen oder als Flechtwerk angeordneten Lanzetten, die am nordöstlichen Feld schließlich in Maßwerkrosetten hineinkomponiert wurden. Dabei haben die Schnitzer die kräftigen etwa drei Zentimeter starken Eichenbohlen zu einem feingliedrigen Gitterwerk abgearbeitet. Unterhalb der Reliefs der Bogenverkleidungen entfaltet sich in den Bogenscheiteln weiteres Maßwerk in Rosettenform abwechselnd mit sphärischen Dreiecken. Im südöstlichen Feld erhalten die Lanzetten durch Rotation eine fischblasenförmige Gestalt und geben dem Maßwerk eine eigene Dynamik. Diese erfährt in den Maßwerken der unteren Brüstungsfelder noch eine Steigerung. So zeigt das südöstliche Brüstungsfeld ein regelrechtes Feu-
erwerk an rotierenden Binnenformen. Hier strudeln paarweise gekoppelte, fischblasenförmige Lanzettmotive um einen zentralen Wirbelschneuss und erzeugen so eine außergewöhnliche Wirkung (Abb. 197), wogegen sich die Wiederholung der Maßwerkrosette mit rotierenden Lanzettformen am nordöstlichen Brüstungsbrett fast bescheiden ausnimmt. Obgleich sich hier das Motiv aus der Maßwerkattika wiederholt, unterscheiden sich die oberen Verkleidungen und die unteren Brüstungsbretter. Denn die Brüstungen haben trotz ihrer motivischen Steigerung eine geringere Plastizität. Das gilt vor allem für die Blattkrabben an den Brüstungen, die mit ihren kraterförmigen Vertiefungen eigenartig streng stilisiert erscheinen, während die Krabben am Abschluss der Attika in ihren Buckelungen virtuoser und lebendiger wirken, was zumindest auf eine Ausführung durch unterschiedliche Hände weist (Abb. 197, 198)78.
Abb. 197. Brüstungsbrett auf der Außenseite mit rotierendem Fischblasenmaßwerk
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Abb. 198. Hölzernes Schnitzwerk der Verkleidung mit Maßwerk und Wappen auf der Außenseite
Die Maßwerkmotive sind inspiriert von zisterziensischer Maßwerkkunst, wie sie in den Bauten der Klöster von Salem, Eberbach, Haina und Bebenhausen vorkommen, sie setzen aber auch die Kenntnis und Weiterentwicklung zeitgenössischer Anregungen aus dem Umkreis der Parler voraus79. Mit ihnen werden Maßwerkfigurationen in Verbindung gebracht, in denen eine scheinbare Auflösung der Statik durch dynamische Bewegungsmotive erfolgte und die regelrecht „wuchernde“ Maßwerkvielfalt schließlich zu vorhangartig durchscheinenden Maßwerken führte, die keineswegs nur an Fensteröffnungen gebunden waren80. Solche Gestaltungselemente lassen sich auch an verschiedenen Doberaner Ausstattungsstücken aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts feststellen. Wie sehr die Innovation von Architekturformen vorbildhaft für den Dekor von Ausstattungsstücken werden konnte, zeigen neben den Doberaner Beispielen auch das um 1380 entstandene Gestühl des Bamberger Westchores mit vergleichbaren Maßwerkfigurationen. Dieses dem Parlerumkreis zu-
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geschriebene Gestühl gilt als Bindeglied zum 1541 verbrannten Gestühl des Prager Domes St. Veit, das auf Peter Parler selbst zurückgeht81. Die auffälligen ornamentalen Analogien der Doberaner Maßwerkschnitzereien am Sakramentsturm, am Kreuzaltarschrein, am Untergeschoss des Hochaltarretabels, in den Maßwerken und Zierleisten über dem Chorgestühl des Konventes sowie der Schnitzereien am Oktogon veranlassten Edith Fründt gegenüber der ersten Ausstattungswelle der Doberaner Klosterkirche von einer „zweiten Doberaner Klosterwerkstatt“ zu sprechen, deren phantasievolle Eigenheiten der Maßwerke in gleicher Weise in der Skulptur des sogenannten Grabower Altars des Meisters Bertram anzutreffen seien82. Zwar wäre einschränkend zu bemerken, dass sich in den Doberaner Maßwerkfiguren – nicht zuletzt auch aufgrund der unterschiedlichen Größen und Konzeptionen – nur einzelne detaillierte Übereinstimmungen belegen lassen, doch gibt es in der gesamten Auffassung des Zierrats Entsprechungen,
Abb. 199. Brüstungsbrett auf der Außenseite mit Maßwerk und Wappen
wie in den differenzierten und abgestuften Profilierungen, der Ausführung der architektonischen Details wie der Strebepfeiler oder auch der das Maßwerk begrenzenden Kleeblattbögen, aus deren Enden große Blattkrabben herauswachsen. Im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit dem ehemaligen Hochaltarretabel in der Klosterkirche Arendsee gelang es Lothar Lambacher, die von der vorangegangenen Forschung in einer größeren Werkgruppe verortete Doberaner Skulptur zu differenzieren und verschiedenen Händen zuzuweisen83. Die zuletzt von Peter Knüvener durchgeführte kritische Werkstattanalyse konstatierte zudem deutliche zeitliche Unterschiede zwischen den einzelnen Arbeiten84. Dementsprechend reicht die Spanne der stilistischen Einordnung vom vielleicht schon um 1370 entstandenen Untergeschoss des Hochaltarretabels bis zu den in eine Zeit „deutlich“ nach 1400 zu datierenden Wächterfiguren des Oktogons, wobei er für die nordöstliche Figur die grundsätzliche Frage nach deren mittelalterlicher Entstehung stellt.
Da es sich bei den Schnitzereien durchgehend um Eichenholz handelt, wäre eine dendrochronologische Datierung möglich. Doch konnten bisher keine geeigneten Bereiche gefunden werden, die solche Untersuchungen innerhalb der vorhandenen Bestandssituation aussichtsreich erscheinen lassen85. Die Art der Darstellung sowie Elemente der Rüstung der südöstlichen Wächterfigur (Abb. 202) könnten diese in einen stilistischen und zeitlichen Zusammenhang mit der lebensgroßen Skulptur des 1412 verstorbenen Herzogs und zeitweisen schwedischen Königs Albrechts III. bringen, die sich heute zusammen mit der seiner ersten Frau Richardis auf einem tumbenförmigen Schrein in der südöstlichen Chorkapelle befindet86. Folgt man den zuletzt einhellig geäußerten Überlegungen, dann entstand die Grabskulptur Albrechts III. erst nach 1394 oder vielleicht sogar erst nach dessen Tod im Jahr 141287. In diesem Fall würde die Entstehung der Grabskulptur sowie der Wächterfigur des Oktogons in die Zeit der Ehe Albrechts mit Agnes fallen (Heirat 1396), einer
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Tochter des Herzogs Magnus von Braunschweig, also jener Familienlinie des Welfenhauses 88, die nach dem Aussterben des „alten Hauses“ und dem anschließenden Erbfolgekrieg schließlich seit 1389 neben dem Herzogtum Braunschweig nun auch das Herzogtum Lüneburg regierte. Wie noch auszuführen sein wird, könnte der durch die Brüder von Agnes ausgeübten Regierung im Herzogtum Braunschweig-Lüneburg im Kontext der Entstehung des Oktogons möglicherweise eine Rolle zukommen. Zwar gibt es damit noch kein sicheres Datum für den Beginn der Arbeiten, doch kann eines der in der Scheitelachse befindlichen Wappen als entscheidendes Indiz für den Zeitpunkt der Vollendung des Bauwerkes gewertet werden (Abb. 199). An bedeutender Stelle des Scheitelfeldes des Oktogons (heraldisch rechts) bildet ein dreigeteilter Schild den Auftakt des unteren Wappenfeldes (Abb. 199), dessen Schilde sich in der Form von den traditionelleren Formen der darüberliegenden Wappenschilde absetzen, was auch Hinweis auf eine spätere Datierung sein könnte89. In diesem Schild befinden sich neben dem sächsischen Wappen der Mecklenburger Stierkopf und in einem darunterliegenden Feld zwei Löwen. Bereits 1848 wies Lisch dieses Wappen der Witwe des mecklenburgischen Herzogs Johann IV. – Katharina von Sachsen-Lauenburg – zu, die nach dem Tode Johanns von 1422 bis 1436 die Regierungsgeschäfte in Vormundschaft für ihre beiden minderjährigen Söhne führte90. Dabei verglich er die Wappendarstellung mit dem Siegelbild der Fürstin, das jener exakt entspricht (Abb. 200). Diese Übereinstimmung führte dazu, dass auch folgende Autoren die geschnitzten Blenden sowie die Errichtung des gesamten Oktogons mit der Herzogin Katharina in Verbindung brachten, zumal eine Urkunde für das Jahr 1422 eine Stiftung Katharinas von Vigilien und Seelenmessen sowie eines Gedächt-
Abb. 200. Siegel von Katharina von Sachsen-Lauenburg, Gemahlin Herzog Johanns IV., nach einer Darstellung von Lisch
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nismahls am Todestag ihres verstorbenen Gatten in der Doberaner Klosterkirche überliefert91. Interessant ist dabei die dezidierte Verwendung des offenbar auf Katharinas Mutter zurückgehenden Wappens des Herzogtums Lüneburg92, denn dieses spielt auf die Tatsache an, dass Katharina von Sachsen-Lauenburg auch die Tochter der Schwester von Agnes von Braunschweig-Lüneburg – der Gemahlin Albrechts III. von Mecklenburg war. Annegret Laabs, in deren Arbeit das Oktogon als Grablege der 1348 zu Herzögen und Reichsfürsten gekürten mecklenburgischen Landesherren eine prominente Stelle einnimmt, stellte die Datierung der geschnitzten Brüstungsbretter in die Zeit nach 1422 infrage, da sie davon ausging, dass das mit der Herzogin Katharina in Verbindung gebrachte Wappen dieser von Rechts wegen nicht zustand 93. Deshalb müsse nach anderen fürstlichen Auftraggebern gesucht werden. In der 1378 kurz vor dem Tod des mecklenburgischen Herzogs Albrecht II. stattgefundenen Verlobung Albrechts IV. – einem Enkel Albrechts II. – mit einer Tochter Albrechts von Sachsen-Wittenberg sah sie den passenden Hintergrund für die Anbringung eines Wappens, das sie mit dem Wappen der als Lüneburger Fürsten eingesetzten Herzöge von Sachsen-Wittenberg identifizierte, die auf Wunsch und Vermittlung Kaiser Karls IV. feste Partner einer auf die dänische Königskrone gerichteten Allianz werden sollten94. Allerdings fand diese Hochzeit nie statt, ebenso zerschlugen sich auch die Pläne zur Erlangung der dänischen Königskrone95. Da eine solche Zuordnung des Wappens letztlich die einheitliche Datierung des gesamten Grabmonuments einschließlich des steinernen Baldachins und seiner hölzernen Verblendungen in eine Zeit um 1380 zur Folge hätte, soll die Frage hier noch einmal aufgegriffen werden. Schließlich ist es nicht wahrscheinlich, dass eine Verlobung bereits zu einem eigenen herzoglichen Wappen der Eheanwärterin geführt haben soll und dass die in der Folge nicht vollzogene Ehe und damit auch nicht in Kraft getretene dynastische Verbindung mit den Herzögen von Sachsen-Wittenberg, denen bald darauf auch noch das Fürstentum Lüneburg verlorenging, an so prominenter Stelle dauerhaft erinnert worden sein sollte. Zudem legt eine überlieferte Darstellung der Belehnung der Herzöge von Sachsen-Wittenberg mit dem Fürstentum Lüneburg nahe, dass ihr Wappen des Herzogtums Lüneburg nicht den Welfenlöwen führte (Abb. 201). Aus diesen Gründen sowie auf Grund der Beobachtung kleinerer stilistischer Unterschiede zwischen den geschnitzten Blenden und den Brüstungsfeldern, den differierenden For-
DIE WANDMALEREI DER HERZöGE AN DEN CHORPFEILERN
Abb. 201. Wappen Albrechts von Sachsen-Wittenberg als Herzog von Lüneburg auf der Darstellung der Belehnung mit diesem Fürstentum aus der Lüneburger Sachsenspiegelhandschrift von 1442
men der Wappenschilde oder der Steigerung der Virtuosität der Maßwerkfigurationen innerhalb der Brüstungen erscheint eine spätere Datierung der Brüstungsfelder naheliegender. Da die Wappen des mittleren Brüstungsfeldes tatsächlich mehrfach von der Herzogin Katharina für landesherrliche Urkunden verwendet wurde (Abb. 199)96, nahmen die Zeitgenossen die von Annegret Laabs konstatierte Unrechtmäßigkeit anscheinend nicht als solche wahr. Ob die Anfertigung der Brüstungsfelder zwingend mit der überlieferten Stiftung der Herzogin Katharina verbunden gewesen sein muss, lässt sich mit Blick auf die Urkunde der Stiftung zwar in Frage stellen97, eine Anfertigung bald nach dem Tod Johanns IV. wäre schon anhand der Wappendarstellung plausibel. Schließlich ergäbe in einem solchen Entstehungskontext auch die zeitgleiche Anfertigung der vier überlebensgroßen gemalten Herzogsdarstellungen auf der Umgangsseite der beiden östlichsten Chorpfeiler einen Sinn.
Die vorangegangenen Überlegungen sind nicht ohne Relevanz für die vier ganzfigurigen und überlebensgroßen Darstellungen mecklenburgischer Herzöge, welche so angeordnet sind, „dass sie als zu dem Oktogon in Beziehung stehend erscheinen“98. Die vier gemalten Herzöge befinden sich auf der Ostseite der beiden Scheitelpfeiler des Binnenpolygons, jeweils zwei stehend im oberen und zwei kniend im unteren Register. Sie lassen sich durch die den Dargestellten zugeordneten Beischriften und die Daten ihrer Regierung heute scheinbar eindeutig bestimmen99. Dabei sind die Ergänzungen der Regierungszeiten der mecklenburgischen Herzöge wie auch die gesamte heutige Erscheinung erst ein Ergebnis der Restaurierung im Jahr 1899100. Historische Fotos zeigen den früheren Zustand der Malereien (Abb. 176, 177). Demzufolge waren die beiden oberen Darstellungen vergleichsweise gut erhaltenen, und es hatten sich nur einige Farben alterungsbedingt verändert und waren stark nachgedunkelt101. Die beiden Herzöge des unteren Registers waren hingegen nicht mehr vollständig vorhanden; es fehlten umfangreiche Teile der Unterkörper102. An heraldisch wichtigster Position ist Herzog Albrecht III. zu sehen, der zeitweilig auch schwedischer König war, worauf neben der Königskrone das schwedische Wappen mit den drei Kronen deutet (Abb. 204). Dabei fällt auf, dass hier nicht nur wie bei den drei anderen Fürsten die gesenkte Lanze als Zeichen eines Verstorbenen gezeigt wird103, sondern die Lanze durch ihr Zerbrechen unbrauchbar gemacht wurde, was vielleicht als Anspielung auf Albrechts Verlust des schwedischen Königsthrones zu interpretieren ist104. Er trägt ein modisches Übergewand mit tiefhängenden, gezaddelten Ärmeln sowie einem tief sitzenden Dusing. Das vorgeschobene Bein zeigt einen Plattenpanzer mit spitzer Kniekachel. Unter Albrecht ist sein Bruder Heinrich III. zu sehen, den man bei der Wiederherstellung der Malerei 1899 kniend in gerüsteten Beinen rekonstruierte105. Auch wenn das dazugehörige Gewand durchaus eine entsprechende Form besaß, wurden bei der Restaurierung dieser Figur vor allem im unteren Bereich viele Details ergänzt. Ähnliches lässt sich für den am benachbarten Pfeiler ebenfalls kniend dargestellten Bruder Albrechts, Herzog Magnus I. bemerken, während die darüber befindliche Standfigur Herzogs Johann IV. den Fotos zufolge Ende des 19. Jahrhunderts noch relativ gut erhalten war. Er besitzt einen zeitgemäßen Überrock nach burgundischem Zuschnitt, der nur knapp die Hüften bedeckt und
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Abb. 202. Detail des hölzernen Schnitzwerks der Verkleidung mit Maßwerk auf der Außenseite mit südöstlicher Wächterfigur
Abb. 203. Detail des hölzernen Schnitzwerks der Verkleidung mit Maßwerk auf der Außenseite des Oktogons
ebenfalls mit einem modisch tiefsitzenden Dusing gegürtet ist. Zudem zeichnet diesen Herzog eine mit Federn geschmückte, weit ausladende Kopfbedeckung aus (Abb. 175, 205), deren vielfältige Variationen im Verlauf der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts modebestimmend wurden. Vor der Restaurierung konnte Lisch anhand der ursprünglichen vier Inschriften nur Albrecht III. eindeutig zuordnen106. Bei den anderen inschriftlich mit Johann, Heinrich und Magnus bezeichneten mecklenburgischen Herzögen kam er in zwei Fällen zu einer anderen Auflösung als der, auf die sich die spätere Forschung einigte. Da die Darstellungen „nach dem Style der Malerei und der Buchstaben“ in das 15. Jahrhundert gehören, schlug er für das untere Register Heinrich IV. (1422–1477) und Magnus II. (1477–1503) vor 107. Doch bereits Friedrich Schlie kam zu einem anderen Schluss: „Die Wandgemälde aber, die wir nach den Kostümen nicht
gut über 1440 hinaus datieren dürfen, werden wir ebenfalls als Schöpfungen der Herzogin Katharina anzusehen haben, die noch 1448 am Leben war“108. Demzufolge sieht er in den beiden unteren Herzogsdarstellungen Heinrich III. (1379–1384) und Magnus I. (1383–1384)109, die überdies in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zur Herzogin Katharina standen. Denn neben ihrem Gemahl Johann IV. wären nun auch ihr Schwiegervater Magnus und dessen beide Brüder dargestellt. Für den von Annegret Laabs dargelegten Entstehungskontext des Oktogons müssten die gemalten Darstellungen der vier Landesherren um 1395 ausgeführt worden sein110. Johannes Voss verweist dagegen auf stilistische Zusammenhänge der Wandmalereien mit den um 1410/20 entstandenen Malereien auf dem Doberaner Mühlenretabel und der um 1422 als Grisaille ausgeführten Anbetung der Könige auf der
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Rückseite des östlichen Brüstungsbrettes des Oktogons111. Die in ihren Konturen und den grafischen Schraffuren mit sicherer Hand ausgeführten Grisaillen wurden mit Pinsel auf einem dünnen Kreidegrund aufgetragen (Abb. 189). Dabei hat man diese Malerei an prominenter Stelle jeweils auf der Rückseite der fürstlichen Wappen dieses Brüstungsbrettes platziert. Die daraus resultierende Annahme eines Drei-Königs-Patrozinium für den Altar des Oktogons ließe sich wiederum in einen Zusammenhang mit einer anspruchsvollen fürstlichen Stiftung stellen112. Letztlich bleibt der Nachweis des Altarpatroziniums an die geschnitzten Brüstungsfelder des Oktogons gebunden. Mit der Zuweisung der Wappendarstellung an die Gemahlin Johanns IV., Herzogin Katharina von Sachsen Lauenburg, die 1422 bis 1436 die Regierungsgeschäfte in Vormundschaft für ihre beiden minderjährigen Söhne führte113, wäre eine Vollendung des Oktogons in der Zeit kurz nach 1422 am wahrscheinlichsten. Schließlich entstanden auch die zum Oktogon gehörigen vier überlebensgroßen Herzogsdarstellungen nicht viel früher. Zwar müssen die bei der Restaurierung 1899 vereinheitlichten Malereien nicht zum selben Zeitpunkt und von gleicher Hand ausgeführt worden sein, doch legen die modischen Details der Gewänder und Rüstungen der Fürsten eine relativ einheitliche Entstehung nahe, die eher um 1420 als im späten 14. Jahrhundert anzusiedeln ist.
rakter einer separaten Kapelle besessen hat. Diese dürfte sich baulich ursprünglich weniger zum Hochchor geöffnet haben, als es die Rekonstruktion des Bauwerks aus dem Jahr 1898 nahelegt. Lisch, der nur das Fragment kannte und hier ein ehemals oktogonales Bauwerk rekonstruierte, brachte diesen vermuteten Zentralbau als erster mit der Anlage des Heiligen Grabes in Jerusalem in Verbindung, was in der Folge mehrfach aufgegriffen und architekturikonographisch verdichtet wurde115. Mit den Verweisen auf die frei stehenden HeiligGrab-Anlagen im Konstanzer Münster und im Magdeburger Dom brachte Johannes Voss konkrete Vorbildarchitekturen ins Spiel116, bei denen es sich in ähnlicher Weise um in den Kirchenraum eingestellte, polygonale Miniaturarchitekturen handelt, deren durchbrochene Wandstruktur mittels vielfacher öffnungen als Vergleichsmoment zum Gitterwerk des Doberaner Maßwerks gesehen werden könnte. Allerdings gehen die um 1260 entstandene Konstanzer Heilig-GrabAnlage in ihren zwölf Brechungen und die sogar sechzehnseitige Magdeburger Anlage aus der Zeit um 1230 über das Doberaner Oktogon hinaus (Abb. 206, 207). Jedoch bringen Überlegungen zur ursprünglichen Aufstellung des heute im Magdeburger Domlanghaus befindlichen Heilig-Grab-Baus das Doberaner Oktogon in eine unmittelbare Nähe zum
SCHLUSSBEMERKUNGEN – DIE GRABANLAGE ZWISCHEN DyNASTISCHEM GEDÄCHTNIS UND SAKRALER BEDEUTUNG „Gleich hinter dem hohen Altar in der vorhin erwehnten kleinen Capell stehet/auf einem kleinen Altar/der sogenannte Pitzliputzli (eine kleine Statue aus Holz gehauen noch keine Elle hoch/so mehr einen papistischen Heyligen als einen heydnischen Abgott ähnlich siehet)“114. In den Zeilen der ab 1732 erschienen mecklenburgischen Kirchenhistorie des Dieter Schröder scheint noch die Faszination einer ursprünglichen magischen Bedeutung des Oktogons mitzuschwingen, das in vorreformatorischer Zeit als separater liturgischer Raum fungierte. Denn die Baubefunde des Hauptaltarblockes belegen, dass der Fußboden zwischen diesem Bauwerk und dem Oktogon ursprünglich etwas tiefer gelegen haben muss, womit das Oktogon mit seiner etwa der heutigen Höhe entsprechenden mittelalterlichen Bodenhöhe den Cha-
Abb. 204. Darstellung Albrechts III. auf der südöstlichen Außenseite des Oktogons
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Magdeburger Vorbild117. Demnach könnte die Miniaturarchitektur ursprünglich hinter dem Hochaltar im östlichen Scheitel des Binnenchores des Magdeburger Domes seine Aufstellung gefunden haben und wäre damit auch für eine Verehrung durch ein Laienpublikum zugänglich gewesen. Zur Konzeption der Aufstellung im ab 1209 neuerrichteten Domchor gehörte dabei offenbar der Bezug zum Grab Kaiser Ottos I. in der Mitte des Binnenchores, zum Hochalter sowie zum Grab der Kaiserin Editha in der östlichen Chorscheitelkapelle (Abb. 208), das jüngsten archäologischen Untersuchungen zufolge kein Scheingrab gewesen war, sondern tatsächlich die mutmaßlichen Gebeine der Kaiserin enthielt118. Die axial ausgerichtete Bestattung des Kaiserpaares besaß ihre Pole im Hochchor und in der östlichen Scheitelkapelle. Im Zentrum dieser Achse befanden sich Hochaltar und Heiliges Grab. Sieht man auf die ursprüngliche Gesamtsituation im Doberaner Chor, könnte hier eine vergleichbare Konzeption verwirklicht worden sein, die anders als in Magdeburg jedoch erst das Ergebnis mehrerer aufeinanderfolgender fürstlicher Bestattungen war. Den Ausgangspunkt hierfür könnte die Bestattung Heinrichs II. (1287–1329) im Hohen Chor bilden, in dessen Regierungszeit der Neubau der Doberaner Klosterkirche fiel und der vielleicht auch deshalb diese prominente Grabstelle beanspruchen durfte, die sonst nur Stiftern zustand119. Ihm folgte sein Sohn Albrecht II. in der Herrschaft (ab 1329 unter Vormundschaft, selbständig 1336–1379), der das Ansehen der Mecklenburger Landesherren und das Herrschaftsterritorium vergrößern konnte. 1348 wurden er und sein Bruder durch Kaiser Karl IV. in den Herzogsstand erhoben. 1358 erwarb er für Mecklenburg die Grafschaft Schwerin,
Abb. 205. Darstellung Herzog Johanns IV. auf der nordöstlichen Außenseite des Oktogons
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und 1363 gelang es ihm, seinen Sohn Albrecht III. auf den schwedischen Königsthron zu bringen120. Wegen dieser maßgeblichen Rolle für den Aufstieg der Dynastie sah man in ihm oft den Auslöser für den Bau des Oktogons bzw. der darunter gelegenen Grabanlage121. Dem um 1400 entstandenen Epitaph zufolge soll die Bestattung Albrechts II. retro chorum erfolgt sein122. Zwar kann damit seine Bestattung im Grabgewölbe unter dem Oktogon nicht ausgeschlossen werden, doch in Analogie zu anderen Überlieferungen ist mit dieser Bezeichnung eher eine an den Binnenchor anschließenden Stelle im Chorumgang oder einer dort befindlichen Umgangskapelle gemeint. Letztlich wäre es auch mit Blick auf die Abfolge der Nutzung prominenter Plätze des Kircheninnenraums für Bestattungen folgerichtig, dass die Anlage des Oktogons am Scheitel des Binnenchores erst auf eine Besitznahme der Scheitelkapelle als Grabkapelle folgt, schließlich befand sich hier offenbar ursprünglich auch die Tumba Albrechts III. und seiner Frau Richardis123. Zuvor war es bereits dem aufgestiegenen Geschlecht der Schweriner Grafen gelungen, sich in der prominenten Chorscheitelkapelle des Schweriner Doms bestatten zu lassen124, was der landesherrlichen mecklenburgischen Familie in unmittelbarer Nähe ihres Herrschaftssitzes wie ein Affront vorgekommen sein muss. Auch aus diesem Grund wäre eine Bestattung Albrechts II. in der Doberaner Chorscheitelkapelle nach seinem immensen Zugewinn an Prestige innerhalb des Reiches und dem Erwerb der Grafschaft Schwerin durchaus angemessen125. Das würde schließlich auch erklären, warum dieser bedeutende Landesherr nicht selbst mit einer Darstellung am Oktogon vertreten war. Denn er besaß in der Scheitelkapelle bereits eine eigene Grabkapelle. Wie die Baubefunde wiederum belegen, entstanden das Bauwerk des Oktogons und sein geschnitzter Zierrat (außer den Brüstungsbrettern) sowie die darunter befindliche Grabanlage in einem einheitlichen Baugeschehen126. Schließlich dürfte die Errichtung des Oktogons zugleich Anlass für die Verlegung des Hochaltarblocks an seine heutige Stelle sein. Damit wäre letztlich auch ausgeschlossen, dass sich an der Stelle des Oktogons zuvor eine Gruftanlage für Albrecht II. befand, auf die man erst in einem späteren Baugeschehen eine mit Bogenöffnungen versehene polygonale Zierarchitektur aufsetzte. Folgt man den jüngsten stilistischen Datierungen der Wächterfiguren des Oktogons127, dann lässt sich selbst der geschnitzte Zierrat der Bogenverblendungen schwer vor 1400 vorstellen und wäre vielleicht sogar erst um 1410 zu datieren. Damit ist eine Ausführung und Errichtung des Bauwerks für Albrecht III. wahrscheinlicher. Dabei ist es nicht einmal entscheidend,
Abb. 206. Konstanz, Münster, Heilig-Grab-Anlage, heutiger Bestand, Blick von Nordwesten
Abb. 207. Magdeburg, Dom, Oktogon, Blick von Südwesten
ob das Bauwerk noch vor dem Tod von Albrecht im Jahr 1412 oder erst danach begonnen wurde. Mit Blick auf die niedersächsische Herkunft der Spolien könnte sogar die Frau Albrechts III. aus dem Hause Braunschweig eine treibende Kraft für die neue Grabanlage gewesen sein, da bisher nur ihre Vorgängerin Richardis in der Doberaner Klosterkirche bildlich präsent war128. Mit der Ausführung des Oktogons als Kapelle hinter dem Hochaltar mit eigenem Altar, einer damit verbundenen Liturgie und als Zitat einer Heilig-GrabAnlage, unter der sich die Gruft für die landesherrliche Bestattung befand, erfuhr diese dynastische Grablege eine höchstmögliche sakrale Kodierung. Dem entspricht auch, dass die vom Umgang aus erreichbare herrschaftliche Memorialeinrichtung auf Publikumsverkehr hin angelegt war129, zu deren angemessener Inszenierung
Wolfgang Erdmann zufolge noch eine ausgeklügelte Lichtregie gehörte130. Die auffälligen Übereinstimmungen mit der Konzeption des Magdeburger Kaisergrabes und der dortigen HeiligGrab-Anlage belegen zudem den imperialen Anspruch der Doberaner Grabanlage, welche dem königlichen Rang Albrechts III. dauerhaft Ausdruck verleihen sollte131, auch wenn er den schwedischen Königsthron schon zu Lebzeiten wieder verlor. Mit der Positionierung des Oktogons in der Achse zwischen der Bestattung seines Großvaters im Hochchor und dem angenommenen Grab seines Vaters in der Chorscheitelkapelle präsentiert diese Anlage einen umfassenden dynastischen Familienverbund in dem sie, glaubt man den einige Jahre später entstandenen Herzogsdarstellungen, auch die beiden Brüder Albrechts mit einschließt.
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Diese Konstellation ist wiederum der Ausgangspunkt für die Stiftung der Katharina von Sachsen-Lauenburg, die dafür sorgte, dass nun auch ihr Gemahl Johann IV. in dieser Grabanlage Aufnahme fand und mittels der gemalten Herzogsrepräsentationen zusammen mit seinem Vater Magnus I. und seinen Oheimen Heinrich III. und Albrecht III. auf Augenhöhe präsent war. Aus den historischen Zusammenhängen und den hier vorgelegten bauhistorischen Beobachtungen lassen sich also nicht nur ein baulicher und ein zeitlicher Zusammenhang des Baukörpers des Oktogons und seiner aufwändigen Bogenverkleidungen konstatieren132, sondern auch ein Entstehungszeitraum zwischen 1400 und 1412 ansetzen, während die eingehängten hölzernen Brüstungsfelder und vielleicht auch die vier Darstellungen mecklenburgischer Herzöge erst nach 1422 und damit etwa zehn bis zwanzig Jahre später entstanden133.
Abb. 208. Magdeburg, Dom, Chorgrundriss mit vermuteter Aufstellung des heiligen Grabes in der Achse der Gräber von Otto und Editha
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Damit sind es neben den historischen Indizien auch die stilistischen Details, die nahelegen, dass der Beginn der Arbeiten an diesem Bauwerk erst nach der Eheschließung Albrechts III. mit Agnes von Braunschweig zu datieren ist, wenn der Bau nicht sogar vollständig als eine Stiftung nach dem Tode Albrechts 1412 angesehen werden musst. Die geologische Herkunft der Spolien aus dem Hildesheimer Raum und damit aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg könnte ein Hinweis dafür sein, dass die Konzeption des Oktogons dynastisch noch weitreichender gedacht war als bisher ausgeführt134.. Denn auch wenn den Doberaner Spolien vergleichbare Bauelemente heute noch in Hildesheim existieren wie die Kapitelle im romanischen Kreuzgang des dortigen Michaelsklosters, käme möglicherweise auch noch ein anderer Herkunftsort in Frage. Geht man von einer gezielten Einfuhr von Spolien für den Bau des Oktogons aus135, rückt vor allem ein Bauwerk aus dem ehemaligen Bereich des Herzogtums BraunschweigLüneburg in den Focus. 1371 wurde innerhalb des Lüneburger Erbfolgestreites neben der einstigen Stammburg der Billunger auch das Michaelskloster zerstört, das seit der Mitte des 10. Jahrhunderts im Burggelände auf dem Lüneburger Kalkberg angesiedelt und die Familiengrablege der die Region beherrschenden Billunger und Welfen war. Die heute vollständig verschwundene erste Anlage des äußerst reich ausgestatteten Klosters dürfte unter Verwendung hochwertiger Baumaterialien errichtet worden sein136, wie es heute nur noch eine erhalten antike Marmorsäule belegt, die der Überlieferungstradition zufolge vom Lüneburger Kalkberg stammt137. Das vollständige Fehlen von Baumaterial der ehemaligen Grablege dürfte nicht zuletzt auch ein Hinweis auf deren umfangreiche Wiederverwendung sein. Da jedoch beim Neubau des Michaelsklosters innerhalb der Stadt Lüneburg keine erkennbaren Spolien zur Anwendung kamen, dürften diese an anderer Stelle verwendet worden sein. Dabei handelt es sich bei dem Lüneburger Michelskloster jedoch nicht nur um eine bedeutende dynastische Grablege des benachbarten Herzogtums, sondern hier wurde zunächst der mecklenburgische Fürst und Stifter des Klosters Doberan Pribislaw beigesetzt, der 1178 bei einem Turnier in Lüneburg ums Leben kam. Bevor sein Sohn Borwin I. die Gebeine Klostergründers in das Kloster Doberan überführen ließ138, nahm er 1219 noch eine umfangreiche Stiftung für das Lüneburger Michaelskloster vor139. Mit der Herkunft der 1396 angetrauten zweiten Frau Albrechts III. aus jener Welfenlinie, die sich trotz oder gerade
wegen des Lüneburger Erbfolgekrieges als legitime Nachfolgerin des ausgestorbenen alten Hauses Lüneburg-Braunschweig sah, wäre einen Bezug von Lüneburger Spolien nicht nur denkbar, sondern dieser bekäme eine zusätzliche konzeptionelle Ebene, denn neben dem mecklenburgischen Familiengedächtnis würde auch noch der dynastische Bezug auf die Welfenfamilie als Landesherren der Nachbarregion ein wichtige Rolle spielen. Auf diese Weise würden nun auch die Besonderheiten des am Oktogon angebrachten Wappens der Katharina von Sachsen-Lauenburg verständlicher, da es mit der Einbeziehung des Wappens ihrer Mutter Sophie von Braunschweig dezidiert an diesen Zusammenhang erinnert. Leider wissen wir nicht, ob das Doberaner Oktogon auch als architektonisches Zitat von Teilen der 1371 zerstörten Lüneburger Michaelskirche gesehen werden kann. Am Neubau der in die Stadt verlegten Michaelskirche wurde 1379 nicht nur die Krypta fertiggestellt, sondern es entstanden auch zwei zweigeschossige oktogonale Anbauten, die das Raumgefüge der Krypta vergrößerten140. In der Summe legen die historischen und kunsthistorischen Beobachtungen und Indizien nahe, dass es sich bei der Errichtung des Oktogons um eine Gedächtnisinszenierung für Albrecht III. handelt, die mit der Bestattung von Johann IV. eine Veränderung und Aufwertung erfuhr. Dabei könnten die Ehefrauen der beiden Landesherren nicht unwesentlich an der Gestaltung und inhaltlichen Ausrichtung dieses Bauwerks beteiligt gewesen sein, das neben einer sakralen Einbindung über den Topos den Heiliggrabzitats auch deutliche dynastische Bezüge intendiert. Nicht zuletzt werden anhand
der Herkunft der Spolien Traditionen und Kontexte aufgezeigt, die über Mecklenburg hinausweisen.
ABSTRACT The so called octagon located behind the high altar in the inner choir of the Doberan monastery church is in its present form a reconstruction from the year 1898. Only the eastern part of the complex and the 1899 restored memorial wall paintings depicting four dukes of Mecklenburg are part of the original medieval inventory. The building, designed as a quote from the chapel of the Holy Sepulchre in Jerusalem, was erected above a burial crypt and originally had the character of a separate chapel. During the course of its construction the main altar was moved and its retable was changed. The geological investigation of the fragment of a re-used capital, which corresponds to the spoils at the octagon, points to its origin from the Hildesheim area. The spoils may not even have come from an earlier Romanesque construction phase of the Doberan monastery, but could have been purchased at the time of the construction of the octagon. Perhaps the monastery of St. Michael in Lüneburg, destroyed in 1373 during the Lüneburg War of Succession and completely lost in its building material, played a role in this, because until then it was not only the family sepulture of the houses of the Billungs and Guelphs – the second wife of Albrecht III came from the latter – but also the first burial site of the founder of Doberan Monastery.
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DEHIO 1906, S. 108. Neben den geologischen Materialanalysen von wurden für diese Arbeit vom Autor der Schnitte und der Grundriss aufgemessen, die einen historischen Schnitt der heute verschlossenen Gruftanlage unter dem Oktogon einbeziehen. SCHLIE 1899, S.637f. Ebd., S. 638. LISCH 1854, S. 368. Ebd., S. 369. LISCH 1848, S. 420f. Hier fälschlicherweise als Johann III. bezeichnet. Vgl. THIELE 2016, S. 306. Ebd., S. 371. LHAS, 19.9–5 Nachlass Lisch Nr. 195, Bericht über die öffnung der Gruft vom 17.4.1887. Ebd. LKA Schwerin, FM 98–3, ad 15: „Restauration der Kirche in Doberan und Erhaltung der Denkmale in derselben“. Zusammen mit der Neugestaltung des ehemaligen Grufteingang wurden 2850,- Mark veranschlagt. Vgl. THIELE 2016, S. 311. Die erste Position des Anschlags vom 30.12.1896 führt auf: „2,00 cbmeter Mauerwerk des Bogens zwischen den Chorpfeilern abzubrechen, das Material zu reinigen und bei Seite zu schaffen“. In der folgenden zweiten Position steht: „7,00 cbmeter altes Kreuzgewölbe abzubrechen, die Formsteine der Rippen und Schildbögen […] zur Weiternutzung zu reinigen“ während die Position drei schließlich „2 Stück Säulchen mit Kapitäl und Basis sorgfältig abzunehmen und zur Weiternutzung bei Seite zu legen“ beinhaltet, vgl. Anm. 11. THIELE 2016, S. 312. Wie Anm. 11. SCHLIE 1899, S. 639. SCHLIE 1899, S. 640f. Die Entstehung des unter dem Oktogon befindlichen Grabgewölbes schrieb Schlie dagegen nicht zuletzt mit Hinblick auf die altertümlichen Wappenschilde über der Bogenöffnung im Scheitelfeld des Oktogons bereits der Bestattung Albrechts II. in der Doberaner Klosterkirche im Jahr 1379 zu. Vgl. LORENZ 1958, S. 27 und ERDMANN 1995, S. 75f. DEHIO 1980, S. 69, DEHIO 2000, S. 33, DEHIO 2016, S. 36. ERDMANN 1995, S. 40f und 75f. Vgl. MINNEKER und POECK 1999, S. 31–37. Vgl. MINNEKER 1998, S. 139f. MINNEKER und POECK 1999, S. 35f sowie MINNEKER 2007, S. 152–169. LAABS 2000, S. 161f. Ebd. S. 162. Ebd. S. 165. Ebd. S. 160. Ebd. S. 154f. VOSS 2008, S. 148. Ebd. So auch in: MECKLENBURGISCHES KLOSTERBUCH 2017, S. 268. Vgl. Peter Knüvener in diesem Band. Vgl. Peter Knüvener in diesem Band. SCHLIE 1899, S. 637f. Vgl. THIELE 2016, S. 305. Siehe dazu weiter unten.
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34 Vgl. LHAS, 195, Nachlass Lisch, Bericht über die öffnung der Gruft vom 17.4.1887. 35 Der Schutt enthielt „a: zerbrochene Mauersteinen, b: Bruchstücke von Dachziegeln (sogenannten Mönchen), c: Feldsteine (wie sei zum Pflastern gebraucht werden), d: lose Erde, e: mehr und minder stark vermoderte Bretter von Eichenholz (anscheinend meistens Sargbretter), f: verrostete Nägel, verrostete eiserne Vorreiber und sonstiges verrostetes Eisenzeug, dessen Zweck vorläufig nicht zu bestimmen war, g: Scherben von Fensterglas, teilweise farbig resp. bemalt, h: seidene Bänder und Lagen von Seide, Sammt, vielleicht auch anderen Stoffen, i: Flocken von […]-haar (vielleicht auch Menschenhaar?), k: eine Menge Knochen, anscheinend sämmtlich von menschlichen Gerippen herrührend, darunter mehrere Kinderknochen. […] Nach Entfernung des Schuttes stieß man im hinteren Theile des Gewölbes auf einen in festen Mauerwerk eingebetteten hölzernen Sarg, dessen eingedrückter und am oberen (westlichen) Ende defecter, den Einblick gestattender Deckel 0,84 Meter unter dem Gewölbescheitel lag.“ Ein aus der Westseite der Gruft führender Gang soll bereits vor der Errichtung des westlichen Teils der Gruft bestanden haben, da dieser „sich dem Auge im abgebrochenen Zustande darstellt“ und nach Aussage des Küsters Thiel wahrscheinlich in älteren Zeiten zur Entwässerung der Kirche diente. LHAS, 195, Nachlass Lisch, Bericht über die öffnung der Gruft vom 17.4.1887. Möglicherweise handelt es sich jedoch um einen nachträglich eingebrochenen Gang zur Beraubung der Gruft, da keinerlei Schmuck oder Edelmetallgegenstände gefunden wurden. Vgl. auch Thiele 2016, S. 310f. 36 Vgl. THIELE 2016, S. 311. Ilka Minneker ging 1998 davon aus, dass sich unter den Individuen der Gruft auch Frauen befanden. Vgl. MINNEKER 1998, S. 147 sowie MINNEKER und POECK 1999, S. 32. Die anatomische Ansprache als Gebeine beiderlei Geschlechts trägt der Schwierigkeit Rechnung, zu dieser Zeit einzelnen Knochen einem Geschlecht zuzuordnen. Es müssen sich jedoch nicht zwingend Gebeine weiblicher Individuen darunter befunden haben. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 LHAS, 195, Nachlass Lisch, Bericht über die öffnung der Gruft vom 17.4.1887. 40 Vgl. LISCH 1854, S. 371. 41 Landeskirchliches Archiv Schwerin, Ministerium der Finanzen 98–3, Restauration der Kirche in Doberan und Erhaltung der Denkmale in derselben. 42 Vgl. auch THIELE 2016, S. 310. 43 Ebd., S. 313. 44 Da Lisch von einer Fertigstellung mit der überlieferten Weihe von 1368 ausging, datiert er das Oktogon in spätere Zeit. Vgl. LISCH 1854, S. 368. In der Folge präzisiert sich die Annahme, dass die Grabkammer bereits für Albrecht II. († 1379) entstanden sein könnte. ERDMANN 1995, S. 76. 45 Heute fehlt der Boden des hölzernen Einbauschrankes unter dem Hauptaltar. Damit sich die Tür des Schrankeinbaus überhaupt noch öffnen lässt, hat man sie um 10 bis 20 cm gekürzt. Ursprünglich ging Lisch davon aus, dass man über diese öffnung in der Rückseite des Hauptaltares in die Gruft unter dem Oktogon ge-
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langte. Vgl. Lisch 1854, S. 371. Zum Einbauschrank siehe auch VOSS 2008, S. 41. Dementsprechend besaß der mittelalterliche Bau des Oktogons einen mindestens zwanzig Zentimeter höheren Fußboden als der Bereich hinter dem Hauptaltar. So sind an den originalen mittelalterlichen Bereichen der beiden teilweise später erneuerten Altarbauwerke satteldachförmige, teils bandartige Fugengestaltungen zu erkennen. Die Backsteinformate (28,0–30,0 x 14,0–14,8 x 8,5–9,2 cm) sind in der Tendenz ein wenig breiter aber auch etwas flacher als die Backsteine, die beim Bau der Klosterkirche im späten 13. Jahrhundert verwendet wurden. Vgl. VOSS 2008, S. 127. Vgl. Peter Knüvener in diesem Band. 1853 fand Lisch zusätzlich zu den bereits vorhandenen Säulenfragmenten ein weiteres Fragment dieser Art im „Bauschutte auf dem Gewölbe des Herzog Magnus († 1550)“ im nördlichen Querhausarm. Zusammen ergaben sich aus den Fragmenten zwei Säulen. Vgl. LISCH 1854, S. 367f. Nach Friedrich Schlie wurden zwei weitere, 49 cm und 13 cm lange Säulenfragmente bei Schachtarbeiten am Fundament gefunden, die sich in gleicher Weise ein wenig verjüngten wie die beiden originalen Säulen des Oktogons. Vgl. SCHLIE 1899, S. 564f, Nr. 3 und 4. Vgl. auch THIELE 2016, S. 306. Die Verbindung der Eisenanker liegt offenbar in den oberseitig ausgehöhlten Kapitellen und wird durch diese verdeckt. Heute ist nur noch ein solcher Anker erkennbar. Vgl. LISCH 1848, S. 421f und SCHLIE 1899, S. 638. Den Kostenanschlägen von 1896 und 1897 zufolge sollte Kalkstein für die Kapitelle und Basen verwendet werden. Vgl. LKA Schwerin wie Anm. 11. Die heute vorhandenen Basen und Kapitelle wurden jedoch in Elbsandstein ausgeführt. Vgl. LEHR 2017, S. 5. Vgl. auch WEISE 1960, S. 98f. Diesen Befund belegt auch die geologische Untersuchung. Vgl. LEHR 2017, S. 3. Die vorhandene Farbfassung wurde offenbar erst im Zuge der Restaurierung Ende des 19. Jahrhunderts aufgetragen. Die in der ursprünglichen Seitenlänge etwa 23 Zentimeter messenden Oberkanten der Kapitelle wurden jeweils um etwa 5 Zentimeter abgearbeitet. Vgl. LEHR 2017, S. 4. Ebd. sowie SCHMITT 2013, S. 157f. Für die schwarzen Säulen der Burgkapelle in Rheda findet sich verschiedentlich die Ansprache als Schiefer, die jedoch zu überprüfen wäre. Vgl. DEHIO 1986, S. 480. Vgl. DEHIO 1999, S. 587 sowie FORSTER 2009, S. 91–93. Vgl. GRUSNICK 2014, S. 60. BALZER und BRUNS 1920, S. 44–47. Auch hier erfolgt eine Ansprache der Säulen als Schiefer, die zu überprüfen wäre. Vgl. SCHLIE 1899, S. 638. Vgl. LORENZ 1958, S. 27. Wolfgang Erdmann stellte in Frage, dass es sich bei den Spolien beispielweise um Baudetails des Kapitelsaals gehandelt haben könnte, da dort keinerlei Bautätigkeiten für das 15. Jahrhundert überliefert sind. Vgl. ERDMANN 1995, S. 14. Letztlich gilt diese Argumentation jedoch auch für die Kirche, wenn man nicht davon ausgeht, dass die Bauelemente bereits zuvor als Spolien im Chor verbaut waren. Vgl. auch THIELE 2016, S. 306. Vgl. SCHLIE 1899, S. 564f. Hierunter befindet sich unter der Nummer 41 ein den Säulen des Oktogons entsprechender Schaft, dessen Material hier als schwarzer Basalt angesprochen wurde. Mögli-
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cherweise handelt es sich um jene „vollständig erhaltene“ Säule, die bereits Lisch zusammen mit einem weiteren Fragment hinter dem Altar auffand und deren Material er als schwarzen Marmor bezeichnete. Vgl. Lisch 1854, S. 367. Neben dem kathedralgotischen Neubau der Klosterkirche legen jedoch auch die Befunde der Reste des östlichen Klausurgebäudes ein Umbaugeschehen noch innerhalb des 13. Jahrhunderts nahe. Vgl. BADSTÜBNER und SCHUMANN 2017, S. 60 und Abb. S. 247. VOSS 2014, S. 115. So auch in: MECKLENBURGISCHES KLOSTERBUCH 2017, S. 268. Für eine Herkunft aus Doberan spricht auch die mündliche Überlieferung zu diesem Objekt. Für diesen freundlichen Hinweis danke ich Martin Heider. Vgl. LEHR 2017, S. 5 sowie freundliche Auskunft von Ralf Lehr. Die aus einem Kapitell des Oktogons entnommene Probe war in der Materialmenge zu klein, so dass hier nicht der Nachweis von Jarosit gelang. Das änderte sich möglicherweise bereits im späten 13. Jahrhundert, wenn sich als Gießer der Bronzefünte der Rostocker Marienkirche ein Hildesheimer Gießer nachweisen lässt. Vgl. LEHR 2017, S. 6. Mit Recht hat Stefan Thiele darauf hingewiesen, dass die Säulen nicht erst im 14. Jahrhundert nach Doberan gelangt sein können, wenn sie bei den Bauarbeiten zwischen 1892 und 1894 aus dem Fundamentbereich der Kirche geborgen worden sind. Vgl. THIELE 2016, S. 306. Doch bei genauem Blick auf die Nachricht von Friedrich Schlie sind diese bei Schachtarbeiten am Fundament und nicht unbedingt „im“ Fundament gefunden worden. So könnte sie auch aus benachbarten Auffüllungen stammen. Vgl. SCHLIE 1899, S. 564f, Nr. 3 und 4. Schließlich trat auch ein 1853 von Lisch gefundenes Säulenfragmente dieser Art im „Bauschutte auf dem Gewölbe des Herzog Magnus († 1550)“ im nördlichen Querhausarm auf. Vgl. LISCH 1854, S. 367. VOSS 2008, S. 115. Wolfgang Erdmann zufolge handelte es sich möglicherweise um Ritterheilige. Vgl. ERDMANN 1995, S. 74. Heute gibt es an der südöstlichen Bekrönung noch eine Blattkrabbe. Sie legt nahe, dass ehemals auch auf den anderen flach abschließenden Bogenenden solche Krabben saßen, wie es auch noch die östliche Bekrönung zeigt. Vgl. LISCH 1848, S. 418. Schlie wies auf die altertümliche Form der Schilde, die sich von den vier schräg gestellten Wappenschilden der Brüstung deutlich unterscheiden. Vgl. SCHLIE 1899, S. 639. Für Johannes Voss ist vor allem die stilistische Datierung der Grisaillemalerei mit der Anbetung der Heiligen Drei Könige auf der Rückseite des mittleren Brüstungsfeldes in das erste Viertel des 15. Jahrhunderts ein gewichtiger Grund, von einer späteren Entstehung der Brüstungsfelder auszugehen, worauf noch einzugehen ist. Vgl. VOSS 2008, S. 115f. So auch LAABS 2000, S. 161f. Vgl. CZyMMEK 1978, S. 51. BREUER 1978, S. 355. Vgl. FRÜNDT 1978, S. 539. LAMBACHER 1994, S. 128–133. Vgl. Peter Knüvener in diesem Band. Allerdings zeigen die historischen Fotoaufnahmen des Oktogons aus der Zeit vor der Wiederherstellung und Restaurierung die nördliche Wächterfigur in ihrer heutigen Form. Auch in den 1894 einsetzenden Kostenvoranschlägen gibt es keinen Hinweis auf eine Neuanfertigung dieser Skulptur.
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85 So wurde innerhalb der dem Band vorausgehenden dendrochronologischen Untersuchungen durch Tilo Schöfbeck an verschiedenen Ausstattungsstücken auch eine Datierung des hölzerneren Bestandes des Oktogons überprüft. Doch ist hier eine dendrochronologische Untersuchung offenbar erst nach dem Herauslösen einzelner Hölzer aus dem derzeitigen baulichen Zusammenhang möglich. Demensprechend bleiben die genauen Datierungen der verwendeten Hölzer kommenden Restaurierungen vorbehalten. 86 Zwar handelt es sich beim tumbenförmigen Unterbau um eine Rekonstruktion von 1898, doch legen die Überlieferung und die Befunde offenbar eine ehemals liegende Präsentation der Darstellungen nahe. Vgl. THIELE 2016, S. 300f. 87 Vgl. ERDMANN 1995, S. 76, LAABS 2000, S. 164 sowie VOSS 2008, S. 148. 88 Vgl. FROMM 1875, S. 273–276. 89 Die altertümliche Form der Wappenschilde über der Bogenöffnung im Scheitelfeld des Oktogons sind für Friedrich Schlie ein Hinweis auf deren Zugehörigkeit zur Bestattung Albrechts II. in der Doberaner Klosterkirche im Jahr 1379. Vgl. SCHLIE 1899, S. 639f. 90 Vgl. LISCH 1848, S. 418–423. Zwar bezeichnet Lisch hier fälschlicherweise als Gemahl Katharinas den Herzog Johann III., doch korrigiert sich Lisch später. Siehe LISCH 1868, S. 197–198. 91 Vgl. LISCH 1848, S. 420, SCHLIE 1899, S. 640f sowie LAABS 2000, S. 153. 92 Vgl. LISCH 1868, S. 197–198. Lisch wies zudem darauf hin, dass bei Frauenwappen des 14. Jahrhunderts offenbar die Einbeziehung eines mütterlichen Wappens nicht unüblich war. Ebd. S. 198. 93 LAABS 2000, S. 154. 94 Ebd. 154 und 160f. 95 Ebd. 96 LISCH 1868, S. 197–198. 97 LAABS 2000, S. 153f. 98 Vgl. SCHLIE 1899, S. 638. 99 So erhielt Albrecht nachträglich die Jahreszahlen 1385–1412, Heinrich erhielt die Jahreszahlen 1379–1383, Johann 1384–1422 und Magnus schließlich 1379–1384. 100 Möckels Kostenvoranschlag vom 31.12.1897 verzeichnet unter anderem 2000,- Mark um vier „gemalte Herzogfiguren an der Ostseite der mittleren Chorpfeiler stilvoll und kunstgerecht zu restaurieren“. Vgl. LKA Schwerin, wie Anm. 11. Die tatsächliche Restaurierung erfolgte jedoch erst 1899. Vgl. THIELE 2016, S. 314. 101 SCHLIE 1899, S. 42, sowie auch LAABS 200, S. 117. 102 Vgl. LAABS 2000, S. 156. 103 Die Darstellung mit gesenkter Lanze hebt sich deutlich von den überlieferten Darstellungen der Schweriner Grafen in der Scheitelkapelle des Schweriner Doms ab, die offenbar weniger dem Gedächtnis als vielmehr der Repräsentation- und Legitimation dienen sollten. Vgl. MINNEKER 1998, S. 139f., MINNEKER und POECK 1999, S. 35f sowie MINNEKER 2007, S. 152–169. Vgl. auch DEHIO 2017, S. 36 sowie VOSS, S. 116. 104 Vgl. LAABS 2000, S. 167. 105 Vgl. THIELE 2016, S. 314. Voss setzt das kniende Motiv in Bezug zur Anbetungsszene auf der Rückseite der mittleren Brüstungstafel. Vgl. VOSS 2008, S. 148. 106 Er löste die Inschrift wie folgt auf: „konig.albrecht.von.swe [den.hert]eghe.[to.mecke]lenborch“. LISCH 1848, S. 422. 107 Zwar schreibt Lisch Heinrich III., lässt anhand der Regierungszeiten jedoch keine Zweifel, dass Heinrich IV. gemeint ist. Einen
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ähnlichen Irrtum beging Lisch bei Johann den IV., den er hier fälschlicherweise als Johann III. bezeichnet, sich jedoch später korrigierte. Vgl. LISCH 1848, S. 422. 108 SCHLIE 1899, S. 41. 109 SCHLIE 1899, S. 42. Er weist darauf hin, dass bereits Drost von Bülow in einem Schreiben an die Großherzogliche Kommission zur Erhaltung der Denkmäler diese von Lisch abweichende Zuordnung vertrat. 110 Vgl. LAABS 2000, S. 158 und 164. 111 VOSS 2008, S. 78, 115f, 139 und 148. 112 Zur Annahme eines Dreikönigsaltares zuerst LISCH 1848, S. 418– 423 und LISCH 1854, S. 371, siehe auch LAABS 2000, S. 160f und VOSS 2008, S. 78. 113 Vgl. LISCH 1848, S. 418–423. Zwar bezeichnet Lisch hier fälschlicherweise als Gemahl Katharinas den Herzog Johann III., doch korrigiert er sich später. Siehe LISCH 1868, S. 197–198. 114 SCHRöDER 1734, VI, S. 318. 115 LISCH 1854, S. 369. Ilka Minneker stellt das Oktogon als Heiliggrabzitat in das Zentrum einer auf die Heilsgewissheit gerichteten Gedächtnisinszenierung der mecklenburgischen Herzogsfamilie. Vgl. MINNEKER 1998, S. 139f, MINNEKER und POECK 1999, S. 35f sowie MINNEKER 2007, S. 152–169. 116 Vgl. VOSS 2008, S. 148. 117 Zusammenfassend in: PÄFFGEN 2009, S. 205f. 118 Vgl. KUHN 2009, S. 49. 119 Siehe dazu auch VOSS 2008, S. 22–30 und 110. 120 FROMM 1875 b, S. 271–273. 121 So SCHLIE 1899, S. 642. Adolf Friedrich Lorenz und Wolfgang Erdmann folgten Schlies These einer Entstehung der unter dem Oktogon befindlichen Gruftanlage für die Bestattung des 1379 verstorbenen Albrecht II. Vgl. LORENZ 1958, S. 27 und ERDMANN 1995, S. 75f. Auch für Johannes Voss ergeben sich wieder mindestens zwei Bauphasen der Grabanlage: eine noch vor dem Tod Albrechts II. und eine nach 1422. Vgl. VOSS 2008, S. 148. Noch weiter ging schließlich Annegret Laabs, die eine einheitliche Konzeption des gesamten Bauwerks einschließlich des Zierrats bald nach dem Tode Albrechts II. annahm. LAABS 2000, S. 160f. 122 Vgl. ERDMANN 1995, S. 76. So auch LAABS 2000, S. 154. 123 So weist Annegret Laabs auf mehrere Indizien, die eine Bestattung Albrechts II. in der Scheitelkapelle nahelegen könnten. Vgl. LAABS 2000, S. 157f. Vgl. auch VOSS 2009, S. 112. 124 Vgl. auch LAABS 2000, S. 158f. 125 Schließlich zielt die Verknüpfung von hochrangiger Lage im Kirchenraum und sakraler Konzeption der Grabanlage auf einen immensen Bedeutungszuwachs. 126 Das Aufmaß des Oktogons zeigt, dass sich der darunter befindliche Gruftraum bereits auf die Umfassungswände des Oktogons bezieht und mit diesen zusammen ausgeführt wurde. Dem entspricht auch die Beobachtung, dass es hinter der hölzernen Verblendung der Bögen des Oktogons offenbar kein sauber ausgeführtes Sichtmauerwerk gibt und demzufolge auch hier ein baulicher Zusammenhang besteht. 127 Vgl. Peter Knüvener in diesem Band. 128 Auch wenn Agnes von Braunschweig, die letzte Gemahlin Albrechts III. heute nicht mehr mit einem eigenen Grabmonument in der Klosterkirche vertreten ist, wäre dessen ehemalige Existenz nicht unwahrscheinlich. Zudem legt die Belegung des Gruftraumes unter dem Oktogon mit etwa zwölf Individuen nahe, dass auch
einige Ehefrauen der hier bestatteten Herzöge in der Gruft ihre letzte Ruhestätte fanden. 129 Vgl. LAABS 2000, S. 165f. 130 Vgl. ERDMANN 1995, S. 40f und 75f. 131 Vgl. auch LAABS 2000, S. 162. 132 Vgl. Peter Knüvener in diesem Band. 133 Siehe dazu weiter zuvor die Ausführungen zum Wappen der Herzogin Katharina von Sachsen Lauenburg. 134 Zur Herkunft weiter oben und LEHR 2017, S. 5. 135 Für die Einfuhr von Spolien sprechen möglicherweise fehlenden Hinweise zu Umbautätigkeiten an der Doberaner Klosteranlage in der Zeit um 1400, bei denen spätromanischer Bauelemente hätten anfallen können. 136 In Lüneburg steht nur Kalkstein an. Erhalten blieb ein Kapitellfragment aus Gipsstuck, das vom Michaelskloster stammen soll und sich heute im Museum Lüneburg befindet. Neben einer Bau-
tätigkeit im 11. und 12. Jahrhundert ist allerdings nur eine Bautätigkeit des späten 13. Jahrhunderts von der ersten Lüneburger Klosterkirche St. Michael überliefert. Vgl. Niedersächsisches Klosterbuch 2012, S. 956. 137 Nach der Zerstörung des Michaelsklosters gelangte die Säule in die Lüneburger Johanniskirche und befindet sich heute ebenfalls im Museum Lüneburg. Vgl. SARNIGHAUSEN 2005, S. 251–264. Vielleicht ließe sich auch in der heute noch in der Doberaner Klosterkirche vorhandenen Kalksteinsäule ein Bezug auf die Lüneburger Situation sehen. Die Bestimmung der geologischen Herkunft der lose im Südquerhaus eingestellten Säule bleibt jedoch späteren Untersuchungen vorbehalten. 138 MECKLENBURGISCHES KLOSTERBUCH 2017, S. 267. 139 Vgl. NIEDERSÄCHSISCHES KLOSTERBUCH 2012, S. 948. 140 Ebd. S. 956.
Das Doberaner Oktogon – Grabmal zwischen dynastischem Anspruch und Heiliggrabzitat | 229
DIE NACHREFORMATORISCHE AUSSTATTUNG DES DOBERANER MÜNSTERS AUS DER ZEIT HERZOG ULRICHS ZU MECKLENBURG CArSteN NeUMANN
Erst auf den zweiten Blick erschließen sich heute dem Besucher des Doberaner Münsters die teilweise künstlerisch herausragenden Werke aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und dem frühen 17. Jahrhundert und deren Kontext. Nach den regotisierenden und purifizierenden Veränderungen des Kirchenraums im 19. Jahrhundert ist die für die Geschichte des Münsters äußerst bedeutsame nachreformatorische Ausstattungsperiode nicht mehr klar ablesbar, ja sie ist regelrecht in den Hintergrund gedrängt und teilweise ins Museum verbannt worden. Einzig dem beherzten Eingreifen des jungen, noch nicht an der Regierung beteiligten Herzogs Ulrich (1527–1603) ist es zu verdanken, dass das Doberaner Münster überhaupt die Zeit der Reformation überdauerte und noch heute mit seiner reichen mittelalterlichen Ausstattung existiert. Am 15. Januar 1553 verfügte Ulrich, dass der durch seinen Bruder Johann Albrecht I. (1525–1576) veranlasste Abbruch des Klosters, der zur Gewinnung von Baumaterial für das neue Schloss in Schwerin dienen sollte, unterbunden wurde1. An den Klosterverwalter Jürgen Rathenow schrieb er: „Wir kommen In glaubliche erfahrung das du bevehl haben sollest vnser kloster vnd kirche zu Dobberan ab vnd nidder zureissen. Do nun deme also trugen wir desselben nicht wenig wunder[.] Vnd begeren demnach an dich du wollest dem bekommenen bevehl nicht volge thun vnd dich des Inhalts zu gehorsamen ohn vnsern mitvorwissen gentzlich enthalten. […]“2. Ein Schlüssel für das Verständnis des Eingreifens Ulrichs sind dessen persönliche Interessen und Neigungen sowie seine politischen Ambitionen. Sein Bruder Johann Albrecht I. gilt politisch als Reformer und spielte an der Seite seines On-
kels Heinrich V. (1479–1552) eine wesentliche Rolle bei der Einführung der Reformation in Mecklenburg. Ulrich, obwohl in einem katholischen Umfeld in Bayern erzogen, zeigte sich später als vehementer Verfechter des protestantischen Glaubens und gilt politisch als Konservator. Diese Einschätzung darf im Sinne der modernen Denkmalpflege auch auf Ulrichs künstlerische und architektonische Interessen und Projekte übertragen werden. So entwickelte er ein ausgeprägtes Interesse an der Geschichte und Genealogie des mecklenburgischen Fürstenhauses und ließ namhafte Wissenschaftler und Gelehrte wie den Rostocker Theologen und Historiker David Chytraeus (1530–1600) und den Schweriner Rat Andreas Mylius (1527–1594) zu genealogischen Fragen forschen und publizieren. Chytraeus und Mylius wurden in wichtige künstlerische Projekte als wissenschaftliche Berater einbezogen3. Ulrich ließ einige Kirchen, die mit der Geschichte des Fürstenhauses verbunden waren oder als Grablege für Familienmitglieder dienten, baulich unterhalten, erneuern und ausstatten. Dazu zählen neben dem Doberaner Münster der Güstrower Dom und die Klosterkirchen in Rühn und Ribnitz. In den 1580er Jahren ließ der in Güstrow residierende Herzog eine Vielzahl an Kunstwerken für das Doberaner Münster anfertigen, die zu den Hauptwerken der Güstrower Hofkunst zu rechnen sind. Vor allem in der Grabmalskunst fanden die genealogischen Themen ihren künstlerischen Niederschlag, was sich insbesondere an den Epitaphien in Güstrow und Doberan widerspiegelt. Ausschlaggebend für den Erhalt des Doberaner Münsters dürfte der Umstand gewesen sein, dass Ulrichs und Johann Albrechts I. Vater Albrecht VII. (1488–1547),
Linke Seite: Abb. 209. Großes Fürstenepitaph, Philipp Brandin, um 1583
genannt der Schöne, in der Kirche seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. An der Seite Ulrichs ist zudem seine erste Gemahlin Elisabeth von Dänemark (1524–1586) als Bewahrerin historischer Orte auch in Doberan in Erscheinung getreten. Mit dem Münster verband sie eine sehr persönliche Beziehung: Die Kirche wurde zur Grablege ihres früh verstorbenen ersten Gemahls Magnus III. (1509–1550), eines Cousins Ulrichs. Für die nachreformatorische Ausstattung der Kirche ließen Ulrich, Elisabeth und die zweite Gemahlin des Herzogs, Anna von Pommern (1554–1626), Epitaphien, eine neue Kanzel und eine Reihe von Porträtgemälden lebender und bereits verstorbener Familienmitglieder von den Künstlern des Güstrower Herzoghofes anfertigen4. Die wichtigsten Ausstattungsstücke aus dieser Periode – die Porträts des Herzogs, seiner zweiten Gemahlin, seiner Eltern sowie die Kanzel und das Große Fürstenepitaph – waren ursprünglich an signifikanter Stelle im Chorbereich zu finden. Diesen originalen und heute nicht mehr ablesbaren Zustand dokumentiert eine vor 1864 gefertigte Fotoaufnahme (Abb. 210). Das früheste Werk der nachreformatorischen Ausstattung ist das Epitaph für Herzog Magnus III. im nördlichen Querhaus (Abb. 211)5. Die Entstehungszeit des Epitaphs ist in die Mitte der 1560er Jahre zu datieren. Es stammt von einem nicht näher benannten Künstler aus der Baumeister- und Architektenfamilie Parr oder dessen Umkreis. Nachweislich arbeitete Jacob Maler (auch Jacob Richert genannt) 1565 an der Rahmung des Epitaphs. Es ist kein Grabdenkmal im herkömmlichen Sinne, sondern eine Memorialtafel zu Ehren des letzten Bischofs und ersten Administrators des Bistums Schwerin. Das Epitaph wurde wahrscheinlich von Herzogin Elisabeth persönlich in Auftrag gegeben und bezahlt. Mag-
Abb. 210. Inneres nach Osten, vor 1864/1881
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nus fand seine letzte Ruhestätte in der Pribislav-Kapelle des Münsters. Das Epitaph besteht aus einer mit Roll- und Beschlagwerk eingerahmten Memorialtafel mit zweisprachiger Inschrift und einem aufgesetzten mecklenburgischen Wappen. Das Wappen befindet sich in einer Kartusche aus noch recht schwerfällig umgesetztem Roll- und Beschlagwerk, die auf die Kupferstichvorlagen von Hans Vredeman de Vries zurückgeht. Diese Vorlagenwerke, zumeist Kupferstichfolgen niederländischer Künstler, waren in der herzoglichen Bibliothek vorhanden und sind rege rezipiert worden, so auch an den Doberaner Kunstwerken6. Dies belegen auch die beiden Engelsputten oberhalb des Epitaphs, die vermutlich von einem in der herzoglichen Bibliothek vorhandenen Kupferstich von Hans Vredeman de Vries inspiriert worden sind7. Beide Putten sind später offensichtlich in ihrer Aufstellung verändert worden. Ihre Hände greifen heute ins Nichts. Sie werden ursprünglich in genau umgekehrter Aufstellung als Wappenhalter fungiert haben, so dass ihre Hände die Rollwerkkartusche berührten. Das bedeutendere bildhauerische Werk aus der Zeit Herzog Ulrichs im Münster und zugleich eines der Hauptwerke der Renaissancebildhauerkunst in Mecklenburg ist das Große Fürstenepitaph (Abb. 209) aus der Zeit um 15838. Es ist ein mit höchsten herzoglichen Ambitionen entstandenes Monument zu Ehren bedeutender Vorfahren des Auftraggebers. Die gute Quellenlage zu diesem Epitaph ermöglicht eine Vielzahl an Aussagen über den Entstehungsprozess und die Autorschaft9. Obwohl es nicht signiert ist, kann es durch die schriftliche Überlieferung und durch stilistische Vergleiche mit signierten Werken (Dorotheen-Epitaph im Güstrower Dom und Riebe-Epitaph in St. Marien Anklam) als eigenhändiges Werk des aus den Niederlanden stammenden Philipp Brandin (gest. 1594) identifiziert werden. Brandin, der ein Schüler des Antwerpener Bildhauers, Architekten und Entwerfers Cornelis Floris gewesen sein muss, gilt als einer der besten Bildhauer des Florisstils im Ostseeraum und unterhielt eine florierende Werkstatt in Wismar10. Er und die Mitarbeiter seiner Werkstatt gehörten zu den wichtigsten Hofkünstlern des Güstrower Hofes. Das Doberaner Epitaph zählt zu den besten Arbeiten Brandins und seiner Werkstatt. Es ist eines der Hauptwerke des Güstrower Hofes mit genealogischer Aussage. Ursprünglich befand es sich an der Chorschranke in der zweiten nördlichen Chorarkade. Mit der Beseitigung der Chorschranken wurde es 1894/95 an seinen heutigen Platz an der Westwand des südlichen Querhauses versetzt11.
Abb. 211. Epitaph des Herzogs Magnus III. zu Mecklenburg (Magnus-Epitaph), unbekannter Künstler aus der Parr-Familie oder Umkreis, um 1565
Das Große Fürstenepitaph ist als Hängeepitaph mit großer Inschrifttafel aus schwarzem Kalkstein in einem reich verzierten Ornamentrahmen mit Wappenaufsatz angelegt. Es wurde von Ulrich und Elisabeth gemeinsam dem Andenken bedeutender Fürsten aus dem Haus Mecklenburg gewidmet. Die 1583 datierte, 23 Distichen umfassende Inschrift wurde von Andreas Mylius verfasst und würdigt die Herzöge Pribislav, Heinrich den Löwen, Albrecht III., Magnus II., Albrecht VII. und Magnus III., die bis auf Magnus III. sämtlich direkte Vorfahren des Herzogs waren. Magnus III. wird hier zusätzlich zum bereits im Nordquerhaus befindlichen Epitaph bedacht, woraus die direkte finanzielle Beteiligung der Herzogin an diesem Werk resultiert.
Die ornamentale Einfassung aus Roll- und Beschlagwerk wurde aus englischem Alabaster gefertigt, der sich besonders gut für die Ausführung fein geschnittener Details eignete und laut den Archivalien am Güstrower Hof hoch geschätzt wurde. Auch im Fall des Fürstenepitaphs dienten die bereits erwähnten Vorlagenwerke niederländischer Künstler als Inspiration. Die Stiche von Vredeman de Vries, Cornelis und Jacob Floris kombinierte Brandin in diesem Werk zu seiner eigenen Komposition, in der der architektonische Aufbau zum ornamentalen Rahmenwerk wird. Die aufgelegten Verzierungen in Form kriegerischer Trophäen erinnern an militärische Verdienste der bedachten Fürsten und gehen auf Vorlagen von Jacob Floris zurück. Ein besonders fein gear-
Die nachreformatorische Ausstattung des Doberaner Münsters aus der Zeit Herzog Ulrichs zu Mecklenburg | 233
Abb. 212. Kanzel der Doberaner Klosterkirche, Werkstatt des Philipp Brandin oder Wilhelm de la Change, 1586, Ausschnitt aus der historischen Aufnahme, vor 1864/1881
beitetes Detail sind die beiden Wächterfiguren in antiker Rüstung, die seitlich am unteren Ende die Inschrift flankieren. Sie gehen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur auf Kupferstichvorlagen zurück, sondern direkt auf das Vorbild der Wächterfiguren am Grabmal für König Christian III. von Cornelis Floris im Dom zu Roskilde. Sowohl Brandin als auch Herzog Ulrich haben dieses bedeutende Monument, das dem Andenken an den Halbbruder Elisabeths gewidmet ist, mit eigenen Augen gesehen. Bekrönt wird das Fürstenepitaph von einem so genannten Compartiment, einem aus Roll- und Beschlagwerk gebildeten Giebelchen, in dem Putten in spielerischer Haltung das mecklenburgische Wappen präsentieren. Flankiert wird der Aufsatz von Todesgenien, Putten mit nach unten gesenkter Fackel, die ihren Fuß auf einen Schädel stützen. Den oberen Abschluss bildet ein weiteres Motiv des Todes und der Vergänglichkeit des Lebens, ein Stundenglas mit einem Schädel.
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Das Große Fürstenepitaph erfuhr auch in den Jahrhunderten nach Herzog Ulrich eine besondere Wertschätzung und wurde laut der Inschrift in der untersten Kartusche im Jahr 1750 im Auftrag des ebenso kunstsinnigen Herzogs Christian II. Ludwig zu Mecklenburg-Schwerin „renoviert“. Auf der historischen Innenaufnahme der Kirche (Abb. 210, 212) ist ein weiteres Hauptwerk der nachreformatorischen Ausstattung, die von Ulrich gestiftete Kanzel, an seinem ursprünglichen Ort am vierten nördlichen Pfeiler von Westen erkennbar12. Bedauerlicherweise wurde die Kanzel im Zuge der Renovierungen im 19. Jahrhundert entfernt. Die erhaltenen Teile gehören heute zu den Beständen des Staatlichen Museums Schwerin (Inv.-Nr. MK 105 und 106). Der Kanzelkorb ist im Schloss Güstrow ausgestellt (Abb. 213). Die Kanzel ist am unteren Teil mit 1586 datiert und zeigt die Wappen Herzog Ulrichs und seiner Neffen Sigismund August und Johann VII., die unter Vormundschaft Ulrichs standen, sowie das Wappen Elisabeths von Dänemark. Das mittlere Relief des Kanzelkorbs zeigt den gekreuzigten Christus mit Maria und Johannes und wiederholt weitgehend das aus der Brandin-Werkstatt stammende Relief am UlrichMonument im Güstrower Dom. In der heutigen musealen Präsentation sind am Kanzelkorb die Wappen Ulrichs und Johanns VII. zu sehen, obwohl sich anstelle des Wappens Johanns ursprünglich, wie auf dem historischen Foto zu vermuten ist, das dänische Königswappen der Herzogin befunden haben müsste. Da die Kanzel nur unvollständig erhalten ist, kann die genaue Platzierung der einzelnen Wappen nicht mehr nachvollzogen werden. Zudem verwahrt des Staatliche Museum Schwerin ein Brüstungselement mit dem Wappen Sigismund Augusts, dessen Anordnung nicht mehr klar nachvollziehbar oder auf dem historischen Foto erkennbar ist. Der Schöpfer der Kanzel ist nicht namentlich überliefert. Es könnte sich hierbei um den häufig für den herzoglichen Hof arbeitenden Wilhelm de la Change gehandelt haben. Die stilistische Nähe des architektonischen Aufbaus zu den Umrahmungen der Historienreliefs in der Schweriner Schlosskirche und zum Gehäuse des Rühner Altars lassen auch an eine Entstehung in der Brandin-Werkstatt denken. Zudem war, wie auf dem Foto erkennbar, die Kanzel ursprünglich mit einer farbigen Fassung überzogen, welche die für die Brandin-Werkstatt typischen Materialien mit ihRechte Seite: Abb. 213. Güstrow, Staatliches Museum, Kanzelkorb der Doberaner Klosterkirche, Werkstatt des Philipp Brandin oder Wilhelm de la Change, 1586
Die nachreformatorische Ausstattung des Doberaner Münsters aus der Zeit Herzog Ulrichs zu Mecklenburg | 235
Abb. 214. Nördliches Seitenschiff mit den Ahnenbildnissen von Cornelius Krommeny
ren starken Kontrasten nachahmte: fein geäderter Kalkstein (Marmor), heller Alabaster für die Reliefs und schwarzer Kohlenkalk für die tragenden architektonischen Teile. Der polygonale Schalldeckel, dessen Verbleib nach Entfernung der Kanzel unklar ist, trug einen filigran durchbrochenen Aufsatz mit offener Laterne, der von Entwürfen von Hans Vredeman de Vries beeinflusst war. Als Pendant zur Kanzel befand sich ihr gegenüber, auf einer Höhe mit dem Kanzelkorb, eine Fürstenempore, die nicht erhalten blieb13. Damit teilt sie das Schicksal der herzoglichen Emporen im Güstrower Dom, die ebenfalls im 19. Jahrhundert der Purifizierung und Regotisierung weichen mussten. Einen Eindruck vom Aussehen der Fürstenemporen aus der Zeit Herzog Ulrichs vermittelt heute noch die in der Rühner Klosterkirche erhaltene Empore aus dem späten 16. Jahrhundert14. Neben diesen bildhauerischen Werken fanden eine Reihe von Porträtgemälden im späten 16. Jahrhundert ihren Platz
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in der Klosterkirche. Auch sie stehen im Zusammenhang mit den genealogischen Ambitionen des Herzogs und würdigen an diesem geschichtsträchtigen Ort bedeutende Mitglieder des mecklenburgischen Fürstenhauses. Mit der Ausführung dieser Porträts für die Ahnengalerie wurde der Güstrower Hofmaler Cornelius Krommeny (gest. 1599) beauftragt15. Er stammte aus den Niederlanden und wurde vermutlich in Antwerpen bei Pieter Aertsen oder Joachim Bueckelaer und Anthonis Mor ausgebildet, wie stilistische Eigenheiten erkennen lassen. Er trat vor allem als versierter Porträtmaler und mit genealogischen Darstellungen, wie Ahnentafeln und Stammbäumen, in Erscheinung16. Für Doberan schuf er das Porträt Ulrichs und die postumen Porträts der Eltern sowie weiterer längst verstorbener Vorfahren des Herzogs. Diese Werke im Münster, die der Memoria und Repräsentation dienen sollten, zeigen Krommenys künstlerische Spannbreite: vom prachtvoll-minutiös gearbeiteten Porträt nach dem Leben bis zu den eher schematisch wir-
Abb. 215. Bildnisse des Herzogs Albrecht VII. zu Mecklenburg und der Herzogin Anna von Brandenburg im nördlichen Seitenschiff, Cornelius Krommeny, 1587 und 1589
kenden Ahnenporträts, die mangels zeitgenössischer Vorlagen wohl als Idealbildnisse anzusehen sind. Dennoch waren Auftraggeber und Künstler stets bemüht, bei der Darstellung historischer Personen auf vorhandene Bildnisse zurückzugreifen. So war Krommeny mehrfach mit dem Kopieren älterer Bildnisse als Vorarbeiten für genealogische Kunstwerke beschäftigt, was sich wohl auch auf die Doberaner Bildnisse beziehen lässt. Ende der 1580er-Jahre malte Krommeny schließlich die acht Ahnenbildnisse, die in der Tradition der Fürstenporträts im Schweriner Dom (Heilig-Blut-Kapelle) und im Doberaner Münster (Wandbilder und Memorialfiguren im Chorumgang) stehen und diese fortsetzten. Die heute im nördlichen Seitenschiff befindlichen Ahnenbildnisse zeigen folgende Personen: Albrecht VII. und Anna von Brandenburg, Heinrich pingius, Johann, Albrecht IV., Johann VI. und Albrecht II. (Abb. 214). Nicht alle Bildnisse sind heute im Original erhalten: Die Bildnisse Heinrich pingius´, Johanns, Albrechts II. und Johanns VI. sind Kopien
aus der Zeit um 1750 nach den Gemälden Krommenys und gehören damit in die Phase der Erneuerung unter Christian II. Ludwig. Die Kopie des Bildnisses Albrechts II. ist von Johann Heinrich Krüger signiert, von dem sicher auch die weiteren Kopien stammen. Im Staatlichen Museum Schwerin wird ein weiteres Bildnis Albrechts II. verwahrt (Inv.-Nr. G 944), bei dem es sich möglicherweise um das Original von Krommeny handelt, das später in die herzogliche Sammlung gelangte. Das Porträt Albrechts II. ist das früheste in den Archivalien nachweisbare Ahnenbildnis und wird in den Rechnungen des Hofes 1585 erwähnt17. Die Reihe der Dargestellten reicht zeitlich bis in das 16. Jahrhundert und endet mit Albrecht VII. und Anna von Brandenburg (1507–1567), den Eltern Herzog Ulrichs (Abb. 215). Von diesen beiden Porträts sind kleinformatige Versionen erhalten, die wohl als Vorstudien anzusehen sind (Staatliches Museum Schwerin, Inv. Nr. G 2424 und 2425, ausgestellt in Schloss Güstrow)18. Für die Bildnisse der herzoglichen
Die nachreformatorische Ausstattung des Doberaner Münsters aus der Zeit Herzog Ulrichs zu Mecklenburg | 237
Abb. 216. Bildnis des Herzogs Ulrich zu Mecklenburg, Cornelius Krommeny, 1587
Abb. 217. Bildnis der Herzogin Anna von Pommern, unbekannter Künstler, 1595 oder Anfang des 17. Jahrhunderts
Eltern wird Krommeny auf konkrete Vorlagen zurückgegriffen haben, denn die Details der Kleidung und Physiognomie wirken präzise und individuell. Dennoch gehören beide Bilder unverkennbar in die Reihe der Ahnenbildnisse: Allen gemein ist die Positionierung der Figur vor einem architektonischen Hintergrund, der bei den Personen aus dem Mittelalter teilweise das architektonische Vokabular des 16. Jahrhunderts aufweist und die Dargestellten damit quasi in die Gegenwart holte. Alle Personen stehen in gleicher Höhe auf einer Art Stufe oder Schwelle. Zusammen mit der Hintergrundarchitektur verschmelzen so die Bildräume bei dichter
Hängung der Gemälde zu einem einheitlichen imaginären Raum. An der Vorderseite der Stufe sind jeweils Roll- und Beschlagswerkkartuschen mit den Namen angebracht. Nur Albrecht II. besitzt zusätzlich ein Spruchband und tritt als einziger mit dem Fuß über die Kartusche hinaus und somit dem Betrachter entgegen. Damit wird subtil auf seine Bedeutung als erster Herzog von Mecklenburg verwiesen. Als Höhepunkt der Porträts Krommeny ist zweifellos das Porträt Herzog Ulrichs anzusehen, mit dem die Reihe der Ahnenbildnisse in der Gegenwart enden sollte (Abb. 216)19. Es ist 1587 datiert und zählt zu den glanzvollsten Bildnissen
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des Herzogs. Es zeigt ihn in prachtvoller Erscheinung, die vor allem von der goldgelben Pluderhose und der reich mit Gold bestickten Kleidung herrührt. Schwere goldene Ketten, Hutschmuck, Degen und Hirschfänger zeichnen den hohen Stand des Dargestellten aus. Das Porträt, von dem es eine zweite Version am verwandten Hof in Dänemark gab, wirkt auf den ersten Blick zu aufwendig für einen Kirchenraum. Die Inschrift in der Kartusche stellt aber den direkten Bezug zum Ort her und erklärt, warum Ulrich sich in so aufwendiger Pose zeigt: VLrICH HertzOG zV MeCKeLNBVrG, fVrSt zV WeNDeNN, GrAVe zV SWerYN, Der LANDe rOStOCK VND StArGArt Herr. DeS HOCHGeMeLteN HertzOG ALBreCHteN SOeN, Itz reGIereNDer LANDeS fVrSt, VNDe ISt BeY IHrer fVrStLICHeN GNADeN reGIerrING DIeSSe KIrCHe WIIDer GereNOVIrt WOrDeN, Anno 1578. Damit zeigt sich Ulrich als Retter des Münsters, sein Porträt wird zum Stellvertreter seiner Person in der Kirche. Es ist zu vermuten, dass auch Elisabeth von Dänemark in ähnlicher Weise und mit Verweis auf ihre Verdienste für den Erhalt des historisch bedeutsamen Orts dargestellt werden sollte. Doch fällt ihr Tod 1586 genau in die Zeit, in der die Ahnenporträts und schließlich das des Herzogs entstanden. Ob es deshalb kein Porträt der Herzogin gibt, ob dieses später verschwand oder aber zugunsten des Bildnisses ihrer Nachfolgerin ersetzt wurde, lässt sich anhand der schriftlichen Überlieferung nicht nachvollziehen. Auffallend ist, dass das Bildnis der zweiten Gemahlin Herzog Ulrichs, Anna von Pommern (Abb. 217), zwar ursprünglich gemeinsam mit dem Bildnis ihres Gemahls und dessen Eltern an signifikanter Stelle im Chor unmittelbar neben dem Altar hing (Abb. 210), aber aufgrund seiner Gestaltung aus der Reihe der Ahnenbildnisse herausfällt20. Das Bildnis Annas ist 1595 datiert und entstand damit noch zu Lebzeiten Krommenys, doch von anderer, nicht namentlich bekannter Hand. Möglicherweise ist es auch eine Kopie des 17. Jahrhunderts nach älterer Vorlage. Es wirkt steif und in der Perspektive wenig gekonnt, der Baldachin und der Fußboden in Schachbrettmuster durchbrechen die Gestaltungsprinzipien der anderen Bilder in Doberan und zeichnen das Bildnis als nicht dazugehörig aus. Besonders in der dichten ursprünglichen Hängung der Bildnisse Ulrichs und seiner Eltern im Chorbereich wird die einheitlich gedachte Wirkung der Bildhintergründe deutlich: Die fürstlichen Personen stehen auf gleicher Höhe auf einer Art umlaufenden Gesims über dem Betrachter und erheben sich über diesem. Die Reihe der Doberaner Ahnen- und
Fürstenbildnisse Krommenys ist in der Tradition der Uomini famosi von Castagno (ursprünglich in der Villa Carducci in Legnaia, heute in den Uffizien in Florenz) oder Bramantes Freskenzyklus geharnischter Männer und Philosophen (heute in der Mailänder Pinacoteca di Brera) zu sehen und würdigt wie diese herausragende Personen in meist überlebensgroßen Porträts. Die Reihe der Ahnenbildnisse wurde in der Zeit nach Herzog Ulrich fortgesetzt. So gelangte auch das Porträt der dänischen Königinwitwe Sophie (1557–1631), der Tochter Ulrichs, 1615 auf Wunsch des Herzogs Adolf Friedrich in das Münster (Abb. 218). Es kann unzweifelhaft dem am dänischen Hof tätigen Niederländer Pieter Isaacsz (1569–1625) zugeschrieben werden21. Es zeigt Sophie in dunkler Witwentracht, die sie bereits seit 1588 trug, mit Perlenkette und reich besticktem Mantel unter einem für Isaacsz typischen kunstvoll gefalteten Samtvorhang. Das Bildnis manifestiert
Abb. 218. Bildnis der Königinwitwe Sophie von Dänemark, geborene Herzogin zu Mecklenburg, Pieter Isaacsz, 1615
Die nachreformatorische Ausstattung des Doberaner Münsters aus der Zeit Herzog Ulrichs zu Mecklenburg | 239
Abb. 219. Epitaph des Peter Wise, Cornelius Krommeny, um 1590
die enge dynastische Verbindung zwischen den mecklenburgischen Herzögen und den dänischen Königen, die schon durch die Ehe Ulrichs und Elisabeths bekräftigt und mit der Hochzeit Sophies mit ihrem Cousin Friedrich II. von Dänemark (1534–1588) erneuert wurde.
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Herzog Ulrich ließ im Münster auch bedeutenden nichtfürstlichen Personen gedenken. An der Südwand des Chorumgangs hängt unter einem vermutlich noch aus dem späten 15. Jahrhundert stammenden Baldachin das Epitaph für Peter Wise (gest. 1338) (Abb. 219)22. Es ist eindeutig als Werk Krommenys aus der Zeit um 1590 erkennbar und zeigt die für seine Werke typische fahle Farbigkeit. Zudem ist die Gestaltung des Bildraums mit dem auf den fürstlichen Ahnenbildnissen vergleichbar. Auch hier steht der Dargestellte auf einer Art Stufe vor einem architektonischen Mittelgrund. Hinter Wise öffnet sich im Unterschied zu den Fürstenporträts der Blick in eine Ideallandschaft mit einem burgartigen Gebäude auf einer Anhöhe. Wise hält in seiner Rechten sein Wappen, seine linke Hand berührt den Gürtel mit dem Geldbeutel. Dies dürfte ein Verweis auf Wises Bedeutung sein: Er war ein wohlhabender Lübecker Bürger, der sich durch Stiftungen und Schenkungen an das Kloster sowie durch sein Eintreten für die Belange der Landesherren hervortat. Während des so genannten Doberaner Mönchskrieges trat er als Vermittler zwischen den rivalisierenden niedersächsischen und einheimischen Klosterbrüdern ein. Krommeny konnte für seine Darstellung Wises wahrscheinlich nicht auf ein zeitgenössisches Bildnis zurückgreifen, wofür die zeitliche Einordnung der Mode des Dargestellten in die Zeit um 1400, also nach seinem Tod, spricht23. Das Wise-Epitaph ist wie die Bildnisse der mittelalterlichen Fürsten als historisierend zu betrachten. Immerhin waren Künstler und Auftraggeber bemüht, sich möglichst der Lebenszeit der Dargestellten anzunähern. Diese Vorgehensweise ist von anderen Werken Krommenys bekannt, so etwa von seinem letzten großen Werk, dem großformatigen Stammbaum der Herzöge von Pommern aus dem Jahr 1598 (Nationalmuseum Stettin, Inv.-Nr. MNS/Szt. 1203), auf dem die älteren Generationen in historisierender Tracht dargestellt sind24. Mit der nachreformatorischen Neuausstattung, die Herzog Ulrich und Herzogin Elisabeth behutsam und unter Bewahrung der historischen Ausstattung integrieren ließen, setzte das Fürstenpaar mehrere Zeichen: Die Bewahrung des familiengeschichtlich bedeutenden Ortes, die fürstliche Memoria und die Kontinuität des Herzogshauses nach der Reformation sind Kerngedanken ihrer Ambitionen. Die fürstliche Repräsentation, wie sie uns vor allem im Porträt des Herzogs und seiner zweiten Gemahlin begegnet, sind ein weiterer Aspekt. Den neuen Anforderungen an den protestantischen Gottesdienst entsprechen die Kanzel und die nicht mehr vorhandene fürstliche Empore. Ulrich hielt sich oft an diesem geschichtsträchtigen Ort in seiner Nebenre-
sidenz auf. Hier war er den Vorfahren nahe und konnte sich, wie auch im Güstrower Dom, in die Genealogie des Fürstenhauses einreihen. Seine Nachfolger setzten dies als Tradition fort und ergänzten die nachreformatorische Ausstattung mit bedeutenden Werken. Das Grabmonument für Herzog Adolf Friedrich (1588–1658) und das Reitermonument für den Kanzler Samuel Behr (gest. 1621) in der Chorscheitelkapelle und in der nördlichen Chorumgangskapelle legen davon beredtes Zeugnis ab.
ABSTRACT Only at a second glance do the furnishings of the Doberan monastery church from the second half of the 16th and the early 17th century prove to be some of the artistically outstanding works of art of their time. Since the Gothic origins of the church interior were reconstructed and purified during the 19th century, the post-Reformation furnishing of the minster, which is of considerable importance for its history, is no longer clearly visible. Thanks to the courageous intervention of Ulrich, duke of Mecklenburg (1527–1603), the Doberan Minster survived the Reformation era and still exists today with its rich medieval outfit. Ulrich’s first wife Elisabeth of Denmark (1524–1586) appeared at his side as the true guardian of the Doberan monastery. During the 1580s the Duke, who resided in Güstrow, had a large number of
works of art for the Doberan Minster produced by artists, most of whom came from the Netherlands and belonged to the Güstrov court artists. For the new furnishing of the minster Ulrich, Elisabeth, and his second wife Anna of Pomerania (1554–1626) entrusted primarily the sculptor Philipp Brandin (died 1594) and the painter Cornelius Krommeny (died 1599) with the epitaph for duke Magnus III (around 1565), the great princely epitaph (around 1583), the epitaph for Peter Wise (around 1590), a new pulpit (1586), and a number of portraits of living or deceased family members – amongst them the important portrait of duke Ulrich himself (1587). Doberan acted as secondary ducal residence. The former 16th century mansion on the monastery grounds no longer exists. The importance of the place in the second half of the 16th and in the 17th century can be seen in the mentioned works of art in the monastery church. With the new furnishings, which Duke Ulrich and Duchess Elisabeth had integrated carefully and with the preservation of the historical furnishings, the princely couple set several signs: The preservation of the place which was significant for the history of their families, the ducal memoria, and the continuity of the dynasty after the Reformation were core thoughts of their ambitions. The princely representation, as it becomes visible in the important portraits of the duke and his second wife, is another aspect. The pulpit and a no longer existent princely gallery met the new requirements for the protestant worship service.
Die nachreformatorische Ausstattung des Doberaner Münsters aus der Zeit Herzog Ulrichs zu Mecklenburg | 241
ANMERKUNGEN 1 2
VOSS 2008, S. 81. Das Schreiben Ulrichs an Jürgen Rathenow vom 15. Januar 1553 ist abgebildet bei GLOEDE 1975, S. 47. 3 Siehe dazu NEUMANN 2000. 4 Die hier vorgestellten Werke sind vom Verfasser bereits an anderer Stelle ausführlich behandelt worden. Siehe dazu NEUMANN 2009. 5 NEUMANN 2009, S. 296–300. 6 Ein Sammelband mit Vorlagenwerken verschiedener, meist niederländischer Künstler aus dem Besitz Herzog Ulrichs blieb erhalten und befindet sich heute in der Universitätsbibliothek Rostock, Abteilung Sondersammlungen, Signatur Da 11. 7 NEUMANN 2009, Abb. 140. 8 Ebd. S. 374–381. 9 Ebd. S. 376. 10 Zu Brandin und seiner Werkstatt siehe GEHRIG 1921, Jolly 1999 und NEUMANN 2009, S. 121–125. 11 VOSS 2008, S. 154. 12 NEUMANN 2009, S. 414–419 und VOSS 2008, S. 82.
13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
24
VOSS 2008, S. 82. NEUMANN 2009, S. 406–411. Ebd. S. 84–86 und 207–214. Zu Krommeny siehe NEUMANN 2000, S. 56–59 und NEUMANN 2009, S. 79–93. NEUMANN 2009, S. 213. Ebd. S. 208–209 und Abb. 56–57. Siehe dazu ausführlich NEUMANN 2000, S. 58 und NEUMANN 2009, S. 205–206. NEUMANN 2009, S. 230–231. Ebd. S. 246–249. VOSS 2008, S. 119 und NEUMANN 2009, S. 207f. VOSS 2008, S. 119, datiert die Kleidung in die Zeit um 1400 und vermutet als Vorbild eine mittelalterliche Tüchleinmalerei. Diese dürfte, wenn sie existiert haben sollte, auch erst postum entstanden sein. Zum Stammbaum siehe ausführlich NEUMANN 2009, S. 217–221 und NEUMANN/WERLICH 2009.
Rechte Seite: Abb. 220. Detail aus Abb. 355
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MIT LETZTER PRACHT – DAS GRABMONUMENT FÜR HERZOG ADOLF FRIEDRICH I. UND SEINE GEMAHLIN ANNA MARIA VON OSTFRIESLAND KILIAN HeCK
Zu den eindrucksvollsten wie eigentümlichsten deutschen Grabdenkmalen des 17. Jahrhunderts gehört zweifellos dasjenige für Herzog Adolf Friedrich I. zu Mecklenburg (1588– 1658) und seine Gemahlin Anna Maria von Ostfriesland (1601–1634) im Doberaner Münster (Abb. 222). Eigentümlich insofern, als das Grabmonument kaum wie ein üblicher Vertreter seiner Gattung wirkt. Wie zwei auf einer Bühne agierende Personen erheben sich die beiden Figuren des Herzogs und der Herzogin auf einem hohen Sockelgeschoss, welches ihre Grabkammer enthält. Das Grabdenkmal erinnert somit weit mehr an eine Loggia oder ein Theater denn an ein Totenmal. Schon der Standort des Grabdenkmals in der Chorscheitelkapelle Stelle hinter dem ehemaligen Sanktuarium der Kirche ist ungewöhnlich, wenn auch für einen lutherischen Landesherren durchaus üblich und bei zahlreichen anderen Beispielen wie etwa dem Grabmonument für Landgraf Philipp den Großmütigen in der Kasseler Martinskirche zu finden1. In Doberan befanden sich an dieser Stelle vermutlich der Corpus-Christi-Altar sowie die Doppeltumba für Albrecht III. (†1412), welche für das Grabmonument Adolf Friedrichs weichen mussten. In den letzten Jahren wurde zum Doberaner Grabmonument immer wieder ausführlich geforscht, was wohl auch auf seine für ein Totenmal denkbar ungewöhnliche Erscheinung zurückzuführen ist2. So hat Ilka Minneker 2007 die für das Grabdenkmal wesentlichen archivalischen Quellen veröffentlicht und darauf hingewiesen, dass die ersten Arbeiten weit vor dem von 1628 bis 1631 andauernden skandinavischen Exil der mecklenburgischen Herzöge erfolgt sein müs-
sen3. Der Kontrakt zwischen dem Herzog und dem Leipziger Bildhauer Franz Julius Döteber (1575–1648) stammt vom 14. August 1626 und verpflichtete den Künstler „eine ansehnliche Sepultur und begrebnus vor vns vnd vnsere herzliebste Gemalin … auf das zierlichste vnd sauberste, sobalt immer muglich zu mach(en) vnd zuverfertig(en)“4. Sebastian Schulze geht sogar von einem noch früheren Beginn der Planungen am Monument aus und setzt diese für 1623 an, als Döteber, der nach Beendigung der Arbeiten am Grabdenkmal für Samuel von Behr (†1621) aus Mecklenburg nach Leipzig zurückgekehrt war, an den Herzog berichtet, dass er zwei gute Gesellen gefunden habe und bei seiner Rückkehr nach Mecklenburg ein Portrait oder Portraitmodell sowie zwei Entwürfe mitbringen würde5. Offenbar scheint mit der Grabmalsarchitektur Ghert Evert Piloot († 1629) beauftragt worden zu sein6. Auch über Fortgang, Unterbrechung und Beendigung der Arbeiten haben Minneker und Schulze inzwischen umfänglich publiziert, so dass hier nur die wesentlichen Eckdaten referiert werden: Die Maurerarbeiten wurden spätestens bis 1627 fortgeführt7. Die Arbeiten am Denkmal wurden für längere Zeit unterbrochen, als 1628 Herzog Adolf Friedrich ins schwedische Exil ausweichen musste8. Döteber übersandte schließlich 1632 nach der Rückkehr des Landesherrn ein Wachsmodell für die noch immer nicht umgesetzte Portraitfigur des Herzogs aus Leipzig nach Doberan. Zugleich bot er an, die Figur in Stein auszuführen9. Döteber, der zunächst zögerte, die angesichts des Krieges gefährliche Reise in den Norden anzutreten, scheint dann zwischen 1632 und 1634 zu einem weiteren Arbeitsaufenthalt nach Doberan
Linke Seite: Abb. 221. Detail aus Abb. 223. Standbild der Anna Maria von Ostfriesland
Abb. 222. Grabkapelle in der östlichen Umgangskapelle des Doberaner Münsters, Ansicht von Süden
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Abb. 223. Grabkapelle in der östlichen Umgangskapelle des Doberaner Münsters, Standbild der Anna Maria von Ostfriesland
Abb. 224. Grabkapelle in der östlichen Umgangskapelle des Doberaner Münsters, Standbild des Adolf Friedrich I. zu Mecklenburg
gekommen zu sein, was auch durch die Signatur an einem Säulenschaft belegbar ist10. Aber auch danach zogen sich die Arbeiten am Denkmal noch hin. Obwohl es 1637 fertiggestellt war, musste der Geselle Daniel Werner zwischen 1637 und 1643 in Doberan verbleiben und immer wieder die
Schäden beseitigen, die durch marodierende Soldaten entstanden waren. Daniel Werners Briefe an den Herzog, seine Berichte über die Verwüstungen der Soldaten am Grabdenkmal, an den Leichnamen der herzoglichen Familie und die Gewaltausübungen gegenüber seiner eigenen Person lesen
Mit letzter Pracht – Das Grabmonument für Herzog Adolf Friedrich I. und seine Gemahlin Anna Maria von Ostfriesland | 247
Abb. 225. Grabkapelle in der östlichen Umgangskapelle des Doberaner Münsters, Standbild der Anna Maria von Ostfriesland, Detail
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sich als eindrucksvoller Lebensbericht eines Bildhauers während des Dreißigjährigen Krieg und belegen die physische und psychische Verwahrlosung der Menschen in Mecklenburg in diesen Kriegsjahren11. Wie nun aber erklärt sich die eingangs bereits beschriebene Sonderstellung des Grabdenkmals für den Herzog und seine Gemahlin? Die fünfbogige Loggia, die sich über dem hohen Postament für das Gruftgewölbe erhebt, wird über ein äußerst reich geschmücktes Portal mit dem auferstandenen Christus als Bekrönung erreicht. Vom Portal aus führt eine steil aufragende Treppe nach oben. In der Loggia fällt neben den beiden Figuren des Herzogs und der Herzogin die reiche Ornamentik auf. Die Wände sind in Gold und in Weiß gehalten und durch rot und grau marmorierte Zwischenfelder gegliedert. Besonders fallen die umfänglich mit Grotesken, Masken und Figuren dekorierten Wände und Architekturteile auf. Sechs Rundbogenfenster und weitere kleinere Fenster über der Gebälkzone hinterfangen das Podest mit den Figuren. Diese Fenster erhalten ihr Licht direkt von den dahinterliegenden Außenfenstern. Zwischen den Wandnischen finden sich Statuetten der fünf Sinne. Über den beiden herzoglichen Figuren schwebt ein Engel12. Nun zu den Figuren des Herzogs und der Herzogin selbst: Sie bestehen aus Holz, die Köpfe sind in Stein ausgeführt13. Beide Figuren sind polychrom gefasst und überaus aufwendig dekoriert. Ihre Position an der heutigen Stelle entspricht vermutlich nicht der ursprünglichen Aufstellung14. Auf einer Abbildung im Inventarband von Friedrich Schlie von 1899 sind die Figuren in die beiden ersten – heraldisch gesehen rechten – der insgesamt sechs Nischen der Loggia eingestellt und nicht, wie heute, in die beiden mittleren. Dass es sich hierbei vermutlich um die ursprüngliche Positionierung handelt, wird durch einen Vergleich mit anderen Grabmonumenten deutlich, die häufig die gesamte Familie des Regenten in Portraitfiguren zeigten. Als Vergleichsbeispiele seien hier zunächst das Grabmonument für Johann Friedrich II. von Sachsen (†1595) in der Morizkirche in Coburg genannt, bei dem der Herzog mit seinen beiden Gemahlinnen und vier Söhnen in vollplastischen und lebensgroßen Portraitfiguren dargestellt sind15. Aber auch in Adolph Friedrichs eigener Dynastie gab es prominente Beispiele für diese Tradition lebensgroßer Figurenportraits: Adolph Friedrichs Onkel Herzog Ulrich zu Mecklenburg (†1603) hatte im Güstrower Dom mit dem Grabdenkmal für sich und seine beiden Gemahlinnen die Tradition begründet, sich in lebensgroßen und portraitähnlichen Figuren am eigenen Grabmonument darstellen zu lassen16. Dass in Doberan aber – im
Gegensatz zu Güstrow – auch die Kinder des Regenten einbezogen und in Portraitfiguren dargestellt werden sollten, dafür spricht – neben den freigehaltenen Nischen – auch die Tatsache der Beisetzung mindestens einer Tochter des herzoglichen Paares im Gruftgewölbe unter dem Denkmal17. Dennoch sind die Doberaner Figuren auch in einem anderen Kontext zu betrachten: veristische Figuren sind gerade nach 1600 an nordeuropäischen Höfen verbreitet. Ihre materiellen Ausführungen konnten dabei durchaus verschiedenartig sein. So ist die Ausführung sowohl in Wachs wie auch in Holz verbreitet, teilweise auch im Kontext der im Rahmen der Trauerrituale eingesetzten Effigies18. Diesen hier nur anzudeuten-
Abb. 226. Schloss Rosenborg (Dänemark), Antoine Benoist, Büste der Königin Sophie Amalie, um 1670, Wachs, bemalt, Echthaar, textiler Schmuck
Mit letzter Pracht – Das Grabmonument für Herzog Adolf Friedrich I. und seine Gemahlin Anna Maria von Ostfriesland | 249
Abb. 227. Tafel HH: Ionica. 3. Odor., Paul Vredeman de Vries Inventor, Hendrik Hondius
den Zusammenhang illustriert exemplarisch auch die 1670 durch Antoine Benoist (1632–1717) in bemaltem Wachs und mit Glasaugen, Textil und Schmuck gefertigte Büste der Königin Sophie Amalie von Dänemark (Abb. 226)19. Die Doberaner Figuren nehmen sowohl zeitlich wie auch kontextuell eine Mittelstellung ein zwischen den nur teilweise gefassten Alabasterfiguren in Güstrow – die als Priants überdies noch ganz in der Funktion des Grabdenkmals eines lutherischen Landesherren stehen – und den bereits polychrom gefassten, mit zahlreichen zusätzlichen Materialien gefertigten und auch dadurch extrem veristisch wirkenden Figuren der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Dieser Verismus, der bereits beim Reiterdenkmal für Samuel von Behr offenbar wird, wo etwa für das Pferd Echthaar verwendet wurde, ist für die aufgrund der kriegerischen Ereignisse eher denkmalarmen Zeit um 1630 in Norddeutschland außergewöhnlich, wenn nicht einzigartig. An dieser Stelle sei auch bemerkt, dass beide Grabdenkmale – das von Behrs und das des Herzogs – räumlich aufeinander Bezug nehmen, was nicht zuletzt auf das enge Vertrauensverhältnis zwischen Behr und seinem Landesherren Adolf Friedrich zurückzuführen ist, der diesem zunächst als Geheimer Rat und ab 1608 als Kanzler sowie zeitweilig als Hofmarschall diente20. Aber nicht nur die Figuren des herzoglichen Grabmonuments sind bemerkenswert, sondern auch die baldachinartige Überdachung in Form einer Loggia kann als außergewöhnlich angesehen werden. Welche kunsthistorischen Zusam-
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menhänge hierfür geltend gemacht werden können, ist in der Forschung bislang nicht untersucht. Einen Hinweis hierfür könnte jedoch der schon erwähnte und mit der Grabmalarchitektur betraute, aus Emden stammende und lange in den Niederlanden tätige Ghert Evert Piloot geben21. Möglicherweise wurde über diesen seit 1612 in Mecklenburg tätigen Künstler der Kontext zur niederländischen Architektur vermittelt, die zweifellos als Vorbild für die Loggia zu gelten hat. Im 1606 publizierten Stichwerk von Hans Vredeman de Vries (1527–1607): „Architectura, oder Bauung der Antiquen auss dem Vitruvius (...)“ wird eine Loggienarchitektur gezeigt, die der in Doberan in mehreren Einzelheiten entspricht (Abb. 227). So erhebt sich auch hier über einer steil aufragenden Treppe eine Loggia mit Arkaden, zusätzlich überragt von einem aufwendigen Gebälk mit Balustrade. Dennoch zeigen sich auch Unterschiede zwischen der Loggia in Doberan und der im Stichwerk von Vredeman de Vries: So ist die Anzahl der Arkaden unterschiedlich, ebenso die ornamentale Ausstattung, die in Doberan weitaus vielteiliger und komplexer ist. Dennoch erscheint es bemerkenswert, dass eine offenbar für einen profanen Zusammenhang entworfene Loggienarchitektur in Doberan durch ein Grabdenkmal rezipiert wurde. Eine weitere Verbindung zur niederländischen Architektur und Ornamentik könnte über die Floris-Schule erfolgt sein, die vielfältig im Ostseeraum tätig war22. Ob diese einzelnen Rezeptionsstränge letztlich über die welfische Heimat von Döteber und dort speziell über Herzog Julius von Braunschweig (1528–1529) vermittelt wurden, bei dem Vredeman de Vries seit 1587 in Diensten stand, scheint aufgrund der Lebensdaten Dötebers weniger wahrscheinlich. Aber auch von einer Vermittlung der niederländischen Quellen über Dötebers Lehrer Weimar Heimann und Eberhard Wulff ist womöglich weniger auszugehen als vielmehr von einer Rezeption unmittelbar aus den Stichwerken23. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dem Doberaner Monument für Herzog Adolf Friedrich und seiner Gemahlin hinsichtlich seines bühnenartigen Aufbaus, seines noch heute jeden Besucher sofort affizierenden Verismus der Figuren wie auch durch seine zentrale Position im Chorscheitel in jeder Hinsicht eine Sonderstellung zukommt. Innerhalb des an Altären, Grabmonumenten und anderen Ausstattungsobjekten reichen Doberaner Münsters steht das Grabdenkmal für den Herzog, zusammen mit dem Grabdenkmal für Samuel von Behr, stellvertretend für einen Zeitabschnitt der Kirche, der trotz – oder gerade wegen – massivster kriegerischer Gewalteinwirkungen und der Exilierung der Dynas-
Abb. 228. Grabkapelle in der östlichen Umgangskapelle des Doberaner Münsters, Innenansicht
tie die Landesherrschaft der mecklenburgischen Herzöge wie bei einem höfischen Empfangszeremoniell feierlich zelebriert.
ABSTRACT The article deals with the funeral monument for Duke Adolf Friedrich of Mecklenburg and his wife, which was erected in a prominent place in the Doberan minster at the angular point of the ambulatory, and whose stage-like structure is still astonishing today. The first plans for the funeral monument date back to 1623, thus earlier than previously as-
sumed. The sculptor Franz Julius Döteber from Leipzig and his assistant Daniel Werner continued to work on this project for more than twenty years, interrupted several times by the warlike events. The figures of the Duke and his wife were strived for a verism that reminds of wax effigies used in princely funeral ceremonies. The loggia, on the other hand, shows similarities to architectural designs in engravings by Hans Vredeman de Vries. With regard to its resemblance to a theatre prospectus, the lifelike quality of the figures, which still immediately affects every visitor, and its central position in the church interior, the funeral monument holds an exceptional position within the early modern grave sculpture.
Mit letzter Pracht – Das Grabmonument für Herzog Adolf Friedrich I. und seine Gemahlin Anna Maria von Ostfriesland | 251
Abb. 229. Grabkapelle in der östlichen Umgangskapelle des Doberaner Münsters, Detail
Abb. 230. Grabkapelle in der östlichen Umgangskapelle des Doberaner Münsters, Detail
Abb. 231. Grabkapelle in der östlichen Umgangskapelle des Doberaner Münsters, Detail
ANMERKUNGEN 1 2 3 4
5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
Vgl. HECK 2002, S. 183–192; MEyS 2009, S. 523–527. Vgl. HECK 2002, S. 241f.; BARESEL-BRAND 2007, S. 181–184. Vgl. MINNEKER 2007, S. 317–319. LHAS 2.12.–1/10 (Acta funeralia) Vol. xIV, Fasc. 122 u. Fasc. 126, Schwerin 14. August 1626; zit. nach MINNEKER 2007, S. 318 und Anm. 636. Zu Behr vgl. den Beitrag von Detlef Witt in diesem Band; vgl. SCHULZE 2014, S. 325. Vgl. SCHULZE 2014, S. 326 f.; GLOEDE 1960, S. 97. Vgl. SCHULZE 2014, S. 327. Vgl. SCHULZE 2014, S. 327. Vgl. SCHULZE 2014, S. 327. Zur komplexen Frage der Signaturen und der Datierungen der beiden Portraitfiguren vgl. SCHULZE 2014, S. 327. Hierzu ausführlich SCHULZE 2014, S. 330–334. Eine ausführliche Beschreibung auch kleinerer Details bei SCHULZE 2014, S. 328f. Vgl. SCHLIE 1899, S. 656. Vgl. SCHLIE 1899, Abb. nach S. 656; dazu Schulze 2014, S. 328f. Vgl. dazu MEyS 2009, S. 353–359; HECK 2002, S. 250f. Vgl. MEyS 2009, S. 459–468; NEUMANN 2009, S. 135–138; BRINKMANN 2010, S. 115f.
17 Vgl. dazu SCHULZE 2014, S. 329. – Ob tatsächlich vier weitere Figuren geplant waren, wie Schulze angibt, ist nicht verifizierbar. THIELE 2016, S. 319 kann diesen Zustand aufgrund der Akten (LHAS, Kab. III 5612, Nr. 115: Brief Möckels vom 25.10.1898) für die Jahre 1855–1898 belegen. 18 Vgl. KAT. FRANKFURT 2014, S. 61. 19 Vgl. BÜCKLING 2014, S. 127f. 20 Vgl. BARESEL-BRAND 2007, S. 360, Anm. 623 und den Beitrag von Detlef Witt in diesem Band. 21 Vgl. SCHLIE 1898, S. 601–609. 22 Hierzu OSIECKI 2013. 23 Zur Rezeption niederländischer Künstler an deutschen Höfen vgl. Aleksandra Lipinska: Alabasterdiplomatie. Material als Medium herrschaftlicher Repräsentation und als Vernetzungsinstrument im Mittel- und Osteuropa des 16. Jahrhunderts, in: kunsttexte. de/ostblick, Nr. 2: Gemeine Artefakte, 2014, unter: http://www. kunsttexte.de/index.php?id=631&L=0&idartikel=40813&ausgabe=40806&zu=661&L=0); zu Vredeman de Vries in Wolffenbüttel vgl. auch THöNE 1960, S. 47ff.
Rechte Seite: Abb. 231a. Detail aus Abb. 228: Personifikation des Gesichtssinns (Visus)
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DAS GRABMAL DES GEHEIMEN RATES UND HOFMEISTERS SAMUEL BEHR VON FRANZ JULIUS DöTEBER UND DANIEL WERNER IM DOBERANER MÜNSTER DetLef WItt
Zu den repräsentativsten nachreformatorischen Grabmonumenten in Doberan zählen die Grabmale des Herzogs Adolf Friedrich I. von Mecklenburg-Schwerin (1588–1658) und seiner ersten Gemahlin Anna Maria von Ostfriesland (1601–1634) in der Scheitelkapelle des Chorumgangs sowie das für den engsten Berater und steten Begleiter des Herzogs, den Geheimen Rat und Hofmeister Samuel Behr (1575– 1621) in der ersten nordöstlichen Umgangskapelle (Abb. 233)1. Auftraggeber dieses, für einen höfischen Beamten aus dem niederen Adel ungewöhnlichen, freistehenden Baldachingrabmals mit einem lebensgroßen Reitermonument war Herzog Adolf Friedrich I.2. Die Ausführung übernahm wie auch beim später entstandenen Herzogsgrabmal der Leipziger Bildhauer Franz Julius Döteber (auch Tödtebeer, 1575– 1648) mit seinem Gehilfen Daniel Werner (†1669)3. Das Konzept des Vertrages mit Döteber vom 6. Februar 1622 ist erhalten4. Vollendet war das Werk mit der farbigen Erstfassung durch den Schweriner Maler Samuel Leutenbergk (Lautenbergk) 16265. Zumindest bei der Bauorganisation war auch der seit 1612 in herzoglichen Diensten stehende Baumeister Ghert Evert Piloot (Gerhart Evert Pilooth, Pilote, †1629) beteiligt, wozu im Schweriner Landeshauptarchiv umfangreicheres Aktenmaterial vorliegt6. Samuel Behr, aus einem auf Hugoldsdorf und Kavelsdorf in Pommern ansässigen rügenschen Zweig des weitverzweigten und in Mecklenburg und Pommern reich begüterten Geschlechts der Behr stammend, war 1621 auf dem Landtag zu Güstrow unverheiratet und kinderlos verstorben7. Der
Herzog selbst drückte ihm die Augen zu und notierte in seinem Tagebuch: „[…] habe also meinen besten Freundt undt nicht meinen getreven Diener verlohren“8. Die noch am selben Tag betreffs der Überführung und Beerdigung Behrs gegebenen Anweisungen des Herzogs sind überliefert9. Die Bestattung erfolgte bezeichnenderweise nicht in einer der Familiengrüfte der Hugoldsdorfer Behrs in Drechow oder Eixen, sondern in der herzoglich mecklenburgischen Memorialkirche zu Doberan10. Rund fünfzehn Jahre lang hatte Samuel Behr den Herzog als enger Vertrauter und Berater begleitet. Er war Hofmeister des damals achtzehnjährigen mecklenburgischen Prinzen auf dessen Bildungsreise durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich 1606/07 mit längeren Aufenthalten in Lyon und Paris. Der dreizehn Jahre ältere Behr war da bereits ein weitgereister, studierter und kampferprobter Mann11. Er hatte ab 1589 die Universitäten zu Rostock, Marburg, Tübingen, Straßburg und Orleans besucht, in Paris und London geweilt und in Ungarn gegen die Türken gekämpft12. Zuletzt war er als Hofmeister in Baden-Durlach in Stellung, bevor er in mecklenburgische Dienste wechselte. So konnte er den jungen Prinzen auf der gemeinsamen Kavalierstour als welterfahrener Mann in die Gesellschaft einführen. Die über viele Jahre gewachsene besondere Nähe Behrs zum Fürsten – man purgierte z.B. zusammen und nahm auch gemeinsam das Abendmahl – macht das außergewöhnliche Grabmonument erklärbar13. Der Rostocker Professor Jacob Fabricius (1576–1652) nannte Samuel Behr in einem Trauergedicht „Jenes Herz des Fürsten
Linke Seite: Abb. 232. Grabmal des Samuel Behr, Reiterstandbild Samuel Behrs, Franz Julius Döteber, um 1622–1626
Abb. 233. Baldachingrabmal Samuel Behrs von Südosten, errichtet 1622 bis 1626 von Franz Julius Döteber und Daniel Werner, Erstfassung Samuel Leutenbergk, das geschmiedete Gitter von 1887 ersetzt eine hölzerne Abschrankung
(cor principis), aus dem der Staatskörper (imperij corpus) seine Macht schöpfte“14. Dieses von Fabricius entworfene Bild gibt einen wichtigen Hinweis zur Interpretation des Reiterstandbildes. Samuel Behr in staatsmännischer Pose mit dem Kommandostab auf einem versammelt trabenden Hengst, der zugleich überlegene Kraft und deren kontrollierte Beherrschung verkörpert, kann als Bild für die kluge Lenkung des Staates verstanden werden15. Das auf äußere Wirkung bedachte Reiten edler Pferde auf hohem Niveau war gleichzeitig das Zurschaustellen herrschaftlicher Führungsqualitäten16. „Der ideale Reiter war ein Mann, der sein Pferd aber auch sich selbst – sowohl seine Emotionen als auch seinen Körper – beherrschte. Damit wurden aber Normen vermittelt, die man traditionell dem Adel zuschrieb bzw. mit ihm verband“17. Nicht zuletzt war kein anderer Stand in der Lage, sich der intensives Training von Mensch und Tier voraussetzenden und allein durch das notwendige Personal an Stallmeistern und Bereitern sowie die Anschaffung und den Un-
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terhaltung edler Pferde äußerst kostenintensiven, im Barock zu hoher Blüte kommenden Reitkunst zu widmen. Das Baldachingrab mit dem Reiterstandbild bildet den rahmenden Auftakt für das im Chorumgang errichtete Grabmal des Herzogs selbst. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass die Idee für die Umgestaltung des Chorbereiches zum repräsentativen fürstlichen Memorialchor bei der Errichtung des Grabmals Samuel Behrs bereits geboren war, und Adolf Friedrich I. bewusst an dieser Stelle seinem engsten Vertrauten und einem vorbildlichen Vertreter seines Hofstaats ein Denkmal setzen wollte 18. Das hölzerne Reitermonument steht unter einem von sechs reliefverzierten Säulen getragenem Baldachin auf dem Sarkophag, der ursprünglich im Innern den mit Bärenköpfen verzierten Sarg barg19. Der Reiter sitzt in vollem Küriss mit einer über die rechte Schulter gelegten Feldbinde barhäuptig auf einem braunen Hengst (Abb. 232). Die stattliche Statur und das natürliche Imponiergehabe machten Hengste prä-
destiniert als Träger von Herrschern20. Der Mode der Zeit entsprechend trägt Samuel Behr einen Knebelbart mit mittellangem Kinnbart. Man darf wohl davon ausgehen, dass Döteber ein Porträt des Verstorbenen als Vorlage zur Verfügung stand. In der Linken hält der Reiter die Kandarenzügel und in der Rechten den (wie das Zaumzeug 1886 ergänzten) Kommandostab. Den Hengst zeichnen ein aufgewölbter muskulöser Hals, ein wilder Gesichtsausdruck mit riesigen Augen und ein weißer Keilstern auf der Stirn aus (Abb. 235). Reiterstandbilder waren im frühen 17. Jahrhundert noch rar, obwohl das Bild des Herrschers zu Pferde in der Druckgrafik bereits weit verbreitet war21. Auf öffentlichen Plätzen gebührten sie in der Zeit um 1600 Fürsten und Königen – den Medici in Florenz und Heinrich IV. in Paris (Abb. 234)22. Diese damals Aufsehen erregenden neuen Schöpfungen Giambolognas (1529–1608) und seines Mitarbeiters und Nachfolgers Pietro Tacca (1577–1640) kommen eher als die von Edith Fründt ins Spiel gebrachten älteren Standbilder der Condottieri in Padua oder Venedig als Vorbilder in Betracht23. Aus mecklenburgischem Bestand ist ein um 1632–1635 gemaltes Reiterporträt Johann („Hans“) Albrechts II. (1590–1636), des im Güstrower Landesteil regierenden Bruders Adolf Friedrichs I. erhalten, das dem Hofmaler Daniel Block (1580–1660) zugeschrieben wird24. Die Beinstellung des trabenden Pferdes entspricht dem Doberaner Denkmal, der Herzog trägt jedoch keinen Küriss, sondern ein Prunkgewand mit Federhut. An dieser Stelle sei auf eine im Zusammenhang mit den Reiterstandbildern bisher unbeachtete, fast gänzlich verlorene Denkmalsgattung hingewiesen. In den fürstlichen Rüst- und Sattelkammern gab es naturalistisch gebildete hölzerne Pferde zur Ausstellung von Pferderüstungen, Sätteln und Geschirr25. Hergestellt aus vergänglichem Material und im Gegensatz zu den Prunkrüstungen in den Sammlungen kaum geschätzt, gingen sie meist unbeachtet unter26. Derartige hölzerne Pferde ließen sich natürlich auch als Modelle für Reiterporträts nutzen. Einige falsch wiedergegebene anatomische Details des Doberaner Pferdes sind Indizien dafür, dass Döteber wohl keine Naturstudien betrieb, sondern sich vermutlich an Kleinplastiken oder Grafiken orientierte. Da in der Kunst einzelne Vorbilder immer wieder variiert wurden – siehe die vielen Reiterdarstellungen in der zeitgenössischen Druckgrafik und Kleinbronzen mit teils ausgetauschten Porträtköpfen – dürfte es kaum möglich sein, ein konkretes Vorbild zu benennen. Der bis in die Waagerechte erhobene Vorderarm unterscheidet das Doberaner Pferd deutlich von den Pferdestatuetten und Reiterstandbildern Giambolognas, die mit weniger er-
Abb. 234. Florenz, Piazza della Signoria, Reiterdenkmal für Cosimo I. de Medici, Großherzog der Toscana, Giovanni da Bologna (Giambologna), 1584–1593
Abb. 235. Grabmal des Samuel Behr, Detail des Pferdes während der Restaurierung ohne Zaumzeug, Franz Julius Döteber, um 1622–1626
Das Grabmal des Geheimen Rates und Hofmeisters Samuel Behr von Franz Julius Döteber und Daniel Werner im Doberaner Münster | 257
Abb. 236. Grabmal des Samuel Behr, Bracke, Franz Julius Döteber, um 1622–1626
Abb. 237. Grabmal des Samuel Behr, das Pferd ohne Reiter während der Restaurierung, Franz Julius Döteber, um 1622–1626
hobenem Bein eher eine Piaffe als eine Passage wiedergeben27. In der Gangart, nicht in der Kopfstellung, vergleichbar dagegen ist beispielsweise ein 1607 datiertes trabendes Bronzepferd von Adrian de Vries im Nationalmuseum Stockholm28. In der aktiven Trabstellung (allerdings spiegelbildlich), der Wölbung des Halses und dem halbrunden Schnitt der Mähne gleicht der Hengst Behrs auch dem Schimmel auf einem Jean Clouet zugeschriebenen Reiterporträt Franz I. von Frankreich (Abb. 237)29. Auch eine vermutlich in den Niederlanden gegossene Kleinbronze im Herzog-Anton-Ulrich-Museum Braunschweig kommt dem Doberaner Pferd in Exterieur, Haltung und der Schweifmanschette nahe30. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass sich auch für den auf dem Sarkophag lagernden Hund, einer Bracke, ein Vorbild in der Braunschweiger Sammlung findet31. Zwar gibt es Unterschiede – das Maul ist beim Doberaner Hund geöffnet, seine Ohren sind länger, und die Rute liegt anders – , das gemeinsame Vorbild ist jedoch unverkennbar. Der auf dem Grabmal ruhende Hund ist ein geläufiges Symbol der Treue32. Hier dürfte auf die Treue Behrs zu seinem Dienstherrn angespielt sein (Abb. 236)33. Bereits bald nach der Entstehung war das Grabmal Samuel Behrs von der marodierenden Soldateska im Dreißigjährigen Krieg geplündert worden. Das heutige Aussehen des Monuments geht auf eine von Hermann August Friedrich von Behr-Negendank (1801–1887) veranlasste durchgreifende Restaurierung unter Federführung Gotthilf Ludwig Möckels (1838–1915) in den Jahren 1886/87 zurück34. Eine auf einer zuvor aufgenommenen Fotografie noch zu sehende hohe hölzerne Abschrankung zum Chorumgang wurde abgebro-
chen und durch ein kunstvoll geschmiedetes hüfthohes Gitter ersetzt (Abb. 238)35. Gleichzeitig ließ Möckel den Fußboden mit neuen Fliesen ausgelegen. Die eingreifendste Restaurierungsmaßnahme betraf den Sarkophag, dessen marode
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Abb. 238. Grabmal des Samuel Behr, Ansicht von Südost vor der Restaurierung 1886/87, Fotograf Carl Rettberg (1854?)
Steinplatten bis auf die Deckplatte durch Kopien ersetzt wurden. Offenbar waren 1886 nicht mehr alle Inschriften am Sarkophag lesbar, so dass einige Schriftkartuschen leer blieben. Heute kann man dort noch folgende Inschriften lesen: an der Stirnseite „VIRTVS MORINESCIA“, auf der Rückseite „VIxI VT / MORERE“, an der Südseite links „PATRIAM AVERSATVR CVI / PEREGRINATIO DVICIS EST“ und rechts „DIES MORTIS VITAE GLORIO/SISSIMAE NATALIS EST36“. Bei der Abnahme der Deckplatte wurde der hölzerne Sarg beschädigt, so dass die sterblichen Überreste Behrs in eine neue „Ruhekiste“ im Innern des gemauerten Aufbaus umgebettet werden mussten, wo sie sich offenbar noch heute befinden (Abb. 239)37. Auf der wegen des Gegenlichts stark retuschierten Aufnahme Rettbergs (von 1854?) ist kein Zaumzeug vorhanden und auch nur vage eine Satteldecke zu erkennen. Überliefert ist die Nachricht von einem im Dreißigjährigen Krieg geraubten silbernen Sattel und silbernem Zaumzeug: „ober Hoffmeister der H. von Bähr, welcher in Lebensgröße auf einem sehr kostbaren Epitaphio zu Pferde von Holtze gemacht sitzet, das Sattel Zaum, Steige-Bügel, wie auch Sporn etc. ist alles von Massiv Silber gewesen, so aber in Krieges wesen von den Soldaten abgenommen worden“38. Zu vermuten ist, dass der Reiter ursprünglich auch einen Degen an der linken Seite trug, gehörte dieser doch wie die von Möckel ersetzten (wohl nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangenen) Sporen zu den Insignien adligen Standes. Dass bei der Wiederherstellung nach den Plünderungen kein Ersatz für das Verlorene geschaffen worden sein sollte, und Behr fast zweihundertfünfzig Jahre lang ohne Sattel und Zaumzeug zu Pferde saß, wäre merkwürdig, aber darüber wissen wir nichts. Den Zustand des Reiterstandbildes vor der Restaurierung, so wie ihn Rettberg fotografiert hatte, hielt Möckel 1886 in einer Zeichnung fest. Auf dem Pferd lag lediglich eine Satteldecke. Zaumzeug, Steigbügel, Kommandostab und Sporen fehlten39. Möckel fertigte selbst mehrere Entwürfe für die fehlenden Reitutensilien. Als Vorlage nutzte er die 1883 publizierten Stiche zum Triumphzug Kaiser Maximilians (Abb. 240)40. Das Riemenzeug auf der Kruppe des Pferdes auf einer Zeichnung, welche die Grundlage für die dann ausgeführten Entwürfe bildete, geht auf das Pferd des Bannerträgers von Achalm aus der Stichfolge Hans Burgkmairs zurück, während ein mit verzierten Decken behangenes Pferd dem Blatt „Geschifft Rennen“ des Triumphzuges Kaiser Maximilians entnommen wurde41. Möckel entwickelte in mehreren Zeichnungen das Riemenzeug weiter und fügte die schmalen, weit herabhängenden Riemen hinzu42.
Abb. 239. Längs- und Querschnitt durch den 1886/87 erneuerten Sockel des Grabmals Samuel Behrs mit der „Ruhekiste“ für die Gebeine, 1886
Abb. 240. Gotthilf Ludwig Möckel, Zeichnung des Reiterstandbildes Samuel Behrs mit nach dem Bannerträger von Achalm aus dem Triumphzug Kaiser Maximilians Hans Burgkmaiers ergänzter Pferdeausstattung, Landeskirchliches Archiv Schwerin, Kartenschrank Bad Doberan Fach 2/1, Blatt 26
Neben dem ungewöhnlichen Reiterstandbild sind die aufwändig gearbeiteten Reliefs an den Säulenschäften und – postamenten des Grabmals bemerkenswert. Das Postament der mittleren Säule der Schauseite ziert das Wappen Behrs mit der Devise „NEC TEMERE NEC TIMIDE“ (Weder unbesonnen noch furchtsam)43. Über dem Wappen mahnt am Säulenschaft ein Totenschädel mit Stundenglas und Torsionspendel und der Devise HODIE MIHI CRAS TIBI“
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Abb. 241. Grabmal Samuel Behr, mittlere Säule, Vanitassymbol, Totenschädel mit Stundenglas und Torsionspendel, Franz Julius Döteber und Daniel Werner, um 1622–26
Abb. 242. Grabmal Samuel Behr, Postament der mittleren Säule, Westseite, Porträt Hans Behr d. Ä., Vater Samuel Behrs, Franz Julius Döteber und Daniel Werner, um 1622–26
(Heute mir, morgen dir) (Abb. 241). Durch Tuchdraperien ist das Vanitassymbol mit Agikranien verbunden. An den Seiten des Postaments erscheinen die Porträts der Eltern Samuel Behrs. Auf der Westseite Hans Behr d. Ä. (1529– 1598) (Abb. 242) und gegenüber seine dritte Gemahlin Anna, geborene Lewetzow (1546–nach 1636)44. Bislang nicht gedeutet ist das Bildprogramm des südöstlichen Postaments45. Ein Medusenhaupt auf der Frontseite steht dem Haupt Königs Midas mit den Eselsohren auf der Rückseite gegenüber (Abb. 243). Auf der Westseite erscheint das Gesicht einer lachenden Alten mit von Warzen entstelltem Gesicht (Abb. 244). Auf der Ostseite findet sich das Antlitz eines Jünglings (vielleicht Apoll?) oder einer jungen Frau (zusammen mit der Alten als Symbole der Vergänglichkeit zu verstehen?). Die geflügelten Engelköpfchen, Frauengesichter und grotesken Maskarone der anderen Säulen und Postamente scheinen eine rein dekorative Funktion zu haben. Bemerkenswert ist die Bildfindung einer von zwei seitlich am südöstlichen Säulenschaft detailliert ausgearbeiteten Händen gehaltenen Tuchdraperie unter einem Satyrkopf46. Es hat den Anschein, als würde der Satyr selbst hinter der Säule stehen und das Tuch halten (Abb. 245).
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Abb. 243. Grabmal Samuel Behr, Postament der südöstlichen Säule, Nordseite, König Midas, Franz Julius Döteber und Daniel Werner, um 1622–26
Welche Rolle Ghert Evert Piloot bei den Planungen für das Behrsche Grabmal spielte, muss offenbleiben. In der Literatur wurde ihm mehrfach der Entwurf des Baldachins zugeschrieben. Mit gebotener Zurückhaltung formulierte es noch Landeskonservator Heinz Mansfeld (1899–1959): „Einen gewissen Einfluß scheint Piloot auch auf den Entwurf der Grabkapelle mit dem Reiterdenkmal Samuel von Behrs in der Klosterkirche in Doberan ausgeübt zu haben. Zumindest scheint er die Oberaufsicht über die Ausführung der Grabkapelle durch Franz Julius Döteber und Daniel Werner zu führen“47. In der späteren Literatur wurde die Autorschaft Piloots jedoch ohne Überprüfung der Quellen als gegeben angesehen und mit dem Datum 1626 (Datierung einer von Piloot geprüften Quittung des Fassmalers Leutenbergk) in Verbindung gebracht48. Außer Zweifel steht, dass Piloot bei der Bauorganisation beteiligt war, was aus dem bereits oben erwähnten Schriftwechsel mit dem Bildhauer Döteber hervorgeht49. Dabei wird stets die Kompetenz und Entscheidungsbefugnis Piloots in Bausachen betont. Der architektonische Entwurf für Sarkophag und Baldachin ist kein Werk Piloots, sondern geht auf einen Stich in der „Perspective“ des Niederländers Hans Vredemann de Vries
Abb. 244. Grabmal Samuel Behr, Postament der südöstlichen Säule, Westseite, lachende Alte, Franz Julius Döteber und Daniel Werner, um 1622–26
(1527–1609) zurück (Abb. 246). Ob durch Piloot vermittelt oder auf Vorschlag Dötebers, ist nicht zu entscheiden. In der Beschreibung zu der als Vorlage verwendeten Figur 23 des zweiten Teils der Perspektive heißt es: „eine sehr reiche Sepulturam / oder begräbnuß / die besteht auff Sechs durchsichtige Colomnen mit sehr schönen Ornamenten der Basementen, zü den Captellen derselben/ wie dan diß werckh in Composita solchs erfordert […]“50. Auch für die Loggia in der Chorscheitelkapelle ist ein Stich Hans Vredemans de Vries als Vorlage nachgewiesen51. Ein weiteres Beispiel für die verbreitete Nutzung der Stiche Hans Verdemans de Vries im Umfeld wäre das Grabmal des Pommerschen Landrats Adam Behr (1532–1599) und seiner Gemahlin Ilse Krakewitz in der Dorfkirche von Semlow, welches in der Anlage dem Stich Nummer 26 aus der von Peter Cock in Antwerpen verlegten Serie „Coenotaphiorum“ folgt52. Abweichend von der Vorlage Hans Vredemanns befindet sich auf dem Sarkophag Samuel Behrs nicht eine Liegefigur des Verstorbenen, sondern das lebensgroße Reitermonument, was eine Änderung der Proportionen notwendig machte. Die auf der Vorlage auf dem Sarkophag stehenden sechs Putti sind in Doberan heute nicht mehr vorhanden. Derar-
Abb. 245. Grabmal Samuel Behr, Schaft der südöstlichen Säule, Satyrkopf, Franz Julius Döteber und Daniel Werner, um 1622–26
tige „sechs nackende Bilder von drey fueß lang […]“ wurden im Vertragstext mit Döteber jedoch ausdrücklich erwähnt53. Im Dezember 1622 hatte Döteber mit dem Bildhauer Meister Heinrich (Stockmann?) in Rostock „etzliche stücke Gott=/lendischen stein, als zu den Kindern“ in Augenschein
Abb. 246. Hans Vredeman de Vries, Figur 23 aus dem 2. Teil der „Perspective“, gedruckt 1605, Sächsische Landesbibliothek und Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
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Abb. 247. Entwurfszeichnung für ein Grabmal Samuel Behrs, unsigniert und undatiert, Landeshauptarchiv Schwerin, LHA 2.12-3/4 Kirchen und Schulen – Specialia 2057, fol. 31
genommen54. Die Deckplatte des Sarkophages weist über den Spangen sechs vorkragenden Konsolen mit kleinen eingeritzten rechteckigen Markierungen zur Aufstellung der verlorenen Figuren auf55. Bei den im Jahr 2016 durchgeführten Ausgrabungen zur Trockenlegung des Grundes wurde denn auch zwei Bruchstücke nackter Gliedmaßen einer kleinen Figur aus Gotlandsandstein gefunden56. Kleine Figuren auf dem Sarkophag zeigt auch die bei den Vertragskonzepten liegende Entwurfszeichnung57. Säulen und Baldachin fehlen auf dem Entwurf, der auf einem großen sarkophagartigen Unterbau einen Reiter auf steigendem Pferd zeigt (Abb. 247). Die Namensinschrift (SAMVEL BHERE) und das Wappen weisen den Entwurf eindeutig aus. Auf den Seiten des Sockels stehen die auch im Vertrag genannten Putti, welche sich auf verlöschende Fackeln stützen oder andere Vanitassymbole in den Händen halten. In einem an der Seite angebrachten Relief mit der Auferstehung Christi klingt ein Thema christlicher Hoffnung an58. Unter den Figuren auf den Eckpilastern sind die Personifizierungen der christlichen Tugenden Glaube und Hoffnung auszumachen. Seltsam mutet die falsch wiedergegebene Perspektive des Sockels an, der sich nach hinten verbreitert. Der geharnischte Reiter hält die zügelführende linke Hand ungewöhnlich weit vom Körper weggestreckt, in der Rechten hält er den auf die Hüfte gestützten Kommandostab. Die unsignierte Zeichnung weicht stark vom ausgeführten Denkmal ab. Möglich wäre eine frühere Ideenskizze Dötebers oder der nicht berücksichtigte Entwurf eines anderen Bildhauers. Da Zeichnungen Dötebers bisher nicht bekannt sind, muss diese Frage offen bleiben.
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Das Reiterstandbild macht das Grabmal Samuel Behrs zu einem Unikat in der deutschen Kunstgeschichte. In einem sakralen Raum sollte man erwarten, dass der Reiter vom Pferd steigt und am Betpult niederkniet, wie es sich für ein Grabmal geziemt und der Konvention entspricht59. Dass Herzog Adolf Friedrich I. die selbstherrliche Repräsentation nicht scheute, zeigt die Inszenierung seines eigenen Grabmonuments. Das Ross erhebt Samuel Behr mehr noch als ein steinerner Sockel das könnte. Das Pferd schafft Respekt gebietenden Distanzraum60. Dass der Verstorbene in einer Kirche derart selbstbewusst präsentiert wird, noch dazu, da es sich nicht um einen Fürsten, sondern um einen Dienstmann desselben handelt, bleibt höchst ungewöhnlich und fand keine Nachfolge. Ältere Grabmale mit lebensgroßen Reiterstandbildern gibt es in Kirchen Italiens, insbesondere in Venedig, jedoch auch dort erregten sie Anstoß (Abb. 248)61. In Frankreich wurden der-
Abb. 248. Venedig, S. S. Giovanni e Paolo, Wandgrabmal des Nicolo Orsini
artige Denkmäler in Zeiten der Revolution zerstört – möglicherweise auch solche, von denen wir keine Nachrichten überliefert haben. Aus Schweden kennen wir das spätere Reiterrelief am Grabmal des Feldmarschalls Herman Wrangel (1587–1643) in Skokloster oder den die Prunkrüstung tragenden Reiter über dem Grab König Karls Ix. im Dom von Strängnäs62. Keines der genannten Grabdenkmäler aber ist dem Doberaner vergleichbar.
ABSTRACT The tomb of the Privy Councillor Samuel Behr (1575– 1621), distinguished by a life-sized wooden equestrian statue, is one of the most unusual monuments of sepulchral art of its time. It was created by the sculptor Franz Julius Döteber (1575–1648) from Leipzig and his assistant Daniel Werner. In February 1622, Duke Adolf Friedrich I had signed the contract with Döteber, and in June 1624 the foundation works took place. With the first coloration by the painter Samuel Leutenbergk from Schwerin the monument was
completed in October 1626. The architectural design for the sarcophagus and the canopy is based on a draft from the “Perspective” by Hans Vredemans de Vries. The role played by the ducal architect Ghert Evert Piloot in the procurement remains to be found out. For the equestrian statue, the monuments of Giambologna and Pietro Tacca for the Medici in Florence and of Henry IV of France in Paris can be considered as models. In view of the numerous and often varying prints and small sculptures, it is hardly possible to name a concrete model for horse and rider. The precious original saddle fell victim to the plunderings of the Thirty years War. The elaborate relief decoration of the column shafts and pedestals with the portraits of Behr’s parents and mythological figures is particularly noteworthy. In 1886/87, the tomb was extensively restored under Gottlieb Ludwig Möckel’s direction at the instigation of August Friedrich von Behr-Negendank, and the sarcophagus was replaced by a copy. In 1886, Möckel’s design for a new bridle for the horse was inspired by the engravings of Hans Burgkmaier from the triumphant procession of Emperor Maximilian.
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Zu beiden Grabmalen jüngst SCHULZE 2014, S. 319–334 mit älterer Literatur. Vgl. BARESEL-BRAND 2007, S. 181–184. Zur Stellung Behrs am herzoglichen Hof vgl. STUTH 2013, S. 103–105. Zum Grabmal Herzog Adolf Friedrich I. s. den Beitrag von Kilian Heck in diesem Band. Zur Sonderstellung des Grabmals Samuel Behrs als sepulkrales Reiterdenkmal vgl. BARESEL-BRAND 2007, Anm. 623, S. 360. Neben SCHULZE 2014 wie Anm. 1 s. die Leichenpredigt für Döteber CARPZOW 1648. LHA SN 2.12–3/4 Kirchen und Schulen Specialia Nr. 2057, fol. 23–25, Transkription bei SCHULZE 2014, S. S. 320. LHA SN 2.12–3/4 Kirchen und Schulen Specialia Nr. 2057, fol. 32–35. LHA SN 2.12–1/26 Hofstaatsachen – Fürstliche Schlösser und Häuser 38: Gerd Everts Pilots Correspondenz betr. Bauten an verschiedenen fürstlichen Gebäuden etc. 1618–1626, unfoliiert; vgl. SCHULZE 2014, S. 322. Eine Monografie zum Grabmal Samuel Behrs mit weiteren Transkriptionen aus den Quellen ist in Vorbereitung. Zu Piloot siehe MANSFELD 1952. Zur Biografie Samuel Behrs ROSEN 1896 und RAKOW 2013. In zeitgenössischen Quellen lautet der Name zumeist Samuel Bhere, stets ohne ein auf den Adelstitel verweisendes „von“. Samuel Behr hatte keinen Grafentitel, wie fälschlich, einsetzend mit FRÜNDT 1969, S. 28 mitunter in der Literatur angegeben. Auch waren Hugoldsdorf und Kavelsdorf kein „mecklenburgisches Rittergut“, so irrtümlich bei SCHULZE 2014, S. 319. Kavelsdorf, heute zu Eixen im Landkreis Vorpommern-Greifswald ist nicht zu verwechseln mit dem mecklenburgischen Kavelstorf im Landkreis Rostock. ROSEN 1896, S. 152. LHA SN 2.12–3/4 Kirchen und Schulen Specialia Nr. 2057, Acta, Samuel Behr, Herzogs Adolf Friedrichs Geheimen Rath Tod und Beerdigung betreffend sowie Schreiben Adolf Friedrichs I. an den Schweriner Burgvogt Hans Schwellengrebel vom 23. Februar 1621, LHA SN 2.12–1/26, Nr. 484. Samuel Behr selbst hatte seinen am 26. August 1613 verstorbenen geliebten Bruder Daniel (1566–1613) in der Kirche von Eixen beigesetzt, LHA SN 2.12–1/23 Korrespondenz Nr. 1545, Tagebuch Samuel Behrs 1613, S. 17–20. Sein zweiter Bruder Hugolt Behr wurde als Fürstlich Pommerscher, Mecklenburgischer und Pfalz-Neuburgischer Rat, Hauptmann auf Ivenack, Domprobst des Kapitels Kolberg und Erbherr auf „Cabelstorff und Huchelstorff“ 1620 in Drechow bestattet, siehe BILL 1999, S. 51. Erhalten ist in Drechow lediglich der Grabstein Hugolt Behrs des Älteren. Vgl. JOOST 2009, S. 31. ROSEN 1896; RAKOW 2013. Die Einschreibung der Brüder Hugolt und Samuel Behr an der Universität zu Orleans am 19. November 1597 ist nachgewiesen bei RIDDERIKHOFF/RIDDER-SyMOENS 2015, S. 296. Vgl. STUTH 2013, S. 103. FABRICIUS 1621, Übersetzung Kläre Seemann 2015. Zur zeitgenössischen Bedeutung des Reiterdenkmals POESCHKE/ WEIGEL/KUSCH-ARNOLD 2008, dort insbesondere ERBEN 2008, S. 276f.; HUNECKE 2008. CUNEO 2008A, S. 167.
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17 CUNEO 2008B, S. 328. 18 Vgl. STUTH 2013, S. 103, Anm. 48. 19 Die Bärenköpfe als Sargzier werden im oben angeführten Schreiben Adolf Friedrichs vom 23. Februar 1621 erwähnt, LHA SN 2.12–1/26, Nr. 484. 20 BAyREUTHER 2014, S. 88. 21 Materialreiche Überblicke zu Reiterstandbildern und -porträts bei FRIIS 1933; LIEDTKE 1989; GUNST-ASSEMENIOS 1999; CHAUDUN ET AL. 2008; HUNECKE 2008 und POESCHKE/WEIGEL/KUSCHARNOLD 2008. 22 Zum 1792 zerstörten Reiterdenkmal Heinrichs IV. von Giambologna und Pietro Tacca auf dem Pont Neuf in Paris (1604–1616): GUNST-ASSEMENIOS 1999, S. 114–119. 23 FRÜNDT 1969, S. 28. Zu den Reiterstandbildern der Frührenaissance siehe BEUING 2010. SCHULZE 2014, S. 321 sieht eine „fast bis ins Detail“ gehende Abhängigkeit vom Reiterstandbild Cosimos I. in Florenz. 24 Muzeum Narodowe w Warszawie, Inv. Nr. 2079, siehe Katalog Güstrow 2006, Nr. A 1.2, öl auf Leinwand, H 294 cm B 241 cm. 25 BÄUMEL 2004, S.10–15 mit Verweis auf die Darstellung auf dem Titelblatt in Sigmund von Birkens „Chur- und Fürstlicher Sächsischer Heldensaal“ von 1677. Wissenschaftlich gründlich untersucht sind die hölzernen Pferde der “Line of Kings” im Tower zu London, von denen 11 noch aus dem späten 17. Jahrhundert stammen, abrufbar unter: http://royalarmouries.org/visit-us/towerof-london/things-to-see/line-of-kings-explore/line-of-kings-research (Zugriff 19.12.2017) 26 An dieser Stelle sei Ines Bohn und Holger Schuckelt, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, herzlich gedankt, die mir die nicht datierten, in Dresden deponierten älteren Pferde aus der Rüstkammer der Wartburg zugänglich machten. Siehe auch die erhaltenen Pferde aus Pappe mit Rosshaar aus dem 17. Jahrhundert in der Stockholmer Leibrüstkammer, Inv. Nr. 29425 (3316) bis 29428 (3319). 27 Die von SCHULZE 2014, S. 321 gesehene „fast bis ins Detail“ gehende Abhängigkeit vom Reiterstandbild Cosimos I. ist dementsprechend zu relativieren. Zum Reiterstandbild Cosimos I. ERBEN 2008, S. 287, Statuetten nach dem Vorbild bei LIEDTKE 1989, S. 200f, Nr. 64 und 65. Walter Liedtke hat sich ausführlich mit dem bei Reitermonumenten und auch Rüstkammerpferden so beliebten Motiv des trabenden Pferdes beschäftigt: „The Trotting Horse from Leonardo to Girardon“, in LIEDTKE 1989, S. 60–73. 28 Inv.Nr. NMDrhSk 64, 94 x 105 x 70 cm. 29 Abgebildet bei LIEDTKE 1989, S. 115, Nr. 7; vgl. CHAUDUN ET AL 2008, S. 191. 30 BERGER/KRAHN 1994, Kat. Nr. 200, S. 248, Inv. Nr. Bro 147. 31 Inv. Nr. Bro 311, H 13,9 cm L 22,7 cm, BERGER/KRAHN 1994, Kat. Nr. 200, S. 248 mit Verweisen auf ähnliche Stücke. Dort als Pendant zu einem liegenden Bologneser Hündchen, Inv. Nr. Bro 313, BERGER/KRAHN 1994, Kat. Nr. 201, S. 248. Beide Kleinbronzen wurden vermutlich 1647 bei dem Kunstagenten Philipp Hainhofer in Augsburg erworben, ebd. 32 Vgl. HENKEL/SCHöNE 1967/1996, Sp. 558. 33 Vgl. JOOST 2009, S. 32.
34 BEHR-NEGENDANK 1897, Nr. 85, S. 230. Zu den damals ausgeführten Restaurierungsmaßnahmen ausführlich RöHL 2014. 35 LHA SN 13.1–1 Ortsbildsammlung Doberan Nr. 32, Aufnahme-Nr. F 1225, Fotograf Carl Rettberg. 36 Siehe auch die Übersetzungen bei Sebastian Röhl, Dokumentation Stein, S. 6. Zu den ursprünglichen Inschriften siehe LHA SN 2.12–3/4 Specialia 2056: Eine kurtze Beschreibung von Dobberan …, fol. 21r–22. 37 Auf eine öffnung der gemauerten Kammer wurde bei der gegenwärtigen Restaurierung des Grabmals bewusst verzichtet. 38 Denkwürdigkeiten der Kirche zu Doberan: Memorabilia Templis Doberanensis, Denck-würdige Grabschriften, Antiquitäten und Reliquien, so in der Kirche zu Doberan zu sehen seynd, LHA SN 2.12–3/4 Specialia, Nr. 2056, Fol. 55f.; der Text entspricht dem in „Eine kurtze Beschreibung von Dobberan, haubtseglich was vor denkwürdige Grabschriften, antiquitäten und Reliquien in der Kirche daselbst befindlich wie die Ablagern fundiret […], ebd. Fol. 13, Nr. 23. Vgl. SCHRöDER 1734, S. 335f. 39 LKAS Kartenschrank Bad Doberan Fach 2/1, Blatt 25. 40 LKAS Kartenschrank Bad Doberan Fach 2/1, Blatt 22–27, 30, 31, Fach 45, Blatt 79, 80, 82. 41 LKAS Kartenschrank Bad Doberan Fach 2/1, Blatt 23. 42 LKAS Kartenschrank Bad Doberan Fach 2/1, Blatt 26 u. 27. 43 Zum Wappen BAGMIHL 1843, 1. Bd., S. 1. 44 Zum Leben Hans Behrs d. Ä. ROSEN 1896, S. 3–26, vgl. auch die Stammtafeln bei HILDEBRAND 1908, Taf. xV, Generation xII, 2. 45 Vgl. SCHULZE 2014, S. 323–325. 46 Vgl. SCHULZE 2014, S. 225. 47 MANSFELD 1952, S. 77f.; vgl. SCHLIE 1899; S. 659. ähnlich LORENZ 1958, S. 90 („die Oberleitung wird Piloot gehabt haben“). 48 GLOEDE 1960, S. 97 sowie Bildunterschrift zu Abbildung 216, dort fälschlich „Dörteber“ (in späteren Auflagen wiederholt);
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FRÜNDT 1969, S. 28, dort als „Grabmal des Grafen (sic) von Behr“ bezeichnet; gleichlautend FRÜNDT 1987, S. 29; BAIER/ENDE/OLTMANNS 1990, S. 259; ERDMANN 1995, S. 78f.; DEHIO MV 2000, S. 34; STUTH 2001, S. 169; VOSS 2008, S. 144; STUTH 2013, S. 103, Anm. 48. LHA SN 2.12–1/26 Hofstaatsachen – Fürstliche Schlösser und Häuser 38: Gerd Everts Pilots Correspondenz betr. Bauten an verschiedenen fürstlichen Gebäuden etc. 1618–1626, unfoliiert, vgl. SCHULZE 2014, S. 322. VRIES 1605, 2. Teil, Fig. 23; siehe digitalisiertes Exemplar der Sächsischen Landesbibliothek: http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/12832/171/1/ (Zugriff 04.08.2015). BRINCKMANN 1919, S. 200. Zum Semlower Epitaph siehe WISłOCKI 2005, S. 269. LHA SN 2.12–3/4 Kirchen und Schulen Specialia Nr. 2057, fol. 23–25, Transkription bei SCHULZE 2014, S. S. 320. Schreiben Dötebers an Piloot vom 20. Dezember 1622. LHA SN 2.12–1/26 Hofstaatsachen – Fürstliche Schlösser und Häuser 38: Gerd Everts Pilots Correspondenz betr. Bauten an verschiedenen fürstlichen Gebäuden etc. 1618–1626, unfoliiert, vgl. SCHULZE 2014, S. 322. RöHL 2014, S. 17. Freundlichen Mitteilung Dr. Jörg Ansorge, Horst. LHA 2.12–3/4 Kirchen und Schulen – Specialia 2057, fol. 31, abgebildet bei SCHULZE 2014, S. 320. Zu fehlender christlicher Symbolik am Grabmal Behrs SCHULZE 2014, S. S. 325. Zahlreiche Beispiele bei BRINKMANN 2010. Vgl. RAULFF 2015, S. 126. GAIER 2008. BENNET/BOHRN 1974
Das Grabmal des Geheimen Rates und Hofmeisters Samuel Behr von Franz Julius Döteber und Daniel Werner im Doberaner Münster | 265
FRÜHNEUZEITLICHE BESCHREIBUNGEN DES DOBERANER MÜNSTERS – ZUR HERKUNFT MEHRERER PETER EDDELIN ZUGESCHRIEBENER SCHRIFTEN DES SPÄTEN 17. UND FRÜHEN 18. JAHRHUNDERTS UND IHREM VERHÄLTNIS ZUEINANDER MArtIN HeIDer
In diesem Tagungsband wird die Transkription dreier dem Doberaner Pastor Peter Eddelin (†1676) zugeschriebener Handschriften mit Beschreibungen des Doberaner Münsters veröffentlicht1. Doch nur die erste stammt von Eddelin selbst, während die anderen ihm bislang ohne hinreichende Begründung zugeschrieben wurden. Sie weisen inhaltliche Widersprüche auf, die an einer Entstehung zu dessen Lebenszeit zweifeln lassen. Im Folgenden werden diese und weitere Handschriften sowie die ihnen nachfolgenden, gedruckten Werke aus dem frühen 18. Jahrhundert und deren Verhältnis zueinander behandelt.
DIE HANDSCHRIFT PETER EDDELINS AUS DEM JAHR 1664 („SCHWERINER“ HANDSCHRIFT) Titel: Was denckwürdiges zu Dobran / 1. In der Kirche / 2. Auf dem Hause / hin und her / Aus dem Lateinschen ins Deutsche versetzet durch Magist: Petrum Eddelin / Pastorem Dobberanensem im Jahr 1664 Dokumententyp: Handschrift Datierung: 1664 Signatur: Schwerin, Landeshauptarchiv (LHAS), 2.12–3/4 – 2. Kirchen und Schulen – Specialia – 13775
Linke Seite: Abb. 249, Detail aus Abb. 94
Der Doberaner Pastor Petrus (Peter) Eddelin wurde am 30.9.1599 in Rostock geboren. Er studierte seit 1613 an der Universität Rostock. Elf Jahre später finden sich im Dekanatsbuch derselben Universität Angaben zur Einschreibung seiner Promotion zum Magister im Wintersemester 1624/1625 an der Philosophischen Fakultät. Als Eddelins Herkunft ist hier Rostock vermerkt, als Stand „designatus pastor Dobbranensis“. Die Einführung in das Doberaner Pastorenamt erfolgte am 18.6.1625. Eddelin wurde im Jahr 1675 nach 50jähriger Amtsführung emeritiert. Er starb am 17.1.1676 im 77. Lebensjahr in Doberan und liegt im Münster begraben. Der Grabstein befindet sich heute im nördlichen Seitenschiff, linker Hand vom Zugang zur Bülowkapelle. Die Handschrift Peter Eddelins ist offensichtlich die älteste schriftliche Quelle, die sich ausführlich der Doberaner Innenausstattung und insbesondere deren Inschriften widmet2. Auch wenn beispielsweise der Altertumsforscher Nikolaus Marschalk (†1525) intensive Forschungen über das Kloster und die Inschriften in der Kirche und der Kapelle in Althof betrieb, bleiben konkrete Aussagen zur Kirchenausstattung in dessen Schriften begrenzt. Auch weitere Autoren wie Bernhard Latomus (†1613) und Johann Friedrich Chemnitz (†1687)3, die in den Werken von Dietrich Schröder im 18. Jahrhundert und Friedrich Lisch im 19. Jahrhundert häufiger zitiert werden, widmen sich der Ausstattung nur punktuell. Die den Aufzeichnungen Eddelins folgenden Schriften über Doberan basieren
maßgeblich auf seinen Informationen, setzten sich jedoch in Gliederung, Inhalt und thematischer Schwerpunktsetzung deutlich von ihm ab, insbesondere im zunehmenden Verlauf dieser Werke. Eddelin war Autor weiterer Veröffentlichungen4.
DIE HANDSCHRIFT AUS DER ZEIT NACH 1713 („ROSTOCKER“ HANDSCHRIFT MSS. MECKL. O 6) Titel: Memorabilia Doberanensis Templi. i.e. Denckwürdige Grabschriftten Antiquitäten und Reliquien der Kirchen zu Doberan Dokumententyp: Handschrift Datierung: nach 1713, vor 1728 Signatur: Rostock, Universitätsbibliothek, Mss. Meckl. O 6 Digitalisat: Digitalisierte Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. PPN (Katalog-ID): 790786168 Bislang wurde diese Handschrift ohne hinreichende Begründung zumeist Peter Eddelin zugeschrieben5. Der inhaltliche Vergleich mit der Handschrift Eddelins von 1664 zeigt deutliche Unterschiede, insbesondere im zunehmenden Verlauf. Sie basiert offensichtlich auf den Ausführungen Eddelins, ist aber keinesfalls lediglich eine Abschrift oder eine andere Version. Im Folgenden werden die inhaltlichen Widersprüche aufgezeigt, die dafür sprechen, dass die Schrift erst nach Eddelins Tod entstanden sein kann: Auf S. 57 wird Anna Maria als Herzog Adolf Friedrichs I. „Gemahlin gebohrne von Ostfrießland / Und des jetzt regierenden Herren Frau groß/mamma“ bezeichnet6. Im weiteren Verlauf wird in Bezug auf die Statue Herzog Adolf Friedrichs eindeutig auf dessen Enkel Herzog Karl Leopold verwiesen: „Hertzog Adolph Friderich des jetztregie/renden He(rrn) Hertzogs Caroli Leopoldi / He(rrn) Großvater in Lebenßgroße und / recht nach den Leben“7. Herzog Karl Leopold regierte Mecklenburg in den Jahren 1713 bis 1728. Damit kann diese Schrift nicht vor dem Regierungsantritt Karl Leopolds im Jahr 1713 vollendet worden sein. Es folgt ein Eintrag zu einem Bild in der Fürstengalerie, der ebenfalls ein wesentlicher Hinweis zur Entstehungszeit der Handschrift ist: „Christiani Ludovici / obiit 16.“8. Der am 1. Dezember 1623 Geborene starb am 21. Juni 1692. Das Todesjahr wird in dieser Schrift nicht vollständig angegeben. Entweder wurde an der Schrift bereits zu Lebenszeiten des Herzogs gearbeitet oder, und dies scheint plausibler, sie wurde mit einem zeitlichen Abstand zu seinem Tode erstellt bzw. vollendet, in jedem Fall nach 17009.
268 | Martin Heider
In dieser Schrift aus der Zeit nach 1713 wird kein Autor genannt. Sie zeugt von Ortskenntnis und nimmt verschiedene, nach Eddelins Amtszeit erfolgte Veränderungen in der Kirche auf. Als Autor käme der Doberaner Pastor Justus Statius infrage10. „Im Jahr 1675 wurde er dem alten Pastor zu Dobbran, M. Peter Eddelin substituiert, und ward hernach nicht nur dessen Successor, sondern auch Inspector des Dobbranischen und Luckauischen [rekt. Bukowischen] Circkels [… ]“.11 Er amtierte zudem als besonderer Hofprediger und Beichtvater Herzogs Karl Leopold12, der ab 1713 regierte und längere Zeit in Doberan residierte13. Nach 39jähriger Dienstzeit in Doberan wurde Statius im Oktober 1714 emeritiert14. Die heute vor der Bülowkapelle liegende Grablatte trägt folgende Inschrift: „Hier ruhet der Sel: Herr / justus. Statius weyland / 44jähriger Pastor / beydieser Kirchen auch / des Dobranischen und / Bukowischen Circuli / Praepositus. seines / alters 72 jahr. begra / ben Anno 1719. Pastor Statius dürfte in der rund einjährigen gemeinsamen Zeit in Doberan durch den betagten Pastor Eddelin an die Historie und Ausstattung der Kirche herangeführt worden sein. Als Amtsnachfolger war er zudem für die Kirchenakten zuständig, zu denen die Aufzeichnungen seines Vorgängers über die Kirche gehört haben müssen. Diese Handschrift dürfte somit bald nach 1713 vollendet worden sein, schon während der Regierungszeit Karl Leopolds und noch in der Wirkungszeit des Pastors Statius. Ein weiterer, gänzlich anderer Bericht, der nicht im Zusammenhang mit den hier behandelten Schriften steht, lässt sich Pastor Statius zuordnen15.
DIE „MÜNCHENER“ HANDSCHRIFT Titel: Memorabilia Dobberanensis Templi Epitaphia. Denckwürdige Grab-Schriften der Kirchen zue Dobbrahn Dokumententyp: Handschrift Datierung: nach 1664, vor 1692 Signatur: München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5300 In der Bayerischen Staatsbibliothek München existiert eine weitere Handschrift über die Doberaner Kirche16. Sie basiert inhaltlich ebenfalls auf Eddelin, vor allem in der ersten Hälfte, weicht aber dann mitunter deutlich ab, auch bezüglich der Reihenfolge der behandelten Objekte. Im Vergleich zur Schweriner Handschrift von 1664 (Eddelin) beinhaltet die Handschrift vorrangig Texte in deutscher Sprache und weniger in Latein und weist relevante Abweichungen sowohl zu den
beiden Rostocker Schriften (Kl-108.28, Mss. Meckl. O 6) als auch zur Schweriner Handschrift auf. Eine grobe Einschätzung der Entstehungszeit erfolgte durch den inhaltlichen Vergleich mit den anderen Handschriften. Wesentlich ist dabei ein Hinweis in der Münchener Schrift auf den regierenden Herzog Christian Ludwig von Mecklenburg. Er regierte von 1658 bis zu seinem Tod 1692. Die Münchener Handschrift dürfte demnach zwischen 1664 und 1692, nach dem Tod Eddelins und vor dem Tod Herzog Christian Ludwigs entstanden sein.
DIE „ROSTOCKER“ HANDSCHRIFT (KL-108.28) Titel: Memorabilia Doberanensis Templi. i.e. Denkwürdige Grabschriften, Antiqiutäten und Reliquien. Der Kirchen zu Doberan. Durch M. Petrum Eddelinen Dokumententyp: Handschrift Datierung: nach 1664, vor 1692 Signatur: Rostock, Universitätsbiliothek, Kl-108.2817 Auch diese basiert inhaltlich auf der Handschrift Eddelins von 1664, vor allem in der ersten Hälfte, weicht dann aber, vergleichbar der Münchener und den Rostocker Handschriften (Mss. Meckl. O 6) mitunter deutlich ab. Annegret Laabs datierte die Handschrift auf 164818. Dies kann jedoch nicht korrekt sein, denn auf Seite 22 werden die Gemälde der Herzoglichen Ahnengalerie benannt, darunter das Bild Nr. 9 „Adolph Friederich obiit 1658“, demzufolge kann die Schrift nicht vorher entstanden sein. Unter Nr 11. folgt der Eintrag „Christian Ludewig H.Z.M“. Laut Ilka Minneker entstand das Herrscherportrait durch den Maler Georg Ovens 1661 nach französischen Vorlagen19. Bei in der „Schweriner“ Handschrift Eddelins von 1664 wird es noch nicht genannt, obwohl er dort sämtliche Gemälde aufführt. Christian Ludewig erhält als einziger in der Gemäldeliste den Zusatz „H.Z.M“, Herzog zu Mecklenburg, was darauf hindeutet, dass er zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Schrift regierender Herzog Mecklenburgs war (†1692). Berücksichtigt man zudem den Hinweis auf der Titelseite der Handschrift auf „M. Petrum Eddelien“, würde sich ein noch engeres Zeitfenster von 1664 bis 1676 ergeben, dem Todesjahr Eddelins. Allerdings scheint dieser Hinweis zu seiner Person aus einer anderen Hand zu kommen, möglicherweise ein späterer Zusatz20. Kl-108.28 ist, trotz aller Unterschiede, bezüglich der Inhalte sowie der Gliederung und der Abfolge der Ausstattungsstücke Mss. Meckl. O 6 ähnlicher als den anderen beiden
Handschriften. So kommt der Spruch „Wieck düfel ...“ und der Spruch auf Magnus II. „In dieser Welt ...“. in diesen beiden Schriften schon vor, nicht jedoch in der „Schweriner“ Handschrift von 1664, in der Münchener Handschrift nur in offensichtlich später ergänzten Seiten. In der Münchener Handschrift werden nur zehn Reliquien auf ergänzenden Seiten benannt, in Kl-208.28 bereits 22 im laufenden Text, in Mss. Meckl. O 6 sind es 24. In der „Schweriner“ Handschrift von 1664 wurde noch keine solche Liste aufgeführt. Die vier bislang behandelten Handschriften dürften demnach in folgender Reihenfolge entstanden sein: 1. „Schweriner“ Handschrift Peter Eddelins von 1664. 2. „Münchener“ Handschrift (Cgm 5300), wohl zwischen 1664 und 1692. 3. „Rostocker“ Handschrift (Kl-108.28), nach 1664 und vor 169221. 4. Rostocker Handschrift (Mss. Meckl. O 6), bald nach 1713.
WEITERE HANDSCHRIFTEN, DIE EDDELIN ZUGESCHRIEBEN WURDEN Die kunsthistorische Literatur enthält mehrfach Verweise auf weitere Handschriften Peter Eddelins. Diese Zuschreibungen erfolgten zumindest teilweise zu Unrecht. Ilka Minneker nennt zusätzlich zu der Handschrift von 1664 eine Abschrift Eddelins aus dem 18. Jahrhundert22. Wolfgang Erdmann führt zwei Schriften Eddelins in den Beständen der Universitätsbibliothek Rostock auf23. Annegret Laabs bezieht sich mehrfach auf Werke Eddelins24. Sie ordnet zusätzlich zu der „Schweriner“ Handschrift aus dem Jahr 1664 drei weitere ihm und dem Jahr 1648 zu. Im Zusammenhang dieser Überblicksarbeit konnten nicht alle diese Verweise und Schriften weiter untersucht werden, auch nicht, inwieweit es Überschneidungen zu den oben behandelten Schriften gibt. Dies sollte Gegenstand weiterführender Forschungen sein.
FRÜHE GEDRUCKTE SCHRIFTEN MIT DEUTLICHEM BEZUG AUF DIE DOBERANER KIRCHE Diese Schriften basieren auf den Inhalten der oben genannten Handschriften des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Sie behandeln die Doberaner Kirche als ein Objekt
Frühneuzeitliche Beschreibungen des Doberaner Münsters | 269
im Rahmen der Beschreibung des Herzogtums und erhalten dadurch einen anderen Charakter. Die Angaben zur Kirchenausstattung sind mitunter widersprüchlich. Klüver und andere Autoren verarbeiten offensichtlich Informationen ihrer Vorgänger, ohne die Korrektheit dieser Angaben vor Ort geprüft zu haben. Dieser Umstand macht es heute mitunter schwierig, festzustellen, wann bestimmte Veränderungen an der Kirchenausstattung, z.B. Standortveränderungen bzw. das Hinzufügen oder Entfernen von Objekten tatsächlich stattfanden. 1. Hans-Heinrich Klüver, Beschreibung des Hertzogthums Mecklenburg, 1728 Titel: Beschreibung des Hertzogthums Mecklenburg und dazu gehöriger Länder und Oerter. Zweiter Theil. 1728: In sich haltend Ein Verzeichnis nach dem Alphabet der Städte und merckwürdigen Oerter, und was darinnen sich vornemlich zugetragen. In der Kürtze verfasset von Hans Heinrich Klüvern, Aus Nieder-Schiltberg, in Mecklenburg, Kayserlichen Notario und Raths-Verwandten in Heiligenhafen. Dokumententyp: Teil eines mehrbändigen gedruckten Werkes Erscheinungsjahr: 1728, Verlagsort: Hamburg (Wiering) Autor: Hans Henrich Klüver (auch Klüvern oder Klüwer) Digitalisat: Sammlung digitalisierter Drucke der Universitätsbibliothek Rostock: PPN 77435769x. Standort der Vorlage: München, Bayerische Staatsbibliothek Über das Leben Klüvers ist nur wenig bekannt. Geboren 1678 in Schildbach im Mecklenburgischen, gestorben nach 1744. Er war kaiserlicher Notarius und Senator in Heiligenhafen25. In älteren Quellen wird Klüver auch als Pseudonym für Christoph Georg Jargow angegeben26. Klüvers Werk basiert auf den Informationen aus den Handschriften Eddelins bzw. seiner Nachfolger. Diese Ausgabe von 1728 blieb in den Forschungsarbeiten mit Bezug auf die Doberaner Ausstattung weitestgehend unberücksichtigt, in ihnen wurde zumeist auf Klüvers Werk von 1738 verwiesen. Widersprüchlich erschien daher ein Verweis in Dietrich Schröders Wismarer Erstlingen aus dem Jahr 1734 auf Klüver, der damit nicht später entstanden sein konnte. Im Rahmen der weiteren Beschäftigung mit Klüvers Schriften wurde deutlich, dass es von ihm bereits im Jahr 1728 eine Ausgabe von Teil 2 der Beschreibung des Herzogtums gab, die ausführlich auf die Doberaner Kirche einging27.
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2. Dietrich Schröder, Wismarische Erstlinge, Das sechste Stück, 1734 Titel: Wismarische Erstlinge / Oder einige zur Erleuterung / Der Mecklenburgischen Kirchen-Historie dienende Urkunden und Nachrichten / Welche in Wismar gesamlet und denen Liebhabern. […]. Das Sechste Stück. Dokumententyp: Sechster Teil eines siebenteiligen gedruckten Werkes Erscheinungsjahr: 1734, Erscheinungsort: Wismar Dietrich Schröder wurde am 16.9.1670 in Wismar geboren und starb dort am 22.5.1753. Er war evangelischer Prediger. Ab dem Jahr 1700 amtierte er als Pastor an der Heilig-GeistKirche in Wismar, ab 1702 wirkte er dort als Diakon an St. Marien, die offizielle Einführung in dieses Amt erfolgte am 1.12.1703. Von 1713–1741 war er Archidiakon an St. Marien. 1741 musste er sein Amt wegen Erblindung niederlegen28. Parallel und auch nach dem Ende seiner Amtszeit betätigte er sich intensiv als Chronist und Historiker29. Auch Dietrich Schröder nutzte die Handschriften. Er war jedoch der erste, der genauere Standortangaben für die Doberaner Kirchenausstattung lieferte und sich nicht mehr vorrangig auf die Wiedergabe der zahlreichen Inschschriften in der Kirche konzentrierte. Für das Verhältnis der Schriften aus dem späten 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert und deren jeweilige Korrektheit ist ein Hinweis Schröders wesentlich. Er äußerte den Vorwurf an die direkt vor ihm tätigen Autoren, namentlich Klüver (1728), sie hätten Ausstattung beschrieben, die nicht mehr dem Zustand in Doberan entsprach. 3. Hans-Heinrich Klüver, Beschreibung des Hertzogthums Mecklenburg, 2. Auflage, 1738 Titel: Klüver, Hans Heinrich: Beschreibung des Hertzogthums Mecklenburg und dazu gehöriger Länder und Oerter / In der Kürtze verfasset von Hans Henrich Klüvern, Aus NiederSchiltberg in Mecklenburg, Kayserlichen Notario und Raths Verwandten in Heiligenhafen. Nunmehro zum andern mahl herausgegeben und vielfältig vermehret, Theil 2. Dokumententyp: Teil eines erweiterten mehrbändigen gedruckten Werkes Erscheinungsjahr: 1738, Erscheinungsangaben: Hamburg: Wiering Digitalisat: Sammlung digitalisierter Drucke der Universitätsbibliothek Rostock: PPN (Katalog-ID): 746611595 Angaben zum Autor: Hans Heinrich Klüver (auch Klüvern oder Klüwer), s. o.
Eine stark erweiterte Auflage von Klüvers Beschreibung des Herzogtums Mecklenburg erschien in der Bearbeitung von Christoph Georg Jargow ab dem Jahr 173730, der in Bezug auf die Doberaner Kirche relevante Teil 2 im Jahr 1738. Klüver geht darin auf den Vorwurf Dietrich Schröders zu Unkorrektheiten in seinen früheren Ausführungen (1728) ein. Er verweist lapidar auf die aktuellen Ausführungen Schröders (1734), die er damit als korrekter als die eigenen anzuerkennen scheint. Für sein eigenes neues Werk bleibt dies dennoch ohne Konsequenzen. Den Text über die Doberaner Kirche von 1728 übernimmt er 1738 nahezu unverändert31. Die Unkorrektheiten werden weiter veröffentlicht. Dieser Umstand zeigt, wie wichtig es ist, die Schriften des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts parallel zu untersuchen.
FAZIT Im Ergebnis kann lediglich die „Schweriner“ Handschrift aus dem Jahr 1664 als ein Werk Eddelins bezeichnet werden. Die „Rostocker“ Handschrift (Kl-108.28) enthält zwar einen Hinweis auf ihn. Dieser wurde offenbar nachträglich hinzugefügt. Die „Münchener“ entstand höchstwahrscheinlich, die zweite Rostocker Handschrift (Mss. Meckl. O 6) mit Sicherheit nach dem Tode Eddelins. Die drei letztgenannten basieren auf Eddelin, sind jedoch keinesfalls als reine Abschriften zu charakterisieren: Sie unterscheiden sich in Inhalt und Aufbau deutlich. Die gedruckten Werke der ersten Hälf-
te des 18. Jahrhunderts basieren bei aller Eigenständigkeit, Abweichungen und Widersprüchlichkeiten auf den Handschriften des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Zweifelsohne würden uns ohne diese Hand- und Druckschriften heute wesentliche Aussagen zur Doberaner Kirchenausstattung fehlen32. Wünschenswert wären weiterführende interdisziplinäre Forschungen.
ABSTRACT In this volume the transcription of a manuscript by Peter Eddelin, the oldest written source dedicated to the interior decoration of the Doberan Minster, and in particular its inscriptions, is being published for the first time by Gerhard Weilandt. In this article, the transcription is compared to three manuscripts, which have so far been attributed to Eddelin without sufficient justification. This comparison reveals contradictions between the sources, rising doubts on the origin of the other manuscripts within Eddelin’s lifetime. It was previously unknown that there are other manuscripts, which are based on the original Eddelin manuscript, but subsequently written later. There are also printed works from the early 18th century, following the original manuscript written by Eddelin. The aim of this article is to examine the relationship between these writings and to chronologically classify them more precisely than it was previously possible.
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ANMERKUNGEN 1 2
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S. die Edition von Gerhard Weilandt in diesem Band. Zur Biografie Eddelins: HOFMEISTER 1895 und WILLGEROTH 1924. LAABS 2000, S. 239 verweist auf Handschriften Eddelins, die bereits 1648 entstanden sein sollen. Diese Zuordnung ist fragwürdig. Weitere Ausführungen dazu s. u. Chemnitz war seit 1642 Archivar Herzog Adolf Friedrichs I. EDDELIN 1649: „Kurzer wahrhaftiger Bericht, wie es sonderlich in Mecklenburg in diesem dreißigjährigen deutschen Kriege, allermeist aber zu Doberan, insonderheit zu Doberan anno 1637 und 1638 daher gegangen, […]“. Zit. bei KLÜVER 1739, S. 189– 195; SCHNELL 1907, S. 103–104. – Bei Hans-Heinrich Klüver findet sich ein von Eddelin verfasstes Verzeichnis des Hofstaats, der Räte und Diener Herzog Adolf-Friedrichs zu Mecklenburg. KLÜVER 1739, S. 289ff. Außerdem trug Eddelin zu einer Predigtschrift, die zur Bestattung und dem Leichenbegängnis des ehemaligen „Fürstl. Mecklenb: Pensionarii zu Marienehe“ Claus Berens gehalten wurde, bei. Darin wird Eddelin als „Doberani Pastor & Rev: Ministerii district: Doberan: Senior.“ bezeichnet, s. ROHDE 1658, S. 24., woraus hervorgeht, dass er Verantwortung und Würdigung über die Doberaner Pfarre hinaus im Pfarrdistrikt erhielt. Die Autorenschaft für das Verzeichnis über den Hofstaat etc. lässt zudem erahnen, welches Ansehen Pastor Eddelin bei den Landesherren hatte. Dabei führten zwei Verweise im Online-Verzeichnis der digitalen Sammlungen der Universitätsbibliothek Rostock offensichtlich in der Frage der Autorenschaft und der Entstehungszeit bislang in die Irre. Unter der PPN (Katalog-ID): 822087618 wurde bislang kein Autor genannt, unter 790786168 „M. Petrum Eddelien“. Unterdessen sind folgende Angaben zu finden (Stand 4.7.2017): 1.) PPN 822087618: Memorabilia Doberanensis Templi. i.e. Denckwürdige Grabschrifften Antiquitäten und Reliquien Der Kirchen zu Dobberan: Kl-108.28 / durch M. Petrum Eddelien. Veröffentlichungsangabe: [18. Jh.]. 46 S., Langzeitarchivierung UB Rostock: Digitalisat in Bearbeitung. 2.) PPN 790786168: Memorabilia Doberanesis Templi. i.e. Denckwürdige Grabschriftten Antiquitäten und Reliquien der Kirchen zu Doberan: Mss. Meckl. O 6, Veröffentlichungsangabe: [18. Jh.]. 93 S. Die Autorenschaft Eddelins wird nun der erstgenannten Handschrift zugeordnet. Hier könnte zunächst angenommen werden, mit dem „jetzt regirrenden Herren“ sei Friedrich Wilhelm I., Herzog zu Mecklenburg im Landesteil Mecklenburg-Schwerin gemeint. Dieser regierte von 1692 bis 1713 und war der Neffe Christian Ludwigs I., der wiederum der Sohn von Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg (†1658) und Anna-Maria von Ostfriesland (†1634) sowie der Nachfolger seines Vaters im Herzogsamt war. Es handelt sich jedoch um Herzog Karl-Leopold. Memorabilia Doberanensis Templi, S. 88. Ebd. S. 57. Ansonsten hätte der Autor das Todesjahr kaum auf das ausgehende 17. Jahrhundert festlegen können. Der Herzog hätte auch erst nach 1700 sterben können. Das noch heute in der Doberaner Ahnengalerie vorhandene Bild Christian Ludwigs wird in der Handschrift Peter Eddelins (1664) noch nicht genannt.
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10 Nach ZEDLER 1744, S. 1311 wurde er im Jahr 1647 in Hildesheim geboren, wo er bis zu seinem 23. Lebensjahr lebte. Danach war er eine Zeit lang in Rostock, wo er adelige Kinder „informierte“, also unterrichtete. HOFMEISTER 1895, S. 247 gibt seine Immatrikulation an der Rostocker Universität mit Juni 1671 an. 11 ZEDLER 1744, S. 1311. Die Ordination erfolgte am 11.4.1675. Das Amt des Präpositus hatte er seit dem 1.6.1676 inne. Nachdem seine erste Frau Margarete Schäffer im März 1678 im Kindbett starb, heiratete er im September die Witwe seines Vorgängers, Ilsabe Riewolt. 12 ZEDLER 1744, S. 1311. 13 WILLGEROTH 1924, S. 110. 14 Nach WILLGEROTH 1924, S. 110 starb er am 1.7.1719 im Alter von 72 Jahren zu Ruchow, wohin er als Emeritus gezogen war. Er liegt in der Doberaner Kirche begraben. 15 LAABS 2000, S. 250: Justus Statius: Untertänigste Relation von der Pfarre Dobbran und davon dependierenden Sacris. In: ANNO 1704. 300 mecklenburgische Pastoren berichten über ihre Kirchspiele. Kassette II, L. F1. Übertragung und Zusammenstellung der handschriftlichen Originalberichte aus dem Bundesarchiv Koblenz von Franz Schubert, Göttingen 1979, S. 40–48. STATIUS 1704, S. 42. 16 Für diesen Hinweis und die Beauftragung der Anfertigung eines Digitalisats danke ich Frau Dr. Christine Magin von der Inschriftenkommission Greifswald. 17 Für die Zusendung eines Digitalisats danke ich Prof. Gerhard Weilandt, Greifswald. 18 LAABS 2000, S. 239 zitiert die Handschrift wie folgt: „Eddelin 1648 (Kl-108.28): Memorabilia Doberanensis Templi. Denkwürdige Grabinschriften, Antiqiutäten und Reliquien der Kirchen zu Doberan. Durch M. Petrum Eddelinen. – Universitätsbiliothek Kl-108.28“. 19 MINNEKER 2007, S. 341f. vermutet, dass das Bild nicht für die Doberaner Kirche gedacht war. 20 Eine schrifttechnische Untersuchung aller dieser Handschriften könnte weiteren Aufschluss zur Entstehungszeit und zur Autorenschaft geben. 21 Auch wenn die Eingrenzung der Entstehungszeit für die zweitund drittgenannte Schrift identisch sind, spricht vieles für die Entstehung in der genannten Reihenfolge. 22 MINNEKER 2007, S. 172, Anm. 900: LHAS 2.12–3/4 (Acta ecclesiarum et scolarum specialia) Doberan Nr. 2056: Petrus Eddelin, Memorabilia Templis Doberanensis. Denck=würdige Grabschriften, Antiquitaeten und Reliquien, so in der Kirche zu Doberan zu sehen seynd, o. O/o. J. 23 ERDMANN 1995, S. 87: 1.) M. Peter EDDELIN: Memorabilia Doberanensis Templi i.e. Denckwürdige Grabschriften, Antiquitäten und Reliquien der Kirchen zu Dobberan durch ... (Doberan o.J.), Autograph Univ.-Bibl. Rostock. KI-108.2); M. Peter Eddelin: Was Denkwürdiges zu Dobberan aus dem Lateinischen ins Deutsch versetzt durch (Doberan) 1664, Autograph in der Univ.Bibl. Rostock W.-232 (olim M. 1133) – Zu 1.) vgl. Angaben bei Kl-108.28. Letztere nennt bereits GLOEDE 1961, S.105, Anm. 43 im Bestand der Universitätsbibliothek Rostock. Es dürfte sich um
die heute im Landeshauptarchiv Schwerin archivierte Handschrift handeln. 24 1.) Eddelin 1648 (Mss. Meckl. 06): Memorabilia Doberanensis Templi i.e. Denkwürdige Grabinschriften, Antiqiutäten und Reliquien der Kirchen zu Doberan. Rostock – Universitätsbiliothek Mss. Meckl. 06. – 2.) Eddelin 1648 (Mss. Meckl. 06a): Epitaphia et Monimenta Illustrium Regum Obotrtarum, Heroum ac Ducum Megapolyrgensium in Templo Monasterii Dobberanensis affixa et consignata descripta Anno … 1648 (Descriptum ab exemplari Bibliotheka Güstrow: 1711). Rostock, Universitätsbiliothek Mss. Meckl. 06a. – 3.) Eddelin 1648 (KL. 108 28): Memorabilia Doberanensis Templi. Denkwürdige Grabinschriften, Antiqiutäten und Reliquien der Kirchen zu Doberan. Durch M. Petrum Eddelinen. – Universitätsbiliothek KL 108 28; vgl. LAABS 2000, S. 239. – Für die zweite dieser Handschriften (Mss. Meckl.06a), liefert LAABS 2000, S. 477 S. 198, 239 zusätzlich den Hinweis „Abschrift Güstrow 1711“. Es wäre auch hier zu klären, ob es sich tatsächlich um eine Abschrift handelt oder um eine Handschrift, die auf Eddelin basiert, aber im weiteren Verlauf inhaltlich deutlich von der „Schweriner“ Handschrift von 1664 abweicht. Die dritte hier genannte Handschrift entspricht der ersten bei ERDMANN 1995, S. 87. 25 ROTERMUND 1810, S. 528: „Gab eine Beschreibung des Herzogtums Mecklenburg heraus. Hamburg 1728. (III. Thl. und in 6 Theilen Hamburg 1737–1742)“. 26 SEHLKE 2009, S. 196.
27 Der erste Teil dieser früheren mehrbändigen Reihe entstand ebenfalls im Jahr 1728, der dritte Teil 1729. 28 WILLGEROTH 1925, S. 1362. 29 Er verfasste u.a. folgende weitere Werke: „Wismarische PredigerHistorie“ (1734); „Mecklenburgische Kirchenhistorie des Papistischen Mecklenburgs“ (1739–1741); „Kurze Beschreibung der Stadt und Herrschaft Wismar“ (1743) und „Kirchenhistorie des evangelischen Mecklenburgs vom Jahre 1518–1742“. 30 ROTERMUND 1810, S. 528. 31 Der umfängliche Teil über die Doberaner Kirche von 1728 unterscheidet sich nur in wenigen Formulierungen und dem Schriftsatz. 32 LISCH 1844, S. 408: Bei aller Verwirrung über die mitunter widersprüchlichen Aussagen dieser Schriften ist Georg Friedrich Lischs Kritik an den vor ihm entstandenen Schriften über das Münster dennoch reichlich überzogen, wenn er schreibt: „Zwar ist in Röper’s Geschichte von Dobberan, in Schröder’s Wismarschen Erstlingen S. 307–344, 365–374 und 393–407 (nach Eddelins Aufzeichnungen), in Klüver’s Mecklenburg II und sonst zerstreut an vielen Orten mancherlei über die Alterthümer mitgetheilt, jedoch so sehr ohne Kritik und die nöthige Gelehrsamkeit, daß sich schwerlich darauf fortbauen läßt“. Lisch relativiert dann jedoch selbst seine eigenen Forschungsarbeiten und verweist darauf, dass diese auch „nur als Andeutung, als Grundlage weiterer, gründlicherer Untersuchungen gelten“ können.
Frühneuzeitliche Beschreibungen des Doberaner Münsters | 273
FALLSTUDIEN UND ExEMPLARISCHE BEFUNDE DIe AUSStAttUNG BIS 1350
DER TÜRZIEHER AUS DEM VORGÄNGERBAU DES DOBERANER MÜNSTERS – EIN BEITRAG ZUM BRONZEGUSS DES 13. JAHRHUNDERTS IN NIEDERSACHSEN UrSULA MeNDe
Zur außergewöhnlich reichen Ausstattung, die sich in der Klosterkirche Doberan erhalten hat, gehört ein Bildwerk, dem bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde. Es ist der in Bronze gegossene Löwenkopf-Türzieher. In Größe und Formgebung eher unauffällig, gibt er erst auf den zweiten Blick seine Qualität und Bedeutung zu erkennen. Ein besonderer Umstand, der als Spätfolge des Zweiten Weltkrieges anzusehen ist, hat auch das Forschungsinteresse ferngehalten. Forschung und Objekt der Forschung waren durch den Eisernen Vorhang getrennt. Freundliche kollegiale Informationen von Ost nach West ergaben, dass der Beschlag verloren sei, und es gab damals keine Möglichkeit für weitere Nachforschungen. So geschah eine stilgeschichtliche Einordnung zunächst nur nach Foto-Vorlage. Sie versetzte die Bronze jedoch in unzutreffende Zusammenhänge, wodurch sie ins Abseits geriet. Glücklicherweise ist dieser Löwenkopf jedoch erhalten geblieben und befindet sich jetzt im Innern der Kirche, an der Sakristeitür. Er soll hier in seinem tatsächlichen Umfeld dargestellt und gewürdigt werden. Für das Corpus der mittelalterlichen Türzieher, in das auch dieses Exemplar aufgenommen wurde, stand nur ein Foto zur Verfügung, das den Löwenkopf frontal, dabei mit leichter Untersicht zeigt, und kaum spezifische, für einen Vergleich geeignete Merkmale erkennen ließ. Der Kopftypus schien entfernt mit Lübeck in Verbindung zu stehen, mit Werken in der Nachfolge von Johannes Apengeter; vor allem die ehemals vorhandene durchbrochene Rahmung, von der die Bruchstellen rundum
zeugen, wies in diese Richtung. So wurde eine Entstehung in Norddeutschland, im Einflussbereich Lübecks vermutet, und zwar in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts1. Damit schien dieser Türbeschlag zur Ausstattung des 1368 geweihten Neubaues der Klosterkirche zu gehören. Diese unrichtige Einordnung wurde erst jüngst, im Jahre 2008 durch Johannes Voss korrigiert, der zutreffend die Entstehung viel früher, noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts erkannte und damit die Zugehörigkeit dieser Bronze zum Vorgängerbau der Klosterkirche, die 1232 geweiht wurde2. Für die Lokalisierung der Bronze brachte er Rostock ins Gespräch3. Die stilgeschichtlichen Zusammenhänge weisen jedoch viel weiter nach Süden. Der Löwenkopf ist ein Import aus Niedersachsen. Das muss nicht verwundern angesichts der wichtigen Impulse, die von Sachsen/Niedersachsen in den südlichen Ostseebereich und auch speziell nach Doberan bis ins ausgehende 13. Jahrhundert wirksam wurden4. Für den romanischen Bronzeguss war das eine hochbedeutende Kunstlandschaft. Der Doberaner Löwenkopf ist nah verwandt mit prominenten Gusswerken, die teilweise dort noch vorhanden oder die dort entstanden sind. Er ist als Tierplastik wie auch in seiner gusshandwerklichen Ausführung von beachtlicher Qualität. Der Türzieher hat die traditionelle Form eines Löwenkopfes mit beweglich im Maul hängendem Ring (Abb. 250, 251). Der Tierkopf stößt relativ weit aus der Fläche vor, er ist umgeben von einem doppelten, schräg zum Randstreifen überleitenden Kranz von Mähnenzotteln. Dieser Randstreifen
Linke Seite: Abb. 250. Türzieher, Harzvorland (Goslar oder Halberstadt?), 2. Viertel 13. Jahrhundert
ist unvollständig. Eine umlaufende unregelmäßige Bruchkante deutet auf eine ehemals hier anschließende durchbrochene Rahmung. Sie war wohl in Teilen weggebrochen und wurde dann begradigt, um einen annähernd kreisförmigen Umriss zu erhalten. Der Türbeschlag ist von nur geringen Ausmaßen. Der ursprüngliche Durchmesser ist unbekannt, im jetzigen Zustand beträgt die Höhe 16,5 cm, die Breite 15,5 cm, die Reliefhöhe des Tierkopfes ca. 9 cm. Das Tiergesicht ist lebhaft und ausdrucksvoll, was wesentlich durch die detaillierte Bildung der Augen und der Nase bewirkt wird. Die Augen sind lidgerahmt und mit tief gebohrter Pupille versehen; der Blick erhält seinen besonderen Akzent durch eine spannungsvolle Bogenführung über dem inneren Augenwinkel. Merkwürdig ist der Nasenspiegel in seiner überlappenden, annähernd dreieckigen Form mit energischer Linienführung der seitlichen Winkel, die ge-
Abb. 251. Türzieher, Harzvorland (Goslar oder Halberstadt?), 2. Viertel 13. Jahrhundert
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blähte Nüstern andeuten. Im glattflächig modellierten Gesicht sind die Wölbungen von Jochbogen und Maulpolstern nur zart angedeutet. Eine weitgehend abgegriffene, nur schwach noch sichtbare ziselierte Doppellinie mit seitlichen Schraffuren verläuft vom inneren Augenwinkel zwischen diesen Wölbungen hindurch und umrundet, von weiteren Bogenlinien begleitet, die Maulwinkel. In deren Rundungen und hinter den Reißzahnpaaren ist Platz für den Ring. Dessen Original ist verloren, das man sich schlanker im Querschnitt vorzustellen hat (vgl. Abb. 259), als die etwas zu schwergewichtig ausgefallene Ergänzung5. Die mittlere Maulöffnung zwischen den Zähnen ist nach oben erweitert, dabei leicht nach links verschoben. Welche Art von Beschädigung hier vorliegt, ist unklar. Denkbar wäre ein Reparaturgussflicken (Überfangguss), der später ausgefallen ist. Weit nach oben versetzt und dicht zusammen gerückt sind die kleinen runden, schüsselartig eingetieften und nach vorn gestellten Ohren, unmittelbar vor dem Mähnenkranz. Dieser besteht aus zwei Reihen gegeneinander versetzter kurzer Zotteln von kräftig gebuckelter Form, zugespitzt und mit feinliniger, bereits im Gussmodell angelegter Haarzeichnung versehen. Wo die Zotteln auf dem glatten Grund enden, schloss ursprünglich die Rahmung an, vermutlich ein durchbrochener Ornamentstreifen, vielleicht mit umlaufender Wellenranke. Das Gesamtbild des ornamentgerahmten Löwenkopfes, für das sich ein stilgeschichtlich nicht weit entferntes Exemplar als Vergleich nennen lässt (Abb. 259), hat man sich wirkungsvoller vorzustellen als den heutigen reduzierten Zustand. Möglicherweise enthielt dieses Rahmengefüge auch geschickt integriert die ursprünglichen Nagellöcher. Heute ist der Beschlag mit modernen Eisennägeln auf der Sakristeitür befestigt. Die Nagellöcher im glatten Rand sind unregelmäßig verteilt; sie stammen aus unterschiedlichen Zeiten, wie offene Nagellöcher zu erkennen geben. Die wesentlichen Einzelheiten des Doberaner Löwenkopfes begegnen an einem Löwen-Aquamanile im Landesmuseum Schleswig (Abb. 252, 253)6. Die überlappende Nasenform, die Augen mit der tief gebohrten Pupille, die Ohren, die hier gut erhaltene graphische Linienführung von der Nasenwurzel zu den Maulwinkeln hin, auch die Form der Mähnenzotteln bezeugen die enge Verwandtschaft. Das Tier ist von schlanken Proportionen und steht auf hohen Beinen mit ganz flachen Pranken. Das rechte Hinterbein ist weggebrochen, zusammen mit dem Schwanz, von dem nur der Ansatz erhalten blieb. Eine Drachenfigur mit hoch aufgebäumtem Rücken bildet den Griff; der Wassereinguss, mit einem Deckel verschlossen, befindet sich auf dem Schädel
Abb. 252. Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Löwen-Aquamanile, Harzvorland (Goslar oder Halberstadt?), 2. Viertel 13. Jahrhundert
Abb. 253. Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Löwen-Aquamanile, Harzvorland (Goslar oder Halberstadt?), 2. Viertel 13. Jahrhundert
des Löwen, und ein schräg aufwärts gerichtetes Ausgussrohr ragt aus seinem Maul. Dieser Gießlöwe ist außerordentlich dünnwandig, gusstechnisch somit von hoher Qualität, ebenso als Tierplastik ein formschönes Exemplar. Über seine Provenienz ist wenig bekannt. 1935 wurde er aus dem Museum für Vaterländische Altertümer in Kiel übernommen, mit der Angabe, dass er aus Nordschleswig stammen soll. Seiner Oberflächenbeschaffenheit nach ist es ein Bodenfund. So wird er als zeremonielles Waschgerät für eine Kirche, Burgkapelle oder auch für eine profane Tafel im Herzogtum Schleswig oder in Dänemark bestimmt gewesen sein. Der Löwe im Museum von Schleswig ist ein Nachfolger einer sehr prominenten Gruppe von Löwen-Aquamanilien, die in unmittelbarer Nähe des Taufbeckens im Dom von Hildesheim entstanden sind, wohl in Hildesheim selbst und in der Zeit um 1220–12307. Als Beispiel dient hier das Exemplar im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg (Abb. 254, 255)8, das in der Gesamtgestalt wie in wichtigen Details diese Vorbildfunktion deutlich macht. Mit dem Tier in Schleswig gut vergleichbar sind – abgesehen von der verloren gegangenen kraftvollen Körperlichkeit – die gespannt aufgerichtete Haltung, die extrem flachen Pranken, die Augen, der Nasenspiegel in seiner spezifischen Ausbildung, die Form des vollrunden, mit eigenem Gusskern ausgestatteten
Griffdrachen, das aufwärts gerichtete Ausgussrohr, die kurzen zugespitzten Mähnenzotteln, sogar eine Art Bärtchen am Unterkiefer. Letzteres gehört zu den Details, die auf das Standbild des Braunschweiger Burglöwen zurückgehen, der als Vorbild für die Hildesheimer Löwen-Aquamanilien eine
Abb. 254. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, Löwen-Aquamanile, Hildesheim, um 1220–1230
Der Türzieher aus dem Vorgängerbau des Doberaner Münsters | 279
Abb. 255. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, Löwen-Aquamanile, Hildesheim, um 1220–1230
Abb. 256. London, Victoria and Albert Museum, Löwen-Aquamanile, Hildesheim, um 1226
wesentliche Rolle gespielt hat. In dessen Nachfolge steht somit auch der Löwe in Schleswig. Seinen verlorenen Schwanz wird man sich wie bei den meisten Hildesheimer Exemplaren, so auch bei dem in Hamburg vorstellen dürfen, frei hängend, dabei die Schwanzquaste zum Hinterbein zurückgewendet. Die nach vorn gerichteten Ohren und die stärker stilisierte kragenförmige Halsmähne zeigt besser vergleichbar ein anderes Exemplar der Hildesheimer Aquamanile-Gruppe, der Löwe im Domschatz von Halberstadt9. Geblähte Nüstern sind bei mehreren von ihnen ein wichtiger Bestandteil der ausdrucksvollen Tiergesichter. Den Ausgangspunkt für die merkwürdig überlappende Form des Nasenspiegels möchte man bei einem Löwen in London sehen, der durch die Qualität seiner plastischen Formgebung herausragt und dem Dom-Taufbecken von 1226 besonders nahe steht (Abb. 256)10. Wie die Nase sich zu den geblähten Nüstern hin weitet, das erscheint hier durchaus organisch. Bereits bei dem nah verwandten Tier in Hamburg (Abb. 255) findet sich die stilisierte Umwandlung, wie sie an den Löwenköpfen in Schleswig und in Doberan weiterlebt (Abb. 250, 251, 252). Eine etwas spätere Stilstufe in Hildesheim vertritt der Leuchterlöwe, der sich als alter Bestand im Besitz des dortigen Domes erhalten hat, und der wohl um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden ist11. In dessen Nachfolge wurde der Gießlöwe im Museum Schleswig zunächst gesehen, möglicherweise selbst als Hildesheimer Arbeit und in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datieren12.. Das lässt sich jedoch korrigieren. Wie der Vergleich mit dem Exemplar in Hamburg zeigt (Abb. 254, 255), gehört der Schleswiger Löwe – und mit ihm der nah verwandte
Türbeschlag in Doberan – wirklich in die erste Jahrhunderthälfte, in die engere Nachbarschaft der Hildesheimer Aquamanilien von 1220–1230. Das Formenrepertoire dieser Hildesheimer Werkstatt bildete den Ausgangspunkt. Die spezielle Werkstatthandschrift jedoch, die diese beiden Kleinbronzen in Schleswig und Doberan kennzeichnet, begegnet mit mehreren Gusswerken größeren Formats in einer benachbarten Region, im Harzvorland. Dort scheint diese Werkstatt tätig gewesen zu sein. Die spezifische Form der Nase weist den Weg zu den verwandten Werken. Der Marktbrunnen in Goslar besitzt am oberen Knauf Tiermasken, die als Wasserspeier aus ihren – jetzt zumeist reparierten – Ausflussrohren das darunter stehende Brunnenbecken füllen (Abb. 257)13. Neben der Nase sind die Augen sowie Stellung und Form der Ohren mit dem Doberaner Türbeschlag gut vergleichbar, wie auch das Tiergesicht insgesamt; eine Mähne ist dort nicht vorhanden. Vier Löwenköpfe dieser Art bilden eine untere Reihe am Brunnenknauf. Von abweichender Form, in die Länge gezogen und dabei grotesk wirkend, sind die versetzt angeordneten vier Köpfe der oberen Reihe; wichtig für deren Ausdruckskraft sind wiederum die Nüstern, mit ihren mächtig geblähten Rundungen14. Der Löwenmasken-Knauf gehört zu den Bestandteilen des Goslarer Marktbrunnens, deren Entstehung um 1230 anzunehmen ist, in Abhängigkeit von Hildesheim15. Diese Teile sind das kleine Brunnenbecken (ohne dessen Löwenmasken aus dem späten 19. Jahrhundert), sein von vier Drachenfiguren abgestützter Fuß sowie die Brunnensäule mit diesem Knauf. Die Verwandtschaft mit Hildesheim wird deutlich
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Abb. 257. Goslar, Marktbrunnen, Knauf mit Löwenköpfen, Goslar, um 1230
beim Vergleich der Drachen am Brunnenfuß mit Kleinbronzen, die zum Umkreis des Hildesheimer Taufbeckens gehören, etwa mit dem Sirenen-Aquamanile aus der Stiftskirche von Enger16. Die Entstehungsgeschichte des Goslarer Marktbrunnens, der aus verschiedenen Teilen von einst unterschiedlichen Standorten vereinigt wurde, ist kompliziert und nicht völlig aufgeklärt. Dennoch spricht einiges dafür, dass der genannte kleine Brunnen aus der Zeit um 1230 in Goslar selbst entstanden ist, als Teil einer handwerklichen Tradition, die hier im 13. Jahrhundert über einen längeren Zeitraum wirksam war17. Mit dem Goslarer Brunnen nah verwandt ist das Taufbecken der Kirche St. Johannis in Halberstadt, was deutlich ablesbar ist an den Tiergesichtern, aber auch an anderen Details (Abb. 258)18. Hier fungieren vier tief geduckt liegende, nur mit dem Oberkörper sichtbare Löwen als Träger, die mit dem Fuß der Taufe zusammen gegossen sind. Die in Bewegung und Ausdruck lebhaft erscheinenden Köpfe sind angehoben, bei zwei Tieren auch leicht seitwärts gewandt. Die Mähne zeigt die von den Bronzen in Doberan und Schleswig bekannte Struktur aus zugespitzten kurzen Buckeln, stellenweise auch mit der (im Gussmodell angelegten) Haarzeichnung, zudem den gemusterten Kragenstreifen wie bei dem Aquamanile. Auch das Bärtchen ist angedeutet, das auf das ferne Vorbild des Braunschweiger Burglöwen zurück geht. Der Löwenkopf mit seinen Bestandteilen, den Augen, den hoch gestellten Ohren, dem schwach erkennbaren Lineament zwischen Nasenwurzel und Maulwinkel entspricht weitgehend den bisher gesehenen Details. Die Linienführung der Nase mit ihren Nüstern-Rundungen erscheint hier be-
sonders spannungsvoll. Lebhafter Akzent ist auch das knapp geöffnete Maul mit der sichtbaren, leicht angehobenen Zungenspitze. Diese Tauf-Löwen in Halberstadt sind kraftvolle Geschöpfe, von allerdings geringen Abmessungen. Bei einer Höhe von 15,5 cm sind ihre Tiergesichter etwa gleich groß wie am Türbeschlag in Doberan. Mit Blick auf den Goslarer Brunnen wird man für die Taufe in Halberstadt etwa die gleiche Entstehungszeit annehmen dürfen, um 1230, allenfalls wenig später. Auch hier gibt es Argumente, die für eine Entstehung am Ort sprechen könnten, also in Halberstadt selbst. Die Kirche St. Johannis, der evangelische Fachwerkbau des 17. Jahrhunderts, ist zwar nicht der ursprüngliche Aufstellungsplatz, die Übernahme aus einer Kirche am Ort ist jedoch zu vermuten. Denn auch ein Vorbild in Halberstadt lässt sich benennen, auf das sich diese Taufe zu beziehen scheint. Es ist das Marmor-Taufbecken des Halberstädter Domes, eine Stiftung des Bischofs
Abb. 258. Halberstadt, St. Johannis, Taufbecken, Harzvorland (Goslar oder Halberstadt?), 2. Viertel 13. Jahrhundert
Der Türzieher aus dem Vorgängerbau des Doberaner Münsters | 281
Gardolf von Harbke aus dem Jahre 119519. Auch hier wird der kelchartige Fuß von vier Löwen getragen, die bis in die Ausrichtung ihrer Köpfe auf das Bronzetaufbecken von St. Johannis eingewirkt haben könnten. In Halberstadt hat sich ein weiteres Gusswerk erhalten, das seinen Details nach in die Verwandtschaft der hier besprochenen Werke gehört. Es ist der wenig beachtete monumentale Dreiarm-Leuchter im Halberstädter Dom20. Sein Fuß ist von schlichter Kalottenform, der auf vier Pranken steht. Der Schaft wird durch sieben Knäufe von gedrückter Form gegliedert, die beiden schlankeren Seitenarme durch jeweils vier Knäufe. Das dreistufige Randprofil der Kalotte gleicht weitgehend dem Fußrand sowohl an der Halberstädter Taufe wie am Goslarer Marktbrunnen; und dort an den Drachenfiguren finden sich auch vergleichbar langgliedrige Pranken. So wird auch der dreiarmige Leuchter diesem Werkkreis zugehören. Ob Taufe und Leuchter allerdings wirklich in Halberstadt gegossen worden sind, ist nicht sicher. Sie bestehen aus Teilstücken,
Abb. 259. Freiburg i. Br., Münster, Türzieher, Hildesheim, um 1226
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die leicht zu transportieren waren. Sollten sie in Goslar entstanden sein, zusammen mit dem nah verwandten dortigen, als Goslarer Bronze zwar vermuteten aber nicht gesicherten Marktbrunnen? An beiden nah benachbarten Orten, in Goslar und Halberstadt, haben sich jedenfalls Zeugnisse dieser speziellen, um und nach 1230 fassbaren Werkstatt erhalten. Das im Domschatz von Halberstadt befindliche LöwenAquamanile allerdings stammt nicht aus dieser Werkstatt, sondern es gehört zu den Hildesheimer Exemplaren der Zeit um 1220–123021. Als Fazit für den Löwenkopf-Türzieher der Klosterkirche Doberan ergibt sich, dass mit dem Gießlöwen des Museums in Schleswig eine nächstverwandte Bronze im Norden überliefert ist (Bodenfund Nordschleswig), dass die Heimat von beiden jedoch in Niedersachsen, genauer im Harzvorland lag. Gusswerke von weitgehend übereinstimmender Formgebung, die eine gemeinsame Werkstatt annehmen lassen, haben sich in Goslar und Halberstadt erhalten, diese in größeren Formaten, allerdings nicht immer am ursprünglichen Bestimmungsort. Die betreffende Werkstatt arbeitete in der Nachfolge von Hildesheim, wie der Vergleich mit Hildesheimer Aquamanilien der Zeit um 1220–1230 zeigt, in einem nur geringen zeitlichen Abstand. Als Datierung für die Bronze in Doberan ist das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts wahrscheinlich. Der Vorschlag für eine genauere Lokalisierung innerhalb Niedersachsens lautet: Harzvorland (Goslar oder Halberstadt?). Vom weiten Exportradius prominenter Gusswerkstätten Niedersachsens im 13. Jahrhundert zeugt auch das TürzieherPaar des Münsters in Freiburg i. Br. (Abb. 259)22. Es ist um 1226 in der Werkstatt des Hildesheimer Dom-Taufbeckens entstanden. In Freiburg war es vermutlich für die zweiflügelige Außentür des Südquerhauses bestimmt, für das Nikolausportal aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. Seit langem befindet es sich, wie in Doberan, ins Innere versetzt, nun getrennt an zwei Türen der Sakristei. Besonders interessant in Hinsicht auf das Doberaner Exemplar ist die hier erhalten gebliebene ornamentale Rahmung. Sie besteht aus einer umlaufenden Wellenranke mit alternierenden Blättchen, durchbrochen gearbeitet, dabei auch mit Berücksichtigung der Nagellöcher für die Montierung auf der Tür. Mit der Datierung ins zweite Viertel des 13. Jahrhunderts gehört der Löwenkopf-Türbeschlag in Doberan nicht zum Münster-Neubau, sondern er stammt aus dessen 1232 geweihtem Vorgängerbau, wurde offenbar gezielt für dessen Erstausstattung erworben23. Es gibt viele Beispiele dafür, dass mittelalterliche Türzieher-Bronzen in Neubauten über-
nommen wurden, dass sie Umbauten und Neuausstattungen überlebten; mitunter reichen sie zeitlich bis auf den Gründungsbau zurück24. Das trifft beispielsweise für den Löwenkopf am Portal des Münsters von Frauenwörth, auf der Fraueninsel im Chiemsee, zu; er gehört zum karolingerzeitlichen Kirchenbau, somit zur Stiftung des Bayern-Herzogs Tassilo III. aus der Zeit um 78025. In Ebersberg (Obb.) erinnert allein das Türzieher-Paar aus dem 11. Jahrhundert – ein Exemplar davon inzwischen als Leihgabe im Bayerischen Nationalmuseum in München – an diese frühe Epoche in der Geschichte der Klosterkirche; die vorromanischen Bronzen finden sich integriert in das gotische Eisenbeschlagwerk der Türflügel, der jetzige Bau stammt aus dem 15. Jahrhundert und erhielt im 18. Jahrhundert seine neue Innenausstattung26. Selbst in beschädigtem Zustand, wie in Doberan, wurde ein solches Exemplar nicht beseitigt oder ausgetauscht. Nicht der praktische Gebrauchswert dieser Bronzen, sondern ihre sinnbildliche Funktion, die anscheinend langwährend im Bewusstsein blieb, müssen Ursache der vielerorts zu beobachtenden Langlebigkeit sein. Im Zeitalter des Denkmalschutzes geschah häufig die Versetzung ins Innere, bevorzugt an Sakristeitüren. Damit ging allerdings die ursprüngliche Funktion verloren, die Botschaft für den Gläubigen vor dem Kirchenportal. Der mittelalterliche Türzieher war christliches Bildsymbol innerhalb der Erlösungsverheißung der Türund Portal-Ikonographie. Das ambivalente Abbild des Löwen führte dabei zu Interpretations-Varianten, vom Symbol des Bösen, unheilabwehrend in Art steinerner Portallöwen, bis zum Symbol Christi, wie auch zu Funktionen im mittelalterlichen Rechtsleben. Welche Kirchentür in Doberan der ursprüngliche Platz des Löwenkopf-Türziehers war, ist unsicher. Im jetzigen Bau gab es nur an der Nordseite der Kirche zwei „öffentliche“ Portale, das zum Mönchsfriedhof führende im nördlichen Querhaus und dasjenige im westlichsten Seitenschiffjoch27. Im südlichen Teil der Westseite, innerhalb der Überreste des Baues von 1232, befindet sich die Konversenpforte. Hier könnte der alte Standort gewesen sein28. Mitte des 19. Jahrhunderts, als die südlich anschließende Klausur nicht mehr existierte, befand sich die Bronze an einer Tür des südlichen Seitenschiffes, ehemals ein Zugang vom Kreuzgang her. Um 1856 wurde sie von dort an die Konversenpforte versetzt29. 1878 versuchte Gotthilf Ludwig Möckel im Zusammenhang
seiner Restaurierung des Beinhauses, die Bronze für diesen Bau zu übernehmen30. Sie verblieb jedoch an der Konversenpforte31, wo sie zu einem unbekannten Zeitpunkt nach innen geholt wurde, an die innere Tür des Windfangs. Das blieb ihr Platz über Kriegs- und Nachkriegszeiten hinweg, jedoch offenbar so unauffällig, dass sie in der topographischen Literatur keine Erwähnung mehr fand, dass es sogar zu der Fehlinformation kam, sie sei verschollen. Erst im Verlaufe der umfangreichen Restaurierungsarbeiten im Kircheninnern wurde der Löwenkopf gleichsam neu entdeckt, erhielt 1984 an der Sakristeitür im südlichen Seitenschiff einen würdigen Platz und wurde auch wieder mit einem Ring ausgestattet32. So war der Weg in die Aufmerksamkeit der öffentlichkeit geebnet, wozu auch die Literatur beitrug, die seitdem auf dieses bedeutende Zeugnis aus der Geschichte des Klosters Doberan hinweist33.
ABSTRACT The lion-headed door pulls of the abbey went mainly unnoticed, however, as a part of the furnishing of the minster as well as an example of late Romanesque bronze casting, it is an important piece of art. It is older than the current building, which was begun after the fire in 1291, and was intended for the predecessor building, which was consecrated in 1232 – the door pullers approximate time of origin. We encounter cast lion heads in very similar workmanship on the market fountain of Goslar (around 1230) and the baptistery of Saint John’s in Halberstadt. Both correspond so closely with the door handle of Doberan, that its origin from the same workshop may be assumed. The prerequisites for such a workshop were being met in the area around Hildesheim, as the Hildesheim aquamaniles of the time between 1220– 1230 show. Presumably shortly after – around and after 1230 – the successor workshop has been in place. It is suggested to date the lion head of Dobaran to the second quarter of the 13th century. Thus the door handle originates in the foothills of the Harz Mountains (Goslar or Halberstadt?). Closest related is a lion-aquamanile in the State Museum Schleswig, an archaeological find from northern Schleswig and thus another exported piece sent north from the workshop in the Harz foothills.
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MENDE 1981, Nr. 145, Abb. 246; DEHIO 2000, S. 36. VOSS 2008, S. 13 (mit Abb. 21), 155 (Nr. 59); bereits SCHLIE 1899, S. 680 bezeichnet den Löwenkopf als romanisch. VOSS 2008, S. 155: „Es ist nicht auszuschließen, dass der Löwenkopf in einer Rostocker Gießerei gegossen wurde.“ Vielfach angesprochen von VON FIRCKS 2012. Dazu s.a. Anm. 32. Schleswig, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Schloss Gottorf, Inv. Nr. 1935–744. Maße: H. 24,6 cm, L. 28,5 cm. FALKE/MEyER 1935, S. 72, Nr. 452, Abb. 424; KAT. BRAUNSCHWEIG 1995, Nr. B 33 (Ursula Mende) mit überholter Einordnung, dazu im vorliegenden Text weiter unten, mit Anm. 12. – Hilfreich bei Bemühungen um diesen Löwen waren Ulrich Schneider, Ulrike Ernemann, Dietrich Bieber und Tobias Springer, denen vielmals gedankt sei. KAT. HILDESHEIM 2008, Nr. 47–48, 50–52; MENDE 2008, S. 193– 201. Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe, Inv. Nr. 1882.232, aus der Sammlung Johannes Paul, Hamburg. FALKE/MEyER 1935, S. 70, Nr. 437, Abb. 410; MENDE 2008, S. 194, 196, Abb. 12–2. Halberstadt, Domschatz, Inv. Nr. 321. FALKE/MEyER 1935, S. 70, Nr. 439, Abb. 412; KAT. HILDESHEIM 2008, Nr. 52 (Ursula Mende); MELLER/MUNDT/SCHMUHL 2008, Nr. 35 (Ursula Mende). London, Victoria and Albert Museum, Inv. Nr. 246–1894. FALKE/MEyER 1935, S. 70, Nr. 436, Abb. 408; KAT. NEW yORK 2006, Nr. 8 (Peter Barnet, Pete Dandridge); KAT. HILDESHEIM 2008, Nr. 50 (Ursula Mende); MENDE 2008, S. 197, 199–201. Hildesheim, Dom-Museum, Inv. Nr. DS 89. KAT. HILDESHEIM 2008, Nr. 12 (Ursula Mende). KAT. BRAUNSCHWEIG 1995, Nr. B 33 (Ursula Mende): Niedersachsen, (Hildesheim?), 2. Hälfte 13. Jh. MENDE 1993, S. 200–201, Abb. 9–10; DRESCHER 1993, S. 258, 272, Abb. 10. DRESCHER 1993, S. 258: Zunächst waren nur die vier unteren Köpfe vorgesehen und mit dem Knauf zusammen gegossen, die vier oberen dann nachträglich, aber noch während der Entstehungszeit des Brunnens eingegossen, um die Wasserzufuhr zu verstärken. MENDE 1993, S. 204 noch mit Datierung um 1200–1230, was sich in Bezug zu Hildesheimer Bronzen inzwischen präzisieren lässt: um 1230. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Kunstgewerbemuseum, Inv. Nr. 88,644. FALKE/MEyER 1935, S. 41–42, Nr. 282, Abb. 245 a–
b; KAT. BRAUNSCHWEIG 1995, Nr. G 110 (Klaus Niehr); KAT. HILDESHEIM 2008, Nr. 35 (Ursula Mende). – Die Brunnen-Drachen
abgebildet: MENDE 1993, Abb. 5–8; DRESCHER 1993, Abb. 6–7. 17 MENDE 1993, S. 239–240. 18 LUTZE, Manuskript, Kat. Nr. 17: „Werkstatt in der Harzregion (Halberstadt?), 1. Hälfte 13. Jahrhundert.“ Aus dem beim Deutschen Verein für Kunstwissenschaft zur Veröffentlichung vorliegenden Corpus-Manuskript teilte Klaus Lutze freundlicherweise seine Erkenntnisse bereits mit, wofür ihm vielmals gedankt sei. Für Hilfe in Halberstadt seien auch Pfarrer Harald Kunze und Ronald Göttel dankbar genannt. 19 MELLER/MUNDT/SCHMUHL 2008, Nr. 111 (Klaus Niehr). 20 FLEMMING/LEHMANN/SCHUBERT 1990, S. 152, Abb. 71. 21 Vgl. Anm. 9. 22 Abgebildet ist hier Exemplar A des Türzieher-Paares. MENDE 1981, Nr. 93, Abb. 173–174; Kat. Hildesheim 2008, Nr. 53 (Ursula Mende). 23 Zur aktuellen Forschungsdiskussion um den Beginn des Neubaus s. die Beiträge von Kurmann und von Fircks in diesem Band. 24 MENDE 1981, S. 137–138. 25 MENDE 1981, Nr. 5, Abb. 9–10; DANNHEIMER 2004. 26 MENDE 1981, Nr. 9, Abb. 20–21. 27 VOSS 2008, S. 26: Das Querhausportal vielleicht auch von der fürstlichen Familie genutzt. Das Portal im Westjoch „nur bei besonderen Anlässen für einen begrenzten Personenkreis Auswärtiger geöffnet.“ 28 So auch VOSS 2008, S. 13, 155. SCHMIDT 1992, S. 12 und 2005, S. 14 sprach sich für die Besucher-Pforte im Nordseitenschiff aus. 29 DOLBERG 1893, S. 9 nennt ihn an der Konversenpforte, und zuvor an „einer Pforte, welche westlich von dem südlichen Kreuzarme in das Seitenschiff der Kirche führte und 1856, nach Erbauung des heutigen Portals an jenem, vermauert ward.“ 30 THIELE 2016, S. 345f. 31 Dort aufgeführt bei SCHLIE 1899, S. 680, mit fehlendem Ring, wohl auch ohne Rahmung, die nicht erwähnt wird. 32 Dies alles geschah auf Veranlassung von Carl-Christian Schmidt, seit 1976 Pastor am Doberaner Münster und Landessuperintendent. Der ergänzte Ring wurde von Bernd Thielke, Steffenshagen, ausgeführt, in Absprache und nach Vorgaben von Johannes Voss. Ich danke Herrn Schmidt vielmals für die mitgeteilten Informationen aus der jüngsten Geschichte dieser Bronze. 33 SCHMIDT 1992, S. 12; ERDMANN 1995, S. 25 mit Abb.; SCHMIDT 2005, S. 14–16; ausführlicher dann VOSS 2008, S. 13 (mit Abb. 21), 155 (Nr. 59).
Rechte Seite: Abb. 260. Detail aus Abb. 65: Löwin mit Jungen
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DIE MITTELALTERLICHEN GLOCKEN DES DOBERANER MÜNSTERS CLAUS Peter
Im Dachreiter der Kirche des ehemaligen Zisterzienserklosters Doberan hängt noch heute eine im Jahre 1301 gegossene Glocke (Abb. 262, 263, 271). Ihre Datierung belegt, dass die Kirche zu dieser Zeit soweit fertiggestellt war, dass sie liturgisch genutzt werden konnte. Verschiedene Gegenstände der liturgischen Ausstattung, denen diese Tagung galt, wurden damals zeitgleich bzw. zeitnah geschaffen, und zu diesen gehört eben auch die vorgenannte Glocke. Es gibt heute nur noch sehr wenige Kirchen des Ordens, die eine Glocke aus der Anfangszeit des jeweiligen Klosters bzw. aus der Bauzeit der jeweiligen Kirche bewahrt haben. Diese und im Besonderen die Doberaner Glocke seien nachfolgend näher besprochen und auf ihren unmittelbaren Bezug zum Orden hin befragt. Die Zisterzienser gehören zu jenen Orden, die schon in der Frühzeit detaillierte Vorschriften für den Bau und die Ausstattung ihrer Kirchen erlassen haben, darunter auch zu den Glocken. Sie sind in den Kapitelstatuten (statuta Capitulorum Generalium Ordinis Cisterciensis) festgelegt1. Zahl und Größe der Glocken und ihr Gebrauch sind in den nachstehenden Statuten geregelt:
1157 turres lapideae ad campanas non fiant4 (steinerne Glockentürme sollen nicht verfertigt werden).
1157 Campanae nostri Ordinis non excedant pondus quingentarum librarum; ita ut unus pulset et nunquam duo pulsent simul2. Danach sollten die Glocken der Ordenskirchen nicht schwerer als 500 Pfund sein, sodass immer nur einer [eine Person] läutet und niemals zwei [Personen] zugleich läuten; diese Verordnung wird 1159 mit gleichem Wortlaut wiederholt3.
Linke Seite: Abb. 261. Doberaner Münster von Nordwesten
Abb. 262. Glocke von 1301, Gesamtansicht
1217 In diesem Jahr wird der Abt von Boheria5 verpflichtet, einen Glockenturm, der nicht den Ordensvorschriften entsprach, bis zum folgenden Generalkapitel zu beseitigen: Abbas de Boeris in cuius domo campanile contra formam Ordinis et institutum factum est, infra sequens Capitulum iubeat illud diruere penitus6. Eine Ausnahme gewährt das Kapitel hingegen 1274 dem Abt von Valne Villerario7, der darum bat, einen steinernen Turm errichten zu dürfen, da einen hölzernen zu errichten der starken Winde wegen zu gefährlich sei; Größe und Form des genehmigten steinernen Turms dürften aber nicht der gebotenen Einfachheit des Ordens widersprechen: Petitio abbatis de Valni Villario de campanili lapideo faciendo, cum propter ventorum impetum periculosum sit in illa abbatia facere ligneum campanile, exauditur dummodo quantitatem et formam debitam contra simplicitatem ordinis non excedat8. Betrachtet man vor diesem Hintergrund den Doberaner Glockenbestand, wird sogleich deutlich: Bereits zu Anfang des 14. Jahrhunderts hielt man sich in der Größe der Glocke(n) nicht mehr strikt an die Vorschriften, denn allein die erhaltene Glocke der Klosterkirche überschreitet das zulässige Gesamtgewicht um das Doppelte. Rechnet man die zweite inzwischen abgegangene und mindestens zeitnah, im 14. Jahrhundert, entstandene Glocke der Klosterkirche hinzu, wird die Diskrepanz noch größer – unerachtet dessen, dass nicht bekannt ist, ob diese zweite Glocke größer oder kleiner war, als die erhaltene.
Abb. 263. Glocke von 1301, Ausschnitt der Schulterinschrift
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Dabei fällt auf, dass die in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts und im 13. Jahrhundert relativ häufigen Kapitelstatuten mit Bezug auf Glocken und Glockentürme in der Folgezeit ausbleiben. Sicher dürfte das damit zusammenhängen, dass durch die gerade in der frühen Zeit quantitativ und regional weit ausgreifende Verbreitung des Ordens Regelungsbedarf bestand. Ob dann das Ausbleiben glockenrelevanter Kapitelstatuten die Tendenz der Folgezeit einleitet, die Vorschriften weniger streng zu handhaben, wäre zu prüfen; jedenfalls sollte sie im Lauf der Zeit mehr und mehr Platz greifen, nicht nur in Doberan: So erhielt 1436 das Kloster Schulpforta drei Glocken (statt der ursprünglich erlaubten zwei), von denen allein die größte es auf immerhin 1428 kg bringt9. Auch erhielten die Kirchen bisweilen opulent angelegte Türme (Bebenhausen). Am Ende steht dann das ab 1754 gegossene, 16 Glocken umfassende Geläut der Abtei Salem, dessen größte Glocke allein über 7000 kg wiegt. Bisweilen stießen solche Grenzüberschreitungen aber durchaus auf Ablehnung, wie es der Salemer Abt Anselm Schwab mit seiner vier Jahre später erfolgten Absetzung erfahren musste. Doch zurück zu Doberan: 1301 gegossen – die Datierung ist eindeutig und zweifelsfrei – gehört die Glocke zu der ersten Generation liturgischer Ausstattung, die der Kirche zuteil wurde. Liturgische Quellen allenthalben zeigen, dass die Glocken im Vollzug der Liturgie nicht nur in den Ordenskirchen eine eminent wichtige Stellung einnahmen, geradezu unentbehrlich waren. Die differenzierten Aufgaben der Glo-
cken sind besonders anschaulich aus dem mittelalterlichen Weiheritus zu erschließen, ebenso aber auch aus anderen liturgischen Quellen. Die liturgische Funktion der Glocken bestimmte die Formierung der Geläute, den Inhalt der Glockenschriften und ihre Ikonografie. Doch fehlen diesbezüglich zu ordensspezifischen Besonderheiten beim Gebrauch der Glocken, von Ausnahmen abgesehen, nach wie vor detaillierte übergreifende Untersuchungen10. Im Falle der Zisterzienser treffen die Kapitelstatuten zum Glockengebrauch wenigstens einige Aussagen. Sie betreffen vor allem das Glockenzeichen zur Elevation, das hier besonders früh, 1152, erwähnt wird: Quando campana pulsatur in elevatione hostiae salutis omnis petat veniam praeter eos qui sunt in dormitorio11. Dieses Glockenzeichen scheint in Statuten 1214 und 1215 nochmals auf, wobei eine minor campana erwähnt wird. Demzufolge muss es auch eine maior campana, insgesamt also zwei Glocken, gegeben haben: In omnibus missis in conventu quando elevatur hostia salutaris minor campana in uno ictu pulsetur… (1214) und: Quando minor campana pulsatur in elevatione hostiae salutaris … (1215)12. Das Glockenzeichen zur Elevation scheint nach langer Unterbrechung zuletzt noch einmal 1601 auf, zu einer Zeit also, als das Kloster in Doberan schon nicht mehr bestand: In unoquoque altari seu sacello, sit campana, quae paulo ante elevationem sacrae hostiae pulsabitur, ut qui fuerint in ecclesia vel proximis locis, de adorando augustissimo Sacramento admoneantur13. Außer Frage dürfte stehen, dass der Guss der Glocke 1301 die liturgische Nutzbarkeit mindestens der östlichen Abschnitte der Kirche indirekt belegt. Er steht damit im zeitlichen und sachlichen Kontext u. a. mit einer 1306 getätigten Lichtstiftung und der Herstellung der bereits 1302 erwähnten Fenster14. Der unmittelbare Anlass zum Guss der Glocke und die Frage, welche Rolle dabei ein in seinen Auswirkungen derzeit nicht definierbarer Brand 1291 gespielt hat, bleiben aber vorerst offen15. Die Unverzichtbarkeit für die Liturgie und für unterschiedliche Bereiche des öffentlichen Lebens bestätigen Quellen bis weit in die Neuzeit hinein, denen zufolge z. B. nach Brandunglücken zu allererst die Glocken wiederhergestellt wurden – oft lange bevor die Wiederherrichtung der Kirche selbst ins Werk gesetzt werden konnte16. Sucht man nun in Zisterzienserkirchen anderenorts nach Vergleichsbeispielen, also nach ebenfalls zur Erst- oder Frühausstattung einer Kirche gehörenden Glocken, so stößt man schnell an Grenzen, da auch dieser Frage bisher noch nicht systematisch nachgegangen wurde. So konnten bisher nur wenige Glocken in Kirchen der Zisterzienser ermittelt werden, die bis in die Anfangs- oder zumindest die frühe Zeit der jeweiligen Kirche
bzw. des Klosters zurückreichen. Sie seien im Folgenden erwähnt und auf ihren Bezug zum Orden hin befragt:
MAULBRONN (ENZKREIS, BADEN-WÜRTTEMBERG) Die Kirche wurde 1178 geweiht. Die erhaltene Glocke des 13. Jahrhunderts ist damit sicher nicht deren erste, aber dennoch ein Repräsentant aus der Frühzeit des Klosters. Ihre Inschrift lautet: Ω . + . CV(N)rAt . fVLDeNSIS . NOS . feCIt . VIrGO . Pe(re)NNIS . SIGNA . tVe . LAVDIS . / + AVDIS . NeC . VISCerA . CLAVDIS + IOH(ANN)eS LVCAS . MArCVS . MAtHeVS . ADONAY17. Neben der Signatur und der Anrufung der Evangelisten (eine auf mittelalterlichen Glocken häufige apotropäische Formel) zeigt der mittlere Teil des Textes eine in dieser Form bei Glockeninschriften seltene, explizit mariologische Ausrichtung. Es heißt: „Jungfrau, die Zeichen deines immerwährenden Lobes hörst du und verschließt dein Inneres nicht“18. Der Text steht damit in unmittelbarem Bezug zum Orden, in dessen Liturgie die Verehrung der Gottesmutter einen besonderen Schwerpunkt bildet. Anzumerken ist auch, dass der Vermerk NOS feCIt wohl auf einen Bestand von zwei Glocken schließen lässt, wie er ja zu dieser Zeit bereits gestattet war.
HAINA (LANDKREIS WALDECK-FRANKENBERG) Der Baubeginn der gotischen Klosterkirche datiert um 1216. Der schon früher begonnene Chor wurde 1224 geweiht19. Die wegen der Darstellung des Dreihasenmotivs bekannt gewordene Glocke trägt das Siegel des Mainzer Erzbischofs Siegfried II. (reg. 1200–1230)20. Sie entstand damit in dessen Regierungszeit. Auch die betont schlanke Form der Glocke passt gut in diese Zeit. Ihre Inschrift weist keinen unmittelbaren Bezug zu ihrer Bestimmung in einer Zisterzienserkirche auf, sondern gehört nach ihrem Wortlaut ebenso wie der überaus kunstvollen Buchstabengestaltung mit reicher Binnenzeichnung und ausgezogenen Zierlinien in den Kontext mitteldeutscher Glockeninschriften der Harzregion. Der Text lautet: DA VENIAM CHRISTE PLEBS SUPPLICAT ET SONUS ISTE (Christus, gewähre Vergebung. So bittet (bitten?) das Volk und der Ton [dieser Glocke])21. Die Wendung et SONUS ISte nimmt unmittelbar auf den Weiheritus Bezug, indem die Glocke durch ihren Klang Ge-
Die mittelalterlichen Glocken des Doberaner Münsters | 289
bete zu Gott tragen kann, was sinngemäß auch anderenorts mittelalterlichen Glockeninschriften in unterschiedlichen sprachlichen Versionen zu entnehmen ist.
PARADyŻ (GOśCIKOWO, KREIS śWIEBODZIńSKI, POLEN) Die Kirche des von Lehnin aus besiedelten Klosters Paradyż wurde 1234 begonnen und steht, barock überformt, bis heute. Im Dachreiter hing noch im 19. Jahrhundert eine wohl im 13. Jahrhundert gegossene Glocke, deren rätselhafte Inschrift nur einzelne Buchstaben enthielt. Ein hypothetischer Rekonstruktionsversuch des polnischen Historikers Marceli Tureczek geht davon aus, dass es sich dabei um die ersten Buchstaben eines jeweiligen Wortes gehandelt haben könnte: M(ONACHOS) V(OCO) P(er) Y(eSUM) X(rIStUM) O(PPOrtUNe) t(eMPOre) A(D) H(OrAS) D(ICeNDAS) e(t) f(rAtreM) G(LOrIfICO) Q(UI) I(N) A(LtISSIMO) L(AUDtAUr)22.
DARGUN (KREIS MECKLENBURGISCHE SEENPLATTE) Die Kirche des 1209 von neuem gegründeten Klosters verfügte bis zu ihrer Zerstörung im Jahre 1945 über drei mittelalterliche Glocken. Deren jüngste, eine mit gotischen Minuskeln beschriftete Glocke des 15. Jahrhunderts, blieb erhalten und hängt heute in der Stadtkirche zu Dargun. Sie trägt den auf fast allen mecklenburgischen Glocken des Mittelalters stehenden o-rex-glorie-Text und zusätzlich die Anrufung Mariens: ave maria. Die beiden anderen Glocken waren inschriftlos. Erfahrungsgemäß aber sind solche Glocken in der Regel sehr alt und reichen meist ins 13. oder 14. Jahrhundert zurück. Somit könnten diese Glocken noch aus der Frühzeit des Klosters stammen. Leider gibt es von ihnen keinerlei Beschreibungen oder Abbildungen.
NETZE (STADT WALDECK, KREIS WALDECK-FRANKENBERG) Eine Glocke in der seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts bekannten sog. Übergangsform ist in Netze im Waldecker Land erhalten. Dort bestand eine Kirche bereits, als 1228 ein Kloster der Zisterzienserinnen gegründet wurde, dem
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sie fortan neben ihrer Hauptfunktion als Ortspfarrkirche diente. Aufgrund ihrer typischen Form kann diese Glocke aber durchaus noch aus der Zeit vor der Klostergründung stammen. In Rechnung zu stellen ist dabei, dass ältere Glockenformen sich aus unterschiedlichen Gründen bisweilen länger gehalten haben bzw. auf sie zurückgegriffen wurde, u. a. auch, um die Wiedererkennbarkeit ihres Klanges sicherzustellen. Da die Netzer Glocke inschriftlos ist, lassen sich weitergehende Überlegungen nicht anschließen.
LEEDEN (STADT TECKLENBURG, KREIS STEINFURT) Das Zisterzienserinnenkloster Leeden (Westfalen) wurde 1240 gegründet23; erst 1491 erfolgte die vollrechtliche Aufnahme in den Orden. Aus der Frühzeit des Klosters wird die noch erhaltene inschriftlose Glocke stammen, die der gleichen Werkstatt zuzuschreiben ist wie eine noch erhaltene Glocke des Osnabrücker Doms24. Die Leedener Glocke ist neben einer zweiten von 1496 heute das einzige erhaltene alte Inventarstück der 1945 durch einen Luftangriff völlig zerstörten Kirche. Wahrscheinlich dürften es über diese Beispiele hinaus nicht mehr viele Glocken sein, die in die Anfangszeit eines Zisterzienserklosters zurückreichen – wie es bei den meisten Kirchen anderer Orden ja auch der Fall ist. Den ersten Einschnitt in die Bestandsgeschichte der Glocken in den Ordenskirchen setzte die Aufhebung vieler Klöster im Zuge der Reformation. Das trifft auch für Mecklenburg zu. Die Zuwendung zum neuen Bekenntnis fiel hier aber differenzierter, überwiegend sogar zurückhaltend aus. Denn überall, wo sich die Reformatoren oder die Landesherren nicht Bildersturm auf die Fahne geschrieben haben, also vorwiegend im Falle lutherisch gewordener Territorien, ging man eher behutsam vor25. Johann Michael Fritz formulierte für diesen Umgang mit kirchlichem Inventar drei Parameter die zum Erhalt so erstaunlich vieler Objekte aus vorreformatorischer Zeit in evangelisch gewordenen Kirchen führten, die Weiternutzung, die Umnutzung und die Nichtnutzung26. Die Glocken betrifft dabei vorzugsweise der erste Parameter, die Weiternutzung; niemand fragte offenbar nach ihrer „papistischen“ Vergangenheit – nicht einmal in Kirchen calvinistischer Prägung; sie blieben einfach hängen. Der Doberaner Glocke kam in diesem Kontext zusätzlich zugute, dass, im Gegensatz zu Herzog Johann Albrecht, der mit dem Abriss der Klosteranlage bereits begonnen hatte,
der Mitregent, Herzog Ulrich, die Beseitigung auch der Klosterkirche verhinderte, die damals bereits jahrhundertelang Grablege des mecklenburgischen Herrscherhauses war27. Noch ein Weiteres ist aber zu bedenken: Die werkstoffbedingt enorme Lebensdauer von Glocken – die Doberaner läutet seit nunmehr über 700 Jahren – erhebt sie zu Geschichtsdenkmälern par excellence. Bisweilen haben Glocken mehrere Kirchenbauten an gleicher Stelle überdauert. Dass sie sorgsam verwahrt wurden, und – wenn sie doch einmal Schaden nahmen – die Inschriften ihrer Nachfolgerinnen ebenso wie Schriftquellen an sie erinnern, unterstreicht das nachdrücklich. Auf der Doberaner Glocke steht folgendes: + ANNO ° D(OMI)NI ° M° ° CC°C ° I° ° FVSA ° EST ° HEC ° CA(M)PANA ° KAL(ENDIS) ° DECE(M)B(RIS) + SUB ° DOMINO ° IOHANNE ° ABBATE ° DE ° MELVINGO (Im Jahre des Herrn 1301, an den Kalenden des Dezember, wurde diese Glocke gegossen unter dem Herrn Abt Johann von Elbing) (Abb. 263, 271). Wenn in dieser Inschrift der Name des von 1301 bis gegen 1306 regierenden Abtes auftaucht, so wird man davon ausgehen dürfen, dass das keineswegs nur der Präzisierung des Gussdatums diente, sondern vorzugsweise auch dem ewigen Gedächtnis des Abtes und der Aufforderung zur Fürbitte für sein Seelenheil. Glocken sind damit oftmals wichtige Träger der Memorialkultur. Bei der Betrachtung der doppellinig ausgeführten Inschrift stellt sich zunächst die Frage, ob diese als Mantelritzung entstand oder über aufgelegten wachsgetränkten textilen Fäden modelliert wurde. Beide Techniken führen, handwerklich sauber ausgeführt, zu sehr kongruenten Erscheinungsbildern, die oft nur sehr schwer auseinanderzuhalten sind, falls nicht handwerkliche Nachlässigkeit eindeutige Spuren hinterlassen hat. In ihrer formschönen, aber noch sehr schlichten Gestaltung bilden sie das Grundmuster für eine oft überaus reiche, stilistisch der Initialornamentik mittelalterlicher Buchmalerei verpflichtete Gestaltung, wie sie sich auf vielen Glocken der Region findet28. Warum man bei der Schriftgestaltung von Glocken offensichtlich gerade auf solche Vorbilder zurückgegriffen hat, wird leichter verständlich, wenn man bedenkt, dass liturgische Bücher mit kunstvoll gestalteten Initialen den Auftraggebern der Glocken, also dem Klerus, im gottesdienstlichen Gebrauch tagtäglich präsent waren. Es lag daher nahe, die Schöpfer dieser Werke auch für die Schriftgestaltung auf Glocken heranzuziehen, indem sie die Arbeit des Ritzens ins Innere des abgehobenen Formmantels selbst ausführten oder wenigstens dem Gießer eine Vorlage zur Verfügung stellten. Vorlagen für die Schriftgestaltung, insbesondere die Initial-
kunst fanden sich in Musterbüchern, und das in wohl viel umfangreicherem Ausmaß, als die nur vereinzelt erhaltenen Exemplare das vermuten lassen. Nur so lässt sich die außerordentliche Verbreitung ähnlicher, in Einzelfällen sogar identischer Gestaltungsparameter in der Buchkunst wie bei Glockeninschriften plausibel erklären. Bei der Adaption dieser Vorlagen für den Fertigungsprozess der Glockenform wurden unterschiedliche, mitunter geradezu virtuose Varianten der Herstellungstechnik entwickelt29. In ihren Spitzenleistungen sind sie den Vorbildern aus der Buchkunst durchaus ebenbürtig30. Die Schriftgestaltung der Doberaner Glocke mit doppellinig ausgeführten Buchstaben ist also keine allein in der klösterlichen Tradition verortete Besonderheit, sondern vielmehr ein allgemeines Merkmal mecklenburgischer und pommerscher Glocken des 13. und 14. Jahrhunderts. Auffallend ist der bei aller Schlichtheit formschöne Entwurf der Schrift. Vielleicht darf man in diesem Verzicht auf opulente Auszierung der Buchstaben, wie sie sich anderenorts findet, doch ein ordensspezifisches Merkmal sehen: Denn Zurückhaltung bei der Gestaltung haben die Generalkapitel des Ordens auch für liturgische Bücher gefordert31. Denkbar ist daher, dass in Doberan ein klösterlicher Schreiber diese Schrift ausgeführt oder entworfen hat und diesem Prinzip der Zurückhaltung treu blieb. Nach Vorbildern der Initialornamentik ausgeführte Glockeninschriften sind jedoch keineswegs alleiniges Merkmal der regionalen Glockenkunst; quantitativ konzentriert sind sie vielmehr in der Region um den Harz. So stellt sich als weitere Frage, wie solche Glockeninschriften aus diesem Kerngebiet der Glockenritzungen ins Brandenburgische, nach Mecklenburg, Pommern und sogar bis Ostpreußen gelangt sind, und das mitunter selbst hinsichtlich des Inhalts! Es dürfte wohl keinem Zweifel unterliegen, dass das im Kontext der Erschließung und Christianisierung der einst slawischen ostelbischen Regionen zu sehen ist, in deren Nachgang einstige, im Zuge der Christianisierung und Besiedlung geknüpfte Verbindungen fortlebten. Wie das im Einzelnen zu definieren und zu präzisieren ist, und welche Rolle die Ordensgemeinschaften dabei spielten, bedarf allerdings noch detaillierter Untersuchungen. Im Dunkeln liegt denn auch die Identität des Gießers der Doberaner Glocke. Lediglich die 1288 für die Kirche zu Kittendorf gegossene Glocke mit ihrer stilistisch der Doberaner nahestehenden Schrift kann als Vergleichsbeispiel angeführt werden (Abb. 264, 265). Definitiv ein gemeinsames Merkmal ist vor allem die weit über dem Durchschnitt liegende klangliche Qualität beider Glocken, die in einer vollendeten gotischen Rippe geformt
Die mittelalterlichen Glocken des Doberaner Münsters | 291
gotischen Rippe und die davon abhängige Klanggestalt sich erst im Verlauf des 14. Jahrhunderts etabliert habe und erst im 15. Jahrhundert zur Vollendung gelangt sei. Im detaillierten Vergleich der Glocken von Doberan und Kittendorf gehören die beiden Glocken zu unterschiedlichen Typen, die Kittendorfer (wie viele mittelalterliche der Region) zum Septimentyp, die Doberaner zum Oktavtyp. Beiden aber sind der sehr nahe am Schlagton liegende Primvertreter und die fast reinen Quinten gemeinsam. Damit ist sowohl nach äußerer Gestaltung wie nach Rippenkonstruktion ein Werkstattkontext denkbar32.
TECHNISCHE DATEN UND KLANGANALySE DER GLOCKEN VON DOBERAN UND KITTENDORF IM VERGLEICH
Gewicht*
Abb. 264. Kittendorf, Glocke von 1288, Gesamtansicht
Doberan
Kittendorf
554 kg
630 kg
Durchmesser 971 mm
1067 mm
Schlagring
69 mm
75 mm
Schräge Höhe 735 mm (bis Steg) 800 mm Höhe o. Krone 772 mm
Abb. 265. Kittendorf, Glocke von 1288, Schulterinschrift
sind, d. h. in allem der bis heute üblichen Glockenform entsprechen. Sie entlassen einen wunderschön fülligen, in seiner Struktur wohlgeordneten Klang und müssen daher auch in dieser Hinsicht als Meisterwerke ihrer Zeit gelten. Ihre klangliche Faktur widerlegt damit zum wiederholten Male die immer wieder vorgetragene Meinung, dass diese Form der sog.
292 | Claus Peter
755 mm
Teiltöne vor/nach Schweißung
Teiltöne vor/nach Schweißung
Schlagton
a1 + 7
a1 + 9,5
fis1+3
fis1+3
Unterton
a° ± 0
a° ± 0
g°- 1
g°- 1
Prime
a1 ± 0
a1 + 1
fis1 + 7+
fis1 + 7+
Terz
c2 + 7
c2 + 7 +
a1 + 12+
a1 + 12+
Quinte
e2 + 7
e2 + 5,5
cis2 + 4,5 cis2 + 4,5
Oktave
a2 + 7-
a2 + 9,5
fis2 + 3
Duodezime
e3 + 6
e3 + 8
nicht ermittelt
Nachklang ~sec.
~13/13/ ~15/15/ 60 82
~25/36/ 90
fis2 + 3
~25/36/ 90
Bezugston: a1=435 Hz; Abweichungen in 16tel Halbton. Aufnahme 6. 4. 1991 / 2003 / 16. 11. C. Peter. * Beide Glocken wurden im Zuge der Schweißung gewogen.
Nun gab es außer der erhaltenen Glocke von 1301 in Doberan noch zwei weitere mittelalterliche Glocken. Die Kenntnis ihrer einstigen Existenz verdanken wir dem Wismarer Kirchenhistoriker und Archidiaconus an St. Marien, Dietrich Schröder33, der auch ihre Inschriften überlieferte. Auf der einen, die ebenfalls als Läuteglocke im Dachreiter hing, stand: EN EGO CAMPANA NUNQVAM DENVNCIO VANA LAVDO DEVM VERVM PLEBEM VOCO CONGREGO CLERVM (Siehe, ich, die Glocke verkünde niemals Nichtiges, ich lobe den wahren Gott, rufe das Volk und versammle den Klerus)34. Dieser Text ist regional weit verbreitet und vorzugsweise auf Glocken seit dem 14. Jahrhundert anzutreffen. So ist es durchaus möglich, dass die Glocke zeitgleich oder zeitnah zu der vorerwähnten von 1301 entstanden ist. Ein direkter inhaltlicher Bezug zum Zisterzienserorden ist in diesem Text allerdings nicht zu erkennen. Dietrich Schröder bemerkt aber weiter: „Diese Glocke ist anno 1638 von den Soldaten heruntergeworfen und zerbrochen, da zugleich von dem Kupfer und Bley mit welchem die Kirche bedecket gewesen über 16000 Rthlr. weggenommen“35. Die Verwüstungen welche die schwedische Soldateska im September 1638 in Doberan hinterlassen hatte, waren so schlimm, dass das Doberaner Amt noch im Dezember desselben Jahres bei dem schwedischen Feldmarschall Johann Baner Beschwerde führte; dieser hatte kurz zuvor wenigstens einen Teil der geraubten Kupferbedachung zurückgeben lassen. Doch die Glocke war verloren und zu einem Ersatz sollte es indes auf lange Zeit hinaus – bis ins 20. Jahrhundert – nicht kommen. Die andere Glocke stammte aus dem Jahr 1390. Auf ihr stand: ANNO DOMINI MCCCXC IN VIGILIIS SIMONIS ET IVDE . BENEDICTVS QVI VENIT IN NOMINE DOMINI36 (Im Jahre des Herrn 1390, am Vorabend von Simon und Judas37. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn). Die Frage nach der ursprünglichen Funktion dieser Glocke war bisher nicht schlüssig zu beantworten. Vor dem Hintergrund der Datierung lag es aber nahe, sie mit der einst in der Kirche befindlichen astronomischen Uhr in Verbindung zu bringen, die nachweislich ebenfalls in dieser Zeit angefertigt wurde38. So könnte sie als Schlagglocke zur Zeitangabe gedient haben. Andererseits war nach bisherigem Kenntnisstand auch nicht auszuschließen, dass es sich um eine dritte Läuteglocke gehandelt haben könnte. Erst neuerdings bekannt gewordene Quellen bezeugen, dass dem nicht so war, sondern die Glocke tatsächlich als Schlagglocke gedient hat. Auf dem südlichen Querarm, also hoch über dem einstigen Standort der Uhr, erhob sich nämlich ein kleiner Zwei-Ständer-Dachreiter mit einer Glocke, und am süd-
lichen Giebel der Kirche lässt eine ältere Abbildung andeutungsweise ein Zifferblatt erkennen39. So dürfte es kaum zu bezweifeln sein, dass dieser 1750 beseitigte Dachreiter einst Standort der Glocke war. Sowohl das Anschlagen der Glocke als auch der Antrieb eines Zeigers durch das Werk der in der Kirche im südlichen Querarm befindlichen astronomischen Uhr stellten technisch kein grundsätzliches Problem dar. Ob die Glocke in der bei Uhrschlagglocken häufig verwendeten sog. „kurzen Rippe“ hergestellt war, wissen wir nicht; wenn ja, dann hätte für ihre Zweckbestimmung allein zum Uhrschlag ein weiteres Argument zur Verfügung gestanden. Dass schließlich laut einer Inventur mecklenburgischer Kirchen aus dem Jahre 1811 zu dieser Zeit nur eine einzige Glocke zum Läuten vorhanden gewesen sei40, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Glocke nicht zum Geläute gehört, sondern als Schlagglocke gedient hat. Nach Entfernung des Dachreiters und dem Abbruch der astronomischen Uhr wurde gegen 1830 der Uhrenstandort an seine heutige Stelle im Westbereich der Kirche verlegt. Ob die alte Schlagglocke damals schadhaft war, wissen wir nicht. Wie dem auch sei: 1831 verwendete sie der Stralsunder Glockengießer Simon Zach als Metalleinsatz zum Guss zweier Schlagglocken für das neue Uhrwerk hinter dem Westgiebel der Kirche. Beide wurden außen am Giebel oberhalb des Zifferblatts unter einem Blechdach übereinander aufgehängt41. Wie oben dargelegt, verfügte die Kirche seit 1638 nur noch über eine einzige Läuteglocke. Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts der bestehende Dachreiter aufgerichtet wurde, war offenbar bereits an einen Ausbau des Geläutes gedacht, denn der damals eingebaute Holzglockenstuhl wurde für zwei Glocken ausgelegt. Doch erst 1926 lieferte die Firma Franz Schilling Söhne in Apolda eine neue Glocke mit dem Schlagton fis1, deren überlieferte Gewichts- und Größenangabe allerdings nicht zusammen passen. Da die Glocke dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fiel, sind die Widersprüchlichkeiten heute nicht mehr aufzuklären. Die wertvolle Glocke von 1301 konnte indes in die Gruppe D gesetzt werden und durfte damit im Turm verbleiben. Für die nächsten fünfzehn Jahre nach Kriegsende sollte die alte Glocke von 1301 – wie zuvor schon seit 1638 – abermals allein im Turm hängen. Im Jahre 1960 wurde von der Firma Schilling & Lattermann (Apolda-Morgenröthe) eine Glocke aus Eisenhartguss mit dem gleichen Ton wie ihre Vorgängerin geliefert. Wie es die Firma Schilling damals exzessiv praktizierte, wurden beide Glocken, auch die wertvolle alte Glocke von 1301 (!), an tief verkröpften Jochen aufgehängt. Möglicherweise
Die mittelalterlichen Glocken des Doberaner Münsters | 293
verlor die Glocke, wie so viele ihresgleichen, in dieser Prozedur ihre originale Krone! Doch die technisch höchst problematische verkröpfte Aufhängung der Glocken sollte nicht von langer Dauer sein.
Zunächst aber kam es im Jahre 2002 zu einer Reparatur der alten Glocke von 1301, die am Schlagring aufzuschweißen war und in diesem Zuge auch eine neue Krone erhielt (Abb. 266–268). Bei deren Neugestaltung diente die oben erwähnte, 1288 gegossene Glocke von Kittendorf als Orientierungshilfe (Abb. 264, 265). Bald nach dieser Maßnahme setzten die Überlegungen zur Neuformierung des Geläutes ein. Den endgültigen Anstoß dazu gaben Schäden an dem verkröpften Joch der neuen Eisenhartgussglocke. So gelangten im Jahre 2011 zwei neue Glocken, gegossen von der Firma Bachert in Karlsruhe auf den Turm. Ihre Inschriften übernahmen die Texte der mittelalterlichen Vorgängerinnen und wurden, der Glocke von 1301 folgend, in der alten Ritztechnik ausgeführt, nun allerdings in modernen zeitgemäßen Formen42. Die letzte Maßnahme am Geläute erfolgte dann 2014 mit der Aufnahme einer kleinen Glocke des 15. Jahrhunderts unbekannter Provenienz. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg der Gemeinde vom Oberkirchenrat überstellt und im Dachreiter der Friedhofskapelle aufgehängt worden. Da sie dort aus technischen Gründen entfernt werden musste, fiel der Entschluss, sie dem Geläute der ehemaligen Klosterkirche beizufügen,
Abb. 266. Entwurfszeichnung für die Wiederherstellung der Krone
Abb. 267. Wachsmodell der neuen Krone
294 | Claus Peter
Abb. 268. neue Krone
Abb. 269. Beispiel für die Inspiration geritzter Glockeninschriften durch die Initialornamentik mittelalterlicher Buchmalerei, Rostock, St. Marien, sog. Bürgerglocke, Ende 13. Jahrhundert
Abb. 270. Beispiel für die Inspiration geritzter Glockeninschriften durch die Initialornamentik mittelalterlicher Buchmalerei
denn mit einem großen mecklenburgischen Wappen auf der Flanke knüpft sie sinnfällig an die geschichtliche Tradition der Kirche an. Sie trägt die regionaltypische Inschrift O rex glorie § criste § veni § rum [sic!] § pace § m. Seitdem begleiten diese vier Glocken das Leben der Gemeinde und des Ortes in einer differenziert ausgearbeiteten Läuteordnung.
original bell from the construction period has survived. It was cast in 1301. With a weight of more than 500 kg, it exceeds by more than twice the weight which the Cistercians had permitted in several General Chapters since the 12th century. Despite this, there was a second bell which was cast at about the same time – this one however fell victim to marauding Swedish soldiers in 1638. On the basis of sources that have become known in the recent time, a third bell, cast in 1390, can be attributed to the astronomical clock, which was once stationed in the southern transept. It fell victim to the relocation of the clock system in the western area of the former monastery church.
DER AKTUELLE GLOCKENBESTAND 43 Glocke I Schlagton fis1+8; Ø 1140 mm; Gewicht 1074 kg Glocke II Schlagton a1+9,5; Ø 971 mm; Gewicht 554 kg Glocke III Schlagton d2+10; Ø 707 mm; Gewicht 249 kg Glocke IV Schlagton ~e3 ; Ø 427 mm; Gewicht ~50 kg
ABSTRACT Bells from the construction period of the Cistercian churches or from the early days of these churches are rarely preserved. Many were lost in the course of the Reformation and secularization of the 19th century. In Doberan, however, the
The caster of the bell from 1301 is unknown. However, it shows close stylistic relations to the bell of Kittendorf cast in 1288 regarding form, sound and the style of its inscription. The double-lined inscription belongs to those bell inscriptions whose design is particularly inspired by initials of medieval book illumination. They originated predominantly from the Harz Mountains and its foothills. From there it spread far into the eastern regions, including Mecklenburg, a phenomenon that has to be examined and specified in detail.
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CANIVEZ, Bd. I, 1933, S. 61, 62, 70, 72, 429, 434; BINDING/LINSCHEID-BURDICH 2002, S. 415, 421 (nach CANIVEZ, Bd. I, 1933). Zu den Türmen der Zisterzienserkirchen und zum Glockengebrauch des Ordens vgl. auch: RÜFFER 2008, S. 74–76. CANIVEZ, Bd. I, 1933, S. 62. Ebda., S. 70, Nr. 10. Ebda., S. 61, Nr. 16. Es handelt sich um das Kloster Bohéries (Picardie); die Identifikation des Ortsnamens verdanke ich Herrn Dr. Jens Rueffer, Bern. CANIVEZ, Bd. I, 1933, S. 471, Nr. 27. Gemeint ist das Kloster Wörschweiler (Saarland); Herrn Dr. Jens Rueffer, Bern danke ich für die Identifikation auch dieses Ortsnamens. CANIVEZ, Bd. II 1933 S. 135, Nr. 39. Schlagton e1 – 6; Ø 1320 mm (TREUBER/OEHLMANN 2007, S. 131–135). Z. B. für die Franziskaner-Observanten der ehem. Ordensprovinz Saxonia. Vgl. PETER 2012b, in: PIEPER 2012, S. 429–444 und 499–506. CANIVEZ, Bd. I, 1933, S. 49. CANIVEZ, Bd. I, 1933, S. 429 und 434. CANIVEZ, Bd. VII, 1939, S. 207, Nr. 23. U. a. VOSS 2008, S. 33, s. auch den Beitrag von Gerhard Weilandt in diesem Band. Frdl. Hinweis von Dr. TILO SCHöFBECK (Schwerin). Z. B. Im Falle von St. Peter in Recklinghausen nach dem Stadtbrand des Jahres 1500. Wiedergabe der Inschrift nach THURM 1959, S. 131, Abb. 131 u. 586. Die seltene Wendung viscera claudere findet sich z. B. in: Raymundus de Rocosello (1263–1280, Bischof von Lodève), Certamenen animae (frdl. Hinweis von Dr. KONRAD BUND, Brühl). RENER 1995, S. 266. FRIEDRICH 1987, S. 8ff. SACHS/BADSTÜBNER/NEUMANN 1988, S. 162. WICKEL 1929, S. 22, 33, 34 u. S. xIV, xV (Abbildungen). TURECZEK 2010, S. 194. HENGST 1992, S. 495–499. Heute in der kath. Pfarrkirche Hl. Kreuz zu Osnabrück-Schinkel. WOLGAST 1997, S. 54–70. FRITZ 1997, S. 9–18. Vgl. Voss 2008, S. 80–82.
28 Unter vielen Beispielen seien hier als besonders qualitätvoll die zweitgrößte Glocke aus dem späten 13. Jh. der Rostocker Marenkirche genannt sowie weitere Glocken des 14. Jhs. in Kirch Stück, Melz und Neuburg b. Wismar. 29 Ausführliche Darstellung der Technik mit vielen Bildbeispielen bei SCHILLING 1988, bes. S. 110–155. 30 Vergleichsbeispiele s. LAMPRECHT 1882, Tafel 40–42. 31 SCHNEIDER 1977, S. 436. 32 Zu den musikalischen und akustischen Grundlagen der Glockenkunde s. u. a. WEISSENBÄCK/PFUNDNER 1961, S. 5–51. 33 Zu Dietrich Schröder (1670–1753) vgl. KARL ERNST HERMANN KRAUSE, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 32 (1891), S. 504f. 34 Wiedergabe des Textes nach: SCHRöDER 1732–1734, Teil 6, 1734, S. 403. 35 SCHRöDER 1732–1734, Teil 6, 1734, S. 403 sowie Landeskirchliches Archiv Schwerin LS Doberan, 92. 36 Wiedergabe des Textes nach: SCHRöDER 1732–1734, Teil 6, 1734, S. 403 sowie SCHLIE 1899, S. 624. 37 Das Fest Simonis et Judae fällt auf den 28. Oktober; demzufolge ist der 27. Oktober der Gusstag. 38 S. dazu den Beitrag von Juliane Trinkert in diesem Band. 39 Diese Hinweise verdanke ich Herrn Dr. Stephan Thiele (Chemnitz) auf der Basis entsprechender Unterlagen im Landeshauptarchiv Schwerin, Domanialamt Doberan 1990, Acta betr. Bauten an den geistlichen Gebäuden zu Doberan, 1744–1788, Bl. 17. Die Ausführungen zu dieser Glocke bei PETER 2012a sind entsprechend zu modifizieren bzw. zu korrigieren. 40 Landeskirchliches Archiv Schwerin, LS Doberan Gen. Alt, 282; desgl.: LISCH, 1846, S. 424, 425. 41 Das heutige Uhrwerk aus dem 19. Jahrhundert steht in einem Raum hinter dem Westgiebel der Kirche, wo auch die Gewichte abgehängt sind. Die Schlagglocken jedoch waren – unverständlicherweise – von innen völlig unzugänglich; wegen Durchrostung der Aufhängung ist eine von ihnen in den 1960er Jahren abgestürzt und zerschellt. Eine Revisionsöffnung ist 2015 im Zusammenhang der Wiederherstellung des Schlagwerkes geschaffen worden. Die Glocke ist inzwischen durch eine Kopie ersetzt, da eine Schweißung des Torsos der zerschellten Glocke den reichen Dekor komplett zerstört hätte. 42 Entwurf Prof. Werner Schneider, Feudingen. 43 Die detaillierte neuere Glockengeschichte der Kirche s. bei PETER 2012a.
Rechte Seite: Abb. 271. Detail aus Abb. 263
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RESTAURATORISCHE BEFUNDE ZUR MITTELALTERLICHEN RAUMFASSUNG – DAS SÜDQUERHAUS DES DOBERANER MÜNSTERS BOrIS frOHBerG
Das Münster zu Bad Doberan gehört zu den bedeutendsten Backsteinbauten der Gotik in Deutschland. Die ehemalige Klosterkirche bewahrt bis heute große Teile ihrer einstigen künstlerisch wie liturgisch hochrangigen Ausstattung. Im Zusammenspiel von Baugestalt, Inventar und Architekturfarbigkeit scheint es möglich, eine Vorstellung einer hochgotischen Zisterzienserkirche zu vermitteln. Dass mit Blick auf die mittelalterliche Raumfassung dennoch spannende Fragen offen sind, beweist ein Blindfenster mit Maßwerkimitation. Es findet sich in ca. 10 Metern Höhe an der Westwand des südlichen Querhausarms, unterhalb der gemalten Triforiumgalerie. Im Rahmen von restauratorischen Arbeiten erfolgte 2004 eine vertiefende Untersuchung des Blindfensters und 2005 die komplette Freilegung, Konservierung und Restaurierung. Die Laibungsflächen entsprechen denen der Obergadenfenster. Ob die öffnung ursprünglich als Fenster geplant war, bleibt ungeklärt, ist aber wahrscheinlich. Sicher ist, dass sie schon im Bauverlauf geschlossen wurde, da sich hier Reste der ersten Raumfassung nachweisen ließen. In der Nähe des Blindfensters lag vermutlich ein Zugang zur Klausur (Dormitorium?). Ob eine Planänderung zur Vermauerung geführt hat, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. In den mittleren und unteren Ansatzbereichen der Rücklage zur Bogenlaibung sind Abrisse der Ziegel und somit auch deutliche Rissbildungen im Putz festzustellen. Dagegen reichen im oberen Bogenbereich die noch intakten, bauzeitlichen Putze bis an die Laibung heran. Vermutlich durch unterschiedliche Belastungen und Setzungen des tragenden Spitzbogens und der hauptsächlich selbsttragenden Ausmauerung sind die Abrisse in den unteren Bereichen im Ixel1 von der Rücklage
zur Bogenlaibung (eventuell durch den Kreuzgangabbruch) entstanden. Im Bereich der Rücklage sind bis auf zwei Drittel der Höhe mehrere kleinere Löcher (Ø ca. 1,5 cm) vorhanden, in denen bauzeitlich kleinere Eisenanker in Stabform eingelassen waren. Im Rahmen der umfangreichen Sanierung des Bauwerkes ab 1964 und der weitgehenden Rekonstruktion der mittelalterlichen Farbfassung aufgrund des Konzeptes von 1975/76 und dessen Umsetzung in den Jahren 1977–84 (VII. ICOMOS-Generalversammlung) als Modellprojekt für die damalige Denkmalpflege der DDR (betreut durch Johannes Voss) wurde auch das Blindfenster stichpunktartig untersucht. Aufgrund der komplexen Fassungsbefunde ist dieser Bereich damals zurückgestellt worden. Hier blieb die Sichtfassung des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Gotthilf Ludwig Möckel) mit partiellen und sporadischen Freilegungsöffnungen bestehen (Abb. 273). Die Sohlbänke des Südquerhauses blieben bei den damaligen Untersuchungen unbeachtet. Dies erklärt den Umstand, dass bei der Rekonstruktion des mittelalterlichen Bestandes – hier entgegen der Befundlage – die sogenannte Möckelfassung aufgegriffen wurde. Es bleibt offen, ob entsprechende Befunde an anderen Bereichen vorhanden waren oder die Entscheidung von der bis dahin vorhandenen Fassung indirekt beeinflusst wurde. Die restauratorischen Untersuchungen konzentrierten sich damals auf das Triforium, um das verbindende Glied zwischen den Mittelschiffarkaden und dem Obergaden zu finden23. Hier ist das tragende Gesims auch als graues Band mit hellen, beidseitig Rot begleiteten Fugenstrichen ausgeführt
Linke Seite: Abb. 272. Triforium im Südquerhaus mit Belegstrecke der Fassungen
Abb. 273. Blick vom Chor in das restaurierte Südquerhaus des Münsters nach Südwesten, 2014
Abb. 274. Blindfenster am Nordschiff von Norden, 2014
worden. Bei der Rekonstruktionsvariante verwundern das Fehlen von gemalten Fugenteilungen auf den Gewölberippen, die fehlenden Begleitungen der Rippen im Schiff sowie die Schlichtheit der ausschließlich weiß gekalkten Kappen. Zu-
dem erscheint die Materialsichtigkeit der Konsolen, Kapitelle und Kämpferbänder eher trennend als verbindend in der Architektur. Dieser Umstand ist für die übliche polychrome, mittelalterliche Farbgestaltung von besonderer Bedeutung.
Abb. 275. Maßwerkmalerei auf dem Blindfenster im Vorzustand, nach partiellen Freilegungsproben der 80er Jahre, 2004
Abb. 276. Westwand des Südquerhauses im Münster mit rekonstruierter mittelalterlicher Maßwerkmalerei im Triforium, 2004
300 | Boris Frohberg
Abb. 277. Partielle Freilegung der mittelalterlichen Maßwerkmalerei auf dem Blindfenster, 2004
Zur Beantwortung der offenen Fragen sind vertiefende restauratorische Untersuchungen sowie die detaillierte Aufarbeitung des Nachlasses von Johannes Voss anzuraten. Dabei könnte auch die Konsultation der damals beteiligten Restau-
Abb. 278. Kennzeichnung der eingeritzten Bogenverläufe der ursprünglichen Maßwerkmalerei im Verlauf der Freilegung, im oberen Bereich, 2004
ratoren und Wissenschaftler von Interesse sein. Im Rahmen von restauratorischen Arbeiten (Fenstersanierung, Reinigung, Festigung und Retusche der Wandfassungen) erfolgte 2004 auch eine vertiefende Untersuchung des Blindfensters. Das Ergebnis war überraschend. Sowohl auf der Fläche des Blendfensters als auch auf dem profilierten Spitzbogen (Hohlkehlen und Birnstab) der ehemaligen Fensterlaibung, den umgebenden Wandbereichen sowie der zugehörigen Sohlbank sind mehrere Fassungen fast komplett nachweisbar. Ihre früheste ist für diesen Bauabschnitt des Münsters wahrscheinlich als bauzeitlich einzuordnen. Es fanden sich drei aufwändige Ziermaßwerkgestaltungen als Leitfassungen übereinander, die dem späten Mittelalter, eventuell der Renaissance oder dem Barock und dem frühen 19. Jahrhundert zuzuordnen sind. Dabei fällt auf, dass die Gestaltung der ersten und zweiten Fassung vorher durch Zirkelschläge im frischen Putz konstruiert und aufgerissen sowie anschließend grau bis dunkelgrau (teils frescal bei erster Fassung) ausgelegt wurde. Hier zeigt sich der Wille, eine Natursteinarchitektur, möglicherweise aus regional oft verbautem Gotländer Kalkstein, mit regelmäßigen Fugenschnitten bei 70 bis 90 cm zu imitieren. Dies ist eine nicht nur im Mittelalter übliche Praxis und kann eventuell auch für die Sohlbänke gelten. Es zeigt sich, dass die graue Farbigkeit des Ziermaßwerkes keine Besonderheit in der Baufassung des Münsters darstellt, da auch die gemauerten Fensterrippen ursprünglich eine graue Fassung mit hellen, Rot begleiteten Fugenstrichen einschließlich einer hellen Rahmung mit roten Fugenstrichen trugen. Zwei zeitlich voneinander getrennte Leitfassungen des Ziermaßwerkes sind jeweils einmal in vergleichbarer Farbigkeit überfasst worden. Die dritte Leitfassung ist dagegen als graugrüne Überfassung der zweiten anzusehen. Hierbei handelt es sich um eine Rekonstruktion der mittelalterlichen Gestaltung aus den 1830er Jahren. Das Scheinmaßwerk besteht aus drei Rippen und einer umlaufenden Begleitung an der Laibung. Im Spitzbogenbereich sind bei den früheren Fassungen Dreipassornamente und eine mittige Rosette das vorherrschende Gestaltungselement. Als Fondton wurde in allen Fassungen weiße Kalkfarbe verwendet (Abb. 284, 288). Für die grauen Maßwerkmalereien und die ersten Sohlbankfassungen fanden grobes Pflanzenschwarz und Kienruß in Kalk und Kalkkasein ihre Verwendung. Es bleibt zu vermuten, dass die Sohlbänke der Fenster nicht nur im Südquerhaus, sondern im gesamten Innenraum der Kirche ursprünglich eine dunkelgraue Fassung mit hellen Fugenstrichen aufgewiesen haben könnten. Bei eingehender Betrachtung der
Restauratorische Befunde zur mittelalterlichen Raumfassung – Das Südquerhaus des Doberaner Münsters | 301
Abb. 279. Kartierung der mittelalterlichen Maßwerkmalerei mit Fehlstellen und sichtbaren Ziegellagen auf dem Blindfenster, nach der Freilegung, 2005
Abb. 280. Kartierung der mittelalterlichen Maßwerkmalerei nach der Freilegung, unter Einbeziehung der vorhandenen Ritzungen im oberen Bereich, 2005
Außenhülle des Münsters fallen die dunkelgrauen, fast schwarzen Sohlbänke aus glasierten Ziegeln mit ihren hellen Verfugungen auf. Diese Gestaltung könnte ursprünglich auch in den Innenraum übertragen worden sein (Abb. 293). Der Außenbefund ist an mehreren gotischen Backsteinbasiliken des Hanseraums vorhanden (z.B. St. Nikolai in Wismar, St. Marien in Lübeck und St. Marien in Rostock) und durchaus bewusst gewählt. Es standen neben den dunkelgrauen, auch grün, rot und farblos glasierte Ziegel für wasserbelastete Bereiche zur Verfügung.
1. Fassung Besonders im Ixel der Rücklage zur Bogenlaibung sind ungestörte Reste der Erstfassung (Anfang 14. Jahrhundert) unter späteren, mittelalterlichen Überputzungen der Rücklage erhalten. Es ist erkennbar, dass die Erstfassung der Rücklage auf einem grau-ockerigen Putz ausgeführt worden ist, auf welchen sogleich ein gebrochenes Weiß gestrichen wurde. Auf diesem noch putzfrischen Grund wurden mittels Richtscheit und Schnurschlägen die Maß- und Stabwerkgestaltungen konstruiert und deren Begrenzungen mit einem scharfschneidigen Werkzeug relativ tief senkrecht eingeritzt/eingeschnitten. Die Maß- und Stabwerksformen wurden anschließend in einem hellen, bläulichen Grauton ausgeführt, sodass eine Ausführung der Anlage der großen Formen (Grundton und Maß-/Stabwerk) in frescaler Technik, eventuell unter Abschluss in Secco-Technik, wahrscheinlich ist5. Das Bogenmauerwerk, bestehend aus Formsteinen mit Hohlkehlen und Birnstab, wurde ebenfalls mit dem schwach grau
FASSUNGSABFOLGE Die restauratorischen Befunduntersuchungen erfolgten im Jahr 2004 durch Diplomrestaurator André Streich, Potsdam4. Im Folgenden sind seine Ausführungen zu den einzelnen Schichten und Fassungen einbezogen.
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gebrochenen Weiß dünn gestrichen. Und zwar im Übergang zur Wandfläche (Stirnseite Spitzbogen), jedoch nur in einer Breite, die dem Absatz im oberen Bogenbereich entspricht und somit eine gleichmäßig breite Bogeneinfassung bildet. Die angrenzenden Wandbereiche erhielten einen ziegelroten Anstrich, welcher sich deutlich am natürlichen Ziegelfarbton orientiert, somit das Ziegelmauerwerk aufwertete und immaterialisierte. Mit diesem Rotton, geringfügig kräftiger ausgemischt, wurde der in gebrochenem Weiß gefasste Bogen durch ca. 2 cm breite Fugenstriche in unterschiedlich große Segmentabschnitte unterteilt (bislang nachweisbare Abstände: 70–90 cm). Somit sollte der aus Ziegelformsteinen gemauerte Bogen in ein Hausteinimitat überführt werden. Im gleichen Rotfarbton wurde im Ixel zwischen Rücklage und Bogenlaibung ein umlaufender, 2 cm breiter Strich (jeweils 1 cm auf Rücklage, als auch auf der Laibung aufliegend) ausgeführt, welcher auch die hellgraue Maßwerkgestaltung von dem in gebrochenem Weiß gehaltenen Bogen trennte. Auf dem Maßwerk konnte an einer Stelle ein ca. 1 cm breiter weißer Strich festgestellt werden, bei dem es sich nicht um ein Versehen bei der Ausführung, sondern vermutlich um einen Fugenstrich auf der Maß-/Stabwerksgestaltung handeln dürfte. Auf den Wandbereichen wurde über das Rot ein Fugennetz (Fugenbreite ca. 1 cm) in einem hellem Rosa aufgelegt (vermutlich bis zu einem gewissen Grad, jedoch nicht überwiegend, auch aus dem Aufrieb der Wandfarbe beim Fugenziehen resultierend). Im Ixel des äußeren Bogens sind, im Gegensatz zur derzeitigen Sichtfassung, Reste eines Fugennetzes erkennbar, deren Aufteilung jedoch noch nicht eindeutig belegbar war und durch weitere Untersuchungen geklärt werden sollte. Sämtliche vorab aufgeführten Striche weisen eine deckende, mitunter sogar leicht pastose Auftragsart auf. Zur Schräge der Sohlbank ist bislang noch keine eindeutige Aussage zur Erstfassung möglich. Es kommen aber dunklere Grautöne in Betracht. Farbreste in einem hellen Rosa könnten auf ein Fugenbild hindeuten. Unstrittig ist jedoch, dass in nachfolgenden mittelalterlichen Gestaltungen der Bereich der Sohlbank in verschiedenen Grautönen gestrichen worden ist und mit weißen bis weiß rötlichen Fugenbildern, vermutlich in Bezug auf die Ziegelformate, versehen worden ist. Insbesondere in diesem Bereich besteht noch Bedarf weiterer restauratorischer Untersuchungen hinsichtlich Farbigkeit, Maßen und Ansätzen zu den umgebenden Wandbereichen. 2. Fassung Nach anscheinend längerer Standzeit der Erstfassung, eventuell noch in der Spätgotik, waren vor Ausführung der Zweit-
fassung teilweise Ausbesserungsarbeiten am Putz notwendig. So sind durch Überputzungen am Randbereich der Rücklage die Reste der Erstfassung ungestört erhalten geblieben. Auf der Rücklage wurden Überputzungen anscheinend dünner ausgeführt und liefen als Schlämme in der Fläche aus. Ritzungen zur Anlage des Maßwerks sind (bedingt durch die flacheren Putzschlämmen/-schichten) flacher ausgeführt worden. Auf den Putzerneuerungen erfolgte der Anstrich des Grundtons in einem schwach rötlichen Weiß. Bei den Maß- und Stabwerksgestaltungen behielt man die Formen anscheinend nahezu deckungsgleich bei. Deutlich änderte sich jedoch die Farbigkeit der Maßwerkformen, welche nunmehr in einem fast schwarzen, bläulichen Dunkelgrau ausgeführt wurden. Dieses Dunkelgrau
Abb. 281. Darstellung der Fugenstriche in den verschiedenen Fassungen, am Gewände des Blindfensters, 2005
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wurde bis in den Ixel von Rücklage zur Bogenlaibung und stellenweise etwas auf die Laibung gestrichen. Eine Trennung durch einen farbigen Strich erfolgte nicht mehr. Diese Gestaltungsweise im Ixel wurde bei späteren Renovierungen beibehalten und erst im 19. Jahrhundert wieder geändert. Ob diese Fassung möglicherweise im Zusammenhang mit der abschließenden Weihe der Kirche oder später ausgeführt worden ist, könnte vermutlich durch Vergleiche mit den Malereien des Triforiums aus verschiedenen Bereichen der Kirche geklärt werden. Es ist nicht eindeutig nachweisbar, ob die Erstfassung des profilierten Bogens zu dieser Auffrischung der Rücklage lediglich geringfügig ausgebessert wurde bzw. unverändert blieb oder bereits in dieser oder erst in der nachfolgenden mittelalterlichen Fassung mit einem schwach rötlichen Weiß gestrichen wurde. Bemerkenswert ist jedoch, dass die ca. 2 cm breiten Fugenstriche auf dem Bogen, in einem bräunlichen Rotton ausgeführt, trotz unterschiedlich großer Segmente nahezu Deckungsgleichheit mit denen der Erstfassung aufweisen. Es hat den Anschein, dass das Rot der direkt umgebenden Wandbereiche (des äußeren Bogens) nicht oder nur partiell erneuert wurde und dass anscheinend nur das Fugennetz eine Auffrischung im gleichen Farbton und zur gleichen Zeit mit der Überfassung des Bogens erfuhr. Die Sohlbank ist zu dieser Fassung mit einem Mittelgrau gestrichen und mit hellen Fugen versehen worden. 3. Fassung Diese Fassung, möglicherweise aus der Zeit der Renaissance, konnte auf der Rücklage und sehr wahrscheinlich auch auf der Sohlbankschräge nachgewiesen werden. Partiell ist ihr
Abb. 282. Auflistung der Schichtenfolgen der Maßwerkmalereien, 2005
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Grundanstrich in schwach rötlichem Weiß als eine sehr dünne, mitunter mit Feinstkornanteilen versetzte Putzschlämme erkennbar. Die Maß- und Stabwerkformen weisen nunmehr ein mittleres Grau auf. Spätestens in dieser Fassung wurde auch die bereits unter dem Abschnitt der 2. Fassung beschriebene zweite Bogengestaltung ausgeführt, da auf den Laibungen Farbreste des Maß-/Stabwerks der 3. und 4. Fassung aufliegen. In einem ähnlichen Farbton wie die Maß/Stabwerksformen könnten die Sohlbankschräge gestrichen und mit einem weiß-rötlichen Netz aus Fugenstrichen überzogen worden sein. Eine aufliegende Lasur in einem rötlichen Braunocker ist ebenfalls möglich, könnte aber auch bereits der Anstrich der nachfolgenden Fassung sein. 4. Fassung Diese Fassung, vermutlich aus der Barockzeit, ist diejenige, welche im Wesentlichen das derzeitige Erscheinungsbild der Gestaltung der freigelegten Rücklage des Blendfensters bestimmt. Auch sie liegt teilweise auf Putzausbesserungen, weist einen Grundton in einem leicht grau gebrochenen Weiß und flache Ritzungen zur Maß- und Stabwerksanlage auf. Die Maß-/Stabwerkformen sind in einem bläulichen Dunkelgrau dünn, aber deckend gestrichen worden. Nahezu deckungsgleich zu den früheren Formen ist jedoch eine leichte Verunklärung feststellbar. Der Bogen und auch die Wandflächen blieben anscheinend unüberarbeitet stehen oder wurde nur partiell ausgebessert. Die Fensterbank ist in einem rötlichen Braunocker gestrichen worden. Ob hier auch die Ausführung eines Fugenbildes (durch vermutlich helle Striche) erfolgte, ist bislang nicht eindeutig und sollte durch vertiefende Untersuchungen geklärt werden.
Abb. 283. Befundfoto mit Kennzeichnung der Schichtenfolgen am Stabwerk der Maßwerkmalereien auf der Wandfläche im Anschluß zur Laibung, 2005
Abb. 284. Befundfoto mit Kennzeichnung der Schichtenfolgen am Gewändeansatz des Blindfensters, 2005
Abb. 285. Befundfoto mit Kennzeichnung der Schichtenfolgen am Übergang von Laibung des Blindfensters und der anschließenden Wandfläche, 2005
5. Fassung (um 1830) Im 19. Jahrhundert wurde eine komplette farbige Überarbeitung des Blendfensters und aller angrenzenden Wandbereiche ausgeführt. Putzausbesserungen unterblieben anscheinend weitgehend. Der reinweiße Grundanstrich dieser Fassung (auf Rücklage, Sohlbank und Bogen ausgeführt) mit teils ausgeprägter Krakelee-Bildung bildet eine gut erkennbare Trennschicht. Diese wurde an Putzfehlstellen direkt auf die Ziegel sowie auf intakte, gefasste Bereiche relativ dick gestrichen. Die Maß-/Stabwerkformen wurden in einem mittleren, leicht bläulichen Grün (häufig als „olivgrün“ bezeichnet; NCS: S 4010-G50y) ausgeführt, wobei man sich zwar an den mittelalterlichen Formen orientierte, jedoch insbesondere im Maßwerk des oberen Bereichs keine Deckungsgleichheit mehr ausführte. Vermutlich war vom mittelalterlichen Maßwerk nicht sehr viel mehr als heute erkennbar.
Als Pigment fand Grüne Erde in Kalkkasein seine Verwendung. Der Bogen blieb im Reinweiß des Grundanstriches stehen und wird von einem leuchtenden, ziegelähnlichen Rotfarbton der Wandflächen in gleichmäßiger Breite, ähnlich wie bei der Erstfassung, beschnitten. In einem etwas kräftigeren Rotton führte man auch hier die 2–2,5 cm breiten Fugenstriche aus, welche den Bogen in größere Segmente unterteilten. Dieses Fugenbild orientierte sich zwar am mittelalterlichen, wies jedoch nur ab und an Deckungsgleiche auf. In diesem Rot erfolgte auch wieder die Ausbildung eines Trennstrichs im Ixel zwischen Rücklage und Bogenleibung, welcher hier jedoch mehr auf die Rücklage gezogen wurde. Im unteren Bereich der Rücklage wird dieser Strich auf einen ca. 10 cm breiten Streifen verbreitert und bildet die Trennung zwischen Sohlbank und Rücklage, worüber sich direkt die grünen Stab-/Maßwerkformen anschließen. Am Ixel des
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gegeben zu haben, welche jedoch bislang noch nicht eindeutig erfasst werden konnte. Die Sohlbank weist einen Anstrich auf dem reinweißen Grundanstrich in einem Braunocker auf. Ein Fugenbild ist hier eindeutig nicht erkennbar.
äußeren Bogens ist ein alternierender Wechsel der Fugenausbildungen erkennbar, welcher Bezug auf die Größe der Ziegel in der angrenzenden Wandfläche nahm (Abb. 272). In der Erstfassung scheint es eine ähnliche Gestaltungsweise
6. Fassung In dieser Fassung vom Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Gestaltung des Blendfensters negiert und über dessen gesamte Fläche, einschließlich des Bogens, ein Ziegelimitat mit aufliegendem Fugenbild ausgeführt. Zunächst strich man ein mittleres, leicht gelbliches Rot, welches kein Fugenbild aufweist und mit dem man vermutlich zunächst den Untergrund egalisierte. Möglicherweise könnte es sich hierbei auch um eine nicht fertiggestellte Fassung nach Konzeptänderung gehandelt haben. Auf diesem folgte ein kräftigeres Dunkelrot mit hellockerigem Fugenbild (ca. 1 cm breite Fugen), welches auf der Oberseite des Birnstabes durch das Setzen von strichförmigen Lichtern betont wurde. Mögli-
Abb. 287. Befundfoto mit Kennzeichnung der Schichtenfolgen auf der Fensterbrüstung, 2005
Abb. 288. Detail der Maßwerkmalerei nach der Freilegung und Konservierung, im oberen Bereich, 2005
Abb. 286. Auflistung der Schichtenfolgen auf der Fensterbrüstung, 2005
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cherweise sind letztere auch erst in den 1980er Jahren ausgeführt worden. Die Sohlbankschräge erhielt einen Anstrich in einem mittleren, gebrochenen, rötlichen Braunocker. 7. Fassung Während der großen Renovierungs- und Restaurierungsphase in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren mit dem Ziel, das Gebäude in seiner mittelalterlichen Raumfassung neu erlebbar zu machen, blieb dieses Blendfenster ausgespart. Auf der zugesetzten Fensterfläche fanden erste restauratorische Sondierungen durch Johannes Voss und seine Mitarbeiter statt, ohne dass eine Freilegung, Konservierung und Restaurierung möglich war. Lediglich die Sohlbank ist damals mit einem Braunocker / Rotton deckend, in Anlehnung an die Möckelfassung oder aufgrund der Fehlinterpretation der Befundlage überfasst worden. Analog der anderen Wandbereiche sind hier anschließend weiße Fugenstriche aufgetragen worden.
AUSGEWÄHLTE BEFUNDE (STAND: FEBRUAR 2005) Maßwerk, Rücklage, mittlerer Bereich (mit Putzausbesserungen) 1.F 0 Putz (mittelgrau, braunockerig) 1 Weiß gebrochen (Grundton) S 0500/1000-N 1.1 Grau bläulich mittel S 2002-B//2005-R80B (Maßwerkform) partiell sehr dünne Kalktünche (hier nicht vorhanden) 2.F 2 Schwarz-grau bläulich (Maßwerkform) S 7502/8502-B 3.F 3 Kalktünche mit Feinstsandanteilen (Grundton) S 0500-N 3.1 Grau mittel (Maßwerkform) S 4000-N 4.F 4 Putz S 1002-y50R 4.1 Weiß gebrochen (Grundton) 4.2 Grau bläulich dunkel (Maßwerkform) S 7502-B 5.(6) F5 Weiß rein (Grundton) Schicht mit Krakelee (1830 er Gestaltung) 6.(7) F6 Rot mittel (Reste) S 4040/5030-y70R (Sichtfassung, E.19.Jh.) (Abb. 273, 274) Sohlbank, mittlerer Bereich 1.F 0 Ziegel 1 Grau dunkel (Grundton) 2.F 2 Grau hell (Grundton) 2.1 Braunocker mittel
S 6502-B S 1502/2002-B S 3020-y40R
(Lasur oder nachfolgende Fassung?) 3./4. F 3 Putz 5.(6) F 4 Putz 5 Weiß rein (Grundanstrich) Schicht mit Krakelee (1830er Gestaltung)
Abb. 289. Detail der Maßwerkmalerei nach Teilretusche der Fondflächen, unter Berücksichtigung eingeritzter Bogenverläufe der ursprünglichen Maßwerkmalerei, im oberen Bereich, 2005
5.1 Ocker rötlich hell (Sohlbank) S 1020/2020-y30R (ohne Fugenstriche) 6.(7) F 6 Weiß rein 6.1 Braun rötlich mittel (Sohlbank, Grundanstrich?) S 4020-y50R 7 Braunocker rötlich gebrochen (Sohlbank) (Abb. 16, 17) S 3010-y40R
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Abb. 290. Detail der Maßwerkmalerei, Strichretusche der Fehlstellen durch Diplomrestauratorin Anett Biefeld, 2005
Abb. 291. Oberer Bereich der Maßwerkmalerei nach Freilegung, Konservierung, Restaurierung und Retusche, 2005
Im Winter / Frühjahr 2005 erfolgte die behutsame, manuelle Freilegung und Reinigung der dritten Ziermaßwerkmalerei durch die Restauratoren unter Leitung von Boris Frohberg (Abb. 277, 279). Die Konservierung der Putze und Fassungen erfolgte durch Injektionen von verschiedenen Festigungsmitteln, z.B. Kieselsäureester, Tylose und Klucel. Die Hinterfüllungen von Hohlstellen sowie die Anböschungen und Kittungen erfolgten mit Hinterfüllsuspensionen auf Kalkbasis bzw. feinen Sumpfkalkmörtelmischungen (Abb. 288). Die Retusche der Oberfläche mit fragmentarischem Zustand erfolgte durch Aquarellfarben in verschiedenen Strichlagen. Der Schwerpunkt der Retusche lag in der Beruhigung der Oberflächen. Es stand der erhaltene Zustand im Vordergrund der Bearbeitung (Abb. 290, 291). Die ursprüngliche Maßwerkgestaltung ist, soweit durch Vorritzungen eindeutig belegt, durch Lasuren der Fondflächen angedeutet worden (Abb. 289, 292). Auf der Fensterbank sind die drei Leitfassungen von links nach rechts, in verschieden breiten Achsen rekonstruiert worden. Somit bleiben in diesem Bereich die Zeitschichten für die Besucher ablesbar. Mit der Freilegung der Ziermaßwerkmalerei, ihrer Konservierung und Restaurierung sowie der Rekonstruktion des wertvollen Bestandes der Leitfassungen auf der Fensterbank wird einer der wichtigsten Originalbefunde zur spätmittelalterlichen Architekturfarbigkeit der Basilika in die Rekonstruktion des 20. Jahrhunderts einbezogen. Er steht in direkter Blickbeziehung zu den restaurierten Achsen der Leitfassungen im östlichen Triforium des südlichen Querschiffes. Abb. 292. Detail des Stabwerks der Maßwerkmalerei nach Restaurierung und Strichretusche der Fehlstellen, 2005
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Abb. 293. Übergang von Fensterbrüstung und Maßwerkmalerei, nach Teilrekonstruktion bzw. Restaurierung und Retusche, 2005
ABSTRACT The medieval painted surface of the interior walls of the monastery church of Doberan became reconstructable since 1977 with the beginning of an extensive restoration and conservation campaign. One of the many findings was a
blind window, located at a height of approx. 10 meters on the west wall of the south transept, below the painted triforium with its tracery imitation. The embrasure areas correspond to those of the other windows of the clerestory. It is uncertain if initially the window was planned as an opening, but nevertheless likely. What is certain, however, is that it was already closed while the construction of the minster was still in progress, since remains of the first version of the wall decoration could be detected here. In 2004, the author conducted an in-depth investigation of the blind window. The result was surprising: Several layers of paint are almost completely detectable on the surface of the blind window as well as on the profiled pointed arch (concave moulds and ogee mouldings), on the former window embrasures, the surrounding wall areas and the corresponding base bank. The earliest can be dated back to the construction times of the minster. With the uncovering of the ornamental tracery ornament, its conservation and restoration, as well as the reconstruction of the several layers of paint on the windowsill, one of the most important original findings concerning the late-medieval architectural decoration of the basilica is included in the reconstruction of the 20th century.
ANMERKUNGEN 1 2
Ein Ixel ist das Inneneck, das sich zwischen zwei Flächen befindet. VOSS 2008, S. 103: „Im südlichen Querhaus konnte das bereits 1983 an der Westwand entdeckte Maßwerk, das ein besonders schöner Beleg für die zisterziensische Simplicitas (Einfachheit) in der Baudurchführung ist, erst 2006 restauriert werden. Gegenüber sind in einem Triforiumsfeld die drei Varianten des gemalten Triforiums sichtbar belassen worden, so dass insbesondere die Neugestaltung durch Möckel einem Vergleich unterzogen werden kann“. – Ich danke an dieser Stelle Herrn Diplomrestaurator André Streich für die Zusammenarbeit.
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VOSS 2008, S.102: „Die Rekonstruktion der mittelalterlichen Raumfassung erschien machbar, sofern die anstehenden Untersuchungen ausreichende Befunde für die Realisierung erbringen würden. Die ‚große Unbekannte‘ in diesem Vorhaben war die Architekturmalerei im Triforium, die das verbindende Band zwischen den Arkaden des Mittelschiffes und den Fenstern im Obergaden ist“. STREICH 2005. REHBAUM 2005.
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MAKROARCHITEKTUR UND MIKROARCHITEKTUR – ASPEKTE VON FORMFINDUNG UND FUNKTION AM DOBERANER HOCHALTARRETABEL JULIANe VON fIrCKS
In Grund- und Aufriss dem Vorbild französischer Kathedralen verpflichtet, gehört die Doberaner Klosterkirche in eine Reihe mit den großen Stadtpfarrkirchen, die im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts im wendischen Quartier der Hanse errichtet wurden1. Typisch für alle diese in Backstein ausgeführten Bauten ist der französischen Vorbildern entlehnte Kapellenumgangschor, bei dem – anders als bei den Kathedralen der Île-de-France – Umgang und Kapellen unter einem einzigen, sechsteiligen Gewölbe zusammengefasst sind. Diese Lösung zeigen bereits die nahezu gleichzeitig um 1270 begonnenen Chorbauten von St. Marien in Lübeck und St. Nikolai in Stralsund2. Die Baugeschichte der Doberaner Klosterkirche hat in jüngster Zeit vor allem durch die dendrochronologische Untersuchung verschiedener, am mittelalterlichen Dachstuhl verarbeiteter Balken eine entscheidende Präzisierung erfahren. Die sowohl in Bezug auf den Beginn, als auch auf das Ende der Bauarbeiten zu korrigierende Chronologie offenbart, dass Doberan unter den Backsteinkathedralen alles andere als ein später Bau aus der zweiten Reihe ist. Vielmehr wurde das Projekt von Seiten der zisterziensischen Bauherren mit einer Vehemenz und Konsequenz vorangetrieben, die den provisores, den jeweils vom Rat beauftragten Bauherren in den benachbarten Städten, anscheinend nicht in gleichem Maße möglich war3. Gingen Adolf Friedrich Lorenz und Wolfgang Erdmann noch davon aus, dass Langhaus und Westabschluss erst gegen Mitte des 14. Jahrhunderts fertiggestellt wurden (wobei das Datum der am 4. Juni 1368 erfolgten Schlussweihe als terminus ante quem betrachtet wurde)4, so konnte Tilo Schöfbeck zuletzt zeigen, dass nicht nur
Linke Seite: Abb. 294. Hochaltarretabel, Gesamtansicht
der Chor, sondern auch Querhaus und Langhaus bereits um 1300 überdacht waren. Die Bäume, aus denen die dort verarbeiteten Dachbalken gewonnen wurden, sind zwischen 1292 und 1296 geschlagen worden5. Die im Jahr 1301 erwähnte Glocke im Dachreiter über der Vierung kündet nunmehr nicht nur von der weitgehenden Fertigstellung des Chors, sondern mehr oder weniger der ganzen Kirche6. Dieses nach vorn korrigierte Fertigstellungsdatum der Kirche muss nun konsequenter Weise auch zu einer Korrektur der Vorstellungen über den Baubeginn führen. Als terminus post quem für die Aufnahme der Arbeiten galt bislang übereinstimmend der in der Lübeckischen Chronik des Detmar überlieferte Brand infolge eines Gewitters im Jahr 1291, der das Kloster in starke Mitleidenschaft gezogen haben soll: „Dat closter to dobran darna vorbrande in unses heren hemelvardes avende van blixsem unde unweder, darumme de monike sere wurden bedrovet“7. Diese Nachricht wurde zusammengebracht mit einer Passage in Ernst von Kirchbergs Mecklenburgischer Reimchronik, wo er berichtet, Abt Johann von Dahlen (1294–99) habe das hölzerne (bzw. hölzern überdachte) Münster niederreißen lassen, um es in Stein wieder aufzurichten8. Diese Passagen wurden von Adolf Friedrich Lorenz, Wolfgang Erdmann und zuletzt noch von Johannes Voss dahingehend ausgelegt, dass man erst nach der durch das Gewitter von 1291 veranlassten Niederlegung der alten Kirche begonnen habe, die bereits weit vorangetriebenen Pläne für einen Neubau in die Tat umzusetzen9. Die an den Balken des Dachstuhls gewonnenen Daten aus den 1290er Jahren machen jedoch deutlich, dass der Bau tatsächlich weit früher begonnen worden sein muss. Ange-
sichts vergleichbar großer Bauvorhaben, die, auch wenn sie schnell voranschritten, zumeist mehrere Jahrzehnte umfassten, ist es ausgeschlossen, dass sämtliche Bauabschnitte – der Chorneubau samt Kapellen, ferner das anschließende Querhaus mit Fürstengrablege und schließlich das Langhaus – innerhalb von einem bis höchstens fünf Jahren bis zum Ansatz der Gewölbe und der Errichtung des Dachstuhls hätten fertiggestellt werden können10. Die vielfach zitierte Passage, in der Kirchberg davon berichtet, dass Abt Konrad von Lübeck (reg. 1283–1290), der Vorvorgänger Johann von Dahlens, nicht nur zahlreiche Wirtschaftsgebäude des Klosters errichtet habe, sondern auch 11000 Pfund Silber für einen Kirchenneubau zusammengebrachte11, dürfte sich also nicht nur, wie bisher vermutet, auf die Planung, sondern auf den konkreten Baubeginn beziehen. Selbst mit einem vermuteten Baubeginn unter Abt Konrad hätte man in Doberan ungewöhnlich zügig gebaut. Dass bis zum Jahr 1291 die alte Kirche mit Holzdach noch existierte, entspricht den üblichen Gepflogenheiten auf den Baustellen großer Kirchen, wo man sich bemühte, um das Sanktuarium der alten Kirche herumzubauen. Es galt, dieses so lange funktionstüchtig zu halten, bis der Neubau soweit gediehen war, dass man auch hier die Messe abhalten konnte. Mit einer mutmaßlichen Aufnahme der Bauarbeiten in den frühen 1280er Jahren wurde die Klosterkirche in Doberan immer noch etwa ca. zehn Jahre später begonnen als die Pfarrkirchen St. Marien in Lübeck und St. Nikolai in Stralsund, doch schritt das zisterziensische Unternehmen dafür viel schneller voran. Als in Stralsund im Jahr 1314 endlich der hölzerne Dachreiter über dem Dach des Hochchors von St. Nikolaierrichtet wurde12, waren in Doberan Chor, Querschiff und Langhaus längst unter Dach und Fach. Unter all den Bauten entlang der Ostseeküste zeigt Doberan die engste Verwandtschaft mit dem Schweriner Dom13. Dies betrifft zum einen den Grundriss des Umgangschors, der fast identisch ist. Anders als in St. Marien zu Lübeck und St. Nikolai zu Stralsund ist der um das Chorpolygon herumgeführte Chorumgang in Doberan und Schwerin genauso breit wie die Seitenschiffe des Langchors, was zur Folge hat, dass am Außenbau die ausbuchtenden Kapellen über die Außenwände des Langchors seitlich deutlich hervorkragen. Der vielgliedrige Chor tritt dadurch nach außen hin stärker in Erscheinung als in Lübeck und Stralsund. Am Aufriss des Chorpolygons werden zugleich die Unterschiede zwischen den Bauten in Doberan und Schwerin erkennbar: Der Schweriner Chor wirkt wie eine systematisierte und vereinfachte Variante von Doberan: die Chorpfeiler laufen von
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unten bis oben ohne Kapitelle glatt durch, und das Doberaner Blendtriforium ist in Schwerin mit den Obergadenfenstern verschmolzen worden. Dafür, dass die Doberaner Klosterkirche der Schweriner Bischofskirche voranging und nicht umgekehrt, spricht auch die Tatsache, dass der original erhaltene Dachstuhl des Chormittelschiffs in Schwerin aus um 1316 geschlagenem Holz gearbeitet wurde und damit deutlich jünger ist als derjenige in Doberan14. Als mutmaßlichen Bauherrn des Schweriner Doms hat Michael Huyer zuletzt Bischof Gottfried I. von Bülow (1292–1314) benannt, dessen Familienwappen sich an zwei Wappensteinen oberhalb des Portals am Ostende des Langhauses findet15. Die auffällige Verwandtschaft zwischen den Bauten in Doberan und Schwerin könnte dafür sprechen, dass man Planmaterial ausgetauscht hat und/oder dass es personelle Überschneidungen bei den Bauleuten gegeben haben mag. Die anzunehmende Vorbildhaftigkeit der Klosterkirche für die Bischofskirche macht deutlich, dass das Doberaner Bauprojekt nicht als bescheidener Ableger entsprechender städtischer Vorhaben zu verstehen ist, sondern dass es selber maßstabbildend gewirkt hat. Dass die zisterziensischen Äbte von Doberan als Bauherren ein auf Repräsentation ausgerichtetes Anspruchsdenken besaßen, das hinter dem der vermögenden Kaufleute in den Nachbarstädten oder den Bischöfen in Lübeck und Schwerin nicht zurückstand, belegt auch die Ausstattung der neu erbauten Kirche, deren Herzstück das Hochaltarretabel war (Abb. 294)16. Die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben zu einer schrittweisen Neudatierung des zahlreich erhaltenen Inventars des späten 13. und frühen 14. Jahrhunderts geführt. Tendierten einige Autoren in der Nachfolge von Hans Wentzel dazu, sowohl die im 15. Jahrhundert zur Leuchterfigur umfunktionierte Stehmadonna aus dem Hochaltarretabel (Abb. 308) als auch die Grabfigur der dänischen Königin Margarethe (†1282) und schließlich den Kelchschrank ohne seinen bekrönenden Wimperg als Relikte aus der romanischen Vorgängerkirche zu betrachten17, so macht eine Fülle technologischer und stilistischer Argumente diese Zuordnung inzwischen obsolet. Die an den Objekten gewonnenen dendrochronologischen Daten fügen sich in die neu etablierte Chronologie des Bauablaufs problemlos ein: Demnach könnte die ehemalige Schreinmadonna um/nach 1280 (d) gefertigt worden sein18, der Corpus des Kelchschranks wäre nach 1292 entstanden19, während das Chorgestühl der Mönche von 1293±10d stammt20. Offensichtlich sind nicht nur das wandelbare Flügelaltarretabel auf dem Hochaltar, sondern auch sämtliche andere in Frage kommenden Objekte,
einschließlich des Königinnengrabmals21, bereits für den gotischen Neubau nach Kathedralschema mit Kapellenumgangschor geschaffen worden. Die Daten zeigen auch, dass der Kirchenbau und die Fertigung der Ausstattung zeitgleich und parallel vorangetrieben worden sein müssen22. Architektur und Ausstattung sind als Teil eines einheitlichen Ganzen konzipiert worden. Mittels der Ausstattungsstücke wurde der Kirchenraum funktional ausdifferenziert, die Platzierung der Objekte dürfte also von Anfang an festgestanden haben und vermutlich in engster Abstimmung mit dem Baumeister festgelegt worden sein. Dies gilt nicht nur für das Hochaltarretabel, dessen Breite perfekt auf den Durchmesser der östlichen Chorarkade abgestimmt ist, sondern auch für das Chorgestühl für Mönche und Konversen. Dass man beim Bauen einer Klosterkirche Rücksicht auf die später einzubauenden Gestühle nahm, haben Norbert Nussbaum und Sabine Lepsky am Beispiel der ab 1259 neu errichteten Zisterzienserkirche von Altenberg bei Köln gezeigt23. Dort sind Vierungspfeiler auf der dem Schiff zugewandten Seite im unteren Bereich glatt und unprofiliert gestaltet und verweisen damit auf den Ort, wo das Chorgestühl aufgestellt war24. In vergleichbarer Weise nehmen auch in Doberan das erste und zweite sowie das vierte bis sechste Langhauspfeilerpaar von Westen Rücksicht darauf, dass hier die Chorgestühle der Mönche und der Konversen zu platzieren waren, indem die von einem Stuckkapitell mit Pflanzenornamentik unterfangenen Pfeilervorlagen erst in einer Höhe von ca. 4 m über dem Boden ansetzen. In Doberan geht die gegenseitige Bezugnahme von Architektur und Ausstattung über die rein praktischen Aspekte weit hinaus. Sie bildet vielmehr den Kern eines ästhetischen Konzepts, das als eine sämtliche Einzelobjekte übergreifende Architektonisierung des Ganzen beschrieben werden kann mit dem Ziel, ein Abbild des himmlischen Jerusalem zu schaffen. Als an zahlreichen Ausstattungsstücken wiederkehrendes Leitmotiv fungiert dabei das bekrönende Maßwerk des Hochaltarretabels, genauer dessen kleinste Untereinheit, das Maßwerkfenster mit überfangendem Wimperg (Abb. 300). Aus diesem Motiv heraus ist die Struktur des gesamten Retabels entwickelt worden. Es wird mit identischen Maßen am Schrein insgesamt sieben Mal wiederholt (Abb. 294), und kehrt an den klappbaren Flügeln dementsprechend jeweils dreieinhalbmal wieder. Die gleichmäßig aufgereihten, gleichhohen Maßwerkfenster werden im Schrein und auf den Flügeln von einer Zone von schlichten Lanzettfenstern unterfangen25. Die mittlere Arkade im Schrein durchbricht dieses Prinzip. Zugunsten einer durch-
Abb. 295. Kölner Dom, Westfassade, Riß F
laufenden hohen Nische, die Platz bot für die Aufnahme einer Madonnenstatue, hat man hier auf die horizontale Gliederung und das Couronnement des Fensters verzichtet. Die gleichmäßige Aufreihung der mit Maßwerk gefüllten Wimperge bestimmt die Gestalt des Retabels wesentlich. Sie lässt gleichsam das verkleinerte (und vereinfachte) Bild einer einzelnen Zone einer gebauten Fassade entstehen, wie sie ab 1277 in Straßburg gebaut wurde und, wie der Fassadenriß F (Abb. 295)26 belegt, nur wenig später auch für den Kölner Dom geplant wurde27. Die vereinheitlichende Struktur des Retabels verschleiert auf den ersten Blick die Tatsache, dass es sich dabei um ein liturgisches Möbel neuen Typs handelt, das verschiedene Aufgaben gleichzeitig erfüllen sollte: die Unterbringung des Reliquienschatzes und der geweihten Hostie sowie die Erinnerung und Belehrung durch Bilder. Von entscheidender Be-
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Abb. 296. Hochaltarretabel, linker Flügel, Detail: Kreuztragung
Abb. 297. Hochaltarretabel, linker Flügel, Detail: Kreuzigung
deutung bei der Planung dieses neuartigen Möbels war die Aufgabe, den Reliquienschatz des Klosters, der, den Ausmaßen des Schreins nach zu urteilen, ziemlich umfangreich gewesen sein muss, sicher und dauerhaft auf dem Hochaltar unterzubringen28. Das Bestreben, im Zuge eines Neubaus den Heiltumsschatz des Klosters auf neue Weise und wirkungsmächtig zu inszenieren, ist etwa zur selben Zeit auch in der Zisterze Altenberg bei Köln nachweisbar. Dort ließ Abt Heinrich (reg. 1289–1302) eine maior tabula reliquiarum ad summum altare, ein großes Reliquienretabel für den Hochaltar anfertigen, das heute verloren ist. Leider existiert keine präzise historische Beschreibung des Objekts29. Die mehrfach überlieferte Nachricht jedoch, der zufolge Abt Heinrich die Tafel aus seinen eigenen Kleinodien und Gem-
men (also kostbaren Steinen) anfertigen ließ, wurde, ebenso wie die Tatsache, dass es 1386 für den stattlichen Preis von 500 Gulden neu vergoldet wurde, dahingehend interpretiert, dass es sich um ein Werk aus Edelmetall in der Art einer Staurothek gehandelt haben muss30. In Doberan entschied man sich für eine Lösung, die zugleich moderner und vermutlich weniger teuer war als die in Altenberg. Wie Klaus Krüger zuerst überzeugend deutlich gemacht hat, etabliert das Doberaner Retabel dort eine Ordnung, wo traditioneller Weise Unordnung herrschte31. Wurden üblicherweise die Gefäße mit den Reliquien an den Festtagen auf den Altartisch gestellt, wodurch sie den Blick auf die Bilder hinter den Altären versperrten, so ermöglichte das Doberaner Möbel in geöffnetem Zustand die simultane
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Schau der verehrten Reliquien in ihren kostbaren Hüllen und Gefäßen, der Muttergottes mit dem Kind und von Bildern, die von Kindheit und Passion Christi erzählen32. Für diese Ordnung bediente man sich, wie bereits gezeigt, der Formen und Maße aus der Architektur. Die Konsequenz, mit der das geschieht, unterscheidet das Doberaner Retabel von dem nur wenig jüngeren Retabel in Cismar ebenso wie von dem Flügelretabel aus dem Prämonstratenserinnenkloster in Altenberg an der Lahn, das neben den Reliquien ebenfalls eine zentrale Madonnenfigur barg33. In der durchgreifenden, die Wirkung beherrschenden architektonisierenden Gestaltung ist Doberan unter allen frühen wandelbaren Fügelretabeln nur mit dem sogenannten Goldaltar aus der Pfarrkirche St. Marien in Oberwesel von 1340–50 vergleichbar34. In Oberwesel überfangen die isokephalen Wimperge prachtvolle Maßwerkrosen, deren Formen exakt und bis in Details hinein der gebauten Architektur der Zeit nach 1300 entnommen sind35. Bei beiden Retabeln geht die fassadenartige Struktur auf Kosten der erzählenden Bilder, die der Schreinarchitektur ganz und gar untergeordnet scheinen. In Doberan wurden alle Szenen, auch traditionell vielfigurige wie Kreuztragung und Kreuzigung (Abb. 296, 297), auf zwei Figuren beschränkt, von denen jede eine Arkade für sich beansprucht. Das Arkadenraster führt dazu, dass die Figuren zunächst einzeln wahrgenommen werden, bevor der Betrachter Handlungszusammenhänge und die gemeinte Szene erkennt36. Die Schnitzer wussten die Beschränkung in der Anzahl der Figuren allerdings zu nutzen, um die extrem verknappte Bilderzählung auf die Gottesmutter – Patronin der Zisterzienserklöster – hin zu akzentuieren: in Kreuztragung und Kreuzigung erscheint neben Christus nur Maria. Sie ist gleich groß oder sogar größer dargestellt als der Erlöser, was sie diesem bedeutungsmäßig naherückt. Das Doberaner Retabel darf insgesamt als funktionale und gestalterische Weiterentwicklung französischer und maasländischer Reliquienschreine des 13. Jahrhunderts gelten, die deutlich expliziter als bei den Vorläufern des 12. Jahrhunderts Formen aus der gebauten Architektur zitieren. Wie der Vergleich mit dem von Pariser Goldschmieden gefertigten Romanusschrein aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts im Schatz der Kathedrale von Rouen (Abb. 298) offenbart, stammt das Prinzip, schlanke Einzelfiguren in Doppelarkaden einzustellen, von diesem oder ähnlichen Vorbildern ab37. Der im 2. Weltkrieg weitgehend zerstörte Silberschrein aus der Abtei von Nivelles, der zwischen 1277 und 1298 entstand, ist als ein besonders sprechender Beleg für unmittelbare Vorbildhaftigkeit der gebauten Architektur für die Ge-
stalt der mit Heiltümern gefüllten Schreine anzusehen, wie Peter Kurmann gezeigt hat38. Die Rose des Giebels über der Marienstatue an einer der Querfronten des Schreins folgt Vorbildern aus der französischen Rayonnant-Architektur der 1260er Jahre. In ihr ist die Gestalt der Westrose der Kathedrale von Reims in einen kleineren Maßstab und ein anderes Material übersetzt (Abb. 299)39. Wie stark die gebaute Architektur und die mit ihr verbundenen ästhetischen und bedeutungsmäßigen Gehalte die Vorstellung von Repräsentation an sich bestimmten, belegt das Beispiel eines nur durch Beschreibung überlieferten, nach 1255 entstandenen Reliquiars aus der Abtei Anchin. Bei diesem Objekt, in dem der Fuß der hl. Martha, der Schwester Maria Magdalenas, aufbewahrt wurde, soll es sich um eine von vier Engeln getragene Nachbildung der Pariser St. Chapelle gehandelt haben40.
Abb. 298. Rouen, Schatzkammer der Kathedrale, Schrein des hl. Romanus, letztes Viertel 13. Jahrhundert
Abb. 299. Reims, Rose der Westfassade und Nivelles, Gertrudenschrein, Rose am Langhaus (Gegenüberstellung Peter Kurmann)
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Abb. 300. Hochaltarretabel, einzelne Maßwerkarkade
Abb. 301. Montreuil-sur-Mer, Sainte-Saulve, Reliquiar, um 1275
Bei den hausförmigen Schreinen der Goldschmiedekunst, die realen oder idealen Kirchenarchitekturen nachgebildet sind, handelt es sich um geschlossene Kästen, die an keiner Stelle den Blick auf die Reliquien freigeben. Den Doberaner Schreinkasten im geöffneten Zustand mag man als durchbrochene Längsfront eines solchen architektonisierenden Reliquiars ansehen. Aufschlussreich ist hier der Vergleich mit dem um 1275 in Nordfrankreich gefertigten Reliquiar in Sainte-Saulve in Montreuil-sur-Mer, dessen durchbrochene Front aus einem einzigen wimpergbekrönten Spitz-
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Abb. 302. Kil (Schweden, Provinz Närke), Baldachinaltar mit stehendem Heiligen, 14. Jahrhundert
bogenfenster aus Doppellanzetten (also gleichsam der kleinsten Untereinheit des Doberaner Retabels) besteht, durch das man auf die Reliquien schauen konnte (Abb. 301)41. Wenn man das Retabel von der in der Schreinmitte platzierten Stehmadonna her denkt, dann lässt sich das Möbel zugleich auch als ein um Reliquiengefache erweiterter Baldachinaltar verstehen. Für den Bildtypus einer von einem Baldachin mit beweglichen Flügeln ummantelten Madonnen- oder Heiligenfigur haben sich heute nur noch vereinzelte Beispiele erhalten wie der Heiligenschrein in Kil in der
historischen Provinz Närke in Schweden (Abb. 302)42. Baldachinretabel besaßen üblicherweise zwei bewegliche, in sich schwenkbare, zweiteilige Flügel, die mit erzählenden Szenen geschmückt waren und mit denen das offene, die Figur bergende Gehäuse seitlich und vorn geschlossen werden konnte. Solche Retabelformen haben sich auch im Bereich der Goldschmiedekunst erhalten. Für die Formfindung des Doberaner Werks könnten Artefakte in der Art des 1254 entstandenen silbervergoldeten Kreuzreliquiars aus der ehemaligen Abteikirche von Floreffe (Paris, Musée du Louvre, Département des Objets d`art, Inv. Nr. OA 5552) eine Rolle gespielt haben, das als Baldachinretabel mit beweglichen Flügeln gestaltet ist (Abb. 303)43. Mit einer Höhe von 79 cm und einer (im aufgeklappten Zustand) maximalen Breite von 92 cm war dieses Reliquienretabel groß genug, um als Altarschmuck zu dienen. Auf einer schmalen Raumbühne, die als Spitzbogenportal mit begleitenden Fialtürmchen gestaltet ist, stehen zwei vollplastisch gestaltete Engel, die gemeinsam ein edelsteinbesetztes Kreuz halten, das die Reliquie, einen Splitter vom Kreuz Christi, birgt. Die zweiteiligen Flügel bestehen wie in Doberan aus maßgleichen, isokephal aufgereihten Spitzbögen, die von Wimpergen überfangen werden. Vergleichbar sind auch die verknappten Passionsszenen, die aus einer, höchstens zwei Figuren bestehen und sich über mehrere Arkaden hinweg fortsetzen. Das Doberaner Flügelaltarretabel mit seinem zentralen Kultbild der Madonna erwuchs aus der formalen Zusammenführung unterschiedlicher Traditionsstränge zu einer Synthese, die in ihrer optischen Überzeugungskraft mehr ist als die Summe ihrer einzelnen Teile. Stellt das Retabel funktional eine Verschmelzung des Modells der hausförmigen Reliquienschreine mit den mit Klappflügeln ausgestatteten Baldachingehäusen für Heiligenfiguren dar, so wurde das Ganze in das übergreifende Bild einer stolzen, reich gegliederten Giebelfront gefasst. Solche krabbenbesetzten Wimperge mit Maßwerk, die von schlanken Fialtürmchen flankiert werden, erscheinen in der gebauten Architektur zum ersten Mal an den vor 1243 fertiggestellten Portalen der Westfassade der Kathedrale von Amiens44. Wie die Portalzonen der 1250– 60 entstandenen Querhausfassaden von Notre Dame in Paris und der Westfassade der Kathedrale von Reims, wo das Motiv aufgegriffen wird, deutlich machen, dienten die steil aufragenden Wimperge dazu, die Portalzone optisch zu vereinheitlichen, sie größer erscheinen zu lassen, und mittels der spitzen Dreiecksformen eine Verbindung zu dem darüber liegenden Geschoss und zum großen, zentralen Rosenfenster herzustellen. In Doberan vermittelt die Reihe spitzer Wim-
perge zu der hohen, steilen Mittelarkade des Chorpolygons und zur darüber liegenden Zone des Triforiums, wo die aufgereihten Wimperge in gemalter Form wiederkehren. In das durch die aufgereihten Dreiecksgiebel evozierte Bild einer Fassadenzone fügt sich auch die stehende Madonna nahtlos ein, die schon vom gewählten Typus her die Erinnerung an eine Trumeaumadonna aufkommen lässt, wie sie zum Beispiel den Mittelpfeiler des um 1250/60 errichteten Nordquerhausportals von Notre Dame in Paris schmückt45. Eine gestalterische Syntheseleistung wie sie das Doberaner Retabel darstellt, ist auf dem Wege des Drauflosbauens nicht zu erreichen. Sie setzt vielmehr das Anfertigen einer Einwurfszeichnung, einer pourtraiture voraus, wie sie in französischen Quellen genannt wird46. Der erhalten gebliebene, in das Jahr 1272 datierende Vertrag für den Silberschrein von Nivelles stellt hierfür ein wichtiges Belegbeispiel dar. Darin tritt das Kapitel als Auftraggeber auf, das zwei Goldschmiede mit der Arbeit betraut, von denen einer vermutlich Mönch in der Abtei war. Die Maßgeblichkeit der architektonischen Form für die angestrebte prachtvolle Wirkung des Ganzen geht aus den Formulierungen des Vertrags deutlich hervor. Das Objekt sollte mit vier Giebeln, quatre pignons, ausgestattet werden, so, wie es auf dem gezeichneten Entwurf, der pourtraiture, zu sehen war, die ein Goldschmied namens Jakob von Anchin gemacht hatte47. Mit den Giebeln waren vermutlich die bis in die Dachzone hinauf reichenden Portalgiebel in der Mitte der beiden Längsseiten und an den beiden Schmalseiten des Schreins gemeint, die jeweils ein
Abb. 303. Musée du Louvre, Paris, Kreuzreliquiar aus der Abtei von Floreffe, nach 1254
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Rosenfenster umschlossen. Ob es sich bei der pourtraiture um einem detaillierten Gesamtentwurf oder um ein Sortiment einzelner Architekturmotive gehandelt hat, lässt sich dabei nicht sagen48. Zitierte der Schrein in Nivelles mit der Westrose der Kathedrale von Reims architektonisches Formengut, das zumindest zum Zeitpunkt der Vertragsabfassung von 1272 hochaktuell war (die Rose dürfte gerade fertiggestellt worden sein), so lässt sich im Hinblick auf das Doberaner Retabel ein vergleichbares Streben nach Modernität nachweisen. Die am Retabel und an den anderen Ausstattungsstücken der neu erbauten Kirche entfalteten Maßwerkformen zeigen eine deutliche Verwandtschaft zu den Maßwerkfenstern im Obergaden des Kölner Domchores, dessen Grundsteinlegung 1248 erfolgte und dessen Erdgeschoss Arnold Wolff zufolge bereits um 1265–1268 errichtet
Abb. 304. Hochalterretabel, Maßwerk am Schrein
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war49. Den jüngsten, von Maren Lüpnitz publizierten Ergebnissen der bauarchäologischen Untersuchungen zufolge dürften die Obergadenwände des Chors, die in Bezug auf das Doberaner Retabel von Interesse sind, um 1270 von Westen aus begonnen worden und spätestens 1285 fertiggestellt gewesen sein50. Seit den Forschungen von Arnold Wolff geht man davon aus, dass der Chorneubau im Jahr 1304 mit der Errichtung einer Trennwand zum Querschiff hin abgeschlossen wurde. 1320 bezog das Domkapitel den Chor, der 1322 geweiht wurde51. Die Frühdatierung des Kölner Chors hat Konsequenzen in Bezug auf die Bewertung seiner Maßwerkformen im Verhältnis zum Maßwerk an der ab 1277 errichteten Straßburger Westfassade. Galt das am Kölner Domchor und auf dem Riss F entfaltete Maßwerk früher als Derivat des Straßburger Entwurfs, so wird das Maßwerk des Kölner Domchors nun als eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Formen des 1264 gewölbten Chorobergadens der Kathedrale von Amiens angesehen52. Was ist nun kölnisch am Maßwerk des Doberaner Retabels? Der Obergaden des Kölner Doms besitzt vierbahnige Maßwerkfenster, bei denen jeweils zwei Bahnen mit lanzettförmigem Abschluss einem Spitzbogen eingeschrieben sind, der im Couronnement einen Kreis mit eingeschriebenem Fünfpass trägt, wobei der Fünfpass wiederum aus fünf Dreipässen gebildet ist (Abb. 305). Die zwei Spitzbögen werden wiederum von einem größeren Spitzbogen überfangen, der im Couronnement einen Vierpass trägt, der in zweiter Ordnung mit zur Mitte hin offenen Dreipässen gefüllt ist. Als modernes Element darf hier nicht nur der Verzicht auf einen rahmenden Kreis um den Vierpass im größten Spitzbogen gelten, sondern auch der Besatz der Spitzen des offenen Vierpasses und der Dreipässe mit Lilien. Die beiden Maßwerkfenster, die die für die Aufnahme der Madonna bestimmte Mittelnische im Doberaner Schrein links und rechts flankieren, wiederholen genau diesen Aufbau in nur leicht reduzierter Form (Abb. 304). Auch den Doberaner Schreinfenstern liegt eine vierbahnige Struktur aus einem Paar doppelbahniger Lanzettfenster zugrunde, wobei auf die beiden Mittelstäbe verzichtet wurde, um eine bessere Einsichtigkeit ins Retabelinnere zu gewähren. Das Couronnement des kleineren Spitzbogenpaars zeigt wie in Köln einen Fünfpass. Ebenso stimmt der genaste Vierpass mit Lilienenden im Couronnement des übergreifenden Spitzbogens überein, der in der zweiten Ordnung mit Dreipässen gefüllt ist. Das geschnitzte Doberaner Maßwerk darf sogar als Weiterführung und Modernisierung des Kölner Maßwerks gelten, weil man bereits bei den Lanzetten und ihrem Couronnement
Abb. 305. Köln, Dom, Chorobergaden, Maßwerk eines Fensters (Außenansicht), vor 1285
Abb. 306. Doberan, Kelchschrank, Maßwerkaufsatz
auf die rahmenden Kreise verzichtet hat, während dies in Köln nur bei dem Vierpass im Couronnement des übergreifenden Spitzbogens der Fall ist. Eine weitere Variante gegenüber dem Kölner Vorbild besteht darin, dass bei insgesamt drei der Maßwerkfenster am Schrein dieser große Vierpass nicht mit Dreipässen, sondern mit vier kleinen Vierpässen gefüllt ist, wobei das Zentrum mit einem weiteren, deutlich kleineren Vierpass geschmückt ist. Die charakteristischen Obergadenfenster des Kölner Domchors sind am Außenbau mit Wimpergen bekrönt. Zuvor findet sich dieses Motiv schon am Obergeschoss der 1248 geweihten Pariser Sainte Chapelle, ebenso wie an der 1259 begonnenen Marienkapelle von St. Germer de Fly und am Obergaden der 1262 begonnenen Stiftskirche von St. Urbain in Troyes53. Für den Doberaner Schrein hat man diese wimperggekrönten Fenster übernommen und zum Leitmotiv erhoben. Am Schreinkasten sind die Wimperge mit Weinblattranken gefüllt, an den Flügeln jedoch erscheint hier aufgeblendetes Maßwerk, das einmal mehr nach Köln verweist. Das Motiv des Dreistrahls, mit dem sämtliche Spitzen der Doberaner Wimperge auf den Flügeln gefüllt sind, findet sich bereits um 1245 an der inneren Wand der Nordquerhausfassade der Kathedrale von Notre Dame in Paris54. Die Verbindung von Dreistrahl und Wimperg ist jedoch Leonard Helten zufolge eine Kölner Erfindung, die an den Fenstern des Chorpolygons zwischen 1270 und 1285 zuerst auftritt und dann auf dem Fassadenriss F in vielen Varianten durch-
Abb. 307. Köln, Dom, Marienkapelle, Maßwerk am Grabmal des Erzbischofs Rainald von Dassel
gespielt wird55. In Doberan wird der Dreistrahl im Wimperg neben den Flügeln des Hochaltarretabels auch am Kredenzschrank, den Wangen des Chorgestühls sowie am Giebel des Kelchschranks prominent in Szene gesetzt56. In Bezug auf die Herleitung der in der Doberaner Mikroarchitektur entfalteten Maßwerkformen erweist sich ferner der Giebel des Kelchschrankes, der vermutlich samt seinen Fialtürmchen nachträglich auf das Möbel aufgesetzt wurde, als aufschlussreich57. Die große Fläche dieses Giebels bot den Handwerkern die Möglichkeit, hier eine andere Fensteraufteilung mit anderen Maßwerkformen durchzuspielen (Abb. 306). Vor allem das rechte untere Spitzbogenfenster erscheint bemerkenswert. Es zeigt drei Lanzettbahnen, die in einem gespitzten Kleeblattbogen auslaufen. Links und rechts sitzt auf der Lanzette ein liegender gespitzter Dreipass auf. Das Couronnement bildet ein stehender gespitzter Vierpass, der einem sphärischen Viereck einbeschrieben ist. Die reiche Struktur dieses Doberaner Fensters findet sich als Blendmaßwerk am Sockel des um 1290 entstandenen Tumbengrabs des Kölner Erzbischofs Rainald von Dassel wieder, allerdings ohne das rahmende sphärische Viereck (Abb. 307)58. Dieses tritt hingegen auf dem Fassadenriss F des Kölner Doms prominent in Erscheinung, als Couronnement des großen Westfensters über dem Mittelportal59. Wir wissen weder, wer das Doberaner Retabel entworfen, noch wer es aufgeführt hat. Deutlich geworden ist, dass es sich um einen anspruchsvollen Entwerfer gehandelt haben
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muss, der unter Rücksichtnahme auf die vielfältigen, durch das Möbel zu erfüllenden Funktionen das Bild einer Fassade schuf, in das er aktuellste Formen aus der Makroarchitektur des Kölner Doms integrierte. Da das Maßwerk der Kölner Obergadenfenster, das für Doberan maßgeblich wurde, in den Jahren vor 1300 noch kaum zum allgemein verfügbaren Standard einer Tischler- bzw. Bildschnitzerwerkstatt außerhalb Kölns gehört haben dürfte, bleibt zu fragen, wer die Kölner Formen auf welchem Wege nach Doberan vermittelt hat. Das für die Wirkung des Doberaner Retabels so bedeutsame Motiv der aufgereihten Wimperge lässt sich nicht als Erfindung der mit der Fertigung der Möbel beschäftigten Schreiner erklären. Es ist in dem ästhetischen Programm des Kirchenneubaus konzeptuell verankert, denn es kehrt in der Bemalung der glatt verputzen Wandfläche zwischen Arkaden und Obergaden wieder. Dass dieser gemalte Wanddekor, der ein gebautes Triforium imitiert, zum ursprünglichen Bestand gehörte, belegen originale Reste, die im Querhaus freigelegt wurden60. Bemerkenswert an diesem Scheintriforium, das ursprünglich in den frischen Putz gezeichnet und dann in grauen und roten Linien ausgestaltet wurde, ist der Umstand, dass es in seiner ersten Form tatsächlich aufgereihte Wimperge anstelle der üblichen Spitzbögen präsentierte. Ganz offensichtlich sollte hier ein Bezug zum Maßwerk des Hochaltarretabels und den entsprechenden Bekrönungen an den anderen Möbeln im Chor hergestellt werden. Wann genau die erste Ausmalung der Triforiumszone, mit der man offensichtlich im Querhaus begann, erfolgte, lässt sich nicht bestimmen. Johannes Voss vermutete, dass man für das Verputzen der Gewölbekappen und der Triforiumszone dieselben Gerüste verwendet hat wie für die Einwölbung, die erst nach Abschluss der Arbeiten am Dachstuhl, also nach 1297 stattgefunden haben kann61. Obwohl die Einzelformen des Maßwerks sich konkret auf die gerade fertig gebauten Obergadenfenster des Kölner Doms beziehen, so könnte das fassadenartige Gesamtbild eher aus der ästhetischen Erfahrung gezeichneter Fassadenpläne heraus entwickelt worden sein. So findet sich etwa jenes, die Wirkung des Doberaner Retabels bestimmende Bild einer quergelagerten Schauwand aus aneinander gereihten, Spitzbögen einfassenden Wimpergen auf Riss B der Westfassade der Kathedrale von Straßburg von vor 1277 vorformuliert, wo die Zone unmittelbar über den Portalen entsprechend ausgestaltet ist62. Die erhaltenen, teils in monumentalem Maßstab angelegten und häufig bis in die kleinsten Details ausformulierten Risse werden in der Forschung
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mehrheitlich als Visierungen angesehen. Sie waren kaum als konkrete Anleitung zum Bauen gedacht, sondern dienten wohl vielmehr dazu, den Auftraggebern eine überzeugende Vorstellung von der Erscheinung des Ganzen zu liefern. Im Medium des Bildes brachten die gezeichneten Fassaden von Straßburg und Köln vom Großen bis ins Kleinste durchdachte und durchgeplante Architekturen zur Anschauung, deren Verwirklichung zu dem Zeitpunkt ihrer Entstehung noch im Ungewissen lag und in jedem Fall lange Jahre in Anspruch nehmen würde. Die Rolle dieser Architekturzeichnungen sowohl für die Vermittlung von Einzelformen als auch für Ideen für ganze Fassaden dürfte kaum zu überschätzen sein63. Obwohl wir aufgrund der fragmentarischen Überlieferung vom Umgang mit den Visierungen (z.B. deren Aufbewahrung etc.) kaum etwas wissen, dürfte für diese gezeichneten Bilder von Architekturen dasselbe gelten wie für gemalte Bilder: wie diese dürften sie im Ganzen oder im Hinblick Detail abgezeichnet und damit vervielfältigt und in Umlauf gebracht worden sein. Im Medium der (Architektur)-Zeichnung emanzipierten sich die gestalterischen Ideen in gewisser Weise von ihrer Materialisierung im konkreten Baugeschehen und wurden damit auch für die Übertragung in verschiedenste künstlerische Medien verfügbar64. Angesichts der hohen ästhetischen Kompetenz in der Rezeption sowohl zeitaktueller, gebauter Maßwerkformen aus der Makroarchitektur als auch der spürbaren Erfahrung mit vorbildhaften Bildern von Architekturen lässt sich vermuten, dass es sich bei dem Entwerfer des Doberaner Hochaltarretabels entweder um den Architekten der Kirche selbst gehandelt hat, oder dass dieser den mit der Planzeichnung beauftragten Handwerker mit gezeichnetem Vorlagenmaterial versorgt hat. In Nivelles erhielten die mit der Fertigung des Schreins beauftragten Goldschmiede, die sich ebenfalls nach einer Zeichnung richteten, das Material gestellt. Nach freiem Gutdünken durften sie Hilfskräfte einstellen, die über das Kapitel entlohnt wurden. Die Anwesenheit der Goldschmiede vor Ort wurde vertraglich gefordert65. Vermutlich haben sie ihre Werkstatt also in der Abtei errichtet, wo sie auch verpflegt wurden. Für Doberan tappen wir hier im Dunkeln, auch wenn das Szenario vielleicht nicht grundsätzlich anders war. Außer Frage steht, dass der Konvent als Auftraggeber an der Planung des Ganzen beteiligt war. Anhand des zentralen Marienbildes aus dem Schrein (Abb. 308) hat Annegret Laabs deutlich gemacht, dass dieser Typus der Stehmadonna mit Pyxis zuerst in französischen Zisterzen zu finden ist, also über das or-
densinterne Netzwerk nach Doberan vermittelt worden sein dürfte66. Die Madonna macht aber auch die Differenz deutlich, die zwischen der konzeptuellen Vorgabe seitens der Auftraggeber (Madonna mit Pyxis) und der Ausführung durch die bestallten Handwerker bestand. Charakteristisch für die Madonna in Doberan ist die steife, aufrechte Körperhaltung, bei der der Oberkörper nicht wie bei französischen Madonnen üblich elegant zur Seite schwingt. Zur schlanken Kontur der Mariengestalt tragen die eng an den Oberkörper gepressten Arme bei. Auch das verhältnismäßig groß gegebene Kind thront mit geradem Rücken auf dem Arm seiner Mutter, wodurch der herrscherliche Aspekt der Figur betont wird. Offensichtlich lehnte sich der Bildschnitzer an Vorbilder in der Art der Stehmadonna aus der Marienkirche zu Spandau an (Abb. 309)67. Die aus Sandstein gefertigte Figur wurde seit langem als Werk der Magdeburger Bauhütte identifiziert, weist sie doch enge Verwandtschaft zu der sogenannten Wundertätigen Madonna im Magdeburger Dom auf. Für die Fertigstellung der Spandauer Madonna lässt sich das Jahr 1290 als terminus ante quem etablieren, wird sie doch auf dem bronzenen Taufbecken in der Rostocker Marienkirche imitiert, das inschriftlich auf 1290 datiert ist68. Magdeburger Steinskulptur wurde auch an der westlichen Ostseeküste rezipiert, wie der Vergleich zwischen der Gnadenmadonna mit der Madonna aus der Königsanbetung im Schleswiger Dom zeigt69. Helfen diese Beobachtungen weiter in Bezug auf die Beantwortung der Frage nach der Art und Weise, wie die Zisterzienser in Doberan innovative Wege im Ringen um eine höchsten Ansprüchen genügende Ausstattung der neuerbauten Kirche beschritten? Bedeutet dies, dass in Doberan eine aus Magdeburg abgewanderte Werkstatt oder Handwerker unter der Leitung eines vorher in Magdeburg tätigen Architekten arbeiteten70? Wohl kaum! Es wird stattdessen sichtbar, dass die zisterziensischen Auftraggeber und ihr Entwerfer, der vielleicht identisch war mit dem Baumeister, die neuartige Form ihres wandelbaren Reliquienretabels in der Auseinandersetzung mit französischen Goldschmiedeschreinen und dem Maßwerk des neuerbauten Kölner Domchors entwickelten, für die konkrete Realisierung aber mit Schreinern und Bildschnitzern vorliebnahmen oder vorlieb nehmen mussten, die vor Ort verfügbar waren. Die Figuren am Hochaltarretabel sind untereinander keineswegs einheitlich, es gibt solche, die altertümlicher und welche, die moderner wirken, wie der Scherge aus der Geißelung Christi, dessen tänzelnder, gezierter Schritt von französischen Elfenbeinen der Zeit um 1300 inspiriert scheint71.
Abb. 308. Doberan, Leuchtermadonna
Es stellt sich daher die Frage, ob wir es hier mit Schreinern und Bildschnitzern zu tun haben, die bereits vorher in einer gemeinsamen Werkstatt zusammen arbeiteten und nun in Doberan tätig waren oder mit möglicherweise einzeln engagierten Handwerkern, die sich für diesen Auftrag in Doberan zusammenfanden72. Aus historischen Gründen liegt es zumindest nicht fern, in Lübeck das städtische Zentrum zu vermuten, aus dem die Handwerker rekrutiert worden sein könnten, die in Doberan tätig waren. Tatsächlich ist die Metropole an der Trave die einzige Stadt an der südlichen Ostseeküste, wo sich schon am Ende des 13. Jahrhunderts
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ortsansässige Bildschnitzer und Maler nachweisen lassen73. Für die von Schreinern gearbeiteten Teile der Doberaner Ausstattung hat Kaja von Cossart über den präzisen Vergleich der Einzelformen eine Herkunft der Handwerker aus Lübeck wahrscheinlich machen können74. Dass Doberaner Hochaltarretabel aber als ein repräsentatives Zeugnis d e r Lübecker Kunst der Zeit um 1300 anzusehen, wie Hans Wentzel es noch getan hat75, erscheint mir dennoch nicht richtig. Wie der Vergleich der Doberaner Stehmadonna mit den Magdeburger Steinmadonnen gezeigt hat, lässt sich das zentrale Kultbild des Doberaner Retabels kaum als ein typisch lübisches Werk deklarieren, auch wenn der Schnitzer in Lübeck gearbeitet haben mag. Die Lübecker Bildschnitzerei in der Zeit vor und gegen 1300 lässt sich als eigenständiges Phänomen kaum gegen die Kunst der benachbarten Regionen abgrenzen. Doch diese Charakterisierung trifft auch auf das in und für Doberan Geschaffene zu. Eine regional nicht einzugrenzende Stilhaltung und der weite Blick auf die modernsten Formentwicklungen im künstlerischen Leitmedium der Architektur, kennzeichnen die Prozesse der Formfindung am Doberaner Hochaltarretabel, die der vorliegende Beitrag nachzuzeichnen suchte. Es bleibt noch zu untersuchen, inwieweit das Fehlen einer lokalen künstlerischen Tradition an der südlichen Ostseeküste, gepaart mit dem schnell voranschreitenden ökonomischen Wachstum nicht nur in den Städten, sondern auch in der Doberaner Zisterze, den Weg frei machte für die konzeptuelle und künstlerische Innovation, die das Doberaner Retabel darstellte. Es dürfte kein Zufall sein, dass man nicht in der traditionsreichen rheinischen Zisterze Altenberg, sondern in Doberan den Weg aus den etablierten Formen der Repräsentation heraus ins Neue und Unerprobte wagte. Der Entwurf für das Doberaner Hochaltarretabel, der vermutlich den Maßstab und Ausgangspunkt bildete für die alle weiteren Ausstattungsstücke der neuerbauten Kirche, offenbart nicht nur eine bemerkenswerte Konsequenz in der geistigen Durchdringung der Vorbilder und der aus ihnen entwickelten Synthese, sondern auch große gestalterische Sicherheit: entstanden ist eine ideale Mikroarchitektur, die sich als zukunftsweisend für die gesamte Gattung Retabel erweisen sollte.
Abb. 309. Stadtmuseum Berlin, Madonna aus der Spandauer Marienkirche, Sandstein, vor 1290
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ABSTRACT The winged retable of the Doberan high altar is probably the oldest preserved of its kind existing today. It has a systematic structure, composed of uniformly lined tracery arcades, in which the reliefs with scenes from childhood and the Passion of Christ on the wings have a rather minor significance. When opened, it reveals a two-zone façade that looks like an excerpt from the large fissures of the cathedrals in Cologne and Strasbourg. The paper deduces the genesis of the shaping of the altarpiece, which became a scale setting
for all the other furniture of the newly built Doberan choir, from the Northern French goldsmith’s shrines of the late 13th century on the one hand and to the canopied and winged altarpieces for individual saints on the other hand. The architectural forms used on the shrine reveal a precise knowledge of the tracery windows of the clerestory from the Cologne Cathedral Choir, which was completed around 1285. It can therefore be assumed that the designer of the Doberan retable had access to the drawings and drafts exchanged between the large mason’s lodges. It is possible that this person was the architect of the Doberan church itself.
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ANMERKUNGEN
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Vgl. dazu den Beitrag von Peter Kurmann in diesem Band. Vgl. das Kapitel 14: Zur kunstgeschichtlichen Stellung des Chors von St. Nikolai in Stralsund, in: HUyER 2005, S. 305–395, bes. S. 312. Zur Organisation des Pfarrkirchenbaus im Wendischen Quartier der Hanse siehe GREWOLLS 1996. LORENZ 1958, S. 56; ERDMANN 1995, S. 33–34. SCHöFBECK 2014, S. 39. Ebd.. LÜBECKISCHE CHRONIK DES DETMAR, Bd. I, S. 165; vgl. LORENZ 1958, S. 26. Kirchbergs Mecklenburgische Reimchronik, S. 331, Kap. 137, Zeile 185–188: „Nach im appid vart vord an von Dalym her Johan. Der brach daz hulzene munstir nider vnd machte es schonen steynen wider.“ LORENZ 1958, S. 58; ERDMANN 1995, S. 4; VOSS 2008, S. 22. Man vergegenwärtige sich dafür nicht nur die durch Michael Huyer rekonstruierte Baugeschichte von St. Nikolai in Stralsund, sondern auch diejenige des Kölner Domchors, wo man von der Grundsteinlegung 1248 bis zur mutmaßlichen Fertigstellung des Obergadens gegen 1285 immerhin 37 Jahre benötigte; vgl. LÜPNITZ 2011, S. 247–250. CORDSHAGEN/SCHMIDT, S. 325, Kap. 135, Zeile 155–173: „Als der gestarb, wart appid drad von Lubike brudir Conrad, der dem clostere waz getruwe mit arbeyd vnd mit groszem buwe. Der selbe buwte sundir wan dy steynhus erst zu Doberan. Erst des appides kemmenade gebuwit wart mit gudem rade, recht in des appides hofe gelegin. Daz schuchhus buwete her ouch mit phlegen. Das gasthus buwete her sundir suren vnd liez daz clostir vmme muren. Noch liez er in der bursen starg silbirs eylftusint mark zu helfe yn gantzir truwe dem munstere zu gebuwe, daz gebuwet wart gar schone ane gebrachin vnd gehone.“; die Passage verkürzt auch bei VOSS 2008, S. 22. HUyER 2005, S. 53, 297, 303. So auch HUyER 2005, S. 315. Zum Verhältnis zwischen den Bauten in Schwerin und Doberan siehe den Beitrag von Peter Kurmann in diesem Band. HUyER 2005, S. 315; SCHöFBECK 2014, S. 30. Ebd. Dazu umfassend ERDMANN 1995; LAABS 2000; KROHM / KRÜGER / WENIGER 2001; VOSS 2008; VON FIRCKS 2012a, S. 131–151; VON FIRCKS 2012b; VON COSSART (Druck in Vorb.). Wentzel datierte den Kelchschrank (ohne Aufsatz) auf 1275, das Grabmal auf 1285 und die Leuchtermadonna auf 1295. Alle drei Werke ordnete er dem romanischen Vorgängerbau zu; WENTZEL 1938, S. 146, Kat. Nr. 10 (Grabmal), S. 147–149, Kat. Nr. 11 (Kelchschrank), S. 150, Kat. Nr. 13 (Leuchtermadonna). Wolfgang Erdmann schrieb die Grabfigur der dänischen Königin Margarethe und Kelchschrank (ohne Aufsatz) wie Wentzel der Vorgängerkirche zu; ERDMANN 1995, S. 16–18. Auch Norbert Wolf hielt immerhin noch die Stehmadonna für älter als das Retabel; WOLF 2002, S. 27. Für eine Herkunft des Grabmals von Königin Margarethe aus der alten Kirche sprach sich zuletzt noch Johannes Voss aus; VOSS 2008, S. 17.
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SCHöFBECK 2014, S. 39, Anm. 130. VOSS 2001, S. 138–139. SCHöFBECK 2014, S. 39, Anm. 130. Zum Problem des Begräbnisses von Margarethe, der Entstehung des Grabmals und seiner einstigen Platzierung im Neubau VON FIRCKS 2009, 2012a und 2012b. Eine ähnliche Argumentation verfolgt der Beitrag von Ebbe Nyborg in diesem Band. Erdmann ging noch von einem Nacheinander von Chorneubau und Ausstattung aus; ERDMANN 1995, S. 4: „Schon 1301 waren die Ostteile der neuen Abteikirche als Rohbau fertiggestellt; nun begann die langwierige Ausstattung.“ LEPSKy/NUSSBAUM 2005, Bd. 2, S. 58f. Ebd. Bekanntermaßen wurde das unterste Register erst gegen 1368 hinzugefügt, es spielt deshalb in dieser Analyse keine Rolle. H. 2,74 m, Straßburg, Musée de l`Œuvre de Notre-Dame; RECHT 1995, S. 40. Die Datierung von Riss F ist nicht gesichert, die Vorschläge schwanken zwischen 1285 und 1310–20; Arnold Wolff datierte ihn auf „bald nach 1300“; Bernhard Schütz schlug „vor 1296“ vor; Wolff in KAT. KöLN 1978, Bd. 1, S. 148; SCHÜTZ 1982, S. 143, 240. Der radikalste Datierungsvorschlag für Riss F stammt von Marc Steinmann, der eine Entstehung um 1285 (also unmittelbar im Anschluss an die Fertigstellung des Chorobergadens) für möglich hält; STEINMANN 2003. Diesen, nicht unumstrittenen Vorschlag griff Leonard Helten auf; HELTEN 2006, S. 211. Dazu ausführlich LAABS 2000, S. 26–29. Vgl. JANKE 2012, S. 105–112. Petra Janke vermutet ein bilderloses, transportables Reliquienaltärchen aus Edelmetall in Triptychonform, wie es sich im Kölner Raum aus der Augustinerinnenstiftskirche Solingen-Gräfrath erhalten hat; JANKE 2012, S. 108. KRÜGER 2001. Zum ikonographischen Programm ausführlich LAABS 2000, S. 21–29, 55–61; KRÜGER 2001, S. 69–85; VOSS 2008, S. 35–41. Für den inhaltlichen Zusammenhang der Ikonographie des Retabels mit dem Ausstattungsprogramm der ganzen Kirche siehe den Beitrag von Gerhard Weilandt in diesem Band. Vgl. dazu zuletzt KAT. FRANKFURT 2016 sowie den Beitrag von Jochen Sander in diesem Band. Zur Ausstattung der Liebfrauenkirche in Oberwesel zuletzt umfassend DöLLING 2002. Vgl. dazu die Beiträge von yves Gallet (Micro-Architecture and Artistic Transfers between Northern France and the Middle Rhine Valley in the 1340th: The Oberwesel Altarpiece) und Juliane von Fircks (Vom Konzept zur Form. Die Erstausstattung der Liebfrauenkirche zu Oberwesel) auf dem Internationalen Colloquium „Gotische Architektur am Mittelrhein (Mainz, 25–26. November 2016)“, die schriftlichen Fassungen sind in Vorbereitung. Friedrich Ludwig Röper etwa, der das Hochaltarretabel im Jahr 1808 beschrieb, vermochte in den Flügelreliefs nur einzelne stehende Heilige zu erblicken: „Bloß die Thüren der Altartafel zeigen inwärts die Bilder von 42 Heiligen, gemalt und vergoldet“; RöPER 1808, S. 228.
37 Vgl. KAT. ROUEN 1993, Nr. 19; GABORIT-CHOPIN 1996, S. 253; SUCKALE 2002b, S. 124. 38 KURMANN 1996. 39 Ebd., S. 147. 40 DIDIER 1996, S. 90. 41 KAT. KöLN 1996, S. 316–317 (Elisabeth Antoine). 42 Vgl. TåNGEBERG 1989, S. 37, Abb. 32. 43 GRIMME 1972, S. 49; KAT. KöLN 1996, S. 300–303, Kat. Nr. 13 (Jannic Durand). 44 KIMPEL/SUCKALE 1985, S. 62; MURRAy 1996, S. 94; STEINMANN 2003, S. 147. 45 KIMPEL 1971, S. 127–136; SAUERLÄNDER 1970, S. 153–155. 46 BORK 1996; zur Funktion der pourtraiture ausführlicher KURMANN 1996. 47 „…de faire une fiètre nuève a uès medame Sainte Gertrud de Nivelle … à quattre pignons, selonc le pourtraiture ke maistre Jakenez d’Anchin, li orfèvre, a fait…” (einen neuen Schrein für die heilige Gertrud von Nivelles zu verfertigen…mit vier Giebeln, nach der Zeichnung, die der Goldschmied Jakob von Anchin gemacht hat), Text und Übersetzung zit. nach BORK 1996, S. 79. 48 So KURMANN 1996, S. 150. 49 WOLFF 1968, S. 221–224; LÜPNITZ 2011, S. 247. 50 Ebd., S. 249; HELTEN 2006, S. 207. 51 LÜPNITZ 2011, S. 247. 52 HELTEN 2006, S. 211. 53 KIMPEL/SUCKALE 1985, S. 400, 429, 442–443. 54 HELTEN 2006, S. 173. 55 Ebd., S. 173–176. 56 Siehe den Beitrag von Kaja von Cossart in diesem Band. 57 Hans Wentzel vermutete einen zeitlichen Unterschied von mehreren Jahrzehnten zwischen dem Schrank mit seinen „romanischen“ Rundbogenformen (um 1275) und dem aufgesetzten Maßwerkgiebel (um 131–20), der Formen des Hochaltarretabels aufnimmt. Daher behandelte er Schrank und Aufsatz in zwei unterschiedlichen Katalognummern; WENTZEL 1938, S. 147–149, Kat. 10 (Schrank), S. 149–150 (Aufsatz). Wolfgang Erdmann folgte ihm darin; ERDMANN 1995, S. 16–17. Eine dendrochronologische Untersuchung an den Eichenholzbrettern des Schranks erbrachte ein frühestes mögliches Fälldatum von 1286. Wie Johannes Voss feststellte, ist daher mit einer Fertigung des Möbels erst ab etwa 1292 zu rechnen, was den Schluss zulässt, dass es für die neue Kirche geschaffen wurde. Für Johannes Voss war das späte Entstehungsdatum des Schrankes ein wichtiges Indiz dafür, den Schrank (mitsamt seinem Aufsatz) als einheitliches, in sich kohärentes Werk
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zu betrachten; vgl. VOSS 2001, S. 138–140. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass nur die Bretter am Schrank untersucht wurden, nicht aber der additiv hinzugefügte Aufsatz. Die gestalterischen Unterschiede zwischen beiden sind beträchtlich. Es steht daher zu vermuteten, dass der Aufsatz dem extra gefertigten Schrank hinzugefügt wurde, um ihn im Rahmen seiner Platzierung in der Kirche in das gestalterische, am Maßwerk des Hochaltarretabels ausgerichtete ästhetische Gesamtprogramm einzufügen (siehe auch den Beitrag von Kaja von Cossart). Eine Erklärung für das vom Rest der Doberaner Ausstattung abweichende Erscheinungsbild des Kelchschranks könnte darin bestehen, dass diese Möbel nicht vor Ort gearbeitet, sondern (mitsamt der Bemalung) fertig nach Doberan geliefert wurde. STEINMANN 2003, S. 98, Abb. 106. Ebd., S. 24, Abb. 14. VOSS 2008, S. 32 und Abb. S. 98 unten sowie den Beitrag von Boris Frohberg in diesem Band. Ebd., S. 32. RECHT 1995, S. 40. Dazu umfassend RECHT 1995; die zunehmende Bedeutung gezeichneter Entwürfe für die Vermittlung architektonischer Formen betonen auch KLEIN 2007, S. 16–21 sowie FREIGANG 2010; Für wertvolle Hinweise auf die jüngere Literatur und Diskussionsbereitschaft in dieser Frage danke ich Sascha Köhl, Mainz. In diesem Sinne argumentiert bereits KURMANN 1996, bes. S. 150f. BORK 1996, S. 79–81. Als Vergleich führt sie eine Alabastermadonna mit Pyxis von ca. 1330 in der Zisterzienserinnenkirche in Pont-aux-Dames an; LAABS 2000, S. 24f. Dazu ausführlich VON FIRCKS 2012a, S. 129–131, S. 138–141. Ebd., S. 134f. Ebd., S. 151–155. KROHM 2001, S. 165f. Siehe dazu das Kapitel „Vermutungen zur Herkunft und Zusammensetzung der in Doberan tätigen Bildhauerwerkstatt“ in: VON FIRCKS 2012a, S. 150–151. Ebd. Die entsprechenden Quellen aus dem Lübeckischen Urkundenbuch hatte bereits Adolph Goldschmidt in seiner Dissertation zusammengestellt; GOLDSCHMIDT 1889, S. 30; vgl. auch VON FIRCKS 2012a, S. 119–121. Siehe den Beitrag von Kaja von Cossart in diesem Band. WENTZEL 1938, S. 77–83, v.a. S. 83: „Zusammenfassend können wir als Ergebnis … feststellen: der Altar ist lübeckisch.“
Makroarchitektur und Mikroarchitektur – Aspekte von Formfindung und Funktion am Doberaner Hochaltarretabel | 325
UNTERZEICHNUNG UND BILDGENESE DER MALEREIEN DER MITTELALTERLICHEN RETABEL IM DOBERANER MÜNSTER JOCHeN SANDer, ALeXANDrA KöNIG UND KAtHArINA GrIeSSHABer
Im Anschluss an die internationale Fachtagung „Die Ausstattung des Doberaner Münsters. Kunst im Kontext“ 2014 ergab sich die Möglichkeit einer erstmaligen systematischen Untersuchung der Malereien der mittelalterlichen Altäre im Münster mit dem Infrarot-Bildaufnahmesystem OSIRIS A1 der Städel-Kooperationsprofessur am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe Universität Frankfurt1. Im Juli 2015 konnten die Aufnahmen dank der freundlichen Unterstützung von Kustos Martin Heider durchgeführt werden. Nachfolgend werden die Untersuchungsergebnisse zu den Einzelwerken kurz zusammengefasst; zusätzlich zu den hier beigegebenen Abbildungen können die hochaufgelösten Infrarot-Aufnahmen aller Werke über den Bildindex des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg (www.fotomarburg.de) konsultiert und heruntergeladen werden2. Die Infrarot-Reflektographie (IRR) ermöglicht nicht nur einen Blick auf die die Komposition vorbereitende Unterzeichnung, sondern ebenso in die nachfolgende Bildgenese, gelegentlich auch in die Nutzungs- und Restaurierungsgeschichte eines Gemäldes. Dabei gilt es sich bewusst zu machen, dass die Voraussetzung für das Sichtbarmachen derartiger Befunde die Zusammensetzung der für die vorbereitende Zeichnung verwendeten Zeichenmittel bzw. der im anschließenden Malprozess benutzten Pigment- und Bindemittelgemische sind. Wie die praktische Erfahrung im Umgang mit dieser Technik lehrt, kann man unter Umständen eine Unterzeichnung mit bloßem Auge erkennen, aber nicht immer in der InfrarotReflektographie sichtbar machen – etwa, wenn rote Unterzeichnungsmittel verwendet worden sind, die in dem bei die-
ser gemäldetechnologischen Untersuchungsmethode verwendeten langwelligen Spektralbereich nicht abgebildet werden können. Zudem bleiben manche der im Malprozess aufgetragenen Farbschichten opak oder gänzlich deckend, so dass die Unterzeichnung nur ausschnitthaft und in von Farbfeld zu Farbfeld unterschiedlicher Deutlichkeit analysiert werden kann. Wenn dann die Malerei selbst sehr stark mit graphischen Mitteln wie dunklen Konturlinien arbeitet, kann die Unterzeichnung gelegentlich nur da sicher erkannt werden, wo die Malerei von der in der Unterzeichnung oder – insbesondere bei den frühesten Werken – Unterrritzung fixierten Erstkonzeption der Darstellung abweicht3. Das bedeutendste Ausstattungsstück im Doberaner Münster ist zweifellos das Hochaltarretabel von etwa 13004. Bis zur Restaurierung von 1848/49 waren auf den Flügelaußenseiten und den Seiten des Schreinkastens noch Malereireste zu erkennen, die die Identifikation des Bildprogramms zumindest teilweise ermöglichten: Die Flügelaußenseiten zeigten je drei stehende Heilige zu Seiten eines vertikal durch die Fuge zwischen den Flügeln geteilten Mittelabschnitts, der seinerseits mit vier kleineren Szenen, darunter vermutlich ein Bethlehemitischer Kindermord, dekoriert war. Von innen nach außen waren auf der linken bzw. rechten Außenseite der beiden Flügel in hierarchischer Abstufung als Paare dargestellt: die Gottesmutter und Johannes d. T., Johannes Ev. und Andreas, Benedikt (?) und Bernhard von Clairvaux (?). Auf den Außenseiten des Schreinkastens waren die Verkündigung und eine „Mariensegnung“ (wohl eine Marienkrönung) 5, darunter je zwei Evangelisten dargestellt. Unklar bleibt, ob auch die Schreinrückseite ein umlaufendes Bildprogramm trug, wie
Linke Seite: Abb. 310. Triptychon der Tugendkreuzigung, um 1320, Außenseite des linken Flügels, Detail der Anbetung der Könige
Abb. 311. Kelchschrank, Innenseite des linken Türflügels, Melchisedek, Detail, Auflicht und IRR
es aktuell für das um 1330 entstandene Altenberger Retabel nachgewiesen werden konnte6, und ungeklärt ist auch das Entstehungsdatum dieser verlorenen Malereien, die zum Kernretabel von um 1300, seiner Erweiterung durch das untere Register im fortgeschrittenen 14. Jahrhundert oder zu einer noch späteren Ausstattungsphase gehört haben könnten. Leider erwies sich die Zusammensetzung der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgeführten neugotischen Übermalung der Flügelaußenseiten und des Schreinkastens bei der infrarotreflektographischen Untersuchung als undurchdringlich. Nach den analogen Erfahrungen bei der barocken Überfassung des Altenberger Schreinkastens könnte hier eventuell eine Röntgenfluoreszenz-Untersuchung näheren Aufschluss bringen, da bei dieser Untersuchungsform auch in nur geringen Farbspuren erhaltene Malereien auf ihre Zusammensetzung hin analysiert und ausgewertet werden können, um so zumindest ikonographische Aussagen über das ursprüngliche Bildprogramm treffen zu können7. Zur Erstausstattung des Doberaner Hochchors um 1300 gehörte auch der Kelchschrank, wie neben stilistischen Beobachtungen jüngst auch die Ergebnisse der Dendrochronologie belegen8. Die Innenseiten der beiden Schranktüren zeigen in Malerei die ihr Opfer dem im Schrankaufsatz plastisch dargestellten Christus darbringenden alttestamentarischen Gestalten Melchisedek und Abel. Der gemäldetechnologische Befund an den Malereien der Türinnenseiten dokumentiert eine Ausführung der Unterzeichnung mit einem flüssigen Medium, das vermutlich mit einer Rohrfeder aufgetragen
328 | Jochen Sander, Alexandra König und Katharina Grießhaber
Abb. 312. Kelchschrank, Innenseite des rechten Türflügels, Abel, Detail, IRR
wurde. Hierfür spricht der Linienduktus, vor allem aber die charakteristischen Doppellinien, die etwa im roten Umhang Melchisedeks (Abb. 311) oder auch in Umhang und Rock Abels (Abb. 312) gut zu erkennen sind. In den Faltentiefen des rosafarbenen Untergewandes des Priesterkönigs und des Rocks von Abel sind demgegenüber feinere, im IRR-Befund schwächer sichtbare Parallelschraffuren zu erkennen, die vermutlich in der ersten Anlage der Unterzeichnung mit einem feinen Stift ausgeführt wurden. Ein analoger Befund ist auch in der Schattenpartie am Kinn Abels auszumachen. Bereits Voss hatte die Malereien des Kelchschranks mit zwei Nebenaltarretabeln in Zusammenhang gebracht, die traditionell zwischen 1315 und 1340 datiert werden – das Corpus-Christi-Retabel und das sogenannte Tugendkreuzigungsretabel9. Zumindest für das doppelseitig bemalte Flügelbild mit Abendmahl und trauerndem Johannes Ev. und die Rückwand des inneren Schreins des Corpus-Christi-Retabels liegen mittlerweile dendrochronologische Befunde vor, die ein Fälldatum des verwendeten Eichen- bzw. Kiefernholzes bald nach 1311 zu erhärten scheinen10. Von Cossart hat darüber hinaus zahlreiche motivische, stilistische und technische Parallelen aufzeigen können, die die Entstehung beider Nebenaltarretabel in einer Werkstatt nahelegen, die ihrerseits in engem zeitlichen Anschluss zu der Werkstatt gearbeitet haben muss, die zuvor die Malereien des Kelchschranks geliefert hatte11. Die IRR-Aufnahmen der Flügeltafel des Corpus-ChristiRetabels mit der Abendmahlsdarstellung (Abb. 313) bzw. Johannes Ev. unter dem Kreuz dokumentieren eine sehr
Abb. 313. Corpus-Christi-Retabel, Innenseite des rechten Flügels, Abendmahl, IRR
Abb. 314. Tugendkreuzigungsretabel, Außenseite des linken Flügels, Königsanbetung, Detail, IRR
Abb. 315. Tugendkreuzigungsretabel, Außenseite des linken Flügels, Königsanbetung, Detail, IRR
sorgfältige Erarbeitung der einzelnen Motive. Feine Linien, die zur Vorbereitung der Malerei in die Grundierung geritzt wurden, dienten zur ersten Fixierung der Bildidee bzw. zur Abgrenzung der Malfläche zu den zu vergoldenden Partien. Die „Unterritzung“ der Komposition wurde anschließend mit einer Pinselzeichnung sorgfältig ausgearbeitet, die dann als Grundlage für die malerische Ausführung gedient hat. Da die Malerei ihrerseits abschließend mit dunklen Linien konturiert wurde, wird die gleichfalls mit dem Pinsel ausgeführte Unterzeichnung nur da sichtbar, wo die Malerei von ihren Vorgaben abweicht. Besonders gut erkennbar wird dies etwa in den Frisuren der Apostel, die in der Unterzeichnung sorgsam Strähne für Strähne graphisch gestaltet waren, während die Malerei das Haarvolumen summarischer und zugleich sehr malerisch erfasst. Die insgesamt nur geringen Abweichungen der Malerei von Unterritzung und Unter-
Unterzeichnung und Bildgenese der Malereien der mittelalterlichen Retabel im Doberaner Münster | 329
Abb. 316. Tugendkreuzigungsretabel, Mitteltafel, IRR
zeichnung deuten darauf hin, dass die Kompositionsfindung im Wesentlichen bereits vor der maltechnischen Umsetzung ins vorliegende Bild abgeschlossen war. Ähnliches gilt auch für den IRR-Befund der nachträglich zu dem Ensemble hinzugefügten Inschrifttafel, die sich heute über dem Schrein befindet. Die stark beschädigte Inschrift und die sie rechts begleitende Darstellung der Monstranz auf der heute über dem Schrein angebrachten Tafel lassen keine Unterzeichnung erkennen. Auch bei der Farbfassung des eigentlichen Schreinkastens lässt sich keine Unterzeichnung oder Unterritzung feststellen. Hier drängt sich allerdings angesichts der kruden Farbausführung, die in auffälligem Gegensatz zu der überaus fein ausgeführten Mikroarchitektur des Maßwerks steht, der Eindruck auf, dass es sich hier bloß um eine nachträgliche Übermalung der Originalfassung handelt. Tatsächlich hat von Cossart jüngst in Anschluss an Voss den plausiblen Vorschlag gemacht, dass es sich beim Corpus-Christi-Retabel in seinem heutigen Zustand um ein Pasticcio aus „mindestens drei verschiedenen Teilen“ handelt12.
330 | Jochen Sander, Alexandra König und Katharina Grießhaber
Wie bei der Flügeltafel mit Abendmahl und trauerndem Johannes des Corpus-Christi-Retabels werden auch bei der Malerei des Tugendkreuzigungs-Retabels die Außen- und Binnenkonturen aller Bildmotive abschließend in ausgeprägt graphischer Manier mit dunklen, häufig schwarzen Linien konturiert. Die erste Bildidee wird allerdings auch hier durch rasch skizzierte feine Ritzlinien fixiert13. Gut erkennbar wird dieses Vorgehen etwa bei der Königsanbetung auf der Außenseite des linken Flügels am korrigierten Schulterkontur und am Gesicht des mittleren Königs bzw. an der weisenden Hand des jüngsten Königs (Abb. 310, 315). Anschließend wurden wie bei der Abendmahlstafel des Corpus-ChristiRetabels die Vorgaben der Unterritzung durch eine mit dem Pinsel ausgeführte Unterzeichnung präzisiert14, wie an markanten Abweichungen dieser Phase der Unterzeichnung von der Malerei mit ihrer abschließenden dunklen Konturierung abgelesen werden kann: So lässt sich am Faltengeschiebe über dem rechten Bein der thronenden Madonna der Königsanbetung (Abb. 314) deutlich erkennen, dass ein Teil
der in der Pinselunterzeichnung schräg nach oben verlaufenden Falten durch die Malerei korrigiert werden. Ein analoges Vorgehen ist auch bei der wesentlich weniger gut erhaltenen Malerei auf der Mitteltafel des Triptychons zu beobachten (Abb. 316), etwa am Oberkörper von Ecclesia und Synagoge15. Die Entstehung von Abendmahlstafel und Tugendkreuzigung in ein und derselben Werkstatt scheint sich also auch mit Blick auf die Unterritzung bzw. Pinselunterzeichnung beider Werke zu bestätigen. Kaja von Cossarts jüngst geäußerter Vorschlag, auch die Malereien der Kelchschranktüren eng mit der der Abendmahlstafel des Corpus-Christi-Retabels und der Tugendkreuzigung zusammenzubringen, lässt sich demgegenüber zumindest auf der Grundlage der IRR-Aufnahmen nicht eindeutig bestätigen: Die großformatigen Darstellungen des Kelchschranks sind vor dem Beginn der malerischen Ausführung graphisch ganz anders vorbereitet worden als die kleinformatige Malerei der Nebenaltarretabel. Ob dieser gemäldetechnologische Unterschied auf die Gepflogenheiten unterschiedlicher Werkstätten oder auf differierende Ausführungsmodi durch ein und dieselbe Werkstatt angesichts unterschiedlicher Anspruchsniveaus zwischen Hochchor- und Seitenkapellenausstattung zurückzuführen ist, die von Cossart selbst auch für die Malerei annehmen will16, muss hier dahingestellt bleiben. Der vermutlich im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandene Kreuzaltar steht erkennbar unter dem Einfluss Meister Bertrams17. Auch wenn die Malerei auf den Flügeln
Abb. 317. Kreuzaltar, linker Flügelaußenseite der Laienseite, Figur oben links, Detail, IRR
Abb. 318. Kreuzaltar, linker Flügelaußenseite der Laienseite, Figur oben rechts, Detail, IRR
Abb. 319. Kreuzaltar, linker Flügelaußenseite der Laienseite, Figur oben rechts, Detail, IRR
zum Teil bis auf den hölzernen Bildträger verloren ist, so lassen die erhaltenen Partien doch die hohe Qualität der Malerei erkennen, die ihrerseits reich unterzeichnet ist. Die Unterzeichnung wurde offensichtlich mit einem Pinsel in flüssigem Medium ausgeführt, wie der charakteristische Verlauf der an- und abschwellenden Linien deutlich zeigt. Gesichter, Konturen, Architektur, Gewandfalten und Angaben zu Schattierungen wurden sorgfältig mit dem Pinsel angelegt, häufig wird in den Gewändern mit Kreuzschraffuren gearbeitet (Abb. 317). Insbesondere diese gitterförmigen Raster lassen sich in allen Bildfeldern aufzeigen, die Linien sind locker und schwungvoll gesetzt. Die Gewandfalten enden in kleinen halbrunden Haken (Abb. 318). Auch in Bereichen, in denen die Malerei bis auf den Kreidegrund abgerieben ist, kann die IRR-Aufnahme den Pinselduktus des Künstlers sichtbar machen (Abb. 319). Abweichungen zwischen Binnenzeichnung und ausgeführter Malerei sind kaum feststellbar. Man kann aufgrund der sich abzeichnenden Ausführlichkeit der Unterzeichnung wohl davon ausgehen, dass der detaillierten Vorbereitung mit dem Pinsel größtenteils gefolgt wurde. Das Mittelbild des um 1400 entstandenen Mühlenretabels18 zeichnet sich durch eine besonders detaillierte Unterzeichnung aus, die nicht nur Kontur- und Binnenzeichnung fest-
Unterzeichnung und Bildgenese der Malereien der mittelalterlichen Retabel im Doberaner Münster | 331
Abb. 320. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel, Mühle, Detail, IRR
hält, sondern auch das Oberflächenrelief etwa der Gewänder durch kurvig angelegte Parallelschraffuren markiert. Für die Kennzeichnung von Schattenzonen kommen zudem sich verdichtenden Kreuz- und Parallelschraffuren zum Einsatz, so auf dem hinteren Teil der Oberseite der Mühle, welche
Abb. 321. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel, Innenseite des rechten Flügels, Detail, IRR
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die tiefer im Raum liegenden und somit dunkleren Partien markieren (Abb. 320) Eine vergleichbar ausführliche Vorbereitung des Malprozesses findet sich auf der Innenseite des rechten Flügels: in der oberen Bildhälfte werden der von Architekturelementen bekrönte Thron und jede seiner Oberflächen durch unterschiedlichste Schraffuren in der Raumtiefe verortet (Abb. 321). Die Unterzeichnung wurde offenbar in einem flüssigen Medium mit verschieden feinen Pinseln ausgeführt, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass zuvor noch ein fein zeichnender Stift zum Einsatz kam. Der Einsatz von Parallel- und Kreuzschraffuren zur Gewandmodellierung lässt sich an der Figur des blau-rot gekleideten Apostels auf der vom Betrachter aus gesehen linken Seite der Mühle auf der Mitteltafel gut erkennen: die durch die Drehung des Oberkörpers entstehenden Falten von der linken Schulter bis zur rechten Seite der Hüfte werden durch die Angabe von geschwungenen Linien und sie begleitende, locker gesetzte Kreuzschraffuren gestaltet (Abb. 322). Die insgesamt rasch und flüssig ausgeführte Unterzeichnung gab für den Malprozess die wesentlichen Angaben vor, wurden dann aber an vielen Stellen
Abb. 322. Retabel mit der Eucharistischen Mühle, Mitteltafel, Apostel links von der Mühle, Detail, IRR
Abb. 323. Dorotheen-Retabel, Enthauptung der Heiligen Dorothea, Detail, IRR
– besonders auffällig an den Augen – noch präzisiert und dabei zum Teil auch minimal verändert oder in der genauen Positionierung verschoben. Vorritzungen finden sich in den Grenzzonen von Goldgrund und Malerei; sie dienen hier aber nur der klaren Abgrenzung der maltechnisch unterschiedlich zu behandelnden Bildpartien und haben nicht den Charakter einer Kompositionsdetails fixierenden Unterritzung wie bei den früher entstandenen Retabeln. Einen ähnlichen Befund zeigt das gleichfalls um 1400 entstandene Flügelbild des sogenannten Dorotheen-Retabels19. Handschriftliche Parallelen, beispielsweise in der Anlage der unterzeichneten Falten, lassen die in der Forschung auf Stilbasis vorgeschlagene Zuschreibung beider Tafeln an die gleiche Werkstatt nachvollziehbar erscheinen. Voss hatte in ihm einen Meister erkennen wollen, „der seine Ausbildung noch unter Meister Bertram absolviert hatte oder Mitarbeiter in dessen Werkstatt war“20. Die Malerei hat durch klimatisch ungünstige Aufbewahrungsbedingungen gelitten; vor allem im Gewand der Dorothea sind ganze Farbpartien verloren gegangen. Bei den Beschädigungen im Gesicht des Henkers handelt es sich demgegenüber um gezielte Zerstörungen, die auf das Konto früher frommer Bildbetrachter gehen dürften (Abb. 323). Wie schon beim Mühlenretabel sind auch hier die Grenzen zwischen Malerei und Goldgrund durch eingeritzte Linien markiert, besonders deutlich an der linken und rechten Wade des Henkers, an seinem Schwert sowie am niedrigen Horizont zu erkennen. Die eigentliche Unterzeichnung ist auch hier mit Pinsel und einem flüssigem Medium aufgetragen; der Linienverlauf folgt dem Oberflächenrelief des jeweils markierten Gegenstands; Parallel- und Kreuzschraffuren deuten zudem Schattenbereiche an (Abb. 324). Die Tafel, die heute in der Funktion einer Predella des nur fragmentarisch erhaltenen Retabels der „Ehrenreichen Jungfrau“ präsentiert wird, gehört nach Voss ursprünglich zu dem noch 1808 beschriebenen und heute nicht mehr erhaltenen Retabel der „Schmerzensreichen Jungfrau“. Das stilistisch dem Lübecker Künstler Hermen Rode nahestehende Werk dürfte im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden sein21. Dargestellt ist Christus als Schmerzensmann, umgeben von den Arma Christi und flankiert zu seiner Rechten von den Heiligen Petrus, Johannes Ev. und Georg, zu seiner Linken von den Heiligen Paulus, Katharina von Alexandria und Benedikt. Die im Vergleich zum Mühlenretabel oder der Dorotheentafel einfache und kursorische Unterzeichnung wurde mit einem Pinsel in flüssigem Medium ausgeführt (Abb. 325). Auf der linken Seite fällt sofort die Veränderung der Ausrichtung des Wappens ins Auge: in der
Abb. 324. Dorotheen-Retabel, Enthauptung der Heiligen Dorothea, Detail, IRR
Unterzeichnung war es um circa 45° im Uhrzeigersinn zur Mitte der Tafel hin geneigt, in der malerischen Ausführung steht jedoch der Krummstab, welcher die beiden Hälften voneinander trennt, klar senkrecht (Abb. 326). Mit der Veränderung der Ausrichtung war aber offenkundig keine Änderung der Wappenmotive verbunden; die heraldisch rechte Wappenhälfte zeigt in beiden Varianten eine stilisierte Lilie. Angesichts der sehr knappen Formvorgaben der Unterzeichnung überrascht es nicht, dass während des Malprozesses zahlreiche kleinere Korrekturen, Veränderungen bzw. Präzisierungen erfolgten – man betrachte etwa die als bloße Kringel in der Unterzeichnung angegebenen Augen des Johannes im Vergleich zu gemalten Augenpartie.
Unterzeichnung und Bildgenese der Malereien der mittelalterlichen Retabel im Doberaner Münster | 333
Abb. 325. Predella mit Schmerzensmann und Heiligen, IRR
Abb. 326. Predella mit Schmerzensmann und Heiligen, Detail, Auflicht und IRR
Nimmt man die Werke abschließend nochmals in den Blick, so zeigt sich, dass die Besonderheiten der jeweils zum Einsatz kommende Unterzeichnungen der jeweiligen Entstehungszeit und dem Anspruchsniveau des Auftrags entsprechen: Während die beiden frühesten, bald nach 1310 entstandenen Seitenaltarretabel noch mit einer Unterritzung zur ersten Fixierung der Bildidee auf der Tafel operieren, diese dann aber mit einer kleinteiligen Pinselunterzeichnung weiter verfeinern, bevor der eigentliche Malprozess beginnt, setzen die nach der Mitte des 14. Jahrhunderts entstehenden Malereien Ritzungen nur noch zur maltechnisch notwendigen Abgrenzung von Mal- und Blattgoldfläche ein. Der sich auf der Tafel vollziehende Bildfindungsprozess wird zur Gänze im Medium der Unterzeichnung durchgeführt, sei es mit einem flüssigen, mit einem Pinsel ausgetragenen Medium, oder mit einem Stift. Im Verlauf des späteren 15. Jahrhunderts wird dann nicht nur der Malprozess vereinfacht, sondern bei weniger anspruchsvollen Aufträgen wird auch die Unterzeichnung auf das Wesentlichste reduziert.
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ABSTRACT Following the international symposium „The Equipment of the Doberan Minster. Art in Context“ in 2014, the opportunity arose for the first systematic examination of the paintings of the medieval altars in the cathedral with the infrared reflectography system OSIRIS A1 of the Städel Cooperation Professorship at the Institute of Art History at Goethe University Frankfurt. In July 2015, the recordings were made thanks to the generous support of curator Martin Heider. The article summarizes the research results for the relevant objects briefly; in addition to the images shown here, the high-resolution infrared images of all works can be consulted and downloaded via the image database of the German Documentation Centre for Art History – Bildarchiv Foto Marburg. Infrared reflectography not only allows us to take a look at the underdrawing that prepares the composition, but also into the subsequent genesis of the picture, and sometimes even into the history of the use and restoration of the painting.
ANMERKUNGEN 1
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Zu den technischen Details und Spezifika des in Zusammenarbeit mit der National Gallery in London von Opus Instruments, Cambridge, entwickelten und hier verwendeten Infrarot-Bildaufnahmesystems OSIRIS A1 vgl. http://www.opusinstruments.com/specification (Abruf: 24.05.2016). Die seitens der Städel-Kooperationsprofessur am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe Universität Frankfurt genutzte Anlage ist mit einem Indiumgalliumarsenid-Detektor ausgestattet und verfügt über einen operativen Wellenlängenbereich von 0.9–1.7 µm. Die Untersuchungen wurden vom 13.–17. Juli 2016 von Alexandra König und Katharina Grießhaber, unterstützt von Benedikt Brebeck, durchgeführt. Für die freundliche Kooperation mit Foto Marburg danken wir Christian Bracht und Michael Buchkremer. Im Falle der Reproduktionsabsicht oder vor der Weitergabe der IRR-Bilddaten an Dritte bitte Prof. Dr. Jochen Sander kontaktieren ([email protected]). Bei einer Publikation sollte in der Bildlegende, in einer Fußnote oder zumindest im Abbildungsnachweis unbedingt folgende Information erscheinen: „© 2014 Städel-Kooperationsprofessur am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe Universität Frankfurt. Infrarot-Bildaufnahmesystem Osiris-A1“. Für aktuelle Fall- und Anwendungsbeispiele aus dem Bereich der Kölner Tafelmalerei vgl. VON BAUM 2013; SCHAEFER 2014, S. 121– 181; die Internet-Präsentationen der Unterzeichnungen das „Altars der Stadtpatrone“ im Hohen Dom zu Köln (http://www.museenkoeln.de/stadtpatrone; Abruf: 24.05.2016) sowie der maltechnischen Rekonstruktion von Stefan Lochners Kölner Rosenhag-Madonna (https://vimeo.com/75474884; Abruf: 24.05.2016). VON COSSART 2015, S. 36–115; zu der nur literarisch überlieferten Bemalung der Außenseiten der Flügel und des Schreinkastens ebd., S. 38–42; vgl. auch den Beitrag von Gerhard Weilandt in diesem Band (dort Anm. 10). LISCH 1849, S. 358. SANDER 2016, S. 10–19; FLEGE U.A. 2016; WOLF U.A. 2016. Zu den Ergebnissen der Röntgenfluoreszenz-Untersuchung des Altenberger Altarretabels siehe Anm. 6. VON COSSART 2015, S. 116–182, speziell zu den Malereien S. 166–182. Zur jüngsten Diskussion der dendrochronologischen Ergebnisse vgl. VON COSSART 2015, S. 126 mit Anm. 426.
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VOSS 2001, S. 140; ders. 2008, S. 54f. Zum Corpus-Christi-Retabel und zur Tugendkreuzigung siehe jüngst VON COSSART 2015, Bd. 1, S. 200–216, und den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band. Ebd., Anm. 21. VON COSSART 2015, S. 177–192. Die Verwandtschaft der Nebenaltarretabel vorsichtig bereits von LAABS 2000, S. 78 vermutet. VOSS 2008, S. 84; VON COSSART 2015, Bd. 1, S. 204 (hier das Zitat). Wie schon bei der Abendmahlstafel sind auch bei den Darstellungen des geöffneten Tugendkreuzigungsretabels die Begrenzungen der Mal- zur blattvergoldeten Hintergrundfläche durch feine Ritzlinien markiert. In dieser Beziehung weicht die Vorbereitung des Malprozesses von der bei den stilistisch wie maltechnisch verwandten Tafeln aus Hofgeismar ab, die von Stephan Kemperdick in seinem Beitrag in diesem Band nochmals ausdrücklich als Vergleichsstücke herangezogen werden: Die allerdings deutlich größeren Gemälde des Hofgeismarer Altarretabels sind nur unterritzt; vgl. die entsprechenden IRR-Aufnahmen, die im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes „Mittelalterliche Retabel in Hessen“ gemacht wurden und die im Bildindex des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg unter dem Projektnamen „Mittelalterliche Retabel in Hessen“ gefunden werden können (www.fotomarburg.de). Die nur bruchstückhaft erhaltene Malerei der nicht zugehörigen Predella des Tugendkreuzigungs-Retabels erbrachte im IRR-Befund keine nennenswerten Befunde. Kemperdick zufolge (in diesem Tagungsband) könnte diese Predella zu einem Schnitzretabel des späten 14. Jahrhunderts gehört haben, von dem nur die aus Eichenholz gefertigte Konstruktion samt den originalen Scharnieren erhalten geblieben ist (vgl. Abb. 106 bei Kemperdick). VON COSSART 2015, S. 181. Zur Frage der Datierung vgl. LAABS 2000, S. 69. Zu Maltechnik, Unterzeichnung und Bildprogramm siehe auch den Beitrag Ulrike Nürnberger in diesem Band. Vgl. auch den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band. Vgl. auch den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band. VOSS 2008, S. 75. VOSS 2008, S. 150ff. Vgl. auch den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band.
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DAS GRAB DER KöNIGIN MARGARETE SAMBIRIA IM DOBERANER MÜNSTER1 eBBe NYBOrG
Margarete Sambiria, Tochter Fürst Sambors I. von Pommerellen und Mechthilds von Mecklenburg, besaß eine derart bedeutende Stellung im dänischen Reich, dass gesagt worden ist, sie solle in der dänischen Königsreihe als Margarete I. gezählt werden und damit die beiden späteren Königinnen dieses Namens als Margarete II. und Margarete III. auf die Plätze verweisen. Margarete Sambiria wurde 1248 mit König Christoph I. von Dänemark verheiratet. Nach seinem Tode 1259 wurde sie als Vormund des Sohnes Erich Glipping zur dominierenden politischen Figur. Im Jahr 1266 verlieh der Sohn ihr die Herzogswürde über Estland und Wierland; zugleich etablierte sie sich als Fürstin über die dänischen Südinseln mit Sitz auf Schloss Nykøbing, wo sie ihrer Familie südlich der Ostsee nahe sein konnte. Die Geschichte der Planung ihres Begräbnisses und der Grablegung in Wenden bezeugt die Gefühle für ihre Heimat2.
DIE GRABFIGUR Bereits die Beinamen Margaretes: „Sprænghest“ (Wildfang), und „Sorte Grete“ (Schwarze Grethe) (nach der Haarfarbe und dem Teint?), lassen sie als eine der markantesten, von vielen Sagen umsponnenen dänischen Königinnen erscheinen. Fast ein Vierteljahrhundert nach ihrem königlichen Gemahl starb sie 1283 in der Heimat und wurde in der Zisterzienserklosterkirche in Doberan begraben, die um diese Zeit zur Grablege des mecklenburgischen Fürstenhauses wurde3. Während die Grabstätte selbst unbekannt ist, hat sich der repräsentativste Teil ihres Denkmals erhalten: die prächtige Grabfigur (Abb. 327), heute auf einem Unterbau
von G. L. Möckel aus der Zeit um 1900 (Abb. 328)4. Die Grabfigur ist aus farbig gefasstem Eichenholz, überlebensgroß (187 cm lang) und liegt auf einer profilierten Rahmenplatte (236 x 100 cm), die die alte Deckplatte der Tumba gewesen sein muss5. Die Erscheinung des Grabmals wird von der Restaurierung um 1900 geprägt, als man eine umfassende Auskittung vornahm und alles mit ölfarbe überfasste6. Eine Instandsetzung in Schwerin in den Jahren 1986 – 1998 beschränkte sich auf konservierende Maßnahmen, deren dringlichste Aufgabe die Stabilisierung des von Insekten bis hin zur Zerstörung angegriffenen Holzes war7. Die Königin ist idealisiert dargestellt, in der für Grabfiguren üblichen, leicht unwirklichen Lage mit Kopfkissen, aber dem Faltenwurf einer stehenden Figur und parallel auf eine dreiseitig vorspringende Konsole gestellten Füßen. Sie tritt uns in vollem Königinnenornat entgegen, trotz fortgeschrittenen Alters als eine junge Frau von 33 Jahren, dem Alter, in dem man nach damaliger Vorstellung in die Seligkeit eingehen sollte, ein symbolischer Hinweis auf Christi Alter bei der Kreuzigung. Die Haltung ist frontal, die linke Hand trägt als Frömmigkeitszeichen ein Gebetbuch, die Rechte ist an die Brust gelegt, wo die ringgeschmückten Finger (der Daumen fehlt) in den Mantelriemen greifen; ein charakteristischer höfischer Gestus der Zeit8. Die Krone ist flach mit Resten von fünf Zierspitzen, die auf den Kronenring geblattet sind. Auch weist sie Spuren von Verzierungen auf, wohl Bergkristallen oder ähnlichem in Metallfassung. Das Kinn wird gestützt von einem kaum noch erkennbaren Gebende, während ein Schleier vor den Schultern hängt und das lockige Haar etwas freigibt9. Der Gesichtsausdruck erscheint abwesend und feierlich, die Augen offen, unter gewölbten Brauen. Die erneuerte Nase ist
Linke Seite: Abb. 327. Grabfigur der Königin Margarete während der Restaurierung 1998 nach Abnahme von der Deckplatte der Tumba
Abb. 328. Grabtumba der Königin Margarete
mit kleinen Dübeln angesetzt, der Mund klein, gerade, mit angedeutetem Doppelkinn. Die Königin trägt eine sogenannte cotte-hardie (Unterkleid) mit langen, engen Ärmeln unter einer surcotte (Oberkleid) mit charakteristisch ausstrahlenden Falten um die Armausschnitte. Diese lässt die weiblichen Formen hervortreten und deutet mit feinen Zugfalten den vom Mantel verdeckten Gürtel an. Über die Schultern fällt bis zu den Ellbogen ein gestufter Pelzkragen; um den Hals hängt eine Agraffe, die in sechs Dreiblättchen ausstrahlt. Der bodenlange Mantel aus schwererem Stoff wird von der rechten Seite ausgehend vor den Körper geführt und wirft große, knickende Schüsselfalten; an den Seiten lange, schwingende Röhrenfalten. Unter einem gewellten Mantelsaum, der schräg aufwärts über das linke Knie verläuft, wird der Stoff der surcotte sichtbar, der sich über die vortretenden Schuhspitzen baucht. Die Fußkonsole umzieht eine Profilierung, deren Unterseite mit drei Eichenblätter geschmückt ist (Abb. 331).
338 | Ebbe Nyborg
Auf der Rückseite der Figur sieht man, daß sowohl die Fußkonsole als auch die Außenpartien der Figur von den Schultern abwärts gedübelte Anstückungen sind, da der Eichenstamm nicht breit genug für die Figur war (Abb. 333). Auch der linke Unterarm der Königin ist angestückt, das Buch besteht sogar aus drei Teilen10. Dagegen ist das Kissen aus dem Stamm geschnitten, dessen Rückseite eine für Holzfiguren dieser Zeit übliche Aushöhlung zeigt, die nach oben gerundet ist und Spuren eines gekrümmten Eisens zeigt; die Oberseite der Krone lässt die sonst übliche Einbohrung vermissen11. Die Plattenunterlage (Abb. 334) ist als Rahmenwerk mit erhöhter Kante ausgeführt, innerhalb der in den Ecken und neben der Brust sechs sekundär verfüllte Ausstemmungen liegen. Diese scheinen der Aufnahme von Stützen oder Säulen gedient zu haben, vielleicht für einen Baldachin oder für Kerzen über der Figur12. Die Fassung von etwa 1900 wiederholt in weitem Umfang eine ältere Fassung von etwa 1750, die Joachim Heinrich
Abb. 329. Margarete Sambiria als Stifterin des Heilig-Kreuz Klosters in Rostock, Aquarellzeichnung, Jacob Kornerup nach einem barocken Gemälde im Kloster, 1875
Abb. 330. Grabfigur mit Rekonstruktion von Tasselschnur, Stirnband und Gebende
Krüger geschuldet sein dürfte (Abb. 327)13. Darunter hat die Restaurierung von 1986–1998 zwei mittelalterliche Farbschichten festgestellt, über den Resten der Originalfassung. Diese ist in Freilegungen sichtbar geblieben und gibt einen gewissen Eindruck von der ursprünglichen Farbpracht der Figur (Abb. 332)14. Das Kissen war grün mit einer Musterung; um die aufgesetzten Steine der Bekrönung gab es gemalte Ornamente, und der weiße Schleier besaß vergoldete, dunkelrot konturierte Streifen. Auf dem Untergewand ist Grün gefunden worden, auf dem Oberkleid Vergoldung mit Querstreifen wie auf dem Schleier, und der Mantel trat purpurrot hervor mit kleinen schwarzen Löwen auf Goldgrund in Medaillons (Abb. 332) sowie Konturierungen in Gestalt eines Rautenmusters in Purpur auf der Vergoldung. Auf dem Mantelfutter ist Hellgrau (Hermelin) gefunden worden und auf den Schuhen Schwarz.
Der Typus der Grabfigur ist der französisch geprägte gisant (Liegefigur), der seine Form mit der Entwicklung der neuen, naturalistischen Skulpturkunst des 13. Jahrhunderts fand.
Abb. 331. Unterseite der Konsole der Grabfigur mit Eichenblattdekor
Das Grab der Königin Margarete Sambiria im Doberaner Münster | 339
Abb. 332. Originaler Fassungsrest auf dem Umhang der Grabfigur, Löwenmedaillon
Unter dem Einfluss von Portal- und Altarskulpturen mussten einfachere, nur eingeritzte Figurenmonumente wie das der französischen Königin Ingeborg von etwa 123515 (Abb. 335), Platz machen für Denkmale mit der vollplastischen Wie-
Abb. 333. Rückseite der Grabfigur, 1998
340 | Ebbe Nyborg
Abb. 334. Deckplatte nach Abnahme der Figur, 1998
dergabe der Verstorbenen, die so mit der Bemalung und Vergoldung der Figuren als nahezu physisch anwesend bei den Seelenmessen erschienen. Das sah man ganz besonders in den Mausoleen der französischen Könige wie in St. Denis, wo Ludwig der Heilige 1263/64 neue, zeitgemäße Denkmale für 16 längst verstorbene Vorgänger errichten ließ (Abb. 336), und in der Zisterzienserabtei Royaumont, wo Ludwig seine eigene Familiengrablege einrichtete16. Hier wie andernorts mussten die Zisterzienser, wenn sie in der Konkurrenz der attraktivsten Begräbnisse mithalten wollten, einwilligen, von den strengen Kunst- und Skulpturrestriktionen des Ordens abzuweichen. Die neuen königlichen Grabmäler in Royaumont werden auch ausdrücklich in einer Bestimmung des Generalkapitels der Zisterzienser von 1253 genannt, das von dem Skulpturverbot bei Grabmälern Dispens verlieh, vorausgesetzt es handele sich um königliche Personen17. Die Initiative, neue Grabmäler für längst verstorbene Personen zu errichten, scheint oft von der kirchlichen Institution ausgegangen zu sein, die durch eine solche Verehrung ihrer Stifter hoffen konnte, die Nachgeborenen des Fürstenhauses an sich zu binden (Abb. 337). Gesteigerte Stifterverehrung führte auch zu einer Vermehrung von Stifterbildern in Kalkund Glasmalerei und in Form skulptierter Porträtköpfe sowie ganzer Statuen, ja veritabler Figurengalerien wie der bekannten in Naumburg18. Solche Stifterfiguren brauchten durchaus nicht nur an diesem Ort Begrabene zu repräsentieren, obwohl ihr Verhältnis zum Grabkultus diskutiert wird19. Klar ist jedenfalls, dass Stifterfiguren, höfisch in Kleidung und Gestus, die nächsten Parallelen zu den Grabfiguren darstellen. Von gleichaltrigen deutschen Grabfiguren in Holz können im Rheinland Graf Heinrich III. von Sayn genannt werden (1247) und Pfalzgraf Heinrich II. in Maria Laach (1270/80) (Abb. 338) sowie nördlicher, in Mitteldeutschland, Herzog Ludolf in Gandersheim und Markgraf Dietrich von Wettin in Leipzig (gest. 1307). Unter diesen zeichnet sich Pfalzgraf Heinrich II. in Maria Laach durch prächtige Stoffmuster nach Originalbefunden aus wie auf Margaretes Mantel und dadurch, dass er noch auf einer Tumba aus Stein liegt unter einem sechsseitigen Baldachin20. Da die Deckplatte jener Tumba aus Holz ist (vielleicht sekundär von etwa 1300?)21, könnte man sich wohl auch in Doberan eine richtige Tumba aus Stein (Backstein?) mit Holzdecke vorstellen. Wahrscheinlicher ist aber, dass alles aus Holz ausgeführt war, mit Wappen und anderer geschnitzter Dekoration – sowie anscheinend einem eventuellen Baldachin. Die genannten Grabfiguren aus Holz eignen sich zum Vergleich allerdings nur bedingt, da es sich bei ihnen um männ-
auf die Stilisierung des Pelzkragens als Charakteristikum einer Reihe sächsischer Grabfiguren hinwies. Die Statue in Doberan sollte daher in Sachsen oder durch einen sächsischen Bildhauer ausgeführt worden sein24. In gleicher Richtung äußerten sich 1926 Margarete Brückner und 1925/26 Ulrich Middeldorf, der sie als sächsische Exportarbeit auffasste, da die Formen der Fältelung „eine provinzielle deutsche Vereinfachung französischer Stofflichkeit“ bildeten, „doch besser zu verstehen, als bei der Magdeburgfigur“ (Maria im Bischofsgang)25. Im Jahre 1926 beschrieb Francis Beckett in „Danmarks Kunst“ die Grabfigur als „eine sehr schön gefühlte Arbeit in rein französischem Stil“26. In der Studie zu einer Annenfigur Abb. 335. Grabplatte der Ingeborg von Dänemark, Messing, um 1235, nach einer Zeichnung von Gaignières, ursprünglich im Kloster Corbeil (eingeschmolzen)
Abb. 336. Saint Denis, Grabfiguren des Königs Robert der Fromme und seiner Frau Constance von Arles, Kalkstein, um 1263–64
liche Darstellungen handelt. Es haben sich anscheinend in Deutschland keine anderen aus Holz geschnitzten gisants von Frauen erhalten. Am nächsten steht ihr die Holzfigur der sogenannten Helmburgis im Nonnenkloster Fischbeck, aber es ist nicht sicher, ob diese als Grab- oder als Stifterfigur zu verstehen ist, die immer aufrecht stand22. Als Vertreter ihrer Art und Zeit steht Margaretes aus Holz gefertigte Grabskulptur in Deutschland und im Ostseeraum recht vereinzelt da. Eine nähere Bestimmung ihres künstlerischen Hintergrundes bezieht sich daher vergleichend auf Grabfiguren aus Stein und Altarfiguren aus Stein, Holz und Stuck. Die Diskussion hierum, in der Regel ausgehend von einer Datierung des Werkes um das Todesjahr oder kurz danach, ist nahezu ausschließlich auf schwedisch und deutsch geführt worden. Am frühesten und beharrlichsten hat man das Objekt in Verbindung mit dem mitteldeutschen, sächsischen Raum gesehen, wo schon der Neubau des Magdeburger Domes nach 1209 ungewöhnlich direkte Impulse aus Frankreich empfangen hat – so auch Pläne zur Verwirklichung eines echten Figurenportals. Gegen Ende des Jahrhunderts setzte man hier Frankreichs neue, hochgotische Formen in einer Reihe von Skulpturen um, die vor allem um zwei Madonnenfiguren im Magdeburger Dom gruppiert wurden – die eine im Bischofsgang, die andere, sogenannte Gnadenmadonna, im südlichen Querhaus23. In diesen Kreis führte 1915 der schwedische Kunsthistoriker Carl R. von Ugglas die Margaretenfigur ein, indem er u.a.
Abb. 337. Köln, St. Maria im Kapitol, Grabplatte der Stifterin Plektrudis, um 1270–80
Das Grab der Königin Margarete Sambiria im Doberaner Münster | 341
(aus Stuck und Holz) in Stralsund (Abb. 339), die schon Karl R. Ugglas mit der Margaretenfigur verglichen hatte, nannte Otto Schmitt 1931 gleichermaßen vorsichtig Margaretes Grabfigur „vielleicht magdeburgisch, stark französisch geprägt“27. Schliesslich verwies Hans Wentzel 1938 als Erster auf Lübeck, dessen enge Kontakte nach Westen gerade am Ende des 13. Jahrhunderts sich in der Errichtung der mächtigen Marienkirche niedergeschlagen hätten, als einer Backsteinausgabe der voll entwickelten französischen Kathedralgotik. Wentzels These von der Lübecker Dominanz in der Ostseeskulptur des 13. Jahrhunderts ließ sich – mangels erhaltener Objekte in der Stadt selbst – nur behaupten, indem nahezu alle bessere Skulptur im Ostseegebiet in Anspruch
Abb. 338. Maria Laach, Klosterkirche, Grabfigur des Pfalzgrafen Heinrich II., um 1270–80, Nussbaum, nach der Restaurierung 1988–1992
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genommen wurde. Die Margaretenstatue sah er vor allem in Verbindung mit der genannten Anna in Stralsund, einer gleichfalls in Stuck ausgeführten Skulptur aus der Marienkirche in Lübeck, dem Dreikönigsaltar im Schleswiger Dom und – in demselben Kirchenraum wie die Margaretenfigur – dem Sakramentsschrank der Doberaner Klosterkirche und der sogenannten Leuchtermadonna28. Abb. 339. Stralsund, St. Nikolai, Die vielen Zuschreibun- Anna selbdritt, Stuck, um 1300 gen Wentzels nach Lübeck fanden in späteren Arbeiten wenig Widerhall – auch nicht hinsichtlich der Margaretenfigur29. Seinen Einfluss bemerkt man aber doch, als Ursel Schönrock 1952 die Figur als eine örtliche Arbeit aus Doberan oder Rostock ansah30, und wenn Edith Fründt 1969 auf die Anna in Stralsund hinwies31. Im Jahre 1974 vermutete Dietrich Schubert, die Grabfigur sei von demselben Meister wie die Gnadenmadonna in Magdeburg ausgeführt32, 1976 verwies Kurt Bauch vorsichtig nach Naumburg33, und 1987 verglich Jan Svanberg sie mit den klugen und törichten Jungfrauen am Nordportal des Magdeburger Domes34. Svanberg kannte Jörn Barfods nuancierte Diskussion von 1986 noch nicht, die am ehesten zu einer Anfertigung in Lübeck oder dem benachbarten Rostock neigte35. Auch Kerstin Hengevoss-Dürkop 1994, Kristina Hegner 1995 und Wolfgang Erdmann 1995 blieben abwägend und vorsichtig in ihren Stellungnahmen, wollten aber doch die Margaretenfigur als Ausdruck einer sächsischen Skulpturtradition sehen36. Fast wie ein Kompromiss referiert Hegner 1995 die Vermutung Wentzels einer lübischen Entstehung, hebt aber zugleich hervor, dass die lübische Skulptur des 13. Jahrhunderts geprägt sei von „sächsischen und damit magdeburgischen Stilelementen“37. Die ständige Hervorhebung Sachsens scheint Ausdruck zu sein für eine – man möchte fast sagen: traditionelle – Überbetonung der Rolle des „kerndeutschen“ Sachsen in der „Neuformulierung“ der gotischen Kunst und ihrer Ausbreitung in Mittel- und Nordeuropa38. Ebenso wie Sachsen in wesentlichem Maß seine neuen westlichen Impulse über das
Rheinland bezog, hatte Lübeck naturgemäß seine eigenen nahen Kontakte nach Westfalen, in das Rheintal und, direkter, über die Nordsee. Die nord- und mitteldeutsche Skulptur der Hochgotik erscheint zu zerstreut erhalten und zu heterogen für eine allzu handfeste Einteilung in Schulen. Die Aufgabe wird nicht nur durch den Mangel an schriftlichen Datierungen erschwert, sondern auch durch die schwierig zu vergleichenden Materialien und durch die eher glatte und stereotype Formensprache dieses Stils. Wenn also die Gesichtszüge der Figur Gegenstand von Vergleichen waren, besagt das ebenso viel über feststehende Idealtypen, die den Werkstätten der Zeit als Vorlagen dienten – wie über die Grenzen für unsere Hoffnung, individuelle Züge erkennen zu können39. Man möchte gerne glauben, dass die Margaretentumba in Lübeck bestellt worden sei. Aber das Gebiet um Doberan, Rostock, Stralsund war so reich entwickelt, dass örtliche Werkstätten durchaus einen solchen Auftrag übernehmen konnten. Man könnte sich sogar die Frage stellen, ob auch dänische Skulpturwerkstätten dieser Zeit hätten liefern können? Das hätten sie unzweifelhaft, denn, obwohl hier nur ein Nachweis einer solchen Grab- oder Stifterfigur existiert, gibt es doch gute, zeitgleiche Madonnen, besonders aus Süddänemark, die durchaus an die Margaretenskulptur zu erinnern vermögen40.
nahegelegenen Kloster Doberan. Die früheste schriftliche Erwähnung ihrer dortigen Grablege findet sich erst in Ernst von Kirchbergs Mecklenburgischer Reimchronik, begonnen 137842. Es gibt aber keinen Grund, diese Nachricht zu bezweifeln, die von einer langen Überlieferung zur Identität der Grabfigur erhärtet wird. Vermutlich war es für Margarete
GRABDENKMÄLER IN DER KLOSTERKIRCHE Margarete Sambiria begründete aufgrund ihrer Vormundschaft für ihren Sohn Erik Glipping eine selbstständige Herrschaft in Estland (ab 1266) und über Schloss Nykøbing auf Falster. Die Residenz in Nykøbing ist zu verstehen aus der Nähe zu dem Land ihrer Vorfahren, wo sie sich noch zu Lebzeiten ihre Grablege vorbereitet zu haben scheint. Es liegt jedenfalls nahe, ihre Rolle als Stifterin eines Zisterzienserinnenklosters in Rostock als Ausdruck ihres Wunsches zu sehen, beizeiten dort einzutreten und eine Ruhestätte zu finden. Bei den Nonnen war die Erinnerung an sie fest mit der Überlieferung einer ansonsten unbekannten Romreise verknüpft, auf der sie dem Nonnenkonvent vom Papst persönlich die kostbare Heilig-Kreuz-Reliquie verschafft habe41. Obwohl Margarete in bequemer Nähe zu den Nonnen in Rostock verstarb, wo ihr Jahrestag nach der Inschrift auf ihrem Stifterbild (Abb. 329) am Tag vor St. Martin gefeiert wurde, bestattete man sie doch bei den Zisterziensern im
Abb. 340. Glasmalerei, Stifterin mit Glasfenster, um 1300
Das Grab der Königin Margarete Sambiria im Doberaner Münster | 343
Abb. 341. Aquarell der Grabfigur von Jacob Kornerup, 1875, in der Farbfassung von ca. 1750
und die Familie entscheidend, daß sie bei ihren Verwandten ruhe. Man weiß, dass die seinerzeitige Klosterkirche unter ihrem Onkel Nikolaus I. von Mecklenburg 1232 geweiht worden war, und dass Christine, Großmutter mütterlicherseits, während ihrer langen Witwenzeit in enger Beziehung zu diesem Kloster stand43. Außerdem war Margaretes Vetter, Fürst Waldemar von Rostock, mit dem sie sich über die Stiftung des Nonnenklosters verständigt hatte, zur Zeit ihres Todes erst kürzlich bei den Mönchen begraben worden. Sowohl von ihr als von ihrem Vater sollen diese beschenkt worden sein44.
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Umfangreiche Instandsetzungen der Klosterkirche in den letzten Jahrzehnten galten 1978–80 u.a. ihren sehr fragmentierten und restaurierten Glasmalereien. Dabei wurde möglicherweise neues Licht auf Margaretes Verhältnis zu Doberan geworfen. Unter den wenigen Figuren wird nämlich eine als Darstellung Margaretes gedeutet, die ein bemaltes Glasfenster vorzeigt als Zeugnis der Stiftung von Glasmalereien in der Kirche (Abb. 340). Züge, Haltung und Bekleidung der Stifterin stehen denen der Grabfigur nahe, unter anderem durch Details wie den Pelzkragen und die Farben der Kleidung, die genau denen der Grabfigur entsprechen. Das vorgezeigte Fenster ist teilweise von dem grisaillebemalten Typus (allerdings mit schwarzweißer Blattornamentik), welche die zeitgenössische Glasmalerei der Zisterzienser kennzeichnete, indem sie den Ordensvorschriften von demütiger Einfachheit in Einrichtung und Ausstattung entgegenkommt. In den Fenstern der Kirche haben sich sowohl Teile solcher Malerei erhalten, die die Forscherin Christa Richter zu untergliedern suchte in eine Serie, deren Ornamentformen ein erstes Einsetzen um 1270 – 80 andeutet, und eine andere, die klar der ersten Phase des hochgotischen Neubaus angehörte. Christa Richter wollte 1989 die Tafel mit der Stifterin der älteren Serie zuweisen, womit die Rede von einer Stiftung wäre, die die Königin noch zu Lebzeiten oder testamentarisch gemacht hätte45. Dagegen hat Elisabeth Oberhaidacher-Herzig 1993 eingewendet, dass die Tafel sich besser in die jüngere Serie einfüge, die auch sonst einzelne farbige Figurendarstellungen umfasst. Das wäre kein Argument, die abgebildete Stifterin nicht für Margarete Sambiria zu halten, da eine spätere bildliche Herausstellung von ehrwürdigen verstorbenen Stiftern und Wohltätern in der Zeit durchaus üblich war46. Schließlich hat Wolfgang Erdmann 1995 die Deutung der Stifterin als Margarete verworfen, indem er u.a. auf die fehlende Krone hinwies47. Stattdessen bringt er das auf Glas gemalte Stifterbild in Verbindung mit einer Stiftung des Jahres 1302, mit der Fürst Heinrich II., nach dem Tod seines Vaters Heinrichs I. eine neue Familienkapelle mit Altar, Messstiftung, Ewigem Wachslicht und „lobenswerten Glasmalereien“ im nördlichen Querhaus einrichtete. Die Stifterin wäre dann am ehesten die Witwe Heinrichs I., Anastasia († 1317), deren Grab unter den 1302 vorbereiteten war48. Ob nun die Glasmalereien direkten Bezug zu Margarete Sambiria hatten oder von Verwandten gestiftet waren, jedenfalls bedeuteten sie mit ihren farbigen, figürlichen Darstellungen vorsichtige Verstöße gegen die Ordensbestimmungen. Und wenn Margarete als die Einzige ihrer Familie
eine richtige Figurentumba erhielt, kann auch dies durchaus eine Auswirkung der o.g. Lockerungen der Ordensbestimmungen im Jahre 1253 sein, als man Prachtgräber zuließ, jedoch ausdrücklich nur für königliche Grablegen49. Wo Grab und Tumba ihren Platz im neuen Kirchenraum fanden, ist – wie gesagt – ungewiss. Eine Aufstellung in der Fürstengrablege von 1302 ist kaum wahrscheinlich, ebensowenig ein Platz vor dem Kreuzaltar. Daher erscheint eine Lokalisierung im Hochchorbereich am wahrscheinlichsten50. Der Kirchenraum füllte sich in den Jahrzehnten nach 1300 mit unzähligen neuen Ausstattungsstücken, darunter weiteren Fürstengrabmälern, etwa einer Tumba mit der gleichfalls aus Holz geschnitzten Grabfigur des schwedischen Königs Albrecht von Mecklenburg († 1412) und seiner Gattin Richardis († 1377) von etwa 1422. Wie diese wurde auch die Margaretenfigur nach der Reformation in einer Art Kasten oder Kiste mit einem dachförmigen Deckel abgelegt, der geöffnet werden konnte. Eine solche nachreformatorische Aufbewahrung von prominenten, mittelalterlichen Grabfiguren war üblich51. So wurde auch die genannte Grabfigur von Herzog Liudolf von Gandersheim eingesargt52, und im Dom von Roskilde findet man noch eine weitere solche Kiste, in der eine Alabasterfigur, wahrscheinlich von der Tumba des Herzogs Christoffer († 1363), Besuchern vorgezeigt wurde53. Grund für eine solche Aufbewahrung war wohl, dass die Figurtumben im Weg waren und von unpraktischen Aufstellungsorten, oft mitten im Chor, entfernt werden sollten. Aus Ehrerbietung und aufkommendem antiquarischen Interesse hat man die Figuren selbst aber erhalten und ihnen eine ebenso anständige wie praktische, weil bewegliche Unterbringung verschafft, die eine Betrachtung zuließ. Das Denkmal wird erstmals 1664 genannt, als auf dem Deckel der Kiste zu lesen stand „Frau Margaretha die zu Dänemark Norwegen und Schweden Königin [war]“54. Die
Inschrift zeigt, dass man sie um diese Zeit als die spätere und bekanntere Königin Margarete I. ansah († 1412), die in Roskilde ruht55. Die Versetzbarkeit der Grabfigur bedeutet, dass es kaum etwas über die ursprüngliche Anordnung des Grabes und des Denkmales aussagt, wenn der Kasten („Schapp“) mit der Margaretenfigur 1732 als unter dem großen Westfenster der Kirche abgestellt beschrieben wird. 1852 stand die Grabfigur im nordöstlichen Chorumgang56. Hier, hinter dem Altar war sie auch 1875, als der Antiquar und Zeichner Jacob Kornerup sie „eingeschlossen in einem Schrank mit Flügeltüren“ sah. Seine Reise scheint veranlasst gewesen zu sein durch einen enthusiastischen Brief, den der Geheime Archivar C. F. Wegener drei Jahre zuvor von seinem Kollegen in Schwerin empfangen hatte, mit Informationen über das Grab der dänischen Königin in Doberan57. Kornerup zeichnete die Figur in feinem Biedermeierstrich. Zu sehen ist sie in der damals noch erhaltenen Farbigkeit von etwa 1750 (Abb. 341). Er konnte noch in demselben Jahr als Erster die Figur und andere Denkmäler dieser tatkräftigen dänischen Königin aus ihrer Heimat publizieren58. Außer Kornerups Zeichnung gibt es noch eine einzelne Fotografie vor der Restaurierung um 190059, als die Kiste aufgegeben wurde, in der sich die Figur befand und sie ihren heutigen Unterbau in mittelalterlichem Stil in der nordöstlichen Chorumgangskapelle erhielt.
ABSTRACT The article focuses on the tomb of the Danish queen Margarete, which was investigated during her restoration in 1998. In addition to a summary of the older Danish state of research on the important sculpture, which has not been perceived in Germany so far, the author provides a detailed description and the stylistic classification of the tomb.
Das Grab der Königin Margarete Sambiria im Doberaner Münster | 345
ANMERKUNGEN
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Dies ist die deutsche Übersetzung meines Textes „Margrethe Sambiria“, gedruckt auf Dänisch in KRyGER 2014, S. 375–390. Er wurde im Jahr 2004 fertiggestellt und berücksichtigt daher nicht mehr die jüngere Literatur. Ich freue mich, einen Teil der gemeinsamen Geschichte auf Deutsch zugänglich machen zu können und danke Professor Gerhard Weilandt für diese Möglichkeit, Jens Chr. Holst und Kaja von Cossart für die Übersetzung des Textes und Engel Friederike Holst für die Übersetzung der Bildunterschriften. Anm. d. Übers.: „Venden“ war im Dänischen der Sammelbegriff für die vormals westslawischen Herrschaften in Mecklenburg und Pommern, die um 1200 unter dänische Oberherrschaft gekommen waren, worauf sich bis zum Verzicht durch Margarete II die Formel „de Venders Konge“ im dänischen Königstitel bezog. Die Überlegungen Ebbe Nyborgs beziehen sich primär auf die Heimat der Mutter im Rostocker Raum. Über Margarete Sambiria ausführlich SKyUM-NIELSEN 1994, S. 65ff. S. dazu THIELE 2016, S. 299ff. Nachgewiesen durch PETERSEN 1881, S. 54 und bestätigt durch den Restaurator Johannes Voss nach vorläufigem Bericht über die 1998 abgeschlossene Instandsetzung. Über die Figur: SCHLIE 1899, S. 644ff.; HENGEVOSS-DÜRKOP 1994, S. 15f. und Anm. 28; HEGNER 1995, S. 181f.; ERDMANN 1995, S. 18; VOSS 1995, S. 74– 75; L AABS 2000, S. 115ff.; VON FIRCKS 2012a, S. 135ff.; VON FIRCKS 2012b, S. 114ff. S. dazu THIELE 2016, S. 299ff. Die Auskittungen von etwa 1900 mussten in großem Umfang beibehalten werden. Es wurden nur an einigen Stellen neue „Prothesen“ unter der Malschicht angelegt, um die Form zu sichern und zu erhalten. RITGEN 1962, S. 87–111; POST 1932–34, S. 123–128. Das auf den Bildern erkennbare Stirnband stammt von der Neufassung um 1750 oder um 1900. Die kleineren Befestigungen sind mit Dübeln ausgeführt, die Befestigung der Fußkonsole und der Rahmenplatte außerdem mit Eisennägeln. Solche können unter anderem von der Einspannung in der Werkbank herrühren. Vielleicht war die Figur während des Schnitzens auf andere Weise eingespannt, oder ihr beträchtliches Gewicht genügte, sie in der Arbeitslage zu fixieren. Frdl. Mitteilung von Johannes Voss; vgl. Anm. 4. Die Figur ist mit Dübeln auf der Unterlegplatte befestigt. Diese brauchen aber nicht ursprünglich zu sein, sondern können von einer sekundären, mittelalterlichen Tumba stammen (vgl. das weiter unten besprochene Denkmal in Maria Laach). Arbeiten von ihm sind aus dieser Zeit in der Kirche überliefert; an mehreren Stellen hat er seine Signatur hinterlassen. S. dazu VON FIRCKS 2012a, S. 182, Anm. 738; VON FIRCKS 2012b, S. 112ff. ERLANDE-BRANDENBURG 1975, S. 162. Ingeborgs Todesjahr wird dort fälschlich mit 1236 angegeben. Vgl. auch NIELSEN 1983, S. 26–30. ERLANDE-BRANDENBURG 1975, S. 162; BAUCH 1976, S. 63ff.
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17 SAUER 1993, S. 113f., 155ff.; vgl. NyBORG 1990, S.106. 18 BECKSMANN 1975, S. 64–85. Skulptierte Köpfe, bei weitem nicht immer leicht zu deuten, sind nicht zuletzt ein englisches Phänomen. Zu skandinavischen Beispielen vgl. SVANBERG 1987, S. 84f. 19 SAUERLÄNDER 1979; SCHUBERT 1991; SAUER 1993, S. 113f., 155ff. 20 KAHSNITZ 1992. 21 OELLERMANN 1992, S. 128–132; OELLERMANN 1992, S. 159– 180, hier S. 177f.; KAHSNITZ 1992, S. 197 mit Anm. 427. 22 Die heute auf einer Konsole im Chor stehende Figur wird von KAHSNITZ 1992, S. 55, als Grabfigur angesprochen, während HENGEVOSS-DÜRKOP1994, S. 1ff., 50ff., 76ff. die Frage offenlässt, ob sie nicht immer als Stifterfigur aufrecht stand, entsprechend den von ihr behandelten, aus Stein gehauenen Stiftern in Nonnenklöstern wie Wienhausen und Walsrode (beide mit Kirchenmodell). Sie behandelt S. 58ff den wohl frühesten deutschen gisant aus Holz: die bayrische Herzogin Ludmilla in Seligental von etwa 1320. 23 Zuletzt ausführlich diskutiert von VON FIRCKS 2009; VON FIRCKS 2012a; VON FIRCKS 2012b. 24 AF UGGLAS 1915, S. 379–403 (zur Margaretenfigur S. 395, 397). 25 MIDDELDORF 1924, S. 45f. 26 BECKETT 1926, S. 248; vgl. auch Hans Weigert 1927, S. 39. 27 SCHMITT 1931, S. 79f. Vgl. auch VON FIRCKS 1999, die Datierung neuerdings dendrochronologisch korrigiert auf um 1291+/-10; vgl. DITTMER 2003, S. 28–39. 28 WENTZEL 1938, vor allem S. 144ff., 146ff. Der Dreikönigsaltar in Schleswig wird dort nicht unbedingt als lübische Arbeit angesprochen. 29 Vgl. dazu schon die Rezension von NØRLUND 1940. 30 SCHöNROCK 1952. 31 FRÜNDT1969, S. 8. 32 SCHUBERT 1974, S. 324ff. 33 BAUCH 1976, S. 104. 34 SVANBERG 1987, S. 85ff. 35 BARFOD 1986, S. 101ff., 109ff. 36 HENGEVOSS-DÜRKOP 1994, S. 15ff., 43; ERDMANN 1995, S. 18. 37 HEGNER 1995, S. 182. 38 Die Betonung hat vor 1945 Bestrebungen gedient, im nationalen Geist etwas spezifisch Deutsch-Germanisches in der Gotik zu charakterisieren, in Gegensatz und Konkurrenz zu Frankreich. Vgl. SAUERLÄNDER 1979‚ sowie den ausführlichen Literaturüberblick bei NIEHR 1992, S. 10ff. und zuletzt BRUSH 1993, S. 109–122. 39 Fragen nach den Porträts dieser Zeit und der Porträtähnlichkeit behandelt SVANBERG 1986, S. 84f. Von Margarete Sambiria liegt ein selten reiches Abbildungsmaterial vor. Man sieht sie, außer auf der Grabfigur, als Donatorin in dem Revaler Exemplar des Lübischen Stadtrechtes von 1282, auf einer Reihe barockzeitlich erneuerter mittelalterlicher Gemälde im Heilig-Kreuz-Kloster in Rostock (Abb. 329) sowie auf Siegeln, darunter einem verfälschten um 1300. Weniger gesicherte Abbildungen sind eine Glasmalerei in Doberan (s. u., Abb. 340) und eine Wandmalerei (der Namensheiligen Margaretha?) in der Klosterkirche von Ringsted. 40 Die Grab- oder Stifterfigur befindet sich in der Kirche von Gørlev auf Westseeland. Madonnen seien genannt aus Viøl (Westschles-
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wig, im Flensburger Stadtmuseum) und aus Brøns (bei Ribe, im Nationalmuseum Kopenhagen) sowie Figuren der Maria als Mater Dolorosa aus Hørup auf Alsen (im Museum von Sønderborg) und in Guldager bei Esbjerg. Vgl. BARFOD 1986, S. 82f., 98f. und DANMARKS KIRKER. HOLBæK AMT, S. 1200 sowie DANMARKS KIRKER, RIBE AMT, S. 2076f. Die betreffenden Urkunden sind frühe Fälschungen: DIPLOMATARIUM DANICUM Bd. 2, Nr. 207 und 218. Vgl. MÜLLER 1869, S. 377–385; und zuletzt HILL 1995, S. 21–30. CORDSHAGEN/SCHMIDT 1997, S. 428f., Kap. 183, Verse 19–28: „Nach syme tode sundir wan / wart her begrabin zu Doberan, / mit im dy konigynnen da, / von Denmarken Margareta./ Dy ouch dem clostir gunstig waz / mit groszir helfe sundir haz,/ recht do man schreib czwelfhundirt iar / und czwey und achczig, daz istwar,/ in dem vierden idus / nouembris des manen sus.“ Dies erstmals publiziert bei KORNERUP 1877, S. 64 und Anm. 2 sowie WIGGER 1885, S. 263f.; die dortige, irrtümliche Gleichsetzung des Sterbejahres Margaretes mit dem ihres Vetters Waldemar von Rostock (1282); ohne Nennung der Quelle von SCHLIE 1899, S. 645 übernommen. SKyUM-NIELSEN 1994, S. 107 und Anm. 1 wies schließlich nach, dass das genaue Todesdatum Margaretes am 24. oder 26.3.1283 gewesen sein muss. S. dazu auch: HILL 1995, S. 27; CORDSHAGEN SCHMIDT 1996, hier S. 209. In einer päpstlichen Genehmigung von 1248 wird Christine, der Schwester des schottischen Königs, und sechs anderen würdigen Frauen entgegen dem zisterziensischen Verbot eines Frauenbesuches zwei- oder dreimal jährlich die Andacht im Kloster Doberan gestattet, das ihr Ehemann gegründet hatte. Vgl. WIGGER 1876, S. 151–154. DOLBERG 1891a; RICHTER 1989, S. 60–62; ERDMANN 1995, S. 3f.
45 RICHTER 1989, S. 60; RICHTER 1993, S. 161–183. S. dazu auch den Beitrag von Uwe GAST in diesem Band. 46 OBERHAIDACHER-HERZIG 1993, S. 142f. 47 ERDMANN 1995, S. 26, der aber einräumt, es sei kein ganz zwingendes Argument. 48 Ebd. S. 27. 49 So ERDMANN 1995, S. 18. 50 Nach SAUER 1993, S. 156f. wurde bei Zisterziensern nicht vor dem Kreuzaltar begraben, vielmehr vor allem im Chor und im Kapitelsaal. ERDMANN 1995, S. 18, nimmt an, dass das Denkmal im neuen Chor nicht über dem Grab selbst stand, was für die Seelenmessen auch nicht unbedingt erforderlich war. 51 KORNERUP 1877, S. 65; LISCH 1876. 52 KAHSNITZ 1992, S. 55; die Kiste sieht man auf einer Darstellung bei HENGEVOSS-DÜRKOP 1994, Abb. 32. 53 DANMARKS KIRKER. KØBENHAVNS AMT, S. 1785. 54 S. u. S. 472, Nr. 7; vgl. SCHRöDER 1732–1734, 6. Stück, 1734, S. 341. 55 Die offensichtliche Verwechslung mit der Unionskönigin Margarete I. spricht dagegen, der Inschrift einen Bezug zur ursprünglichen Grabausstattung zu unterstellen. 56 VOSS 1995, S. 74. 57 LISCH 1854b, S. 342–392. Briefe Lischs vom 10. Juli 1872 und vom 25. September 1873 in Danmarks Rigsarkiv, Geheimearkivet 30, indkomne sager 1868–73. Für den Hinweis sei Niels G. Bartholdy gedankt. 58 KORNERUP 1877. Erhalten als Abdruck eines Vortrages vor Det Nordiske Oldskriftselskab am 16. November desselben Jahres. 59 Wiedergegeben bei HENGEVOSS-DÜRKOP 1994, S. 181 und in VOSS 1995, Abb. 1
Das Grab der Königin Margarete Sambiria im Doberaner Münster | 347
GENESE UND FUNKTION DES DOBERANER MARIENLEUCHTERS – TRADITIONSBEWAHRUNG UND MULTIFUNKTIONALITÄT VerA HeNKeLMANN
Der Doberaner Marienleuchter (Abb. 343) besteht aus einer zentralen Madonna und einem mit sechs Lichtarmen ausgestatteten Gehäuse1. Die Marienfigur im Strahlenkranz, die neben dem Jesuskind ein rundes Gefäß in Händen hält, trägt eine Krone und erhebt sich über einer Mondsichel. Madonna und Gehäuse sind mittels eines Stabes verbunden (Abb. 344), der durch die Marienfigur sowie die Mondsichel verläuft und oberhalb des Gehäuses in ein mehrteiliges, mit Kugeln besetztes Tragegestänge übergeht, an das sich über dem Gewölbe ein Stahlseil anschließt. Auf dem Gehäusesockel befindet sich die Inschrift (Abb 345): ● h[a]ec ● est ● illa ● dulcis ● rosa ● pulchra ● nimis ● et ● formosa ● qu[a]e ● est ● nostra ● aduocata ● apud ● deum ● virgo ● grata ● eam ● deuote ● salutate ● illā ● rogo ● inclinate ●2, unter dem Gehäusedach dagegen die einen Stern umziehende Inschrift AVe MArI[A].
OBJEKT-/RESTAURIERUNGSGESCHICHTE UND ERHALTUNGSZUSTAND Während der Einquartierung dänisch-sächsischer Soldaten im Jahr 1660 soll die Madonna, nach anderer Nachricht der ganze Leuchter, verschleppt, kurze Zeit später jedoch wieder zurückgegeben worden sein3. Inwieweit er hierbei Schaden nahm, ist unbekannt. Im Jahr 1813 wurde er bei einem Absturz beschädigt, sodann repariert und im gleichen Jahr wieder befestigt4. Bei der Umhängung des Leuchters in die Pribislavkapelle im Jahr 1858 wurde seine Demontage im Hochchor zu einer Untersuchung und neuerlichen Reparatur genutzt. Die Maßnahmen erfolgten 1853/58 unter Leitung des Archivars Georg
Linke Seite: Abb. 342. Marienleuchter, Detail der Marienskulptur
Christian Friedrich Lisch in den Schweriner Werkstätten durch den dortigen Hofvergolder Freitag und umfassten eine Neufassung des Leuchters, eine Erneuerung des die Konsole abschließenden Knaufs und der Kugeln am Hängegestänge, eine Reparatur des Rahmens sowie eine Ergänzung von Einzelteilen5. In den 1980er Jahren wurde die Madonna wohl im Zusammenhang mit einer Restaurierung aus dem Leuchtergehäuse herausgenommen und mit ihr eine Stellprobe im Hochaltarretabel durchgeführt6. In den Jahren 2004 bis 2006/07 wurde die Fassung des Leuchters restauriert, wobei die Marienfigur aus dem Leuchtergehäuse herausgenommen und einer erneuten Stellprobe im Hochaltarretabel sowie einer dendrochronologischen Untersuchung unterzogen wurde7. Der Leuchter ist in seiner Gesamtheit als mittelalterlich anzusprechen. Das runde Gefäß, das von Maria und dem Kind gehalten wird und dessen Deckel verloren ist, ist eindeutig ursprünglich zugehörig8. Der Marienfigur sind Ende des 14./Anfang des 15. Jahrhunderts (s.u.) eine Krone, ein Strahlenkranz, eine Mondsichel und ein Leuchtergehäuse hinzugefügt worden. Dabei wurde der Kopf der Madonna verändert; ob sie ursprünglich eine andere Krone trug9, kann nicht entschieden werden. Der heute womöglich erneuerte10 Strahlenkranz wurde auf der Figurenrückseite fixiert. Die Montage der Madonna auf der Mondsichel dürfte später – vielleicht im Rahmen einer neuzeitlichen Reparatur (s.u.) – erneuert respektive verändert worden sein, wie die äußerst grobe, keineswegs passgenaue Positionierung der Marienfigur auf der doppelseitigen Mondsichel vermuten lässt11. Darüber hinaus wurde eine zentrale Stange, die das Gehäuse mit dem Hängegestänge verbindet, durch die Marienfigur geführt, um
Abb. 344. Marienleuchter, demontiert
Abb. 343. Marienleuchter
diese in der Leuchterkonstruktion zu verankern und zu sichern12. Das Brett, das die rückwärtige Aushöhlung der Figur verdeckt, ist sehr grob zugeschnitten und heute wohl erneuert13. Schließlich wurde die Marienfigur auf einen heute ebenfalls wohl erneuerten rechteckigen Sockel gestellt. Auf
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eine Erneuerung des Baldachins verweisen seine seitlichen Streben, die nicht lotrecht befestigt und mit neuzeitlichen Eisenbändern und Schrauben gesichert sind, einige offenbar erneuerte Blattornamente sowie seine runde Grundplatte, welche in Größe und Form nicht mit der polygonalen Konsole korrespondiert14. Der ursprüngliche Baldachin dürfte also mehreckig, größer und wohl mit mehr als zwei Streben mit dem Gehäuseboden verbunden gewesen sein15. Die Änderung der Verdachung könnte auf den Absturz des Leuchters im Jahr 1813 mit anschließender Reparatur zurückgehen16 und die insgesamt wenig sorgfältige Montage des Leuchtergehäuses und seiner Elemente, insbesondere der Mondsichel erklären, denn die Reparatur nach diesem Absturz scheint recht schnell ausgeführt worden zu sein17. Der in Doberan tätige Pastor Eddelin hat in seinem Notizbuch von 1664 eine Leuchterinschrift festgehalten – ex Apoc. XII, 1.2. et multae filiae cognoverunt divitias, tu super gentes es submissa18 –, die sich unter den Füßen der Marienfigur befunden habe, während die heute am Konsolenrand lesbare Inschrift (Abb. 345) über dem Haupt Mariens platziert ge-
wesen sei19. Entweder geht die heutige Beschriftung der Konsolenleiste auf die Neufassung des Leuchters Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, oder sie ist Hinweis darauf, dass nach dem Absturz Elemente des erhaltenen ursprünglichen Baldachins in die Konsole integriert wurden, denn bei dem Absturz dürfte weniger die Verdachung als die Konsole beschädigt worden sein. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass diese Änderungen am Leuchter bereits auf die frühe Neuzeit – wohl in Zusammenhang mit einem weiteren Absturz – zurückgehen20. Die heutige Fassung der Figur wie des Leuchtergehäuses dürfte im Wesentlichen im 19. Jahrhundert aufgebracht worden sein21. Ob und inwieweit man sich dabei an der mittelalterlichen Fassung orientierte, kann ebenso wie die Frage nach der Reparatur oder Erneuerung einzelner Leuchterelemente nur nach einer restauratorischen Untersuchung einschließlich einer Materialbestimmung und Befundkartierung abschließend geklärt werden. Der Leuchter hängt im Chor, genauer gesagt an dessen Eingang respektive an den Chorstufen (Abb. 343). Dieser Platz gilt als der ursprüngliche22. Nachweise für eine dortige Aufhängung reichen zwar nur bis in das erste Drittel des 18. Jahrhunderts zurück23, es gibt allerdings gute Gründe, dies dürften die folgenden Ausführungen zeigen, den ursprünglichen Aufhängungsort des Marienleuchters im Hochchor zu lokalisieren. Seit 1858 hing der Leuchter in der Pribislavkapelle, nach-
dem man ihn im Chor demontiert hatte24. Dorthin kehrte er im Jahr 1984 nach einer Restaurierung wieder zurück25.
DATIERUNG, URSPRÜNGLICHER AUFSTELLUNGSORT UND FUNKTION DER MARIENFIGUR Aufgrund einer dendrochronologischen Untersuchung der Marienfigur ist „eine Entstehung gegen Ende des 13. oder spätestens zu Beginn des 14. Jahrhunderts […] sehr wahrscheinlich“26. Die in der Literatur mittlerweile etablierte, vor allem durch Laabs und von Fircks untermauerte These, die Madonna des Marienleuchters sei zeitgleich mit dem Hochaltarretabel um 1300 entstanden und Element der ersten Neuausstattung des Hochchors in eben jener Zeit27, wurde damit bestätigt. Eine durch Voss im Jahr 1984 erstmals durchgeführte Stellprobe (Abb. 346) hat erwiesen, dass die Leuchtermadonna ehemals in der Mittelnische des Hochaltarretabels stand28. Die von Voss und Hengevoss-Dürkop geäußerte Vermutung, das ehemals mit einem Deckel ausgestattete Gefäß der im Hochaltarretabel aufgestellten Marienfigur könne die in einer Pyxis bewahrte, konsekrierte Hostie aufgenommen haben, wurde später mehrfach aufgegriffen und argumentativ untermauert29.
Abb. 345. Marienleuchter, Detail der Inschrift
Genese und Funktion des Doberaner Marienleuchters – Traditionsbewahrung und Multifunktionalität | 351
Abb. 346. Stellprobe mit Marienfigur im Hochaltarretabel (2004)
Abb. 347. Oktogon, Detail: Blattornament
Das Gefäß ist jedenfalls ausgehöhlt und kann aufgrund seiner Größe ein kleines Hostienbehältnis aufnehmen30. Darüber hinaus existiert eine Stiftungsbestätigung für eine Ewiglicht am
Sakrament im Hochaltar aus dem Jahr 1306, die zumindest generell eine Aufbewahrung des Allerheiligsten ebendort belegt31. Eine Zugänglichkeit des in der Madonna bewahrten Sakraments wäre durch eine Tür (Abb. 348) sowie durch zu dieser hinaufführende Stufen auf der Rückseite des Retabels gewährleistet gewesen32. Desweiteren wird vermutet, dass die Marienfigur zeitweilig aus dem Retabel herausgenommen wurde, um das in ihr geborgene Sakrament zu präsentieren und bei Prozessionen, beispielsweise an Fronleichnam, mitzuführen33.
ENTSTEHUNG DES MARIENLEUCHTERS
Abb. 348. Hochaltarretabel, leere Mittelnische mit rückwärtiger Tür
352 | Vera Henkelmann
Indem die ältere Marienfigur um eine Krone, einen Strah lenkranz und eine Mondsichel ergänzt und in ein Leuchtergehäuse integriert wurde, entstand der heute noch erhaltene Marienleuchter. Dies stellte jedoch keineswegs eine ´Notlösung´ für die Madonna dar, weil nach Entstehen des Sakramentshauses fortan das Allerheiligste ebendort aufbewahrt wurde34. Einerseits hätte man die Madonna einfach im Hochaltarretabel stehen lassen können. Andererseits wurde der offenbar bewusst herbeigeführte Standortwechsel zu einer regelrechten „Neuinszenierung“35 der Standmadonna mit Pyxis zu einer Maria Apocalyptica im Leuchtergehäuse genutzt, was offensichtlich dem Wunsch entsprach, die Marienfigur einer neuen, ihrer weiter fortbestehenden Wertschätzung entsprechenden Funktion zuzuführen und sie dauerhaft sichtbar36 zu präsentieren. Datierungen des Leuchters schwanken zwischen dem letzten Viertel des 14. und dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts37, da sie sich auf Bezüge zu anderen, ebenfalls nicht zweifelsfrei jahrgenau datierbaren Ausstattungsstücken der Doberaner
Kirche gründen. Auffällig ist allerdings die Ähnlichkeit zwischen dem Blattornament von der unteren Oktogon-Brüstung (Abb. 347) und jenem am oberen Rand des Leuchterbaldachins38. Ausgehend von der bereits erörterten These, das Leuchtergehäuse sei entstanden, weil das Sakrament fortan nicht mehr in dem Gefäß der Madonna, sondern im Sakramentshaus aufbewahrt wurde, wird vermutet, das Leuchtergehäuse sei kurz nach diesem entstanden39. Schließlich gilt der Marienleuchter als Teil der Neuausstattung respektive der zweiten Ausstattungsphase des neuerrichteten Münsters, die mit der Weihe des Jahres 1368 ihren feierlichen Höhepunkt gefunden haben soll40.
DER DOBERANER LEUCHTER IN DER GRUPPE DER SPÄTGOTISCHEN MARIENLEUCHTER Der Doberaner Leuchter gehört zur Gruppe der im Spätmittelalter weit verbreiteten Marienleuchter41, genauer zur Gruppe der Hängemarienleuchter und hier wiederum zu jenen des architektonischen Typs42: Wie bei den Leuchtern in Eutin, St. Michaelis (Abb. 349) und Kloster Lüne (Abb. 351) besteht das Gehäuse streng genommen ‚nur‘ aus einer die Madonna tragenden Konsole und einem Baldachin, die durch wenige dünne Stäbe verbunden sind. Insofern steht der Doberaner Marienleuchter keineswegs isoliert. Allerdings darf er mit seiner vermuteten Entstehung im letzten Viertel des 14., spätestens aber im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts als der älteste erhaltene Marienleuchter gelten, sind doch die übrigen Leuchter dieser Art vornehmlich zwischen dem letzten Viertel des 15. und dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts entstanden43. Dabei unterstreicht die Zusammenstellung aus einer älteren Marienfigur und einem eigens für diese geschaffenen Leuchtergehäuse die exponierte zeitliche Stellung des Doberaner Leuchters44. Angesichts eines lückenhaften Bestands und einer oftmals unsicheren Provenienz und Datierung einzelner Marienleuchter und Objekte wie dem kleinen Würzburger Marianum, das womöglich bereits im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts als freiplastisch-hängende Figur entstanden und insofern Rest eines Marienleuchters sein könnte45, erscheint es allerdings problematisch, den Doberaner Leuchter zwingend als Initialobjekt dieses Leuchtertypus zu betrachten. Desweiteren hat sich die Vermutung, die Entstehung der Marienleuchter könnte unmittelbar auf Orden mit ausgeprägter Marienverehrung, namentlich die Zisterzienser, zurückgeführt wer-
den46, nicht bestätigt. Zwar sind durch Schriftquellen derartige Leuchter für die Zisterzen in Altenberg/Gmde. Odenthal (Marianum erhalten) und Amelungsborn nachweisbar; auch könnte ein Marianum in Schulpforta ehemals Element eines Marienleuchters gewesen sein. Dabei dürfte es sich jedoch um Leuchter deutlich späterer Zeit als in Doberan gehandelt haben47. Darüber hinaus finden sich Marienleuchter ebenso in Kirchen anderer Observanzen48. Zwar lassen sich die teils rigorosen Bestimmungen des Zisterzienserordens gegen übermäßigen Schmuck ihrer Kirchen, die explizit auch Leuchter betrafen49, als Beweise für eine faktisch eben doch reiche Ausgestaltung und Lichtinszenierung der Kirchen werten, die man versuchte einzudämmen, doch ist die These, dass dort der Bildtypus des Marienleuchters entstanden sei, eher unwahrscheinlich. Selbstredend hat demgegenüber die von den Orden (mit)entwickelte und (mit)beförderte Mariologie sowie Marienverehrung zum Entstehen dieses Leuchtertypus wesentlich beigetragen.
Abb. 349. Eutin, St. Michaelis, bischöfliche Stiftskirche, Marienleuchter
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Abb. 350. Marienleuchter, Ansicht von hinten
Marienleuchter wurden in der Regel von namhaften, in der Region führenden Künstlern, darunter Bildschnitzer, Fassmaler und Schmiede, geschaffen50; so wohl auch beim Doberaner Marienleuchter51. Vergleiche mit dem Ornament des Doberaner Oktogons (Abb. 347) liegen ebenso nahe wie
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mit Details vom Marienleuchter in Eutin (Abb. 349), doch scheint die stilistische Verortung des Oktogons bislang ebenso wenig geklärt52 wie jene des Eutiner Marienleuchters. Architektonisch gestaltete Marienleuchter von meist geringeren Abmessungen sind geeignet für kleinere Räume beziehungsweise abgegrenzte Bereiche, wie die Beispiele in Lüneburg, St. Johannis (Seitenschiff ) und in Kloster Lüne (Nonnenempore) zeigen. Es spricht also vieles dafür, dass der Doberaner Leuchter für einen begrenzten Raum wie den Chor konzipiert wurde. Die Marienleuchtermadonnen folgen dem Bildtypus der Mondsichel-Strahlenmadonna, der auf das Apokalyptische Weib der Geheimen Offenbarung nach Johannes (Offb 12,12) zurückgeht und dort beschrieben wird als eine von der Sonne umgebene Frau, den Mond zu ihren Füßen und ihr Haupt von zwölf Sternen umgeben. Indem also der älteren Doberaner Standmadonna mit Pyxis eine Mondsichel, ein Strahlenkranz sowie eine Krone mit zwölf Sternen hinzufügt wurde, wurde sie zur Maria Apocalyptica, was durch die Anbringung einer heute nicht mehr lesbaren Inschrift am Leuchtergehäuse – ex Apoc. XII.1.2. (s.o.) – bekräftigt wurde53. Die ältere Marienfigur erfuhr also eine offensichtlich ganz gezielte ikonographische Neukodierung, die auf einer im Spätmittelalter allgemein wie auch bei den Zisterziensern gängigen Gleichsetzung des Apokalyptischen Weibes mit Maria basierte54. Der einfache Bildtypus der Mondsichelmadonna lässt sich etwa ab der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts nachweisen55. Allerdings waren die für den voll ausgebildeten Bildtypus der Mondsichel-Strahlenmadonna obligatorischen Strahlenkränze vor dem 15. Jahrhundert noch nicht die Regel56. Sie kamen vor, hatten aber oftmals – wie in Doberan57 – einen eher additiven Charakter, was die angenommene frühe Entstehungszeit des dortigen Marienleuchters bestätigt (Abb. 350). In der Regel fehlen bei den Mondsichel-Strahlenmadonnen die für das biblische Vorbild bezeichnenden zwölf Sterne. Zwölfzackige Kronen wie in Doberan sind die Ausnahme. Möglicherweise waren die Sterne Teil der ursprünglichen Fassungen, wie es das Gewand der Leuchtermadonna in Lüne (Abb. 351) nahelegt58. Das Gewand der Doberaner Madonna ist ebenso wie der Baldachin mit Sternen bemalt, wenngleich leider unklar ist, inwieweit die heutige Fassung auf eine mittelalterliche zurückgeht. Die hängende, mithin schwebende Befestigung ebenso wie das Hinzufügen von Leuchtmitteln erfolgte bei Marienleuchtern wie bei jenem in Doberan keineswegs allein aus praktischen oder gar dekorativen Erwägungen heraus, sie waren vielmehr integraler Bestandteil des ikonographischen Konzepts: Nach der Gehei-
men Offenbarung des Johannes erscheint das Apokalyptische Weib als großes Zeichen am Himmel. Dies wird bei den Leuchtern insbesondere durch das ‚Schweben‘ der Marienfiguren, also ihre freiplastische Aufhängung verstärkt, und vor allem der Lichterschein trug zum Eindruck einer Marienerscheinung bei59. Marienleuchter wurden in ihrer Gesamtheit als Bilder betrachtet, denen man vor allem im Rahmen der Marienverehrung eine hohe Wirksamkeit beimaß, konnten sie doch die mit der Marienfrömmigkeit verbundenen Handlungen auslösen oder zumindest begleiten. Hierbei spielten das Ave Maria und der Rosenkranz eine wesentliche Rolle. Indizien dafür sind unter anderem entsprechende Inschriften an Marienleuchtern, wie dies gleichfalls in Doberan der Fall ist. So wird in der Konsoleninschrift Maria als Rose bezeichnet: h[a]ec ● est ● illa ● dulcis ● rosa. Darüber hinaus befindet sich unter dem Baldachin der Schriftzug AVe MArI[A] 60. Die Verdachung wurde zwar erneuert, doch könnte ihre Inschrift durchaus auf eine mittelalterliche zurückgehen, die den wohl auch ursprünglich im Hochchor und damit in Sichtnähe zum Mönchschor hängenden Leuchter mit dem täglichen Gebet der Brüder verband, welches das Ave Maria umfasste61. Auf den Rosenkranz, der in einer seiner Frühformen bereits um 1300 für den Zisterzienserorden nachweisbar ist62, und auf dessen stete, schier unendliche Wiederholung des Ave Maria könnte der Umstand verweisen, dass bei der Baldachin-Inschrift der erste Buchstabe des Ave zugleich der letzte des Wortes Maria ist63. Schließlich ist denkbar, dass der Doberaner Marienleuchter Bezug auf das seinerzeit bereits im Zisterzienserorden gepflegte Salve Regina nahm64, zumal sich ein solcher Zusammenhang zwischen Marienleuchter und Salve Regina recht häufig nachweisen lässt65. Das Doberaner Exemplar ist ein ebenso herausragendes wie gut dokumentiertes Beispiel dafür, dass Ablässe im Kontext der Marienleuchter eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten66. So hatte Papst Sixtus IV. im Jahr 1476 einen 11.000jährigen Ablass gewährt für ein Gebet, das zwingend vor einem Bild der Muttergottes in der Sonne zu erfolgen hatte67 und über welches jeder Marienleuchter verfügte. Ein im Jahr 1461 vom Schweriner Bischof Werner ausgestellter Indulgenzbrief wiederum empfahl unter anderem ganz konkret den Besuch der Madonna des Doberaner Marienleuchters, versprach er doch Ablass für alle diejenigen, qui ymagines beate Marie virginis unam videlicet in ecclesia majori dicti monasterii pendentem […] visitauerint 68. Dies könnte darauf hinweisen, dass der Leuchter zumindest zu ausgewählten Zeiten Laien zugänglich gemacht wurde69: Eine Herausnah-
Abb. 351. Lüne, Benediktinerinnenklosterkirche, Marienleuchter
me der Marienfigur aus dem Leuchtergehäuse, um sie beispielsweise zur Pfortkapelle zu tragen, ist zwar technisch möglich, doch relativ aufwändig70. Ohnehin betont das Ablassschreiben, man solle das hängende (pendentem) Marienbild aufsuchen. Um Ablass zu erhalten, musste man also
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zumindest in Sichtnähe des wohl im Hochchor befindlichen Marienleuchters gelangen, welcher allerdings sehr wohl auch auf eine gewisse Fernsicht berechnet war71, beispielsweise angesichts der überdimensionierten Krone. Es scheint so gewesen zu sein, dass mit dem 13., verstärkt mit dem 14. Jahrhundert sukzessive die Zugangsmöglichkeiten für Laien zu Zisterzienserkirchen erweitert wurden72, was wohl ebenfalls für Doberan gelten dürfte73. Eine weitergehende Zugänglichkeit des Sanktuariums von Zisterzienserkirchen durch Laien wird dagegen meist ausgeschlossen74, doch lassen sich zumindest für Kirchen anderer Observanzen Belege finden, die zeigen, dass insbesondere im Kontext von Ablässen gewisse Ausnahmen gemacht wurden75. In diesem Fall wäre denkbar, dass der Doberaner Marienleuchter – wie andernorts76 – herabgelassen wurde. Er verfügt immerhin über eine wenngleich einfache Aufhängevorrichtung (Abb. 352), die dies gestattet77. Seine heute provisorisch anmutende Montage, die gegen eine solche Nahsicht des Leuchters sprechen würde, dürfte auf eine neuzeitliche Reparatur zurückgehen (s.o.). Das Ablassversprechen unterstreicht jedenfalls die besondere Bedeutung, die man der Leuchtermadonna offensichtlich beimaß. Es ist jedoch fraglich, ob hierfür die bloße Erinnerung, dass einst in ihr das Allerheiligste aufbewahrt worden war, ausreichte78. Vielmehr könnte der Ablass Hinweis darauf sein, dass sich weiterhin im Gefäß der Madonna etwas befand. Eine wenngleich nur gelegentliche Aufbewahrung des Sakraments im Leuchter beziehungsweise seiner Leuchtermadonna erscheint erwägenswert79 und hätte einer bei den Zisterziensern durchaus belegten, wenngleich älteren
Abb. 352. Marienleuchter, Aufhängevorrichtung
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Praxis der Aufbewahrung des Sakraments in einem Hängetabernakel entsprochen80. Angesichts des Ablasses wäre vor allem aber denkbar, dass sich in der Madonna Reliquien befanden81. Immerhin wurde mehrfach erwogen, dass die Marienfigur im Zusammenhang mit der Heilig-Blut-Verehrung in Doberan stehen und die zugehörige Wunderhostie, die sich noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Doberan befunden haben soll82, im Gefäß der Madonna aufbewahrt worden sein könnte83. Für diese These spricht, dass von der Hostie ein Wunderlicht ausgegangen sein soll84 – eine Vorstellung, die vom Schein der Kerzen am Marienleuchter durchaus aufgegriffen wurde. Die weithin sichtbaren, kostbar gestalteten, mit Gebet, Andacht und Liturgie verbundenen Marienleuchter galten als sogenanntes Seelgerät, spielten also eine Rolle im Kontext liturgischer Memoria. Dabei maß man dem von ihnen ausgehenden Licht eine besondere Bedeutung bei, verwies es doch auf das Ewige Licht, das den Toten heimleuchtet ins Paradies85. Für einen memorialen Kontext auch des Doberaner Leuchters spricht dessen wohl schon ursprüngliche Platzierung im Hochchor (s.o.), welcher mit entsprechenden Bestattungen86 sowie mit Errichtung des Oktogons87 unter anderem der Memoria des Hauses Mecklenburg respektive seiner Nebenlinien diente88. Lichtstiftungen wiederum waren in Doberan fester Bestandteil memorialer Bemühungen des Fürstenhauses89. Gegen eine insofern scheinbar naheliegende Beteiligung des Hauses Mecklenburg an der Entstehung des Marienleuchters spricht jedoch die vorgenannte Stiftungsbestätigung des Jahres 1306 für ein Licht vor dem Sakrament im Hochaltar, das von Gottschalk Wessler – womöglich ein Lübecker Ratsherr90 – gestiftet worden war. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass später der in einer gewissen Nähe zum Sakramentshaus befindliche Leuchter die Aufgabe des in der Stiftung vorgesehenen Sakramentslichts übernommen hat91, zumal er jene Marienfigur barg, die zuvor das Allerheiligste aufgenommen hatte. In diesem Fall wäre seine dauerhafte Illumination aus der Stiftung des Wessler finanziert worden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass das Fürstenhaus einen Leuchter angeschafft hätte, der mit einer fremden Lichtstiftung ausgestattet war92. Der memoriale Kontext des Marienleuchters ist allerdings evident, wie seine Inschrift belegt: virgo ● grata ● eam ● deuote ● salutate ● illā ● rogo ● inclinate. Eine ungenannte Person wendet sich also an die Betrachter und bittet um Verehrung der Muttergottes mithin des Marienbildes, was gleichfalls der eigenen Memoria zu Gute kam. Diese Person dürfte Schenker des Leuchters gewesen sein, wobei er auf die bereits bestehende Lichtstiftung
aufgebaut haben könnte. In Frage kämen nicht nur Nachfahren des Wessler93, sondern ebenso ein Konventsmitglied oder ein Doberaner Abt. Der leider nur noch in Gestalt seines Marianums erhaltene Marienleuchter des ehemaligen Zisterzienserklosters Altenberg/Gmde. Odenthal wurde jedenfalls von einem dortigen Abt geschenkt und auf sein Geheiß hin täglich zum Salve Regina illuminiert, obwohl eine Lichtstiftung des Abtes nicht nachweisbar ist94.
RESÜMEE Der Doberaner Marienleuchter erweist sich als ein multifunktionales, in ein dichtes Netz verschiedener Kontexte eingebundenes Ausstattungselement des mittelalterlichen Kirchenraums. Dabei schließt seine Funktion als Chorleuchter95 die einer Sakramentsleuchte und eines Memorialleuchters keineswegs aus. Vielmehr war dessen Anfertigung und äußerst wahrscheinliche Platzierung im Hochchor ein geschickter Schachzug: Der Marienleuchter war als Leuchter ad gradum presbyterii96 einer der wenigen, den Zisterziensern gestatteten Leuchter unabhängig von einem Altar und als solcher bereits generell von besonderer Bedeutung. Desweiteren diente der in der Nähe des Sakramentshauses befindliche Marienleuchter als Sakramentsleuchter, dessen Beleuchtung durch eine bereits ältere Wachsstiftung sichergestellt war. Insbesondere diese Verbindung mit dem Allerheiligsten machte ihn zu einem mächtigen Element der Jenseitsvorsoge in Gestalt eines Memorialleuchters. Als solcher war sein Licht expliziter Ausdruck des Ewigen Lichts und damit der Auferstehungshoffnung seines Schenkers wie des Stifters seiner Lichter, was durch seine Beziehung zum mit der Realpräsenz Christi verbundenen Sanctissimum97 noch verstärkt wurde. Dies galt umso mehr, wenn das Sakrament oder gar die Wunderhostie im Leuchter selbst aufbewahrt wurde. Und sollte der Leuchter mit der hochverehrten Leuchtermadonna zwecks Ablass von Laien aufgesucht worden sein, so hätte er eine wenngleich temporäre und reglementierte, so doch erweiterte öffentlichkeit für die an Entstehen und Unterhalt des Leuchters Beteiligten hergestellt und somit deren Memoria wie Fama befördert98. Die bereits um 1300 entstandene Leuchtermadonna stand ehemals im Hochaltarretabel und nahm in ihrem runden Gefäß das in einer Pyxis geborgene Sakrament auf. Indem sie um die Attribute der Maria Apocalyptica ergänzt und in das Leuchtergehäuse integriert wurde, entstand Ende des 14./An-
fang des 15. Jahrhunderts der heute noch erhaltene Marienleuchter. So erfolgte eine Neuinszenierung und -kodierung der aus älterem Zusammenhang und dort bereits offensichtlich hochverehrten Marienfigur als zentralem Marianum des Marienleuchters, wo es weiterhin Gegenstand einer womöglich noch gesteigerten, mit Ablass verbundenen Verehrung war. Hierdurch wie durch die anzunehmende Tradierung der Lichtstiftung erweist sich der Doberaner Marienleuchter als Beleg für jene stete Weiternutzung und Tradierung älterer Bilder99, die zwar durch Umarbeitungen, sekundäre Verwendung und/oder Ortswechsel überformt wurden, sich jedoch stets durch einen prinzipiell bewahrenden Charakter auszeichneten, weil diese ältere Tradition gerade zur Legitimierung der auf dieser Grundlage neukodierten Bilder beitrugen.
ABSTRACT The Doberan chandelier of the Virgin Mary proves to be a multifunctional piece of furniture of the medieval church interior, where it served as an illumination for the choir as well as a sacramental and memorial chandelier. As a chandelier ad gradum presbyterii it was one of the few chandeliers independent of an altar permitted to the Cistercians, and as such of particular importance. Located near the Sacrament tower, it was also used as a sacramental candleholder, whose illumination was ensured by an older wax donation. Especially this connection with the Holy Sacrament made it a powerful spiritual device in the shape of a memorial candleholder. As such, its light was an explicit expression of the Eternal Light and thus the hope of resurrection for its donor and the founder of the illumination. The Madonna of the chandelier, which was made around 1300, originally stood in the retable of the high altar and kept a round vessel in her hand, reserved for a pyxis where the Holy Sacrament was kept. By adding the attributes of Maria Apocalyptica and integrating her into a candleholder, the chandelier was created at the end of the 14th or the beginning of the 15th century in the condition, which is still preserved today. Thus in the time around 1400 a new presentation and recoding of the statue of the Virgin Mary took place, which had come from an older context and had already been highly revered there. As the central Marianum of the chandelier she became the subject of a maybe even increased worship that was even provided with an indulgence.
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Marienfigur (Eiche, Höhe 145 cm), Gehäuse (Höhe 257 cm): DOLBERG 1889a, S. 561; LAABS 2000, Anm. 135. Der erste Worttrenner vor h[a]ec ist eine Blume; alle anderen sind Punkte. – Abweichende Transkriptionen: SCHLIE 1899, S. 611; LAABS 2000, S. 87. Vgl. unten zu den älteren Transkriptionen bei EDDELIN 1664 (s. u. S. 468, Nr. 14); SCHRöDER 1732–1734, 6. Stück, 1734, S. 316. Vgl. im Sockel unter der Marienfigur deponierte Urkunde von Pastor Peter Eddelin: SCHLIE 1899, S. 611f. Anm. 2. Freundlicher Hinweis von Stefan Thiele, Chemnitz. Vgl. im Sockel unter der Marienfigur deponierte Urkunde von Pastor Friedrich Ludwig Röper: SCHLIE 1899, S. 611f., Anm. 2. DOLBERG 1889a, S. 560. Freundliche Auskünfte von Stefan Thiele, Chemnitz. Demgegenüber laut LAABS 2001, Anm. 30, in den Jahren 1848/49. Dabei die beiden o.g. Urkunden im Sockel unter der Marienfigur angetroffen (SCHLIE 1899, S. 611f., Anm. 2). HEIDER 2004, S. 32f.; VON FIRCKS 2012a, S. 134. SCHöFBECK/HEUSSNER 2008, S. 178; HEIDER 2012, S. 6f.; SKERL 2013, Anm. 23: Ostseezeitung vom 22.11.2006. LAABS 2000, Anm. 135; LAABS 2001, Anm. 30. ERDMANN 1995, S. 50; LAABS 2000, S. 220; vON COSSART 2015, S. 96ff. Freundlicher Hinweis von Gerhard Weilandt, Greifswald. Es ist nicht auszuschließen, dass die Mondsichel am Leuchter zweitverwendet wurde und ursprünglich zu einer anderen Marienfigur gehörte. Darüber hinaus könnte die Sichel ehemals nach unten gewiesen haben. VON COSSART 2015, S. 96ff. Freundliche Hinweise von Markus Hörsch, Leipzig, und Ulrike Nürnberger, Berlin. Da die Wandungsstärke der rückseitig entkernten Figur mit 25 mm relativ gering ist (VOSS 2008, S. 38), könnte die Figur nicht durchbohrt, vielmehr die Führung für die Stange ausgeschnitzt worden sein (freundlicher Hinweis von Jens Rüffer, Bern). Dies muss jedoch nicht zwingend auf eine spätere Aushöhlung hinweisen, da auch eine im Hochaltar aufgestellte Marienfigur (s.u.) rückwärtig ausgehöhlt gewesen sein könnte. Allerdings könnte das Brett auf die Entstehung des Leuchtergehäuses und die Montage des Marienbildes ebendort zurückgehen, da es nun allansichtig war: Freundliche Hinweise von Ulrike Nürnberger, Berlin, und Jens Rüffer, Bern. Vgl. demgegenüber VON COSSART 2015, S. 96ff. (Hinweis auf runden Fußsockel der Marienfigur als Indiz für bereits ursprünglich intendierte Allansichtigkeit). Vgl. die weniger qualitätvolle Ausführung des Baldachins im Vergleich mit den übrigen Gehäuseelementen (freundlicher Hinweis von Andreas Baumgart, Güstrow). Vgl. VON COSSART 2015, S. 96ff. Freundlicher Hinweis von Jens Rüffer, Bern. – Vgl. eckige Konsole und Baldachin bei den Marienleuchtern in Eutin, St. Michaelis, und Lüneburg, St. Johannis: HENKELMANN 2014, Abb. 39, 63. Die Änderung geht nicht auf die Reparatur Mitte des 19. Jhs. zurück, da in diesbezüglichen Akten der Baldachin nicht erwähnt wird. Die ältesten Fotos des Leuchters des Doberaner Hoffotografen Beckmann zeigen, dass dieser bereits um 1875/80 einen runden Baldachin besaß. Auch finden sich am Leuchter keine Be-
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arbeitungsspuren wie sie bei Erneuerungen anderer Doberaner Schnitzarbeiten mit Blattwerk zu beobachten sind, welche im 19. Jh. erfolgten. Wieso Dolberg 1889 den Baldachin (noch) als mehreckig beschreibt, ist unklar. DOLBERG 1889a, S. 561. Deutsche Fotothek, Foto Nr. FD 047 718. Freundliche Auskunft von Stefan Thiele, Chemnitz, und Dirk Schumann, Berlin. SCHLIE 1899, S. 611 Anm. 2: Absturz am 2. April 1813, Wiederaufhängung am 28. April 1813. EDDELIN 1664 (s. u. S. 468). Ebd. [im Vergleich zur heutigen Inschrift leicht abweichend transkribiert: Haec est illa dulcis Rosa. Pulcra nimis et formosa. Haec est nostra Advocata. Apud Deum virgo grata. Eam devote Salutate. Illam rogo inclinate]. Darauf könnten Holzart und Materialbehandlung am Baldachin sowie die Tatsache verweisen, dass man sich bei der Neufassung Mitte des 19. Jhs. an der bei SCHRöDER 1732-1734, 6. Stück, 1734, S. 316, überlieferten Inschrift orientiert hat. Im Gegensatz zu Eddelin berichtet er nur von einer einzigen Inschrift, die der heute am Konsolenrand befindlichen weitgehend entspricht. Freundliche Auskunft Stefan Thiele, Chemnitz, und Andreas Baumgart, Güstrow. LAABS 2000, S. 220, Anm. 135; VON COSSART 2015, S. 96ff. DOLBERG 1889a, S. 562; SCHLIE 1899, S. 611f.; GLOEDE 1961, S. 88; ERDMANN 1995, S. 36; LAABS 2000, S. 220; HEIDER 2004, S. 33; VON FIRCKS 2009, S. 104. DOLBERG 1889a, S. 562, widerspricht der Vermutung des früheren Doberaner Münster-Kustos W. Thiel, der Leuchter habe ursprünglich in der fürstlichen Grabkapelle gehangen. SCHRöDER 1732-1734, 6. Stück, 1734, S. 316. Freundliche Auskunft von Stefan Thiele, Chemnitz. Nach einer Probehängung im südlichen Chorseitenschiff, vgl. ERDMANN 1995, S. 36; HEIDER 2004, S. 32. Freundliche Auskunft von Stefan Thiele, Chemnitz. SCHöFBECK/HEUSSNER 2008, S. 178. LAABS 2000, S. 25f., 220; LAABS 2001, S. 148; vON FIRCKS 2009, S. 104, 106ff. 114; WEILANDT 2012, S. 2; HöRSCH 2012, S. 7; VON FIRCKS 2012, S. 133ff., 138f.; SKERL 2013, S. 100; VON COSSART 2015, S. 96ff. VOSS 1990, S. 124; WOLF 1994, S. 100; LAABS 1997, S. 80; LAABS 2000, S. 24; LAABS 2001, S. 145; KROHM 2001, S. 160; HöRSCH 2003, S. 6; WIPFLER 2003, S. 101; HEIDER 2004, S. 33; KAHSNITZ 2005, S. 24; VON FIRCKS 2009, S. 104, 116; VON FIRCKS 2012, S. 134; HEIDER 2012, S. 6. – Vgl. bereits bei LISCH 1849, S. 355 die Vermutung, dass ehemals ein Marienbild im Hochaltar gestanden haben könnte. – Vgl. demgegenüber ERDMANN 1995, S. 50, 92. VON COSSART 2015, S. 96ff. (auf Gefäß bezogener Segensgestus des Jesuskindes). VOSS 1990, S. 125; HENGEVOSS-DÜRKOP 1994, S. 147; LAABS 1997, S. 79; LAABS 2000, S. 24f.; LAABS 2001, S. 146f.; WIPFLER 2003, S. 107, 280; VOSS 2008, S. 37f., 127, 130; VON FIRCKS 2009, S. 104; VON FIRCKS 2012, S. 134. Durchmesser 8 cm, Höhe 4,5 cm: VOSS 2008, S. 37f. – VOSS 1990, S. 124; LAABS 2000, S. 25; WIPFLER 2003, S. 107. – Ob es sich dabei um die in einem Verzeichnis des Jahres 1552 aufgeführte
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„verguldet Pyxtenn“ (LISCH 1849, S. 354) handelte, ist unklar: LAABS 2000, S. 25; LAABS 2001, S. 147. – Der Typus der Madonna mit Pyxis war seinerzeit im Zisterzienserorden verbreitet: NUSSBAUM 1979, S. 324; HENGEVOSS-DÜRKOP 1994 S. 147, Anm. 106, 114; LAABS 1997, S. 80; LAABS 2000, S. 24f., 86; NICOLAI 2001, S. 182; WIPFLER 2003, S. 102; VOSS 2008, S. 38; VON FIRCKS 2009, S. 104; VON FIRCKS 2012, S. 134. – Vgl. Schreinmadonnen: KROOS 1986, S. 58, 60; BRAUNFELS 1994, Sp. 193f.; RADLER 2009.– Zusammenhang zwischen Sakrament und Mariendarstellung: KROOS 1986, S. 60; SCHLIE 2002, S. 68, 70, Anm. 216.– Vgl. die im 13. Jh. aus Clairvaux überlieferte Legende, wonach ein Mönch im Traum die Gottesmutter sah, die an der Kirchentür allen zum Chorgebet eintretenden Brüdern aus einem Gefäß „eine überaus reiche Speise reichte“: BEISSEL 1909, S. 200f. MUB 5, Nr. 3114. – DOLBERG 1891a, S. 433 (dort auch weitere Stiftung von 1329 zu einem Licht vor dem Hochaltar durch Albrecht von Bardewik); ERDMANN 1995, S. 3; LAABS 1997, S. 80, Anm. 49; LAABS 2000, S. 25; WIPFLER 2003, S. 106; KROESEN/ TåNGEBERG 2014, S. 35. WOLF 1994, S. 98; ERDMANN 1995, S. 50; LAABS 2000, S. 23, 25; WIPFLER 2003, S. 107; VOSS 2008, S. 38; VON FIRCKS 2009, S. 104; VON FIRCKS 2012, S. 134. – Die Marienfigur ist ausgehöhlt, mithin leicht und mobil, sodass sie zwecks Hostien-Austausch dem Retabel entnommen werden konnte: LAABS 2000, S. 25; VOSS 2008, S. 38. – Trotzdem ist fraglich, ob der regelmäßige Austausch der Hostien per Entnahme der Figur aus dem Schrein ausreichend praktikabel war (freundlicher Hinweis von Justin Kroesen, Groningen), doch scheint der Hostienaustausch gegen Ende des 13. Jhs. nur noch selten erfolgt zu sein (LAABS 2001, S. 147). VON COSSART 2015, S. 96ff. (Hinweis auf runden Fußsockel der Marienfigur). WOLF 1994, S. 100; TRIPPS 2000a, S. 187, 217; TRIPPS 2001, o.S.; WIPFLER 2003, S. 109. WIPFLER 2003, S. 284; HöRSCH 2003, S. 10; HEIDER 2012, S. 4. HöRSCH 2012, S. 24. LAABS 2000, S. 87; BADSTÜBNER 2007, S. 162; 165; VON COSSART 2015, S. 96ff. SCHLIE 1899, S. 611; GLOEDE 1961, S. 89; BAIER/ENDE/OLTMANNS 1990, S. 253; ERDMANN 1995, S. 50, 92f.; LAABS 2000, S. 24, 87, 88, 220; LAABS 2001, S. 145; KROHM 2001, S. 160; WIPFLER 2003, S. 101; VOSS 2008, S. 62; VON FIRCKS 2009, S. 104; VON FIRCKS 2012, S. 133; HöRSCH 2012, S. 7, 26; SKERL 2013, S. 100, 102. Datierung des Oktogons: GLOEDE 1961, S. 89; LAABS 2000, S. 224, Anm. 609; VOSS 2008, S. 148; HEIDER 2012, S. 20; HöRSCH 2012, S. 33. – Zur Frage der Ursprünglichkeit des Leuchterbaldachins s.o. ERDMANN 1995, S. 50; LAABS 1997, S. 80f.; LAABS 2000, S. 87. – Datierung des Sakramentshauses: VOSS 2008, S. 60, 130; HEIDER 2012, S. 4; HöRSCH 2012, S. 21. VOSS 2008, S. 59, 73; HöRSCH 2012, S. 5, 26. HENKELMANN 2014. HENKELMANN 2014, S. 65, 67. HENKELMANN 2014, S. 95; 97. Vgl. die Eutiner Leuchtermadonna, die vermutlich ebenfalls älter als das sie umgebende Leuchtergehäuse ist: HENKELMANN 2014, Anm. 74. Würzburg, Mainfränkisches Museum, Inv. Nr. S 43670: HENKELMANN 2014, Anm. 58, Abb. 109.
46 Freundliche Mitteilung von Annegret Laabs, Magdeburg. ERDMANN 1995, S. 71. – Vgl. die kritisch reflektierte These, der Zisterzienserorden habe generell zur Entstehung oder Ausprägung bestimmter Marienbildtypen beigetragen: NICOLAI 1994, S. 35, 36; LAABS 2000, S. 84, 86. 47 Altenberg: HENKELMANN 2014, S. 97. – Amelungsborn: WIPFLER 2003, Anm. 64. – Pforta: WIPFLER 2003, Anm. 64. KöHLER/ SCHMITT 2003, S. 21. 48 HENKELMANN 2014, S. 74. – Vergleiche beispielsweise den Marienleuchter in der ehemaligen Dominikanerkirche St. Johann, Dortmund: HENKELMANN 2014, S. 246, 269. 49 So durften „die Leuchter […] nur aus Eisen“ (WIPFLER 2003, S. 52) sein. Generell erlaubt war eine Lampe ad gradum presbyterii (DOLBERG 1889a, S. 562). Doch außer „den drei Lampen in Sanktuarium und Mönchschor durften nur zwei weitere Lampen in der Kirche hängen: propter conversos et hospites“ (UNTERMANN 2007, S. 14). Schließlich wurden wiederholt Verbote und Rügen gegen überflüssigen Lichtergebrauch ausgesprochen (LAABS 2000, S. 12; DOLBERG 1889a, S. 562). Ausnahmen waren gestattet an den Gräbern fürstlicher Personen und an Marienbildern (DOLBERG 1889a, S. 562f.). – Vgl. KING 2005, S. 120f. 50 HENKELMANN 2014, S. 95, 98, 101. 51 Denkbar wäre eine Herkunft aus Lübeck oder eine Beeinflussung durch dieses Kunstzentrum. – HöRSCH 2012, S. 23, 26, 34 vermutet einen Einfluss durch die von Karl IV. geförderte Verbreitung des Bildtypus der Maria Apocalyptica auf die Gestaltung des Doberaner Marienleuchters. Ob daraus auf eine Beteiligung von Künstlern aus östlichen Regionen an demselben geschlossen werden muss, ist fraglich. 52 Vgl. hierzu VOSS 2008, S. 114 und den Beitrag von Dirk Schumann in diesem Band 53 EDDELIN 1664 (s. u. S. 468). – Vgl. ERDMANN 1995, S. 71. 54 SCHILLER 1980, S. 144, 192, 199, 204; NICOLAI 1994, S. 35 (Vision der Magna Claritate oder Multa Gloria des Caesarius von Heisterbach: vgl. BEITZ 1926, S. 39); LAABS 2000, S. 88 (Zisterzienser); HENKELMANN 2014, S. 104. 55 VETTER 1958/59, S. 41; SCHILLER 1980, S. 198; GRZyBKOWSKI 1988, S. 302. 56 SCHILLER 1980, S. 198. 57 Vgl. den kompilatorischen Charakter der Maria Apocalyptica am Doberaner Mühlenaltar respektive Retabel des Martinsaltars vom Ende des 14. oder Anfang des 15. Jhs. mit überdimensionierter Krone und Sonnenscheibe nicht hinter, sondern vor der Figur: ERDMANN 1995, S. 71; LAABS 2000, S. 223; WIPFLER 2003, S. 205, 227; VOSS 2008, S. 77, 138f.; HöRSCH 2012, S. 34f.; vON COSSART 2015, S. 96ff. 58 HENKELMANN 2014, Anm. 39. 59 Licht im Kontext von Darstellungen der Erscheinung: SUCKALE 2002, S. 277; GANZ 2007, S. 242. 60 Auf der Konsolenleiste wird Maria als nostra ● aduocata ● apud ● deum bezeichnet. Womöglich nimmt dies Bezug auf den im Spätmittelalter sukzessiv verbreiteten Ave Maria-Zusatz „Bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes“ (vgl. BEINERT/PETRI 1984, S. 369, 371; HEINZ 1977, S. 290, Anm. 84; HEINZ 2009a, Sp. 1306). – Die Inschrift der Konsolenleiste rekurriert auf einen vermutlich älteren Marienhymnus, der so populär war, dass er in der 1. Hälfte des 16. Jhs. von Elzear G. Carpentras vertont wurde: VON COSSART 2015, S. 96ff.
Genese und Funktion des Doberaner Marienleuchters – Traditionsbewahrung und Multifunktionalität | 359
61 HEINZ 1977, S. 87; LAABS 2000, S. 87; HöRSCH 2012, S. 26. 62 BEISSEL 1909, S. 230; HEINZ 1977, S. 289; KÜPPERS 2002, Sp. 1035; HEINZ 2003, S. 36; 38; HEINZ 2009b, Sp. 1304. 63 HEIDER 2004, S. 33; HEIDER 2012, S. 6. 64 BEISSEL 1909, S. 202 (Bernhard als legendarischer Verfasser des Salve Regina), 203, 206; MUSSBACHER 1986, S. 166; ERDMANN 1995, S. 70; HEINZ 1977, Anm. 89; LAABS 2000, S. 88; KING 2005, S. 112. – Denkbar wäre auch ein Zusammenhang mit dem Hymnus Ave Maris Stella (DOLBERG 1889a, S. 562; BEISSEL 1909, S. 126f.; HEINZ 2009a, Sp. 1307) sowie mit dem Magnificat (VOSS 2008, S. 130; HENKELMANN 2014, Anm. 110). 65 HENKELMANN 2014, S. 119, 128ff. (z.B. Zisterzienserkirche Altenberg, Dominikanerkirche Dortmund). 66 HENKELMANN 2014, S. 130f., 215, 219, 222 (z. B. Marienleuchter in Kempen, St. Mariä Geburt). 67 BEISSEL 1909, S. 347f.; GRZyBKOWSKI 1988, S. 302; NOLL 2004, S. 57, 61, 63, 249. 68 Schwerin, Landeshauptarchiv, Kirchenurkunden, Kloster Doberan, Nr. 425, 26.10.1461 (zit. nach SCHLIE 1899, S. 611 Anm. 1; laut LAABS 2000, Anm. 608, Verlust). Vgl. weitere Ablässe MINNEKER 2007, S. 84. 69 LAABS 2000, S. 88. – Dies schließt nicht aus, dass auch die Mönche Ablass erwirken konnten (freundlicher Hinweis von Gerhard Weilandt, Greifswald), doch zielt der Indulgenzbrief eher auf die Laien ab. 70 Nach VOSS 2008, S. 62, 130, basiert die Konstruktion des Marienleuchters zwar auf einem dem Sakramentshaus ähnlichem Stecksystem. Doch gerade die Ähnlichkeit mit dem Sakramentshaus, das eben nicht regelmäßig demontiert wurde, zeigt, dass eine solche Konstruktion kein zwingender Beleg für eine ursprünglich intendierte regelmäßige Demontage des Leuchters ist. 71 Von Bedeutung könnte in diesem Zusammenhang die sogenannte Herrscherempore über der Bülow-Kapelle im Nordquerhaus gewesen sein: freundlicher Hinweis von Kaja von Cossart, Drechow. 72 Vgl. Ablasswesen und Zunahme von Laienbestattungen, was zu Ausnahmeregelungen für einzelne Angehörige ebenso wie allgemeinere Bestimmungen für Hochfeste zur Folge hatte. TRIPPS 2000a, S. 187, 217; LAABS 2000, S. 62, Anm. 427; TRIPPS 2001, o.S.; UNTERMANN 2007, S. 11f., 14ff.; WEITZEL 2011, S. 90. 73 Im Jahr 1385 wird adligen Frauen der Besuch von Grablegen an Kirchweih gestattet: LISCH 1844, S. 299; SCHLIE 1899, S. 558f.; LAABS 2000, S. 88; WICHERT 2000, S. 165. – Denkbar wäre, dass privilegierte Laien den Ablass an der Leuchtermadonna erwirken konnten, diejenigen, die das Kloster nicht betreten durften, dagegen bei einer anderen, ebenfalls im Ablass erwähnten Marienfigur in der Pfortkapelle (freundlicher Hinweis von Kaja von Cossart, Drechow, vgl. VON COSSART 2015, S. 96ff.). 74 UNTERMANN 2007, S. 7. 75 In der Cluniazenserkirche St. Alban in Basel befand sich neben dem Hochaltar ein zu besonderen Anlässen zugängliches Marienbild. Der Hochaltar der Nürnberger Dominikanerinnenkirche St. Katharina war im Kontext eines Ablassprivilegs zugänglich. Im Augustinerinnenstift Obernkirchen befand sich in einer Nische hinter dem Hochaltar eine Gnadenmadonna, welche Laien unter Aufsicht besuchen konnten: VON COSSART 2001, S. 18; WEILANDT 2003, S. 171; WEITZEL 2011, S. 90, Anm. 385. 76 In Fallsbach (österreich) wurde regelmäßig ein Mariengeweihleuchter herabgelassen, damit die Gläubigen die wohl als wunder-
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tätig hochverehrte Marienfigur küssen konnten: HENKELMANN 2014, S. 138f. – Vgl. den Bericht des Caesarius von Heisterbach, wonach eine Nonne in einer Vision sah, wie die Muttergottes einen Leuchter vom Himmel herabließ: BEITZ 1926, S. 66. – Die Kerze vor einer Madonna im Zisterzienserinnenkloster Jesse bei Gröningen soll sich immer wieder selbst entzündet haben: DOLBERG 1889a, S. 565f. – Viele Marienleuchter verfügten über Hebe-/Senkmechanismen: HENKELMANN 2014, S. 60, Anm. 47. HEIDER 2004, S. 33. Freundliche Hinweise von Martin Heider, Doberan, und Georg von Knorre, Rostock. – Neuzeitliche Graffitis auf dem Leuchter erweisen, dass dieser zumindest zeitweilig in Griffhöhe gehangen hat (freundliche Auskunft von Stefan Thiele, Chemnitz). Bedeutung der Marienfigur aufgrund ihrer ehemaligen Aufstellung im Hochaltarretabel: ERDMANN 1995, S. 50; LAABS 2000, S. 86, 105; VON FIRCKS 2009, S. 104f.; VON FIRCKS 2012, S. 134; HöRSCH 2012, S. 25; SKERL 2013, S. 102. HöRSCH 2012, S. 25; VON COSSART 2015, S. 96ff. – Vgl. demgegenüber VOSS 2008, S. 130. – Wenn das Sakrament noch nach der Entstehung des Leuchters in der Madonna aufbewahrt wurde, dann kommt dafür nur das Gefäß in ihren Händen in Frage. SCHLIE 1899, S. 611f., Anm. 2 bezeichnet den Hohlraum des eckigen Sockels unter der Marienfigur zwar als „Schiebfach“, doch ist dieser zumindest in der heutigen Form nicht als solches gestaltet. – Vielleicht wurde später zu besonderen Anlässen das Leuchtergehäuse mitsamt der Marienfigur und der Pyxis zur Wandlung herabgelassen [vgl. die sogenannten eucharistischen Tauben und Engelfiguren: BRAUN 1924, Bd. 2, S. 604f., 608, 616; BEITZ 1926, S. 58f.; TRIPPS 1998, S. 51; TRIPPS 2000a, S. 53f.; TRIPPS 2000b, S. 238, 241]. In Kloster Preetz gab es im späten 15. Jh. auf dem Altar des Nonnenchors eine Marienstatue, aus deren Hand die Nonnen die Kommunion empfingen: JÄGGI 2006, Anm. 296. ERDMANN 1995, S. 71; KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 29; LAABS 2000, S. 24; WIPFLER 2003, S. 276, 278 – Vgl. schwebende Befestigung figürlicher Pyxidenbehälter: BRAUN 1924, Bd. 2, S. 607, 616, 618, 622, Abb. S. 146; NUSSBAUM 1979, S. 324, Abb. 19; KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 29f. FRÜNDT 1969, S. 7. – Vgl. die ehemals im Kopf der Madonna vom Doberaner Triumphkreuz befindliche Reliquien: WIPFLER 2003, S. 69f. – Vgl. Reliquien in einer regelmäßig zur Verehrung ausgesetzten Marienfigur in der Zisterzienserabtei Zwettl/Niederösterreich: LAABS 2000, S. 86. DOLBERG 1891b, S. 595. WOLF 1994, S. 100; ERDMANN 1995, S. 3, 50; LAABS 2001, S. 145, Anm. 28. – Erste Berichte über die Verehrung einer HeiligBlut-Reliquie in Doberan setzen Mitte des 14. Jhs. ein. Danach soll Anfang des 13. Jhs. ein Hirte bei der Kommunion die Hostie nicht verzehrt, sondern in seinem Hirtenstab aufbewahrt haben. Die Hostie habe aber geleuchtet und es sei Blut aus ihr geflossen, woraufhin er diese zurückgeben musste. Die genaue Art der Verehrung in Doberan wie der Aufbewahrungsort der Reliquie sind unklar: RöPER 1808, S. 85, 88; DOLBERG 1891b, S. 595; GLOEDE 1961, S. 90, Anm. 112; ERDMANN 1995, S. 40, 42; WICHERT 2000, S. 149f.; VOSS 2008, S. 38, 57; WIPFLER 2003, S. 39, Anm. 24, S. 41, 110, 311f.; MINNEKER 2007, S. 83, 153, Anm. 348. ERDMANN 1995, S. 40, 42. HENKELMANN 2014, S. 120f. Der Leuchter scheint zwei Grabplatten (ehemals drei Begräbnissen) regelrecht zugeordnet: Grab Heinrichs II. des Löwen († 1329)
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sowie Grab einer Ehefrau Nikolaus‘ I. († 1277) oder Nikolaus‘ II. von Werle († 1316): MINNEKER 2007, S. 76, 81, Anm. 330; VOSS 2008, S. 110f; VON FIRCKS 2009, S. 101f.; HEIDER 2012, S. 6; VON FIRCKS 2012, S. 143. Vgl. den Beitrag von Christine Magin in diesem Band. Vgl. die Ähnlichkeit der Oktogon-Ornamente mit jenen am Baldachin des Marienleuchters (s.o.). ERDMANN 1995, S. 71. – Zur Memoria des Haues Mecklenburg in Doberan: MINNEKER 2007, S. 76, 81; VON FIRCKS 2009, S. 101f., 121; HEIDER 2012, S. 66. – Vgl. die Bestattung Königin Margarethes von Dänemark († 1282) in Doberan: HöRSCH 2003, S. 19; VON FIRCKS 2009, S. 108ff., 119; VON FIRCKS 2012, S. 143. HöRSCH 2012, S. 3, 18. Heinrich I. stiftete 1267 ein Ewiglicht an den Gräbern seiner Familie. Heinrich II. stattete die Grabkapelle 1302 mit einer Ewiglicht-Stiftung aus: LISCH 1844, S. 293f.; LISCH 1854b, S. 345, 350; DOLBERG 1891a, S. 433f.; MINNEKER 2007, S. 65, 73f., 76, Anm. 279. – Nikolaus II. von Werle tätigte im Jahr 1313 die Schenkung eines Ewiglichts am Grab seiner Ehefrau Rixa von Dänemark: MINNEKER 2007, S. 76, 81; DOLBERG 1891a, S. 433. Ein Gottschalk Wesseler war Ende des 13. Jhs. Lübecker Ratsherr: EHRHARDT 2001, S. 504. Nach Justin Kroesen, Groningen, befanden sich Sakramentsleuchter nicht innerhalb der Sakramentshäuser bzw. -nischen, sondern
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in deren Nähe beziehungsweise an angrenzenden Wandflächen (z.B. KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 188f. Kat. Nr. K37, Abb. 4.6). – Sakramentslichter/Gotteslampen: KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 35f., 92. Womöglich diente eine hölzerne Standleuchte (heute im nördlichen Chorumgang) der Zeit um 1300 aus der 1. Hälfte des 14. Jhs. als Ewiglicht an den Gräbern des Hauses Mecklenburg: ERDMANN 1995, S. 27, 92; MINNEKER 2007, S. 65 Anm. 226; HEIDER 2012, S. 17. Vgl. demgegenüber VOSS 2008, S. 142. – Die bei DOLBERG 1889a, S. 562, überlieferte These des früheren Doberaner Münsterkustos W. Thiel, der Marienleuchter habe ursprünglich als Ewiglicht in der Grabkapelle gehangen, ist nicht erwiesen. Die 1306 bestätigte Lichtstiftung des Wessler erfolgte explizit „für das Seelenheil des Stifters, seiner Verwandten und Vorfahren“: WIPFLER 2003, S. 27 Anm. 80. HENKELMANN 2014, S. 119. VOSS 2008, S. 62; HöRSCH 2012, S. 3f., Plan S. 5. DOLBERG 1889a, S. 562. Vgl. auch oben Anm. 49. Zur Transsubstantiationslehre: CASPARy 1965, S. 102; JORISSEN 2009, Sp. 178, 180. Vgl. MINNEKER 2007, S. 87 zum „Visualisierungsprozess“ an spätmittelalterlichen Grabmälern unter Einbeziehung einer über die Kleriker hinausgehenden öffentlichkeit. Vgl. WITTEKIND 2014.
Genese und Funktion des Doberaner Marienleuchters – Traditionsbewahrung und Multifunktionalität | 361
DIe SPätMItteLALterLICHe AUSStAttUNG
DIE GEMÄLDE DES KREUZALTARRETABELS DES DOBERANER MÜNSTERS ULrIKe NürNBerGer
Das Kreuzaltarretabel der Zisterzienserklosterkirche in Doberan (Abb. 25, 28, 354, 355) wurde zur Kirchweihe im Mai 1368 oder etwas später fertiggestellt1. Das Retabel ist mit doppelten Flügeln ausgestattet und hat zwei Schauseiten. Im geöffneten Zustand zeigt es geschnitzte Figurenszenen: nach Westen (Kirchenschiff und Chor der Konversen) einen Zyklus mit Szenen aus der Passion Christi und nach Osten (Chor der Mönche) einen Marienzyklus. Auf dem Retabel steht ein ca. 8,50 Meter hohes und fast 6 Meter breites Triumphkreuz, welches das typologische Programm des Retabels fortsetzt2: an seiner Westseite ein überlebensgroßer geschnitzter Kruzifixus und an der Ostseite die Himmelskönigin mit dem Jesusknaben3. Bisher standen stets die Konstruktion des Kreuzaltarretabels (mit Triumphkreuz) und die Skulpturen im Mittelpunkt kunsthistorischer Forschung. Die durchaus ebenso qualitätvollen Malereien auf den Flügelaußenseiten blieben hingegen aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes von der Fachwelt nahezu unbeachtet. Eine Beschäftigung mit ihnen stellt zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Tafelmalerei im Norddeutschland des 14. Jahrhunderts dar, zumal die Gemälde in engem Zusammenhang mit Werken des in Hamburg seit 1367 nachweisbaren Malers Bertram von Minden stehen.
DER ERHALTUNGSZUSTAND Die Gemäldetafeln sind zu ca. Zweidritteln zerstört. Größere zusammenhängende Areale sind nur noch auf der sogenannten Christusseite (westliche Ansicht) vorhanden, insbesondere die Darstellungen der Apostel Andreas (linker Flügel)
sowie Petrus und Johannes und der ihm gegenübergestellte Prophet (rechter Flügel). Großflächige Farbverluste sind im rauen Klima des Nordens leider nicht ungewöhnlich. Außenseiten von Retabeln waren klimatischen Einflüssen und mechanischen Beschädigungen anhaltender und direkter ausgesetzt als die Innenseiten, und nach der Reformation und der damit einhergehenden Auflösung der Klöster galten mittelalterliche Flügelretabel nicht mehr als zeitgemäß, ihre Pflege wurde gerne vernachlässigt. Groß angelegte Übersichtsstudien, wie sie etwa für den Großraum SchleswigHolstein vorliegen, führen den Umfang dieser Verluste drastisch vor Augen4. Bis auf wenige Ausnahmen (insbesondere Lübeck, wo die Erhaltungsrate viel besser ist)5, sind Malereien auf den Außenseiten der Retabel entweder komplett verloren oder in späteren Jahrhunderten übermalt worden (besonders häufig im 17. Jahrhundert, dann aber mit anderen thematischen Schwerpunkten)6. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert taten irreversible ‚konservatorische‘ Maßnahmen, die den ästhetischen Auffassungen ihrer Zeit unterlagen, dann ihr Übriges7. Das Doberaner Retabel war vermutlich nach 1830 mit seiner östlichen Ansichtsseite (Marienseite) gegen die Westwand der Kirche gerückt worden8. Nunmehr war diese Seite größeren Klimaschwankungen und größerer Feuchtigkeit ausgesetzt, was in Kombination mit der mangelnden Belüftung fatale Folgen hatte und den Farbverlust noch beschleunigte9. Hinzu kamen mechanische Beschädigungen, teils durch den sorglosen Umgang mit dem Objekt, teils durch Vandalismus der Kirchenbesucher. Eingeritzte Monogramme, Familiennamen, Orte und Jahreszahlen (die älteste von „1698“, unterhalb der linken Hand von Johannes) haben an den Tafeln in Doberan erheblichen Schaden angerichtet (Abb. 356).
Linke Seite: Abb. 353. Rechter Flügel der Christusseite, Feld oben links, Detail: Petrus
Mit einer groß angelegten Restaurierungskampagne (1975– 84) wurde dieser Entwicklung Einhalt geboten, und sie führte schließlich nach Abschluss der Arbeiten zur Rückversetzung des Retabels (zusammen mit dem Triumphkreuz) an seinen ursprünglichen Standort: zwischen Mönchs- und Konversenbereich an der Westgrenze des Hauptchors10. Bei einer erneuten Restaurierung (2008/09) entschied man sich dann für eine zurückhaltende Restaurierung der Skulpturen
und Gemäldetafeln. Bei den wesentlich schlechter erhaltenen Gemäldetafeln beschränkte man sich auf die Festigung loser Malschichtenpartikel und Reinigung. Zu Rekonstruktionen kam es weder bei der Skulptur noch bei der Tafelmalerei. Zur Maltechnik notierte der Restaurator Johannes Voss lediglich, dass sowohl die Polychromie als auch die Tafelmalerei auf den Außenseiten der vier Kastenflügel „traditionell aufgebaut“ ist11.
Abb. 354. Gesamtansicht des Kreuzaltarretabels von Westen, Christusseite, geschlossener Zustand
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BESCHREIBUNG DER GEMÄLDE Auf jedem Flügel sind vier sitzende Einzelfiguren dargestellt, die jeweils von einer plastischen Zierleiste eingefasst sind, so dass sich insgesamt sechzehn Bildfelder mit ebenso vielen Figurendarstellungen ergeben (Abb. 354, 355). Die Figuren sitzen auf einem in unterschiedlichen Farben gestalteten ‚steinernen‘ Thron (Rosa, Grün, Grau) vor einem leuchtend
roten Hintergrund mit aufschablonierten sechszackigen Sternen aus Blattgold. Über ihnen schwebt eine phantasievolle Baldachinarchitektur aus Kegeldächern, Kassettendecken, Erkerkränzen, Bekrönungen mit Zinnen oder Balustraden mit frühgotischen Vierpass-öffnungen in alternierend graurosa bzw. grün-rosa Tönen, ohne Berücksichtigung statischer Prinzipien oder einer annähernd realitätsnahen Verbindung von Einzelteilen.
Abb. 355. Gesamtansicht des Kreuzaltarretabels von Osten, Marienseite, geschlossener Zustand
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Abb. 356. Rechter Flügel der Marienseite, Detail: „Krellenberg / [L]ubeck Ao 1705“
Auf der besser erhaltenen Christusseite sind auf der linken Tafelhälfte Apostel dargestellt, gekennzeichnet u.a. durch einen Nimbus, der bei den Propheten, auf der ihnen gegenüberliegenden rechten Tafelhälfte, fehlt. Die Figuren sind durchgängig in lange Gewänder gehüllt, wobei die Propheten als ältere Männer zumeist mit langen Bärten und mit Hüten charakterisiert sind und ein aufgerolltes Schriftband in Händen halten (auf den Schriftbändern der Marienseite fehlen allerdings die Beschriftungen). Die Apostel und Propheten sind gestikulierend einander zugewandt. Bei der Schrift handelt es sich um gotische Minuskeln. Insgesamt sind die Inschriften sorgfältig ausgeführt und anders als am Retabel des Hauptaltars und des Sakramentsschreins in Doberan offenbar nicht übermalt12. Christusseite Auf dem linken Flügel der Christusseite im Feld oben links thront wahrscheinlich der Apostel Andreas (Abb. 354, 371). Er ist mit goldenem Nimbus, barfüßig dargestellt und trägt ein rotes Untergewand, darüber einen blauen Mantel mit rotem Futter. Sein ausdrucksvolles Gesicht wird von einer wilden, grauen Haarpracht und einem langen, gelockten Backenbart umspielt. Der Oberlippenbart ist seitlich in die Länge gezwirbelt. Mit der rechten, vom Mantel bedeckten Hand umfasst er das Ende seines Schriftbandes, dessen Inschrift sich folgendermaßen liest: “[- - -] • [..... •] [su]ppliciu(m) • expauescere(m) • // [- - -]“; vor „[su]ppliciu(m)“ stand vielleicht „crucis“. Als Quelle könnte die Legenda Aurea von Jacobus de Voragine (um 1264) gedient haben, in der Andreas sagt: Si crucis patibulum expavescerem, crucis gloriam non praedi-
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carem (Würde ich das Kreuzesholz fürchten, würde ich nicht den Ruhm des Kreuzes verkünden)13. Mit seinem linken Zeigefinger weist er auf den ihm gegenüber sitzenden Mann, vermutlich ein Prophet, mit hellbraunem, zweigeteiltem Backenbart, einem kurzen Oberlippenbart und markant gebogener Nase (Abb. 357). Dieser ist ohne Nimbus dargestellt und trägt ein grünes Untergewand sowie einen roten Mantel mit goldener, rautenförmiger Mantelschließe. Mit dem rechten Zeigefinger weist er auf ein Schriftband mit folgender Inschrift aus unbekannter Quelle: Si • (christus) • alio • supplicio • int(er)fect(us) • ess(et) • signu(m) • [- - -] (Wenn Christus durch eine andere Strafe getötet worden wäre ...). Der Christusname als Nomen sacrum ist in der üblichen Weise in griechischen Buchstaben ausgeführt (xpc). Größere Farbareale haben sich von der Grundierung abgelöst, wobei die Grundierung mit der Unterzeichnung erhalten geblieben ist. Diese offenbart, dass der Prophet eine um das Haupt gewickelte, turbanartige Kopfbedeckung trug, dessen Stoffende auf die Stirn herabfiel. Die schwarzgraue Zeichnung ist mit einem dunklen (kohlehaltigen?), vermutlich flüssig verarbeiteten Unterzeichnungsmittel angelegt. Der schwungvolle, liquide Linienduktus sowie das An- und Abschwellen beim Ansetzen sowie Abnehmen des Zeichengerätes und die spitz zulaufenden Linienendungen lassen die Verwendung eines Pinsels (weniger einer Feder) vermuten14. Sowohl der Prophet als auch die ihn bekrönende Architektur sind komplett und mit sicherer Strichführung unterzeichnet. Zuerst wurden die Umrisse der Figuren angelegt, dann erfolgte die Einzeichnung der Gewandfalten mit langen, sanften Schwüngen und zum Schluss die Definition der Schattenareale mit regelmäßig verlaufenden Kreuzschraffuren. Mit anscheinend großer Freude für Details fixierte der Zeichner die modischen Accessoires und Architekturornamente (s. beispielsweise das Blattwerk an den Konsolen). Die Zeichnung zeugt zudem von einer ausgesprochenen Virtuosität und Komplexität, zugleich aber auch von einer großen Exaktheit, die in dieser frühen Zeit durchaus bemerkenswert ist15. Wie die erst kürzlich angefertigten Infrarotaufnahmen zeigen, ist das gesamte Retabel auf diese Weise unterzeichnet (s. den Beitrag von Jochen Sander in diesem Band). Im linken unteren Feld sitzt ein Heiliger mit Stirnglatze, Nimbus und hellbraunem Backenbart. Das goldene Schwert, das er in der Rechten hält, weist ihn als Apostel Paulus aus. Er trägt ein grünes Wams mit drei goldenen Knöpfen auf der rechten Schulter, die Ärmel sind braun-gold abgesetzt. Auf seinem Schriftband steht: U[erbum • cruci]s • pereu(n)tib(us)
• stulticia • e(st) • // [- - -]. Hierfür lässt sich als Quelle der erste Brief an die Korinther identifizieren, den Paulus zwischen 53 und 55 n. Chr. geschrieben hat (1. Kor. 1,18): verbum enim crucis pereuntibus quidem stultitia est. his autem qui salvi fiunt id est nobis virtus Dei est (Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft)16. Ihm gegenüber sitzt ein bärtiger Mann mit hellen, vielleicht weißblonden Haaren. Statt eines Nimbus trägt dieser einen grünen, rotgefütterten Hut, der an den Seiten lang herabhängt und mit einem goldenen Stirnreif zusammengehalten wird. Aus der Bildkonzeption wäre abzuleiten, dass es sich hier wiederum um einen Propheten handelt. Auch er weist mit ausgestrecktem linken Zeigefinger auf sein Schriftband, dessen Inschrift jedoch bis auf wenige unleserliche Reste vollkommen zerstört ist. Auf dem rechten Flügel oben links thront Apostel Petrus mit Nimbus, der durch den großen, silbernen Schlüssel in seiner Rechten und seine charakteristische Physiognomie und Frisur eindeutig zu identifizieren ist (Abb. 353). Er trägt ein rotes, gegürtetes Untergewand und darüber einen blauen Mantel mit einer schlichten runden, goldenen Mantelschließe. Auf seinem Schriftband ist lediglich noch erkennbar: [- -]r • // [- - -]um. Ihm gegenüber sitzt offensichtlich ein König mit prunkvoller, goldener Krone, bei dem es sich um Salomon oder David handeln könnte. Er trägt vermutlich Schuhe und einen goldenen Brokatumhang mit blauem Muster. Die Inschrift seines Schriftbandes ist jedoch vollständig zerstört. Unterhalb von Petrus sitzt ebenfalls ein Apostel mit Nimbus. Er ist aufgrund seines jugendlichen, bartlosen Antlitzes, seiner blonden Locken und dem goldenen Giftbecher, den er in seiner vom Gewand bedeckten Linken hält, als Johannes Evangelista zu identifizieren (Abb. 358). Er trägt ein blaues Untergewand und einen roten Mantel mit grünem Innenfutter und thront unterhalb eines gotischen Gewölbes. Auf dem Schriftband ist zu entziffern: [- - - d]e • lig[no] [- - -] // [pa]radiso • dei • mei • aus den Offenbarungen des Johannes, Apc. 2,7: vincenti dabo ei edere de ligno vitae quod est in paradiso dei mei (Wer siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht)17. Ihm gegenüber sitzt ein bärtiger Mann in einem langen, am Oberkörper geknöpften, purpurnen Gewand mit blauem Innenfutter. Auf dem Kopf trägt er eine goldene Kopfbedeckung. In der Linken hält er ein Schriftband, die geöffnete rechte Hand ist gestikulierend dem Evangelisten Johannes zugewandt. Johannes Voss beschrieb eine vergleichbare Figur auf der Innenseite des linken Flügels der „Kreuzigung Christi
durch die Tugenden“, ebenfalls in Doberan, als den Propheten Ezechiel. Die Figur im Kreuzaltarretabel identifizierte er allerdings als den Hohepriester und Propheten Aaron18. Martens hingegen beschrieb diesen 1936 noch als „Priester (vielleicht Melchisedech)“19. Auf dem Schriftband ist noch zu lesen: Crux • oli(m) • suppli(ciu)m [- - -] // [- - -] atoru[(m)] •.
Abb. 357. Linker Flügel der Christusseite, Feld oben rechts: unbekannter Prophet
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Abb. 358. Rechter Flügel der Christusseite, Feld unten links, Detail: Johannes Evangelista
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Christine Magin schlägt als eine mögliche Quelle die Analecta Hymnica 15, Nr. 24,9 (De sancta cruce, Hymnus des 15. Jahrhunderts) vor: erat impiis horroris, Olim crux supplicium, Nunc vexillum est honoris et salutis praemium, tuta quies et dulcoris Intimi praesidium; auch wenn die Verse aus Platzgründen so nicht auf dem Spruchband gestanden haben können20. Marienseite Die Figur im oberen linken Feld des linken Flügels (Abb. 355) ist kaum noch zu erkennen, das gleiche gilt für die ihr gegenüber gestellte Figur (diese möglicherweise mit Nimbus). Im unteren linken Feld thront ein grauhaariger Mann mit einer hohen, goldenen Kopfbedeckung (einer Bischofsmitra?). Er trägt ein langes, rotes Gewand mit blauem Innenfutter und wahrscheinlich Schuhe. Darüber hinaus sind ein goldenes Tuch und eine mit einer Kreuzblume bekrönten Fiale zu erkennen – der Zusammenhang bleibt jedoch unklar. Ihm gegenüber thront ein vermutlich beschuhter, bartloser Heiliger mit Nimbus. Seine grauen Haare fallen gerade in die Stirn. Seine Schultern sind von einem zotteligen Fell oder Umhang bedeckt und über dem linken Arm ist ein feines Tuch gelegt. In der Höhe der Brust scheint ein rotes Quadrat mit Fellbesatz eingenäht zu sein, vielleicht mit einem goldenen Kreuz (ein Ritter oder Ordensheiliger?). In der linken Hand hielt er einen Gegenstand, der jetzt nicht mehr zu identifizieren ist. Auf dem rechten Flügel thront im oberen linken Feld ein heiliger Bischof mit Albe und Kasel, sein Haupt ist von einer Mitra bedeckt und von einem Nimbus umgeben. Er trägt Pontifikalhandschuhe und spitze, goldene Schuhe. Von seiner linken Hand hängt ein kunstfertig gemalter Manipel herab, in der Rechten hält er einen Bischofsstab. Im Feld gegenüber thront ein graubärtiger Mann mit Schuhen, die rechte Hand im Redegestus erhoben – vermutlich ein Prophet. Wie die Figur im darunterliegenden linken Feld hat er keinen Nimbus, jedoch eine rote Kopfbedeckung mit grüner Krempe an der Vorderseite und einen seitlich abstehenden, fächerförmigen Zipfel. Er trägt ein langes weiß-goldenes Brokatkleid mit vier großen, goldenen Knöpfen, das unter einem darüber liegenden roten, blaugefütterten Umhang herausschaut. Die Figur im unteren linken Feld unterhalb eines gotischen Kreuzrippengewölbes ist kaum noch zu erkennen. Ihr gegenüber thront ein Heiliger mit Nimbus, der aufgrund der goldenen Mitra, des Amikts und prächtigen Krummstabs als heiliger Bischof zu identifizieren ist. Auffallend sind die Unterschiede in den Bildprogrammen der Marien- und Christusseite. Auf der Marienseite wurde
auf eine wiederkehrende Gegenüberstellung von Aposteln und Propheten verzichtet, ebenso fehlen die Inschriften auf den Schriftbändern, was die Identifizierung der Figuren erheblich erschwert. Dagegen ergibt sich aus dem rhythmischen Nebeneinander von Aposteln und Propheten auf der Christusseite eine typologische Gegenüberstellung des Alten und Neuen Bundes21. Die Inschriften in den Schriftrollen der Apostel und Propheten, soweit diese identifiziert werden konnten, unterstreichen den engen thematischen und theologischen Zusammenhang mit dem Martyrium Christi und der Kreuzestheologie. Das Ensemble als Ganzes verweist eindrücklich auf den Triumph der Herrschaft Gottes, der mit der Auferstehung Christi eingeleitet wird, eine Botschaft die auch durch die grünlich schimmernd gelüsterten Blätter am Kreuzesstamm des monumentalen Triumphkreuzes (Lebensbaumsymbolik) vermittelt wird (Abb. 25, 28). Das Skulpturenprogramm der Ostseite mit der monumentalen Madonna am Kreuzesstamm scheint hingegen in thematischem Zusammenhang mit dem direkt gegenüber positionierten älteren Hochaltarretabel und dessen mariologischer Themenausrichtung zu stehen (Abb. 48, 294)22. Auf der Mönchsseite des Kreuzaltarretabels überwiegen stattdessen Darstellungen von heiligen Bischöfen, vielleicht Kirchenväter oder Ordensheilige. Auch einige Details, wie die Darstellung prächtiger Brokatstoffe, goldener Schuhe, feiner Tücher und goldener Attribute, unterstreichen eine solche Identifizierung. Eine Gesamtanalyse des Bildprogramms innerhalb des Kontextes des Kirchenraumes ist bisher nur im Ansatz geschehen. So vermutete Norbert Wolf ein liturgisches Zusammenwirken mehrerer Altarstellen innerhalb der Sakraltopographie der Doberaner Zisterzienserkirche. Manuela Beer wies darauf hin, dass der Gedanke an die Inkarnation und die Rolle Mariens für die Menschwerdung Christi bei den Zisterziensern einen wichtigen Stellenwert einnahm, während Johannes Voss in Betracht zog, dass der Konvent mit dem monumentalen Kreuzaltar-Ensemble die Absicht verfolgte, dem älteren, um 1310 entstandenen Hochaltarretabel „ein triumphales Zeichen des göttlichen Heilsplanes gegenüberzustellen“23.
BEOBACHTUNGEN ZUR MALTECHNIK Den Gemäldetafeln dienten als Bildträger vertikal angeordnete (verleimte?) Eichenholzbretter, deren Verbindung möglicherweise mit Dübeln gesichert wurde. Diese waren noch vor Auftrag der Grundierung mit Leinwand partiell überklebt worden, um Fugen und andere Unebenheiten, z. B.
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Astlöcher, auszugleichen. Auf der weißen (Kreide-?) Grundierung wurde dann die Bildkomposition in einer Unterzeichnung festgelegt, während man die Umrisse der vergoldeten Teile, wie Nimben und liturgische Geräte, in die Grundierung einritzte. In den Nimben sind noch die Einstichstellen des Zirkels sowie die Ritzungen vom Zirkelschlag auszumachen. Das Blattgold scheint direkt auf die Grundierung aufgetragen (Leimvergoldung), ein darunter angelegter farbiger Bolus ist jedenfalls nicht festzustellen. Die Kuppa des Kelches von Johannes wurde offensichtlich nach oben hin erweitert, wie die Ritzung erkennen lässt. Angaben zu Schatten und Volumen wurden auf die Vergoldung in Form einer Schwarzlotmalerei mit feinem Pinselstrich aufgemalt (Abb. 358). Die goldenen, sechszackigen Sterne auf dem roten Hintergrund sind von übereinstimmender Größe und Form; sie wurden vermutlich mit einer Negativschablone übertragen. Das Blattmetall ist anscheinend direkt auf die noch nicht vollständig durchgetrocknete ölhaltige Farbschicht appliziert worden24. Die hochwertige Ausführung der Tafeln zeigt sich u. a. in der überzeugenden Darstellung von Oberflächen und Materialien, wie etwa dem ‚Sandsteinthron‘ des hl. Andreas und der Gewänder, die teils kunstfertig mit freihändig gemalten floralen Mustern verziert sind, etwa das bemalte Brokatgewand von König Salomon/David (?) oder auf der Marienseite, gleich zweimal, ein feines goldenes Muster, das Stickereien mit Goldfaden imitiert. Die Gesichter sind individualisiert und differenziert herausgearbeitet. Die Hände sind in unterschiedlichen Haltungen wiedergegeben und zeichnen sich durch lebhafte Gestik aus
– ausgestreckt, weisend, zeigend. Die Handmotive dürften auf Vorlagen oder gar auf Schablonen zurückzuführen sein, mit deren Hilfe die Konturen übertragen wurden25. Die Finger erscheinen zuweilen eng gebündelt und sind lediglich durch breite, braune Konturstriche voneinander unterschieden (z. B. die ausgestreckte Hand des Heiligen im rechten Flügel der Christusseite im rechten unteren Feld). Die Hautfalten über den Gelenken sind eingezeichnet, ebenso die Fingernägel. Vereinzelt sind einfache Pflanzendarstellungen auszumachen – anscheinend nur auf der Christusseite: oval geformte, rote Blüten oder Früchte, denen ein breiter, pastoser Pinselstrich in Weiß an die Unterseite gesetzt ist (Abb. 359). Das Blattwerk dieser Pflanzen besteht aus einem schmalen, geschwungenen Stängel, von dem flott gemalte Blätter abgehen.
PLASTISCH GESTALTETE ZIERLEISTEN Jede Tafel ist von einer in Rot (außen) und Grün (innen) gemalten Umrahmung eingefasst, auf die Rosetten in Silber aufschabloniert sind (Abb. 362). Darüber hinaus wird jede Tafel von einer kunstfertig modellierten, in Pastiglia-Technik gestalteten, plastischen Zierleiste in je vier gleichgroße Felder unterteilt, die insgesamt sechzehn Bildfelder entstehen lassen (Abb. 354, 355)26. Die ca. vier Zentimeter breite Zierleiste wurde mit dekorativen spiral- oder rautenförmigen Zierformen und Noppen gestaltet und vergoldet; erhabene Stellen wurden zusätzlich rot bzw. grün gelüstert, um schimmernden Steinbesatz (Edelsteinimitationen oder Carbochon) in ovalen bzw. runden Fassungen zu imitieren. Auch die Spitzen der Turmhelme wurden mit ovalen Pastiglia-Ornamenten versehen. Die Zierleiste bietet große ornamentale Vielfalt und farbliche Abwechslung und erinnert an raffiniert getriebene Goldfolie filigraner Goldschmiedearbeiten und Reliquiare, etwa der Schrein der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom (um 1181–1230).
KUNSTHISTORISCHE EINORDNUNG
Abb. 359. Linker Flügel der Christusseite, Feld rechts oben
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Einige Motive am Doberaner Kreuzaltarretabel weisen eine erstaunliche Nähe zu Werken des Hamburger Malers Bertram von Minden auf, insbesondre dessen Retabel für den Hochaltar der Hamburger Petrikirche (sog. Petri-Retabel), entstanden in Hamburg 1379–83. Dazu gehört neben dem hl. Johannes Evangelista (Abb. 358) auch das Relief des am
Abb. 360. Kunsthalle Hamburg, Petriretabel, Meister Bertram, Erschaffung der Pflanzen, Detail
Abb. 361. Schleswig-Holsteinische Landesmuseen auf Schloss Gottorf, Landkirchener-Retabel, Detail
Abb. 362. Linker Flügel der Christusseite, Feld unten rechts
Abb. 363. Kunsthalle Hamburg, Petriretabel, Meister Bertram, Segnung Jakobs, Detail
Ast aufgehängten Schafbocks in der Szene „Opferung Isaaks“. Dieser Umstand bot wiederholt Anlass für eine Zuschreibung des Doberaner Kreuzaltarretabels an Meister Bertram oder an eine Werkstatt in seinem direkten Umkreis27. Meister Bertram ist in Hamburg seit 1367 nachweisbar, aber erst 1376 wird er in der Liste der Meister des Maleramtes erwähnt28. Der Entstehungszeitpunkt der Doberaner Gemäldetafeln ist jedoch unklar. Wolfgang Erdmann mutmaßte, dass die Tafeln noch vor der Auftragserteilung für das Hamburger Petri-Retabel entstanden seien29. Diese Ansicht teilt auch Johannes Voss30, während Uwe Albrecht sich auch eine etwas spätere Entstehung des Kreuzaltarretabels vorstellen könnte31. Die Zuschreibung der Doberaner Gemäldetafeln an Meister Bertram wird vor allem mit einigen Übernahmen von Mo-
tiven begründet. Diesen Motiven wären noch etliche Architekturelemente hinzuzufügen, wie Turmerker, Runddächer, Vierpässe, Pultdächer mit Klosterziegeldach und Walmgaube, die in nahezu identischer Form im Hamburger Petri-Retabel auftauchen, ebenso das Motiv des Akanthusblattes, wenngleich in Doberan die Ausführung schematischer ausfällt (Abb. 362, 363). Neben einer Erdbeerpflanze ist im Hamburger Petri-Retabel noch eine andere, nicht bestimmbare Pflanze dargestellt, die ebenfalls in Doberan wiederkehrt (Abb. 359, 360). Dasselbe Pflanzenmotiv kehrt interessanterweise im Landkirchener-Retabel in der Polychromie der Felsenlandschaft wieder (Abb. 361)32. Uwe Albrechts Vorschlag, das Landkirchener-Retabel dem Umkreis Meister Bertrams anzugliedern, findet hiermit ein weiteres Argument33, zumal das Doberaner- und Landkirchener-Retabel auch übereinstimmende Montagedetails aufweisen34.
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Abb. 364. Historische Aufnahme des Petriretabels, Gemäldeseite des linken inneren Flügelpaars während seiner Restaurierung 1903/04
Diese These wird zudem durch werk- und maltechnische Beobachtungen gestärkt35. Zu den Besonderheiten des Doberaner Kreuzaltarretabels gehören ebenso reich modellierte Zierleisten (Abb. 359). Sie dienten sowohl der Strukturierung als auch Aufwertung des Retabels. Möglicherweise kamen solche Leisten weitaus häufiger vor, als die Überlieferung uns heute vermuten lässt. Sie konnten sehr unterschiedlich gestaltet sein was sowohl das Material (z. B. Holz [bearbeitet], [Weich-]Metall, Stuck oder Bemalung [mit und ohne Vergoldung]) als auch den Umfang ihrer Ausführung betraf. Obgleich es sich bei der heutigen Zierleiste des PetriRetabels – gegen allgemein verbreiteter Annahmen36 – nur um eine spätere, sehr freie Nachbildung handelt (die im Zuge der Restaurierung des Retabels 1903/04 hinzugefügt worden ist und sich vermutlich am Doberaner Kreuzaltarretabel orientiert hat), hatte dieses Retabel sehr wohl ursprünglich eine in der Pastigliatechnik gestaltete Zierleiste besessen, wie historische Fotoaufnahmen eindeutig belegen (Abb. 364). Überzeugende Argumente für eine Zuschreibung der Malereien an Meister Bertram liefern vor allem einige der relativ gut erhaltenen Gesichter, wie das des Evangelisten Johannes. So kehren bestimmte Merkmale, wie ovale Gesichtsform, schwach gebogene, wulstige, gleichgroße Ober- und Unterlippe, knubbeliges Kinn und fleischige Wangen, glattes,
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ebenmäßiges Inkarnat, breiter Hals und insgesamt ein sanfter Gesichtsausdruck (Abb. 365), im Petri-Retabel wieder (z. B. Engel in der „Vertreibung aus dem Paradies“, Maria in der „Verkündigung“ und „Christus im Tempel“ und Gottvater). Wenngleich sich in Werken von Meister Bertram kein einziges direktes Vergleichsbeispiel zum Doberaner Johannes findet, das die gleichen wild gerollten, abstehenden Korkenzieherlocken aufweist (wie sanft, fast spröde wirkt im Vergleich dazu der Johannes im Passionsretabel in Hannover!), so steht diesem doch der Adam im linken inneren Flügelpaar des Petri-Retabels recht nahe (Abb. 366). Noch offensichtlicher werden diese Bezüge im Doberaner Apostel Petrus, der sich durch eine breite, kantige Kopfform im Dreiviertelprofil, knollige Nase, buschige Augenbrauen und einen eckig geschnittenen Bart kennzeichnet (Abb. 353, 367). Diese physiognomischen Merkmale finden sich exakt im Hamburger Petri-Retabel wieder, diesmal bei Isaak (Abb. 368). Dabei handelt es sich hier nicht nur um rein motivische Übernahmen, sondern um maltechnische Übereinstimmungen: Bei beiden Heiligen ist das Inkarnat pastos gemalt, die Malfarben wurden nass-in-nass miteinander vermalt und das dunkle Rosa des Inkarnats ist mit Weiß ausgemischt. Die Kontur der knolligen Nase ist mit einem rotbräunlichen Pinselstrich hervorgehoben, die Lider und die geschwollenen Tränensäcke sind mit zwei halbrunden Linien und einer einzelnen Linie neben der Nasenwurzel definiert. Über die dunklen Augenbrauen sind zusätzlich einzelne weiße Haare eingemalt, die an den Wurzeln weiß und an den Enden dunkel sind. Das kahle Haupt von Petrus wird von kleinen, grauen Löckchen gesäumt, denen ein spiralförmiger, einzelner Pinselstrich in Weiß aufgesetzt ist, um der Form Nachdruck zu verleihen. Die Augenbrauen sind kurz und extrem buschig – ein Merkmal, das auch bei anderen Figuren
Abb. 365. Rechter Flügel der Christusseite, Feld unten links, Detail: Kopf des Johannes Evangelista
Abb. 366. Kunsthalle Hamburg, Petriretabel, Meister Bertram, linker innerer Flügel, Detail: Erschaffung Adams, Gesicht Adams
Abb. 367. Rechter Flügel der Christusseite, Feld oben links, Detail: Petrus
Abb. 368. Kunsthalle Hamburg, Petriretabel, Meister Bertram, linker innerer Flügel, Detail: Isaak
Meister Bertrams wiederkehrt, ebenso die tiefen Falten auf der Stirn und oberhalb der Nasenwurzel (vgl. Abb. 369). Zum Schluss sei das Augenmerk noch einmal auf die Unterzeichnung gerichtet. In der Unterzeichnung von Bertrams Passionsretabel in Hannover (Abb. 370) wird man einen Zeichenduktus gewahr, der in seiner Ausführlichkeit und Präzision dem des Kreuzaltarretabels nicht nachzustehen scheint (Abb. 317–319). Allerdings wäre hierfür eine umfassende Untersuchung erforderlich. Der enge Zusammenhang der Doberaner Gemäldetafeln mit den Werken von Meister Bertram scheint durch die hier dargelegten Beobachtungen an Plausibilität zu gewinnen37. Die hohe künstlerische Raffinesse und starke Ausdruckskraft, die diesen Fragmenten trotz ihres schlechten Erhaltungszustandes bis heute innewohnt, tragen zu diesem Eindruck bei. Gleichwohl bleibt es weiterhin problematisch, die Zusammenhänge noch präziser zu benennen. Der Wunsch nach
einem offensichtlich vorhandenen, klarer umrissenen Bild vom Oeuvre des Malers ist groß, aber im Grunde sind die Möglichkeiten angesichts der wenigen Werke sehr begrenzt.
Abb. 369. Kunsthalle Hamburg, Petriretabel, Meister Bertram, linker innerer Flügel, Detail: Kain
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denstellend zu erfassen mit allgemeinen Begriffen wie „Entwicklung“, „Meisterhand“, „Werkstatt“, „Geselle“? Dies lässt nur den zugegebenermaßen unbefriedigenden Schluss zu, dass eine klar definierte Einordnung der Doberaner Tafeln in das Oeuvre Meister Bertrams weiterhin offenbleiben muss. Allerdings offenbart sich gerade anhand der Doberaner Tafeln die Notwendigkeit, in kunsthistorische Betrachtungen eben auch solche Werke einzubeziehen, die aufgrund ihres Erhaltungszustandes bisher nicht oder nur unzureichend Beachtung gefunden haben.
ABSTRACT
Abb. 370. Landesmuseum Hannover, Passionsretabel, Außenseite des rechten Flügels, IRR, Detail: Marienkrönung
Aus welcher Richtung könnte also eine Annäherung erfolgen? Dies erfordert zunächst einmal eine Entscheidung, ob entweder die Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten überwiegen. Kann aber eine so geringe Zahl von Werken wirklich hinreichend Argumente für Zuschreibungen (bzw. Werkstattzusammenhänge) oder gar für Datierungen (bzw. Darstellung eines künstlerischen Werdegangs) liefern? Inwieweit sind hier herkömmliche methodische Ansätze legitim? Wo stoßen wir an Grenzen, und sind Zusammenhänge zufrie-
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The retable of the rood altar was presumably completed around the date of the minster‘s consecration in May 1368 or shortly afterwards. The double winged retable is equipped with two display sides and paintings on the outside. These are of high quality, but due to their poor state of preservation they have remained almost unnoticed until now. Studying them can undoubtedly make an important contribution to the research of medieval panel painting in Northern Germany in the 14th century, especially since they are closely related to works by the painter Bertram von Minden, who has been documented in Hamburg since 1367, and in particular to his Petri-Retabel. Convincing arguments for a connection of the Doberan altarpiece with Master Bertram are certain features of some of the relatively well-preserved faces, such as the oval shape of the face, the chubby cheeks, the only slightly curved, bulging and equally large upper and lower lips, the smooth and even incarnate, the knobbly chin, the overall gentle facial expression and the wide neck.
ANMERKUNGEN 1 2
Vgl. LAABS 2000, S. 69. Für eine ausführliche Beschreibung s. LAABS 2000, S. 68f. – Maßangaben nach WOLF 2002, S. 144. – Zur Zusammengehörigkeit von Retabel und Triumphkreuz: VOSS 1989, S. 141–144 und VOSS 1994, S. 112, 114f. – Zur Standortfrage s. FRÜNDT 1969, S. 17f.; VOSS 1989, S. 141ff., LAABS 2000, S. 69f. und zuletzt THIELE 2016, S. 195ff. 3 Vgl. LAABS 2000, S. 68 und S. 197 Anm. 450, für Beispiele von Mariendarstellungen auf Rückseiten von Kruzifixen byzantinischer Goldschmiedekunst und der mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Steinplastik, s. a. BEER 2005, S. 237 Anm. 66. – Zum Bildprogramm des Triumphkreuzes, s. BEER 2005, S. 235ff. 4 Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein, ALBRECHT 2005, 2012, 2016 (bisher erschienen: Bde. 1-3: St. Annen-Museum, Lübeck; Kirchen in Lübeck; Sammlung der Schleswig-Holsteinischen Museen auf Schloss Gottorf, Schleswig). 5 In Lübeck verblieben in protestantischer Zeit viele Heiligenbilder an ihrem bisherigen Standort, weswegen ihnen durchgängig Pflege zu Teil wurde (Kirchenordnung 1531). In den ländlichen Gebieten wurde mit diesen Objekten dagegen weitaus weniger behutsam verfahren. 6 Ein prominentes Beispiel ist das Landkirchner-Retabel, dessen Flügelaußenseiten wahrscheinlich zwischen 1610 und 1640 neu bemalt wurden; vgl. Bernd Bünsche, Die bemalten Außenseiten der Flügel des Landkirchener Retabels, in: ALBRECHT/BÜNSCHE 2008, S. 36–38 und ALBRECHT 2016, Kat.Nr. 13 (Ulrike Nürnberger). 7 Siehe dazu ausführlich Bernd Bünsche in: ALBRECHT 2016 (Einleitung). 8 Dazu ausführlich VOSS 1989, S. 141–143 und Abb. 3f., mit historischen Aufnahmen des Kreuzaltarretabels vor dem Westfenster; vgl. LAABS 2000 und zuletzt Thiele 2016, S. 195–211 mit Abb. und insbes. S. 196. – VOSS 1994, S. 112: „Konservatorisch zwingend wurde die Rückversetzung, um die auf der Marienseite des Kreuzes verbliebenen Reste der ursprünglichen Polychromie zu retten, deren weitere Reduzierung infolge der Witterungseinflüsse durch das große Wandfenster (Sonneneinstrahlung, eindringende Feuchtigkeit) beständig voranschritt“. 9 Bereits MARTENS 1936, S. 18 identifizierte nur noch die Apostel Petrus und Johannes Evangelista sowie einen König mit Krone, einen Priester (vielleicht Melchisedech), einen weiteren König mit Zepter, eine männliche Figur in modischer Tracht, einen Bischof mit Mitra und Paulus mit Schwert. 10 Der ursprüngliche Standort des Retabels ist nicht überliefert, konnte aber aufgrund archivalischer und bauarchäologischer Befunde (drei Gewölbelöcher für die Kettenführung zur Verankerung und Verspannung des Triumphkreuzes) rekonstruiert werden; hierzu ausführlich VOSS 1994, S. 112, 114f. 11 Die Planung und Durchführung der Restaurierung hat Voss in diversen Vorträgen erläutert. Seine handschriftlichen Notizen werden in der Verwaltung des Doberaner Münsters aufbewahrt. Ich danke ganz besonders Martin Heider für die Unterstützung meiner Recherchen.
12 Für die Transkription und Identifizierung sämtlicher Inschriften auf den Schriftbändern danke ich Dr. Christine Magin, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Arbeitsstelle Inschriften an der Universität Greifswald. 13 LEGENDA AUREA 2014, Bd. 1, S. 112f. 14 SIEJEK/KIRSCH 2004, S. 85, 87, 89 zufolge war der Pinsel das wichtigste und am meisten verwendete Arbeitsgerät bei Unterzeichnungen. 15 Vgl. z. B. die ausführlichen Unterzeichnungen des jüngeren westfälischen Malers Conrad von Soest, der zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht tätig war, zuletzt bei SANDNER 2007/2008. 16 Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Die Bibel. Gesamtausgabe. Psalmen und Neues Testament. ökumenischer Text, hrsg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, österreichs, der Schweiz, der Bischöfe von Luxemburg, Lüttich und Bozen-Brixen. Für die Psalmen und das Neue Testament auch im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart/Klosterneuburg 1993. 17 Ebd. 18 VOSS 2001, S. 139 Abb. 23 und VOSS 2008, S. 72 Bildunterschrift links. – Der Prophet zeigt Ähnlichkeit mit einer Darstellung im Hochaltarretabel der St. Jakobskirche in Nürnberg; dort ist die Figur als Prophet ausgewiesen; vgl. KAHSNITZ 2001, S. 92, Abb. 9. 19 MARTENS 1936, S. 18. 20 Lt. Christine Magin ist der letzte Buchstabe von suppli(ciu)m in verkleinerten Buchstaben über der Zeile ausgeführt. „Ende des letzten Wortes [- - -] atoru[(m)] ist auf dem verfügbaren Foto nicht sicher zu erkennen, denkbar auch [- - -] aturu[(m)].“ Versal C mit Binnenverzierung. 21 Als Zeugen für die wunderbare Geburt des Erlösers kommen Propheten z. B. auch am Triumphkreuzbalken im Dom zu Halberstadt oder am Hochaltarretabel der St. Jakobskirche in Nürnberg vor und viel früher am Heribert-Schrein (Köln-Deutz, um 1170) und am Schrein der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom (um 1181– 1230); s. KÜNSTLE 1928, Bd. 1, S. 304f. 22 S. die Beiträge von Gerhard Weilandt und Vera Henkelmann in diesem Band zur Madonnenfigur, die ursprünglich das Zentrum des Schreins im Hochaltarretabel bildete und erst in späterer Zeit zum Marienleuchter umfunktioniert wurde. 23 WOLF 2002, S. 354f.; BEER 2005, S. 238f.; VOSS 2008, S. 63f. 24 Die Schablonen wurden vermutlich aus Pergament oder auch aus Metallblech, wie Kupfer oder Blei, ausgeschnitten; s. dazu KAT.KöLN 2013, S. 119f. 25 Der Nachweis von Verwendung von Schablonen bei der Anlage von Gesichtern im Profil z. B.: VON BAUM/SCHÄFER 2013, S. 95. 26 Zur Technik s. KÜHN/ROOSE-RUNGE/STRAUB 1988, Bd. 1, S. 170–172. Neuerdings HARTWIEG 2010, S. 225 (Erhabenes Musterband in Pastiglia-Technik) mit weiteren Beispielen. 27 Vgl. VOSS 2008, S. 72. 28 SITT 2007, S. 53. 29 Vgl. ERDMANN 1995, S. 63. 30 VOSS 2008, S. 72 zufolge, hätte Bertram die Möglichkeiten genutzt, die sich ihm mit der Politik Kaiser Karls IV. und insbeson-
Die Gemälde des Kreuzaltarretabels des Doberaner Münsters | 377
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dere durch das Episkopat Albrechts von Sternberg in der Diözese Schwerin boten, und Arbeiten am unvollendeten Bau der Klosterkirche und ihrer Ausstattung bis zur Schlussweihe und wohl auch noch in der Folgezeit übernommen. Uwe Albrecht: Zur kunsthistorischen Stellung und Einordnung des Landkirchener-Retabels, in: ALBRECHT/BÜNSCHE 2008, S. 48. Vgl. dazu auch den Beitrag von Peter Knüvener in diesem Band. Das Retabel befand sich ursprünglich in der Kirche von Landkirchen auf der Insel Fehmarn und ist dendrochronologisch kurz nach 1370 datiert; jetzt Schleswig-Holsteinische Landesmuseen auf Schloss Gottorf, Inv.Nr. 1898/234; vgl. ALBRECHT 2016, Kat. Nr. 13 (Ulrike Nürnberger). ALBRECHT/BÜNSCHE 2008, S. 44–53, bes. S. 53. Lt. mündlicher Auskunft von Prof. Dr. Uwe Albrecht, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei, gleicht die Montage des Doberaner Schreins, zumindest was die unteren Eckverbindungen betrifft, derjenigen des Landkirchener-Retabels. In Doberan handelt es sich bei der Eckverbindung um einen geraden Fingerzapfen, der zwischen waagrechten und senkrechten Hölzern der Rahmenzarge eingelassen ist und durch Dübel gesichert wird. Dieses Konstruktionsmerkmal lässt sich laut Albrecht an den Anfang des letzten Viertels des 14. Jhs. datieren. Ich danke Dipl.-Restauratorin Silvia Castro, Leiterin der Abteilung Konservierung/Restaurierung und Kunsttechnologie der Hamburger Kunsthalle, für ihre freundliche Unterstützung bei der Untersuchung des Petri-Retabels und die anregende Diskussion vor dem Original.
36 Abbildungen bei HAUSCHILD 2008, S. 65 zur Restaurierungsgeschichte des Petri-Retabels und Abb. 4 und 5 mit Zustand vor der Restaurierung von 1903/04: „Bereits in Grabow waren die einzelnen Bildfelder nur noch durch Leisten voneinander getrennt, da man die plastischen Stege für die früheren Restaurierungen und Übermalungen abgeschliffen hatte. Die Stege bestanden nach Lichtwarks Kenntnis ursprünglich aus farbig gefasstem ‚Stuck‘ und ahmten Goldschmiedearbeiten nach. Er ließ sie nach dem Vorbild des Buxtehuder Retabels wiederherstellen […] bei dem der originale Binnenrahmen noch erhalten war.“ – Dass es sich sowohl beim Petri-Retabel als auch beim sog. Buxtehuder Retabel um Rekonstruktionen der Zierleiste handelt, wird an der gegenüber Doberan viel gleichmäßigeren Bearbeitung der Ornamente und durch das Fehlen jeglicher Abnutzungsspuren und Beschädigungen deutlich (diesen Hinweis verdanke ich Silvia Castro). – In SITT/HAUSCHILD 2008, Abb. 50 auf S. 57, die Zierleiste des Petri-Retabels fälschlich als Original bezeichnet, vgl. auch HAUSCHILD 2002, S. 43. Dagegen bei SITT 2007, S. 53: „ […] und die Stege zwischen den Bildfeldern erneuert.“ – Auch die Zierleisten des Buxtehuder-Retabels irrtümlich als original bezeichnet vgl. LICHTWARK 1896–1920, Bd. 11, S. 57 (17.4.1903); von SITT 2007, S. 66 übernommen. 37 Neben einigen kleineren Werken, die mit Meister Bertram und seiner Werkstatt assoziiert werden, sind dies vor allem die drei Werke in der Hamburger Kunsthalle, das Passionsretabel im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover, die Apokalypse-Tafeln im Victoria & Albert Museum in London und die Tafeln im Musée des arts décoratifs in Paris.
Abb. 371. Detail aus Abb. 354
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ÜBERLEGUNGEN ZU WERKSTATT UND DATIERUNG DES DOBERANER SAKRAMENTSHAUSES Peter KNüVeNer
Eines der zentralen Ausstattungsstücke des Doberaner Münsters ist der Sakramentsturm im Hochchor. Er ist nach der überwiegenden Forschungsmeinung Teil einer Ausstattungskampagne, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Abschlussweihe des Münsters 1368 steht1. Dieser werden in der Regel auch der Kreuzaltar samt Triumphkreuz, das untere Register des Hochaltarretabels, eine Erweiterung des Mönchsgestühls sowie der Marienleuchter zugeordnet2. Auch die Maßwerkverkleidung des sogenannten Oktogons ist wegen formaler Ähnlichkeiten im Zusammenhang mit besagten Ausstattungsstücken gesehen worden, obwohl man sie – aufgrund der vorhandenen Wappen – später datiert hat3. Künstlerisch werden diese Objekte stets eng zusammengerückt, was suggeriert, dass es ein übergeordnetes Ausstattungskonzept gegeben hätte4. Die Skulpturen des Sakramentshauses selbst wurden schon früh in den Zusammenhang mit den Schnitzwerken des Retabels in Arendsee, bisweilen auch mit jenen des Hamburger Petrikirchaltars von Meister Bertram (in der Hamburger Kunsthalle) gebracht. Von den Malereien des Hamburger Retabels führen unbestreitbare Verbindungen zu den Malereifragmenten des Doberaner Lettneraltars. Die vermeintliche Abschlussweihe des Münsters lag in einer politisch bemerkenswerten Zeit für das Herzogtum Mecklenburg, denn Kaiser Karl IV. hatte die Position Johanns und Albrechts II. aufgewertet, indem er sie 1348 zu Herzögen erhob und von der Lehnsabhängigkeit Brandenburgs, Sachsens und Dänemarks befreite5. Die guten Kontakte der Herzöge zum Kaiser hat man ebenso als Erklärung für postulierte böhmische Einflüsse auf die Ausstattung des 14. Jahrhunderts in Anspruch nehmen wollen wie die Tatsache, dass der Mähre Albrecht von Sternberg – ein Vertrauter Karls – 1356–64 Bischof der zuständigen Diözese Schwerins war6.
Ein Problem ergibt sich aber aus der Datierung der besagten Doberaner Ausstattungsstücke. Im Verhältnis zu den teilweise durchaus verlässlich datierten Vergleichsobjekten wären sie deutlich früher entstanden, und Doberan hätte in jeder Hinsicht eine im Grunde schwer erklärbare künstlerische Vorreiterrolle innegehabt. Die genaue Betrachtung zeigt aber, dass weder eine Frühdatierung zwingend oder gar wahrscheinlich ist, noch dass für die meisten der Werke ein böhmischer Einfluss augenfällig ist. Viel plausibler ist es, die Doberaner Ausstattung vor dem Hintergrund einer bereits blühenden und auf die großen Zentren des Hanseraums zurückgehenden Werkstatttradition zu verstehen, womit eine Datierung vor 1380 kaum denkbar ist. Am Ende dieser Tradition stehen Werke wie die Lüneburger Goldene Tafel (1420er Jahre).
AUFBAU DES SAKRAMENTSHAUSES 7 Der im Chor zur Rechten des Hauptaltars hoch aufragende, sechsseitige Sakramentsturm besteht aus einem mit thronenden Figuren besetzten Sockel, über dessen Blattkapitell vier weitere Geschosse aufsteigen (Abb. 373, 392). Zunächst folgt das Hauptgeschoss, welches das Tabernakel aufnahm und dessen Seiten mit Standfiguren besetzt sind. Darüber folgen zwei reine Maßwerkgeschosse sowie die krabbenbesetzte Spitze, die in einer Kreuzblume mündet. Die Konstruktion wirkt äußerst filigran und schlank, was aus den gestreckten Proportionen bei relativ kleiner Grundfläche resultiert. In dieser Wirkung korrespondiert der Turm deutlich sichtbar mit den drei Türmen des Hochaltarretabels, hebt sich in den Detailformen freilich von jenen ab. Bei den thronenden Figuren im Sockelgeschoss handelt es sich um alt-
Linke Seite: Abb. 372. Sakramentshaus, Sockelgeschoss mit Sitzfiguren aus dem Alten Testament, Abel und David
Abb. 373. Blick in den Chor von Südwesten
testamentarische Personen (Abel, David, Melchisedek, Deborah und Moses, die Figur des hl. Bernhard ist eine Ergänzung des 19. Jahrhunderts), im Hauptgeschoss befinden sich die Figuren Johannes d. T., Petrus, Paulus, Jakobus d. Ä., Maria und Johannes Ev. Ein nah verwandtes, etwas kleineres Sakramentshaus befindet sich im Zisterzienserinnenkloster zum Heiligen Kreuz in Rostock8. Ob die Türme aus derselben Werkstatt stammen, bedürfte einer exakten Untersuchung beider Objekte9, denn eine solche fehlt – im Gegensatz zum Kreuzaltar – auch für Doberan. Während dieser unter der Leitung von Johannes Voss restauriert und ausgiebig untersucht wurde, fanden am Sakramentsturm keine größeren Maßnahmen statt. So sind z. B. keine Fotografien der Rück- und Unterseiten der Figuren bekannt (auch im Zusammenhang dieser Studie war eine Abnahme nicht möglich). Da das Sakramentshaus – wie der Hochaltar und weite
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Teile des Kreuzaltars auch – im 19. Jahrhundert eine komplette Neufassung erhielt10, lassen sich zur schnitzerischen Bearbeitung nur begrenzt Aussagen treffen. Ob es sich beim Doberaner Sakramentsturm um „den ältesten seiner Art in Norddeutschland“ handelt, darf – zumindest in der Absolutheit der Aussage – bezweifelt werden11. Wie bereits angedeutet, ist es höchst unwahrscheinlich, dass er zur Weihe von 1368 fertiggestellt war.
DIE SKULPTUREN DES SAKRAMENTSHAUSES Die Skulpturen zeichnen sich durch auffällig gedrungene Proportionen aus (Abb. 372, 374). Die Figuren des Sockels thronen meist schräg zur Seite gerichtet. Sie sind in enganliegende Gewänder gehüllt, die zwischen den Knien eine
Abb. 374. Sakramentshaus, Hauptgeschoss, Detail: Johannes Baptista und Maria
Überlegungen zu Werkstatt und Datierung des Doberaner Sakramentshauses | 383
zusammengedrückte Schüsselfalte bilden. Auch die Draperien der Standfiguren sind körperbetont, die Gewänder spannen sich regelrecht um den Leib. Dabei sind die wenig tiefen Falten nicht sehr kantig, sondern abgerundet. Durch den straffen Gewandfaltenstil wird die Gedrungenheit der Figuren betont. Insgesamt wirken die Konturen sehr geschlossen, die Figuren kompakt. Dazu passt, dass die Figuren kaum bewegt sind und kaum im Kontrapost stehen. Verhältnismäßig groß sind die regelmäßig ovalen Köpfe mit flachen, fülligen Gesichtern. Die Augen liegen recht weit auseinander, Nasen und Münder sind mäßig groß. Weibliche und bartlose Figuren lächeln in der Regel, während die bärtigen Akteure meist einen „grimmigen“ Charakter haben. Das wird besonders durch Vertikalfalten oberhalb der Nasenwurzel sowie tiefliegende, nach innen gezogene Brauen verursacht. Das Kinn ist weich, die Jochbeine sind meist betont. Bei dem bärtigen Typus fällt eine vorgeschobene Unterlippe auf. Die Haare und Bärte sind mit dem Schnitzmesser mäßig fein ausgearbeitet, die Locken werden durch die unterschiedlich gesetzten sichelförmigen Ausstiche der Hohleisen gebildet. Ob es darüber hinaus eine Modellierung durch die Grundierung gab ist unklar, aber wenig wahrscheinlich. Sind die Haare länger, werden sie seitlich in einem Schwung nach hinten geführt. Hier gibt es die auffällige Frisur, in der es einen inneren Haarwulst gibt, über dem der Großteil der Haare in einem Schwung nach außen geführt wird (Abb. 372, 381). Längere Bärte laufen oft spitz zu und sind aus deutlich getrennten, einander überlappenden „Hauptsträhnen“ gebildet, die von der Oberlippe bzw. vom Kinn und den Backen ausgehen. Kurze Bärte sind gerade gestutzt. Die Schnitzerei ist im Bereich der Gesichter recht weit getrieben, so sind die Detailformen – besonders die Augen – schnitzerisch angelegt. Ober- und Unterlider sind modelliert. Die Formen wirken daher bisweilen scharfkantig.
DIE MASSWERKE DES SAKRAMENTSHAUSES Die flachen Nischen der Sitzfiguren sind von Maßwerken überfangen, die aus einem Spitzbogen bestehen, der in ein Rechteck eingeschrieben ist und seinerseits von einer Rosette (manchmal einem sphärischen Dreieck) und einem Dreipassbogen gefüllt wird (Abb. 372, 382)12. Die Figurationen der Rosetten bieten Raum für Variationen. Dieses sehr geometrisch konstruierte Grundmotiv13 eines Maßwerkschleiers findet sich bei zahlreichen weiteren, nämlich den oben genannten, Kunstwerken in Doberan, egal wie kompliziert die
384 | Peter Knüvener
Baldachinkonstruktionen dann auch insgesamt ausgeführt sind. Es ist aber auch gewissermaßen ein Erkennungszeichen einer größeren Gruppe von Kunstwerken, die auch auf andere Weise verknüpft sind. Es wirkt wie ein Modul und unterscheidet sich damit grundlegend von Maßwerkformen anderer norddeutscher Retabel besonders im westfälischen und südniedersächsischen Gebiet. Es seien zur Abgrenzung nur die Retabel aus Braunschweig (Brüdernkirche, 1380er Jahre), Göttingen (Jacobikirche, 1402), Minden (im Bodemuseum, 1420er Jahre, Abb. 382e) genannt, die teilweise ihrerseits untereinander verwandt erscheinen. Im Obergeschoss des Sakramentshauses finden sich Baldachine, die aus zwei derartigen, übereck gestellten „Modulen“ bestehen und durch ein durchbrochenes „Obergeschoss“ ergänzt sind, das als Folie für eine über dem Spitzbogen aufsteigende Fiale dient. Fiale und auch der Bogen sind krabbenbesetzt, diese Krabben sind in der Art gebuckelter Weinblätter gestaltet. Die im Vergleich zu den unteren Bereichen sehr gestreckt wirkenden oberen Partien des Turmes sind aus langgezogenen Spitzbogenarkaden gebildet, die durch Maßwerkbalustraden untergliedert werden.
SKULPTUREN UND MASSWERKE IM VERGLEICH MIT KREUZALTAR, TRIUMPHKREUZ, UNTEREM REGISTER DES HOCHALTARRETABELS UND OKTOGON Die vereinheitlichende Wirkung der Maßwerke hat zur Folge, dass die gravierenden Unterschiede der Skulpturen auf den ersten Blick in den Hintergrund treten. Bei den Figuren des Kreuzaltares weichen die teils extrem gestreckten Proportionen ab, ganz besonders auf der „Christusseite“ (also der Westseite)14. Man kann sich kaum vorstellen, dass derselbe Schnitzer, der den fast schon gnomenhaften sitzenden David am Sakramentshaus schuf, Gestalten wie den langbeinigen Pilatus in der Verurteilung Jesu schnitzen konnte. Auch die Detailgestaltung ist meist abweichend. So sind die Frisuren oft nur bossenhaft gebildet, weil sie ehedem durch die Fassung – also strukturierte Grundierung und Bemalung – Gestalt erhielten. Freilich gilt das nicht für alle Reliefs des Altars: Adam und Eva z. B, wo die Frisuren durchaus strukturiert sind. Ferner sind die Augen der Figuren am Kreuzaltar in der Regel ebenfalls nur als Buckel angelegt, um dann malerisch ausgeführt zu werden – ein bis ins frühe 15. Jahrhundert sehr übliches Vorgehen15. Der Gewandfaltenstil der
Abb. 375. Kunsthalle Hamburg, Petriretabel, Predella, Gregor
Abb. 376. Kunsthalle Hamburg, Petriretabel, Hl. Jacobus Major
Kreuzaltarreliefs ist jedoch grundsätzlich demjenigen der Skulpturen des Sakramentshauses ähnlich, wie man besonders beim Verkündigungsrelief sehen kann, wo Gabriel und Maria in straff um den Leib gespannte Gewänder gehüllt sind. Die Reliefs an den Kreuzbalken wiederum scheinen zumindest zum Teil vom Schnitzer des Sakramentshauses zu stammen. Die Figuren sind viel gedrungener und kommen in den Proportionen den Sakramentshausfiguren sehr nahe. Besonders aber findet man die charakteristischen Frisurenformen. Konkret ließen sich die beiden Abel-Ausführungen sehr gut miteinander vergleichen (Abb. 372 und 391). Gänzlich anders sind die Skulpturen vom unteren Hochaltarretabelregister (Abb. 377). Die Gewänder scheinen lockerer aufzuliegen, sie bilden fließende Säume und recht plastische Schüsselfalten. Die Gestalten sind bewegt, schreiten aus und insgesamt viel variationsfreudiger, die Konturen sind nicht von derselben Geschlossenheit. Die Heiligen stehen stärker im Kontrapost und man kann noch ganz deutlich den gotischen S-Schwung ausmachen, für den der Schnitzer des Sakramentshauses kein Empfinden hatte. Die Figuren wirken so, als seien sie in einer älteren Tradition verhaftet. Grundverschieden sind auch die Köpfe und die Gesichter. Sie wirken kantiger, die Stirnen laufen winklig zu, sind nicht rund gebildet. Auch die Frisuren sind gänzlich anders gebildet und bestehen oft aus großförmigen Lockengebilden, die
Abb. 377. Hochaltarretabel, unteres Register, Hl. Andreas
manchmal ein Eigenleben zu führen scheinen. Ein zur Seite wehender Bart, wie ihn Andreas trägt, wäre dem Schnitzer des Sakramentshaus mit seinen brettartig starren Kompositionen nicht in den Sinn gekommen. Während die Schnitzwerke von Kreuzaltar, Triumphkreuz und Sakramentshaus durchaus nahe beieinander stehen und z. T. vom selben Schnitzer stammen, war am Hochaltar eine andere Künstlerpersönlichkeit tätig. Verwandt mit den Skulpturen des Hochaltars ist die qualitätvolle Apostelfigur, die zur Seite eines Kruzifixes in einer neuen Zusammensetzung im nördlichen Chorumgang steht16. Die Skulpturen wurden mit denjenigen in der Predella des Hamburger Petriretabels verglichen, was nicht zu überzeugen vermag17. Ebenso wenig nachvollziehbar ist ein Zusammenhang mit den Sakramentshausfiguren, welcher von Jens Christian Jensen postuliert wurde – doch dazu siehe unten18. Zur Ausstattung des Oktogons gehören nur kleine Kriegeroder Wächterfiguren im oberen Bereich, von denen allerdings nur die südliche mittelalterlich wirkt (Abb. 388c)19. Aufgrund der fehlenden sichtbaren Details – die Figuren tragen Rüstungen – ist ein Vergleich mit den Skulpturen des Sakramentshauses und des Kreuzaltars nur anhand rüstungsgeschichtlicher Aspekte zielführend, z. B. wenn man Gideon zum Vergleich heranzieht (Abb. 388b). Wenn man von dem Unterschied absieht, dass der Wächter ein (aufgeklapptes) Visier am Helm trägt, lassen sich prägnante Unterschiede
Überlegungen zu Werkstatt und Datierung des Doberaner Sakramentshauses | 385
Abb. 378. Arendsee, Benediktinerinnenklosterkirche, Hochaltarretabel, 1380er Jahre
benennen. Ähnlich sind die runde Helmform, der enge, ungegliederte Lentner mit tiefsitzendem Dusing, die spitzen Kniekacheln und die langen spitzen Eisenschuhe. Als Unterschied, der für eine frühere Datierung der Rüstung des Gideon spricht, ist der länger herabgezogene und in einer flachen Spitze zulaufende Lentnerschoß zu nennen. Vielleicht ist bei der Figur des Oktogons auch bereits ein Plattenharnisch mit Tonnenrock gemeint, was ebenfalls ins 15. Jahrhundert weist. Die erneuerte Fassung macht eine Beurteilung unmöglich. Deutlich altertümlicher ist die Rüstung des Sebastian vom unteren Hochaltarregister, wo der Lentnerschoß noch weiter herabgezogen ist (Abb. 388a). Dies ist die Rüstungsmode aus der Zeit um 137020! Die Figur des Oktogons kann kaum vor 1400 entstanden sein und die Rüstung des Gideon weist auch in die Zeit nach 1380.
SKULPTUREN IM ÜBERREGIONALEN VERGLEICH Die Sitzfiguren des Sakramentshauses hat man bereits früh mit den sitzenden Figuren in der Predella des Hamburger Petrikirchretabels verglichen (Abb. 375)21. Übereinstimmungen im Faltenstil liegen durchaus vor, wenngleich die
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Hamburger Figuren ungleich ausladender wirken. Sehr unterschiedlich sind jedoch die Köpfe und die Physiognomien. Die Gesichter sind breiter und kantiger, haben breitere Kiefer, während die Doberaner Gesichter ovaler, rundlicher gebildet sind. Die charakteristischen Züge der Doberaner Figuren findet man in Hamburg weniger ausgeprägt, allerdings ähneln sich zweifellos die Jünglingsgesichter oder einige der bärtigen Köpfe der Figuren aus Schrein und Flügeln des Petrialtars; beispielsweise Jacobus maior (Abb. 376). Auch schnitzerisch liegen klare Unterschiede vor, insbesondere die Haare sind meist anders gebildet, wirken weicher, weniger scharfkantig. Zudem sind viele der dortigen Figuren in einfallsreich bewegten Posen gegeben, was in Doberan nirgends in dieser Weise vorkommt. Zu anderen Schnitzwerken in der Doberaner Kirche gibt es mehr oder weniger enge Bezüge, auch wenn es nicht unzweifelhaft möglich erscheint, die Handschriften der Schnitzer des Hamburger Retabels in Doberan zu greifen. Am ehesten gelingt es am Kreuzaltar, wo Jünglingsgesichter wie die von Stephanus oder Michael an Gesichter wie das des Engels in der Opferung Isaaks erinnern. Die kantigen Köpfe der Hamburger Predellenfiguren ähneln denjenigen der Predellenfiguren des Kreuzaltars. Insgesamt wird man festhalten können, dass die Skulpturen des Sakramentshauses und des Petriretabels eine ähnliche
Abb. 379. Wilsnack, Wallfahrtskirche St. Nicolai, mittlerer Flügelschrein des Hochaltarretabels, um 1390
Auffassung zeigen und dass der Zeitstil derselbe ist. Darum ist das Hamburger Retabel als sicher datiertes Werk – gefertigt 1379–138322 – dennoch in diesem Zusammenhang wichtig. Außerdem kann kein Zweifel bestehen, dass die Malereien des Doberaner Kreuzaltars vom Maler des Hamburger Retabels – also Meister Bertram – stammen23. Wenn also die Skulpturen verschiedener Kunstwerke in Doberan von anderen Schnitzern geschaffen wurden als die Hamburger, ist trotzdem festzuhalten, dass die Werke in Verbindung stehen. Die Maßwerkbaldachine sind in Hamburg im Übrigen im Detail anders und grundsätzlich einfacher gestaltet, das oben beschriebene „Modulsystem“ findet sich hier nur in abgewandelter Form dergestalt, dass den Spitzbögen keine Maßwerkrosetten eingeschrieben sind. Viel engere Verbindungen hinsichtlich der Skulpturen und der Architekturformen als nach Hamburg gibt es zum Retabel in Arendsee24. Hier findet man identische Physiognomien und auch die Standfiguren lassen sich sehr gut vergleichen (Abb. 378, 380–382)25. Der eingehenden Analyse von Lothar Lambacher ist im Grunde genommen nichts hinzuzufügen: Die Standmotive, die Gewandfaltenbildung und die charakteristischen Physiognomien stimmen in einem Maß überein, dass man kaum daran zweifeln kann, dass hier
dieselben Schnitzer tätig waren26. Überdies sind die Maßwerke äußerst ähnlich gebildet: Alle Elemente und fast alle Profile finden ihre Entsprechung. Und selbst wenn es Abweichungen gibt, scheint man dieser Tatsache in diesem Fall keine sehr große Bedeutung zubilligen zu müssen. So sind die Blätter der Fialen am Sakramentshaus gebuckelt und an den Kanten gerade belassen, während sie in Arendsee ausfransen. Doch die Arendseer Form findet sich in Doberan am Kreuzaltar wieder, der somit auch in den engeren Vergleich einzubeziehen ist. Verbindungen zur Skulptur des Triumphkreuzes bestehen nämlich ebenfalls – man vergleiche nur die beiden Marienkrönungsgruppen (Abb. 386). Auch aus technologischer Sicht gibt es weitgehende Übereinstimmungen, so entsprechen die Kronenzacken aus Gussmetall – in Doberan weitgehend, jedoch wohl nach Befund erneuert, weitgehend einander (Abb. 384) 27. Die Arendseer Skulpturen sind nicht, wie vielerorts üblich, rückseitig ausgehöhlt28. Darüber hinaus haben sie zentrale, ca. 1 cm durchmessende Bohrungen und zusätzlich paarige Einspannspuren (Abb. 383) 29. Die Bohrungen sind in ihrer Art bisher erst selten beobachtet worden und stehen im Fall von Arendsee wohl nicht im Zusammenhang mit einer Verdübelung im Schrein, sondern sind auf den Fertigungsprozess zurückzuführen – vermutlich hatten sie eine Funktion im Zuge der
Überlegungen zu Werkstatt und Datierung des Doberaner Sakramentshauses | 387
Abb. 380. Stehende Heilige: a) Doberan, Sakramentshaus, Paulus; b) Arendsee, Retabel, mittlerer Apostel im linken Flügel; c) Wilsnack, linker Apostel im linken Flügel
Fassung der Figuren – ähnlich wie die fast immer anzutreffenden Bohrungen auf den Kopfoberseiten30. Leider konnte nicht ermittelt werden, ob die Doberaner Figuren ähnliche Befunde zeigen31. Bei den Figuren des Sakramentshauses ist noch nicht einmal sicher, ob sie massiv sind oder nicht, während Ersteres für die Reliefs des Triumphkreuzes bejaht werden kann32. Außerdem hebt Jensen eigens hervor, dass die Skulpturen des unteren Registers des Hauptaltarretabels ausgehöhlt sind33. Unmittelbar an das Arendseer Retabel anzuschließen ist der mittlere Flügelschrein auf dem Hochaltar der Nikolaikirche in Wilsnack, also unweit Arendsees auf der anderen Elbseite gelegen (Abb. 380–382). Schon Conrades erkannte die Ähnlichkeiten der Skulpturen34, die in der Tat kaum zu übersehen sind. Allerdings sind sie im Ganzen etwas schlanker, graziler gebildet. Die Draperien sind sehr ähnlich gebildet mit den enganliegenden Gewändern und den recht scharfkantig geschnittenen Faltenstegen. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Restaurierung des 19. Jahrhunderts hier extrem stark eingegriffen hat. So sind die Stege teilweise aus Modelliermasse gebildet. Die Fassung ist komplett erneuert und wirkt nicht selten geformt. Dennoch ist auch bei den Gesichtern und den Frisuren die Ähnlichkeit nicht zu über-
388 | Peter Knüvener
sehen. Die Maßwerke sind nun leicht abweichend, reicher gebildet, doch aus denselben Formen aufgebaut35. Es konnte jüngst die Figur Jakobus d. Ä. aus dem rechten Flügel des Retabels entnommen werden. Dabei stellte sich heraus, dass die Bearbeitung mit der in Arendsee übereinstimmt: Die Figur wurde nicht ausgehöhlt und es finden sich wieder die zentrale, 16 cm tiefe (!) Bohrung sowie Einspannspuren (Abb. 383)36. Im Zusammenhang mit der hier behandelten Gruppe sind auch einige der Skulpturen aus der Kirche in Mölln zu stellen37. Zu nennen sind besonders die stehende Madonna, die Marienkrönungsgruppe und einige der Apostelfiguren38. Gut vergleichbar mit den Arendseer oder Doberaner Figuren sind die gedrungenen Proportionen und die wie gespannt wirkenden Gewandfalten. Die Gesichter weichen ab, oft sind die Augen und Haare schnitzerisch nur rudimentär angelegt. In dieser Hinsicht kommen den Möllner Figuren jedoch einige Reliefs des Kreuzaltars – z. B. die Verkündigung oder die Heimsuchung – sehr nahe (Abb. 387). Die Schnitzwerke stehen sich so nah, dass ein engerer Zusammenhang, zumindest aber eine Entstehung im selben Zeitraum anzunehmen ist. Die Datierung der Doberaner Ausstattungsstücke kann also nicht losgelöst von den genannten Vergleichs-
werken vorgenommen werden und nicht ausschließlich auf eine einzige Schriftquelle, die sich nicht einmal dezidiert auf die Ausstattungsstücke bezieht, zurückgeführt werden.
DIE DATIERUNG Eine Datierung der Retabel aus Arendsee und Wilsnack kann jedoch auch durch Schriftquellen bzw. die historischen Befunde eingegrenzt werden. So brachte Lothar Lambacher eine Nachricht von 1381 mit dem Retabel in Verbindung. Demnach sollten Stiftungen, die der Kapelle des Dorfes Arendsee gemacht werden, teilweise dem Altarbild zu Gute kommen. Offenbar plante man die Anschaffung eines kostspieligen Retabels39. Eine jüngst durchgeführte dendrochronologische Untersuchung des Retabels konnte diese Datierung bestätigen. Der letzte gemessene Jahrring der Christusfigur ist aus dem Jahr 1364. Splintholz ist nicht vorhanden, weshalb unter Berücksichtigung der Splintholzstatistik (20 Jahre) eine Verarbeitung ab den mittleren 1380er Jahren in Frage kommt40. Auch für Wilsnack ist ein terminus post quem zu benennen. Das repräsentative Hochaltarretabel kann schwerlich vor 1383 entstanden sein, denn in diesem Jahr wurde ein Vorgängerbau der heutigen Kirche des 15. Jahrhunderts durch Brand zerstört. Dabei blieben drei
Hostien erhalten, die Blutstropfen zeigten und die Grundlage der ungemein erfolgreichen Wallfahrt bildeten. Das Retabel kann im günstigsten Fall unmittelbar im Anschluss in Auftrag gegeben worden sein. Zwar zog der Ort erstaunlich schnell in großem Maß Pilger an41, doch vor 1390 – wohl auch nicht viel später – wird das Retabel nicht aufgestellt worden sein. Auch hier konnte eine dendrochronologische Untersuchung – durchgeführt an der Figur des Jakobus d. Ä. – vorgenommen werden. Die gemessenen Jahrringe umfassen den Zeitraum 1283–1359 (kein Splintholz), womit eine Verarbeitung um/nach 1380 plausibel ist42. Auch die Skulpturen des Retabels aus Mölln wurden schon vor längerer Zeit untersucht. Hier erbrachte die Madonna das jüngste Datum, denn der letzte Jahrring stammt von 1385 (kein Splintholz vorhanden)43. Eine Verarbeitung ist also erst um bzw. nach 1400 wahrscheinlich44. Damit liegen für alle Doberaner Vergleichswerke naturwissenschaftliche post quem-Daten vor, die im Fall von Wilsnack und Arendsee durch historische Ereignisse bzw. Quellen gestützt werden. Angesichts dessen ist eine Frühdatierung des Doberaner Sakramentshauses und des Kreuzaltars höchst unwahrscheinlich – allenfalls das untere Register des Hauptaltars könnte aufgrund seines abweichenden Stils früher zu datieren sein. Die Skulpturen des Hauptaltarretabels unterscheiden sich in ihrem Stilbild völlig von den anderen Skulpturen. Hier
Abb. 381. Köpfe und Frisuren: a) Doberan, Paulus; b) Arendsee, mittlerer Apostel im rechten Flügel; c) Wilsnack, zweiter Apostel von Rechts im Schrein
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Abb. 382. Baldachine: a) Doberan, Sakramentshaus; b) Doberan, Kreuzaltarretabel; c) Arendsee, Retabel; d) Hannover, Landesmuseum, Lüneburger Goldene Tafel; e) Berlin, Bodemuseum, Mindener Retabel
mag es in der Tat böhmische Einflüsse geben45, wenn man die Gesichtstypen oder Frisuren mit jenen der Skulpturen des Rathenower Retabels vergleicht – einem Werk, das in den 1370er Jahren vermutlich von böhmischen Künstlern in der Mark Brandenburg – vielleicht in Tangermünde? – geschaffen wurde (Abb. 385)46. Der künstlerische Unterschied solcher Skulpturen zu Kreuzaltar und Sakramentshaus ist beträchtlich! Die Versuche, die Madonna des Triumphkreuzes mit böhmischen oder süddeutschen Figuren zu vergleichen oder gar der Vergleich der Skulpturen des Kreuzaltars mit der Portalskulptur der Nürnberger Frauenkirche, vermögen nicht zu überzeugen. Die Ähnlichkeiten von Figuren wie den Marienfiguren aus Iglau (Jihlava, jetzt im
Kloster Strahov, Prag) oder Großmeseritsch (Velké Mezirící) mit der Madonna47 beruhen einzig auf der Tatsache, dass es sich um schlanke, langestreckten Figuren mit dichten Schüsselfaltenfolgen handelt. Dabei ist es offensichtlich, dass die Doberaner Madonna in ihrer Proportion innerhalb der Skulptur des Kreuzaltars aufgrund des Standorts am Kreuzbalken einen Sonderstatus innehat. Physiognomien und schnitzerische Ausführung ist bei solchen Vergleichen nicht berücksichtigt worden. Auch ist der Stil der Doberaner Skulpturen in Norddeutschland nicht unbedingt ungewöhnlich48. Mit den reich geschnitzten Gestühlen in Bremen und Magdeburg und den zu dieser Werkgruppe zugehörigen Werken gibt es unmittelbar vorausgehende Zeugnisse einer
Abb. 383. Skulpturenunterseiten mit Bohrungen und Einspannspuren: a) Arendsee, Maria Magdalena; b) Wilsnack, Jakobus d. Ä.; c) Lüneburger Goldene Tafel, Petrus
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reichen Schnitzkultur aus der Zeit um die Mitte des 14. Jahrhunderts, von wo aus der Weg durchaus zu den späteren Werken geführt haben kann. Hier wären neue und eingehende Untersuchungen nötig, die systematische dendrochronologische Untersuchungen einschließen49.
DER SITZ DER WERKSTATT Die Frage nach dem Ort der Werkstatt der behandelten Kunstwerke ist wiederholt gestellt worden. Eine zentrale Rolle bei diesen Überlegungen spielte stets Hamburg, nicht zuletzt, weil Meister Bertram hier seit 1367 ansässig war und weil hier mit dem Petriretabel auch ein Hauptwerk vor Ort erhalten blieb50. Diejenigen, die sich für eine Frühdatierung von Kreuzaltar etc. aussprachen, meinen, dass er zunächst in Doberan tätig war und sich dann in Hamburg niederließ51. Eine Fertigung der Ausstattungsstücke in Hamburg dürfte allein aufgrund der Dimensionen des Kreuzes ausscheiden. Plausibler ist es, von einer temporär zusammengezogenen Arbeitsgemeinschaft
verschiedener Künstler in Doberan selbst auszugehen, wie es auch Jensen annahm52. Ein solches Vorgehen scheint im 14. Jahrhundert weitgehend üblich gewesen zu sein und wurde erst nach und nach im frühen 15. Jahrhundert von zunehmend sesshaften Werkstätten abgelöst. Man kennt es aus den Domen in Havelberg oder Brandenburg, wo im frühen 14. Jahrhundert temporär Schnitzer tätig waren53. Auch die Gestühle der Dome in Bremen und Magdeburg und die
Abb. 384. Kronenzacken aus Metall: a) Arendsee, Heilige Jungfrau; b) Doberan, Triumphkreuz, Relief Esther und Ahasver
Überlegungen zu Werkstatt und Datierung des Doberaner Sakramentshauses | 391
Abb. 385. Doberan, Hochaltarretabel, unteres Register, Maria; b) Rathenow, Altarretabel, Margaretha
zu dieser Werkgruppe gehörigen Skulpturen in Lüneburg und anderswo dürften zwischen 1340–1370 von mobilen Werkleuten gefertigt worden sein54. Diese Überlegung gewinnt Wahrscheinlichkeit durch die Dendroprovenienz der am Arendseer Retabel verwendeten Hölzer55. Die höchsten Übereinstimmungen der gemessenen Werte zeigen Vergleichswerte aus dem unmittelbaren Umland, was bedeuten dürfte, dass das Arendseer Retabel vor Ort hergestellt wurde. Das heißt dann offenbar, dass man zumindest für den Schnitzer keinen festen Arbeitsort annehmen muss.
DIE LANGLEBIGKEIT DER ARCHI TEKTONISCHEN FORMEN UND DIE FORTFÜHRUNG DER BEARBEITUNGSTECHNIKEN Die charakteristischen Architekturformen werden in norddeutschen Werkstätten über mehrere Jahrzehnte fast unverändert weitergeführt. Das zeigen auf eindrucksvolle Weise die Baldachine der Lüneburger Goldenen Tafel, die in den 1420er Jahren entstanden sind (Abb. 382)56. Sie ähneln denen des Doberaner Sakramentshauses formal weitgehend, sind jedoch noch detailreicher und von der Ausführung her viel feiner. Konstruktiv mag es geringe Unterschiede
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geben – das lässt sich an den abgelaugten Maßwerken in Arendsee erkennen – es ist aber unverkennbar, dass hier eine Tradition weitergeführt wird. Dasselbe gilt im Grunde für die eng verwandten Architekturen der Hochaltarretabel der Lübecker Marienkirche (1425) und der Lübecker Jakobikirche (1435)57. Daher ist es auch nicht überraschend, dass mit den Maßwerkverkleidungen des Oktogons auch in Doberan spätere Zeugnisse dieses Stils vorliegen (Abb. 195). Diese Schnitzwerke dürften deutlich nach 1400 entstanden sein. Dafür spricht einmal die original erhaltene Wächterfigur im oberen Oktogonbereich, deren knapper Harnisch mit dem tief sitzenden Dusing kaum vor 1400 denkbar ist, eher um 1420 (Abb. 388c)58. Die Rüstungsformen unterscheiden sich hinsichtlich der Länge des Panzers deutlich von denjenigen des Kreuzaltarretabels – und denen des Hauptaltarretabels selbstverständlich auch. Für den unteren Oktogonbereich liefern die bemerkenswerten Pinselzeichnungen auf der Innenseite des mittleren Brüstungsfeldes deutliche Befunde. Hier ist – auf den Rückseiten von vier Wappenschilden59 – die Anbetung der Heiligen Drei Könige dargestellt. Abgesehen von der Funktion – dass es sich um ein Altarbild handelt, erscheint aufgrund des sehr skizzenhaften Zustandes und der roh belassenen Holzflächen doch sehr unwahrscheinlich – lassen sich die Zeichnungen durch die Mode und den Gewandfaltenstil deutlich nach 1400 datieren. Der junge König trägt eine
Abb. 386. a) Arendsee, Marienkrönung; b) Doberan, Triumphkreuz, Marienkrönung
sehr kurze Schecke mit sehr weiten gezaddelten Ärmeln (Abb. 191)60. Die weiten und lockeren Draperien sprechen für eine Datierung mindestens ins zweite Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. Welche Bedeutung ein bisher nicht berücksichtigter Befund hat, muss noch en détail untersucht werden. Die Brüstungsfelder zeigen rückseitig bislang nicht wahrgenommene bzw. erklärte Werkspuren an den Rändern: Bohrungen (Durchmesser ca. 4mm) mit umgebender unregelmäßig runder Druckspur (Durchmesser ca. 1 cm). Zur Befestigung dienten sie nicht, vermutlich handelt es sich um Einspannspuren. Auch Baldachinbretter der Lüneburger Goldenen Tafel zeigen diese Spuren, ebenfalls die Lübecker Baldachine aus St. Marien oder St. Jacobi, aber z. B. nicht der Mindener Altar (Abb. 389). Vielleicht handelt es sich um eine regional eher begrenzte Einspanntechnik61. Wirken also bei den Werken in Lüneburg und Lübeck Traditionen weiter, die schon in Doberan zu beobachten waren? Denkbar wäre es. So überrascht es auch nicht, dass die Skulpturen der Lüneburger Goldenen Tafel – wie jene in Arendsee und Wilsnack auch – massiv sind und auf den Unterseiten neben den paarigen Einspannspuren tiefe Bohrungen aufweisen (Abb. 383)62. Allerdings dürfen aus diesen Befunden allein auch keine weitreichenden Schlüsse abgeleitet werden, da insgesamt noch viel zu wenige Kunstwerke untersucht wurden und dementsprechend zu wenig über die regionalen Besonder-
heiten der Werktechniken bekannt ist. Erst weitreichende Analysen verschiedener Merkmale können hier zu verlässlichen Ergebnissen führen.
Abb. 387. a) Doberan, Kreuzaltar, Verkündigung, b) Lübeck, St. Annenmuseum, Apostelfigur aus Mölln
Überlegungen zu Werkstatt und Datierung des Doberaner Sakramentshauses | 393
Abb. 388. a) Doberan, Hochaltarretabel, unteres Register, Sebastian, b) Doberan, Kreuzaltar, Gideon, c) Doberan, Oktogon, Wächterfigur
RéSUMé Die Datierung zentraler Ausstattungsstücke im Doberaner Münster wurde bisher meist an das überlieferte Weihedatum 1368 gekoppelt. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass die nächsten Vergleichswerke deutlich später entstanden. Für den Hamburger Petrialtar liegen urkundliche Daten (1383) und eine Inschrift (1379), für die Retabel in Arendsee (nach
1381), Wilsnack (nach 1383, vermutlich ab 1390) und die Skulpturen in Mölln (ab den späten 1390er Jahren) Quellen, historiografische Gründe und naturwissenschaftliche post quem-Daten vor63. Es wird in diesem Fall deutlich, wie die Interpretation einer Quelle und deren Nutzbarmachung für die Datierung zu problematischen Schlüssen führen kann. Für die Chronologie der norddeutschen Kunst ist eine unvoreingenommene Prü-
Abb. 389. a) Doberan, Oktogon, kreisförmige Werkspur auf der Rückseite eines Maßwerks der unteren Zone; b) Lüneburger Goldene Tafel, kreisförmige Werkspur im Bereich der Maßwerkbaldachine (mittleres Loch zugesetzt)
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Abb. 390. Triumphkreuz, Relief Esther und Ahasver
fung solcher scheinbar „festgeschriebenen“ Datierungen wichtig. Ein ähnlicher Fall liegt mit dem Retabel aus Tempzin (im Staatlichen Museum Schwerin/Schloss Güstrow) vor, das bisher aufgrund einer Quelle 1411 datiert wird, aber nach einer jüngst durchgeführten dendrochronologischen Datierung deutlich früher – um 1390 – anzusetzen wäre64. Diese Datierung passt ausgezeichnet mit dem stilistischen Befund
überein – und mit den modischen Details, die eine Datierung nach 1400 an sich schon kaum vertretbar erscheinen ließen. Somit ist das Retabel nicht als ein – schwer erklärbarer – Nachzügler des „Bertramstils“ anzusprechen, sondern rückt in die direkte Nähe des Hamburger Retabels. Vor diesem Hintergrund wären auch Werke wie das Doberaner Mühlenretabel65 – meist nach 1410 datiert – neu zu bewerten.
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Abb. 391. Triumphkreuz, Abel und Melchisedech
ABSTRACT The dating of some major furnishings in the Doberan minster has so far been mostly linked to the traditional consecration date 1368. However, it was not taken into account that the next comparable works to the Doberan Sacrament tower were created noticeably later: The Petrialtar in Hamburg is documented for the year 1383 and by inscription for 1379. Other sources, historiographic reasons and scientific termini post quem date the retable of Arendsee after 1381, Wilsnack after 1383 (probably since 1390), and the sculptures in Mölln from the 1390s onwards. In this case it becomes clear how the interpretation of a written source and its utilization for dating works of art can lead to questionable conclusions. For
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the chronology of northern German art, an unbiased examination of such seemingly „fixed“ dating is required. A similar case exists with the retable from Tempzin (in the State Museum Schwerin/Schloss Güstrow). According to a written source it was previously dated to 1411, but a recent dendrochronological analysis indicated its origin much earlier – around 1390. This dating fits perfectly with the stylistic findings and the fashionable details, which would have made dating after 1400 hardly justifiable. Thus, the Tempzin retable cannot be addressed as a nearly unexplainable latecomer of the „Bertram style“, but moves into the immediate vicinity of the Hamburg retable. Against this background, works such as the Doberan Eucharistic Mill Retable – usually dated after 1410 – should also be reassessed.
ANMERKUNGEN Die Forschungen zu diesem Aufsatz standen im Kontext des Forschungsprojektes zur Lüneburger Goldenen Tafel am Landesmuseum Hannover (2014/15) 1 2
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Urkunde vom 4.6.1368, MUB 9794. Für eine Fertigstellung zur Weihe von 1368 (oder früher) votieren: JENSEN 1956, S. 94 (jedoch nur Kreuzaltar, das Sakramentshaus und das untere Hochaltarregister datiert er später: Sakramentshaus um 1385, S. 282, Hochaltar um 1390, S. 288); LAABS 2000, S. 103–106 (Sakramentshaus, Kreuzaltar und Hochaltaraufstockung um 1368/70); WOLF 2002, S. 135–151 (Kreuzaltar zwischen 1360 und 1370, Sakramentshaus 1350/60); FAJT/SUCKALE 2006, S. 436 (Kreuzaltar); VOSS 2008, S. 59–74; HöRSCH 2012 S. 20–24; ERDMANN 1995, S. 54 betont, dass die Urkunde von 1368 nichts über Bau- oder Ausstattungsarbeiten aussagt, datiert die Stücke dennoch früh: Sakramentshaus und Hochaltarretabelaufstockung 1350/60 (S. 54, 57), Kreuzaltar 1360/70 (S. 58). Spätere Datierungen finden sich besonders bei: LICHTWARK 1905, S. 161–163 („sehr wohl bald nach Vollendung der Kirche 1368“); WAGNER 2006, S. 3, datiert den Kreuzaltar „frühestens ab 1375“; ALBRECHT 2008, S. 48 (Kreuzaltar „um oder kurz vor 1375“); PLAGEMANN 2000, S. 146, datiert nach 1385. Zur mitunter angenommenen Zweiphasigkeit siehe VOSS 2008, S. 112–116, siehe auch unten. HöRSCH 2012, S. 20–26. MOHRMANN 1978, S. 362. TRAEGER 1980, S. 86–98 und ERDMANN 1995, S. 54 weisen darauf hin, dass Sternberg kaum vor Ort war, und sogar durch den Papst von seiner Residenzpflicht entbunden wurde. Zur Konstruktion und zum Aufbau siehe VOSS 2008, S. 60–62. S. dazu den Beitrag von Anja Seliger in diesem Band. Der Skulpturenschmuck in Rostock unterscheidet sich jedoch grundsätzlich vom Doberaner. Hinter einer teilzerstörten Maßwerkrosette im Sockel findet sich die Inschrift „C. Fischer Vergolder in Schwerin 1848“. VOSS 2008, S. 61. Die Füllungen der Maßwerkrosen oberhalb des Sockels scheinen Ergänzungen des 19. Jahrhunderts zu sein. Eingehend als Prinzip erkannt und beschrieben wird diese Grundform von Thomas Bürger (im Druck). Eine eingehende, doch zu komplizierte Differenzierung der Schnitzwerke des Kreuzaltars und des Triumphkreuzes in sieben Gruppen findet sich bei JENSEN 1956, S. 143–171. Die grobe Neufassung des 19. Jahrhunderts dürfte nicht annähernd die ursprüngliche Wirkung wiedergeben. Als Vergleich sei auf das Retabel in Munktorp/Schweden verwiesen, wo solche Skulpturenmalerei noch gut erhalten ist. Diese unterscheidet sich freilich in der Detailbildung der Physiognomie, denn die Augen sind hier nicht schnitzerisch angelegt, wohl aber beim Hochaltar. LICHTWARK 1905, S. 239f.; JENSEN 1956, S. 286 JENSEN 1956, S. 287f., dementsprechend trifft auch ein Zusammenhang mit den Skulpturen des Arendseer Retabel (s.u.) nicht zu.
19 Die Kopfform der nördlichen weicht deutlich ab und die Rüstung mit der extremen Taille scheint missverstanden zu sein. 20 Zur Entwicklung des Lentnerharnischs in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts siehe GAMBER 1953, S. 59–62. 21 Besonders CONRADES 1930, S. 36; JENSEN 1956, S. 280–283; LAMBACHER 1994, S. 130–132. 22 Hinter dem Kalvarienberg findet sich die Inschrift mit der Jahreszahl 1379, die Fertigstellung 1383 ist in der Hamburger Chronik vermerkt. KAT. HAMBURG 1999, S. 111 (Stephanie Hauschild). 23 So bereits MARTENS 1936, in der jüngeren Literatur werden die Doberaner Malereien nicht zum Kern der „Bertramgruppe“ gezählt, obwohl sie viel näher am Hamburger Petriretabel sind als z. B. die Pariser Tafeln oder der Londoner Altar. Siehe die Kapitel in KAT. HAMBURG 1999, S. 98–135 oder WAGNER 2008, S. 57. Zweifel klingen bei FAJT/SUCKALE 2006, S. 436 heraus: „Die schwer beschädigten Malereien des dortigen Kreuzaltars hat man bisher in der Regel mit Meister Bertram von Minden in Verbindung gebracht. Was hier alles unter einem Namen wie unter einem Dach zusammengefasst wird, erweist sich als vielköpfige künstlerische Richtung [...]“. GRöTECKE 2007, S. 429, nennt Doberan bei der Aufstellung eines Bertram-Oeuvres überhaupt nicht. Eine neuerliche und besonders die Technologie berücksichtigende Untersuchung der Gruppe wäre dringend notwendig. Die teilweise frei liegenden Unterzeichnungen des Kreuzaltars sind denen des Passionsretabels in der Landesgalerie Hannover äußerst ähnlich. 24 Die Fassung ist fast vollständig verloren gegangen. Die Malerei weicht sehr deutlich vom Hamburger Retabel ab. Näher steht die Tafel mit Begegnung an der Goldenen Pforte und der Verkündigung aus St. Jacobi Lübeck (im Annemuseum, Inv.Nr. 7550). Am Tempziner Altar im Museum Schloss Güstrow kommen ganz ähnliche, modelgepresste Ornamente bei den Registertrennungen vor (dort auf den Außenseiten). Dies beobachtete schon Martens 1936, S. 35. 25 LAMBACHER 1994, S. 129–132. Lambacher rückt die Retabel in Petersdorf auf Fehmarn und in Munktorp (Schweden) in das nahe Umfeld des Arendseer Retabels. Übereinstimmungen bestehen zweifellos hinsichtlich der Architekturen. Die Skulpturen sind m.E. von anderen Schnitzern geschaffen worden – trotz der ähnlichen „pyknischen“ Proportionen. So ist der voluminöse Faltenstil in Petersdorf anders als in Arendsee. Auch unterscheiden sich die physiognomischen Details. Bei Petersdorf ist hervorzuheben, dass z.B. die Kronzacken nicht aus Metall gefertigt sind. Insgesamt ist aber zu unterstreichen, dass eingehende technologische Untersuchungen vonnöten wären, um das Verhältnis dieser Retabel zueinander zu klären. Hier wären auch die Skulpturen des Retabels in Westenbrügge (Mecklenburg, 1972 gestohlen) einzubeziehen. 26 LAMBACHER 1994, S. 128 unterscheidet vier verschiedene Hände. Gut vergleichbar sind die Skulpturen Johannes des Evangelisten (Abb. 393). 27 VOSS 1994, S. 117. 28 LAMBACHER 1994, S. 127. 29 Dies konnte nur bei Maria Magdalena überprüft werden. 30 Zum besseren Hantieren während der Fassarbeit könnten hier Stangen eingesetzt gewesen sein. Für Hinweise danke ich herzlich Michael Rief und Peter Tångeberg. Zu dieser Diskussion s.u.
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31 Diesbezügliche Untersuchungen hatte Johannes Voss nicht durchgeführt. 32 Auskunft von Andreas Mieth. Auf dem Relief Esther vor Ahasver befindet sich rückseitig die Zeichnung des Johannes-Adlers, VOSS 1994, S. 118–119. 33 „Sie sind auch die einzigen Figuren dieses Kreises, die hinten hohl sind.“ JENSEN 1956, S. 287. 34 CONRADES 1930, S. 37, dann JENSEN 1956, S. 285 und LAMBACHER 1994, S. 130. LAMBACHER scheidet zu Recht das Retabel in Gudow (aus dem Kloster Lüne) aus dieser Gruppe aus. 35 Der Anteil der Erneuerung kann ohne eingehende restauratorische Analyse nicht bestimmt werden. 36 Die Untersuchung wurde im August 2014 gemeinsam mit Gordon Thalmann (untere Denkmalschutzbehörde Landkreis Prignitz) durchgeführt, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei. 37 Heute als Leihgabe der Staatlichen Museen zu Berlin im St. Annenmuseum Lübeck, BUCZyNSKI 1994; ALBRECHT 2005, S. 95– 105. Die Figuren sind im Gegensatz zu Arendsee und Wilsnack rückseitig ausgehöhlt. 38 Nicht die völlig abweichenden Johannes Evangelista und Inv. Nr. 7633 (Bartholomäus?). 39 LAMBACHER 1994, S. 132, zitiert nach Codex diplomaticus Brandenburgensis A, 22, S. 73–76. 40 Untersucht wurden die offenliegenden Jahrringmuster an mehreren Figuren und Maßwerkstellen durch Gordon Thalmann. Die Fotografien der Christusfigur (1294–1364), der Johannesfigur (1283–1350) sowie eines Maßwerkbaldachins (1293–1340) konnten erfolgreich ausgemessen werden (Karl-Uwe Heußner/DAI Berlin, Labornummern C 77297–77301). 41 Zur Frühgeschichte der Wallfahrt siehe HRDINA/KÜHNE 2011. 42 Die Jahrringe der Unterseite der Figur wurden von Gordon Thalmann ausfotografiert und durch Karl-Uwe Heußner/DAI Berlin ausgemessen (Labornummer C 77302). 43 Die Untersuchungen wurden durchgeführt von Peter Klein, sieben Figuren konnten datiert werden. Siehe LAMBACHER 1994, S. 151 (Anm. 12). 44 Nur von einem minimalen Splintholzanteil von sieben Jahren auszugehen (LAMBACHER 1994, S. 151 (Anm. 12), Klein zitierend, erscheint zu unsicher. Daher ist aus diesem Befund keinesfalls eine sichere Frühdatierung abzuleiten; siehe das diesbezüglich falsche Zitat von BUCZyNSKI 1994, S. 148, der richtig von „frühestem Fälldatum 1392“ spricht, woraus bei ALBRECHT 2005, S. 104, „um 1392“ als Datierung der Skulpturen wird. Die Verwendung von aus der Dendrochronologie gewonnen Daten ist oft fahrlässig und führt zu falschen Aussagen. Die absolut notwendige Differenzierung von um/nach (Eichenholz ohne Splint), +/- x Jahre (Eichenholz mit Splint, das x ergibt sich aus der Zahl der Splintringe) etc. wird selten berücksichtigt. Grundlegend dazu SCHöFBECK/HEUSSNER 2008 sowie am Beispiel einer Werkgruppe aus dem Umfeld von Brandenburg GRAJCAREK 2015. Hier wurden verschiedene, inschriftlich datierte Retabel untersucht, wobei die Ergebnisse teilweise gravierend abwichen, weil die verwendeten Bretter eben doch teilweise sehr stark besäumt worden waren. Dies zeigt, dass Dendrodaten aus Werkstücken ohne Splint oder Waldkante nicht für eine Frühdatierung heranzuziehen sind. Ein vergleichbarer Befund ergab sich aus der Untersuchung zweier großdimensionierter Eichenholzfiguren, jeweils den thronenden Christus darstellend, aus der Wittstocker Marienkirche im Märkischen
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Museum Berlin, die zweifelsfrei aus demselben Kontext stammen, aber in der Datierung deutlich voneinander abwichen. Inv. Nr. IV 3007 hatte die Jahrringe 1359–1413, – kein Splintholz – woraus auf der Grundlage der Splintholzstatistik um/nach 1433 abgeleitet wurde. Inv. Nr. IV 3008 hatte die Reihe 1404–1475 mit Beginn des Splintholzes, woraus sich 1495 +/- 10 Jahre ergibt, was also für beide gilt. BRÜCKNER 1926, S. 22. Dazu FAJT 2008b und KNÜVENER 2009. WAGNER 2006, S. 3 bzw. WAGNER 2008, S. 57. Auch der Vergleich mit der Nürnberger Skulptur – insbesondere der Doberaner Madonna mit der Muttergottes vom Weinmarkt 12a in Nürnberg (im Germanischen Nationalmuseum) – kann nicht überzeugen (JENSEN 1956, S. 93). Siehe auch die sehr dezidierten Äußerungen bei HöRSCH 2012, S. 23. Ganz anders verhält es sich mit der berühmten Titelminiatur der Mecklenburgischen Reimchronik Ernst von Kirchbergs (1378, Mecklenburgisches Landeshauptarchiv Schwerin, Bestand 198, PS-Nr. 22), die sicher von einem böhmischen Maler geschaffen wurde und in Norddeutschland (mit Ausnahme böhmischer Gemälde wie vom Rathenower Retabel oder vom Böhmischen Altar im Brandenburger) isoliert steht. Das betrifft zahlreiche Kunstwerke in Niedersachsen und Norddeutschland, die durchaus von der Stilsprache her verwandt sind, aber höchstwahrscheinlich falsch datiert werden – so z.B. die Prophetenreliefs von zwei Gestühlswangen in Bardowick. Sie werden von MEyNE 1959, S. 38 1435 datiert, weil er sie mit einer Quelle, in der von einem neuen Gestühl die Rede ist, verbinden möchte. Dem stilistischen Befund nach ist eine Datierung nach 1400 schwer vorstellbar. Andererseits nimmt ALBRECHT 1997, S. 130 für das Minoritenretabel in Hannover (im Landesmuseum Hannover) gewissermaßen en passant eine Datierung um 1390 an, was angesichts des stilistischen Befundes und der Modedetails besonders der Malereien ausgeschlossen ist. Eine Februar 2015 durchgeführte dendrochronologische Datierung (Tilo Schöfbeck und Karl-Uwe Heußner/DAI Berlin; C-Nrn. 79664-71) bestätigt die Spätdatierung in die späten 1430er Jahre. Für die Werkstatt der Hamburger Predellenfiguren, und damit auch für Arendsee und die Figuren des Doberaner Sakramentshauses, nimmt Jensen dies an JENSEN 1956, S. 286. LAMBACHER 1994, S. 130–131, betont, dass die „Frage noch keineswegs endgültig zugunsten Hamburgs entschieden“ sei. Nach VOSS 2008, S. 133 sei Bertram von Prag aus kommend zunächst in Doberan tätig gewesen, ehe er sich nach Hamburg weiterging. PLAGEMANN 2000, S. 146 meint, erst der Ruf, den sich Bertram mit Werken wie dem Petrialtar erarbeitet hatte, hätte (um 1385) dazu geführt, dass er den großen Auftrag für Doberan bekommen hätte. JENSEN 1956, S. 172–174, schreibt, die Künstler wären aus Städten wie „Rostock, Lübeck oder Hamburg“ verpflichtet worden. Bertram selbst sei noch vor der Fertigstellung des Werkes nach Hamburg weitergezogen, weshalb die Spruchbänder der Propheten teilweise leer blieben – eine wenig wahrscheinliche Erklärung. Für den Havelberger Bischof waren sie überdies in dessen Residenzkirche in Wittstock tätig. Dazu KAT. BERLIN 2011, S. 128–131. Zu dieser Gruppe LöHR 1974 und PORSTMANN 1997. Die Vergleichswerte aus dem Havelberger Umkreis sind am höchsten, weder die Werte von Lübeck oder Hamburg, noch für balti-
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sches Importholz liefern Bezüge. Gutachten Karl-Uwe Heußner/ DAI Berlin vom 15.9.2014. Zur Goldenen Tafel zusammenfassend PATRIMONIA 2007, insbesondere zur Architektur RICHTER 2014 sowie in Kürze die Ergebnisse des Goldene-Tafel-Forschungsprojektes am Landesmuseum Hannover, die 2018 publiziert werden. Dazu mit weiterführender Literatur RICHTER 2014 sowie HEGNER 2015, S. 70–71. VOSS 2008, S. 114–116, geht aufgrund der Wappen, die auf die Auftraggeber hindeuten, von einer Zweiphasigkeit der Maßwerkgestaltung des Oktogons aus. Demnach sei der obere Bereich früher – unter Herzog Albrecht II. (gest. 1379) entstanden, der untere später nach 1422. Er vermutet jedoch hinter den Maßwerken dieselbe Werkstatt, die jene von Sakramentshaus und Kreuzaltar ausgeführt hätte. Es dürfte aufgrund der Einheitlichkeit und der Rüstungsdetails der Wächterfigur jedoch für die Ausstattung mit den Maßwerken insgesamt eine späte Entstehung anzunehmen sein, was nicht ausschließt, dass das Oktogon an sich früher (unter Albrecht II.) entstanden ist. BÜRGER (in Vorb.) argumentiert für eine Zweiphasigkeit mit der Verschiedenartigkeit der Wappenschildform. Das eher dem Dreieck angenäherte Form im oberen Oktogonbereich spricht demnach für das 14. Jahrhundert, die abgerundete Form unten für das frühe 15. Jahrhundert Er hält die Ritterfiguren am Oktogon ohne Angabe von Gründen für „wenig aussagefähig“. Die Deutung der Wappen ist umstritten, sie werden der Herzogin Katharina von Sachsen-Lauenburg oder Elisabeth von Sachsen-Lüneburg zugeordnet. Zur Diskussion VOSS 2008, S. 115–116; LAABS 2000, S. 153–161, sowie Dirk Schumann in diesem Band. Die Steinfigur des Kölner Kurfürsten vom Bremer Rathaus (1405– 1407 geschaffen, jetzt im Focke-Museum) trägt sehr ähnliche Klei-
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der. Der von VOSS 2008, S. 78 vorgeschlagene Zusammenhang mit der Dorotheentafel oder dem Mühlenaltar, die hinsichtlich des Stils und der Mode um oder wohl noch vor 1400 anzusetzen sind, ist nicht nachvollziehbar. Voss vergleicht die leider nicht publizierten Unterzeichnungen des Mühlenretabels bzw. der Dorotheentafel mit der Zeichnung in der Brüstung. Die Untersuchungen der Werkspuren an der Goldenen Tafel und an verwandten Werken werden durch Eliza Reichel und Bernadett Freysoldt durchgeführt, denen ich für Auskünfte herzlich danke. Teilweise finden sich darin Reste von Holzdübeln bzw. -stangen. Da die Figuren der Goldenen Tafel ausschließlich durch ösen auf der Rückseite im Schrein befestigt sind, kann es als sehr wahrscheinlich gelten, dass die Bohrungen mit dem Herstellungsprozess in Beziehung stehen. Das kann allerdings nicht verallgemeinert werden. Anders ist es z. B. beim Retabel aus der Minoritenkirche Hannover (im dortigen Landesmuseum), wo die Figuren auf Dübeln stecken und es keine andere Befestigungsart gibt. Ebenfalls in die Untersuchung einzubeziehen wären letztendlich schwedische Werke die Retabel aus Lund (dat. 1398) und ystadt sowie einige Skulpturen in Vadstena (siehe WRANGEL 1915; ANDERSSON 1980, S. 21–30, nach TåNGEBERG 1989, S. 159, sind die Skulpturen in ystad, Lund und Munktorp massiv). KAT. SCHWERIN 2015, S. 21 und 59–63. Es konnte eine rückwärtige Strebe des Schreins beprobt werden, die das Ergebnis 1389 +/-10 Jahre ergab. Da Splintholz vorhanden ist, ist nur mit geringen Abweichungen zu rechnen. Für die Auskunft danke ich Tilo Schöfbeck, die Probe wurde von Bärbel Heußner untersucht (Gutachten 1.11.2014). Im Katalog wird dieser Datierung mit der Begründung nicht gefolgt, man habe ein älteres Holz verwendet. Voss 2008, S. 75–77, mit der Datierung des Mühlenretabels um 1410/20.
Überlegungen zu Werkstatt und Datierung des Doberaner Sakramentshauses | 399
DER DOBERANER SAKRAMENTSTURM UND DIE SAKRAMENTSNISCHEN UND -HÄUSCHEN IM SÜDLICHEN OSTSEERAUM JUStIN e.A. KrOeSeN
DIE AUFBEWAHRUNG DER EUCHARISTIE IN DOBERAN Im Jahr 1215 wurde die Transsubstantiationslehre durch das vierte Laterankonzil verbindlich festgelegt. Der Glauben an die „Realpräsenz“ Christi in der Hostie und im Wein förderte die Atmosphäre der Heiligkeit rund um die Messfeier, wie es u. a. in den Bräuchen der Aufbewahrung der konsekrierten Hostie, der sog. reservatio, zum Ausdruck kam. Erstes Anliegen war es, diese an einem sicheren Aufbewahrungsort, einem sog. „Tabernakel“ oder „Sakramentshäuschen“ wegzuschließen, „damit keine ruchlose Hand sich danach ausstrecke, um irgendeine schreckliche oder frevelhafte Tat zu vollbringen“1. Neben diesem praktischen Umstand gewann die Aufbewahrung im Laufe der Zeit auch einen symbolischen Stellenwert, denn die Anwesenheit der Hostie gewährte die ständige Gegenwart Gottes im Kirchengebäude. So wurde das Tabernakel allmählich zum Objekt leidenschaftlicher eucharistischer Andacht. Mittelalterliche Sakramentsnischen und -häuschen haben sich, in zahlreichen Varianten, vollständig oder größtenteils, in Hunderten von Kirchen in ganz Europa erhalten. Neben Schriftquellen sind diese Objekte in ihrer Formenvielfalt die wichtigsten Zeugen vom Umgang mit dem „Allerheiligsten“ in der mittelalterlichen Frömmigkeitskultur2. Der Sakramentsturm in der ehemaligen Klosterkirche zu Bad Doberan entstand um 1368 und gehört mit einer Höhe von 11,60 m nicht nur zu den größten, sondern auch zu den frühesten erhaltenen Tabernakeln in Turmform3 (Abb. 392). Das sechseckige Möbel ist in sechs Stockwerken aufgebaut. Rund um den Sockel sind Figuren des Alten Testaments dargestellt,
Linke Seite: Abb. 392. Hochaltarretabel mit Sakramentsturm
nämlich Abel, David, Melchisedech, Deborah, Moses und ursprünglich wahrscheinlich Elia, die alle als Präfigurationen des Opfertodes Christi aufzufassen sind. Der Schrein des Repositoriums selbst wird von Reliefdarstellungen neutestamentarischer Gestalten umgeben, nämlich Maria (direkt über König David), Johannes dem Täufer, Petrus, Paulus, Jakobus dem Älteren und Johannes dem Evangelisten (Abb. 393). Hinter der Figur des hl. Jakobus des Älteren befindet sich eine Gittertür. Über den stehenden Figuren befindet sich ein weiteres, offenes Geschoss. Johannes Voss vermutete, dass hier das Schaugefäß nach der Feier „weithin sichtbar“ durch eine Tür direkt über der Maria immaculata ausgesetzt wurde4. So wären beide Funktionen des Tabernakels – Aufbewahren und zur Schau stellen – in diesem einen großartigen Kunstwerk verkörpert. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, einige Aspekte der Vorgeschichte des Doberaner Sakramentsturms zu erkunden. Wegen hoher Verluste in großen Teilen Europas lässt sich die Frühgeschichte des Sakramentshäuschens nur schwer darstellen. Ab dem 12. Jahrhundert wurde für die Aufbewahrung der Eucharistie gewöhnlich eine Nische in der Chorwand eingerichtet, die sogenannte „Sakramentsnische“, in zeitgenösischen Quellen oft Sacrarium genannt. Neben dieser Form, die vielerorts bis zum Trienter Konzil beibehalten wurde, entwickelte sich seit Anfang des 14. Jahrhunderts eine zweite Variante in Form eines freistehenden Turmes. Die meisten mittelalterlichen Sakramentsnischen sind europa- und deutschlandweit in lutherischen Kirchen erhalten, da sie in katholischen Gebieten seit dem 16. Jahrhundert allgemein durch die von Trient vorgeschriebenen Altartabernakel ersetzt wurden. In protestantischen Kirchen hingegen konnte die „be-
Verschiedene Autoren gehen davon aus, dass die Skulptur der Maria mit dem Christuskind, die sich seit dem späten 14. Jahrhundert im hängenden Leuchter im Chor des Doberaner
Münsters befindet, ursprünglich zur Aufbewahrung des Allerheiligsten diente (Abb. 343, 346)7. Wie Johannes Voss mehrmals mit Stellproben plausibel machte, war diese Figur aus der Zeit um 1300 anfangs in der mittleren Nische des Hauptaltarretabels aufgestellt, wo sie durch eine Tür in der Rückwand des Schreins erreichbar war. Mutter und Kind halten zusammen ein offenes Gefäß, worin möglicherweise eine Pyxis deponiert war8. Annegret Laabs verweist auf einige Parallelfälle aus französischen Zisterzienserklöstern, wie zum Beispiel Pontaux-Dames nahe Paris sowie eine Marienskulptur im Metropolitan Museum in New york, und deutet diese Form der Aufbewahrung der Eucharistie daher als eine „ordensspezifische Tradition“. Als weiteres Indiz für die Präsenz der Hostie im Hochaltar verweist Laabs auf die Stiftung „eines Lichtes vor der Eucharistie in unserem Altar“ (Coram eucharistia sive corpore Domini, recondito in altari nostro) im Jahr 13069.
Abb. 393. Sakramentsturm, Hauptgeschoss mit Standfiguren aus dem Neuen Testament
Abb. 394. Sénanque (Frankreich), Zisterzienserkloster, tragbarer Tabernakelturm, 1270–80
wahrende Kraft des Luthertums“ ihre Wirkung entfalten, indem viele Nischen durch „Nichtnutzung“ oder „Umnutzung“ (u. a. als Aufbewahrungsort für das Abendmahlssilber) erhalten blieben5. Die schwedische Insel Gotland nimmt dabei eine überaus wichtige Position ein, denn hier ist die Sakramentsnische in der Mehrzahl der 91 mittelalterlichen Landkirchen noch zu sehen; zudem blieben auf derselben Insel zwei sehr frühe hölzerne Sakramentstürmchen erhalten6.
MöGLICHE VORGÄNGER DES DOBERANER SAKRAMENTSTURMS
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Obwohl die Aufbewahrung des Allerheiligsten auf dem Hochaltar – im Retabel oder in einer Hängepyxis – in dieser Zeit in Zisterzienserklöstern nicht ungewöhnlich war10, scheint die offene Platzierung einer kostbaren Pyxis mit noch kostbarerem Inhalt doch etwas problematisch. Auch stellt sich die Frage, inwieweit diese Tabernakelform für den zweiwöchentlichen Austausch der Hostien, wie es im 13. Jahrhundert gebräuchlich war, praktisch geeignet war. Laabs verweist auf die Stufen hinter der Mensa des Altares, von wo aus die Figur durch die Tür in der Rückwand des Retabels erreichbar war und führt zudem an, dass sie „wegen ihrer (…) Aushöhlung ein so geringes Eigengewicht (hat), dass man sie leicht drehen oder herausheben konnte“11. Otto Nußbaum beschreibt, wie das Problem der Zugänglichkeit in einigen Zisterzienserkirchen durch eine Mechanik, durch die die Hängepyxis in der Hand der Marienfigur an einer
Kette herabgelassen werden konnte, gelöst wurde12. Alles in Allem bleibt eine Praxis, bei der die Marienfigur für jeden Austausch der Hostien aus dem Altar herausgenommen werden musste, doch einigermaßen fraglich. Fest steht, dass es nie eine verbindliche Vorschrift für die Aufbewahrung der Eucharistie bei den Zisterziensern – eine forma Ordinis also – gab, was europaweit zu einer erheblichen Formenvielfalt führte. Im Kloster Sénanque (Südfrankreich) entstand um 1280 ein einmaliger Tabernakel in Form eines hölzernen turmförmigen Oktogons13 (Abb. 394). Das Objekt ist im Prinzip tragbar, aber ob es für den Gottesdienst aus der Sakristei in die Kirche gebracht wurde oder vielmehr permanent im Chorraum aufgestellt war, ist nicht bekannt14. Um 1300 wurde in der Klosterkirche Santa Maria d’Arabona bei Manoppello in den Abruzzen (Mittelitalien) ein fester steinerner Turm in Form eines quadratischen Gehäuses mit
Abb. 395. Manoppello (Italien), Klosterkirche Santa Maria d’Arabona, steinerner Turm an der Nordwand des Chores
Abb. 396. Hölzerne Fiale (älteres Sakramentshaus?), heute im nördlichen Chorumgang
Der Doberaner Sakramentsturm und die Sakramentsnischen und -häuschen im südlichen Ostseeraum | 403
Zeltdach auf schlanken Säulchen an der Nordwand des Chors errichtet (Abb. 395). Interessanterweise sind Parallelfälle für diese beiden turmförmigen Sakramentsbehälter in den Kirchen der umliegenden Regionen nicht nachweisbar. Auch in Doberan muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass der jetzige hölzerne Sakramentsturm einen Vorgänger in Turmform aus der Zeit um 1300 hatte. Ein Objekt, das dafür theoretisch in Betracht käme, ist eine schlanke, offene Fiale aus Holz im nördlichen Chorumgang, deren Funktion bisher ungeklärt ist (Abb. 396)15. Mit seinen Knospenverzierungen unter dem Gehäuse zeigt dieses Türmchen eine gewisse Ähnlichkeit mit der Gestaltung einiger der frühesten Sakramentstürmchen im Ostseeraum aus der Zeit um 1300 (s. unten), der Ära der Erstausstattung des Doberaner Münsters. Von jeweiligen Gittern oder Türchen fehlt jedoch jede Spur, so dass nicht deutlich wird, wie die Sicherheit der Hostie, falls sie dort ausgestellt war, gewährleistet war. So muss die ursprüngliche Form der Aufbewahrung der Eucharistie in der Doberaner Klosterkirche vorläufig eine offene Frage bleiben.
FRÜHE SAKRAMENTSNISCHEN AUF GOTLAND UND ANDERSWO Zur Zeit der Errichtung des Doberaner Sakramentsturms wurde die konsekrierte Hostie in den meisten Kirchen des Ostseeraums in einer in die Wand eingelassene Nische aufbewahrt. In den deutschen Ländern war diese Tabernakelform, die sogenannte „Sakramentsnische“, zumindest seit dem 12. Jahrhundert gebräuchlich. Mittelalterliche Sakramentsnischen aus dem 12. bis 16. Jahrhundert sind in Hunderten von deutschen Kirchen überliefert, sodass ihre Entwicklung in großen Zügen nachvollziehbar ist. Nicht ohne Grund charakterisierte Otto Nußbaum Deutschland daher als „die eigentliche Heimat des Wandtabernakels“16. Im späten 16. Jahrhundert beschrieb der Regensburger Domprobst Jakob Müller die Praxis der Aufbewahrung in einer Wandnische in seinem Traktat „Kirchengeschmuck“ als eine Reservatio „nach Teutscher Manier“17. Die Synode von Brixen im Jahr 1603 unterschied deutlich zwischen dem Altartabernakel more romano und dem Wandschrank more germanico18. In Wirklichkeit ist die Region, in der die Sakramentsnische heimisch war, noch weiter zu fassen: Außerhalb Deutschlands begegnet man ihr in großer Zahl in den Niederlanden, in Skandinavien, in Ostfrankreich, Böhmen, österreich, in der Slowakei, in Siebenbürgen sowie in Teilen
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von Mittelitalien und Spanien (vor allem im Baskenland)19. Die früheste Nachricht von der Existenz einer in die Chorwand eingelassenen Sakramentsnische stammt aus dem Jahrhundert vor dem vierten Laterankonzil. Rupert von Deutz berichtet von einem wundertätigen Brand am 25. August 1126 in der Kirche St. Urban in Deutz bei Köln, bei dem Pyxiden, Kerzen und Kännchen verbrannten, während die konsekrierten Hostien selbst verschont blieben: „Der Leutpriester Stephan, welcher sie zu besorgen hatte, rettete zwar einige Sachen aus der Kirche, vergaß aber bei der allgemeinen Verwirrung das Allerheiligste, welches sich nach Herkommen in einer hölzernen Büchse neben dem Altare in einem Fensterchen oder einer Nische der Mauer befand, welche Nische mit Holz vertäfelt und einem Türchen mit Schloss versehen war“20. Aus der Formulierung „nach Herkommen“ (de more) lässt sich schließen, dass diese Form am Anfang des 12. Jahrhunderts bereits relativ verbreitet gewesen sein muss. In den Consuetudines canonicae der Kathedrale von Lund (Südschweden) aus den Zwanzigerjahren des 12. Jahrhunderts ist von einem armariolum („Schränkchen“) die Rede. Der Text lässt offen, ob es sich um einen Wandschrank oder um ein transportables Möbel handelte21. Aus dem 12. und 13. Jahrhundert blieben in ganz Europa nur wenige Sakramentsnischen erhalten. Zu den frühesten Beispielen gehört die Nische in der Kirche des Franziskanerklosters Seligenthal bei Siegburg, die aus der Bauzeit im 12. Jahrhundert datiert. Die fast quadratische öffnung hat einen schweren Rahmen aus Sandstein und wird von einem einfachen, satteldachförmigen Giebel bekrönt; die heutige Gittertür ist neu22. Diese Nische befindet sich nicht, wie gewöhnlich, in der nördlichen Chorwand, sondern auf der Achse des Chores, hinter dem Hauptaltar23. Romanischen Ursprungs ist auch die Wandnische mit Gittertür aus Schmiedeeisen und Giebel in Satteldachform im um 1200– 1220 erbauten Chorturm der Stadtkirche von Schwaigern in Württemberg. Ebenfalls aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt die stark zerstörte Sakramentsnische in der Dorfkirche von Sint-Martens-Lennik bei Brüssel (Belgien)24. Die weitaus größte zusammenhängende Gruppe früher Sakramentsnischen findet sich auf der schwedischen Ostseeinsel Gotland25. Hier blieben die Tabernakel in fast sechzig der 91 mittelalterlichen Dorfkirchen – in Wirklichkeit handelt es sich eher um Gehöftkirchen – weitgehend erhalten. Die meisten Exemplare stammen aus der Bauzeit während des 13. und 14. Jahrhunderts, und insgesamt weisen sie eine erstaunliche Vielfalt an Maßen, Formen, Materialien, Techniken, Dekorationen und ikonografischen Darstellungen auf. Die Bedeutung der frühen Sakramentsnischen Gotlands ist
Abb. 397. Dalhem (Gotland, Schweden), Dorfkirche, Sakramentsnische, um 1150 (Säulchen und Bekrönung erneuert)
Abb. 398. Ekeby (Gotland, Schweden), Dorfkirche, ausgemalte Sakramentsnische, 1275–1300
kaum zu überschätzen: Aufgrund der engen kulturellen und wirtschaftlichen Verbindungen des mittelalterlichen Gotlands gewähren uns die Wandschränke auf dieser Ostseeinsel einmalige Einblicke in die liturgische Ausstattung mittelalterlicher Kirchen in anderen Teilen Europas, die ansonsten weitgehend verloren ist. Außerdem belegen sie, dass die Dekrete des Laterankonzils auch in ländlichen Gebieten des europäischen Nordens innerhalb kurzer Zeit wirksam wurden. Die Sakramentsnische in Dalhem gehört zu den ältesten erhaltenen Beispielen in ganz Europa (Abb. 397)26. Aufgrund ihres Stils kann sie einer Entstehungszeit um 1150, also etwa siebzig Jahre vor dem Laterankonzil, zugeordnet werden. Der hölzerne Schrank ist in eine kräftige steinerne Einfassung eingebaut. Er wird von flachen, viereckigen Pilastern flankiert, und als Bekrönung dient ein Spitzgiebel (mit einem erneuerten Kreuz). Der Schrank ragt aus der Wand nach vorne
und ruht auf zwei freistehenden Rundpfeilern, die allerdings bei einer Restaurierung vor etwa 100 Jahren erneuert wurden. Durch ihre eigenständige Architektur könnte man diese sehr frühe Sakramentsnische tatsächlich als ein „Sakramentshäuschen“ bezeichnen. Die Nische befindet sich in der Nordwand eines um 1225 erbauten Chors, was bedeutet, dass sie an derselben Stelle wiederverwendet wurde. Das Sakramentshäuschen von Dalhem bietet einen einmaligen Eindruck davon, wie wir uns einen Wandtabernakel aus der Zeit des oben erwähnten Rupert von Deutz vorzustellen haben. Eine große Anzahl der Sakramentsnischen in gotländischen Kirchen stammt aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Der relativ große Schrank in Källunge wird von einem steinernen Rahmen mit bekrönendem Kreuzchen umfasst, und ihre Front wird fast vollständig von zwei geschlossenen Holztüren bedeckt27. Die Funktion des Schranks als sicherer Auf-
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bewahrungsort wird von den aufwendigen Eisenbeschlägen unterstrichen. Die Ehrfurcht vor dem Sakrament kommt zudem in der steinernen dreistufigen Treppe davor zum Ausdruck. Die Sakramentsnische in Ekeby ist eng mit der in Källunge verwandt (Abb. 398)28. Auch hier wird die Nische von einem kräftigen steinernen Wulst eingerahmt, aber im Gegensatz zu Källunge ist das Innere des Schrankes in Ekeby vollständig ausgemalt. Auf der Hinterwand der drei Fächer sind jeweils christologische Szenen dargestellt, nämlich die Majestas Domini, die Kreuzigung zwischen Petrus und Paulus und die Anbetung der Könige. Diese drei Darstellungen sind in diesem Zusammenhang als Modelle der eucharistischen Anbetung zu interpretieren. Es ist kein Zufall, dass die Darstellung im oberen Fach, wo der Leib des Herrn aufbewahrt wurde, Christus in seiner himmlischen Gestalt darstellt29.
Eine besondere Ausmalung besitzt auch die Sakramentsnische in Alskog30. Auf die Türinnenseiten des Wandschranks wurden um 1300 in der oberen Zone, also direkt vor dem Sakrament, zwei kniende und kerzentragende Engel in liturgischen Gewändern gemalt. Darunter ist die Verkündigungsszene dargestellt, wobei auffällt, dass sich die beiden Figuren bei geöffneten Türen voneinander abwenden. Dies scheint die Idee zum Ausdruck zu bringen, dass sich das Glaubensmysterium der Menschwerdung Gottes im Geheimen vollzieht, außerhalb der Sicht der Gläubigen31. Aufschlussreich ist auch die Ausmalung der Innenseiten der Türchen in Gothem32. In geöffnetem Zustand sind links die weibliche Heiligen Barbara und Dorothea zu sehen, und rechts eine Elevatio-Szene – ein Priester am Altar, der die Hostie über seinem Kopf hebt, um sie dem Volk zu zeigen – während in der Spitze des Türchens die Hand Gottes aus dem Himmel hinunterreicht.
Abb. 399. Grossenwieden (Niedersachsen), Dorfkirche, Sakramentsnische mit Stiftungsinschrift, 1300
Abb. 400. Sundre (Gotland, Schweden), Dorfkirche, Sakramentsnische mit eisernem Gitter, 1300–1350
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Die Sakramentsnische in Vall fällt durch die Votivinschrift auf der Türinnenseite auf33. Hier wurde zwischen zwei Kreisen in Runenzeichen ein Text eingeritzt, dessen Übersetzung lautet: „Olav in Himunafi – er gab dieses nach seinen Kindern Botvid und Buthaid, Ganvid und Rudhaid“34. Die Inschrift bezeugt, dass der Schrank von einem gewissen Olav, der auf einem Erbe namens Himunafi ansässig war, der Kirche geschenkt wurde. Die Tatsache, dass die vier Söhne des Schenkers erwähnt werden, scheint auf eine geistliche Stiftung für das Heil ihrer Seelen hinzudeuten; möglicherweise waren die vier Männer kurz zuvor gestorben, doch auch eine Schenkung zu Lebzeiten der Söhne ist nicht undenkbar. Wir dürfen annehmen, dass der Gegenstand dieser Schenkung der ganze Wandschrank, möglicherweise mitsamt Inhalt (d. h. der Messgeräte) war. Die Inschrift ist nicht datiert, könnte aber sehr wohl mit der aus stilistischen Gründen wahrscheinlichen Datierung des Schranks um das Jahr 1300 in Verbindung gebracht werden. Eine derartig frühe Votivinschrift stellt in ganz Europa eine große Ausnahme dar. Ein seltener Vergleichsfall in Deutschland ist die Sakramentsnische in Großenwieden bei Hameln an der Weser (Abb. 399)35. Hier ist eine Stiftungsinschrift auf der Leiste entlang dem bekrönenden Giebel zu lesen. Sie besagt, dass Arnold von Eckersten, Nachfahre eines örtlichen Adelsgeschlechts, der Kirche im Jahr 1300 die Nische geschenkt hat. Die Inschrift lautet: Arnoldus de eckersten paravit istud, qui obiit anno MCCC feria quinta post pentecostes („Dies erwarb Arnold von Eckersten, der im Jahr 1300 am Donnerstag nach Pfingsten starb“). Im von einer Fiale mit Kreuzblume bekrönten Giebel leuchtet ein frontal dargestelltes Christusgesicht mit Kreuznimbus, und die Giebelschrägen werden links und rechts von Händen (den Händen Christi?) gehalten. Die gemalten Türme über die Nische wurden 1488 hinzugefügt, während das rechteckige Fenster in der Rückwand vermutlich erst nach der Reformation durchbrochen wurde. Die Sakramentsnische in Grötlingbo (Gotland) wird von einer reich verzierten hölzernen Front aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bedeckt36. Sie endet oben in einer Giebelbekrönung zwischen zwei halbierten Fialen. Zu beiden Seiten der zwei übereinander angeordneten Türchen und in der Giebelspitze sind insgesamt fünf öffnungen in Form von Fensterrosen in das Holz geschnitten. In Hogrän ist eine Rosette mit einer Füllung aus sechs kleinen Kreisen im Giebelfeld der oberen Tür zu sehen. Es ist nicht ganz deutlich, ob diese öffnungen nur ästhetischen oder vielleicht auch praktischen Zwecken dienten. Aus verschiedenen liturgi-
schen Texten geht hervor, dass die Hostie auf keinen Fall schimmeln oder von Feuchtigkeit angegriffen werden sollte, wozu jede Sakramentsnische eine gute Belüftung haben sollte37. In Sundre ist die Sakramentsnische aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit einem eisernen Gitter ausgestattet (Abb. 400)38. Dieses durchbrochene Gitter ermöglichte es den Gläubigen, das Sakrament zu sehen, das dahinter in einer Monstranz aufgestellt war, auch wenn der Schrank verschlossen war – deutlich sichtbar und zugleich sicher aufbewahrt. Von großer Bedeutung ist zudem, dass nachträglich, wahrscheinlich noch im Spätmittelalter, eine Eisenstange an den beiden seitlichen Fialen angehängt wurde. Fünf erhaltene Ringen zeigen, dass die Stange einst zur Aufhängung eines Vorhangs diente39. Einen solchen Vorhang hat Jacob Müller in seinem „Kirchengeschmuck“ als conopeum beschrieben. Somit war es möglich, die Hostie zeitweilig den frommen Blicken zu entziehen, in einem subtilen Spiel des Verhüllens und Enthüllens des Allerheiligsten. In allen anderen Fällen, bei denen das Sakrament durch ein eisernes Gitter sichtbar war, z. B. in Roma und Ekeby, wurde dieses erst nachträglich in die Front der bereits bestehenden Sakramentsnische eingefügt. Somit sind die gotländischen Sakramentsnischen hervorragende Zeugen des für das Spätmittelalter charakteristischen Strebens der Gläubigen nach Veranschaulichung des Heiligen40. In Roma ist deutlich zu sehen, dass hinter der Gittertür ziemlich unordentlich ein Stück von etwa 27 x 20 cm sekundär aus dem Einlegeboden ausgeklinkt wurde. In Buttle misst die Ausklinkung in der Bohle 14 x 16 cm, in Halla etwa 20 x 16 cm und in Lummelunda 36 x 17 cm. Diese Anlagen dienten aller Wahrscheinlichkeit nach für die Platzierung einer Monstranz auf einem hohen Schacht und Fuß. Dieses Gerät, dass für die Ausstellung der Hostie zur eucharistischen Anbetung diente, kam in allen Teilen Europas vor allem ab dem Ende des 14. Jahrhunderts zur Blüte. Auf Gotland ist nur eine einzige Monstranz erhalten geblieben, aus der Kirche von Alskog, jetzt im Gotlands Museum zu Visby. Dieses Gerät, dessen Bekrönung heute fehlt, dürfte ursprünglich eine Höhe von etwa 50 cm gehabt haben. In die um 1275 entstandene Nische in Alva sind zu beiden Seiten der Türchen eiserne Trichter eingesetzt41. Es ist wahrscheinlich, dass diese zum Einwerfen von Münzen dienten, was andernorts (Ganthem, Gerum) auch bei durchbrochenen Schlitzen der Fall gewesen zu sein scheint. Im Spätmittelalter war es üblich, dass die Gläubigen bei der Kommunion eine Spende gaben, die dem Priester in die Hand gegeben oder in eine Opferbüchse geworfen wurde42. Diese
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Abb. 401. Petschow (Mecklenburg), Dorfkirche, Sakramentsnische, 1300–1350
Kollekte im Tausch gegen die Hostie galt letztendlich als ein in Geld ausgedrücktes Offertorium43. Somit scheint die Sakramentsnische selbst zugleich als Opferstock gedient zu haben, obwohl es doch etwas merkwürdig anmutet, dass die Münzen in demselben Raum landen sollten, in dem auch das Allerheiligste aufbewahrt wurde. Es ist deswegen nicht auszuschließen, dass die Trichter und Schlitze erst nach der Reformation angebracht wurden. Dies war offensichtlich im schleswig-holsteinischen Wanderup der Fall, wo in lutherischer Zeit eine löffelartige Anlage durch die Tür der Nische gesteckt wurde, quer durch die gemalte Christusfigur an der Innenseite. So wurde der ehemalige Tabernakel zu einem sicheren Opferstock umgenutzt. Wenn man die gotländischen Sakramentsnischen aus dem 13. und 14. Jahrhundert überschaut, fällt ihre Vielfalt – Maße, Einteilung, Dekoration und Ikonografie betreffend – sofort ins Auge44. Das Spektrum erstreckt sich von der einfachen, kleinen, hoch platzierten Nische in Fide mit einer
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Höhe von nur 71 cm bis zum monumentalen Wandschrank in Väskinde mit einer erheblichen Gesamthöhe von 242 cm. Manche Nischen sind sehr schlichter Ausführung mit einfachen Dekorationen, während andere sehr reich und üppig gestaltet sind, mit feinen Schnitzereien, eingeritzten Figuren und Malereien. Einige Nischen sind ungeteilt, während der Schrank in Lärbro in fünf einzelne, verschließbare Fächer unterteilt ist. Eine solche Gestaltung wirft die Frage auf, wozu die anderen vier Kompartimente dienten. Aus den bereits erwähnten Consuetudines Canonicae der Kathedrale von Lund aus den Dreißigerjahren des 12. Jahrhunderts geht hervor, dass das Tabernakel neben dem Allerheiligsten auch liturgischen Geräten, wie Kelchen und Patenen, Korporalien und anderen Leinentücher, Messkännchen sowie Ampullen mit Wein und Wasser Platz bot45. Die fast sechzig frühen Sakramentsnischen in den Kirchen Gotlands stellen einen besonderen Reichtum dar, der innerhalb von ganz Europa ohne Vergleich ist. In Mecklenburg und anderen Gebieten entlang der deutschen Ostseeküste sind Sakramentsnischen aus dieser Epoche nur selten. Bei der Sakramentsnische im mecklenburgischen Petschow wurden die Kreuzigung, zwei Wappen und zwei Kelche mit Hostien in das Eichenholz der Tür geschnitzt (Abb. 401). Nische und Tür stammen vermutlich aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Interessant ist zudem, dass neben dieser Nische im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts in derselben Kirche ein turmförmig auskragender Wandschrank entstand, was das Bedürfnis zur Monumentalisierung gerade in dieser Epoche zum Ausdruck bringt46. Seine geschlossene Tür zeigt, dass die Veranschaulichung des Sakraments hier zu der Zeit jedoch noch keine große Rolle spielte. Ähnlich gestaltete, geschlossene „Wandtürme“ aus den Jahrzehnten nach dem Doberaner Sakramentsturm begegnen wir in den Dorfkirchen von Rethwisch und Hanstorf, beide Patronatskirchen des Klosters Doberan47. Beispiele wie diese sind jedoch in Norddeutschland wie auch in Dänemark und dem weiteren Baltikum außerhalb der Insel Gotland Ausnahmen. Es ist auffällig, dass Vergleichsbeispiele zu den Sakramentsnischen Gotlands auf dem schwedischen Festland fast vollständig fehlen. Es ist behauptet worden, der Einbau von Wandnischen sei auf dem schwedischen Festland sehr schwierig gewesen wegen des Materials, woraus die meisten Kirchen gebaut wurden, nämlich Granit. In manchen Kirchen in Uppland nördlich von Stockholm begegnet man robusten, eisenbeschlagenen und freistehenden Schränken, die normalerweise als „Sakramentshäuschen“ gedeutet werden, obwohl genaue Beweise dafür fehlen. Die Frontseiten
der kräftigen Schränke in Villberga und Rimbo, die vermutlich aus dem frühen 14. Jahrhundert stammen, zeigen eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit den Wandschränken auf Gotland48. Parallelen dieser schwedischen Schränke begegnet man auch in Deutschland, z. B. in der Sakristei des Halberstadter Doms, wo zwei „Giebelschränke“ aufgrund ihrer Stilmerkmale in das 13. Jahrhundert zu datieren sind49. Obwohl solche Möbel oft pauschal als „Sakristeischrank“ gedeutet werden, ist ihre genaue Funktion innerhalb und/oder außerhalb der Liturgie nicht näher zu bestimmen.
FRÜHE SAKRAMENTSTÜRME IM OSTSEEGEBIET
in der genannten Region unter anderen in Kleinow, Riebau, Siedengrieben, Uenze und Walsleben54. Auch auf Rügen sind einige erhalten, so in Rappin und Gross Zicker. Die meisten dieser Schränke wurden aus einem einzigen Baum geschnitzt55. Obwohl schwer datierbar, scheinen diese einfachen Einbaumschränke zumeist während des 14. Jahrhunderts entstanden zu sein. Schon um 1300 wurden hölzerne Sakramentstürmchen auch in feineren Formen gefertigt56. In der St. Jürgenkapelle bei Burg auf Fehmarn findet sich ein aus einem Stück Eichenholz geschnitztes Türmchen, das möglicherweise noch aus dem späten 13. Jahrhundert stammt (Abb. 402)57. Unterhalb des rechteckigen Schreins ist eine Kugelverzierung ähnlicher Gestaltung wie unterhalb des bereits beschriebenen „Leuch-
Um 1300 trat in Deutschland und den Nachbarländern eine wichtige Veränderung in der Entwicklung des Sakramentsbehälters auf, indem aus dem Schrank, der entweder in die Mauer eingelassen oder freistehend war, ein turmartiges Möbel entstand. Man könnte diesen Prozess so beschreiben, dass die Nische allmählich aus der Wand nach vorne herausragte und sich, mit Fuß und Bekrönung ausgestattet, zu einer Form wandelte, die den Weg für die Entwicklung des monumentalen, spätgotischen Sakramentsturmes bereitete50. Der älteste erhaltene freistehende Turm aus Stein befindet sich im Münster zu Hameln51. Es handelt sich um einen rechteckigen Schrein mit Satteldach und Bekrönung aus kräftigen Fialen, der von drei Säulen getragen wird. Im Giebelfeld über der Gittertür an der Vorderseite erscheint das Lamm Gottes mit einer Kreuzfahne. Wegen des Mangels an erhaltenen Vergleichsbeispielen ist die frühe Geschichte des steinernen Sakramentsturmes jedoch schwer nachzuvollziehen. Der Turm in der St. Bartholomäuskirche im böhmischen Kolín aus der Zeit um 1370 vermittelt uns die seltene Vorstellung von einem Turm der Parlerzeit52. In Niederdeutschland und dem Baltikum vollzog sich die Entwicklung des Sakramentsturms vornehmlich in Holz. Auch hier lässt sich beobachten, wie der Holzschrank aus der Wand nach vorn kam und mit einem Fuß versehen wurde, wodurch eine einfache Turmform entstand. Im brandenburgischen Kaltenborn ist die ganz schlichte Sakramentsnische mittels eines Beils aus einem in die Wand eingelassenen Holzblock ausgespart53. In einigen Dorfkirchen der Altmark finden sich Beispiele einer vergleichbaren Spielart, wobei der Holzblock aus der Wand herausgenommen und auf einem freistehenden Fuß aufgestellt zu sein scheint. Freistehende Türmchen dieser eher rustikalen Art finden sich
Abb. 402. Burg auf Fehmarn (Holstein), St. Jürgenkapelle, Sakramentstürmchen, Ende 13. Jahrhundert?
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ters“ im Doberaner Münster (Abb. 396) ausgebildet, und eine schlanke Spitze dient als Bekrönung. In Brøns im dänischen Südwestjütland blieb ein mit Gitter und Holztür ausgestatteter Schrein erhalten, der ebenfalls aus der Zeit um 1300 stammt (Abb. 403). Der Schrein ist innen mit einem Sternenmuster auf blauem Untergrund ausgemalt. Der (erneuerte) Fuß trägt ein Kapitell, das nach oben in vier Knospen ausläuft58. In der Sammlung des Statens Historiska Museet zu Stockholm befindet sich ein niedriges Türmchen aus överjärna in Södermanland. Die Ausformung der Eckfialen, die Krabben an den Giebelschrägen und die frühgotische Ausformung der Tür deuten auf eine Entstehung während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Aus derselben Zeit blieben auch auf der Insel Gotland einige architektonisch sehr ausgeprägte Türmchen erhalten59. Vom hölzernen Sakramentsturm der Visbyer Marienkirche – dem
größten Kirchenbau der Insel, erbaut für die deutschen Gotlandfahrer – blieben lediglich der achtseitige Schrein (Abb. 404) und der runde Sockel erhalten60. Beide Stücke besitzen eine Gesamthöhe von 258 cm61. Der Schrein hat zu drei Seiten schmale doppelte Fensteröffnungen unter Dreipassabschlüssen; an den anderen Seiten gingen diese Rahmen verloren. An den Leisten sind erhebliche Reste einer Farbfassung in Rot, Grün und Blau sowie Gold und Silber sichtbar. Der schmale Schaft des Fußes wird von einem kräftigen runden Knopf unterbrochen. Aufgrund seiner überwiegend spätromanischen Formensprache wurde dieser Turm von Gunnar und Karin Svahnström auf die Zeit um 1250 datiert62. Kürzlich schlug Achim Timmermann nach einem Vergleich mit dem bereits erwähnten Sakramentsturm von Sénanque (Frankreich) (Abb. 394) ein etwas späteres Entstehungsdatum im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts vor63.
Abb. 403. Brøns (Dänemark), Dorfkirche, Sakramentstürmchen, um 1300 (Fuß nach dem Original erneuert)
Abb. 404. Visby (Gotland, Schweden), Gotlands Museum, Schrein des Sakramentsturmes aus der Marienkirche in Visby, um 1280
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Das schlanke Sakramentstürmchen aus Väte, jetzt im Statens Historiska Museet in Stockholm, ruht auf einem quadratischen Fuß, der sich nach oben verjüngt und in einem Zierring unter dem sechsseitigen Häuschen ausläuft (Abb. 405). Die Wände des Schreins sind zu allen Seiten durch zweigeteilte Lanzettfenster mit Rosettenbekrönungen durchbrochen und von Giebeln mit Krabben und Kreuzblumen bekrönt. Diese Struktur wiederholt sich in der sechseckigen offenen Laterne mit einzelnen Fenstern, die von einer schmalen Spitze bekrönt wird. Der Turm hat eine Gesamthöhe von 363 cm. Aufgrund seiner rein frühgotischen Stilmerkmale lässt sich eine Datierung um 1300 annehmen64. Form und Dekoration des Sakramentstürmchens aus Väte stimmen weitgehend mit denen eines nur zum Teil erhaltenen Türmchens aus Munkbrarup bei Flensburg überein, was auf dessen vergleichbare Datierung in das erste Viertel des 14. Jahrhunderts hindeuten würde65. Aus der Mitte des 14. Jahrhunderts sind keine weiteren Beispiele erhalten, so dass der nächste Sakramentsturm in der Chronologie der Turm im Doberaner Münster ist. Zum Schluss soll auf einige Zeitgenossen des Doberaner Sakramentsturms hingewiesen werden, von denen einige als direkte Nachfolger anzusehen sind. Dem Doberaner Turm sehr ähnlich im Aufbau und Gestaltung ist der monumentale Sakramentsturm in der Klosterkirche zum Heiligen Kreuz (heute das Kulturhistorische Museum) in Rostock, der um das Jahr 1375 entstanden sein muss66 (Abb. 410). Die Felder des Schreins sind mit Relieffiguren des Gnadenstuhls (auf der Tür), der Muttergottes, Johannes des Täufers und Thomas ausgestattet. Auch der schlanke, etwa fünf Meter hohe hölzerne Sakramentsturm im Dom von Lund scheint wie der Turm in Doberan während des letzten Drittels des 14. Jahrhunderts entstanden zu sein67. Am Schrein ist nur die Figur einer unbekannten sitzenden weiblichen Heiligen mit einer Hirschkuh erhalten68. Über dem Schrein erhebt sich eine offene Fiale, während sich unterhalb ein zweites verschließbares Fach befindet, möglichweise ein Opferstock. Ein interessanter Sakramentsturm aus derselben Zeit findet sich in der Dorfkirche von Lichtenhagen bei Rostock69 (Abb. 406). Er besteht aus einem schmalen Fuß, einem sechseckigen Schrein mit Türen auf drei Seiten und einer Bekrönung in Form einer offenen Spitze. Unterhalb des Schreins befindet sich eine mit Schmiedeeisen beschlagene Aushöhlung, in die durch ein Rohr Münzen geworfen werden konnten.
Abb. 405. Stockholm (Schweden), Statens Historiska Museet, Sakramentsturm aus Väte (Gotland), um 1300
Der Doberaner Sakramentsturm und die Sakramentsnischen und -häuschen im südlichen Ostseeraum | 411
Fest steht, daß diese Anlage zum ursprünglichen Entwurf des Turmes gehörte. Ihre Spende gewährte den Gläubigen zugleich den körperlichen Zugang zum Sakrament: Während sie eine Münze in das Rohr warfen, konnten sie durch das Gitter einen Blick auf die Hostie in seiner Monstranz werfen. Dieser Umstand belegt überdies, dass der Chorraum mittelalterlicher Pfarrkirchen nicht nur, wie oft angenommen, für die Geistlichen, sondern in gewissem Maße auch dem Laienvolk zugänglich war. Anna Nilsén, die die Entwicklung der Chorschranke in schwedischen Kirchen analysiert hat, kommt aus verschiedenen Gründen zum Schluss, dass Gläubige den Chor in schwedischen mittelalterlichen Kirchen außerhalb der Gottesdienste für Andachtszwecke generell betreten durften70.
SCHLUSSFOLGERUNG UND AUSBLICK Mit seiner Höhe von 11,60 m und Datierung um 1368 gehört der Sakramentsturm in der ehemaligen Klosterkirche zu Doberan nicht nur zu den höchsten, sondern auch zu den frühesten erhaltenen Tabernakeln in Turmform. Wie es in den Gebieten rund um die Ostsee gebräuchlich war, ist der Turm aus Holz gefertigt. Die Vergänglichkeit dieses Materials hat zweifelsohne dazu beigetragen, dass nur sehr wenige der Vorläufer des Doberaner Turms erhalten blieben. Da die von einigen Autoren angenommene Aufbewahrung der Eucharistie in einer im Altar platzierten Marienskulptur wichtige Fragen aufwirft, muss damit gerechnet werden, dass der Vorgänger des heutigen Turms auch in ähnlicher Form gestaltet war. Die frühen hölzernen Türmchen in Burg auf Fehmarn und Brøns (DK), aus överjärna (S), und zwei auf Gotland (S) erhaltenen Exemplare, die alle aus dem letzten Viertel des 13. oder dem ersten Viertel des 14. Jahrhunderts stammen, bieten eine Vorstellung davon, wie dieser ausgesehen haben könnte. Des Weiteren bestand die „Tabernakellandschaft“, in der der Doberaner Turm entstand, überwiegend aus mit Holztafeln verkleideten Wandnischen. Neben einigen Beispielen in Norddeutschland soll hier vor allem auf den einmaligen Reichtum der Insel Gotland verwiesen werden, wo Sakramentsnischen in etwa sechzig Kirchen weitgehend erhalten blieben.
Abb. 406. Lichtenhagen (Mecklenburg), Dorfkirche, Sakramentsturm mit Opferbüchse, Ende 14. Jahrhundert
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Die Beschäftigung mit diesen Sakramentsnischen und -häuschen in vorreformatorischen Kirchen bietet wichtige Einblicke in die liturgische und devotionale Praxis sowie in die religiöse Erfahrung der mittelalterlichen Gläubigen. Zwar war der Altar – zumindest während der Messe – der wichtigste und heiligste Gegenstand im Kirchenraum, aber man könnte sich fragen, ob dieses Prädikat außerhalb der Messe nicht eher dem Sakramentsturm zukam. Hier nämlich wurde das Allerheiligste aufbewahrt und im Laufe der Zeit auch immer öfter den Gläubigen zur Schau und Verehrung ausgestellt. Da der durchschnittliche Gläubige normalerweise nicht körperlich an der Messe teilnahm, rückte das Schauen des Allerheiligsten immer mehr in das Zentrum der mittelalterlichen Religiosität. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass der Chorraum öfter durch die Laien betreten werden konnte, als traditionell angenommen wird. Somit wurde das Sakramentshäuschen zum Brennpunkt der für diese Epoche so typischen, leidenschaftlich betriebenen eucharistischen Andacht.
ABSTRACT With its height of 11.60 m and its dating shortly after 1368, the sacrament tower in the former monastery church of Doberan is not only one of the highest but also among the earliest preserved tower-shaped tabernacles. As was common in the Baltic area, the tower is made of wood. The impermanence of this material has undoubtedly contributed to the fact that only very few older sacrament towers have survived. Since the storage of the Eucharist in a Marian sculpture in the centre of the high altar retable, as has been supposed by several authors, raises important questions, it is probable that there was a predecessor of today’s tower and that it was of comparable design. The remaining earlier wooden towers in Burg on the island of Fehmarn, in Brøns (Denmark), from överjärna (Sweden), and two examples preserved on the island of Gotland, all created during the last quarter of the 13th or the first quarter of the 14th century, provide an impression of what it may have looked like. In addition, the „tabernacle Landscape“ around the Baltic Sea consisted mainly of wall niches lined with wooden panels. This paper discusses examples in Northern Germany, but mainly points to the unique richness of the island of Gotland, where sacrament niches have been preserved in about sixty churches as a whole or in part.
ANMERKUNGEN 1
Laut dem Dekret Sane im 20. Kapitel des IV. Lateranense, vgl. NUSSBAUM 1979, S. 373. 2 Zur Formentwicklung des Sakramentsbehälters im Mittelalter vgl. vor allem TIMMERMANN 2009. 3 VOSS 2008, S. 60–61 und LAABS 2000, S. 97–110. 4 VOSS 2008, S. 60. 5 Zu diesem Thema FRITZ 1997. 6 Vgl. KROESEN/TåNGEBERG 2014. 7 S. dazu den Beitrag von Vera Henkelmann in diesem Band. 8 LAABS 2000, S. 23–25. 9 LAABS 2000, S. 25. 10 Zu Hängetabernakeln bei den Zisterziensern vgl. KING 1958. 11 LAABS 2000, S. 25. 12 NUSSBAUM 1979, S. 342: „Dabei kann die Marienstatue auf dem linken Arm das Jesuskind tragen und in der rechten an einer Kette das Aufbewahrungsgefäss, dass man auf den Altar herablassen kann”.
13 Dieses Gehäuse stützt sich auf eine Säule, die vermutlich aus späterer Zeit (aus dem Spätmittelalter oder sogar aus dem 19. Jahrhundert) stammt. Vgl. LAABS 2000, S. 108 und TIMMERMANN 2009, S. 32f. 14 Heute wird das Objekt in einem als Kapelle eingerichteten Nebenraum des Klosters aufbewahrt, wo es auf eine neuzeitliche Säule stützt. 15 Laut Johannes Voss ist die Funktion dieser als „Leuchter” bezeichneten Fiale unklar: „Brandspuren trägt er nicht, so dass nur eine Nutzung mit eingestellter Laterne, beispielsweise bei einem Requiem oder bei Memorialfeiern, die Bezeichnung rechtfertigen könnte”, vgl. VOSS 2008, S. 142. 16 NUSSBAUM 1979, S. 399. 17 Vgl. TIMMERMANN 2009, S. 367. Zum Traktat generell: THÜMMEL 2000. 18 NUSSBAUM 1979, S. 401.
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19 Literaturauswahl: CASPARy 1964; FOUCART-BORVILLE 1990; FREBEL 1973; GERMAN 2014; GÜTTICH 1952; KING 1965; KROESEN/TåNGEBERG 2014; LINDGREN 1988; NUSSBAUM 1979; PRUTSCHER 1980; RAIBLE 1908; REINLE 1988, S. 24–31; TIMMERMANN 2005; TIMMERMANN 2009; WEIDENHOFFER 1992; WESENBERG 1937; WIECKOWSKI/WIECKOWSKI 2008. 20 Liber de incendio in oppido tuitii, in MIGNE PL 152, Sp. 336. Übersetzung nach RAIBLE 1908, S. 177–178. 21 BUUS 1978. 22 Vgl. ACHTER 1983. 23 Vgl. ACHTER 1983. 24 KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 44–45. 25 Vgl. KROESEN/TåNGEBERG 2014. 26 KROESEN/TåNGEBERG 2014, Katalog K13. 27 KROESEN/TåNGEBERG 2014, Katalog K33. 28 KROESEN/TåNGEBERG 2014, Katalog K15. 29 Um die Einsehbarkeit zu verbessern wurde nachträglich, im späteren Mittelalter, vor diesem Fach ein Stück aus den Türen ausgesägt und von einem Gitter ersetzt. 30 KROESEN/TåNGEBERG 2014, Katalog K3. 31 KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 87. 32 KROESEN/TåNGEBERG 2014, Katalog K23. 33 KROESEN/TåNGEBERG 2014, Katalog K52. 34 Vgl. JANSSON/WESSéN/SVÄRDSTRöM 1978, Bd. 2, S. 196f. 35 Vgl. KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 43. 36 KROESEN/TåNGEBERG 2014, Katalog K24. 37 In seinem oben erwähnten Traktat „Kirchengeschmuck“ aus dem Jahr 1591 beschreibt Jakob Müller verschiedene Maßnahmen, „allerley Feuchtigkeit“ im Sakramentshaus zu vermeiden, s. KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 75. 38 KROESEN/TåNGEBERG 2014, Katalog K51. 39 In der St. Johanniskirche in Osnabrück ist über dem Eisengitter der Nische in der Ostwand südlich vom Altar (vermutlich also nicht die Sakramentsnische) ebenfalls eine Eisenstange mit Ringen zu sehen. Diese Nische stammt allerdings aus dem 15. Jahrhundert. 40 Vgl. KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 101–104. vgl. auch DUMOUTET 1926. 41 KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 104–105. 42 Vgl. ANGENENDT 2000, S. 496–497. 43 KROOS 1985, S. 504. 44 Peter Tångeberg und ich haben diese Vielfalt in unserer Studie der gotländischen Sakramentsnischen als „Variationsfreude“ bezeichnet, vgl. KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 63–67. 45 KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 111.
46 Vgl. KROESEN/STEENSMA 2012, S. 110, 135. 47 Diese wurden von Johannes Voss zu recht den Nachfolgern des Doberaner Turms zugeordnet, vgl. VOSS 2008, S. 61. 48 KROESEN/TåNGEBERG, S. 53–54. 49 S. KARLSON 2008. 50 Für eine Analyse dieser Entwicklung, s. die in Anm. 19 erwähnte Literatur sowie KROESEN/TåNGEBERG 2014, Kapitel 3: “Frühe Sakramentsnischen in Europa (1150–1400) – Von der Nische zum Turm”. 51 Vgl. ERDMANN 1994, S. 21–26. 52 Vgl. auch TIMMERMANN 2002. 53 GERICKE/SCHLEIFF/WENDLAND 1977, S. 146–147. 54 KROESEN/STEENSMA 2012, S. 135–136. 55 Vgl. VON STÜLPNAGEL 2008. 56 Vgl. KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 50–51. 57 Datierung laut der Kunst-Topographie Schleswig-Holstein: 13. Jh. 58 Diese Kopie ist dem Original im Nationalmuseet in Kopenhagen getreu nachgeahmt. 59 KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 70–72. 60 Beschrieben in KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 71. 61 Sie werden zerlegt im Depot des Museums Gotlands fornsal in Visby aufbewahrt. 62 SVAHNSTRöM/SVAHNSTRöM 1986, S. 30–32. 63 TIMMERMANN 2009, S. 37. 64 Vgl. KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 71–72 und TIMMERMANN 2009, S. 37. 65 ALBRECHT 2016, S. 212f. datiert das Turmfragment erstaunlicherweise jedoch erst „um 1480“. 66 Vgl. BAIER/ENDE/OLTMANNS 1990, S. 402. 67 Der hölzerne Sakramentsturm im Dom von Brandenburg an der Havel stammt aus derselben Zeit. Seine ursprüngliche Funktion als Tabernakel ist jedoch unsicher: der Fuss und die Verblendung des Masswerks sind neu, die drei Relieffiguren um den Schrein herum gehören nicht zusammen, und das Türchen ist auffällig schlicht ausgeformt. Es ist die interessante Beobachtung geäussert worden, dass der Turm als bekrönende Fiale eines Altarschreins entstanden sein könnte. 68 Laut Ewert Wrangel (WRANGEL 1923, S. 36–38) könnte es sich entweder um Katharina von Vadstena, die Tochter Birgittas, oder auch um die heilige Ida (Itha von Toggenburg) handeln, und er bringt die Entstehung des Turms mit einer Schenkung im Jahr 1398 in Verbindung. 69 Vgl. KROESEN/TåNGEBERG 2014 S. 36, 106. 70 NILSéN 2003, S. 101–102.
Rechte Seite: Abb. 407. Retabel mit der Tugendkreuzigung, Detail aus Abb. 94
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DOBERAN ALS ANSPRUCHSNIVEAU – DIE REGIONALE REZEPTION DER KLOSTERAUSSTATTUNG ANJA SeLIGer
Es ist ein Allgemeinplatz, dass qualitätvolle Vorbilder nicht nur ein gelungenes Werk, sondern in der Folge auch die Nachfrage nach vergleichbaren Produkten garantieren. Diese Annahme gilt nicht nur für die moderne Zeit, sie kann auch Gültigkeit für die vorangehenden Jahrhunderte beanspruchen. Das gilt im Speziellen für die Doberaner Münsterausstattung von internationalem künstlerischen Rang. Jüngst folgerte Ilka Minneker, dass „durch den verstärkten Laienverkehr in der Kirche selbst, durch die Begräbnisse [...] im Gotteshaus sowie in der Funktion als Wallfahrtsort [...] Doberan eine solche Bedeutung für das gesamte Gebiet (erlangte), die es erlaubt, von der Abteikirche als dem ‚Dom Mecklenburgs’ zu sprechen“1. Man kann folglich davon ausgehen, dass unter den Zeitgenossen des 14. Jahrhunderts die besondere Qualität bekannt war und Kirchenbau und Ausstattung – so die Ausgangsthese dieses Beitrages – im Wirkungsgebiet der Doberaner Mönche ein Anspruchsniveau herbeiführten, das sich in symbolischer Bezugnahme und repräsentativem Bauzwang niederschlug2. Exemplarisch untersucht dieser Aufsatz die zeitgenössische Wirkung der Doberaner Erstausstattung im 14. Jahrhundert auf die sakralen Einrichtungen im engeren Einzugsgebiet des Klosters. Die Untersuchung ist auf zwei Komplexe fokussiert: Im ersten Abschnitt zum Ordensnetzwerk liegt der Schwerpunkt auf der Ausstattung des nahe gelegenen Zisterzienserinnenklosters Hl. Kreuz in Rostock, das in enger Verbindung zu Doberan stand3. Wegen der recht fragmentarisch überlieferten Ausstattung im Frauenkonvent, vor allem aber aufgrund ihrer Bedeutung im täglichen monastischen Gesche-
hen und im neu aufkommenden Sakramentskult, werden die beiden Ausstattungsgattungen Chorgestühl und Sakramentshaus exemplarisch herausgegriffen. Der zweite Teil der Arbeit wirft einen Blick auf die zum Klostergut gehörenden Kirchen im ländlichen Raum mit dem Schwerpunkt Retschow. Anders als die Zisterzienser-Grangien, die als Wirtschaftszentren sowohl wirtschaftshistorisch wie auch archäologisch bereits umfassend gewürdigt sind4, wurde den Grangienkapellen und jenen Pfarrkirchen, die sich in dörflichen Besitzungen der Klöster befanden, von kunsthistorischer Seite bislang kaum Beachtung geschenkt5. Studien zum Einfluss des Zisterzienserordens auf die seelsorgerliche Betreuung dieser Niederkirchen liegen bereits vor6, die Einwirkung des Ordens auf die Ausstattung dieser Kirchenbauten ist jedoch gänzlich unerforscht. Annegret Laabs erachtet es als durchaus möglich, dass der Orden an der Einflussnahme auf den Bildgebrauch interessiert war, indem „man sich [...] mit der Herstellung von Bildern in den Abteien beschäftigt hatte, um damit die Kirchen und Kapellen in den ordenseigenen Grangien und in den Pfarreien, über die man das Patronatsrecht ausübte, auszustatten“7. Diese auf den ersten Blick sehr konträr wirkenden Bereiche von ordensinterner Klosterkirche und ordensexternen Dorfkirchen weisen insbesondere bei Fragen zum Kompositionsund Motivtransfer und der damit einhergehenden Funktion von Formen, Bildinhalten und dogmatischem Überbau wesentliche Gemeinsamkeiten auf. Es wundert daher kaum, dass die daraus folgenden Überlegungen immer wieder die Probleme der Werkstattpraxis umkreisen.
Linke Seite: Abb. 408. Doberan, Sakramentsturm, Detail: Maria und Johannes der Täufer
GRUNDFRAGE: WERKSTÄTTEN IN ZISTERZIENSERKLöSTERN? Von einem idealisierten Ordensverständnis geprägt, vertrat die ältere Forschung das Bild der handwerklich-künstlerisch tätigen Mönche. Auch Friedrich Schlie möchte die Prinzipalstücke des Doberaner Münsters von den Konversenbrüdern im Kloster gefertigt sehen8. Ein korrigiertes, wenngleich ebenso ein Ideal vermittelndes Bild etablierte Nikolaus Zaske, nach welchem „…die Doberaner Zisterzienser das Leistungsvermögen hansestädtischer Kunstwerkstätten heraus[forderten], als sie um 1368 für ihre Klosterkirche den doppelseitigen Kreuzesaltar anfertigen ließen“9. Die jüngere Forschung postulierte hingegen ein komplexeres Bild, das eine individuelle Betrachtungsweise erfordert. Ulrich Knapp beispielsweise konnte für das Zisterzienserkloster Salem in der Zeit um 1300 zeigen, dass der Orden Klosterwerkstätten von zweierlei Art betrieb. Innerhalb der Klosteranlage lagen die für die alltäglichen Belange und Unterhal-
Abb. 409. Hochchorbereich mit Retabelrückseite und Sakramentsturm
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tungsarbeiten genutzten und von fest angestellten Handwerkern betriebenen Werkstätten. Für ortsfremde Künstler und Handwerker hingegen, die in Salem Aufträge ausführten, wurde „ein eigenes, von der inneren Klosteranlage abgesetztes Gebäude“ errichtet10. Bei diesen ortsfremden Handwerkern handelte es sich zumeist um Lohnarbeiter der künstlerischen und baubezogenen Gewerke11. Dennoch deuten vereinzelte Hinweise auf die bildkünstlerische Tätigkeit auch von Ordensleuten hin, wenngleich die Situation in jeder Abtei eine andere gewesen sein wird und insbesondere die Belege für Bildschnitzer innerhalb des Zisterzienserordens sehr rar sind12. Für Doberan fehlen jegliche Quellen für bildkünstlerisch tätige Klosterbrüder und deren Werkstätten. Zukünftige archäologische Untersuchungen könnten jedoch neue Erkenntnisse zur Infrastruktur im Klosterareal liefern. Dass auch hier wandernde, spezialisierte Handwerker zur Fertigung der Ausstattung herangezogen wurden, legen die kunsthistorischen Beobachtungen an den Doberaner und Rostocker Sakramentshäusern nahe – soviel sei hier vorweggenommen.
DIE ORDENSINTERNE REZEPTION Von der Akzeptanz des Sakramentskultes im Zisterzienserorden und der Notwendigkeit einer angemessenen Aufbewahrung des Sakramentes zeugt das Doberaner Sakramentshaus. Mit einer Entstehungszeit um 1370 zählt er zu den frühen Beispielen monumentaler Sakramentstürme (Abb. 392)13. Ähnliches gilt für das hölzerne Sakramentshaus des Zisterzienserinnenklosters Hl. Kreuz in Rostock (Abb. 410). Die formalen Übereinstimmungen beider Sakramentshäuser reichen von der inneren Konzeption der Gestaltung bis in die Proportionen und motivischen Details. Beide sind als freistehende, mehrstufige Türme über sechseckigem Grundriss angelegt14. Über dem Sockelgeschoss mit maßwerkverzierter Basis und einem Register mit Figurenfeldern vermittelt der eingezogene Hals mit Blattknollenkranz zu einem zweiten Figurenpolyeder und dem darüber liegendem Sakramentsfach. Darüber ragt ein überhöhter, filigraner Turmhelm mit schlanken, durchbrochenen Maßwerklanzetten steil in die Höhe. Auch die Ausführung der Detailformen stimmt überein. Summarisch seien aufgezählt: die ringförmig angeordneten Knollenblätter als Nodi, vorgeblendete Eckfialen, deren untere Abschlüsse in Lunulae-Anhänger enden und die besonders markante Gestaltung der Figurenbaldachine aus gestelzten und mehrfach gestuften Spitzbögen mit hängendem Maßwerk (Abb. 408, 411). Typisch für beide Sakramentshäuser wie auch für weitere Doberaner Ausstattungsstücke aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist die aus den Bogenschenkeln erwachsende mehrstufige Kreuzblume, die von einer eckigen Maßwerkblende mit einem Kranz aus knopfartigen Kreuzblumen hinterfangen wird. Im Gegensatz zum Gehäuse weist das Figurenprogramm – nicht nur aufgrund des Erhaltungszustandes – größere Unterschiede auf. Das Bildprogramm in Doberan ist beinahe vollständig erhalten und weist eine typologische Hierarchie auf: im Untergeschoss Vertreter des alten Testaments, neutestamentarische Figuren darüber. In Rostock sind hingegen nur einige Skulpturen des Obergeschosses erhalten. Ob das untere Register ähnlich wie in Doberan mit alttestamentarischen Sitzfiguren ausgestattet war, muss offenbleiben. Ein vergleichender Blick auf das neutestamentarische Figurenprogramm zeigt, dass sich das Personal teilweise entspricht, aber unterschiedliche Figurentypen gewählt wurden. Johannes der Täufer beispielsweise ist in Doberan mit dem Lamm Gottes und einem Spruchband in den Händen dargestellt,
Abb. 410. Rostock, Zisterzienserinnenkloster Heilig-Kreuz, Sakramentsturm, um 1370
in Rostock aber im Redegestus auf eine Scheibe weisend, die sicherlich ehemals ein Bild des Agnus Dei zeigte. Auffällig ist daneben die unterschiedliche formale Auffassung der Figuren. Während die Skulpturen in Doberan ein sehr rundes Gesicht zeigen, haben jene in Rostock ein schmales, langgestrecktes Antlitz; zudem sind sie von einer deutlich grazileren Statur. Ausgehend von diesen Beobachtungen kann das Rostocker Gehäuse, also der eigentliche Sakramentsturm, nicht als eine Nachahmung des Doberaner Werkes angesprochen werden, auch nicht als ein Nachbau nach einer zeichnerischen oder gar mündlichen Beschreibung. Vielmehr handelt es sich um eine Werkstattkopie, beide Gehäuse wurden von denselben Handwerkern geschaffen. Fraglich bleibt dennoch, ob beide
Doberan als Anspruchsniveau – Die regionale Rezeption der Klosterausstattung | 419
Zur Ausgangsfrage nach dem Anspruchsniveau zurückkehrend, bleibt festzuhalten, dass es den Rostocker Nonnen wichtig war, ein dem Doberaner Häuschen annähernd baugleiches Modell zu erwerben und das gleichwertige Objekt durch eine im Ordensnetzwerk vermittelte Werkstatt anfertigen zu lassen. Sie behielten sich aber vor, das ikonografische Programm an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Die Gestalt des Doberaner Sakramentsturmes war also so erfolgreich, dass sie als formales Vorbild dienen konnte. Neben dem Sakramentshaus zählt das Chorgestühl zu den raumprägenden und zur Ausübung der Offizien notwendigen Ausstattungsstücken. Das Doberaner Exemplar legt beredetes Zeugnis von den reichen Gestaltungsmöglichkeiten ab (Abb. 58)17. Das Gestühl in Hl. Kreuz lässt hingegen die reiche Ausgestaltung der Stallen und Wangen missen, obgleich die Ausführung von hoher, handwerklicher Könnerschaft zeugt (Abb. 412). Ohne figürliches Programm und ohne vegetabiles Ornament entspricht das Rostocker Gestühl dem zeitgleichen Gestühl weiblicher Zisterzienserkongregationen18.
DIE DORFKIRCHEN
Abb. 411. Rostock, Zisterzienserinnenkloster Heilig-Kreuz, Sakramentsturm, Detail, um 1370
Figurenprogramme von der Werkstatt des Sakramentsturmes gefertigt wurden oder ob die Rostocker Zisterzienserinnen auf das Sortiment einer andernorts angesiedelten Werkstatt zurückgegriffen haben. Für Letzteres sprechen die breiten Konsolen des unteren Registers, die die Anbringung separat gefertigter Skulpturen zu einem späteren Zeitpunkt möglich machen. Peter Knüvener konnte anhand eines altmärkischen Retabels zusätzliche Hinweise erbringen, dass die Werkstatt der Doberaner und Rostocker Sakramentstürme nicht ortsfest war15. Ihre Einbindung in kollektive Arbeitsprozesse bleibt derzeit jedoch aufgrund fehlender Quellen schwer durchschaubar und könnte erst durch kunsttechnologische und gefügekundliche Untersuchungen erhellt werden16.
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Der Sakramentskult beschränkte sich nicht auf die Klosterkirchen. Auch in Dorfkirchen ist die Errichtung von Sakramentshäuschen zur Verehrung der konsekrierten Hostien, einhergehend mit einem regen Ablasswesen, bekannt19. Doberan als Wallfahrtsort kommt für die Frage nach der Verbreitung des Sakramentshauses in Turmform demnach eine grundlegende Bedeutung zu, obwohl anfangs nur die Pforthauskapelle, die sog. Heilig-Blut-Kapelle, Ziel der Pilger war. Wenn aber um die Mitte des 14. Jahrhunderts ein Ablassbrief die Büßer auffordert, Kapelle und Klosterkirche zu betreten, ist bereits eine grundsätzlichere Lockerung des Zugangs zum Kirchenraum angezeigt20, wenngleich die Quellen erst um/nach 1400 einen regeren Besucherstrom annehmen lassen21. Sicherlich wurde den Laien der Zutritt in die Kirche nur außerhalb des abgeschrankten Bereiches gewährt, sodass sie vom Sakramentsturm vermutlich nur den kleinteiligen Helm wahrnehmen konnten. Die hochaufragenden Aufsätze der in Wandnischen eingelassenen Sakramentsschränke in den Dorfkirchen Petschow, Hanstorf (Abb. 413) und insbesondere Rethwisch mögen durch das Doberaner Werk angeregt worden sein, wenngleich konkrete Bezüge hinsichtlich Auftraggeber, Handwerker und Rolle der Klosterbrüder in den Dorfkirchen aufgrund der Quellenarmut zunächst spekulativ bleiben müssen.
Abb. 412. Rostock, Zisterzienserinnenkloster Heilig-Kreuz, Chorgestühl vom ehemaligen Nonnenchor, heute im Hohen Chor, vermutlich Mitte 14. Jahrhundert
Abb. 413. Hanstorf (Mecklenburg), Dorfkirche, Sakramentshaus, um 1400
In Lichtenhagen wurde die Form des freistehenden Sakramentsturms aufgegriffen; die Umsetzung indes fiel mit reduzierter Formenvielfalt und ohne figürliches Programm schlichter, aber nicht weniger monumental aus. Im Fuß des Türmchens ist fest verankert eine Spendendose eingelassen, in die der fromme Betrachter beim Besuch des Allerheiligsten seine Spende einwerfen konnte (Abb. 414). Ob das Fragment eines weiteren Sakramentshauses ebendort – ein vergittertes Fach über eingezogener Basis, besetzt mit Knollenblättern (Abb. 415) – der ursprüngliche Fuß dieses Sakramentshauses ist, der zugunsten der Spendendose ausgetauscht wurde, lässt sich derzeit nicht klären22. Wenn dem so wäre, läge eine formal exakte, wenngleich weniger qualitätvolle Nachbildung des Doberaner Tabernakels vor. Ein seltener Befund in Dorfkirchen ist das Chorgestühl in Retschow, unweit südlich Doberan gelegen. Heute unter der
Abb. 414. Lichtenhagen (Mecklenburg), Dorfkirche, Sakramentsturm, um 1400
Abb. 415. Lichtenhagen (Mecklenburg), Dorfkirche, Fragment eines Sakramentsturms, Ende 14. Jahrhundert (?) mit jüngeren Ergänzungen
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Orgelempore an der Westwand des Saales aufgestellt, umfasst es vier Sitze (Abb. 416)23. Obwohl der grobe Aufbau des Gestühls der etablierten mittelalterlichen Form entspricht, wird doch schnell deutlich, dass es von einem unerfahrenen, mit Kirchenmobiliar unvertrauten Handwerker gefertigt wurde; keinesfalls entstammt das Gestühl derselben Werkstatt wie das Doberaner, noch wurden die Doberaner Formen rezipiert. Die üblichen viertelkreisförmigen, eingetieften Führungen für die Klappsitze fehlen, die scheibenförmigen Handknäufe stehen auf schlanken Pyramidenstümpfen senkrecht hoch und sind nur wenig freigestellt (Abb. 416, 417). Insgesamt ist die Ausführung grob und schlicht, einfache Zirkelornamente an der stumpfen Stirn der Accoudoirkopfstücke und Ritzlinien an den Knäufen sind die einzigen Verzierungen. Insgesamt überwiegt an diesem Gestühl der funktionale Charakter – die Idee eines Chorgestühls wurde verwirklicht. So-
mit stellt sich die Frage nach der Funktion des Chorgestühls in einer Dorfkirche24: Hof und Dorf Retschow konnte das Kloster Doberan im Jahre 1358 erwerben25. Inzwischen ist es ein mediävistischer Allgemeinplatz, dass auch in Dorfkirchen mehrere Vikarien gestiftet wurden, wenngleich die konkreten Belege für Nebenaltäre rar sind26. Für Retschow fehlen sowohl urkundliche als auch materielle Belege, hingegen sind für die nahegelegene Kapelle im Dorf Rethwisch im 15. und frühen 16. Jahrhundert insgesamt drei Mönchspriester überliefert27. Zudem gestatteten mehrere Ablassurkunden dem Kloster Doberan das Abhalten von „Predigt und Gottesdienst auf den Klosterbesitzungen [...] parallel zur herkömmlichen Seelsorge der Pfarrer, ohne diese (zu) beeinträchtigen“.28 Das Gestühl in der Dorfkirche spricht daher nicht nur die Fragen nach der kunsthistorischen Rezeption und den Werkstätten an, sondern bietet
Abb. 416. Retschow (Mecklenburg), Dorfkirche, Chorgestühl, Ende 14. Jahrhundert
Abb. 417. Retschow (Mecklenburg), Dorfkirche, Chorgestühl, Detail, Ende 14. Jahrhundert
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gleichzeitig einen Einblick in die pfarrkirchliche Liturgie und den Einfluss der Mönche auf das Niederkirchenwesen. Ein reduziertes Stundengebet, wie es seit dem mittleren 14. Jahrhundert in den städtischen Pfarrkirchen die Regel war, ist auch in den vom Zisterzienserorden betreuten Dorfkirchen anzunehmen. Meine These lautet daher, dass das Gestühl in Retschow in seiner ursprünglichen Nutzung den in der Dorfkirche wirkenden Zisterziensermönchen der Abtei Doberan diente. Warum sollten sie in Retschow nicht auch Einfluss auf die bildkünstlerische Ausstattung genommen haben? An Laabs’ These zur Einflussnahme des Ordens erinnernd29, ist es erlaubt, einen Blick in zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zu werfen. Denn neben dem Chorgestühl besitzt die Dorfkirche Retschow mit dem sogenannten Mühlenretabel ein besonders hochwertiges Ausstattungsstück, das bereits zu zahlreichen Kontroversen hinsichtlich der Urheberschaft führte. Das Retabel nimmt beinahe die gesamte Breite des Chorraums ein und dominiert die Raumsphäre optisch wie auch materiell. Die Festtagsseite zeigt zentral eine Marienkrönung, flankiert von Reliefs der Apostel und einigen der Vierzehn Nothelfer. Die erste Wandlung präsentiert Szenen der Passion, die Alltagsseite das Mühlenmotiv, das durch die Darstellung der Gregorsmesse, einer Verkündigungsszene und der Heiligen Sippe ergänzt wird. Die Mühlendarstellung selbst zeigt die Symbole der Evangelisten, die sinnbildlich übertragen das Wort Gottes auf Spruchbändern in eine in der Bildmitte angeordnete Mühle gießen. Beidseitig des Trichters angebrachte Spruchbänder sind den darunter stehenden und die Mühle antreibenden Aposteln zugeordnet und schaffen einen auf den Schriften basierenden Rückhalt des Geschehens. Am Fuße der Mühle, paarig kniend, fangen die vier lateinischen Kirchenväter das fleischgewordene Wort in einem Kelch auf30. Vergleichbare Hostienmühlendarstellung finden sich ebenso in Doberan und auch in Hl. Kreuz in Rostock, sodass Kathrin Wagner es für sehr wahrscheinlich hält, dass das Retschower Hostienmühlenbild unter dem Einfluss dieser beiden älteren Retabel steht, wobei das Exemplar Doberans maßgeblich war31. In Bezug auf das Doberaner Mühlenretabel sieht Annegret Laabs ein in der Zisterzienserabtei gefertigtes Werk, da bei derart komplizierten Bildprogrammen nicht nur der theologisch geschulte Betrachter angesprochen werden sollte, sondern darüber hinaus auch das ordensspezifische Kunstverständnis und der daraus entwickelte Formenkanon widergespiegelt wird32. Folgt man Laabs’ Ausführungen, so wäre auch das Retschower Retabel in einer Klosterwerkstatt gefertigt und ein Beleg für die direkte Ein-
flussnahme des Ordens auf die Bildausstattung der klostereigenen Kapellen. Dieser Annahme konnte Esther Wipfler jedoch entgegenstellen, dass das weitere ikonografische Programm des Retabels und die genrehafte Schilderung insbesondere der Heiligen Sippe eher in der Tradition städtischer Rostocker Retabelkunst steht und kaum an die Doberaner Tafelmalerei anschließt33. Und obwohl die Mühlendarstellung im mecklenburgischen Raum gehäuft im Zisterzienserkontext auftritt und somit der Orden als Träger des Motivs angesprochen werden kann, folgt die Retschower Mühlendarstellung, wie ein Überblick über die weiteren erhaltenen Werke zeigt, einem geläufigen ikonografischen Grundschema und lässt sich in einen allgemeinen heilsgeschichtlichen Zusammenhang stellen34. Dennoch hält Wipfler es für möglich, dass die ausführende Rostocker Werkstatt „doch auf die speziellen liturgischen Bedürfnisse Retschows [...] Rücksicht genommen haben könnte“35.
FAZIT Die exemplarisch vorgestellte Ausstattung in Kirchenbauten vermittelt ein sehr heterogenes Bild. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass die hochwertigen Vorbilder der Doberaner Werkstatt auf die Dorfkirchen abstrahlten und eine gewisse Nachfrage innerhalb des Ordens wie auch außerhalb des Klosters fanden. Dabei ergibt sich ein sehr heterogenes Bild bezüglich der handwerklichen Qualität: Einerseits hatten die Gemeinden im ländlichen Raum den Anspruch, ihr Gotteshaus hochwertig nach Doberaner Art auszustatten, andererseits genügte jedoch für die Wirkung des neu geschaffenen Werkes die Wiederholung bestimmter Schlüsselmerkmale, da es um den Wiedererkennungswert der Vorlage und nicht um eine exakte Kopie ging. Dieses Verfahren können wir beispielsweise an den Turmhelmen der Sakramentshäuser greifen. Innerhalb des Ordens orientierte man sich bei der Errichtung des Sakramentsturmes strenger, beinahe dogmatisch an der Vorlage und verpflichtete dieselbe Werkstatt mit der Ausführung. Dies war nicht zuletzt sicherlich auch den jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnissen geschuldet. Hinsichtlich der Gestühlsausstattung in den Zisterzienserkirchen der Umgebung (Rostock) orientierte man sich zumindest an deren handwerklicher Qualität. Die Gattung Chorgestühl zeigt aber sehr eindringlich, dass der Bedarf für die Dorfkirchen nicht durch geeignete Künstler gedeckt werden konnte und somit die Qualität der Arbeit litt. Bezogen auf die vom Doberaner Konvent betreuten Dorfkirchen
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bleibt es der weiteren Forschung überlassen, ob der greifbare Anspruch von den Mönchen ausging, ob sie es waren, die, wenn sie in den Dorfkirchen waren, sich mit einer ähnlich signifikanten Ausstattung umgeben wollten und somit die Fertigung bestimmter Elemente förderten, oder ob der Antrieb von der Dorfgemeinde ausging.
ABSTRACT The paper examines exemplarily the contemporary impact of the Doberan original furnishings in the 14th century and their influence on other churches of the area. It compares furnishing complexes of the Cistercian Order network rep-
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resented by the Cistercian nunnery of the Holy Cross in Rostock with sacred buildings in rural areas, represented by the village church of Retschow. Due to their importance in monastic everyday life and sacramental worship, two types of furnishings, choir stalls and Sacrament houses, are selected as examples. In this context, the role of Doberan in the pilgrimage system and the pastoral work of the monks in the chapels of the monastery estates are discussed. According to the preliminary hypothesis of the essay, Doberan seem to have an effect on the design of the equipment in village churches. In addition, the representation of a Eucharistic Mill in the village church of Retschow opens the view into the 15th century.
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MINNEKER 2007, S. 84 folgt darin ERDMANN 1995, S. 2. WARNKE 1984, S. 20 und 155. Die Nennung des Doberaner Abtes als Zeuge in Rostocker Urkunden legt die Vermutung nahe, dass er Visitator des Klosters Hl. Kreuz war. Siehe dazu WIPFLER 2003, S. 228. Nach neuerer Forschung gilt die in Doberan bestattete Königin Magarete von Dänemark nicht mehr als Stifterin von Kloster Hl. Kreuz, vgl. Mecklenburgisches Klosterbuch 2017, S. 926. Beispielhaft sei genannt UNTERMANN 2003; SCHICH 2007. Die Einzeluntersuchungen, die die bildkünstlerischen Prinzipalstücke Doberans hinsichtlich der Nutzung in liturgischen Zusammenhängen sowie die ordensinterne Verbreitung ikonografischer Motive analysieren, beschränken sich auf ausgewählte Objekte des 15. Jh. Behandelt wird vorrangig die Gruppe der sogenannten Hostienmühlenretabel. Siehe LAABS 2000; WIPFLER 2003. Vgl. SCHLEGEL 1986, S. 1–22 und MöBIUS 1988, S. 29. LAABS 2000, S. 178. Die als einzigen Zeugen für die zisterziensische Bildhauertätigkeit herangezogene Darstellung eines Mönchs bei der Fertigung einer Chorgestühlswange vom Gestühl aus Pöhlde (heute Landesgalerie Hannover) ist jedoch nicht tragfähig. Siehe GRAPE 2003. SCHLIE 1899, S. 605 ZASKE/ZASKE 1985, S. 127 zielt dabei auf die genrehaften Züge der Figuren des Kreuzretabels ab, in denen sie – ähnlich dem Doberaner Kelchschrank für die Retabelproduktion (S. 121) – einen Ansporn zur Neuerung in der hansestädtischen Kunstproduktion sehen. KNAPP 2004, S. 514 nennt die vitrorum artifices. KNAPP 2004, S. 514. LAABS 2000, S. 179f. führt verschiedene Beispiele von Lohnarbeitern und Angehörigen verschiedener Ordenszugehörigkeit an, weist jedoch gleichzeitig auf das Forschungsdesiderat zur Tätigkeit und sozialen Stellung von bildenden Künstlern in geistlichen Orden und Kongregationen hin. KROESEN/TåNGEBERG 2014, S. 52. LAABS 2000, S. 222, Kat.Nr. 16 beschreibt fälschlicherweise Doberan über oktogonalem Grundriss. Dazu der Beitrag von Peter Knüvener in diesem Band und WAGNER 2011, S. 48 Abb. 17. Auch ein Retabel in Wismar könnte zum Korpus dieser Werkstatt gehören. SCHMIDT 1992b, S. 353. Die monografische Bearbeitung des Gestühls und die sichere Identifizierung der Eingriffe des 19. Jh. stehen noch aus. Dass an Chorgestühlen durchaus ordensübergreifend ein Form- und Motivtransfer stattfand zeigen die Beispiele aus dem Havelberger Dom (um/nach 1280), der Neuruppiner Klosterkirche (um 1300) und dem Brandenburg Dom (nach 1300). Vgl. SELIGER 2012. Die Geschichte der Chorgestühle weiblicher Kongregationen ist noch nicht geschrieben. Ein erster Überblick, z.B. in den ehemals benediktinischen und zisterziensischen Heideklöstern, bestätigt jedoch die relative Bildarmut und Formschlichtheit. Vgl. das in eine Wandnische eingelassene Sakramentshäuschen in Petschow, dessen Errichtung vermutlich im Zusammenhang mit dem dortigen Ablasswesen steht. Dessen Bekrönung spiegelt eine
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Anlehnung an Doberan wider, ein Werkstattbezug kann nicht hergestellt werden. GAEHTGES/LANGSCHWAGER O.J., Kap. V. MUB 16 (1893), Bd. 16, 9794 vom 4. Juni 1368: „Et ut huius anniversarius dies maiore devotione fidelium frequentur omnibus vere penitentibus, contritis et confessis, qui in dicto anniversario prefatas ecclesiam Doberanensem et capellam visitaverint, ac eis feminis in porta remanentibus, que de more et observantia Cisterciensis ordinis maiorem non intrant ecclesaim, XL dierum indulgencias [...] relaxamus.“ (Und sobald als dessen Jahrestag mit allzu großer Andacht der Getreuen begangen wird, gewähren wir allen, die wahrhaft Reue empfinden, gebüßt und gebeichtet haben und die am besagten Jahrestag die oben erwähnte Doberaner Kirche und Kapelle besucht haben und auch den Frauen, die nach dem Brauch und der Observanz des Zisterzienserordens die Domkirche nicht betreten und an der (Kloster)Pforte zurückbleiben, 40 Tage Ablass. [...]. Übersetzung Anja Schwarzbach) MINNEKER 2007, S. 83f. und SCHLEGEL 1986, S. 11 u. 13f. Derzeit in einer Nische im Turm der Lichtenhagener Dorfkirche aufgestellt. Die geschmiedeten Gitterstäbe wurden in jüngerer Zeit mit Maßwerk verblendet. Auf der Rückseite ist ein größeres Stück aus dem massiven Fuß herausgearbeitet, dass ggf. auf den Versuch einer nachträglichen Einarbeitung der Spendendose zurückzuführen ist. SCHLIE 1899, S. 549 nennt es noch links des Altares. Das Dorsale entstammt einer Umbauphase des 17. Jh., während der die seitlichen Abschlusswangen aus mittelalterlicher Zeit gekürzt wurden. Ein Desiderat ist die Erforschung der kirchlichen Gestühlsausstattung und damit einhergehend die Frage nach der Zahl und Funktion von Geistlichen in Dorfkirchen. Grundsätzlich muss mit einer Chorgestühlsausstattung in Dorfkirchen gerechnet werden, siehe dazu die von der Verfasserin in Vorbereitung befindliche Dissertation zu den mittelalterlichen Chorgestühlen der Mark Brandenburg. WICHERT 2000, S. 33. FRISKE 2007, S. 170 führt einen Nebenaltar in der Dorfkirche zu Dobritz an, weitere Beispiele bei KROESEN/STEENSMA 2004. S. 51–58. WICHERT 2000, S. 148 führt zudem an, dass „Papst Martin V. [...] dem Kloster in einer Bulle aus dem Jahr 1424 (erlaubte), mit Genehmigung des Schweriner Bischofs alle niederen Stellen mit geeigneten Mönchen zu besetzen“. WICHERT 2000, S. 149. Siehe oben und LAABS 2000, S. 178. Zum ikonographischen Gehalt der Mühlendarstellung siehe WIPFLER 2003 mit weiterer Literatur. WAGNER 2011, S. 67. Sie folgt darin WIPFLER 2003, S. 191, ohne darauf zu verweisen. LAABS 2000, S. 183. WIPFLER 2007, S. 225. Ebd. S. 248–252. Ebd. S. 226 führt diesbezüglich das mittels Inschrift und zentraler Marienkrönungsdarstellung rekonstruierte Marienpatrozinium an.
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DIE ASTRONOMISCHE GROSSUHR IN DOBERAN – ZUM BILDPROGRAMM DES UHRENBLATTES
JULIA trINKert
EINLEITUNG Von der einst monumentalen astronomischen Großuhr in der Zisterzienserklosterkirche zu Doberan hat sich heute nur noch das Uhrenblatt an der Westseite des südlichen Seitenschiffes erhalten (Abb. 418). Es ist das mittelalterliche Zeugnis einer Gattung komplexer kirchlicher Inventarstücke, von denen sich eine kleinere Anzahl im Ostseeraum nachweisen lässt. Im Zuge der Kirchenrestaurierung seit 1829 wurde die astronomische Uhr abgebrochen und damit die bis dahin erhaltenen Fragmente beseitigt1. Zu den einstigen Bestandteilen gehörten das Gehäuse, möglicherweise ein Kalenderblatt sowie das technisch aufwendige, mechanische Uhrwerk, das sich auf der Rückseite befand. In einem direkten Zusammenhang zur Uhrtafel standen ferner die drei heute verlorenen Zeiger mit ihrem aus beweglichen Scheibenrädern bestehenden Getriebe sowie ein Figurenumlauf, von dem die hochrechteckigen Auslassungen im unteren Bereich zeugen. Es stellen sich heute Fragen nach der Deutung des gemalten Bildprogrammes des Uhrenblattes sowie nach der Funktion eines solchen technischen Ausstattungsstücks im monastischen und liturgischen Kontext.
HISTORISCHER KONTExT Über den historischen Kontext der astronomischen Uhr ist wenig bekannt. Der inschriftlich gesicherte Guss der Stundenglocke im Jahr 1390 lässt vermuten, dass sie in diesem
Zeitraum gefertigt wurde2. Dafür spricht ferner die große Nähe zur astronomischen Uhr in der Nikolaikirche zu Stralsund, die laut ihrer Inschrift 1394 vollendet wurde3. Während der schwedischen Plünderungen 1637 wurde sie beschädigt, etwa ein Jahrhundert war sie dennoch weiterhin funktionstüchtig. So erwähnt Schröder 1734 „ein altes grosses Uhrwerck in welchen zwar die Uhr noch gehet, das aber sonsten gar schlecht bestellet“4. Sie gehört zu einer Gruppe älterer Großuhren an der südlichen Ostseeküste, die zwischen 1379 und 1464 entstanden und einem Astrolabium nachempfunden wurden, um die Drehung des Himmels zu visualisieren5. Bereits vor 1400 existierten astronomische Uhren auch in England und Frankreich6. Die astronomische Uhr in Doberan entstand nach einem Zeitraum, in dem sich die öffentliche Zeitmessung durch das Schlagen der Stundenglocke vor allem zwischen 1370 und 1380 durchgesetzt hatte und nahezu jede Stadt im heutigen Europa eine öffentliche Uhr besaß7. Durch Nennungen in Gewerksordnungen und Kämmereirechnungen sind wir über die Situation in den Städten an der Ostseeküste unterrichtet. Eine öffentliche Uhr wird bereits 1341 in Stralsund genannt, 1375 in Hamburg, 1376 in Lübeck, 1379 in Rostock und in Lüneburg, 1385 in Greifswald und 1387 in Ratzeburg8. Üblicherweise ließen sich an astronomischen Uhren neben der Zeitmessung auch Bewegungen der Himmelskörper und der Kalender ablesen. Durch zusätzliche Funktionen wie bewegliche Figuren, Musikwerke und Kosmosmodelle dienten sie im Kirchenraum ferner dem Verständnis von liturgischen Zyklen9.
Linke Seite: Abb. 418. Uhrenblatt der astronomischen Großuhr, um 1390
BILDPROGRAMM Das 400 x 340 cm messende Zifferblatt besteht aus vierzehn waagerechten Brettern, die auf Stoß zu einer Tafel gefügt und in einen profilierten Rahmen genutet sind. An den senkrechten Rahmenseiten sind diagonal eingestellte Strebepfeiler mit Maßwerkfüllungen und Fialen erhalten, die einen Eindruck von der einst kostbaren Ausstattung der gesamten Uhrenanlage geben. Die Rahmung ist rot gefasst, die Profile und Fialen sind blau und golden akzentuiert. Das Uhrenblatt wird durch eine Tafelmalerei gebildet, die neben einer komplexen Darstellung der Himmelsprojektion in Form eines Astrolabiums und der Zeitangaben in den Zwickeln Standund Brustbilder von Figuren beinhaltet, die auf Schriftbänder weisen. Zur Bezeichnung der einzelnen Anzeigen der Astrolabiumsscheibe, zu den Sentenzen der Schriftbänder sowie zur Benennung der Figuren sind lateinische Inschriften in gotischen Minuskeln aufgebracht worden. Es fehlen der Sonnen-, der Mond- und der Tierkreiszeiger, die ursprünglich im Zentrum befestigt und mit einem Getriebe versehen
Abb. 419. Uhrenblatt, Detail: Ptolemäus
428 | Julia Trinkert
Abb. 420. Uhrenblatt, Detail: Alfons x.
waren. Der Bemalung lassen sich dennoch zahlreiche Angaben entnehmen, die für die mittelalterlichen Betrachter von Bedeutung waren. Die Hauptanzeigen waren die Zeitmessung sowie der Sonnen- und Mondstand. Der äußere Ring zeigt in römischen Ziffern die 24 gleichlangen, äquinoktialen Stunden an. Diese bezeichneten im 14. Jahrhundert die moderne, irdische Zeitmessung. Die Zählung der zweimal zwölf Stunden beginnt bei Eins und endet bei Zwölf im unteren Bereich des Ringes. Darauf folgt ein schmaler Ring mit 144 Sektoren, der jede Stunde in sechs Abschnitte à 10 Minuten unterteilt. Ein weiterer, aus zwanzig Segmenten bestehender Ring, der mit zwölf gotischen Ziffern versehen ist, gibt die bis ins 15. Jahrhundert traditionelle, göttliche Zeitmessung in ungleichen Temporalstunden an. Diese sind auch als kanonische Stunden bekannt und unterteilen den Tag zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang in zwölf gleichlange Stunden10. Nach dieser Zählung richteten sich die Zisterzienser in ihrem Tagesablauf11. Nun folgt im inneren Bereich eine Astrolabiumsdarstellung mit sieben konzentrischen Kreisen. Diese werden durch eine vertikale Linie, die den Meridian angibt, und eine horizontale Linie, die Ost-West-Linie, geschnitten. An dieser Stelle, dem südlichen Himmelspol, wurden die Uhrzeiger eingesetzt. Die hellblaue Ausmalung bezeichnet das Tagfeld, während der schwarze Kreis das Nachtfeld angibt. Zwischen diesen beiden Bereichen ist eine geschlängelte helle Linie zu erkennen, die oberhalb des Nachtfeldes von dem dunkelroten, nach unten geöffneten Bogen der Horizontlinie begrenzt wird und das Dämmerungsfeld veranschaulicht. Oberhalb dieser Linie reichen Bögen bis in die Segmente der Tempo-
ralstunden und enden an deren gotischen Nummerierungen12. Die Himmelsrichtungen und die geografische Lage Doberans werden durch Inschriften angegeben. So ist am Ziffernring im oberen Bereich Meridies als Angabe von Süden und Mittag zu lesen, rechts steht occide[n]s für Westen, entsprechend unten Septentrion für Norden und links oriens für Osten. Zwischen dem Horizontbogen und dem kleinsten der konzentrischen Kreise ist die Lage Doberans, die Polhöhe, mit der Inschrift Orizon 54 gd 9, also mit dem Horizont 54° 9’ angegeben13. Bemerkenswert ist die Genauigkeit der Angabe, die hier nur 6’30’’ vom tatsächlichen Wert abweicht. Jörg Hamel wies darauf hin, dass der übliche Fehlerbereich noch im 15. und 16. Jahrhundert bei 1°–2° lag. Um 1400 lag der niedrigste bekannte Fehlerbereich bei noch 10’14. Die goldenen konzentrischen Kreise bezeichnen die Wendekreise der Tierkreiszeichen. Entsprechend sind sie mit gotischen Inschriften an der Unterseite von außen nach innen bezeichnet: tropic(us) cancri für den Wendekreis des Krebses, Ci(r)culus geminor(um) et leonis für den Kreis der Zwillinge und des Löwen, Circulus tauri et virginis für den Kreis des
Stieres und der Jungfrau, Circulus arietis et libre et equinoxcialis für den Kreis des Widders und der Waage und der Tagundnachtgleichen, Circulus pisciu(m) et scorpionis für den Kreis der Fische und des Skorpions, Circulus aquarii et sagitarii für den Kreis des Wassermanns und des Schützens sowie tropic(us) Cap(ri)corni für den Wendekreis des Steinbockes15. In den Zwickeln des Uhrenblattes sind die vier Weltweisen dargestellt, die jeweils auf lateinische Spruchbänder weisen und beischriftlich zu identifizieren sind. Bei den beiden oberen bekrönten Halbfiguren handelt es sich um Ptolemäus (Abb. 419) und Alfons x. (Abb. 420), die beiden unteren Ganzfiguren zeigen die beiden arabischen Gelehrten Hali (Abb. 421) und Albumasar (Abb. 422). Die Inschrift des Ptolemäus lautet Vir sapiens dominabitur astris, dt. „Der Weise beherrscht die Sterne“. Alfons x. weist auf Sic sol zodiacum circuit sive annum suum, dt. „So durchläuft die Sonne den Tierkreis in einem Jahr“. Hali zugeordnet steht Motus solis et planetarum in obliquo circulo sunt, dt. „Die Bewegung der Sonne und der Planeten geschieht in schrägem Kreise“ und
Abb. 421. Uhrenblatt, Detail: Hali
Abb. 422. Uhrenblatt, Detail: Albumasar
Die astronomische Großuhr in Doberan – Zum Bildprogramm des Uhrenblattes | 429
bei Albumasar Post dominum unicum vita sunt sol et luna, dt. „Nächst dem einzigen Herrn sind Sonne und Mond das Leben“ 16.
FUNKTIONSZUSAMMENHANG Auf dem Doberaner Uhrenblatt ließen sich die Uhrzeit in für die kanonischen Tageszeiten eines Klosters bedeutenden Temporal- sowie in Äquinoktialstunden ablesen. Ferner waren der Sonnen- und Mondlauf durch den Tierkreis, der Auf- und Untergang von Sonne und Mond sowie die Mondphasen zu erkennen (Abb. 418)17. Bei der Darstellung des Himmels war der Ausgangspunkt der Himmelsnordpol, so dass eine Projektion in südlicher Richtung stattfand. Der Vorteil lag vor allem in einer naturnahen Abbildung des Sonnenlaufs vom Aufgang bis zum Untergang18. Blickt der Betrachter von der Erde auf das Himmelsgewölbe nach Süden, so geht auf der „linken Seite“, im Osten, die Sonne auf, steht mittags im Süden am höchsten Punkt und geht abends auf der „rechten Seite“, im Westen, unter. Auf dem Uhrenblatt wird dieser Verlauf durch den Sonnenzeiger angegeben, der gleichzeitig auch die Stunde nennt. Alle Zeiger verlaufen daher auch im heutigen Uhrzeigersinn. Der Schnittpunkt der Sonnenbahn und der gebogenen Horizontlinie veranschaulicht die Standhöhe der Sonne. Durch die unterschiedliche Tageslänge im Sommer und Winter war es notwendig, eigene Sonnenlaufbahnen anzugeben. Den Sonnenlauf im Sommer liest man an der goldenen Linie des äußeren kon-
Abb. 423. Roskilde, Dom, Detail aus dem nördlichen Chorgestühl, Szene des Jüngsten Gerichtes, um 1420
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zentrischen Kreises, der zugleich der Wendekreis des Krebses ist, ab, im Winter folgt man der goldenen Linie des innersten konzentrischen Kreises, zugleich Wendekreis des Steinbockes. Vereinzelt ist auf dem Sonnenzeiger ein Sonnensymbol angebracht, das genau diesen Lauf deutlicher macht. Durch den Sonnenzeiger ist sowohl die Anzeige der außen liegenden, modernen Äquinoktialstunden als auch der weiter innen liegenden Temporalstunden möglich. Die roten Bogenlinien, die zwischen der Horizontlinie und dem Temporalstundenring verlaufen, geben durch ihre unterschiedliche Breite die variierenden Längen dieser gleichen Stundenunterteilung an. An der winterlichen Sonnenlauflinie verlaufen sie eng, während sie an der sommerlichen Sonnenlauflinie weit auseinander gezogen sind19. Der Mechanismus der Stundenanzeige wurde durch die Verbindung mit einem Glockenschlag präzisiert. Die früheste Nennung eines solchen Stundenschlagwerks ist in einer Mailänder Chronik für das Jahr 1336 überliefert. Die Anzahl der Glockenschläge orientiert sich hier an der Stundenzahl, so dass ein neuartiger Mechanismus Läutsequenzen ermöglichte20. Stundenschlagwerke verbreiteten sich ausgehend von Italien, wo bereits 1356 nahezu alle öffentlichen Uhren in den oberitalienischen Städten über ein solches verfügten21. In Doberan muss ebenfalls mit der akustischen Anzeige der Stunden gerechnet werden. Im Vergleich mit anderen astronomischen Uhren lassen die beiden öffnungen im unteren Bereich des Uhrenblattes auch die ursprüngliche Existenz eines Figurenumgangs vermuten, ferner zeigen Hali und Albumasar auf eben diese Schlitze. Wolfgang Erdmann erwähnte originale aufgenagelte Bleche, auf denen sich die Bemalung fortsetzte und die als Türen für einen Figurenumlauf gedient haben mögen22. Solche waren auch etwa in Danzig, Lund, Lübeck, Münster, Rostock und Wismar vorhanden. Ob die erste Rostocker Uhr von 1379 einen Figurenumgang besaß, ist unklar23. Figurenumgänge zeigten ein überwiegend religiöses Programm, etwa Apostel, und bestanden aus Figuren, deren Bewegung durch eine mechanische Verbindung zum Uhrwerk zu bestimmten Zeiten, häufig von Glockenschlägen oder Musik aus Musikautomaten begleitet, ausgelöst wurde24. 1637 wurden während schwedischer Plünderungen Silberfiguren von der Doberaner Uhr gestohlen, die möglicherweise diese Funktion gehabt haben könnten25. Neben diesen übergeordneten Aspekten orientierte sich die Genauigkeit der Angaben in Doberan vor allem an der geografischen Lage. So zeigt die Uhrenscheibe ein einzigartiges, für diesen Standort angepasstes Zifferblatt, in dessen Hintergrund ein hochkomplexes mechanisches Uhrwerk lief.
Für dessen Konstruktion mussten die Durchmesser der Zahn- und Zwischenräder, die Anzahl der notwendigen Zähne, die Eingriffe in die Laternentriebe, die Seilwalzen sowie die Einrichtung der Waaghemmung ebenfalls individuell berechnet werden26. Hans Peter Münzenmayer hob daher zurecht die kulturelle Bedeutung des Gesamtwerkes hervor, zu dem neben den bildkünstlerischen Aspekten einer solchen Großuhr vor allem den technischen Abläufen des Uhrwerks samt eines Antriebes und der Steuerung von Funktionen wie Glockenschlägen oder Figurenbewegungen Rechnung getragen werden musste27. Von Bedeutung für die Funktion dieser Uhr waren auch die astrologischen Anzeigen, da die qualitative Zeitbestimmung durch die Stellung der Gestirne begründet war. Diese hatten als astrologische Zeitenherrscher Einfluss auf die Jahreszeiten sowie bei kleineren Zeitabschnitten wie Tagen oder Stunden auf das Gelingen bestimmter Handlungen zu einem bestimmten Zeitpunkt28. Der Lauf der Sonne und des Mondes durch den Tierkreis konnte am ringförmigen Tierkreiszeiger abgelesen werden. Dafür benötigt die Sonne 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 46,98 Sekunden. Anhand der Mondphasen kann der Jahreslauf näher betrachtet werde und so die Osterfestbestimmung und die Erstellung des Festkalenders erfolgen29.
GENESE UND TRADITION DES BILDPROGRAMMES: ASTRONOMIE/ ASTROLOGIE Planetenbeobachtungen dienten dem Menschen seit der Antike zu Formulierungen von Kosmosmodellen, die schließlich die Weltordnung erklären sollten. Um 800 wurde das Hauptwerk der antiken Astronomie, der von Ptolemäus verfasste Almagest bzw. die Größte zusammenstellung von arabischen Gelehrten wiederentdeckt und als Grundlage ihrer Forschungen verwendet. Erstmals 1175 wurde es von Gerhard Cremona ins Lateinische übersetzt und dadurch auch in Europa verbreitet30. Um 1230 stützte sich Johannes de Sacroboscos auf dieses Werk, um das Lehrbuch Sphaera zu verfassen, das zum mittelalterlichen Standardwerk für das Verständnis von Astronomie wurde31. Gleichzeitig war der Gebrauch des Astrolabiums als Instrument zu Messung der Gestirnshöhen bereits um 1050 dem Benediktiner Hermann von Reichenau bekannt, der seinerseits ebenfalls astronomische Studien unternahm. Auf der Vorderseites des Astrolabiums kann der Sonnenstand und damit die Ortszeit und
Abb. 424. Halberstadt, Domschatz, Karlsteppich, 153 x 163 cm, beschnitten, Zweites Viertel des 13. Jahrhunderts
die astrologischen Planetenstunden sowie der Sonnen- und Mondlauf durch die Tierkreiszeichen bestimmt werden32. Auf der Rückseite befinden sich eine drehbare Sternenkarte mit eingravierten Himmelskreisen sowie ein Kalendarium am Rand. Die genauen Positionen der Sterne werden durch das sog. Rete, eine aufgelegte separate Scheibe mit geschwungenen und beschrifteten Zeigern, angegeben. An diesen Anzeigen orientieren sich schließlich die Zifferblätter der astronomischen Uhren im Ostseeraum33. Die Uhrmacher sollten also zur Konstruktion einer solchen Großuhrenanlage und zur bildlichen Konzeption des Zifferblattes Kenntnisse über den technischen Aufbau eines Astrolabiums, über die sphärische Astronomie, über die astronomisch-astrologische Literatur zur Auswahl der passenden Beischriften sowie über die Ermittlung der Polhöhe bzw. der geografischen Breite des Standortes haben34. Sie mussten das ptolemäische Kosmosmodell auf ein mechanisch angetriebenes, äußerst komplexes Himmelsmodell übertragen, auf dem meist drei bewegliche Zeiger bestimmte Schnittpunkte angeben, die sich im Jahresrhythmus wiederholen35. Die technischen Angaben auf der Uhrtafel werden durch die figürliche Ergänzung der freibleibenden Zwickelpositionen der quadratischen Bildfläche mit antiken und mittelalterlichen Gelehrten legitimiert. Die Auswahl der Astronomen Ptolemäus, Alfons x., Hali und Albumasar bestätigt und kommentiert die Aussage des dargestellten Weltbildes,
Die astronomische Großuhr in Doberan – Zum Bildprogramm des Uhrenblattes | 431
da diese Weltweisen in ihren Forschungen von genau solchen Beobachtungen berichten36. Neben dem König Alfons x. von Kastilien (1221–1284), der an seinem Hof die Neuberechnung der Sonnen-, Mond- und Planetenbewegungen für die Alfonsinischen tafeln in Auftrag gab, ist auch Claudius Ptolemäus (um 100-vor 180 n. Chr.) bekrönt dargestellt, da er im mittelalterlichen Verständnis auch zusätzlich mit Ptolemäus II. von Ägypten identifiziert und als Entdecker des grundlegenden Weltbildes ausgezeichnet wurde37. Bei den beiden orientalischen Gelehrten handelt es sich um den arabischen Arzt und Astrologen Albohazen Haly bzw. Ali Ibn-Abi’r-Rigal († nach 1040), genannt Hali, Verfasser des Liber de fatis astrorum und Albumasar bzw. Abu Mašhar (787–835). Zu seinen Hauptwerken gehören eine kommentierte Aristoteles-Übersetzung und die flores astrologiae als Gesamtdarstellung der Astrologie38. Die Anordnung von Astronomen in Zwickelfeldern geht auf eine bildkünstlerische Darstellungstradition zurück, die vor allem alttestamentliche Prophetendarstellungen, Allegorien, aber auch Gelehrte zeigt39. Grundlage für ein solches vierteiliges kosmologisches Harmonieschema ist die karolingische Majestas Domini-Darstellung, aus der sich eine Bildformel entwickelte, bei der eine zentrale großformatige Illustration, wie hier das Kosmosmodell, durch ein diagonales oder orthogonales Achsensystem betont wird40. Gelehrte und Propheten bestätigen durch ihre Anwesenheit in dieser Bildposition die Vierzahl als kosmische Gesamtheit in der Apokalypse und sind ihrerseits auf einen symbolischen Bildgehalt zurückzuführen41. Inhaltlich vergleichbar ist die Wahl und Anordnung der vier antiken und mittelalterlichen Weltweisen in den Zwickeln des Uhrenblattes mit den Bildkompositionen auf dem nördlichen Chorgestühl im Dom zu Roskilde, um 1420, und auf dem Karlsteppich im Domschatz von Halberstadt (Inv. Nr. 520) aus dem 2. Viertel des 13. Jahrhunderts42. In den geschnitzten Zwickelfeldern der vierpassförmigen Szenen aus dem Neuen Testament am Roskilder Chorgestühl werden jeweils vier halbfigurige Propheten mit Spruchbändern gezeigt. Bei diesen handelt es sich im Falle des Reliefs des Jüngsten Gerichts (Abb. 423) um König David und König Salomo in den oberen beiden Zwickeln und Daniel und Jesaja in den unteren beiden. Durch die Inschriften ihrer Spruchbänder mit Zitaten aus Ps. 76,9 (David), Weish. 12,12 (Salomo), Dan. 7,10 und Jes. 28,16– 17 nehmen sie in typologischer Absicht inhaltlichen Bezug auf die Hauptszene43. Auf dem Karlsteppich disputiert der zentral angeordnete gebildete Herrscher Karl als personifizierte Darstellung der Guten Herrschaft mit den antiken
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Philosophen, die in den Ecken positioniert sind (Abb. 424). Die auf dem rautenförmigen, Karl umgebenden Rahmen angebrachte lateinische Inschrift lautet „Weder Ehre noch Macht noch Schönheit noch Jugend reichen aus, um lange Bestand zu haben; in der Welt gefallen sie dennoch mehr“44. Darauf reagieren die beischriftlich bezeichneten antiken Philosophen, von denen sich durch die Kürzung des Teppichs im oberen Bildbereich nur noch Cato und Seneca identifizieren lassen, mit entsprechenden Antworten auf ihren Spruchbändern. So lautet Catos Hinweis „Zögern verdunkelt das Verdienst des Gebers“, Seneca erwidert „Wer schnell gibt, gibt doppelt“45. Sie legitimieren mit ihren Aussprüchen die auf Freigebigkeit basierende Gute Herrschaft des Mittelalters, die auf antike Tugenden und Herrschaftsvorstellungen zurückgeht, wie die Weltweisen in Doberan das auf dem ptolemäischen Kosmosmodell basierende mittelalterliche Verständnis des Universums46.
MONASTISCHER KONTExT Die Aufstellung einer astronomischen Großuhr in der Klosterkirche verfolgte weniger die öffentliche Zeitmessung wie dies etwa für die benachbarten Uhren im südlichen Ostseeraum angenommen werden kann, sondern war eng an den monastischen Kontext gebunden und damit an mittelalterliche Kosmosvorstellungen. Die Uhrscheibe zeigte die himmlische Zeit, die durch göttliche Gestirnsbewegungen und die Temporalstunden abzulesen war. Wie das Himmelsgewölbe so war auch der Mensch nach mittelalterlichem Verständnis eine Schöpfung Gottes und konnte sich dem Göttlichen zwar durch astronomische Beobachtungen nähern, doch nicht sein eigenes Schicksal aus den Sternen lesen47. Darauf weist auch die Auswahl der Zitate auf den Schriftbändern hin. So können Gestirnskonstellationen als Horoskope nur Tendenzen anzeigen, die in einer christlich orientierten Astrologie jedoch nicht ein unüberwindbares Schicksal angeben, sondern den Menschen zum aktiven Handeln auffordern. Entsprechend ist etwa der dem Ptolemäus gegebene Ausspruch „Der Weise beherrscht die Sterne“ aufzufassen48. Diese Annahme basiert auf dem Vers im 5. Buch Mose, 4,19: „Wenn du die Augen zum Himmel erhebst und das ganze Himmelsheer siehst, die Sonne, den Mond und die Sterne, dann lass dich nicht verführen! Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen.“ Albumasars Hinweis: „Nächst dem einzigen Herrn sind Sonne und Mond das Leben“ deutet die Gestirnsbe-
wegungen als zeichenhafte Mitteilungen Gottes an den Menschen, dem die Beobachtungen des Himmels daher als göttliches Gebot gelten. Dies ist etwa in Lk 21,25: „Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen, und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres“ oder in Matt 24,29ff. zu finden49. Im Buch der Weisheit 7, 17–19 wird das Weltverständnis des Menschen durch göttliche Macht geschildert: „Er [Gott] verlieh mir untrügliche Kenntnis der Dinge, sodass ich den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente verstehe, Anfang und Ende und Mitte der Zeiten, die Abfolge der Sonnenwenden und den Wandel der Jahreszeiten, den Kreislauf der Jahre und die Stellung der Sterne […]“. Das liturgische Verständnis von der jahreszyklischen Wiederholung der Heilsgeschichte, auf der die Festtage im Kirchenjahr gründen, ging einher mit der zyklischen Darstellung der Gestirnsbewegungen, die schließlich die Zeit angeben. Umgesetzt wurde dies durch das in den Klosteralltag eingebettete Stundengebet, das durch den regelmäßig stattfindenden Schlag der Stundenglocke angezeigt wurde50. Gaben die Uhrenscheiben die himmlische Zeit an, so dienten die Kalenderscheiben der astronomischen Uhren der Darstellung der menschlich geschaffenen Zeit. Durch Kalendarien konnte der Mensch Normen zur irdischen Zeitmessung konstituieren, die sich aus dem göttlichen Rahmen ergaben51. Durch die Auffassung der andauernden Wiederkehr von Tag und Nacht, Anfang und Ende sowie dem daraus resultierenden drehenden und sich erneuernden Jahreszyklus, besaß jedes Kirchenfest seinen festen Platz im Kirchenjahr und konnte seinen Heilscharakter nur entfalten, wenn es an genau diesem Tag gefeiert wurde52. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass in Doberan einst auch eine Kalenderscheibe zur Vervollständigung des Sinnzusammenhanges existiert haben dürfte. Solche gehören zu den astronomischen Großuhren in Lund, Lübeck, Münster, Wismar, Danzig, Rostock (Abb. 425), eventuell (einst?) auch zu der in Stralsund53. Die Doberaner Zisterzienser hielten an der Zeitmessung in Temporalstunden auch dann noch fest, als in den Städten verbreitet die Stundenglocke die Äquinoktialstunden angab. Dies ist etwa für 1367 im Streit um die Weihe der Klosterkirche mit Bischof Friedrich von Schwerin belegt54. Zur Einhaltung der kanonischen Tageszeiten war die Uhr neben der Treppe, die aus dem Dormitorium in die Kirche führte, an der Westwand des südlichen Querschiffes aufgestellt55. Anhand der Uhr ließen sich also die Zeitpunkte für die in der Benediktsregel aufgeführten sieben festen Gebetszeiten, die Horen, ablesen. So begann der Tag mit der Matutin bzw.
Laudes eine Stunde vor Sonnenaufgang. Zur ersten Stunde folgte die Prim, zur dritten die Terz mit der Morgenmesse, zur sechsten die Sext, zur neunten die Non mit der Hauptmesse, darauf die Vesper als Abendgebet und abschließend die Komplet. Danach wurden im Kloster noch die Vigilien bzw. Nokturnen der Nacht gebetet56.
VERGLEICHSBEISPIELE Das Uhrenblatt in Doberan steht in engster Verwandtschaft zu jenem in der Nikolaikirche zu Stralsund (Abb. 426, 427). Die dortige astronomische Uhr kann uns deshalb heute aufgrund ihres Erhaltungszustandes und ihrer Vollständigkeit eine Vorstellung von dem ursprünglichen Erscheinungsbild der Doberaner Uhr geben (Abb. 417). Die Stralsunder Uhr wurde nach einer Inschrift 1394 geweiht und von Nicolaus Lilienfeld geliefert. Dieser erscheint zwei Jahre später in den Urkunden als Rostocker Bürger (orologista, homo discretus, opidanus in rozstok), war Erbauer einer Wasserleitung in Stralsund sowie nachweislich 1406 in der Kartause Marienkrone bei Rügenwalde in Pommern (horologista de rozstok)57. Schukowski vermutet ihn auch als Uhrmacher der Uhren in Lund (um 1424) und Doberan58. Durch die zeitliche und räumliche Nähe der Aufträge für solche Großprojekte ist seine Verantwortung für die Doberaner Uhr durchaus nachvollziehbar. Abgesehen von der Doberaner Uhr sind die älteren astronomischen Großuhren zwischen den östlichen Pfeilern des Chorumgangs hinter dem Hochaltar aufgestellt.
Abb. 425. Rostock, St. Marien, Kalenderscheibe der astronomischen Großuhr, 1472
Die astronomische Großuhr in Doberan – Zum Bildprogramm des Uhrenblattes | 433
Abb. 426. Stralsund, St. Nikolai, astronomische Großuhr, Nicolaus Lilienveld, 1394
Abb. 427. Stralsund, St. Nikolai, astronomische Großuhr, Aufnahme vor der Auslagerung von 1942
Alle besitzen drei unterschiedlich schnell drehende Hauptzeiger, von denen der Tierkreiszeiger ringförmig ist. Ihre Uhrenscheibe zeigt im Inneren des Ziffernrings eine Astrolabiumsbemalung. Ein zusätzliches Getriebe bewegte eine drehbare Mondphasenkugel auf dem Mondzeiger und konnte so die Mondphasen auch visuell abbilden. Schließlich besitzen alle älteren Uhren dieses Typs Darstellungen von Weltweisen in den Zwickelpositionen59. Bis zur Auslagerung 1942 war die Uhr in Stralsund oberhalb und unterhalb der Uhrscheibe mit einem hölzernen Bogenfries, der mit geschnitzten Ornamenten verziert war, sowie seitlichen Fialen versehen (Abb. 427)60. Solche haben sich heute noch in Doberan erhalten. Ferner gab es auch hier einen Figurenumlauf. Im oberen Bereich war zentral eine Nische mit einer geschnitzten
Figur des Thronenden Gottvaters angebracht, im unteren Bereich eine Nische mit dem Kruzifixus und den beiden trauernden Maria und wohl Johannes Ev. Alle Figuren fehlten bereits 194261. Ein weiteres Argument für die Konzeption beider Uhren durch Nicolaus Lilienfeld ist die Existenz und die Genauigkeit der Polhöhenangabe, die wie in Doberan auch in Stralsund nur 6‘ vom tatsächlichen Wert abweicht62.
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SCHLUSS Das noch heute erhaltene Uhrenblatt ist demnach das letzte Fragment eines technisch aufwendigen und hochkomplexen Ausstattungsstückes der Doberaner Klosterkirche, das um
chen Zeitmessung die für das Klosterleben bedeutenderen und im Mittelalter traditionellen, ungleichen Temporalstunden angab. Ferner konnten an ihr die Bewegungen von Sonne und Mond über das Himmelsgewölbe in südlicher Projektion, annähernd wie von der Erde aus gesehen, abgelesen werden. Die ehemals vorhandenen drei Zeiger drehten sich daher auch im Uhrzeigersinn. Die Bemalung des Uhrenblattes orientiert sich am ptolemäischen Kosmosmodell und legitimiert dieses durch die Anwesenheit von vier astronomischen Autoritäten in den Zwickelfeldern, die der Darstellungstradition eines vierteiligen kosmologischen Harmonieschemas folgen. Die naturwissenschaftliche Beobachtung der himmlischen Abläufe wurde dem Betrachter durch die Großuhr auch anschaulich durch Gott geboten, damit dieser seine Zeichen erkennen kann. Im monastischen Kontext erhielt eine solche technische Anlage zudem eine liturgische Funktion, die das theologische Weltbild der Zisterzienser noch enger mit ihrem Tagesablauf und den Gebetszeiten verknüpfte. Ferner wurde ihnen wohl an einem unterhalb des Uhrenblattes befindlichen Kalendarium der zyklische Verlauf des Kirchenjahres visualisiert, damit sie das Datum der Festtage genau bestimmen konnten (Abb. 428).
ABSTRACT
Abb. 428. Rekonstruktionsvorschlag der vollständigen Ansicht der astronomischen Großuhr in Doberan
1390 mit der Absicht gefertigt wurde, Zeitangaben für die Liturgie und das Klosterleben zu präzisieren. Dazu beauftragte man aller Voraussicht nach den erfahrenen Uhrmacher Nicolaus Lilienfeld, der in den 1390er Jahren Bürger von Rostock war, und vor allem die astronomische Uhr in St. Nikolai zu Stralsund verantwortete. An der Ausführung waren diverse Gewerke beteiligt. Bei der astronomischen Großuhr handelte es sich um eine Astrolabiumsuhr, die neben den gleichlangen Äquinoktialstunden der auch heute übli-
The paper deals with the pictorial program of the clock face of the former astronomical clock in the Doberan Minster. It is the last surviving fragment of a highly complex piece of furniture from the period around 1390, which was created to clarify monastic life. The clock allowed reading the temporal hours indispensable for the liturgy, and the determination of the canonical hours for prayer. Furthermore, the clock informed about the nowadays customary equinoctial hours, and the rising and setting of sun and moon. With its arms, which are now lost, it showed the passing of the year through the zodiac. The paintings of the clock face, which are oriented on an astrolabe, contain the Ptolemaic cosmos model and link it to the medieval, four-parted cosmological harmony scheme by depicting the four astronomical wise men of the world in order to integrate scientific observations into a theological world view.
Die astronomische Großuhr in Doberan – Zum Bildprogramm des Uhrenblattes | 435
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SCHUKOWSKI 2006, S. 64f. S. dazu den Beitrag von Claus Peter in diesem Band. SCHUKOWSKI 2006, S. 64f. SCHUKOWSKI 2006, S. 64f. zitiert nach SCHRöDER 1732–1734, Teil 6, 1734, S. 341. Dazu gehören jene in Rostock (1379/1472), Stralsund (1394), Lübeck (1405/07–10), Lund (um 1422), Wismar (um 1421) und Danzig (1464). Hinzu kommen die Uhren in Münster (1408) und Stendal (um 1440). SCHUKOWSKI 1992, S. 3; SCHUKOWSKI 2006, S. 20f.; SCHUKOWSKI 2008, S. 123–128, bes. S. 124; OESTMANN 2014, S. 43–58. So in Norwich (1322–1325), Paris, Hospital St-Jacques (1326), Glastonbury, Abtei (um 1336), London (1344), Cambrai, Kathedrale (1348/49), Straßburg, Münster (1352–1354). DOHRN-VAN ROSSUM 2014, S. 75–94, bes. S. 78. DOHRN-VAN ROSSUM 2014, S. 76, 81ff. DOHRN-VAN ROSSUM 2014, S. 83ff. DOHRN-VAN ROSSUM 2014, S. 78. SCHUKOWSKI 2006, S. 10. ERDMANN 1995, S. 68. SCHUKOWSKI 2006, S. 64. SCHUKOWSKI 2006, S. 65. HAMEL 2014, S. 95–114, bes. S. 104f. SCHUKOWSKI 2006, S. 64. HAMEL 2014, S. 104ff.; SCHUKOWSKI 2006, S. 23. HAMEL 2014, S. 113. MARTI 2014, S. 175–199, bes. S. 187f.; OESTMANN 2014, S. 46. MARTI 2014, S. 187f. DOHRN-VAN ROSSUM 2014, S. 78f. DOHRN-VAN ROSSUM 2014, S. 78f. ERDMANN 1995, S. 68. SCHUKOWSKI 2006, S. 24. SCHUKOWSKI 2006, S. 14f.; HAMMERSTEIN 1986, S. 106f. ERDMANN 1995, S. 68. HAMEL 2014, S. 106. MÜNZENMAyER 2007, S. 61. HAMEL 2014, S. 113.
29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
MÜNZENMAyER 2007, S. 63. HAMEL 2014, S. 98. HAMEL 2014, S. 103. OESTMANN 2014, S. 25–41. HAMEL 2014, S. 98ff.; OESTMANN 2014, S. 46. HAMEL 2014, S. 103. SCHUKOWSKI 1992, S. 3. MOGENSEN 2008a, bes. S. 146. SCHUKOWSKI 1992, S. 38; ERDMANN 1995, S. 68; WEITZEL 2011, S. 95. HAMEL 2014, S. 100f.; SCHUKOWSKI 1994, S. 7; MOGENSEN 2008b, S. 89–123, bes. S. 95ff. TRINKERT 2014, S. 201–234. TRINKERT 2014, S. 211; ESMEIJER 1978, S. 47. TRINKERT 2014, S. 231. TRINKERT 2014, S. 231. TRINKERT 2014, S. 218. PREGLA 2006. Ebd. TRINKERT 2014, S. 227, 331ff. MOGENSEN 2008a, S. 145f. HAMEL 2014, S. 108ff. HAMEL 2014, S. 108ff. WEITZEL 2011, S. 97. MOGENSEN 2008a, S. 145f. ANGENENDT 1997, S. 425. SCHUKOWSKI 2008, S. 125. ERDMANN 1995, S. 68. Erdmann nennt diesen Standort vor 1300 auch als üblichen Aufstellungsort von Wasseruhren, vgl. ERDMANN 1995, S. 68. ANGENENDT 1997, S. 429, 483f. SCHUKOWSKI 2006, S. 109. SCHUKOWSKI 2006, S. 109; SCHUKOWSKI 2009, S. 76ff. SCHUKOWSKI 2006, S. 21f. SCHUKOWSKI 2006, S. 113. Ebd. HAMEL 2014, S. 104f.
Rechte Seite: Abb. 429. Detail aus Abb. 24: Moses und der brennende Dornbusch
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ALTARAUSSTATTUNG DER ZWEITEN HÄLFTE DES 15. JAHRHUNDERTS IM DOBERANER MÜNSTER ANJA rASCHe
In der zweiten südlichen Chorumgangskapelle des Doberaner Münsters befindet sich ein gemaltes Altarretabel, das nur fragmentarisch erhalten ist. Es ist derzeit kombiniert mit einer Predella, die sich in einem deutlich besseren Erhaltungszustand präsentiert1. Über beide Ausstattungsstücke (Abb. 432), die sich stilkritisch in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts datieren lassen, ist sehr wenig bekannt2. Man weiß weder, aus welchem Zusammenhang die beiden Stücke stammen und wo sie ursprünglich gestanden haben, noch ob sie zusammen gehören oder nicht3. Ziel dieses Beitrages ist es, mit einer gründlichen Beschreibung und den sich daraus ergebenden Beobachtungen und Fragen die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf diese Stücke zu lenken. Unabhängig vom Erhaltungszustand und der künstlerischen Qualität handelt es sich um aussagekräftige Zeugnisse der Geschichte des Doberaner Münsters. Neben der herausragenden hochgotischen Kirchenausstattung ist die Geschichte des Zisterzienserklosters Doberan im 15. Jahrhundert durchaus von Interesse4. Dazu zählen wirtschaftliche Erfolge, von denen die umfangreiche Beteiligung an der Saline in Lüneburg ebenso zeugt wie ausgedehnter ländlicher Klosterbesitz5 und mehrere Mühlen sowie die z. T. sehr großen Klosterhöfe in Lübeck, Wismar, Güstrow und Rostock6. 1425 wurde auf Beschluss des Generalkapitels dem Doberaner Abt das Doppelamt des Kollektors und Reformators übertragen, das mit weitreichenden Kompetenzen versehen war, bis hin zur Absetzung und Neueinsetzung von Äbten7. Er war für die Kirchenprovinz Bremen, die Diözese Kammin und die Klöster an der südlichen Ostseeküste zuständig. Das Doberaner Kloster war die Grablege der Mecklenburger Herzöge bis zur Aufhebung des Klosters 15528, die herzogliche Familie hielt sich nachweislich im 15. Jahrhundert regelmäßig dort auf9.
PREDELLA Die Predella (Abb. 432) ist aus einem Boden-, einem Deckbrett und zwei Tafeln zu einem Kasten zusammengesetzt, dessen seitliche Laibungen mit jeweils 6 kleinen Brettchen bündig geschlossen sind. Zwischen der Breite der Bodenplatte
Abb. 431. Predella, Detail: Johannes Ev.
Linke Seite: Abb. 430. Sog. Retabel der Ehrenreichen Jungfrau, Außenflügel
Abb. 432. Sog. Retabel der Ehrenreichen Jungfrau, geöffneter Zustand
von 204,5 cm und derjenigen der Deckplatte von 259,5 cm vermittelt zu beiden Seiten das seitliche Ausschwingen der Bretter in S-Form. Von der Seite ist gut erkennbar, dass die Bretter nicht gesägt, sondern gebeilt, d. h. radial aus dem Stamm herausgetrennt wurden, denn sie sind an der Vorderkante breiter als hinten. Dadurch entsteht eine leichte Neigung. Das Bodenbrett ist umlaufend einfach gefast. Darauf lassen sich Bearbeitungsspuren erkennen, die der Aufrauhung der Oberfläche dienen, um die Haftung des Kreidegrunds zu erhöhen10. Eine Ausklinkung der Deckplatte an der vom Betrachter aus rechten Seite ist vermutlich einem früheren, vielleicht dem ursprünglichen Aufstellungsort der Predella geschuldet. Die vordere, bemalte Tafel ist aus zwei horizontal gelagerten Brettern zusammengesetzt. Der Hintergrund ist rot mit Sternen aus Zwischgold gestaltet, seitlich ist eine gemalte grüne Rahmenleiste noch deutlich zu erkennen. Das Bildfeld zeigt einen Schmerzensmann mit den Arma Christi, seitlich flankiert von Petrus mit dem Schlüssel he-
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raldisch, d. h. von Christus aus, rechts und Paulus mit dem Schwert links. Die Reihe wird rechts mit Johannes Evangelista, der einen Kelch segnet, und links mit der hl. Katharina, die an ihren Attributen Rad und Schwert zu erkennen ist, fortgesetzt. Die äußere Position nehmen ein heiliger Ritter, vermutlich der hl. Georg, rechts und ein heiliger Abt, aufgrund seiner schwarzen Flocke (Kutte) mit Buchbeutel und Abtsstab wohl als Benedikt von Nursia zu identifizieren, links ein. Die Beschreibung der Personen geht von der Mitte aus, so folgt sie der gedachten Rangfolge: je näher die Position bei Christus ist, desto ranghöher ist sie. Dabei wird zusätzlich auch zwischen den Seiten differenziert: rechts von Christus ist seiner linken Seite übergeordnet. In den auskragenden Teilen der Predellentafel finden die Darstellungen zweier bisher nicht identifizierter Wappen auf gespitzten Halbrundschilden Platz (Abb. 433, 434). Am ranghöheren, heraldisch rechten Rand: schräggeteilt, im vorderen Feld auf Gold eine rote besamte und bebutzte Sechs-
blattrose, im anderen Feld in Grün eine goldene Lilie. Die Teilung des Schildes erfolgt durch einen Krummstab11. Auf der anderen Seite der Predella befindet sich ein gespaltenes Wappen, vorn in Gold ein halbes, gezinntes dreitürmiges Stadttor, mit einer halben gelben Sechsblattrose im Portal, im linken Feld in Blau mit weißem Rahmen und Rankenmuster drei besamte rote Sechsblattrosen an grünem Stiel. Die Malerei der Predella ist größtenteils gut erhalten, Fehlstellen sind vor allem am unteren Rand der Tafel zu beklagen. Zerstörungen reichen allerdings bei dem heiligen Ritter und Petrus bis hoch zur Tafelmitte. An diesen Stellen sind die Malschichten und die Grundierung abgefallen, das Holz – offensichtlich Eichenholzbretter – tritt offen zutage. Von Restaurierungen zeugen mehrere Retuschen12. Christus und die sechs Heiligen sind mit Nimben ausgezeichnet, die von einem schwarzen Randstrich konturiert und mit Schalenpunzen verziert sind (Abb. 435, 445). Zur Vorbereitung der Vergoldung des Heiligenscheins wurde der Umriss der Köpfe in den Kreidegrund geritzt, um die Fläche für die Vergoldung auf der einen und der Malerei auf der anderen Seite voneinander abzugrenzen. Dies sieht man besonders deutlich am Birett von Benedikt von Nursia, an seiner linken Kopfseite. Neben Vergoldungen kommen auch Versilberungen vor, so z. B. an den Schwertern der hl. Katharina und des hl. Paulus, am Schlüssel des hl. Petrus und auch die Rüstung des hl.
Ritters ist versilbert (Abb. 437). Der vergoldete Kelch, den der hl. Johannes in seiner linken Hand hält, ist geschickt mit Schwarzlot schraffiert worden, um einen räumlichen Eindruck zu erzeugen (Abb. 431). Die Metallapplikationen erscheinen in differenzierter Farbigkeit. Die Mitte der Predella (Abb. 436) nimmt die Darstellung des Schmerzensmannes mit seinen Leidenswerkzeugen, den Arma Christi ein. Die Malfläche der Predella ist in drei annähernd gleich große Abschnitte geteilt, in der Mitte Christus und zu seinen Seiten jeweils drei Heilige als Dreiviertelfiguren. Christus ist stehend in einer grünen Grabtumba gezeigt, die den Unterkörper bis zur Hüfte verdeckt. Er trägt einen wertvollen Chormantel aus Brokatstoff, dessen Saum reich mit Perlen bestickt und der innen rot gefüttert ist. Vor Christi Brust wird der Mantel mit einer runden Schließe zusammengehalten, die mit einem großen runden Rubin und Perlen verziert ist. Die Dornenkrone wurde ihm so kraftvoll auf den Kopf gedrückt, dass die Dornen tief in die Haut eingedrungen sind. Seine Stirn ist blutig, einzelne Bluttropfen sind ihm über die Wange gelaufen, sie verdicken sich tränenförmig an seinem Hals und am Oberkörper. Rechts und links von Christus halten Engel den Mantelsaum in die Höhe, so dass der Oberkörper Christi bis an den Rand seines Lendentuches unbekleidet zur Schau gestellt wird. Christus weist mit ge-
Abb. 433. Predella, Detail: Wappen heraldisch links
Abb. 434. Predella, Detail: Wappen heraldisch rechts
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Abb. 435. Predella, Detail: Petrus
Abb. 436. Predella, Detail: Schmerzensmann und Arma Christi
Abb. 437. Predella, Detail: Ritter
spreiztem Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand auf seine Seitenwunde hin. Im angewinkelten Arm umfängt er zwei Stangenwaffen. Mit seiner Linken hält er ein aufgeschlagenes Buch empor: eine Seite mit schwarzer Schrift und roter Initiale sowie den Hilfslinien für den Schreiber wird sichtbar, weitere Blätter sind aufgefächert. Am unteren Buchrand sind sieben ovale Siegel angebracht, die sehr sorgfältig gestaltet sind: die Siegel sind teilweise verdreht und weisen Lichtreflexionen auf. Christi dornengekrönter Kopf ist nach rechts geneigt, sein Blick geht ins Leere. Der ausgebreitete Mantel Christi umrahmt den Schmerzensmann raumgreifend, erst seitlich davon sind weitere Arma Christi dargestellt: zu seiner Rechten Essigschwamm, eine Keule, eine Leiter, die an den waagerechten Kreuzesstamm gelehnt ist, und das Schweißtuch der Veronika. Das darauf sichtbare Portrait Christi mit Kreuznimbus weist tatsächlich Ähnlichkeiten mit dem Schmerzensmann auf, vergleicht man beispielsweise die Barttracht. Die textile Qualität wird verdeutlicht durch die Zugfalten, die durch die beiden Nägel, mit denen es am Kreuzesbalken befestigt ist, entstehen. Ferner sind ein Morgenstern sowie drei schattenwerfende Würfel auf dem oberen Rand des Sarkophags zu sehen. Der Engel am oberen Bildrand reicht Christus eine Lilie. Zu Christi Linken befinden sich ein Morgenstern, ein Rutenbündel, ein Brett mit dreißig Silberlingen und die Geißelsäule aus Marmor.
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Abb. 438. Stockholm, Hochaltarretabel der Storkyra von 1468 des Hermen Rode, Predella, Detail: Christus
Die Kombination aus Schmerzensmann im Grab mit den Arma Christi steht für das Sakrament (Corpus Christi)13. Die Arma erinnern an Christi Passion und den eucharistischen Sinn seines Leidens. Anhand der einzelnen Attribute, die an einzelne Leidensstationen erinnern, kann sich der Betrachter meditierend Christus nähern, der Blick sucht das Bild ab, das keinen Anfang und kein Ende hat14. Aber auch Aspekte der Auferstehung und der Majestas Domini lassen sich innerhalb dieser Darstellung beschreiben: das Rot des Mantels und die Grabtumba verweisen auf die Auferstehung, der aufwändige Brokatmantel und die Lilie auf Christus als Weltenrichter. Das Buch mit sieben Siegeln ist der Hinweis auf die Apokalypse nach der Offenbarung des Johannes. Jedes Detail ist mit Bedeutung aufgeladen. Das könnte ein Argument dafür sein, einen Geistlichen als Auftraggeber anzunehmen.
Seitlich der Mittelszene sind drei Apostel und drei Heilige als Dreiviertelfiguren dargestellt. Die Malerei ist aufwändig und sorgfältig gestaltet, auch wenn einige Details etwas unbeholfen wirken, so beispielsweise der viel zu breit geratene Daumen von Christi rechter Hand. Andere Passagen wirken sehr gelungen, so das aufgeschlagene Buch mit den anhängenden, Licht reflektierenden sieben Siegeln, die Marmorsäule und der prächtige Brokatmantel Christi. Auch der Kopf des hl. Petrus, des hl. Ritters und die Gestalt des Johannes des Evangelisten können überzeugen (Abb. 431, 435, 437), während die Darstellungen des hl. Paulus und der hl. Katharina (Abb. 445) dagegen qualitativ abfallen. In der Literatur wurde bisher eine stilistische Nähe zu Hermen Rode angenommen. Tatsächlich sind motivische Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen der Figurentypen mit Werken dieses Lübecker Malers insbesondere mit dem Stockholmer Storkyrkaretabel von 1468 nicht zu übersehen (Abb. 436, 438)15. Die Ausführung der Malerei an der Predella in Doberan ist aber weder qualitativ ebenso hochwertig noch so einheitlich wie üblicherweise an Rodes Werken. Insbesondere die verwendete Farbpalette spricht gegen einen sehr engen Zusammenhang der ausführenden Werkstatt. Voss verweist auf das Retabel in Rostock-Warnemünde, das aus Danzig importiert worden sein soll und inschriftlich 1475 datiert ist (Abb. 439)16. Stilistisch bestehen zwar keine großen Übereinstimmungen, was schnell deutlich wird, wenn man beispielsweise die Gestaltung der Augen vergleicht. Auch andere Details der malerischen Gestaltung sprechen gegen die These, denselben Maler oder dieselbe Werkstatt zu konstatieren. Besonders enge motivische Verwandtschaft weist dagegen die Gestaltung des Corpus Christi, die Binnenzeichnung mit Bauchnabel und horizontalen und vertikalen Falten auf. Die-
Abb. 439. Rostock-Warnemünde, Pfarrkirche, Predella (Ausschnitt)
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ses Detail wirkt wie eine Darstellungsformel von geradezu frappierender Ähnlichkeit. Die inhaltliche Akzentuierung ist an der Predella in Rostock-Warnemünde etwas anders als in Doberan: hier sind nur zwei Arma Christi gezeigt, die Leiter und die Lanze. Außerdem wird Christus an dieser Predella stärker als Weltenrichter betont: der rechte Engel hält, wie in Doberan, eine Lilie, der linke das Schwert. Die Kombination des Schmerzensmannes mit den Arma Christi und dem Buch mit sieben Siegeln ist allerdings beiden Predellen gemein. In der Marienkirche in Rostock findet sich noch eine dritte Predella mit dieser spezifischen Motivkombination, die allerdings älter ist (Abb. 440)17. Könnte sie das Vorbild für die Doberaner Predella sein? Verschiedene übereinstimmende Motive sprechen dafür: z. B. die beiden Stangenwaffen in Christi rechter Armbeuge und der Brokatmantel, der vor der Brust mit einer Schließe mit rotem Rubin zusammengehalten wird. Allerdings sind an der Predella in der Rostocker Marienkirche weitaus mehr Passionszeichen dargestellt. Leider sind wir über den Entstehungskontext nicht gut unterrichtet18. Die Größe und Gestaltung der Predella und des Retabels lassen für beide Ausstattungsstücke auf eine Funktion an einem Nebenaltar schließen. Zurzeit ist die Predella zusammen mit dem Altarretabel der sogenannten Ehrenreichen Jungfrau Maria aufgestellt19 (Abb. 432). Das gemalte Altarretabel ist ebenfalls aus Eichenholz gefertigt und mit einem Paar beweglicher Flügel versehen. Die Flügel bestehen jeweils aus zwei, die Mitteltafel aus vier stehenden Brettern, deren Stoßkanten mit Leinwandabklebungen kaschiert sind. Die einfach gefasten Rahmenleisten sind an den Ecken überblattet und gedübelt. Wegen der nur
Abb. 440. Rostock, St. Marien, Predella
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fragmentarischen Erhaltung von Malschicht und Grundierung lässt sich die Qualität des Holzes beurteilen. Es handelt sich um eine sehr gute Qualität, die Bretter sind vollständig astfrei und haben sich nicht verzogen, man verwendete also Wagenschott. Der Rahmen der Innenflügel war ursprünglich rot gefasst und in regelmäßigen Abständen mit vergoldeten fünfblättrigen Blüten verziert, die Faskante vergoldet. Die Außenflügel unterscheiden sich dadurch, dass hier die Fase grün ist. Trotz des fragmentarischen Erhaltungszustands lassen sich noch große Teile des dargestellten Programms bestimmen. Auf den Außenflügeln ist jeweils ein stehender Apostel vor rotem Grund mit vergoldeten Sternen zu sehen (Abb. 430): auf dem heraldisch rechten Flügel ein Apostel in rotbraunem Mantel mit rotem Rock. Er steht auf einem grünen Fußboden und trägt eine Keule. Damit lässt er sich als Judas Thaddäus identifizieren. Auf dem anderen Flügel ist in rotem Rock mit grünem Mantel und einem Buch unter seinem rechten Arm ein nicht genauer identifizierbarer Apostel dargestellt.20 Ungewöhnlich erscheint mir, dass die beiden stehenden Apostel sich nach außen wenden, einander den Rücken zuwendend. Auf dem rechten Flügel findet sich zudem in den roten Hintergrund hineingekratzt ein Sgraffito: [Me]mento Mori (Sei eingedenk des Sterbens.) [Ho]die mihi cras tibi (Heute [muss] ich, morgen [musst] du [sterben]21. Ich vermute, dass das Sgraffito nach der Reformation entstand, als die Nebenaltäre in der Regel nicht mehr benutzt wurden. Nach der Wandlung ist auf der Mitteltafel eine stehende Madonna im Strahlenkranz zu sehen. Sie trägt einen grünen Rock und darüber ein gegürtetes Brokatgewand. Der Mantel
ist innen rot und außen blau. Die Madonna erscheint vor einer Landschaft, rechts unten vor ihr kniend ist eine kniende Figur zu sehen, die einen grauen Rock mit weißem Saum trägt. Ob diese Figur als Stifter zu deuten ist oder – wie Voss vermutet – als Kaiser Augustus mit der Tiburtinischen Sibylle, lässt sich derzeit nicht mit Sicherheit entscheiden. Rechts oben neben der Madonna ist Gottvater mit der Weltkugel vor dem brennenden Dornbusch zu sehen22. Diese alttestamentarische Darstellung verweist auf die unbefleckte Empfängnis Mariens: Gottvater erscheint Moses in einem brennenden Dornbusch, der aber nicht vom Feuer verzehrt wurde. Die Flügel sind auf der Innenseite durch Rankenmalerei auf Goldgrund in ein oberes und ein unteres Bildfeld geteilt, nur jeweils eines davon – das untere des rechten Flügels und das obere des linken Flügels sind in Ansätzen erhalten (Abb. 441)23. Auf dem rechten Flügel erkennt man noch zwei stehende weibliche Heilige mit Kronen auf Fliesenboden vor Sandsteinmauer, die ihnen ca. bis zur Schulter reicht und dahinter Goldgrund. Heraldisch rechts ist Barbara an ihrem Sandsteinturm erkennbar, daneben Dorothea mit einem Körbchen voller Blüten. Auf dem linken Flügel oben, vor einer romanisch anmutenden Architektur, erkennt man rechts stehend an seinem Attribut, dem Kreuz, den hl. Andreas in Brokatgewand24. Links von diesem ist lediglich noch das Attribut, ein aufgeschlagenes Buch zu identifizieren.
Abb. 441. Retabel, Innenflügel, Detail: Rankenmalerei.
sches Detail findet sich an beiden: die Nimben werden mit einem schwarzen Strich konturiert. Eine genauere Datierung ist ohne weitere Anhaltspunkte schwierig, die Entstehung ab den 1470er Jahren möglich. Ein Entstehungszusammenhang im Herzogtum Mecklenburg scheint mir wegen der Nähe zur Rostocker und Warnemünder Predella wahrscheinlicher als die Herkunft aus Lübeck, die aber wegen einiger verbindender Motive zu Werken Hermen Rodes auch nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Unsere Kenntnisse zur spätmittelalterlichen Malerei in Mecklenburg sind noch viel zu vage. Zunächst kann nur vermutet werden, dass der Doberaner Abt Johannes Wilken als Stifter in Frage kommt25.
ABSTRACT SCHLUSS Predella und Retabel sind wohl in der gleichen Zeit, Ende des 15. Jahrhunderts entstanden. Einige Details sprechen dafür, dass sie einem gemeinsamen Kontext angehören: zum Beispiel der rote Hintergrund mit Sternen sowohl auf den Außenflügeln als auch auf der Predella. Auch ein maltechni-
In the Doberan Minster there is a fragmentary preserved altarpiece which is currently combined with a far better preserved predella. Very little is known about both pieces of equipment, which can be dated to the second half of the 15th century. The aim of this article is to draw scientific attention to these pieces with a thorough description and the resulting observations and questions.
ANMERKUNGEN 1
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Maße: Predella: Standfläche unten 2,045 Meter, Predella: Kasten unten: 192,5, oben 248 cm, Deckplatte 259,5 m; Höhe vorne: Bildfeld 35 cm, Höhe hinten: 39,5 cm, Tiefe: Bodenbrett: 24,5 cm; Predellenkasten: 19 cm; Retabel: Mitteltafel 129 cm breit, Flügel jeweils 64 cm, Höhe 119,5 cm zuzüglich Rahmen von 5,5 cm, Gesamthöhe 130,5 cm. DEHIO 2000, S. 32: „sogenannter Altar der ‚Ehrenreichen Jungfrau‘, 2. Hälfte 15. Jahrhundert – mit geringen Resten von Malerei.
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Predella nicht zugehörig, wohl aus der Werkstatt des H. Rode in Lübeck“; SCHLIE 1899, S. 609 und Abb. S. 611 erwähnt nur die Predella und listet die dargestellten Heiligen auf. Die Wappen der Predella sind auf dem Foto nicht zu erkennen. RöPER 1808 nennt keine Predellen, von ihm die Bezeichnung als „Altar der Ehrenreichen Jungfrau“; 1995 stand die Predella noch unter dem sogenannten Mühlenretabel, vgl. ERDMANN 1995, S. 73 mit Farbabbildung. VOSS 2008, S. 79 stellte die Zusammen-
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gehörigkeit der beiden Stücke in Frage. Kemperdick (in diesem Band, S. 145) hält die ursprüngliche Aufstellung des Altarretabels am achten Pfeiler von Westen für wahrscheinlich. 4 Die Doberaner Äbte durften ab 1402 bischöfliche Insignien tragen, vgl. WICHERT 2000, S. 178. Ausführlich zur Stellung Doberans innerhalb des Zisterzienserordens vgl. WICHERT 2000, S. 180–210. 5 Im Inventar von 1552 sind beispielsweise für den Wirtschaftshof des Klosters Doberan in Redentin je 100 Stück Hornvieh, Pferde, Federvieh, außerdem Schweine und 300 Schafe verzeichnet, WICHERT 2000, S. 75. 6 Vgl. WICHERT 2000, S. 26, S. 106–125. Der Rostocker Hof war von besonderer Bedeutung: er war in einem der stattlichsten Gebäude der Stadt untergebracht. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde in diesem Gebäude ein Studienhaus mit Studentenmeister für alle Klöster im Ostseeraum und Skandinavien eingerichtet, WICHERT 2000, S. 173–179. Vgl. Vicke Schorler, kolorierte Zeichnung, 1586, Archiv der Hansestadt Rostock. – Anders dagegen LAABS 2000, S. 14: ihrer Meinung nach war die wirtschaftliche Lage des Klosters Doberan in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nicht gut, weshalb ältere Altarausstattungen nicht durch modernere, d.h. spätgotische ersetzt wurden. Außerdem hätten die Mecklenburgischen Fürsten ihr Interesse an Doberan verloren. Diese Auffassung ist nicht überzeugend, Belege fehlen. SCHLIE 1899 nennt zahlreiche ungedruckte Urkunden, die belegen, dass „die Gunsterweisungen höchster geistlicher und weltlicher Personen ungeschwächt fortdauern“, S. 584. Auch die wirtschaftliche Kraft sei nicht erlahmt, wie sich durch eine Reihe von Güterankäufen erweisen ließe. Diese Quellen wurden von WICHERT 2000 systematisch ausgewertet. Von einer wirtschaftlichen Krise des Klosters bis weit in das 16. Jahrhundert sei in den Quellen nichts zu finden, WICHERT 2000, S. 26. Tatsächlich klagte aber ein nach Doberan einberufenes Provinzkapitel 1478 über finanzielle Schwierigkeiten, was zur Aufgabe des Doppelamtes führte, WICHERT 2000, S. 194. Die genaueren Umstände gälte es zu erforschen. Laabs Auffassung widerspricht, dass nachweislich Herzog Heinrich IV. (gest. 1477), Magnus II. (gest. 1503), Balthasar (gest. 1507) und Erich (gest. 1508) im Doberaner Münster bestattet wurden. 7 WICHERT 2000, S. 192. 8 Anschließend wurde der Schweriner Dom Begräbnisort. WICHERT 2000, S. 12 nennt ein Amtsbuch und eine Inventarliste der beweglichen Güter im Mecklenburgischen Landeshauptarchiv Schwerin, das er auswertet. 9 WICHERT 2000, S. 170–172. 10 Ich bedanke mich ganz herzlich bei der Restauratorin Monika Schedel für ihre hilfreiche und – auch durch Scheinwerfer und Stirnlupe – erhellende Begleitung nach Bad Doberan, wertvolle Hinweise und Beobachtungen vor Ort im März 2015. 11 Ich verstehe das als einen Hinweis auf den Stifter, der Bischof oder Abt des Klosters sein könnte. Zwei weitere Beispiele dafür konnte ich bisher finden: das an einem Gestühl angebrachte geschnitzte Wappen des Ratzeburger Bischofs Johannes von Preen (1454– 1461) in Gadebusch (vgl. SCHLIE 1898, Abb. S. 475) zeigt ebenfalls
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einen schräggestellten Krummstab, außerdem das Wappen des Bischofs Konrad Loste (1482–1503) im Dom zu Schwerin, SCHLIE 1898, Abb. S. 549: neben einer Tür an der nördlichen Außenseite des Kreuzgangs ein in Stein gehauenes Wappen: halber Widder mit schrägem Krummstab. In Bad Doberan käme am ehesten Abt Johannes Wilken (1465–1489) in Frage. Besonders auffällig im Nimbus des hl. Bernhard von Clairvaux: hier wurde offensichtlich gekittet und retuschiert. SUCKALE 2003, S. 18. SUCKALE 2003, S. 27. Zum Storkyrkaretabel: RASCHE 2013, S. 153–180. VOSS 2008, S. 151. WAGNER 2011, S. 85 vermutet einen Zusammenhang mit dem Hochaltar, auf den sie eine Quelle von 1452 bezieht. Vgl. dazu: http://www.kulturwerte-mv.de/cms2/LAKD1_prod/ LAKD1/de/Landesdenkmalpflege/_Service/Bisherige_Denkmale_des_Monats/2012/07_-_Ein_wieder_entdecktes_mittelalterliches_Tafelbild_in_der_Rostocker_St._Marienkirche/index.jsp (zuletzt abgerufen am 5. April 2016). Diese Bezeichnung geht auf RöPER 1808, S. 230 zurück. Er listet alle Altäre auf, die sich im Münster befinden, an vierter Stelle nennt er diesen Altar: „Altar der Ehrenreichen Jungfrau Maria, ohne Inschrift. Sein Gemälde zeigt die Maria mit Christo in einer Stralenumgebung (sic!). Über demselben stand vormals Christi Kreuzigung in Figuren“. Predellen erwähnt Röper nicht, deshalb fehlt ein Hinweis auf die Aufstellung derselben im frühen 19. Jahrhundert. An 6. Stelle nennt er noch den „Altar der schmerzensreichen Jungfrau Maria, mit ihrem Bilde, wie sie Christum, nach der Abnahme vom Kreuze, auf dem Schoß hält. Zur Seite und oben sind mehrere Bilder“ mit Inschriften, ebd. VOSS 2008, S. 150 identifiziert ihn als Matthias mit einem Schwert. Ich bedanke mich sehr herzlich für die unkompliziert gewährte kollegiale Hilfe bei Christine Magin von der Forschungsstelle Inschriften in Greifswald! Sie datiert die Schrift: spätes 15.–17. Jahrhundert und verweist auf die häufige Verwendung dieser beiden Devisen auf Grabmälern des 16. und 17. Jahrhunderts. Das Sgraffito ist vermutlich eingekratzt worden, als das Retabel zugeklappt und verkehrt herum stand. VOSS 2008, S. 150 stellt Vermutungen über drei weitere Szenen an, von denen aber – mit Ausnahme der knienden Figur unten rechts – nichts mehr erhalten ist. Allerdings spricht er fälschlich von Moses vor dem brennenden Dornbusch. Diese Rankenmalerei ähnelt, in vereinfachter Form derjenigen an Rodes Storkyrkaretabel in Stockholm. Vgl. RASCHE 2013, S. 158, Abb. 110. VOSS 2008, S. 150 geht dagegen von 8 weiblichen Heiligen aus. Von den Äbten des späten 15. Jahrhunderts sind in Doberan figürlich gestaltete Grabsteine erhalten. Als Vergleichsbeispiel sei auf die Stiftung des Abtes Peter von Gomaringen für das Zisterzienserkloster Bebenhausen und seine Darstellung hingewiesen, vgl. LAABS 2000, S. 88.
ANHANG
AKTUELLE DENDROCHRONOLOGISCHE UNTERSUCHUNGEN ZUR AUSSTATTUNG DES DOBERANER MÜNSTERS tILO SCHöfBeCK
Es ist weithin bekannt, dass sich im Doberaner Münster besonders viele mittelalterliche Kunstwerke befinden, die bis heute im Fokus der kunsthistorischen Forschung stehen. Um sie besser in ihren Kontext einordnen zu können, ihre Bedeutung und Wirkung zu interpretieren, ist eine exakte Datierung unerlässlich. Nachdem im Doberaner Münster vor einigen Jahren Kelchschrank, Chorgestühl und Leuchtermadonna dendrochronologisch untersucht werden konnten1, bot die Fachtagung „Die Ausstattung des Doberaner Münsters – Kunst im Kontext“ Anlass zu neuen Forschungen an weiteren Objekten. Als Grundlage für weitere kunsthistorische Analysen sollen ihre Ergebnisse hier kurz vorgestellt werden2.
1. CORPUS-CHRISTI- RETABEL Das beste Resultat konnte bei der Untersuchung des Corpus-Christi-Altar in der nordöstlichen Chorumgangskapelle des Münsters erzielt werden. Sowohl ein Brett von der Rückwand aus Kiefer als auch Spaltbohlen aus Eiche von der „Bedachung“ ließen sich datieren. Der Radius der Eiche konnte rückseitig mit dem Skalpell präpariert werden. Das rechte Brett der rechten Bedachung wies glücklicherweise noch einen Rest Splintholz auf, so dass eine Datierung des einheimischen Eichenholzes auf 1311 ±10d gelang. Zusätzlich konnte die profilierte Einfassung für die mittige Türnische ausfotografiert werden, so dass sich das Kiefernbrett der Rückwand ebenfalls untersuchen ließ. Zwar haben wir hier nur eine Außenkante ohne weitere Hinweise auf die Anzahl
fehlender Jahrringe, doch hilft uns die Datierung auf „nach 1311“ in diesem Fall weiter, können wir doch so den statistisch ermittelten Fällzeitraum der Eichenprobe noch weiter einengen. Das Holz stammt also offensichtlich aus der Zeit zwischen 1311 und 1321 bzw. von 1316 ±5d. Spannend ist zumal die Herkunft des Kiefernbrettes – dieses zeigte die besten Vergleichswerte mit der Kurve aus Südschweden. Das ist für diese Zeit nicht weiter verwunderlich, da es durch den Landesausbau des 13. Jahrhunderts und das starke Wachstum der Städte bereits seit den 1270er Jahren Mangel an Bauholz und nachweislich Importe gab. In Rostock tauchen gesägte schwedische Bretter zu dieser Zeit in zahlreichen archäologischen Grabungen auf. Ohne diesen Hinweis überbewerten zu wollen, ist eine Rostocker Herkunft zumindest bedenkenswert, wobei dies Doberan nicht ausschließt, falls es tatsächlich solche künstlerischen Arbeiten im Klostergelände und nicht in der nahegelegenen Metropole gegeben haben sollte.
2. RETABEL DER LEIDEN CHRISTI Die Untersuchung des Altarretabels der Leiden Christi ließ sich verhältnismäßig einfach bewerkstelligen, weil die Seitenflügel ursprünglich horizontal geteilt waren und nur noch die oberen Hälften vorhanden sind3. Deren Untersicht zeigte bereits eine sauber zugerichtete Oberfläche des Stirnholzes, so dass nur noch Fotos bei ausreichenden Lichtverhältnissen notwendig waren. Allerdings wiesen die rechteckig gehobelten und beschnittenen Spaltbretter keine Reste von Splint-
Linke Seite: Abb. 442. Detail aus Abb. 61: Die hll. Bernhard und Benedikt
holz mehr auf, weshalb nur ein Postquem-Datum ermittelt werden konnte. Der linke Flügel zeigte seinen letzten Jahrring im Jahr 1326, woraus sich unter Zuschlag der obligatorischen durchschnittlich zwanzig Splintjahre ein Ergebnis von „um oder nach 1346d“ ableiten lässt. Der rechte Flügel besteht vermutlich aus einem anderen Abschnitt desselben Ausgangsbrettes, denn seine Datierung ist adäquat zum linken Flügel „um oder nach 1347d“. Wir wissen nicht, wie stark das Werkstück tatsächlich besäumt wurde, so bleibt uns nur von einer Zeitstellung frühestens um die Jahrhundertmitte oder vermutlich im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts zu sprechen. In der Regel wurde das Ausgangsmaterial bestmöglich ausgenutzt, so dass die tatsächliche KernSplint-Grenze nicht weit von der Außenkante entfernt lag, aber der Fehler kann je nach Jahrringbreite gut bei fünf bis zehn verlorenen Jahrringen pro abgearbeitetem Zentimeter liegen. Die Holzherkunft ist hier wiederum einheimisch, also im mecklenburgischen Küstengebiet und seinem Hinterland zu suchen.
3. KONVERSENGESTÜHL Nach der erfolgreichen Datierung des Chorgestühles auf 1293 ±10d vor einigen Jahren4, boten 2014 einige Freilegungen im Sockelbereich des nördlichen Konversengestühles die Möglichkeit, auch hier die tragende Grundkonstruktion zu beproben. Das Sattelholz wies hier, ganz im Osten, noch vollständige Waldkanten auf, der Splint ist zwar stark fraßgeschädigt, doch vor Ort mit Skalpell präpariert und ausgezählt worden, so dass eine Datierung der einheimischen Eiche auf 1308 ±d gelang, wobei das „±“ erhaltungsbedingt für eine leichte Unschärfe beim letzten Jahrring spricht. Es zeigt sich also, dass zwischen der Ausstattung des Chores (vermutlich zeitnah mit der Fertigstellung des Münsters um 1296d) und des Konversenbereiches nur ein Zeitraum von wenigen Jahre, vermutlich ein gutes Jahrzehnt, gelegen hat. Da es sich bei dem massiven Lagerholz hier um einen relativ einfach bearbeiteten Vollholz-Balken mit vorwiegend statischer Funktion handelt (kein Schnitzholz), ist zudem von einer relativ saftfrischen und damit umgehenden Verwendung auszugehen.
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4. WEITERE UNTERSUCHUNGEN Im Rahmen der Tagung gab es von verschiedenen Kollegen noch Interesse an Aussagen zu weiteren Ausstattungsstücken wie z.B. dem Hochaltarretabel, dem Kreuz-Altar, dem Sakramentshaus, dem Grabmal der Königin Margarete, dem Oktogon oder auch einer Überprüfung des bereits untersuchten Kelchschrankes. Die unternommenen Versuche sind vorerst nicht geglückt, hier müsste mit mehr Zeit weiter geforscht werden, dann wären neue Ergebnisse zu Datierung und Herkunft durchaus möglich. Der Kelchschrank ist auf „um oder nach 1296d“ datiert worden, Splintholz und damit Präzisierungen des Ergebnisses ist ohne restauratorische Demontage nicht erreichbar. Die angegebene Korrelation mit der Chronologie des Weser-LeineBerglands sollte aber keine Aussage zur Holzherkunft begründen, dafür wären in dieser Zeit wesentlich mehr Einzelradien des Möbels zu untersuchen. Eine Herkunft des Holzes aus der einheimischen Umgebung erscheint solange ebenso möglich, wie eine stichprobenartige Überprüfung gezeigt hat. Das Grabmal der Königin Margarete wurde bei der letzten Restaurierungskampagne in den 1990er Jahren im Computertomographen untersucht, jedoch zeigen die Aufnahmen im Archiv des Landesamtes für Kultur und Denkmalpflege feinringiges Holz und leider viel zu geringe Auflösung, als dass man diese Aufnahmen für die Dendrochronologie heranziehen könnte. Das Hochaltarretabel bietet im gegenwärtigen Zustand kaum Möglichkeiten zur Untersuchung ursprünglicher Hölzer. Vor einigen Jahren gelang, mit Hilfe der sogenannten Leuchtermadonna, die vermutlich im Zentrum dieses frühen Retabels gestanden hat, eine Datierung in die Zeit „um oder nach 1280d“, vermutlich aber auch in die Zeit um 1300. Von den übrigen Objekten konnten Makrofotos des Stirnholzes angefertigt werden, jedoch aufgrund der Situation vor Ort teilweise in unzureichender Qualität bei zu feinem Jahrringbild. Teilweise sind die Aufnahmen auch nur archiviert und harren einer gesonderten Untersuchung, denn der Aufwand bei der dendrochronologischen Untersuchung von Kunstobjekten ist aus verschiedenen Gründen um ein Wesentliches höher als bei Gebäuden. So konnte ich zwar die mittlere untere Brüstungstafel im Oktogon vorsichtig demontieren und die Stirnseiten präparieren, doch trotz ausgezeichnetem Ausgangsmaterial mit erhaltenem Splintholz gelang es im Labor nicht, zu einer tragfähigen Datierung zu kommen. Hier müsste in Zukunft weiteres Ausgangsmaterial untersucht werden, dann erschiene eine Datierung auch wahrscheinlich.
ANMERKUNGEN 1 2
VOSS 2001, S. 125–142; SCHöFBECK/HEUSSNER 2008, S. 172–187. Alle Datierungen in Zusammenarbeit mit Dr. Karl-Uwe Heußner vom Dendrolabor des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin. C-Nummern: C 47383, 47750, 77139-77149.
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S. dazu den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band. SCHöFBECK/HEUSSNER 2008, S. 177f.
Abb. 443. Detail aus Abb. 61: Verkündigung an Maria
Aktuelle dendrochronologische Untersuchungen zur Ausstattung des Doberaner Münsters | 451
PETER EDDELIN, WAS DENCKWÜRDIGES ZU DOBRAN, 1664 HG . V.
EINLEITUNG Die älteste Beschreibung der Doberaner Münsterkirche und des Klosters – eigentlich eher eine Abschrift der dortigen Inschriften mit anschließender eigener Übersetzung – aus der Feder des langjährigen Pastors Peter Eddelin (†1676) stammt ursprünglich aus dem Jahr 1664 und ist in mehreren Handschriften überliefert1. Im Folgenden ist der Text nach der wohl ältesten Abschrift im Landeshauptarchiv Schwerin (Signatur: 2.12–3/4–2 Kirchen und Schulen, Specialia 13775) wiedergegeben, die allerdings kaum das Autograph ist2. Wo es möglich war, wurden die Vorlagen für die Inschriften identifiziert, soweit sie im Münster erhalten sind. Die Handschrift weicht in vielen Details von diesen Vorlagen ab, was einerseits in dem laxen Umgang des Verfassers mit den Textdetails begründet ist, z.T. aber auch darin, dass die zahlreichen Inschriftentafeln, die Eddelin abschrieb, im 18. Jahrhundert vollständig erneuert wurden. Auch dabei sind Abschreibfehler vorgekommen, einzelne Textzeilen sind bei der Erneuerung der Tafeln ganz entfallen und nur bei Eddelin überliefert3. In der folgenden Edition wurden nur größere Abweichungen des Eddelinschen Textes von den Inschriften im Münster notiert, kleinere wie Verdoppelungen von Konsonanten, Auslassungen von einzelnen Buchstaben etc. sind zahlreich und werden nicht einzeln nachgewiesen. Außer der Schweriner Handschrift sind zwei weitere Handschriften berücksichtigt, die heute in der Universitätsbibliothek in Rostock aufbewahrt werden (Kl108.28, nach Martin Heider vor 1692 entstanden, und Mss. Meckl. O 6, nach Martin Heider bald nach 1713 entstanden4). Im ersten Teil (Epitaphia) stimmen alle drei Handschriften im Wesentlichen überein. Die Teile II–V (II. Effigies ad easque Annotationes / III. Inscriptiones Cipporum / IV. Varia / V. Reliqviae) sind jedoch so stark differierend, dass sie hier in einem eigenen Abschnitt abgedruckt werden. Die Basis bildet die Rostocker Handschrift Kl-108.28. Die Handschrift
Linke Seite: Abb. 444. Detail aus Abb. 47.
GerHArD WeILANDt
Mss. Meckl. O 6 weicht wiederum in vielen Details ab, manche Einträge finden sich überhaupt nur hier, sie sind im Druck ebenfalls als Ergänzungen aufgenommen. So sind mit der folgenden Edition alle wesentlichen Texte der drei Handschriften verfügbar. Die inhaltlichen Kommentare beschränken sich auf das unbedingt Notwendige, zumeist die Identifizierung der erhaltenen Objekte. Die Handschriften sind unabhängig voneinander zu verschiedenen Zeiten entstanden. Kern ist sicher die Beschreibung Eddelins von 1664, doch finden sich in Kl-108.28 einzelne Textzeilen und ganze Inschriften, die nirgends sonst überliefert sind, dasselbe gilt in noch größerem Maße für O 6. Die endgültige Klärung des Abhängigkeitsverhältnisses muss späteren Analysen vorbehalten bleiben, bei der auch weitere Versionen des Textes berücksichtigt werden müssen, von denen eine in der Bayerischen Staatsbibliothek in München (Cgm 5300) aufbewahrt wird5.
TExT Was denckwürdiges zu Dobran 1. in der Kirchen 2. auf dem Hause Hin und her Aus dem Lateinischen ins Deutsche versetzet durch Magist(er) Petrum Eddelin Pastorem Dobberanensem im Jahr Gottes Wort VnD Des LVthers Lehr wIrD Ie ewIg bLeIben Es: xL,8; Luc xxI,33; 1. Petr(us) 1,23 16646
[2] MEMORABILIA Dobberanensia in Templo Epitaphia 1. Pribislai7, primi fundatoris hujus Monasterii / qui fuit filius Nicolothi Vagriorum, Circi/panorum, Polaborum, Obotritorum8, Kissi/norum, Vandalorumque regis illustrissimi Primus ego patrios ab erulis liqui Penates, / Atque Pribislaus credidi primus ego: testantur Patrum9 gentilia prælia regum, / Qui fuerit quondam gloria nostra potens; Hanc tamen ut domuit Saxonum Dux Leo fortis, / Hunc tibi mox placidum Christe dicavi locum. Irrupit sævo septis ter Sarmata bello, / Qui vel quot cæsi prisca ruina docet, Dehinc Solӱmas adii rediens dum throica lusi / Urbe cadens Lunæ tristia fata tuli, Oblitos sed ibi cineres relligio grata / Noluit, et justis condidit illa locis. felices semper si jura tueri nepotes / Prisca loci studeant, et pia coepta juvent10 [3] Pribislai des ersten Stiffters dieses Closters / welcher ist gewesen ein Sohn Nicolothi, der / Obotriten Königes. Der erste von den erulis ich / Pribislaff gab zum Glauben mich Was unser Geschlecht hat für eine Macht / bezeugt der alten Heӱden Schlacht dieselb bezwang der Sachsen Löw, / drauff stifft ich Christo diß Gebaü. die Sarmater rißen dreymahl ein / Aber ihr vieltausend geblieben seӱn darnach zog ich ins gelobte Land / und wie ich wieder zu Hauß mich wandt nahm ich zu Lüneburg mein Ende / wie ich das throische Spiel vollende Mein Leib die danckbahre Geistlichkeit / Hat hieher an diesen Ort geleit Glückselig wird seӱn daßelb Geschlecht / So Schützen wird dieses ortes Recht. [2] 2. DUCIS HENRICI LEONIS11 Anno Domini M.CCC.XXIX ipso die B(eatae) Agnetæ12 Virginis in opp/ido Sternberg13 obiit Illustris Princeps Dominus HENRICUS Cognomen/to Leo, Dux Megapolensis, nec non Stargardiæ et rostock terrarum / Dominus, in hoc Monasterio Doberan sepultus. Hic assignavit eidem Monasterio in extremis suis fibulam auream / valentem trecentas Marcas argenti, It(em) Scyphum14 aureum habentem / quinque Marcas in pondere. It(em) Dextrarium valentem centum Marcas argenti / cujus anima cum animabus progenitorum suorum, ac omnium15 fidelium defun/ctorum per piam misericordiam Dei requiescat in pace Amen16 [3] 2. HERTZOGS HINRICHS DES LöWEN Im Jahr des Herrn 1329 am Tage der Heil(igen) Jungfr(au) Agneten ist ge/storben im Städtlein Sternberg der durchlauchtigste Fürst und / Herr Heinrich genannt der Löwe Hertzog zu Mecklenburg, der Lande Rostock und Stargard Herr, ist alhie zu Dobbran begraben, Dieser hat demselbigen Closter in seinen letzten zugeordnet und gegeben / [ein] güldene Haaken 300 Marck Silbers werth. / item einen güldenen Becher der gehabt am Gewichte 5 Marck / item ein Dextrarium 100 Marck Silbers werth. Deßen Seele / benebst den Seelen seiner Vorfahren und aller selig verstorbenen ruhen im Friede durch die gütige Barmhertzigkeit Gottes Amen. Versus17 Anno milleno, tricentenoque viceno / Huic numero pleno juncto pariterque noveno Quo rex Coelestis, est natus tempore moestis / ex cujus gestis perit orbis morbida pestis. Agnæ laudandae sunt festa semper amandae Hinc18 Stargardensis Dominus quoque Magnopolensis / Ac rostochiensis, quem nunquam19 tenuit20 ensis. Hic jacet humatus, hic corpore vilificatus / Sed Christo gratus vivat sine fine beatus Qui legis hæc, ora, quod Christus in hac pius hora / Omnia pejora sua laxet ei sine mora, Dansq(ue) sibi rorem præsenti nobiliorem / quo largitorem cernat vitæq(ue) datorem21. [3] Tausend dreyhundert und Zwantzig neun / Nach Christi Gebuhrt von der Jungfrau rein der uns befreӱt von Sünden-Pest / an St. Agnethen heiliges Fest
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ist Todes verblichen Hertzog Hinrich / von Mecklenburg, ein Fürst gantz sinnreich Ein Herr über Rostock und Stargard / Der nie fürm Schwerd verfehret ward hie liegt sein elendtr Leib begraben / bey Christo ist die Seele erhaben wer diß lißt der bitte Zur Stunde / daß ihm Gott erlaß die Sünde geb ihm des ewigen Lebens-Thau / daß Er da Gott immer schau [Aliud ejusdem22 Anno milleno tricen[to] vicenoq(ue) noveno / Natus ut est ille, qvem prædixere Sibilla23 / Dicta die Magnæ proch Hin[ricus] plangitur24 Agnæ / Meczelbourg25 Princeps qvem tristis obisse dolet plebs / Huic Genetrix Christi succurrat26 in nece tristi / Dæmonis arcetur27 sed justis congratuletur28 Ein anders eben deßelbigen Tausend dreӱhundert Zwantzig neün / Am Tage der heiligen Agneten rein / Starb Hinrich der Mecklenb(urger) Löw / Drüm alleß volck hat große Reü. / Die Mutter Christi hilfft ihm in Tod / und rett ihm auß des teüffels noth] [4] 3. DUCIS ALBERTI2 Hic jacet Albertus Dux Magnopolis tumulatus / De quo sis testis, quod cum30 de virgine natus Propter Justitiam, quam fecit, honorificavit, / Longe tristitiam poenam31 luctumq(ue) fugavit: Heu mortem subiit compos rationis in anno / quo nasci voluit Deus involvi quoq(ue) panno, centum perfecte decies et ter numerates / LX adnecte bis32 et octo monos sociatis. Undecimo Martis calendas quem pie Christe / In sortem partis Sanctorum Supplicio33 siste. Huic non est natus par invictus quoadusq(ue) / vixerat ornatus sensu verbis opibusq(ue) In Suerin fuerat, rostock, Stargard Dominator, / Alter et Hector erat, famosus belligerator34 plura Monasterio nostro [dedit35], ergo Maria / Da quod in Imperio nati sit, ubi Melodia Coelica cantatur, ubi verus adest Jubilæus / Nempe prout fatur in eo periit Maccabæus excessit tantum sua laus laudem reliquorum / a tenebris quantum lux distat herus Dominorum Hic tenet in donis Aquilæ Speciemq(ue) Leonis / Nam timet hunc omnis, dignus pro certo36 Coronis Strenuus in factis, in bellis justus habetur / fidus et in pactis, pro quo sibi gloria detur, zelator legum tritus jus fasq(ue) tenere / Pro quo rex regum det, eum secum residere viribus est Samson, forma Paris et pietate / David, sed Salomon sensu rex nobilitate: Plangat eum populus, Baro, rex, Comes haudq(ue) pusillu(m) / Orans ne Scopulus inferni subruat illum37 Mitis erat totus hac tumba qui requiescat / Christo devotus fidei plenusq(ue) recessit: Hunc38 Deus alme velis tibi consociare sepultum / et fac in cöelis Deitatis cernere vultum: Anni quos vixit pene sexaginta fuere / et vulgus dixit, ut fertur, et audio vere.39 [5] 3. HERTZOG ALBRECHTEN Hier liegt Fürst Allbrecht unterm Stein / Von dem du solt gewiße seӱn Daß wegen seiner Gerechtigkeit / Ihm Gott gegeben die ewige Freud. Bey guter Vernunfft gestorben ist / im Jahr der Gebuhrt des Herren Christ Ein Hundert dreyzehn mahl gezählt / LX und acht dabey erwehlt, den neunzehnd des Monahts Hornung / über ihn habe Christe Erbarmung. Laß ihn seyn bey den heiligen erkohrn / Seins gleichen ist noch nie gebohrn Schwerin, Rostock, Stargard regiert / auch diesem Closter viel verehrt darum gib liebe Jungfrau Marie / daß Er hör himlische Melodie An ihn sagt man hab‘n wir verlohrn / Solch ein alß Maccabæus war Zuvorn Wie des Tages Licht ist gegen der Nacht / So war gegen andern geacht Er hatt Adlers und Löwen Gaben / Ein jeder thät ihn ehren und lobn
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im Krieg manhafftig wie ein Löw / Im Thaten und Worten getreu der Gesetz und Recht ein Eyferer / drüm setz ihn bey sich Christ der Herr des Simsons Stärck, Paris Schönheit / Davids Gottsfurcht Salomons Weißheit dazu Königlich Adelheit / alhie zusammen begraben leit Traur König, Fürst, Graff, Bürgers Mann / Ein jeder traur so viel Er Kan, Der hier im Grabe liegt verdorben / im Glaub‘n an Christum ist gestorb‘n Den nim o Gott in deine Geselschafft / und mach ihn der Gottheit theilhafft Er hat gelebt schier 60 Jahr / als man sagt und ich glaub es seӱ wahr. [6] ALIUD EIUSDEM40 en Suerinensis Comes et Dux Magnopolensis / Christo devotus, et principi41bus bene notus Inclӱtus Albertus, moritur virtute refertus / tricen(ti) Mille datisq(ue) novem sep(tem) sic sociatis Post ortum Christi numero sapienter existi42 / junge dies plane tres post festum Julianæ Convaluit crescens cito, cum fuit hic adolescens, / moribus et gestis se commendavit honestis Orphanus effectus a rudolpho Duce rectus / Nidos confregit, sibi colla superbia43 subegit ut sua sic terra per se staret sine guerra44 / omnibus extensa dape plena stetit sua mensa regali more convivas traxit honore / Largus, jucundus45, discretus, verecundus In placitis agilis, facundus, mente virilis / Martis et in causa manus ejus erat satis ausa cum stetit armatus fuit ut Leo res operatus. / Nec vertens dorsum dedit hostes stare retrorsum In nullo pavit fortuna Dei sibi favit / Quippe sibi soli proprium: ME TANGERE NOLI Ipsum tangentes retulerunt verbera flentes, / testes sunt zanger Hudsen46, Dux Marchio, Damgar Hi per eum tacti sunt addere dona coacti / ex his famose fulsit Patriæ spatiose Metas augebat auctas cum pace regebat / exclusis pravis, regni fuit47 optima clavis quando lupos scivit venturos, obvius ivit / fines terrarum gӱrans partes vel aquarum turbinis, algoris48, nivis, imbris sæpe caloris / Vim49, famis est passusq(ue) sitis per devia lassus.50 [7] Ein anders51 Hertzog in Mecklenburger Land / Gott und vielen Fürsten wol bekant Albrecht im Jahr den Tod muß sehn / Tausend dreyhundert und sechszehn drey Tag nach Julianæ Fest / Gott ihn von Hinnen führen läßt. In seiner Jugend wuchs Er gar bald / Von Geberd und Leibe wohlgestalt. War züchtig, weise ward regiert / von Hertzog rudolph hochgeehrt die Bösen rottet Er all aus / daß ihm Freund blieb sein Land und Haus Hielt allzeit offen Hoff und Tisch / tractirt sein Gäst auf Königsch (!) frisch mild gebend, lustig doch discret, / hurtig, sanfftmühtig sehr beredt Im Krieg sein Hand und sein Mannhafft / solche Thaten wie ein Löwe schafft dem Feind kehret Er nicht zu den Rück / dazu gab ihm Gott groß Gelück Sein Sprichwort war: rühr mich nicht an / wers that must gehen weinend von dan Zangerhaus’n, Marg Graff und Damgart / Solchs han befunden auf der Fahrt An denen Er sein Waff‘n nicht spahrt / Von Ihnen noch dazu begabet ward rühmlich sein Vaterland regiert / die Grentzen weiter naußen führt Wenn Er hat böse Wölff gewust / entgegen den‘n gezogen ist Viel Reisens hat Er je gethan / Hitz Frost Hunger Durst ausgestahn.
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[6] ITEM52 ejus oves tangi nolens vel ovilia frangi / Non vixit frustra, sic per bis sex sua lustra tandem natura senӱ petӱt sua jura / debilis est positus lecto53, ratione politus54 res quas legavit natos firmare rogavit / et defensari jussit Dobberan et amari, [8] Cum defunctorum locus55 est suus et proavorum / ergo patris votum pueri multis ita notum Actu perficiant, ut salvi cum patre fiant, / Dispositis56 istis, sequitur divisio tristis, Heu quia vi mortis est percussus Leo fortis / Grӱpho pedes texit, bos audax cornua flexit In domino rite claudens sua tempora vitæ / O quam grex caræ plebis tunc flevit amare omni cessante risu qui floruit ante / Non fuerat tantus Suerin prius æstimo planctus. Scribitur expresse, mors nullum vult superesse / ergo parum plorans juvat hunc multum juvat orans Sed quidam læti sunt ejus tempore57 lethi, / Quos infestavit fieri rex quando paravit In Dobberan latus est retroq(ue) chorum tumulatus, / Kultu58 Magnarum sicut decet exequiarum Ut declarabant sua funera, qui celebrabant / rexq(ue) duces, Comites populosa Caterva Quirites Pontifices proceres ac insignes mulieres / Omnis et ornatus reverenter ubiq(ue) paratus et suffecisset, quod si rex ipse fuisset / Quantus erat pulchro monstra[nt] 3. signa Sepulchro Grӱpho cum tauro, Suerin ubi fulget in auro / Inter quos pictus foris est intusq(ue) relictus.59 [7] Daß sein Schaaff mögten friede han / Sechzig Jahr lieffen so von dan da wolt die Natur han ihr Recht / und ward Er kranck aufs Bett gelegt Befahl seinen Söhnen daß sie sollten / über seinem testament fest halten dem Closter Dobbran geben Ehr / [9] weils ihrs Geschlechtes Grabstät wär wie diß geredt gings scheiden an / da starb Er wie ein Löw der Mann der Greiff ihm seine Füß bedeckt / der Stier die Hörner kaum ausreckt, Also schlieff Er im Herrn wol ein, / o wie weynet da groß und klein, Mit aller Freud wars da geschehn, / Schwerin hat ein solch Leӱd gesehn So ists der Tod wil han sein Ziel / doch weinen nichts, beten hilfft viel. Vielleicht sich freun ob seinen Tod / die Er zuvor demühtigt hat begraben hinterm Chor nicht weit / ist Er in großer Herrlichkeit. wie solches zeugt die60 große Zahl. / der Potentaten alzumahl wanns auch ein König gewesen wär / Könt man ihm thun nicht größer Ehr solches zeigen die drey Fahnen an / Die über sein Begräbniß stahn. Ein Greiff und Stier in Gold darein / Er selbst liegt und gelaß‘n allein Hertzog Hi[nrich] [8] 4. HENRICI FILII ALBERTI61 Nobilis HENRICUS Magnopolis pacis Amicus defuncto Patre, jam cum Magno Duce fratre / Cæpit regnare per regnum strenue gnare forte scholis didicit maledoctos quamodo62 vicit / Pax et justitia fuit ejus Philosophia, Per quam purgata stetit ejus publica strata / tute Mercator ivit, quivisq(ue) viator tectis63 sub larvis nequam sӱlvis vel in arvis / noctibus errantes fractis domibusq(ue) locantes Sub dolӱs gentes et earum res rapientes / investigavit, suspendit, vel gladiavit 10] His nunquam64 vere pacem permisit habere, / Non obdormivit, ablativos ubi scivit ecclesiæ postes subit et lucis rapit hostes / Noluit ad regimen Patriæ committere crimen / intulit ipse tamen claustris quandoq(ue) gravamen / Noscitur expresse quod erat sibi sæpe nece[s]se65 Hic graviter cecidit, sicut gens plurima vidit / In torneamentis sub equi mole prementis ducitur ad lectum, quem visit plebs ibi tectum / cernitur urina, nil juvit eum medicina flet populus, moritur juxta Patrem sepelitur66 / de quo gaudebat mala gens, sed justa dolebat Sicut viventes, sic sunt socӱ morientes
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/ Quorum Majestas nihil est modo sive potestas Liquit eos rerum substantia pompa dierum / In tenebris vermes lacerant nudos67 et inermes Sed quæ gesserunt hinc secum nulla tulerunt / esto Deus lenis pie judex his sine poenis Duc, et eos pone simul in vitæ regione / Nate pater, flamen sacer hoc fac p[o]scimus. AMEN ANNO DOMINI M.C. CCC.68 [9] 4. HERTZOG HINRICH ALBRECHTS SOHN. Hinrich der Edle nachs Vaters Tod / mit seinem Bruder Magnus gut, das Land regiert manhafft löblich / hat auch sein Sach studirt zugleich, Fried und Gerechtigkeit dabeӱ / war seine liebste Philosopheӱ der Kauffmann sicher reisen könt / Raüber Mörder und solche Gesind hat Er verfolgt, erhenckt ermordt / [11] kein Raum ihnen gelaßen an keinen Ort, Aus zu tilgen solch böß Geschmeiß, / hat Er gesparet keinen Fleiß [Wo Er Kirchn diebe nur bekom(m)en / Hat Er Ihn‘n daß Leben genom(m)en]69 Regiert zwar woll70 aber doch fast / thät Clöstern bißweilen Überlast zuletzt ist Er unter seinem Pferd / beym Geschütz gefallen auf die Erd zu Bett getragen der Harn besehen / viel Fleiß und Müh an Ihn geschehen doch alles vergebens Er ist gestorben / bey seinem Vater Begraben worden Vielen wars lieb und Vielen leӱd / wie gemeiniglich ist der Welt Bescheid So als die Leut gelebet han / seyn sie wenn sie scheiden davon ihr Pracht und Hoheit müßen sie / auf Erden hinterlaßen hie die Würm sie freßen nackt und bloß / nichts mit sich nehmen klein und groß Gott sey Ihn‘n gnädig allzumahl / und freye Sie von der Höllen Quaal im Himmel laß sie gehn zusammen / O Gott verleih Ihnen solches. Amen 1400. [10] 5. MAGNI / RE ET NOMINE MAGNI FILII / HENRICI PINGUIS71 Magnopolensis eram Dux Magnus nomine Magnus / Cæsaribus gratus Princibusq(ue) viris Pronus Apostolica Papæ bis cernor72 in aula / Austriacus fovit Cæsar uterq(ue) meos Perpetuam dedit ille rosam Sacra bractea regum / Hic73 mihi feudorum gratia bina fuit A[e]thereæ patriam Solӱmæ peregrinus adivi / Militiam Domini sancta per arva petens [12] Gaudebunt Atavi titulis, tellure nepotes / Proxima cura subit religionis honos Auximus his fines74 stemmata junximus illis / Nostra reformatis stat pia turba choris rostho[ch]iumq(ue) ferox domui, tibi, Dive Jacobe, / Sanguine cum75 proprio Canonicos statuens Quod pepuli verpos, Christi bona Sacramenta / Stellarum montis secta cremanda76 ferit, Hæc77 pietas! dum magna paro78, majora relinquo / Injecere manus maxima fata mihi Nam dum sæva lues toto grassatur in orbe / Lӱchnica Crustosis79 ulcera stigmatibus Nulla meos potuit virtus superare dolores / Quin perii, mortem nulla medela levat Induperator[um], regum80, Ducumq(ue) potestas / et cunctæ stellis suppeditantur opes eheu! magna cadunt, parvum est quodcunq(ue) videmus / Jamq(ue) Ducis Magni nomina sola manent. Pectoribus hæc loquor81 doctis, indocta rogabunt, / Sit mea cum patribus mens bene grata Deo.82 [11] 5. HERTZOGS MAGNI Mein Nahm ist groß auch war ich groß / Beӱm Kaӱser und Fürsten wems auch verdroß Zweymahl an des Pabsts Hoff ich war / Der Kaӱser mir auch sehr günstig gar
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Mein Schild mit einer Rosen verehrt / Deßen mein Land ja auch ward vermehrt Ein Reise ich vornahm vor der Hand / Nach Jerusalem ins gelobte Land [13] Die titul mögen meine Uhralt’n / und das Land meine Kinder behalten mir ists nur um die religion / und dann auch um Gotts Ehr zu thun daß jenen auch der titul gebührt / gleichfals diesen das Land ist vermehrt Rostock zwang ich und machte mich lob / zu ein‘m Thum die Kirche S. Jacob Ich trieb auch durch ein gantz Christlich Werck / die Juden hinweg von Sternberg Wie ich nun dises und jenes thu / So kömt mir Gottes Verhängniß zu die schwer Seuch der Pestilentz / schleicht in der Mecklenburger Grentz da hilfft kein Artzney mannigfalt / der Tod nimt hin über mich Gewalt Also fällt auch das was da hohe steht / wie bald doch was hie groß ist vergeht von allen meinen Sachen gar groß / Ist mir nur blieben der Nahme bloß diß red ich dem der Gelahrtheit hat / der nicht gelahrt, bitt für mich Gott. [12] 6. JLLUSTRIS DUCIS AC DOMINAE / URSULÆ ex Brandenburgensi domo proge/nitæ, quæ obiit Anno M.DXI Die Mercurӱ / post exalt[ationis] Crucis83 Si jactare genus licet, et meminisse caduca / Imperii sacri Stirps mea jura regit, Imperii Quæstor genitor fuit, illius oram / Briseam natus nunc Joachimus habet Connubio vixi claro Duce dives erulo / Henrico, qui cum pignora terna tuli Vixissem, potui Patriæ navasse salute / Vix ea dum meditor, me Atropos atra astra84 rapit Magniade si multa juvant, et magna parantur85 / relligio86, Pietas et benefacta juvant, [14] Cætera vana reor sors est metuenda future / Hoc sat erit pro me foemina, virque rogent.87 [13] [6.] DER DURCHLAUCHTIGEN FÜRSTIN UND FRAU URSULÆ / gebohrn vom Hause Brandenburg, welche gestorben im Jahr 1511. / am Mittwochen nach Creutz Erhöhung. Kan Jemand rühmen sein Geschlecht / So thun Wir es mit guten Recht Mein Vater des Reichs Cammer-Amt führt / Sein Sohn Jochim das Land regiert Mein Gemahl der Fürst von Mecklenburg war / Heinrich dem ich 3 Kinder gebahr dem Vaterland ich dienen könt / war ich nicht gestorben so geschwind auf dieser Welt nichts hilftt nichts gilt / ohn gute Werck ohn Gottes Huld [15] fürs künfttige mag man woll grauen / Betet für mich Ihr Mann und Frauen. [14] 7. ILLUSTRISSIMI PRINCIPIS ERICI88 / Megapolensium Ducis, Vandalorum(que) Principis / Comitis Suerini89 rostochiorum ac Stargardi/orum Domini Illustri Megalopӱrgum me stirpe creatum / ex[c]epit blando patrica terra sinu educat ad suaves mores et mitia donat / Pectora Musarum conciliatque gregem et mea rostochium primum mihi parvula donat / Grammata romani principia eloquii et jam spe magna[m] patriam patremque beabam (!) / Prudentum legis non leve nomen eram Id quod testatur quod episcopus eligor omni / Annos Judicio præveniente meos Moxq(ue) per Jtaliam celebris90 celeberrimus inter / Magno conspicior auctus honore viros et jam præstandum fuit illud quod dubia spe / Concepit populus sub ditione meus Jllico subvertor veluti jactante procella / e medio cursu91 classis abacta perit Sed tu ne doleas, quisquis legis optime lector / Omnes nam pariter fata92 severa manent Moritur Suerini Anno Christi M.D.V. Mensis Decembris 2493
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[15] 7. DES DURCHLEUCHTIGEN FÜRSTEN ERICHS94 / Hertzogen zu Mecklenburg, Grafen zu Schwerin / der Lande Rostock und Stargard Herrn Ich von Mecklenburger Geschlecht erkorn / und in meinem Vaterland gebohrn beruete gute Sitten in der Jugend / Beschließ mit aller Fürstlichen Tugend Zu Rostock ich sehr fleißig hernach / Studirte die gute Lateinisch Sprach auf mich da hoffte das gantze Land / weil es solche Klugheit bey mir fand Daher ich denn auch vor den Jahren / zu einem Bischoff ward erkohrn darauff bald hin nach Welschland reisete / da mich jederman hoch preisete Wie ich nun wolt anfang‘n zu regieren fein / Nach allen Wunsch der Unterthan mein da nahm mich bald dahin der schnelle Tod / wie ein Schiff vergeht in Waßers Noht Nicht klage du ô Leser meinen Fall / Denn solchs ja triftt die Menschen all. Ist gestorben zu Schwerin Anno 1505 d(en) 24 Decembris [14] 8. MAGNI95 In Memoriam Sempiternam inclӱto Heroi Doctiss(imo) / optimoque Principi96 Domino D(omi)no MAGNO DUCI / Megalopolensi Henrici filio, et Suerinensi episcopo / qui A(nn)o D(omi)ni MDL, 5. Calend(is) f(e)br(uarii) Butzovii pie obdormivit. Doctrina, pr[o]avis, nulli virtute secundus / et Megapoleos97 Dux tumulo hoc tegitur [16] Nomine magnus erat, re major at ille futurus / Improba mors saltem, si voluisset erat: Acer in asserto constans et pectore verbo / et veræ viguit relligionis apex et pudor et probitas et dulcis gratia morum / certatim donis hunc poliere suis eloqio Nestor, felicis acumine mentis / Dulichio valuit non minus ille sene Imperij proceres facundæ munere linguæ / Aures et mulsit, Carole dive tuas, Judicium pietas et rebus in omnibus ardens / Virtus et patriæ constituebat amor Jllius ex alto Cimbrorum98 Sanguine Conjunx / edita friderici99 filia regis erat Quæ magnum veluti generosum porcia brutum / Humectans lacrӱmis100 elisabetha suis Condidit huc vita functum cineriq(ue) quot annis / ut bene sit, votis officiosa rogat101 extremum moriens solum te Christe vocabat / Cujus in optato jam cubat ille sinu elisabetha102 inclӱti Danorum regis friderici p(ie) m(emoriae) / filia, Conjugi suo dilectiss(imo) optimeq(ue) merito, in spem / futuræ resurrectionis, plena lacrӱmarum posuit. [15] 8. MAGNI103 / Zum ewigen Gedächtniß dem Fürstl(ichen) Helden, wohl/gelahrten und allergütigsten Fürsten und Herrn, / Herrn Magno, Hertzogen zu Mecklenburg / Heinrichs Sohn und Bischoffen zu Schwerin, welcher / im Jahr 1550 d(en) 28 January zu Bützow selig entschlaffen. Der von Gelahrtheit vor Eltern und Tugend kein’m nachgibt / Der Mecklenburger Hertzog alhie begraben liegt [17] Sein Nahm war groß, ab‘r größ‘r würd Er gewesen seӱn von that / wenn nur der böse Todt Jhn nicht weggenommen hätt, In zugesagt’n Worten tapffer, standhafft im Gemüht / Und des wahren Glaubens höchste zier Er geblüht Er war all scharffsinnig und schon gantz sehr beredt / was würd Er geworden seӱn wenn Er noch hätt länger gelebt die fürnehmst Regent’n Er ergetzt mit sein Latein / welches auch Kaӱser Carl selbst104 gehört und gelobet fein Verständig Gott selig und eifrig in allen Sachen / auch tugendhafft was dem Vaterland lieb, thät Er mach’n Zu sein’m geliebten Gemahl aus Königl(ichem) Stamm / Zu dennamarck König friedrichs Tochter Er bekam Frauw elisabeth hochgebohrn, die ihn sehr beweint / Mit Zähren da ihr liebster Herr von ihr abscheidt und ihn hieher, da Er gestorben legen laßen / auch wünschet daß ihm ewig wohl sey bester maßen durch deß’n Hintritt wir groß’n Schad’n der Mecklenb(urger) Stamm / genommen das lehrt sein Herrl(iches) Gerücht lobesan. Im letzten da Er starb rieff Er dich an Christe bloß / Darum Er nun ruht ohn Quaal in des gewünschten Schooß. elisabeth des fürtrefflichen Königes zu Dennemarcken friderici / Sel(igen) Gedächtniß Tochter hat ihrem hertzliebsten und wohl verdientem / Gemahl auff Hoffnung der künfftigen Auferstehung vol thränen diß nachsetzen / laßen.
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[16–17] Aliud ejusdem MAGNI Hertzog Hinrichs Sohn105 Alhie Leser an diesen Ort, steh still und liß folgende Wort / Ein Fürst von Stamm und Tugend Reich Alhie bey seinen Vätern gleich, Hertzog Magnus begraben ist / und ruhet im Schutz Jesu Christ Ein tausend fünfhundert neun Jahr zu Stargard Er gebohren wart / Hertzog Heinrich der friedsam Fürst dem alle Zeit nach Ehren dürst Im teutschen Reich gantz weit bekannt war sein liebster Vater genant / Seine Frau Mutter war eine Marg Gräffin Ursula ihr Nahm ruhet auch hierin Seine Jahrszeit war St Ulrichs Tag darin sein Vater große Freudt sah / ließ ihn erziehn in Zucht und Ehren Gottesfurcht und freӱe Künste lehren Er war gelahrt und wol beredt wovon das Königl(iche) Reich weiß bescheid / und Kaӱser Carl lobt sein Latein welches Er redet zeirlich und fein Anno Eintausend fünfhundert zwar darzu in drey und viertzig Jahr / Zu dennemarck aus Königl(ichem) Stamm Er sein geliebtes Gemahl bekam Frau Elisabeth hochgebohrn zu aller Tugend auserkohrn Ihr Vater / war König Friederich König Christian ihr Bruder gleich Das Regiment hat der Vater gar Er aber zu Schwerin Bischoff war / dennoch seinen Hochweisen Raht der Vater brauchte früh und spat Ein tausend fünfhundet funfzig Jahr zwey Jahr vors Vaters Tod für / wahr den donnerstag nach Pauli Bekehrung in guter Jugend106 und Regierung Er zu Bützow ohn Leibes Erben selig in Gott thät versterben und / darnach auff Lichtmeßen tag die Leiche man zu Dobbran begrub welchem Gott Ruh und Seeligkeit geb gnädiglich in / Ewigkeit.107 [18] 9. DEO OPTIMO MAXIMO108 Illustribus Principibus Megapolens(ibus), quotquot hoc tem/pore109 in Majorum monumentis conditi sunt Illustrissi/mus Princeps ULRICUS Dei gratia Dux Megap(olensis) et Con/ju[n]x ELISABETHA ex regia Danorum110 Stirpe nata Ducis/sa Megapolitana111 majoribus suis cum honore et pietate / colendis memoriæ causa112 posuerunt Anno instauratæ Salutis CIC ICXXCIII [MDXXCIII =1583] Salvete o Animæ regum generosa propago / Quos tulit illustris113 terra obotrita114 Duces: Namq(ue) alii ob patriam mavortia castra secuti115 / majorum similes sustinuere mori Victores alios decus immortale tulisse / testantur forti fixa trophæa manu Sunt quos gratia Deo, pietas et pectore puro / Proveniens stimulat relligionis amor Justitiam coluere alӱ, tranquillaq(ue) pacis / tempora, legitimi juraq(ue) Sa(n)cta fori, Multi suaviloquas, studio flagrante Comænas116 / Doctosq(ue) in Patria constituere viros Hinc gladios alӱ, stringunt, dirosq(ue) Latrones / Interimunt, et quos publica damna juvant Quo pax alma data est, quo sunt commercia tuta / Securum lætus carpe viator iter Hinc Solӱmas alӱ visunt, terramq(ue) beatam / et loca prodigiis Christe notata tuis Vos patriæ Heroas, post fata suprema sepulcris117 / et titulis claros118 hæc loca sacra tenent Hic tu PRIBISLAE, jaces, temploq(ue) quiescis / Condendi cujus maximus Au[c]tor eras Aspice quos natos tibi postera secta (!119) tulerunt / Gens videm120 ut circum te numerosa cubet? Multa hic connubio felix MATRONA sepulta est, / quarum posteritas prole beata fuit. Henricus jacet hic, factis qui forte Leonis / Inter vicinos nomen et omen habet. Hic Alberte cubas, Suecoru(m)121 qui regia, quondam / [20] rexisti longo tempore Sceptra manu Quid magnum memorem, cujus post fata nepotes 122/ Æternum meritis hoc retulere decus, Hic patris Alberti postquam fatalia solvit / Majorum in tumulis ossa sepulta jacent filius Henrici hic MAGNUS, quo doctior alter / Nec major facta123, Dux pietate fuit felices animæ vos nulla pericula vitæ / Attingunt, nec mors ulla timenda manet Vos pridem proprio mu(n)datas sanguine Christus / fontis ad ætherei concomitatur aquas
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Ulricus Princeps vestro de stemmate natus / Jam columen Patriæ et fida columna suæ Æmula virtutum regalis stirpis ELISA / Ulrici conjunx nomina clara gerens Majorum tumulis posuerunt, rite precantes, / fac Pater in Nato molliter ossa cubent. [19] 9. MIT GOTT DEM ALLMÄCHTIGEN Denen Durchlauchtigen und löblichen Fürsten von Mecklenburg / so viel ihrer in dieser Kirchen in ihrer uhralten Vorfahren / Begräbniß hingeleget seӱn, seinen lieben und geehrten Vorfahren / hat dieses zum Gedächtniß gesetzet und hinterlaßen der /durchlauchtigste Fürst Ulrich V(on) G(ottes) G(naden) H(ertzog) zu Mecklenburg / und deßen Gemahlin elisabeth aus Königl(ich) dennemarkischen Stamm gebürtig Hertzogin zu Mecklenburg im Jahr unserer Seligkeit 1583 Wohlan ihr Seelen auserkohrn / Vom Hause Mecklenburg gebohrn die ihr zum theil für euren feind / im Streit rühmlich gestorben seӱnd Wie Eu‘r Vorfahren auch gethan, / das diese Fahnen zeigen an zum theil aus Gottsfürchtigem Gemüht / gehabt die religion in Hut die edle Gerechtigkeit handhabt / und euer Land mit Fried begabt zum theil die freӱen Künst beliebt / und in der Weißheit euch geübt Gelahrte Leute mit großem Geld / in Euer Hohe Schul bestelt124 Zum theil eu‘r Schwerter habt entblößt / Von Raübern das Land erlöst Daher geblüht der Ackerbau / der Kauffmann gewandert ohne Scheu Zum theil die Heil(igen) örter besehn / Da Christi Wunderwerck geschehn Wolan ihr Helden an dieser Stat / Eur Leib sein stoltze Ruhe hat, hier liegs du Pribslaff der der erst / ein Stiffter dieser Kirchen wärst Schau wie viel der Nachkommen dein / um dich liegen mit ihren Gebein Viel Frauen seӱn alhie begrab’n / die‘s Land mit Erben gesegnet hab‘n alhie schläfft auch Heinrich der Löw / führt den Nahmen mit Recht ohne Scheu auch Albrecht der ein alter Fürst / der Schweden König gewesen ist. [21] Was soll ich von Magnus sagen / des Lob stirbt nicht zu ewigen tagen [Hie des Vaters Alberti Gebein / In der Voreltern grab begrabn seӱn hie Magni des Henrici Sohn / Der wegn der Gottesfurcht groß Lob hat schon]125 O ihr glückseligen Helden Seele / seyd jetzt außer allen Quäl‘n der euch mit seinem Blut erlös’t / der ists der Euch itzt selber tröst. Ulrich entsproß‘n von eurem Blut / des Vaterlands ein Vater gut elisa vom Königl(ichen) Stamm / Ulrichs Ehgemahl lobesan Han ihren Vorfahren zu Ehrn / Diß setzen laßen Hertzlich gern O Gott gib du Ihn‘n diß darzu / Daß sie hie haben sanffte Ruh. [20–21] 10. Hertzog Baltzer und erich und frau Ursulen126 Biddet Gott vor Hartig Baltzer und vor Hartich Erich, Hertog Magnus Söhne und vor Frauen Ursulen Hartich / Hinrichs Förstinnen dat en Gott gnädig sӱ.127 11. in tabula juxta Sepulturam Dominorum de Werle ad pilam affixa.128 DOMINORUM de WERLE Principes Magnifici de WERLE vulgariter dicti hic sund depositi. [20] 12. NICOLAI MARSCALCI129 Nicolao Marscalco thurio et literarum et lingua/rum meorum viro Doctissimo Jurisq(ue) prudentia in/signiter claro, tanquam bene merito HENRICUS / Megalopӱrgensium Dux gratiss(imus) Princeps monument/ta posuit. Hoc Nicolai habitant Marscalci funero saxo / HENRICUS Princeps hæc monumenta dedit HENRICUS Princeps quo non modo sanctior alter / et Megalopӱrgos Vandalicosq(ue) regit
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Omnia Consilӱs, cum multa pace gubernans / Doctorum ut semper sic Nicolae, tuis [22] Hinc merito fungis tanto sepelivit honore, / Virtute gratus inclitæ et officӱs. Moritur rostochӱ XII Jul(io) M.D.XXV. [21] 12. Nicolai MARSCHALLI (!) Die Gedächtniß hat Hertzog Heinricus der sehr danckbare / Fürst von Mecklenburg dem in allen Künsten und Sprachen / erfahrenen auch weit berühmten und wohlverdientem / Rechtsgelahrten Nicol(ao) Marscalco thurio setzen laßen. Alhie unter diesem Grabe Stein / wohnet Niclai Marschalls Leich allein dem Fürst Heinrich diß Gedächtnis geb’n / der from unter dem Mecklenburg und Wenden leb‘n der auch mit Rathen so hochgelehrt / in guten Fried lang und wol regiert [23] Sonderlich Nicolae ohn dein Raht / Nicht leichtlich was vorgenommen hat Drüm Er billig begrabn mit Ehrn / Die Sein’r Tug(en)t und dienst zu danck gehörn Stirbt zu Rostock d(en) 12 July im Jahr 1525. [22] 13. PETRI SAPIENTIS130 Herr131 Peter Wiese, Gott geve em Spiese biddet132 vor siene Seele verdöget Veele133 Ein Fründt am lieve dat heft he viefe134 bewieset He heft getüget dar ims an nüget darumb schall oeck bliefen136 und willet enschriefen137
tumba requiescit in ista coelestem quiq(ue) Legista Precibus brevibus genitorem Sibi perpetuum det honorem nostræ fuit ipse cohortis tempore mortis dulias tres perpetuales res dedit atq(ue)135 speciales is nostra sub prece vere David in solio residere.
[23] 13. Peter Wiesen138 Herr Peter Wiese, ligt hier in‘r hölten Kiste Gott geve em Spiese, im Himmel he was en Juriste biddet vor siene Seele mit Korten Bede den Herrn Verdöget veele dat hen wolt mag ehrn, En Fründ am Liefe der unsrn is he gewesen dat hefft he viefe in sienem dode bewesen he hefft getüget drey deinste (!) de nicht to gering daran uns nöget, oeck gaff he veel andre ding darum schal ock bliefen Herr Peter in unserm Bede un willn em schrieven [toh wohnen]139 by David im Him(m)el an‘r Stedt.
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[22] II. Effigies ad easque Annotationes 1. NIKOLOTI140 Nicolotus rex Obotritarum obit 1115 2. PRIBISLAI141 Pribilaus filius regis Nicoloti obӱt 1215 3. JOHANNIS142 Hertege Johann von Stargardia des olden Hertige / Albrecht broder obӱt 137. Biddet vor Ihn / orate pro eo 4. ALBERTI143 Anno M.CCC.LXXIX obӱt Illustris144 Princeps Dominus Albertus Dux Magnopolensis, comes Sueri/nensis, nec non Stargardiæ et rostock terrarum Dominus145 / Zu deßen rechter Seiten stehet / Miseremini mei, miseremini mei saltem vos / Amici mei146 5. ALBERTI147 Konig Albrecht von Schweden von Hertzog von Mecklenb(urg) / obiit 1394. 148
[24] 6. Alberti Conjugis richardis daran gesehen wird daß die / Fürstin gar geringe Kleider und Keine güldene Ketten / sondern allein ein Corallen-Schnur daran ein gülden Ring / gehanget getragen. Hie beӱ des Reichs Schweden Wa/pen, Ihr Hund unter ihren Füßen liegend genant / vӱrӱfeis. 7. ALBERTI149 Hertoge Albrecht des olden Konigs Albrecht Sohn von Schweden obӱt 1473. 8. DOMINE MARGARETHA[E]150 Olim Daniæ Norvegiæ et Sueciæ reginæ in cista lignea FRAWEN MARGARETHEN Vormahls der Reiche Dennemarck, Norwegen und Schweden Konigin in einer holtzern Kisten. 9. MAGNI151 Hertoge Magnus von Mecklenborg 10. HENRICI152 Hertzog Hinric von Mecklenborg 153
11. JOHANNIS Hertege Johann von Mecklenborg
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12. HENRICI PINGUIS154 Hinricus Pinguis obiit 1477. 13. JOHANNIS155 Hertoge Johannis von Mecklenb(urg) Hertog Hinrich / Pinguis Sone starb tho Colmbach in Franken/lande an der Peste, und liegt thom Hoffe begraben.156 15. ALBERTI157 Hertig158 Albrecht von Mecklenb(ur)g Hertig Hinrich / Pinguis des feisten Sone, Sӱn Gemahlin Frauw / Catharina gebohrne Gräfin tho Keppin v(nd) Lindow, / starb ohne Erven. 16. MAGNI159 Hertig Magnus von Mecklenb(ur)g obiit 1503 [25: Amtsdaten der Doberaner Äbte] [26] 17. BALTHASARIS160 Biddet Gott vor Hartig Baltzer. 18. ERICH161 Biddet Gott vor Hartig eric. 19. ALBERTI162 Albertus Hertzog zu Mecklenburg ist A(nn)o 1547 / d(en) 10 Jan(uar) gestorben und in (!) diesem Altar begraben / worden deßen Seele Gott gnädig seӱ. 20. ANNE Conjugis ALBERTI163 Anna gebohrne Marggräfin zu Brandenborg Hert/zogin zu Mecklenburg Hertzog Albrechten Gemah/lin starb zu Lüpze d(en) 19. Junӱ 1567 und liegt zu Schwe/rin im Dohm begraben. 21. JOHANNIS ALBERTI164 Von Gottes Gnaden Hans Albrecht der Ältere / H(erzog) Z(u) M(ecklenburg) obiit 1576. 22. ANNÆ SOPHIÆ / Conjugis Johannis Alberti165 Von G(ottes) G(naden) Anna Sophia gebohrne Marggrafin zu / Brandenburg in Preußen Hertzogin zu Me(ck)lenb(urg). 23. Udalrici166 Ulrich H(erzog) Z(u) M(ecklenburg) F(ürst) Z(u) W(enden) G(raf ) Z(u) S(chwerin) der Lande Rostock / und Stargard Herr, des Hochgemeldten Hertzog Albrechten / Sohne, itzt
regierender Landes Fürst, und ist beӱ seiner / fürstl(ichen) Gnaden Regierung diese Kirche wiederum gerenovi/ret worden A(nn)o 1578 ist in167 Gott selig entschlaffen A(nn)o / 1603.
4. DOMINI JACOBI176 Anno D(omi)ni 1361, 8 Id(us) Martӱ obӱt Do(m)i(n)us Jacob(us) Ab/bas in Dobberan, q(ui) huic eccl(esi)æ XXII annis laudabili/ter præfuit, cuj(us) a(n)i(m)a requiescat in pace Amen.
24. Annæ Conjugis Udalrici168 25. Domini CAROLI C(arl) H(erzog) Z(u) M(ecklenburg) 1613 G. M. T. A.
5. HERMANNI de OERTZEN177 Anno D(omi)ni M.CCC.LXXXVI obӱt Herman(n)us de / Oertzen Armiger.
26. Dominæ Sophiæ reginæ Daniæ169 Sophia von Gottes G(naden) zu Dannemarcken Norwegen der / Wenden und Gothen Konigin zu Mecklenburg Hertzogin / zu Schleßwig Holstein, Stormarck und der ditmarschen Grafin zu Oldenburg und delmenhorst.
6. Sigfridi de Oertzen178 Anno D(omi)ni 1449 X Kalend(is) Julӱ in terra sanc/ta obӱt Sigfrid(us) de Oertzen. Sepult(us) in monte Sӱon / apud Minorites.
170
27. Domini ADOLPHI FRIDERICI V(on) G(ottes) G(naden) Adolph friedrich Hertzog zu Mecklenburg / [27] Fürst zu Wenden Administrator des Stiffts, Graff zu Schwe/rin der Lande Rostock und Stargard Herr. 28. Dominæ Annæ Mariæ Domini Adolphi friderici Conjugis171 V(on) G(ottes) G(naden) Anna Maria gebohrne Gräfin zu Ostfriesland Hertzo/gin zu Mecklenburg und Hertzog Adolph friderichs erste Ge/mahlin ist in Gott seelig entschlaffen d(en) 5 febr(uarii) 1634 und in die/ser Kirchen begraben ætat(e) 32 Jahr 7. Monath 11 tage.
III. LAPIDUM SEPULCHRALIUM INSCRIPTIONES 1. HENRICI LEONIS172 Anno milleno, tricen[t]i vicenq(ue) noveno / Natus ut est ille, quem prædixere Sӱbillæ173 / Dicta die Magne, proh! Hin[ricus] defungit(ur) Agnæ Mi[czelbourg Princeps] 2. Petri SAPIENTIS174 Anno Domini M.CCC.XXXVIII, in die B(eati) robberti Abbatis obӱt Petrus Sapiens dictus, anima ejus per / piam misericordiam Dei requi[e]scat in pace Amen. 3. DOMINI MARTINI175 Anno D(omi)ni 1339 13 Kalendis Maӱ obӱit (!) D(omi)nus Mar/tinus Abbas in Dobbran, cujus a(n)i(m)a requiescat in pace. / Amen.
[28] 7. DOM(INI) HENRICI179 Anno D(omi)ni 1344180 in festo B(eatæ) Agathæ Virginis obӱt / com(m)endabilis Pater et Domin(us) Heinr(icus) Abbas hujus ec/clesiæ qui 18 annis rexit Abbatiam Dobbranens(em) / cuj(us) a(n)i(m)a req(ui)escat in pace. 8. Do(mi)ni Martini181 Anno D(omi)ni 1389 ipso die B(eati) Servacӱ episcopi obӱt com/mendabilis Pater et Do(mi)n(us) Martin(us) hujus eccl(esi)æ Abbas / qui quinq(ue) an(n)os devote rexit Abbaciam Dobbranens(em). 9. Do(mi)ni GOSCALCI182 Anno D(omi)ni 1391 D(omi)n(us) Goscalc(us) Abbas in Dobbran obӱt / in festo B(eati) Lucæ evang(elistæ) q(ui) rexit Abbaciam a(nn)is 23 quam / tunc sponte resignavit 8 a(nn)is Deo fideliter Serviens, Quæ/rite et orate Deum pro eo. 10. Henrici Dein183 Post M bis duo CCC semel 1 superadde184 / Martiris185 in festo Vicentӱ rem manifesto / Vir bon(us) Hinric(us) Dein Sincer(us) Amic(us) / Claustri decessit, sub petra qui req(ui)escit / fiat cum pace Amen 11. D(omi)ni Henrici Moltken186 Anno D(omi)ni 1415 in die nativitatis Mariæ obӱt D(omi)n(us) / Hinric(us) Moltke de teulendorp187 miles, hujus eccl(esi)æ / Amicus, orate pro eo Herr Moltken Conjugis188 Anno d(omi)ni 1432 obӱt devota D(omi)na Catharina uxor / D(omi)ni Henr(ici) Moltkens filia189 D(omi)ni Hinrici Kolve/nacken, orate pro ea
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12. D(omi)ni Joh(annis) Plat190 Anno D(omi)ni 1420, 6 Idus Maӱ obӱt Johan(n)es Plata / Abbas in Dobbran, orate Deum pro eo.191
21. D(omi)ni Hinr(icus) de Wesere206 Hic jacet D(omi)n(us) Hinr(icus) de Wesere, et domina / Ida uxor ejus Orate pro eis
13. Nicol(ai) Dunnepeper192 Anno D(omi)ni 1423 5 Idus Julӱ obӱt Nicolaus Dün(n)epeper, qui multum ornavit eccl(esi)am istam
[30] 22. D(omi)næ Helenæ207 Hic jacet devota D(omi)na Helena iuxta fratrem suum se/pulta: sicut in vita dilexerunt se: ita et in morte non / sunt separati quorum a(n)i(m)a requiescat in pace Amen.
[29] 14193. DOMINI HENRICI194 Anno D(omi)ni 1427 6 Calend(is) Decembr(is) obӱt Venerabi/lis D(omi)n(us) Herm(annus) Bockhold, Abbas, qui per ro…195 Annos rexit / Abbatiam Dobbranens(em). 196
15. D(omi)ni Matthiæ Axcower Anno D(omi)ni 1445 in vigilia B(eati) Johan(n)is Baptistæ / obӱt D(omi)n(us) Matthias Axcower miles, hujus eccl(esi)æ amicus / eodem a(nn)o die Michaelis obӱt devota domina Ghese uxor / ejus, filia domini Heydenrici de Bibow militis, ora/te pro eis 16. D(omi)ni Herm(anni) de Gnuertze197 Anno D(omi)ni 1460 obӱt honorabilis Vir D(omi)n(us) Herman/nus Gneiertz pleban(us) in Mechelburg, hujus eccl(esi)æ / Secretarius Orate pro eo 17. frewlein Annae198 Anno Domini 1460 obӱt (!)199 in profesto nativitatis200 glo/riosæ Virginis Mariæ obӱt illustrissima Virgo Anna / Altigeniti201 Principis Domini Henrici quondam du/cis Magnopolensis secunda filia, Cujus a(n)i(m)a requies/cat in pace 18. Do(mi)ni Joh(annis) Wilrensis (!)202 Anno D(omi)ni 1489 in profesto B(eati) Benedicti Abbat(is) / obӱt Venerabilis Pater et D(omi)n(us) Joh(annes) Wilrenis Abbas / in Dobbran, qui rexit annos xx Orate Deum pro eo 19. D(omi)ni francisci Meӱne203 Anno D(omi)ni 1499 in die B(eati) Johan(n)is ante portam / latinam204 obӱt venerabilis D(omi)n(us) franciscus Meӱne / Abbas in Dobbran, qui rexit 23 annis, orate Deum / pro eo. 20. D(omi)ni Henrici Mutzel205 Anno D(omi)ni 1504 ipsa [die] Nativitatis Maria[e] nocte re/verendus D(omi)n(us) Henricus Mutzel Abbas in Dobbran / obӱt cujus a(n)i(m)a cum Deo vivat Amen
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23. Uxoris de Werle208 Uxor Domini Nicolai de Werle 24. Herren Werner Axcower209 Hier lieget der olde H(err) Werner Axcower Vidder und syn Wiep / Herr diedrich Clawen Tochter hier liegt. H(err) Matthias Axcower / und sӱn Wiep des guden Herrn Vrederӱck Moltken dochter 25. Herren Johan von Axcower210 Hier liegt H(err) Johan von Axcower Ridder und sӱn Wiep El(isabeth) / Gottschalck Prenes tochter. Hier liegt Herr Werner Axcower und sӱn Wiep, des guden / Marquart von Stone dochter. 26. H(erren) Matthias van Ascower211 Hier liegt Matth(ias) van Axcower H(erren) Johannis Söne (!) von Ax/cower des Ridders, hier liegt sӱn Broder Claus Axcower / und sӱn Wiep Arndes dochter von Ghummern. 27. Herren M(agistri) Hermanni Krusen212 Anno 1599 d(en) 20 Septembr(is) ist in gott dem Herrn seelig entschlaf/fen dero seelen Gott Gnade. Ist allhie zu Dobbran Prediger / Gott(es) Wortes 35 Jahr gewesen, Seines Alters 63 Jahr, seiner / Herkunft aus der Graffschaft Oldenburg.
IV. Varia / Mancherleӱ gemengs 1. INSIGNIA DOBBRANENSIA / das ist / Dobbransche Wapen Cervus: ein Hirsch. / episcopi Baculus – Ein Bischopfs-Stab / Cignus: ein Schwaan [31] 2. ANNUS EXSTRUCTI[ONIS] DOBERANI213 Annus millenus Centenus Septuagenus / et primus colitur, cum Dobberan struitur214 Das Jahr in welchem Dobberan / erbauet ist.
Tausend ein hundert, und siebentzig Jahr / alß Dobbran gebawt die erste Jahr Zahl war215. 3. Hanezagel und Berewien216 Geven us ferben und Redenthien / Darvär schall en Gott gnedig seӱn. 4. Ad sellam Confessoriam Ulricus Dei G(ratia) Dux Megap(olensis) in templi reparatione(m) / impendit 5332 fl(orenos) 14 soli(dos), 6 num(mos). A(nn)o 1580 Carolus D(ei) G(ratia) / Dux Meg(apolensis) in templi restaurationem impendit 1732 / fl(orenos), 16 solid(os), Anno 1608. 5. Ad Structuram Organi / An der Orgell Gott dem Almächtigen zu lob und Ehren hat der durch(lauchtige) / hochgebohrne Fürst und Herr Carol(us) H(erzog) Z(u) M(ecklenburg) diese Orgell / im Jahre Christi 1600 neu erbauen laßen, worin(n)en J(hre) F(ürstlichen) Gn(aden) der / loblichen Vorfahren dieser Kirchen Stifftern und Erhaltern fustap/fen nachgekom(m)en, und dadurch Ihm ein Gedächtniß, und den / Nachkom(m)en ein FolgExempel Gottes Ehre zu befordern hin/terlaßen wollen obӱt ist gestorben 1610. Auch daselbsten Der gantze 150 P(salm) von anfang biß zu ende. Item Aus der Epist(el) an die eph(eser) cap(itel) 5, v(ers) 18, 19, 20 werdet voll geistes H(err) J(esus) C(hrist). 6. In altari, in quo D(omi)n(us) Albertus cum / Alberto olim Sueciæ (!) rege Sepultus, hæc leguntur217 e multis domibus, hæc una sola domus Aus vielen Häusern nur allein muß ditz / Meine enge Wohnung seӱn. [32] 7. Aræ quidam218 versus Orientem inscriptum219 effigiem Christi, qui transis, pronus adora / Sed non effigiem, sed quem designat, adora. [33] Wann du fürüber gehst diesem Bildniß Ehr anbeut / doch nicht das bild anbet, sondern den, den es bedeut [32] 8. Altaris cujusdam inscriptio220 Aræ dic isti nomen de corpore Christi / istic fundatur, veneratur, glorificatur / et colitur munus immensum trinus et Unus / hic semperq(ue) pia veneratur Virgo Maria
in hoc altari conspicitur Christus / in Cruce pendens221 et quasi dicens.222 1. Misericordia me Spinis coronavit 2. Charitas latus meum perforavit 3. Patientia me flagellavit 4. Benignitas clavum in dextram manum fixit 5. Mansuetudo clavum in sinistram manum 6. Pietas clavum in dextrum pedem 7. Humilitas clavum in sinistrum pedem 8. Bonitas me ligavit. Sed 9. Justitia in his locum non habet. [33] Gott grüß dich sprich zu jeder frist / weil hie der Leib des Herren Christ / gegründet und geehret ist / und wohnet diesen gaben bey / da Gott selber einig und dreӱ / mit der lieben Jungfrau Marey. 1. die Barmhertzigkeit hat mich mit dorn gecrönet 2. die Liebe hat meine Seite durchgebohret 3. die Gedult hat mich gegeißelt 4. die Gnade hat den Nagel in die rechte Hand gestecket 5. die Sanfftmuht den Nagel in die Lincke Hand 6. die Treue hat den Nagel in den rechten Fuß gestecket 7. die Demuht den Nagel in den lincken Fuß 8. die Güte hat mich gebunden; aber 9. die Gerechtigkeit hat hier keine stat: denn nicht um der / Wercke willen der Gerechtigkeit Tit(usbrief ) 3. v. 5 [32] 9. Versus ad Crucem Christi adscriptus223 Non istum Christum, sed Christum crede per istum [33] Glaube nicht denselbigen Christ / sondern der durch den bedeutet ist. [32] 10. ad Crucifixum224 ecce cruci affixum quo cuncta movente moventur / cujus cuncta bibunt fontibus ecce sitit: / Qui fabricat brutis avibusq(ue) sedilia pendens / nil sua quo cervix sustineatur habet. / et nudus largitor opum, speciosior astris / livet, et est justus victima pro Scelere: / Qui dat sceptra, gerit de Sentibus ecce Coronam / Latrones inter gloria summa probro est / Qui refrigerium est, ipse est Solaminis expers / et vitæ Dominus mortuus ipse jacet / Hæc dixisse velim sed tu memor esto, tot atq(ue) / tanta tui causa sustinuisse Deum. [33] Schau an den der am Creutze bleibet / Durch welches Bewegung alles lebet / Schau derselbe will vor durst versincken / Aus deßen Brunn alles muß trincken / Der alle Thier erhält und schützt / Hat nicht[s] da Er sein Haupt anstützt / Arm ist der Geber und der Wol mehr / Leuchtet wie die
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Sonne ist heßlch sehr / Er ist ohn Schuld und muß doch seӱn / Ein Opffer fur die Schulden dein / Von dem die Könige ihre Scepter nehmen / Läßt sich mit scharffen dorn beklemmen / Er ist die höchste Ehr der Welt / Wird doch unter die Mörder gestellt / Er ist das Labsahl jedoch ohne Trost / Das Leben dem Tod in den Rachen gestoßt / Gedenck o Mensch früh und spat / Was Gott fur dich gelitten hat. [34] 11. ad Sellam quandam hæc verba scripta Jesu nostra memoria, amor et desiderium: / Ave Maria gratia plena Dominus tecum / benedicta tu in mulieribus. [35] Halt stets im Gedächtniß Jesum Christ / Hab ihn lieb und verlang nach ihm zu jeder Frist / gegrüßet seystu O gnadenreiche Mareӱ / Der Herr mit dir du benedeit225 untern Weibern freӱ [34] 12. ad repositorium in quo Calices cum patinis recondi(tur)226 Corde, manu, labiis mundandos impero quosvis / Hæc mea qui tulerunt vasa, vel his biberint [35] Wer wird eßen Christi Leib und trincken sein Blut / der sol das Hertz, die Händ und Mund reinigen gut. [34] 13. in tabula quadam227 Larga Dei pietas veniam non dimidiabit / Aut nihil228 aut totum te lachrymante dabit.229 [35] Wer die Sünde bereuen wird hertzlich / dem vergibt sie Gott aus Gnaden gäntzlich / wer aber nur Heuchel-Thränen vergeußt / derselb gewiß gar nichts geneußt 230
[34] 14. Supra Mariæ caput Hæc est illa dulcis rosa / Pulcra nimis et formosa / Hæc est nostra Advocata / Apud Deum virgo grata / eam devote Salutate / Illam rogo inclinate Sub231 pedibus ejus232 ex Apoc. XII, 12. et multæ filiæ cognoverunt divitias / tu super gentes es submissa [35] Das ist die Rose hönig süß / Von Schönheit hat sie Uberfluß / Sie ist unser Versprecherin / Ein Jungfrau nach Gottes Hertz und Sinn / Dieselbe solt ihr andächtig grüß’n / Fur ihr Euch beugen biß zu den Füß’n. [34–35] 15. ad posteriorem partem sellarum Gedencke dat du den Sabat hilligest233 Dieses Gebots ist einer eingedenck und geht zur Kirchen, a[ber] vom Teuffel zurück gezogen gehet Er in den Krug, den Ihm / derselbe weiset, sagende: Kum mit in den Krœg, in’r Kerck ist Volck genœg.
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[34] 16. Insigne Cuculorum [Wappenzeichnung, in der Mittelachse oben ein Hahn, darunter zwei gekreuzte Hörner, darunter ein Ei] Ein Haan, zweӱ Hörner / und ein Eӱ / das sind der Hanreӱ / Schilde drey. [35] 17. Supra Sacelli Januam234 + Capella de Bülow + An der Thüre ist gemahlet ein Kerl mit einer Keule / mit dieser Schrifft Sta up Hoer / van der Doer [34] 18. Altaris trinitatis inscripto235 Benedicta sit S(ancta) trinitas atq(ue) indivisa Unitas An diesem Altar wird gesehen ein Bild eines Mönchen, der / mit gebeugeten Knien wie auch mit aufgehabenen Händen / zu dem Gemählde der H(eiligen) Dreyfaltigkeit also betet: O vera summa, sempiterna trinitas miserere mei Peccatoris O du wahre, höchste, ewige Dreyfaltigkeit / erbarm dich über mich armen Sünder zu jederzeit. [35] 19. ad effigiem Diaboli et Monachi236 Diab(olus) Quid facis hic frater vade237 mecum238? / Monach(us) Non in me reperies male239 quid, tu mala240 bestia. Diab(olus) Was machstu Bruder hier? Ey gehe doch mit mir. / Monach(us) Hey du arges Thier findst nichts böß an mir. [36] 20. in clypeo Matthiæ Axcower Help Gott uht Noht Vergunst is groht. 21. in Organo ad picturam Divitis intolerabiles (!) / infernali flamma cruciatus patientis Es kömt zur Kirchen mancher zwar / Bleibt doch ein Mann wie vorhin war / Hüte dich, nur nicht so werde gleich / Trachte ja bey Zeit nach Gottes Reich. 22. ad Altare in Pariete241 Corpus ave Domini, Salus et reparatio Mundi, / te verecundo animo veneror, Jesu te quoq(ue) adoro / O panis vitæ da mihi gaudia vitæ / Morbos averte, pestes preme, crimina dele / Per te mundetur mens, sensus purificetur / Da pacem Christe propter tua vulnera quinque / Vulnera sancta Deus tua sint mea nunc Medicina / Cor mihi Christe bone contritum des in agone / ut sit vera fides, confessio pura, mihi des / Pasce miq(ue) Jesu me sacri corporis esu (!) / postea de poena me duc ad gaudia plena. Amen.
Auf teutsch Du Leib des Herrn gegrüßet seӱ, dadurch der Welt Heil wiederbracht freӱ / dich Jesu ehr ich mit schamen und bet auch an deinen Nahmen / O du Lebens-Brodt gib mir doch des Lebens Grund im Himmel genog / Kranckheit wend ab, vertreib die Pest, die Sünden vergib und tilge fest / durch dich das Hertz werde gantz rein auch all Sinn gereiniget fein / gib guten Frieden ô Herr Christ wegen deiner 5 Wunden frisch / O Gott die Heil-Wunden dein, seyn zu jederzeit die Artzneӱ mein / Ein zerknirßtes Hertz Christe gut gib mir gnädig in Todes Noht / daß der wahre Glaub recht sey und das Bekentniß rein mir verleih / auch mit deines Heil(igen) Leibes Speise mein lieber Jesu mich weӱde / Hernach mich führ vom Ubel all zur volkom(m)‘n freud ins Himmels Saal. Amen. 23. in Altari tot mortibus dignus es / quot homines malo / exemplo corruptisti So viel Todes du würdig bist / so viel Menschen zu jeder Frist / du mit bös’m exempel verderbet gewiß. 24. in Altari ad effigiem Diaboli et Martini242 Diabolus: Cur in me dubitas / Christus ego sum?243 Martinus: Dominus Jesus Christus non / se purpura venturum esse prædixit244 in eodem Werden die Bilder als 1) eines Menschen, 2. Löwen, 3. Ochsen und 4. des Adlers denen 4 evangelisten beygeleget.245 [37] auch an selbigen Daran wird ein solch Gemähld gefunden, darin ein armer Mann / gemahlet, wie der vor des reichen Mannes Thür köm(m)t und um eine / Almosen bittet, der Herr Christus ist neben ihm gemahlet und ge/het mit ihm von einer Thür zur andern, nicht anders als wäre / Er selbst der arme Mann, der ums Brodt bettelte. Desgleichen da ein Krancker Mann im Bette lieget, lieget Christus / bey ihm in seiner Schwachheit und was dem Krancken Gutes ge/schicht, siehet Christus und mercket es etc. Noch wird daselbst ein Gemähld gefunden darin gemahlet ist / 1) Ein Hungriger mit dem Christus, der mit ihm gehet, die Almosen / bekömt und spricht: esurivi et dedistis mihi manducare 2) Ein durstiger etc. aus Matth(äus) V.
25. in Monumento S. Beren246 Wird nur noch allein das schöne gemachte Bild, ohn Zweiffel aus Gottes / sonderlicher Vorsehung, gantz gesehen, welches mit gefaltenen aufgeha/benen Händen und Thränen betet, zur Anzeigung daß das Ge/bet und die Thränen der Christgläubigen Wehr und Waffen seӱn, / da doch die andern herrlich verfertigte[n] Bilder alle in den / trübseligen Zeiten durch die Soldaten gar zernichtet worden. ibidem Vixi ut morerer247, mortuus sum ut viverem Ich habe gelebet daß ich stürbe / Ich bin gestorben, daß ich nicht verdürbe Patriam aversatur cui peregrinatio dulcis est248 Der, das Vaterland verachtet / dem das Reisen lieb gemachet Dies mortis vitæ gloriosissimæ natalis est249 Des zeitlichen Lebens Ausgang / ist, des ewigen Lebens Anfang. Orta cadunt Was aufgeht bald wider abfällt Virtus mori nescia.250 Die Tugend stehet und nicht vergehet Caro mea requiescit in spe Auf Hoffnung ruht mein Fleisch daßelb ich gewiß weiß Ante obitum nemo felix Fürm Tode niemand glückselig ist das mercke zu jeder frist. Vive memor lethi, fugit hora Hingeht die Zeit her kömt der Tod / das bedenck der Mensch was Er thut. Ad idem a truculentis militibus devastatum A(nno) [16]37, [16]38. Sie zerschlugen mich und ich thät Ihn’n doch nicht / Gott wolle den’n viel bescher’n die die Kunst helffen vermehrn / Dieselben aber betrüben, so Redlichkeit nicht lieben. [38] 26. Hinc inde in imaginibus Christi crucifixi latus / ejus dextrum apparet apertum Die Kirchen-Lehrer halten dafür es sey die rechte Seite / gewesen, das geschicht zu Ehren dem Schächer zur rechten. 27. in tabella quadam Ein Gemählde welches vor Augen stellet nicht allein alle Apostel, / daß Sie beӱm Bette (darauff die Maria kranck darnieder liegend / gesehen wird, üm deren Haupt wie auch über eines jeglichen Apostels / mit güldenen Buchstaben geschrieben stehet. S. Maria ora Deum pro nobis) / stehen mit Lichtern in ihren Händen, sondern auch viele Heil(ige) En-
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gel daß / sie der verstorbenen Marien Seele (da Sie vom Leibe abscheidet / und an des H(eiligen) Geistes Füßen in Tauben Gestalt gleichsam gebunden) mit musicalischen Instrumenten im Himmel führen, welche alda / vom Sohne Gottes aufm Thron sitzend mit diesen Worten empfan/gen wird: Veni dilectissima et coronaberis. 28. in alio Altari251 Daran wird gesehen unter andern Biblischen Historien des Hiobs / Weib, da es nebst dem Teufel vor ihren Mann, der voller Schwären / sitzet, stehet, vielleicht darum weil daßelbe des Teufels Gehülf/fin und nicht des Hiobs Trösterin gewesen. 29. unter der deckn J(hrer) F(ürstlichen) G(naden) Begräbnis252 Wird ein Engel künstlich gemahlet, fliegend einen Scepter in der / Hand, und eine Crone auf dem Haupt habend gesehen mit dieser / Schrifft aus Apoc. 2 v(ers) 10: Sey getreu biß – geben. auch daselbst Durch Übersteigen und Unverstand wird diese Arbeit gemacht zů Schand / Wer nicht zur rechten Thür geht ein mag wol ein grober Esel seӱn. 30. am Altar unterm Crucifix so ein gecrönt / Panier aufricht mit dieser Überschrifft / Victoria / Sieh Waßer und Blut ist aus Christi Seit / gefloßen als sie Ihm ward geöffnet weit / das wäschet Euch Christen ab zur Seligkeit. 31. am Predigt-Stuhl 1. Crucifixio Christi / cum hac subscript(ione): factus est nobis maledictum. Gal. 3 2. reg(inae) Daniæ insignia / cum hac Subscr(iptione): elisabeth G.A.K.S.z.D. Hertzogin zu M(ecklenburg). 3. Insginia Ducum Megap(olensium) / cum hac Subscriptione: V(on) Gottes) G(naden) Ulrich H(erzog) z(u) M(ecklenburg) / V(on) G(ottes) G(naden) Johannes H(erzog) z(u) M(ecklenburg) / Sigismund Augustus H(erzog) z(u) M(ecklenburg). [39] 32. ad Picturam extremi Judicii ex Luca XXI, 34–36, Matth. XXIV, 29–31 Hinrich Möller / getorben 1571 / dem Gott genädig sӱ. 33. Altaris cujusdam Inscriptio ex Joh. 1,14 An diesem Altar wird gesehen Christi blutiges Angesicht das sich / in das Tüchlein welches ihm die Veronica in seiner
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Ausführung / übers Angesicht gebreitet, von sich selbst hinein gedruckt, und / bußfertig abgebildet haben soll. 34. ad Aram funeris Principalis Stanneam Princeps pietissima / ANNA MARIA / Patre ennone, Comite frisiæ orientalis Matre Anna, / Adolphi Ducis Holsatiæ filia in vigiliis S(ancti) Joh(annis) Baptistæ / Anni 1622 Adolpho friderico Principi Megapol(ensis), in uxorem / tradita Octo Liberorum: / 1. Christiani, 2 Sophiæ Agnetæ, 3. Caroli, 4. Annæ Mariæ, 5. Joh(annis) Georgii, 6. Hedewig, 7. Gustavi Adolphi, 8. Julianæ Quarum duæ filiæ Hedewig et Juliana / illam in regnum Coelorum præcesserunt. Mater facta / 5. febr(uarii) Anno 1634 in vera Die agnitione et sancta invocatione / denata. 35. in Altari facies Salvatoris secundum Nicephori descriptionem / depicta et suspensa à Caculis immitibus (Troß-Buben) / Anno 1660 ablata est. 36. in fenestra supra magnam Aram Anthyrius filius Alimeri in regno quartus; Ubertina filia / regis Bethicæ Uxor radagasi regis; Amalasuntha filia re/gis Saxonum Uxor Wisimari; Wisimarus Alberici filius / in regno duodecimus. 37. in Ædicula Buloviorum253 Aspera vox, ite est, sed vox benedicta venite / Ite, malis vox est, apta venite bonis / Quantus erit luctus, cum Judex dixerit ite / tantus erit fructus cum dixerit ipse venite. Geht die Stimm ist hart und schwer / aber gesegnet die: Kommet her / Geht hinweg den Bösen geböhrt / Kommet her! Den frommen gehört / Wie groß als denn wird seyn der Schmertz / wenn der Richter wird sagen. Geht ohn Schertz / So groß wird dagegen seӱn die Frucht / Wenn Er selbst wird sagen kom(m)t mit Nutz. [40] 38. ad partem posteriorem Sellarum Sum Lux et nemo cupit cognoscere lucem / Sum via; nostra tamen sequitur vestigia nemo / Sum pius et placidus nemo audet fidere nobis / Sum rerum Cœliq(ue) potens, me nemo veretur. Ich bin das Licht der Welt und niemand wil mich als das Licht des Lebens erkennen / Ich bin der Weg und niemand wil auf mir254 wandeln / Ich bin from und gütig und niemand will mir vertrauen / Ich bin aller ding ein Almächtiger Herr und niemand will mich fürchten und ehren.
39. ad Campanam intra turris spatium / pendentem reperiuntur hæc verba255 Anno Domini MCCCI fusa est hæc campana / Calend(is) Decembr(is) + sub D(omi)n(o) Johanne Abbate Melvingio + 40. an der andern Glocken im Thurm seyn diese / Worte geschrieben gewesen en ego Campana, denuncio vana, Laudo Deum vere / plebem voco, congrego Clerum. Sieh ich die Glock läute niemahls vergeblich / Lobe Gott, ruffe das volck, versamle die Geistlichen. Diese Golcke ist im Jahr 1638 von dem Schwedischen Krieges-/Volck bößlich zerbrochen, und herunter geworffen auch zugleich / mit dem Kupffer und Bley damit die Kirche und derselben / Abseiten bedecket gewesen, das zum wenigsten über 16000 R(eichs)t(a(l(er) / geschätzet gewesen, hinweggenommen. 41. An der Stunden-Glocke diese Anno D(omi)ni MCCCXC in vigiliis Simon[is] et Judæ / Benedictus qui venit in nomine Domini Gelobet sey der da kömt im Nahmen des Herrn. [41] 1. in Domicilio passim256 Hypocausto Consiliariorum ad Justitiæ picturam / te nunquam Affectus moveant ratione carentes / Sic erit et juri justitiæq(ue) locus / Ancipitem timeat gladium, lancemq(ue) bilinguem / Qui temerat sancta foedera justitiæ Die Affecten solt’n nicht bewegen laßen / so wird Recht und Gerechtigkeit han sein Maßen / der fürchte sich für das zwey schneidige Schwerdt / Wer die heil(ige) Gerechtigkeit versehrt. ibidem Litium magni sunt sumtus / Sed dubii earum eventus / quare satius est ferre modica / quam subire litium discrimina. Aufs Rechten zwar sehr viel wird gewandt / da doch der Ausgang niemand bekant / drum beßer wenig nehmen und tragen / als mit Gefahr streiten und klagen 2. In Grammatophyalcio in pariete ecce / Einer achts, der ander verachts, [der257] dritte verlachts, der Vierte / wieder achts, was machts. Quot capita tot258 sententiæ / cunctis nemo placere potest. So viel Köpffe so viel Meӱnungen / Es kanns keiner machen so daß es jedermann gefallen thu.
ibidem Bey zwey gemahlten Bauren die mit einander reden. / Like sehr ja meynstu dat + Summe gott gy seggen wat, Auch daselbst beym gemahlten armen Mann An diesem bild schau jederman was für ein rechter armer Mann / Ich Bartholomæus Pigow bin, sehr hastig und von kurtzen Sinn / ist mein Gebrech, derwegen auch ich wenig hab nach alten brauch / denn der so alzeit unnütz ist gelitten wird zů keiner Frist / ihm auch daßelb wol abgenommen so Er mit gutem Recht bekommen / welches ich auch zum theil erfahren wie mich gleich Gott hat bey den Haaren / herzugezogen daß ich muß seӱn feur-Böter der Hochfürstl(ichen) Cantzleӱn / in Mecklenburg so ich nicht gedacht zuvor, sondern dahin getracht / wie ich mogt werden immer reich und schlaffen dazu selten weich / daß mir damahls einem alten Tropff gelungen alles nach meinem Kopff / welchen ich ferner wohl werde behalten laß endlich Got auch damit walten / wenn nur allein mit mir Alten die Cantzley verwandten friedlich seӱn wolten. [42] 3. im reventher etliche gute Tisch-reguln In Furchten Gottes soltu hin zu Tische gehn / und laßen den Unflaht daraußen stehn / Ehe du aber anfangest zu eßen / Soltu das Benedicite nicht vergeßen / darnach iß und trinck redlicher maßen / dancke Gott und geh deiner Straßen / warte worauff du bescheiden bist / liege nicht lang nach der Mahlzeit auf den Tisch / Sauff dich auch nicht voll wie ein Schwein / man setzt dich sonst ins Land zu Holsten ein /259 Da gibt man dir Waßer und Brodt / O wie werden solche Gesellen darnach so gut. Daselbst / im Fenster unter der Geißelung Christi wo werstu mie so suer / vlӱstu mi, id werk die to dür. 4. An des Königes Gemach O rex Gloriæ Christe, veni cum pace, conserva nos in pace.260 5. an I(hrer) F(ürstlichen) G(naden) Gemach MDXXVIII. trewe ist Wiltpret. 6. im Gemach bem reventher Verbum Domini manet in æternum 7. im Schilde aufm Vor-Gemach der Hertzogin 1. Hertich Albrecht, 2. Hertich erich / 3. Hertich Hinrick, 4. Froken Anna / 5. Frowe Margaretha, 6. Hertich Baltheser
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8. in I(hrer) F(ürstlichen) G(naden) Gemach 1576 / Mein Hoffnung zu Gott allein / trew ist Wilt Bradt.
auch zu Schweden Königin gewesen / Hat man in eine Höltzerne Kist wollen legen.
Finis.
[22] 8. Heinrici268 Daß Henr[i]ci genandt heist / aus dieser Welt ist gereist / 1470 und sieben weist.
VARIANTEN UND ERGÄNZUNGEN DER ABTEILUNGEN II–V NACH DER HS. ROSTOCK, UNIV.BIBL. KL-108.28 MIT VARIANTEN UND ERGÄNZUNGEN AUS DER HS. ROSTOCK, UB, MECKL. O 6 [20] II. Effigies et ad eas Annotata Die Gemählde und deren Anmerkungen 1. Nicoloti Nicolotus der Oboetriten König zwar / starb da man schrieb das 1159 Jahr. [21] 2. Pribislai Pribislaus Königs Nicoloti Sohn war / Der gestorben im 1179 Jahr. 3. Johannis261 Tausend dreӱ hündert 70 zehlet man / Da gestorben vor Stargard Hertzog Johan / Vor Ihm wolle doch beten jederman. 4. Alberti262 Im Jahr tausend dreӱhundert drey / Auch siebentzig und 9 setz dabey / Fürst Albrecht gestorben ist / Der durchlauchtig jeder frist Zu deßen rechten Seiten stehet: Miseremini mei, miserimini mei vos saltem ô Amici mei O ihr guten freund allein, erbarmet erbarmet euch doch mein [Henrici Pingvis. / obiit 1477 seine gemahlin hieß Dorothea / Auß dem Churhause Brandenburg]263 5. König Albrechts264 Man schrib tausend 390 und vier / Da König Albrecht todt gefahren von hier 6. Albrecht[s] Sohn265 Tausend 470 und drey / Kam König Albrecht ans Todes Reӱ266 7. Fr[au] Margrethen [auf einen deckel267] Frau Margrethen die Ehe zu Dennemark und Norwegen /
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9. Magni269 Ein tausend 500 und 3 man geschrieben, / Wie Hertzog Magnus von der Welt geschieden. 10. Alberti270 Ein tausend 500 sechs und siebenzig / Ist Hans Alberti der Eltere entschlaffen seelig. Noch sind folgende Gemählde zu sehn 1. Anna Sophia Hertzog Ulrichs tocher, so an den König von Dänem(ark) verheyrathet worden, welches Gemählde sehr schön271 2. Carl Hertzog zu Meckelnb(urg). obiit 1613272 3. Anna Hertzogs Ulrichs Gemahlin273 4. Ulrich Hertzog zu Mecklenb(urg).274 5. Albertus der Schöne obiit 1547.275 6. Anna deßen Gemahlin obiit 1567.276 7. Hans Albrecht277 8. Anna Sophia deßen Gemahlin von Preußen278 9. Adolph friederich obiit 1658. 10. Anna Maria deßen Gemahlin279. 11. Christian Ludewig H(erzog) z(u) M(ecklenburg).280 Noch sind in Lebens-Größe ausgehauen zu sehen nachfolgende281: 1. Hertzog Adolph friederich [des jetztregie/renden He(rrn) Hertzogs Caroli Leopoldi / He(rrn) Großvater in Lebenßgroße und / recht nach den Leben282] 2. Anna Maria deßen Gemahlin [Die Hertzogin Anna Maria, alß die / Frau Großmamma Hochseel(igen) Andenckenß / sehr schön und sauber außgearbeitet283] 3. Hertzog Magnus284. 4. Hertzog Albertus285. 5. Deßen Gemahlin286. 6. Hertzog Balthasar287. [23] 7. Hertzog Erich [8. Die Konigin Margareta auß Dennem(ark)288] 8. Der Oberhoff Marschall Behr zu Pferde289.
III. Inscriptiones Cipporum290 1. He(rrn) Martins291 Im Jahr tausend, 300 und neün, / Am 18[ten] tage des Meyen fein, / Ist H(err) Martins Abbt in Dobberan verschieden / Sein Seel ruht immerdar in Frieden.
Johan Willhelm Abt in Dobberan / Der 22 Jahr sol regieret han / Biddet doch Gott fur ihm ein jederman(n) 10. He(rrn) Heinrici308 Abbas Henrici otii luxusq(ue) inimicus / Pausat in hac tumba mens ut speciosa columba / Vivit cum Christo qvem templo oravit in isto.
2. He(rrn) Hinrichs292 Tausend, dreyhundert 40 und vier / An seel(iger) Jungfer Agnetae feir293 / Ist Abt Heinrich dahin gefahren / Welcher regieret bey 18 Jahren / Deßen Seele in Friede und / In alle Ewigckeit woll ruhen.
11. He(rrn) Magni In dieser Welt hab ich mein Lust / Allein mit Kalten Schalen gebüst / Hilff mir He(rr) in dein Freuden Saal / Und gib mir die ewige Kalte Schaal309.
3. He(rrn) von Oertzen294 Im Jahr tausen, hundert und drey / Auch 18 setz mit 6 dabey / Ist Herman von Orrtzen entschlaffen, / Welcher295 getragen hat die Waffen.
[25] 12. He(rrn) Johannis Wen(n) Fröm(m)igkeit, Witz Geld und Gold / Auch groß Geschlecht einen helffen solt / Wieder den tod, so wär für wahr / Der gute310 Johan(n) die Stund noch dar.
4. H(errn) Jacobi296 Ein tausend 360 und ein / Am 8[ten] des Martis ist eingeschlaffen fein, / He(rr) Jacob Abt in Dobberan / Welcher der Kirchen wol fur gestahn / Gantzer 20 Jahr und297 zwey / Darum sein Seel ruh ubelß freӱ.
13. Frau Potten311 Hier ruhet Aalke Waalke312 Pott / Bewahr mir leve Heere Gott /Als ick die wul bewahren / Wan(n) du wärst Aalke Waalke Pott / Un ick wer Leve Herre Gott.
5. He(rrn) Dein298 Im 1414ten Jahr / Am fest Vincentz299 ichs ofenbahr / [24] Ist der rechte gute Mann Hinrich Dein / Dieses Closters Freund gar fein / Von Hinnen sanfft abgeschieden / Und ruhet unterm Stein mit Frieden6. He(rrn) Mol[t]ken300 Im Jahr des He(rrn) 1400301 fünfzehen, / Am tage Marien Gebuhrt ist geschehen / Daß der Ritter Molck von hinnen geritten / O! thut doch ja für ihn wol302 Bitten 7. He(rrn) Platen303 1420 am 10t(en)304 Maien / Ist He(rr) Plato305 Kommen an Reyen. / Für welchen ihr ja zu Gott wolt flehn / Wen(n) ihr bey diesen Stein thut stehn. 8. Hinrich Mo[l]tkens Frau306 Tausend 430 und zwey / Starb Cathrin Hinrich Molkens Frau freӱ, / Die war Hinrich Kohlmacher[s] tochter, Ey / für dieselbe ja gebeten sey. 9. He(rrn) Wilrenis307 Im 1489ten Jahr / Da des seel(igen) Benedicti tag war / Starb
14. He(rrn) Bargen Mein König und mein Gott / Ist Christus in der Noth / Hier Liegt Clas Barg begraben ohn leyd / in vollkom(m)ner Gesundheit / Und hat sein Leben zu gebracht bey guten tagen, / mit Sorg und Plagen / Ist von allen seinen Freunden gezogen, / Und vor alle seine Freunde313 geflogen. / Hatt all seine Freund bedacht, / Und all sein Feind verlacht / Ist 1481314 ins Jam(m)erthal gesprungen. Ist 1509315 inß Freudenthal gesungen. / Ist gewesen von 28 Jahren / Ehe er ist in den him(m)el gefahren / Daß dis alles so gewesen / Könt ihr hie mit Freuden lesen.316
[26] IV. Miscellanea317 Allerhand unterschiedene Sachen. 1. Dobberanisch Wapen bey dem Hirschkopf318 Ein Hirsch Bischofs-Stab und Schwan / Das Closter-Amt Dobberan / Für sein eigen Wapen soll han. 2. Auf eine Tafel319 Ann(us) mille centenus septuagenus / et primus colitur, cum Dobberan struitur.
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Daß 1171[te] Jahr / Als die Kirch320 gebauet, die rechte JahrZahl. war. 3. Auf einer Tafel321. Hanezagel um Berewien / Geb uß farben un redenthien / Davor sckal ein Gott gnädig sein. 4. Auf einer Tafel322 Larga Dei pietas veniam non dimidiabit / Aut nihil aut totum te lacrymante dabit [Nicht halber Himmel ist, noch halbe Höll Zu Hoffen / Vielmehr von Beӱden gleich das gantze stehet offen / Wie nun darnach gelebt, so wird man es Beckom(m)en / die Bösen gantz die Höll, den Himmel gantz die From(m)en.]323 5. Uberschrifft eines Altars324 Gott grüß dich sprich zu jeder Frist / Weiln hie der Leib des Herren Christ / Gegründet und geehret ist / Und325 wohnet diesen Gaben bey / Da Gott selber einig und drey / Mit der lieben Jungfrau Marey. 6. An einem Stuhl Halt stets326 im Gedächtniß Jesum Christ / Hab ihn lieb und verlang nach ihm Zu jeder Frist / Gegrüßet Seystu ô gnädige327 Mareӱ / Der Herr mit dir die Benedeyt unter den Weibern frey. 7. An ein Schapff328 Corde manu labiis mundando impero qvosvis / Hac mea qvi tulerint vasa vel hiis biberint329 Wer wird eßen Christi Leib und trincken sein Blut / Der soll das Hertz, die Hand und Mund reinigen gut. [27] 7. Uber das Mareyen Bild330 Dies ist die Rose Honig süß / Von Schöhnheit hat sie uberflüß / Sie ist unsere Vorsprecherin / Ein Jungfrau nach Gottes Hertz und Sinn / Dieselb solt ihr andächtig grüßen / Für ihr euch beügen bis zu den Füßen. 8. Hinter einem Stuhl331 Gedenck dat den Sabbath heilligstu / Sagt Gotte selber und verheißet Ruh / Nach diesem Gebot einer Zur Kirchen geht, / der Teüffel aber ihm ein Krug weist der für ihn steht / Den(n) Er ihm hatte böslich332 eingegeben / diese nachfolgende Gedancken gar eben: / Kum mit in den Krog / In de Karck is333 Volck gnog.
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9. Beym Bild des Teuffels und Mönchen334 Da der Teuffel zu dem Mönchen spricht, / Was hastu hier bruder geh mit mir / Dem Teuffel aber der Mönch darauf bericht / Du böses thier du wirst nichts finden an mir.335 10. Auf Matthiae Axcower Schild336 Help gott ut noth, / Vorgunst is grot. 11. Am Altar Soviel Todes du würdig bist / Soviel Menschen Zu jeder Frist / Du Mit bösen exempeln verdorben / Die Höll hastu davor erworben.337 12. Am Altar beym Bild des Teüffels und Martini338 Da der Teuffel zu Martino spricht / Waß zweifelstu an339 mir / Christ bin ich sag ich dir. / [28] Martin(us) aber den Teuffel bericht / Der Herr Christ(us) sich nicht / Mit Purpur zu Kom(m)en verspricht. 13. An selbigem Altar340 Wird gesehen wie die 4 evangelisten das Wort Gottes / auf eine Mühle gießen, die 12 Aposteln die Mühle umtreiben / und es mahlen, die Bischöfe es aber in Kelche wieder auffangen / Wobey die Uberschrifft:341 Ein gut Werck unsre[r] Erneurung / Ist des Worts Gottes Menschwerdung / Wär Gottes Wort nicht Mensch geworden / so wären wir allzumahl verdorben.342 14. An der Glocken im Thurn343 Im Jahr des Herrn 1301 / den 1 Decemb[er] ist die Glocke gegoßen hierin / Unter dem Abt He(rrn) Johann Willfienck fein.344 14345. [Im Fenster346] Insignia Cucullorum. Das Hahnrey-Wapen. [folgt flüchtige Wappenzeichnung] Ein Hahn, 2 Hörner und ein Ey / Ist der Hahnreyer Wapen frey. [29] 15. Auf der Orgel beym bild des reichen Mannes Es Komt zur Kirchen mancher Zwar / Bleibt doch ein Narr wie Er vorhin war / Hüte dich werd dem nicht gleich347 / Tracht ja bey Zeit nach Gottes Reich 16. An der Orgel Gott dem Allmächtigen Zu Lob und Ehr / Hat der durchlauchtigste from(m)e Fürst und Herr / Carl diese Orgel neu erbauen laßen / Und den Nachkom(m)en solch exempel
hinterlaßen / Auch Zu befordern Gottes Ehr im(m)erdar. / Ist geschehen im 1600 Jahr. 17. Ingleichen auch da348 Was thut doch itzt349 die sichre Welt / Sie Lebt im Sauß wies ihr gefällt / Sie ayfet sehr sie jucket viel / Ihr thorheit hat fast nim(m)er Ziel. 18. Im Fenster unter der Geislung Christi Wo warstu mie so sur Brüstu mie ick ward die to dur. 19. In monumento Illustri Durch Ubersteygen und Unverstand / Wird diese Arbeit gemacht Zu Schand / Wer nicht geht Zur thür hinein / Mag woll ein grober Esel seyn. 20. An der Wand350 ecce siehe einer achtß / der ander verachts / der dritte verlachts, der vierte wieder achts351, was machts Qvot Capita tot sensus / So viel Köpffe stehen, soviel Meynung vergehen352 Cunctis nemo placere potest / Es Kans Keiner machen so, daß es jederman(n) gefallen thu. [30] 21. Unter353 das Crucifex (!) am großen354 Altar355 [folgt gezeichnete Wappenkartusche mir Kreuz, Herz, Dornenkrone, Nägeln, fünf Wunden. Inschrift und Umschrift: Arma Christi] Siehe Waßer und blut ist auß Christi Seit / Gefloßen alß Sie ihm ward geöffnet weit / Waschet (!) Euch Christen aber Zur Seligkeit. 22. Noch wir dann einen Altar gesehen Christi blutiges Angesicht356 / das sich in das Tüchlein welches die Veronica dem He(rrn) Christo / in seinen Leiden übers Angesicht gebreitet, von sich selbst hinein ge-/drücket und vollständig abgedrucket357 hat. 23. Uberm Heil(igen) Dreyfaltigkeits-Altar358 Setz Heil(ige) Dreyfaltigckeit / Mein letztes Seuffzen nicht bey seit / Wen(n) ich aus diesen Nothstall scheid. 24. [Uber ein Grabgedächtniß]359 Wer alhie in einem stattlichen Hauße gewohnet hat, muß Zuletzt sich in einem so engen Häußlein behelffen, da Er mit / der Nasen am Giebel anstößet.
25. [An einer Wand]360 Der Tod hat Keinen Calender weder neuen noch alten, Ursache ist / diese, im Zunehmen, nehmen wir ab u(nd) sterben gemählig alle tage. 26. Oben der Capell Thür361 Sta up hor van de dahr. [31] 27. An He(rre)n Behren Grab-Gedächtnis362 1. Ich habe gelebet daß ich stürbe / Ich Bin gestorben daß ich nicht verdürbe, 2. Der das Vaterland verachtet, / Dem daß Reisen Lieb gemachet 3. Des Zeitlichen Lebens Ausgang / Ist des ewigen Leben Anfang 4. Was aufgehet bald / Bald wieder abfalt 5. Die Tugend steht / Und nicht vergeht 6. Auf Hoffnung ruht mein Fleisch / Daßelbe ich gewiß weiß. 7. Vorm Tode niemand glücklich ist / Daß merke du Zu jeder Frist 8. Hingeht die Zeit, herkomt der Tod / Daß bedenk du Mensch wad du thust.363 28. An der Wand [in einer Capelle]364 Wieck düfel wieck, wieck wiet von mie, / Ick schehr mie nich ein Haar üm die / Ick bin en Mecklborgs Eddelman(n) / Wat geyt die Düfel mien supent an / Ick sup mit mien Herrn Jesum Christ / Wen(n) Du Düfel ewig dörsten must / Und drinck mit Em en sät Kolschall / Wen(n) du sietzt in der Höllen Qvaal / Drüm rad ick wieck, loop von un gah / Efft bie den Düfel ick to[d] schlah. [32] 29. Auf einer Taffel365 Biddet Gott vor Hartog Baltzer u(nd) vor Hartog erich Hartog / Magnus Sohne, u(nd) vor Fr(au) Ursulen, Hartog Hinrichs Fürstin(n)e, Dat em / Gott genädig sei. 30. An einer Taffel366 Principes Magnifici de Werle vulgariter dicti, hic s(un)t depositi [Die Fürsten von Werlen hocherhaben / Liegen hie all Zusammen Begraben.]367 31. [An einen Altar]368 In hoc Altari conspicitur / Christus in Cruce pendens, depict(us) et quasi dicens. Misericordia me spinis coronavit, / Die Barmhertzigkeit hat mich mit Dornen geckröhnet
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Charitas Latus Meum perforavit, / Die Liebe hat meine Seite durchbohret Patientia me flagellavit / Die gedult hat mich gegeißelt Benignitas clavum in dextram manum fixit / Die Gnade hat den Nagel in die rechte Hand gestecket Mansvetudo clavum in sinistram manum / Die Sanfftmuth den Nagel in der lincken Hand Pietas clavum in dextrum pedem fixit / Die Treue hat den Nagel in den rechten Füß getecket369 Humilitas clavum in sinistrum pedem / Die Demuth den Nagel in den linken Fuß Bonitas me ligavit. / Die Güte hat mich gebunden Sed justitia in his locum non habet / Aber die Gerechtigkeit hat hier Keinen Stat Den(n) nicht um der Wercke willen der Gerechtigkeit370 32. Zwey Reimen am Altar nach Osten geschrieben [Beym Creutz Christe371] [Effigiem qvi transis semper honora / Non eqvidem effigiem, sed qvem designat, adora372] Wen(n) du furüber gehst diesem Bildnis Ehr gebeüt / Doch nicht das Bild sondern den der es bedeut. [33] 33. Überschrifft des Heil(igen) Dreyfaltigkeits Altars373 Gelobet sey die Heil(ige) Dreyfaltigkeit / Und du unzertheilte Einigkeit. An dem Altar wird gesehen ein Mönche gut / der Kniend mit angehabenen Händen beten thut / O du wahre ewige374 Dreӱfaltigkeit / Erbarm dich über mich armen Sünder Zu jed(er) Zeit. 34. An der Gloken375 Siehe! Ich die Glocke leute niemals vergeblich / Lobe Gott, ruffs Volck, versamle die Christ(en). N(ota) B(ene) Diese Glocke ist 1638 Jahr / Von den Krieges Volckern zerschlagen gar / Und auch zugleich mit alten Kupfer und bley / damit die Kirch und Abseiten bedeckt gewesen sey. / So zum wenigsten 16000 R(eichs)th(a)l(er) geaestimirt. 35. An der Stund-Glocke376 Im Jahr des H(err)n 1390, / Am Tage Simonis u(nd) Judæ feyerlich / Der da komt in Nahmen des H(er)rn, / Gelobet sey nach und auch von fern377. 36. [Oben einer Thür]378 Wo Gott geit, da Hilfft kein Neid, / Wo Gott n(icht) geit, da hilfft kein Arbeit.
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37. So stehet auch beym [hohen] Altar ein köstlicher hoher verguldeter thurm379 / so das Sacrament Häüßlein genen/n)et wird, darin guldene / Monstrantzen mit ein Partikel des gesegneten Brodts erhöhet / und täglich an zu beten den Leüthen sind fürgestellet worden. [Über diesen Thurm henget ein Eisern / Ring, so ein Eddelman der starke Lutzow / genandt, in einen Wurff da hin über / geworffen.]380 38. Endlich sind in dieser [Kirche] worinnen 15 Altar und 26 hohe Pfeiler.381
[34] V. Reliqviae [Unten in dem gedoppelten Alter sind / verschloßen, und durchs Glaß Zu sehen382] 1. Etwas Flachß, so die Jungfrau Maria / auf ihren Spinn/rocken gehabt, wovon Sie gespon(n)en. 2. Ein Bündchen Heu so denen drey Weisen aus Morgenlan/de von ihrem Reis Futter überblieben. 3. Ein Lappen vom Rock des armen Lazari. 4. Ein Knochen von den Heil(igen) Ignatio Lojola383. 5. Ein Knochen von dem großen Christoffel / Und Zwar das er/ste Glied aus den Daumen. 6. Noch eben deßelbigen Schulterblat. 7. Ein Stück tuch384, so die Jungfrau Maria385 mit ihren eigenen / Händen genehet. 8. Ein Stück von dem Fischkopf des tobiæ386, der mit dem En/gel raphael reisete. 9. Die Serviette so der Bräutigam zu Cana in Galilæa / auf der Hochzeit gehabt387. 10. Einige Knochen von Adams (scilicet / Abbatis hujus loci) seiner Frau / Großmutter388. [11. Ein Läpchen von Josephs Mantel, so Er / Potiphars Frau in der hand gelaßen, / als Sie ihn unzucht anmaßete. 12. Einige Haare aus S(ank)t Hyeronymi Kne/belbart. 13. Ein Stück von Judas Darmen, die Ihm / entfallen, alß er entzweӱ geborsten389] 11. Das Schermeßer damit die Delila den Simson auf fran/tzösisch geschören390. 12. Ein Stück von dem Schürtztuch, so der Schlächter vorgehabt / als er bey des verlohrenen Sohnes Wiederkunfft das Kalb / abgeschlachtet391. 13. Ein Stücklein von den Windeltuch, darin das Christ Kindlein / gewickelt gewesen.392
14. Einer von denen 5 glatten Steinen, so David in der Schleu/der gegen den großen Goliath gehabt393. 15. Ein Ästchen von den Baum, woran Absolom mit seinen schö/nen Haaren hangen geblieben394. [35] 16. Der Stein, damit zipora ihren Sohn unterwegens / beschnitten395. 17. Der Jungfrau Maria ihre Schlafmütze, worin et/liche Knochen vernehet, von den unschuldigen Kindern, so / Herodes umbringen laßen396. 18. Des Christkindleins seine Schlaffmütze397. 19. Des ungläubigen Thomæ seine dicke Hirnschedel398. 20. Des Apostels Pauli sein Kopf399. 21. Des Apostels Petri sein Kopf400. 25. Ein Stück von Petri seinem Netze bey dem großen Fischzuge401. finis.
FOLGENDE INSCHRIFTEN FINDEN SICH NICHT IN DER HANDSCHRIFT KL-108.28, SONDERN NUR IN DER HANDSCHRIFT O 6 [59] 5. He(rrn) Martini402 Im Jahr des he(rrn) 1380 und neün / Eben am tage Servatii403 des Bischoffs rein / Ist gestorben Abt He(rr) Martin Christlich / Welcher hie 5 Jahr regieret Löblich 6. He(rrn) Gottschalci404 Im Jahr des He(rrn) 1390 und ein / Am Fest Lucæ des evangelisten rein / Ist gestorben He(rr) Gottschalck in doberan fein / Welcher die Abteӱ 20 und 3405 Jahr regieret / Hernach dieselbe freӱwillig resigniret / Gott aber 8 Jahr dienstbahr gewesen / Drum Laß Er ihm auch nu genesen. … [60] 10. He(rrn) Dünnepeper [61] Im Jahr des He(rrn) 1420 und dreӱ / den 11t(en) Julii setze dabeӱ / Ist Nicolaas Dünnepeper gestorben / Dieser Kirchen ein vieles erworben / darum ruht sein Seele unverdorben 11. He(rrn) Bockholtz406 Im Jahr 1420 und sieben / den 6t(en) Winter monat man geschrieben / Da Herman Bockholdt Abt Zu Doberan / gestorben, der Er 20 Jahr woll fürgestahn … [62] 13. He(rrn) von ortzen407 Da man schrieb das 1449te Jahr / Starb Siegfried von ortzen
im herren Land Zwar / Begraben auf den Berg Sion Beӱ den Minoriten gar 14. He(rrn) von Gnutz408 Im 1460t(en) Jahr / Ist gestorben Herman von Gnutz sag ich für wahr / Bittet für ihn, den (!) Er dieser Kirchen Secretarius War 15. He(rrn) Axcowen409 Im 1445ten Jahr / Am tage des seel(igen) Täuffers Johannis Zwar / Ist gestorben Matthis Axcow Ritter offenbahr / Dieser Kirchen sehr guter Freund gantz und gar / Im Selbigen Jahr am Michaelis Tag / Hort man wegen seiner Frauen Todes Klag / Thut ja für Sie fleißig Bitten ich eüch sag. [63] 16. Fräülein Annæ410 Im 1460ten Jahr / Starb die Durchl(auchtige) Jüngfer Anna gar / An Marien der Jüngfer geburtstag Zwar, / Ihre Seele ruht in Friede immerdar … 18. He(rrn) Mein411 Im Jahr 1504 und ein / Am tage Johannis ist gestorben He(rr) Mein / Welcher 23 Jahr regieret woll fein / O thut nur gott vor Ihm Bitten rein. [64] 19. He(rrn) Mutzeln412 Im Jahr 1490 und vier / Eben an Marien geburths Nacht schier / Ist Heinrich Mützel abt verschieden / Sein Seel ruch Beӱ gott ohn Lieden. 20. Fraülein Helena413 Hie Liegt Frau Helen mit ihren Brüdern Begraben / Wie Sie sich in Leben geliebet haben, / So sind Sie auch im tode nicht von ei[n]ander [ge]schieden / Welcher aller Seelen ruhen in guten Frieden … [65] 23. He(rrn) von Werlen Frau414 Daß hier unter Lieget schau / He(rrn) Nicolai von Werlen Frau. … [66] 25. He(rrn) Gruben Hie Liegt Begraben in der Ruh / Der fromme Mann He(rr) Peter Gru/ben, auf der anderen Seiten / Gott woll sein Seel(en) Begleiten … [67] 27. He(rrn) Wiehen Vor Könt ich stehen gleich wie du / Nun Lieg ich in der Lan-
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gen Ruh / Denck Leser der du jetzt Kanst stehn, / Daß du auch must so Liegen gehn. 28. He(rrn) eggerßen Ich hab hie in der Zeit der wenden großen Fürsten / Mit Treü und muntern Fleiß Biß in den tod gedient / Nun mogen andere nach Fursten dienste dürsten / da Beӱ den Lebens Fürst mein Dienst und Lohne grühnt 29. He(rrn) von Wesen Hie Liegt Hinrich von Wesen und sein Frau / Bittet vor Beӱde treülich ohn allen schau. … [70] 5. An einem Altar, Worunter He(rr) / Albrecht Lieget, stehet diese worte Auß vielen Haüsern groß und klein / Muß diß mein enge Wohnung seӱn … [76] 17. Beӱm Altar an der Wand Der Leib des He(rrn) gegrüßet seӱ / dadurch der wellt Heil wiederbracht freӱ / dich Jesu ehre ich mit schamen / Und Bete auch an deinen Nahmen / O du Lebens Brod gib mir doch / des Lebens Freüd in Himmel gnog / Kranckheit wend ab vertreib die Pest / die Sund vergib und tilge fest /durch dich das Hertz werd gantz rein / Auch alle Sinne gereiniget fein / Gib guten Frieden o Herr Christ / Wegen deiner 5
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Wunden frist / Ô Gott die heiligen wunden dein / Seӱn Zu jeder Zeit die artzneӱ mein / Ein Zercknirschtes Hertze Christi gut / Gib mir gnädig in todes noth; [77] Daß der wahre Glaube recht seӱ / Und das Beckantniß rein mir verleӱ / Auch mit deines Heiligen Leibes Speise / Mein Lieber Jesu du mich weide / Hernach mich führ von ubell all / Zu deiner Freüd inß Himmelß Saal. … [78] 20. In der Büloven Capell415 Qvantus erit luctus judex cum dixerit ite / tantus erit fructus cum dixerit ipse venite Geht die (!) Stein ist Hart und Schwehr / Aber gesegnet die Kommet her / Geht hinweg den Bosen geböhet / Kommet her den Frommen gehöret. [79] Wie groß wird seӱn alßdan der Schmertz / Wen[n] der Richter wird sagen: geht ohn Schertz / So groß wird dagegen seӱn die Freüd / Wan wird gesagt: Komt eß ist Bereit … [80] 24. Auf der Orgel Hic venti dociles resono se carcere solvunt / et cantum accepta pro libertate rependunt. … [90] Hinter dem hohen altar / Ist auf einen kleinen Altar Zu sehen ein / Abgott Vitzliputzli genand, so in den Heӱ/denthum vor den Regen gott gehalten worden.
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S. dazu den Beitrag von Martin Heider in diesem Band. Ihm verdanke ich außerdem die Überlassung einer Kopie der Schweriner Handschrift. Das ergibt sich u.a. daraus, dass an einer Stelle der Hs., S. 21 (s. Anm. 125), vier Zeilen der Übersetzung des lateinischen Textes ausgelassen sind, die sich in den späteren Abschriften Kl-108.28 und O 6 finden. S. Anm. 34 und 37. Wie Anm. 1; Markus Hörsch, dem ich dafür herzlich danke, hat eine Transkription der Hs. O 6 vorgenommen. Wie Anm. 1. Zahl von späterer Hand. Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1781 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 38. Hs. hat Obotritarum. Tafel hat patrium. Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift von 1781. Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 34. Tafel hat korrekt Agnetis. Tafel hat Sterneberg. Tafel hat Syphum. Wort in Hs. über der Zeile nachgetragen. Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift von 1750. Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 35. Dort der Text von Versus und die Ergänzung Aliud eiusdem … Eine weitere Tafel mit demselben Text (ohne die Ergänzung Alius eiusdem …) ebenfalls im Münster erhalten, doch diente sie nicht als Vorlage für das Manuskript. Tafel hat Hin. Hs. über der Zeile verbessert aus nunq(ue). Tafel hat terruit. Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. Diese Grabinschrift nur in Hs. O 6, S. 12–15. Vorlage ist eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerten Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund (s. Anm. 17); Druck bei KÜHNE 1896, S. 34. Tafel hat Sybillae. Tafel hat defu(n)gitur. Tafel hat Michilburch. Tafel hat saccurrat. Hs. hat arctetur; Tafel artetur. Auf Tafel folgt Renovierungsinschrit 1750. Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 35f. Tafel hat eum. Tafel hat paenam. So Tafel, Hs. hat his. Tafel hat supplico. Ganze Zeile fehlt auf Tafel.
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Wort fehlt in Hs., ergänzt nach Tafel und O 6, S. 16. Hs. hat Serto, verbessert nach Tafel. Ganze Zeile fehlt auf Tafel. Tafel hat Nunc. Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. In Hs. Kl-108.28 S. 36 und 38 als Supplementum; Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte zweispaltige Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 36f. Zwei Buchstaben in Hs. über der Zeile nachgetragen. Tafel hat et isti. Tafel hat superba. Hs. hat averra, hier verbessert nach Tafel Tafel hat iocundus, et. Tafel hat zangarhusen. Tafel hat fiut. Hs. hat algonis. Hs. hat vini; Tafel hat Umi. Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. In Kl-108.28, S. 37 und 39 als Supplementum. Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte zweispaltige Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 37. Hs. hat lecta. Verb. aus potitus, was auch die Tafel hat. Hs. hat locis. Hs. hat Despositus. Hs. hat tempora. Hs. hat fultum, hier verbessert nach Tafel Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. Hs hat „der“. Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 37f. Hs. hat quamoda. Tafel hat tectos. Tafel hat Hys nusqua(m). Die voranstehenden drei Zeilen fehlen in O 6. Hs. hat Sepeliter. Hs. hat nudus. Tafel folgt Restaurierungsinschrift 1750. Diese beiden Zeilen nur in Kl-108.28. Hs. folgt durchstrichen „doch“. Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 39. Hs. hat cerner. Tafel hat His. Hs. hat finis; Tafel folgt sed. Hs. hat tum. Hs. hat cremananda. Tafel hat Da. Hs. hat para. Hs. hat Crustoris.
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Tafel hat regumq(ue). Tafel hat loquor hæc. Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 40. 84 Wort fehlt auf Tafel. 85 Hs. hat pareantur. 86 Hs. verb. aus relligo. 87 Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. 88 Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 39f. 89 Tafel hat Suerinei. 90 Tafel hat celebres. 91 Hs. hat cursa. 92 Hs. hat faca. 93 Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. 94 Kl-108.28 hat als weiteren Titel „Fürstn zu Wenden“. 95 Vorlage der Hs. war ein im Münster erhaltenes Steinepitaph mit vier Inschriftspalten, Druck der Inschrift, welche die beiden linken Spalten umfasst, bei KÜHNE 1896, S. 41. Die Spalten drei und vier enthalten eine deutsche Übersetzung, s.u. 96 Tafel folgt et. 97 Tafel hat MeCKLeBVrGeNSIS. 98 Tafel hat CYMBrOrV(M). 99 Tafel hat frIDrICH. 100 Tafel hat LACHrYMIS. 101 Auf der Tafel folgen zwei Verse, die weder in Hs., noch in O 6 und Kl-108.28 überliefert sind: ILLI(VS) OCCASV QVA(N)tVM MeGLABVrGICA DA(M)NI / StIrPS tVLIt eXtI(N)CtI CA(N)DIDA fAMA DOCet. 102 Tafel hat eLISABet. Diese letzten Zeilen im Tafel fragmentiert. 103 Ganzes Epitaph fehlt in O 6 und Kl-108.28. 104 Wort über der Zeile nachgetragen. 105 Ganze Inschrift in O 6 und Kl-108.28 an anderer Stelle (nach Inschrift Nr. 9), Kl-108.28, S. 18f.; O 6, S. 48–53. Tafel Steinepitaph mit vier Inschriftspalten im Münster erhalten, die deutsche Inschrift in den Spalten drei und vier. Hs. weicht in zahlreichen orthografischen Details vom Tafel ab. 106 Statt Tafel „Tugend“. 107 Darunter in Hs. der Hinweis: „Diß ist gleich uber beyde seiten geschrieben“. 108 Vorlage der Hs. war das sog. Große Fürstenepitaph von Philip Brandin mit dem Text von Andreas Mylius, 1583, eine im Münster erhaltene, zweispaltig beschriebene steinerne Epitaphtafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 41f.; vgl. den Beitrag von Carsten Neumann in diesem Band. 109 Tafel hat teMPLO. 110 Tafel hat DANICA. 111 Tafel hat MeGAPOLeNSIS. 112 Wort fehlt im Tafel 113 Tafel hat ILLUStreS. 114 Tafel hat OBetrItA. 115 Tafel hat SeQVVtI. 116 Tafel hat CAMOeNAS. 117 Tafel hat SePULCHrIS.
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118 So Tafel; Hs. hat irrtümlich clavos. 119 Tafel hat korrekt SeC[V]LA. 120 Tafel hat VIDeN. 121 Tafel hat SVeONVM. 122 Hs. hat irrtümlich postquam fatalia solvit, das erst im übernächsten Vers folgt. Hier ergänzt nach Hs. O 6, S. 46 und Tafel 123 Tafel hat SANCtA, ebenso Hs. O 6, S. 4.6. 124 Diese und die vorangehende Zeile fehlen in O 6 und Kl-108.28. 125 Vier Zeilen nicht in Hs, ergänzt nach Kl-108.28, S. 19, vgl. auch O 6, S. 47. 126 Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene, 1750 erneuerte Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, nicht bei KÜHNE 1896. Die Inschriften Nr. 10 und 11 in Kl-108.28 an anderer Stelle S. 87 als: „Nr. 39. An einer Taffel / Biddet gott vor Hartog Baltzar un vor / Hartog erich Hartog Magnus Sohne, un / vor Frau Ursulen, Hartog Hinrichs Fürstin(n)e / Dat em gott genädig sei. / 40. An einer Taffel. / Principes Magnifici de Werle vulgariter / dicti hic sunt depositi / Die Fürsten von Werlen hocherhaben / Liegen hie all Zusammen Begraben“. 127 Auf Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. 128 Vgl. SCHRöDER 1732–1734, 6. Stück, 1734, S. 323 mit der Angabe: „Noch hänget hinten an diesen 5ten Pfeiler / eine Taffel“; folgt die Inschrift; s. auch LISCH 1844b, S. 427. 129 In Kl-108.28, S. 38 und 40 als Supplementum Nr. 2; vgl. SCHRöDER 1732–1734, 6. Stück, 1734, S. 344: „Den da heisset es von diesen ebenfals / in dem Genaelochr. ad ann: 1525. Den 12 Julii ist der Hochgelarte D. Nicol. Marschalcus mit Tode zu Rostock verfahren / und sein Cörper zu Dobran begraben / und hat Hertzog Hinrich diß Epitaphium ihm nachschreiben / und an einen Pfeiler auf ein Täfflein hängen lassen“. 130 Vorlage der Hs. war ein im Jahr 1750 erneuertes Gemälde von Cornelius Krommeny (um 1590), NEUMANN 2009, S. 207f., Nr. M 7; Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 46, Nr. 29; vgl. auch LISCH 1844b, S. 418f. 131 Tafel hat „Hijr“. 132 Tafel hat „Bidde“. 133 Tafel hat „Vor döget vele“. 134 Tafel hat „riue“. 135 Tafel hat beide Worte vertauscht. 136 Tafel hat „Darum scal ock bliuen“. 137 Tafel hat „Vnde wilt en schriuen“. 138 Die folgende Übersetzung nicht in Kl-108.28. 139 Nicht in Hs., hier nach Kl-108.28. 140 Gemälde, im Münster erhalten. 141 Gemälde, im Münster erhalten. 142 Wohl Inschrift auf einem Gemälde, nicht erhalten, vgl. MINNEKER 2007, S. 208f. 143 Vorlage der Hs. war ein Gemälde, als Kopie von 1750 im Münster erhalten, MINNEKER 2007, S. 209 mit Abb. 19; NEUMANN 2009, S. 211, Nr. M 15. 144 Gemälde hat ILLVStrISS[IMUS]. 145 Gemälde folgt Renovierungsinschrift 1750. 146 Diese Inschrift auf dem Gemälde als Schriftband zur Rechten des Dargestellten. 147 Erneuerte Inschrift an einem Wandgemälde seitlich des Oktogons im Münsterchor: „Konig albrecht van sweden hertege v. mekelenborch 1385–1412“. 148 Grabmal im Münster erhalten.
149 Wohl Inschrift auf einem Gemälde, nicht erhalten, vgl. MINNEKER 2007, S. 209. 150 Grabmal im Münster erhalten, s. den Beitrag von Ebbe Nyborg in diesem Band. 151 Erneuerte Inschrift an einem Wandgemälde seitlich des Oktogons im Münsterchor: „Hertege magnus van mekelenborch * 1379“. 152 Erneuerte Inschrift an einem Wandgemälde seitlich des Oktogons im Münsterchor: „Hertege hinrick van mekelenborch * 1379– 1383“. 153 Erneuerte Inschrift an einem Wandgemälde seitlich des Oktogons im Münsterchor: „Hertege johan van mekelenborch * 1384– 1422“. 154 Vorlage der Hs. war ein Gemälde, als Kopie von 1750 im Münster erhalten, MINNEKER 2007, S. 211 mit Abb. 20; NEUMANN 2009, S. 210, Nr. M 11. 155 Vorlage der Hs. war ein Gemälde, als Kopie von 1750 im Münster erhalten, MINNEKER 2007, S. 211 mit Abb. 21; NEUMANN 2009, S. 211, Nr. M 14. 156 Gemäldekopie hat vielfach abweichende Schreibweise der Inschrift. 157 Nr. 14 fehlt in Hs. Vorlage der Hs. war ein Gemälde, als Kopie von 1750 im Münster erhalten, NEUMANN 2009, S. 210, Nr. M 13. 158 Gemäldekopie hat vielfach abweichende Schreibweise der Inschrift. 159 Inschrift unter der lebensgroßen Skulptur Herzog Magnus‘ im Münster; vgl. MINNEKER 2007, S. 170–173 mit Abb. 16. 160 Inschrift unter der lebensgroßen Skulptur Herzog Balthasars im Münster; vgl. MINNEKER 2007, S. 171f mit Abb. 17. 161 Inschrift unter der lebensgroßen Skulptur Herzog Erichs im Münster; vgl. MINNEKER a.a.O. 162 Vorlage der Hs. war ein Ganzfigurenporträt von Conrelius Krommeny, 1587, im Münster erhalten, MINNEKER 2007, S. 211f. mit Abb. 24; NEUMANN 2009, S. 209, Nr. M 9. Inschrift in Details abweichend. 163 Vorlage der Hs. war ein Ganzfigurenporträt von Conrelius Krommeny, 1589, im Münster erhalten, MINNEKER 2007, S. 211f. mit Abb. 25; NEUMANN 2009, S. 209f., Nr. M 10. Inschrift in Details abweichend. 164 Vorlage der Hs. war ein Ganzfigurenporträt, im Münster erhalten, vgl. Minneker 2007, S. 213f. mit Abb. 26. 165 Vorlage der Hs. war ein Ganzfigurenporträt, im Münster erhalten, vgl. Minneker 2007, S. 213 mit Abb. 27. 166 Vorlage der Hs. war ein Ganzfigurenporträt von Conrelius Krommeny, 1578, im Münster erhalten, NEUMANN 2009, S. 205, Nr. M 6 (dort fälschlich 1587 datiert); Inschrift weicht in Details ab. 167 Hs. hat „ein“. 168 Vorlagen waren Ganzfigurenporträts der Anna von Pommern und Karls I., im Münster erhalten; MINNEKER 2007, S. 213 mit Abb. 23 und 28; s. auch den Beitrag von Carsten Neumann in diesem Band. 169 Vorlage war ein Ganzfigurenporträt, im Münster erhalten; Inschrift weicht in Details ab; vgl. MINNEKER 2007, S. 214 mit Abb. 29. 170 Ganzfigurenporträt, im Münster erhalten, vgl. MINNEKER 2007, S. 214 mit Abb. 32. 171 Ganzfigurenporträt, im Münster erhalten, vgl. MINNEKER 2007, S. 214 mit Abb. 33. 172 Vorlage der Hs. war die heute fragmentierte, in Backstein modellierte Inschrift auf dem Grabstein Heinrichs des Löwen; vgl. LISCH 1844b, S. 428–31; s. den Beitrag von Christine Magin in diesem Band.
173 Hs. hat Sӱbittæ. 174 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 46, Nr. 29; vgl. auch LISCH 1844b, S. 419–21. 175 25. Abt des Klosters, 1337-†1339, 17. April. – Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 43, Nr. 13; vgl. auch LISCH 1844b, S. 435 (Grabstein damals im Kirchenschiff ). 176 26. Abt des Klosters 1339-†1361, 8. März. – Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 43, Nr. 14; vgl. auch LISCH 1844b, S. 435 (Grabstein damals im Kirchenschiff ).. 177 KÜHNE 1896, S. 49, Nr. 36; Grabstein mit dieser und der folgenden Inschrift im Münster erhalten; vgl. auch LISCH 1844b, S. 443 (Grabstein damals im südlichen Seitenschiff ). 178 KÜHNE 1896, S. 49, Nr. 36; s. vorige Anm. 179 Gemeint ist Bernhard Witte, 31. Abt des Klosters 1424-†1442, 5. Februar. – Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 44, Nr. 19; vgl. auch LISCH 1844b, S. 437f. (Grabstein damals vor dem Hochchor). 180 Vgl. KÜHNE 1896, S. 44, Nr. 19). 181 Martin II., 28. Abt des Klosters 1384-†1389, 13. Mai; Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 43f., Nr. 16; vgl. auch LISCH 1844b, S. 436f. (Grabstein damals vor dem Hochchor). 182 Gottschalk Höppener, 27. Abt des Klosters 1361- resigniert 1384; †1391, 18. Oktober; Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 43, Nr. 15; vgl. auch LISCH 1844b, S. 435f. 183 Vorlage der Hs. war der Grabstein, fragmentiert im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 48, Nr. 33; vgl. auch LISCH 1844b, S. 445f. (Grabstein damals „In dem nördlichen Theile des Umganges um den hohen Chor)“. 184 Daneben in Hs.: 1404. 185 Hs. hat Martins. 186 KÜHNE 1896, S. 47, Nr. 31, Grabstein mit dieser und der folgenden Inschrift im Münster erhalten; vgl. auch LISCH 1844b, S. 444 (Grabstein damals im südlichen Querschiff beim Hauptportal). 187 Über der Zeile: „Tulendorp“. 188 KÜHNE 1896, S. 47, Nr. 31, s. vorige Anm 189 Hs. hat filiæ. 190 Johann IV. Plate, 29. Abt des Klosters 1390- resigniert 1403, †1420, Mai; KÜHNE 1896, S. 44, Nr. 17; vgl. auch LISCH 1844b, S. 437 (Grabstein damals im Kirchenschiff ). 191 Hs. am Rande: „10 May“. 192 Nach LISCH 1844b, S. 440 war der Grabstein damals schon verschwunden. 193 Hs. hat irrtümlich „7“. 194 Hermann Bockholt, 30. Abt des Klosters 1404–1423/24 (resigniert), †1427, 4. Dezember – KÜHNE 1896, S. 44, Nr. 18; die Grabplatte schon bei LISCH 1844b, S. 437 als verloren bezeichnet. 195 Hs. hat perro. Hermann Bokholt regierte zwanzig Jahre; vgl. KÜHNE 1896, S. 44. 196 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 45f., Nr. 25; vgl. auch LISCH 1844b, S. 441 (Grabstein damals in der Axcowerkapelle im südlichen Chorumgang).
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197 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 45, Nr. 23; vgl. auch LISCH 1844b, S. 440 (Grabstein damals im nördlichen Seitenschiff ). 198 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 48, Nr. 34; vgl. LISCH 1844b, S. 432. 199 Verlesen aus IIII, der römischen vier aus der korrekten Jahreszahlr 1464. 200 Hs hat novitatis. 201 Hs. hat Abtigeniti. 202 Johann VII. Wilken, 34. Abt des Klosters, 1465-†1489, 20. März. – Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 44, Nr. 20; vgl. auch LISCH 1844b, S. 438f. (Grabstein damals vor dem Hochchor). 203 Franz Meyne, 35. Abt des Klosters, 1489- resigniert 1498, †1499, 6. Mai. – Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 44f., Nr. 21; vgl. auch LISCH 1844b, S. 439 (Grabstein damals vor dem Hochchor). 204 Hs. hat latiarum. 205 Heinrich II. Mutzel von Ratzeburg, 37. Abt des Klosters, 1501†1504, 8. September. – Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 45, Nr. 22; vgl. auch LISCH 1844b, S. 439 (Grabstein damals vor dem Hochchor). 206 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 47, Nr. 30; vgl. auch LISCH 1844b, S. 446f. (Grabstein damals „In dem nördlichen Theile des Umganges seitwärts hinter dem Altare)“. 207 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 49f., Nr. 36; vgl. auch LISCH 1844b, S. 443f. (Grabstein damals im südlichen Seitenschiff ). 208 Grabstein mit in Backstein modellierter Inschrift neben dem Grab Heinrichs des Löwen, vgl. LISCH 1844b, S. 431; s. dazu den Beitrag von Christine Magin in diesem Band. 209 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 46, Nr. 26; vgl. auch LISCH 1844b, S. 442 (Grabstein damals in der Axcowerkapelle im südlichen Chorumgang). 210 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 46, Nr. 27; vgl. auch LISCH 1844b, S. 442 (Grabstein damals in der Axcowerkapelle im südlichen Chorumgang). 211 KÜHNE 1896, S. 46, Nr. 28; vgl. auch LISCH 1844b, S. 442f. (Grabstein damals in der Axcowerkapelle im südlichen Chorumgang). 212 Vorlage der Hs. war der Grabstein, im Münster erhalten, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 45, Nr. 24; vgl. auch LISCH 1844b, S. 440 (Grabstein damals „Unter dem Kreuzschiffe“). 213 Vorlage der Hs. war eine im Münster erhaltene Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 38. 214 Auf der Holztafel folgt ein querliegender Abtsstab und eine Renovierungsinschrift von 1750. 215 Hs. m Rand: alius 1171. 216 Vorlage der Hs. war eine im Münster erhalten Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 23, Anm. 1. 217 Inschrift nur abschriftlich überliefert; KÜHNE 1896, S. 40f.
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218 Verbessert aus cujusdam. 219 Diese Inschrift wurde im 20. Jh. rekonstruierend am Tragbalken des Kreuzaltars angebracht, doch ist dies sicher nicht der originale Ort. 220 Inschrift des 15. Jhs. am sog. Corpus Christi-Schrein im Münster erhalten; vgl. LISCH 1844b, S. 425, s. den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band. 221 Hs. Wort über der Zeile nachgetragen. 222 Diese Inschriften scheinen sich auf das Tugendkreuzigungsretabel zu beziehen (s. den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band), doch sind dort die durchweg im erneuerten Inschriften völlig abweichend. 223 KÜHNE 1896, S. 60. 224 EBD. 225 Verbessert aus „genedeit“. 226 Inschrift auf dem Buch Christi im Aufsatz des Kelchschrankes im Münsterchor, heute nur noch sehr fragmentarisch erhalten. 227 Vorlage der Hs. war eine 1750 erneuerte, im Münster erhaltene Holztafel mit goldener Schrift auf schwarzem Grund, Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 61. 228 Tafel hat nichil. 229 Tafel folgt Renovierungsinschrift 1750. 230 Diese Inschrift in Details abweichend heute am Sockel (!) der erhaltenen Leuchtermadonna im Münsterchor (s. den Beitrag von Vera Henkelmann in diesem Band), Druck der Inschrift bei KÜHNE 1896, S. 53. 231 Verbessert aus supra. 232 Diese Inschrift nicht erhalten, vgl. KÜHNE 1896, S. 53. 233 Text über diese und die folgende Seite durchgehend geschrieben. 234 Inschrift im Münster erhalten unterhalb der Statue eines geharnischten Drachenkämpfers am Eingang der Bülow-Kapelle: „Stah up – hör! / Van de Dör!“. 235 Dieses Retabel mit einer Darstellung des Gnadenstuhls (d.h. der Trinität) war noch im 19. Jh. im Münster, vgl. LISCH 1844b, S. 425f., seither ist es spurlos verschwunden, s. den Beitrag von Stephan Kemperdick in diesem Band. 236 Vorlage der Hs. war die Inschrift an der Südwestwange des Konversengestühls im Münster; vgl. LISCH 1844b, S. 416, s. den Beitrag von Gerhard Weilandt in diesem Band. 237 Tafel hat VAD. 238 Tafel Hat MeQVM. 239 Tafel hat MALI. 240 Or hat CUeNtA. 241 KÜHNE 1896, S. 57. 242 Sog. Retabel der Eucharistischen Mühle, s. den Beitrag von Esther Wipfler in diesem Band. 243 Inschrift auf der rechten Flügelinnenseite; vgl. LISCH 1844b, S. 424. 244 Inschrift auf dem teilzerstörten Retabel nicht erhalten. 245 Mitteltafel des Retabels der Eucharistischen Mühle. 246 Reiterstandbild des Samuel Behr, s. den Beitrag von Detlef Witt in diesem Band. 247 KÜHNE 1896, S. 50, Nr. 37. 248 EBD. 249 EBD. 250 EBD. 251 Gemeint ist die Christusseite des Kreuzaltars, wo auf der rechten Flügelinnenseite die Verspottung Hiobs durch seine neben ihm stehende Frau in Anwesenheit des Teufels dargestellt ist.
252 Inschriftenband, gehalten von einem Engel über den Standfiguren des Herzogs Adolph Friedrich I. und seiner Frau in der Chorscheitelkapelle des Münsters, s. den Beitrag von Kilian Heck in diesem Band. Text der Inschrift: „Sey getreüwe bis in den Todt / So will ich dir die koron des lebens geben. Apocalyp. 2“. 253 D.i. in der Bülowkapelle; KÜHNE 1896, S. 48, Nr. 35. 254 Verbessert aus „mich“. 255 Inschrift auf der 1301 datierten Glocke im Turm; vgl. Lisch 1844b, S. 415; s. den Beitrag von Claus Peter in diesem Band. 256 In Kl-108.28, S. 41 als Supplement unter der Überschrift: „AUFFM HAUSE HIN UND / HER / 1. IN DER RATHSSTUBEN“. 257 Wort fehlt in Hs., ergänzt nach Kl-108.28, S. 40. 258 Wort über der Zeile nachgetragen. 259 Bemerkung am Rand eingefügt: „ist eine Art eines grausamen finstern und melancholischen Gefängnißes“. 260 Kl-108.28, S. 46 hat zusätzlich die Übersetzung: „O! König der ehren Jesu Christ / mit frieden komm zu jeder frist / erhalt uns in frieden gewiß“. 261 S. Anm. 142. 262 S. Anm. 143. 263 Inschrift fehlt in Kl-108.28, ergänzt nach O 6, S. 55; s. Anm. 154. 264 S. Anm. 147. 265 S. Anm. 149. 266 Kl-108.28 hat „Reich“, hier verbessert nach O 6. 267 Ortsangabe ergänzt nach O 6, S. 86, Nr. 38; s. Anm. 150. 268 S. Anm. 152. 269 S. Anm. 151. 270 S. Anm. 164. 271 O 6, S. 55 hat stattdessen: „Sophiæ Hertzog Ulrichs Tochter. Dieses Bild ist recht nach den Leben gemahlet / und ist diese Princessin an den Konig Fri/derich in Denne(mark) verheӱrathet worden / Anno 1572 den 20ten Julӱ; s. Anm. 169. 272 O 6, S. 55 hat stattdessen: „Caroli / obiit 1613, hat Kein gemahlin gehabt“; s. Anm. 168. 273 Hs. hat versehentlich „Gemahlde“, hier korrigiert nach O 6, S. 56. Dort der Zusatz: „Ist auß Stettin in Pommern, gebürtig hertzogs / Ulrichs Letzte gemahlin, die erste hat geheißen / eliesabet auß Königl(ich) denne(mar)k(ischem) Stam“; s. Anm. 168. 274 O 6, S. 56 hat stattdessen: „Ulrici / obiit 1578 dieser hat die Kirche renoviren laßen“; s. Anm. 166. 275 O 6, S. 56 ergänzt: „d(en) 10 Januar“; s. Anm. 162. 276 O 6, S. 56 ergänzt: „d(en) 19t(en) Januar, ist gewesen des / Churfürsten zu Brandenburg Joachimi / Tochter“; s. Anm. 163. 277 O 6, S. 56 hat: „Hans Albrechts des Eltern / obiit 1526“. 278 O 6, S. 56 ergänzt: „obit 1530“. 279 O 6, S. 57 ergänzt: „gebohrne von Ostfrießland / Und des jetzt regierenden Herren Frau groß/mamma“. 280 O 6 S. 57 hat: „Christiani Ludovici / obit 16.“. Zu dem in Doberan erhaltenen Gemälde vgl. MINNEKER 2007, S. 341f. mit Abb. 30. 281 Diese Rubrik in O 6 an anderer Stelle S. 88f., ergänzt durch das Bildwerk der Königin Margarethe von Dänemark. 282 Ergänzung in O 6, S. 88; s. Anm. 170. 283 So O 6, S. 88; s. Anm. 171. 284 In O 6, S. 88 als Nr. 5; s. Anm. 159. 285 O 6 ergänzt „so vormahlß König / in Schweden gewesen“. – Es handelt sich aber stattdessen um den Sohn den Heinrich Pinguis, s. Anm. 157. 286 S. Anm. 157. 287 S. Anm. 160.
288 Ergänzung in O 6, S. 89; s. Anm. 150. 289 Ergänzung in O 6, S. 89: „Der Oberhoffmarchal von Bähr Zu Pferde / sitzend in Lebenßgroße. / N(ota) B(ene) dieser hat gehabt einen silbern Sattel, silbern / Stiegbügel, silbern Stange, und silbern / Huffeisen, so aber 1638 in den dahmahligen / Kriege von denen Soldaten Weg genom(m)en / worden“; s. Anm. 246. 290 Die Reihenfolge der folgenden Inschriften in O 6 z.T. abweichend. 291 S. Anm. 175. 292 S. Anm. 179. 293 Gemeint: „Feier“-Tag. 294 S. Anm. 177. 295 O 6, S. 58 hat „der“. 296 S. Anm. 176. 297 O 6, S. 58 folgt: „auch noch“. 298 S. Anm. 183. 299 Wort nachgetragen. 300 S. Anm. 186. 301 O 6, S 60 hat irrtümlich „1300“. 302 O 6, S. 60 hat „fleißig“. 303 S. Anm. 190. 304 Unleserlich, hier ergänzt nach O 6, S. 60. 305 In O 6, S. 60 folgt: „doberansch abt“. 306 S. Anm. 188. 307 Verbessert aus „Wilhelms“; s. Anm. 202. 308 Diese Inschrift fehlt in O 6; Identifizierung unklar, s. Anm. 193 und 205. 309 So O 6, S. 64; K.108 hat „Scheäl“. 310 O 6, S. 65 hat stattdessen: „Herr“. 311 Erneuerte Inschriftentafel im Münster erhalten. 312 O 6, S. 66 und Tafel haben „Aalcke Aalcke“. 313 O 6, S. 65 hat „Feinde“. 314 O 6, S. 66 hat „1581“. 315 O 6, S. 66 hat „1609“. 316 O 6, S. 66 hat stattdessen: „der Leser wird hie sehr gebeten / Auf dieses grab doch nicht Zu treten“. 317 Diese Seite O 6, S. 68 von zweiter Hand geschrieben. 318 In O 6, S. 68 folgt eine Zeichnung: Wappen mit Hirsch und Schwan in einem geteilten, aber nur durch eine geringelte Linie angedeuteten „Schild“. 319 Von anderer Hand nachgetragen: Annus extructi (!) Dobberani; s. Anm. 213. 320 O 6, S. 69 hat: „doberan“. 321 S. Anm. 216. 322 S. Anm. 227. 323 Ergänzung in O 6, S. 69. 324 S. Anm. 220. 325 O 6, S. 70 hat „So“. 326 Wort fehlt in O 6, S. 72. 327 O 6, S. 72 hat „gnadenreiche“. 328 Am Kelchschrank, KÜHNE 1896, S. 54¸ s. Anm. 226. 329 Die lateinische Version der Inschrift nur in O 6, S. 72. 330 Hs. hat Nummerierung irrtümlich gedoppelt; Übersetzung der Inschrift auf dem Marienleuchter, s. Anm. 230. 331 O 6, S. 75 hat: „Hinter den Stühlen“. 332 O 6, S. 75 hat: „Dadurch ihn Bößlich“. 333 O 6 S. 75 folgt: „doch“. 334 O 6, S. 75 mit einer Zeichnung der Gestühlswange (Teufel und Konverse) und Schrift von zweiter Hand; s. Anm. 236.
Peter Eddelin, Was denckwürdiges zu Dobran, 1664 | 483
335 O 6, S. 75 hat stattdessen: „Dieser Mönch Hat sich in der Kirche mit ein / Frauens bild verschloßen gehabt, und Wie Er da jemand / gehen sehen, selbige unter seiner Kappe versteckt / da dan der Teüffel Zu ihm getreten, und gefraget. / Waß machstu hier bruder geh mit mir, Halb part. / Der Mönch aber antwortet / Du wirst nichts böses finden an mir, du Heßliches Thier“. 336 O 6, S. 74, Nr. 14. 337 O 6, S. 74, Nr. 15. 338 O 6, S. 77 hat „Mönchen“; s. Anm. 242. 339 Wort fehlt in Kl. 108, ergänzt nach O 6. 340 S. Anm. 145. 341 O 6, S. 77f. hat stattdessen: „Allhie wird das wortt gottes von denen 4 / Evangelisten auf eine Mühle gegossen, Von denen 12 Aposteln die Muhle üm/getrieben, und das wortt Gottes gemah/let, von denen Unterstehenden Bischöffen / aber in Kelchen aufgefangen mit der / umher schrifft“. 342 O 6, S. 78 hat stattdessen: „Das Menschlich geschlecht war gar verdorben / War gottes wortt nicht Mensch geworden“. 343 S. Anm. 255. 344 Ergänzung in O 6, S. 79: „N(ota) B(ene): Diese glocke ist anno 1638 von denen Boß-/Hafftigen Krieges Volckern nicht nur Zu Stuckn / geschlagen, sondern auch die gantze Kirche / nebst denen abseiten, worauff Kupffer und / Bley gelegen, abgedecket, und solcher Schade / auf 16000 R(eichs)t(a)ler geschatzet worden“. 345 Hs. hat Nummerierung irrtümlich gedoppelt. 346 Diese Ortsangabe nur in O 6, S. 80; geschrieben von anderer Hand und mit einer Wappenzeichung in einem blütenbesetzten Kranz: Ein Hahn über zwei gekreuzten Haken, darunter ein Ei. 347 O 6, S. 81: „hüt dich davor werd so nicht gleich“. 348 In O 6, S. 81 nach der Inschrift beim Bild des reichen Mannes unter der Überschrift: „Auch daselbst an der andern Seite“. 349 O 6, S. 81:„in hitz“. 350 In O 6, S. 84, Nr. 31. 351 Diese vier Wörter fehlen in O 6. 352 In O 6 Umkehrung der Verszeilen. 353 O 6, S. 83 hat „Uber dem“. 354 O 6, S. 83 hat „Hohen“. 355 O 6, S. 83 an anderer Stelle als Nr. 29 von zweiter Hand. 356 O 6, S. 87 hat: „An einen Altar / Hieselbst wird Christi blutiges Angeischt gesehen“. 357 O 6, S. 88 hat: „abgebildet“. 358 In O 6, S. 84, Nr. 32 mit der Überschrift „An einen Altar“. 359 Überschrift fehlt in Kl. 108, ergänzt nach O 6, S. 84, Nr. 35. 360 Überschrift fehlt in Kl. 108, ergänzt nach O 6, S. 85, Nr. 36.. 361 O 6, S. 85, Nr. 34. Inschrift an der Bülowkapelle erhalten, s.o. Anm. 234. 362 O 6, S. 82, Nr. 28; s. Anm. 246. 363 O 6: „Der Mensch Bedenck doch waß Er thut“. 364 Ortsangabe fehlt in Kl. 108, ergänzt nach O 6, S. 86, Nr. 37. Im 19. Jh. vollständig erneuerte und in zahlreichen Details abweichende Inschrift in der Bülow-Kapelle erhalten; vgl. Lisch 1844b, S. 447f. 365 O 6, S. 87, Nr. 39; s. Anm. 126. 366 O 6, S. 87, Nr. 40; s. Anm. 128. 367 Übersetzung fehlt in Kl. 108, hier nach O 6.
484 | Peter Eddelin, Was denckwürdiges zu Dobran, 1664
368 Überschrift fehlt in Kl. 108, ergänzt nach O 6, S. 71f., Nr. 8; s. Anm. 222. 369 O 6 hat „geschlagen“. 370 O 6 folgt: „etc: tit: 3 usq[ue] seelig.“. 371 Ortsangabe fehlt in Kl. 108, ergänzt nach O 6, S. 70, Nr. 7. 372 Lateinische Version nicht in Kl. 108, hier nach O 6; Abweichende Version bei KÜHNE 1896, S. 60. 373 O 6, S. 74, Nr. 13; s. Anm. 235. 374 O 6. hat stattdessen „höchst“. 375 Fehlt in O 6. 376 O 6, S. 79f., Nr. 22. 377 Diese Zeile nach O 6, Kl. 108 hat „Gelobt sey der u(nd) in (?) von fern“. 378 O 6, S. 87, Nr. 41 mit der Überschrift, die in Kl. 108 fehlt. 379 O 6, S. 89 ohne Nr. 380 Ergänzung nach O 6. 381 O 6, S. 83: „So hat auch diese Kirche annoch 15 Altäre / und 27 freӱe hohe Pfeiler“. 382 Gemeint ist der Kreuzaltar; Ortsangabe fehlt in Kl. 108, ergänzt nach O 6, S. 90. 383 Folgt O 6: „so der Jesuiten Patron gewesen“; Nr. 3 und 4 in O 6 vertauscht. 384 O 6 hat: „Etwas Leinwand“. 385 O 6 folgt: „selbst“. 386 O 6 hat: „des tobiæ seinen Fisch Kopff“. 387 O 6 hat: „gebrauchet“. 388 So O 6, Kl-108.28 hat: „Etliche Knochen von Adams seiner GroßMutter, so … geheißen /: … des hiesig gewesenen Bischofs“. 389 Diese drei Einträge nur in O 6, S. 92. 390 In O 6 als Nr. 14. 391 In O 6 als Nr. 15. 392 In O 6 als Nr. 16, endet mit „Windeltuch Christi“. 393 In O 6 als Nr. 17. 394 In O 6 als Nr. 18. 395 In O 6 als Nr. 19. 396 In O 6 als Nr. 20. 397 In O 6 als Nr. 21. 398 In O 6 als Nr. 22: „Des Apostels thomæ sein Kopff“. 399 In O 6 als Nr. 23. 400 In O 6 als Nr. 24. 401 In O 6 als Nr. 25: „25. Ein Stück von Petri seinen Zerrißenen Netzes“. 402 S. Anm. 181. 403 O 6, S. 59 hat irrtümlich Servani. 404 S. Anm. 182. 405 Zahl über der Zeile nachgetragen. 406 S. Anm. 193. 407 S. Anm. 178. 408 S. Anm. 197. 409 S. Anm. 196. 410 S. Anm. 198. 411 S. Anm. 203. 412 S. Anm. 205. 413 S. Anm. 207. 414 S. Anm. 208. 415 S. Anm. 253.
Rechte Seite: Abb. 445. Predella des sog. Retabels der Ehrenreichen Jungfrau, Detail: Hl. Katharina
QUELLEN UND LITERATUR
Quellen und ältere Literatur (bis 1800) AELRED VON RIEVAULx, SERMO xIx Aelred von Rievaulx: Sermo xIx In assumptione sanctae Mariae, in: Raciti, Gaetano (Hg.): Aelredi Rievallensis opera omnia. Sermones I– xLVI (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 2A), Turnhout 1989, S. 147–154. AELRED VON RIEVAULx, SPECULUM CARITATIS Aelred von Rievaulx: Aelredi Rievallensis opera omnia, in: Talbot, Charles Hugh (Hg.): Opera ascetica (CCCM 1), Turnhout 1971, S. 3–161; dt. Übers.: Aelred von Rievaulx: Spiegel der Liebe (Texte der Zisterzienser-Väter 2), übers. v. Sr. M. Hildegard Brem O. Cist., Eschenbach 1989. BENZ 1984 Benz, Richard (Hg.): Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, Heidelberg 101984. BERNHARD VON CLAIRVAUx: AD HENRICUM MURDAC Bernhard von Clairvaux: Epistola 106 – Ad magistrum Henricum Murdac, in: Winkler, Gerhard B. (Hg.), Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, lat./dt., Bd. 2, Innsbruck 1992, S. 770–775. BERNHARD VON CLAIRVAUx: AD ROBERTUM Bernhard von Clairvaux: Epistola 1 – Ad Robertum nepotum suum, in: Winkler, Gerhard B. (Hg.), Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, lat./dt., Bd. 2, Innsbruck 1992, S. 242–263. BERNHARD VON CLAIRVAUx: APOLOGIA Bernhard von Clairvaux: Apologia ad Guillelmum abbatem, in: Winkler, Gerhard B. (Hg.), Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, lat./dt., Bd. 2, Innsbruck 1992, S. 138–200. BERNHARD VON CLAIRVAUx: DE GRADIBUS Bernhard von Clairvaux: De gradibus humilitatis et superbiae, in: Winkler, Gerhard B. (Hg.), Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke, lat./dt., Bd. 2, Innsbruck 1992, S. 29–135. BUUS 1978 Buus, Erik (Hg.): Consuetudines Lundenses.
486 | Quellen und Literatur
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sich haltend viel trefflicher Lehren, vnd sehr nutzbarliche argumenten mit viel schöne herrliche Edifitien, vnnd Gebewden […] allen verstendigen Liebhabren der selben khunst sich darinnen zu uben zu dienstlichen wolgefallen ans liecht gebracht/ unnd Inventirt/ durch Ioan Friedman Friesen. / Außgeben zu Leyden in Hollandt/ Durch Henrich Hondius Kupffer Stecher im iaer 1605. (digitalisiertes Exemplar der Sächsischen Landesbibliothek: http://digital.slub-dresden.de/id2782 45641, letzter Zugriff: 04.08.2015). DIPLOMATARIUM DANICUM Diplomatarium Danicum R. 2, Bd. 2, hg. v. Blatt, Franz, København 1941. (http://diplomatarium.dk/, letzter Zugriff: 20.08.2017). DOUTEIL 2010 Douteil, Herbert: Die Concordantiae caritatis des Ulrich von Lilienfeld. Edition des Codex Campililiensis 151 (um 1355), hg. v. Suntrup, Rudolf; Angenendt, Arnold und Honemann, Volker, 2 Bde., Münster 2010. DURANDUS, RATIONALE Durandus von Mende: Rationale divinorum officiorum – Guillelmum Duranti Rationale divinorum officiorum I–IV (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis 140), hg. v. Davril, A. und Thibodeau, Timothy M., Turnhout 1995. ECCLESIASTICA OFFICIA Ecclesiastica Officia – Gebräuchebuch der Zisterzienser aus dem 12. Jahrhundert. Lateinischer Text nach den Handschriften Dijon 114, Trient 1711, Ljubljana 31, Paris 4346 und Wolfenbüttel Codex Guelferbytantus 1068 (Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur 7), übersetzt und hg. v. Herzog, Hermann M. und Müller, Johannes, Langwaden 2003. EDDELIN 1649 Eddelin, Peter: Kurzer wahrhaftiger Bericht, wie es sonderlich in Mecklenburg in diesem dreißigjährigen deutschen Kriege, allermeist aber zu Doberan, insonderheit zu Doberan anno 1637 und 1638 daher gegangen, aufgesetzet von Magister Peter Eddelin, Pastore Doberanensi, anno 1649, den 16. Mai, in: SCHNELL 1907, S. 103f.
EDDELIN 1664 Was denckwürdiges zu Dobran 1. in der Kirchen, 2. auf dem Hause, Hin und her. Aus dem Lateinischen ins Deutsche versetzet durch Magist(er) Petrum Eddelin / Pastorem Dobberanensem im Jahr Gottes Wort VnD Des LVthers Lehr wIrD Ie ewIg bLeIben (Es: xL,8; Luc xxI,33; 1. Petrus 1,23), 1664; Handschrift, Schwerin, Landeshauptarchiv, 2.12–3/4–2 Kirchen und Schulen, Specialia 13775, s. die Edition von Gerhard Weilandt in diesem Band EINMÜTIG IN DER LIEBE Brem, Hildegard (Hg.): Einmütig in der Liebe. Die frühesten Quellentexte von Cîteaux – Antiquissimi Textus Cistercienses, lat./dt. (Quellen und Studien zur Zisterzienserliteratur 1), hg. v. Brem, Hildegard, O. Cist.; Altermatt, Alberich Martin, O. Cist., Langwaden/Turnhout 1998. FABRICIUS 1621 Fabricius, Jacobus: MEMORIæ/ Viri generosi, strenui et verènobilis / Dn. SAMUELIS BEHREN / Illustriß et Celsißimi Princ. Ac Domini, / Dn. ADOLPHI FRIDERICI Ducis Megapol. & c. / Consiliarij Intimi & Optimi, & c. / CHARTACEVM HOC MONVMENTVM, / quia MARMOREUM non poteram, / L. M. Q. Ponebam., Druck Gustrovij Mauritius Saxo, o. J. (1621) (Schwerin, Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern Günther Uecker, vBehr24).
questionibus, in: Huygens, Robert Burchard Constantyn: Le moine Idung et ses deux ouvrages. Argumentum super quatuor questionibus et Dialogus duorum monachorum (Studi medieali 11), Spoleto 1980. JACOBUS DE VORAGINE Jacobus de Voragine: Goldene Legende, hg., übersetzt und kommentiert v. Häuptli, Bruno W., 2 Bde., Freiburg/Basel/Wien 2014. KLÜVER 1728 Klüver, Hans Heinrich: Beschreibung des Hertzogthums Mecklenburg und dazu gehöriger Länder und Oerter, Theil 2, Hamburg 1728. KLÜVER 1738 Klüver, Hans Heinrich: Beschreibung des Hertzogthums Mecklenburg und dazu gehöriger Länder und Oerter / In der Kürtze verfasset von Hans Henrich Klüvern, Aus Nieder-Schiltberg in Mecklenburg, Kayserlichen Notario und Raths Verwandten in Heiligenhafen. Nunmehro zum andern mahl herausgegeben und vielfältig vermehret, Theil 2, Hamburg 1738. KLÜVER 1739 Klüver, Hans Heinrich: Beschreibung des Herzogthums Mecklenburg und dazu gehöriger Länder und Oerter, Theil 3, Stück 2, Hamburg 1739.
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