Homo Creans: Kreativität und Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst 9783839436349

Marcel Duchamp, John Cage, Merce Cunningham, Glenn Gould, and Joseph Beuys: from the work of these five trailblazers of

349 124 10MB

German Pages 550 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
A. VERORTUNG DES HOMO CREANS
Was bedeutet der Begriff Kreativität?
Wie wird Kreativität definiert?
Welche Arten von Kreativität gibt es?
Wie wird Kreativität gegenwärtig verstanden?
1. »Stadt-Land-Fluss« des HOMO CREANS
1.1 Stadt: Vernetzungen, Transformationen und Entgrenzungen
1.1.1 Mediale Vernetzungen
1.1.2 Kulturelle Transformationen
1.1.3 Entgrenzte Identitäten
1.1.4 Transmediale Kunst
1.2 Land: Forschungsfeld und Zielsetzung
1.2.1 Kunstpädagogik im Kontext transdisziplinärer Entgrenzungen
1.2.2 Aktuelle Anforderungen
1.2.3 Zielsetzung von HOMO CREANS
1.3 Fluss: Transdisziplinäre Forschungsmethode und Aufbau des Buches
1.3.1 Artistic Research
1.3.2 Metaphorisches Leitthema: Kartierung des Netzwerks der Kreativität
1.3.3 Aufbau des Buches
2. HOMO CREANS: Schöpferische Ursprünge – Ursprünge des Schöpferischen
2.1 Künstlerische Ursprünge
2.1.1 Erste künstlerische Objekte
2.1.2 Höhlenmalerei
2.2 Mythologische Ursprünge der Schöpfung
2.2.1 Gilgamesch-Epos
2.2.2 Altes Ägypten
2.2.3 Altes China
2.2.4 Griechische und Römische Antike
2.2.5 Christlicher Schöpfergott – die Dreifaltigkeit
3. Der künstlerische HOMO CREANS
3.1 Mythologische Ursprünge der Kunst und des Künstlers
3.2 Erste Kunsttheorien
3.2.1 Narziss
3.2.2 Griechische Philosophie: Daimonion, Mimesis und Katharsis
3.2.3 Christliche Logos-Ästhetik
3.3 Künstlerstereotype
3.3.1 Melancholiker
3.3.2 Uomo Universale
3.3.3 Genie
3.3.4 Flaneur und Bohemien
3.3.5 Die kreative Klasse – eine Synthese von Kunst und Leben
B. KONJUNKTION DES HOMO CREANS
1. Grundlagen der Kreativität: Spielerische Lernprozesse
1.1 Kindheit
1.1.1 Fundament des Lebens
1.1.2 Kinderbildnerei
1.2 Spiel
1.2.1 Friedrich Schillers Spieltrieb
1.2.2 Johan Huizingas Homo Ludens
1.2.3 Phänomenologie des Spiels
1.3 Lernen
1.3.1 Hirnareale
1.3.2 Neurobiologie des Lernens
1.3.3 Wahrnehmung als Spiegelung
1.3.4 Lernen aus Ästhetischer Erfahrung – Wahrnehmung, Erkenntnis und Wissenserwerb
1.3.5 Lernen und Schlaf
1.3.6 Gedächtniskategorien
1.3.7 Emotionale und motivationale Aspekte des Lernens
1.3.8 Lernmodelle: Behaviorismus, Kognitivismus, Konstruktivismus
1.3.9 Erfahrungsbasierter Lernzyklus und Lerntypen nach David Kolb
2. Kreativer Prozess
2.1 Präparation
2.2 Inkubation
2.3 Inspiration
2.3.1 Kreativität und Schlaf
2.3.2 Der schöpferische Sprung und der Flow
2.3.3 Flow als ekstatischer Rauschzustand
2.3.4 Neurobiologie des Flow
2.3.5 Exogener Rausch und Sucht
2.4 Inkarnation
2.5 Verifikation
2.5.1 Kreatives Produkt
2.5.2 Kreativitätstests
3. Menschenbild des HOMO CREANS
3.1 Kreative Persönlichkeitseigenschaften des HOMO CREANS
3.1.1 Kreativität und Intelligenz
3.1.2 Resilienz-Potenzial der Kreativität
3.2 Extremformen kreativer Persönlichkeiten
3.2.1 Narzissmus und Narzisstische Persönlichkeitsstörung
3.2.2 Peter-Pan-Syndrom, Puer aeternus bzw. Puella aeterna
3.2.3 Bipolare Affektstörungen
3.2.4 Schizophrenie – Schizoide Persönlichkeitsstörung
3.3 Kulturkonstituierende Aspekte der Kreativität
3.3.1 Kreativität und Kultur
3.3.2 Kreativität und Ethik
C. KÜNSTLERISCHE KREATIVITÄT
1. Wegbereiter der transmedial entgrenzten Kunst des 20. Jahrhunderts
1.1 Marcel Duchamp – DIE BRAUT VON IHREN JUNGGESELLEN NACKT ENTBLÖSST, SOGAR
1.1.1 Kurzbiografie und Lebensumstände
1.1.2 Frühwerke
1.1.3 DIE BRAUT VON IHREN JUNGGESELLEN NACKT ENTBLÖSST, SOGAR
1.1.4 Bezüge und Verweise
1.1.5 Resümee
1.2 John Cage und Merce Cunningham
1.2.1 Merce Cunningham und John Cage – Kurzbiografien
1.2.2 Entgrenzung der Komposition – Entgrenzung der Choreografie
1.2.3 Kollaboration zwischen John Cage und Merce Cunningham – UNTITLED EVENT
1.2.4 John Cage – Transmediale Werke
1.2.5 Resümee
1.3 Glenn Gould – THE IDEA OF NORTH
1.3.1 Kurzbiografie und Frühwerke
1.3.2 Neue Kunstform Studioaufnahme
1.3.3 THE IDEA OF NORTH
1.3.4 Bezüge
1.3.5 Resümee
1.4 Joseph Beuys – ZEIGE DEINE WUNDE
1.4.1 Kurzbiografie
1.4.2 Prägungen: SONNENKREUZ, Krise, Lehrer, Vernetzung zu Marcel Duchamp und John Cage
1.4.3 ZEIGE DEINE WUNDE
1.4.4 Bezüge und Verweise: Erweiterter Kunstbegriff und Soziale Plastik
1.4.5 Resümee
1.5 Bestandsaufnahme
2. Fallbeispiele der Gegenwartskunst
2.1 Alex Czinke und Julia Fehenberger – SERENDIPITY
2.1.1 Alex Czinke – Kurzbiografie und Schlüsselerlebnisse
2.1.2 Julia Fehenberger – Kurzbiografie und Schlüsselerlebnisse
2.1.3 Musikalisch-kreativer Ansatz in der Komposition und auf der Bühne
2.1.4 SERENDIPITY
2.1.5 Resümee
2.2 Robert Lippok und To Rococo Rot – MUSIC IS A HUNGRY GHOST
2.2.1 Kurzbiografie und Künstlerisches Schaffen
2.2.2 MUSIC IS A HUNGRY GHOST
2.2.3 Einflüsse und Künstlerische Strategien
2.2.4 Analog-digitale Ästhetik
2.2.5 Resümee
2.3 Claire Filmon – 8 MINUTES 8 SECONDS PRECISELY
2.3.1 Der Weg zum Tanz
2.3.2 Der Weg zum eigenen künstlerischen Ausdruck: Komposition in Echtzeit
2.3.3 8 MINUTES 8 SECONDS PRECISELY
2.3.4 Haltungen, künstlerische Strategien und Bezüge
2.3.5 Resümee
2.4 Estella Mare und Pascale Ruppel –
2.4.1 Estella Mare – Kurzbiografie und Zeichnung
2.4.2 ¨gallery – ÄNDERMEER
2.4.3 Pascale Ruppel – Kurzbiografie und Werkgenese
2.4.4 Hybrides kuratorisches Konzept der ¨gallery
2.4.5 Resümee
2.5 Klaus Erich Dietl und Stephanie Müller – THE FABRIC: DO IT TOGETHER
2.5.1 Klaus Erich Dietl und Stephanie Müller – Kurzbiografien
2.5.2 Kollaboration zwischen Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl: DIY/DIT
2.5.3 THE FABRIC: DO IT TOGETHER
2.5.4 Bezüge
2.5.5 Resümee
2.6 Bestandsaufnahme
3. Interrelationale Ästhetik des HOMO CREANS
3.1 Produzent und Kunstwerk
3.1.1 Künstlerischer Schaffensprozess entlang des kreativen Prozesses
3.1.2 Künstlerische Strategien
3.2 Rezipient und Kunstwerk
3.2.1 Rezeption als Kommunikation
3.2.2 Co-Autorschaft und Relationale Kunst
3.2.3 Resümee: Interrelationale Ästhetik des HOMO CREANS
D. KREATIVITÄTSBILDUNG: KOPF, HERZ UND HAND
1. Kreativitätsbildende Ansätze
1.1 Johann Gottfried Herder, Johann Heinrich Pestalozzi und Wilhelm von Humboldt
1.2 Ralph Waldo Emerson und Friedrich Nietzsche
1.3 Maria Montessori und Kurt Hahn
1.4 Kreativitätsförderung und Hemmnisse
1.4.1 Kreativitätsförderung
1.4.2 Hemmende und stützende Faktoren
1.5 Kreativitätspädagogik und BIP
1.6 Ästhetische Bildung
2. Künstlerische Kreativitätsbildung
2.1 Wegbereiter künstlerischer Kreativitätsbildung
2.1.1 Bauhaus
2.1.2 Black Mountain College
2.1.3 Freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung FIU
2.2 Konkrete Ansätze künstlerischer Kreativitätsbildung
2.2.1 Schauspielstudio Gmelin
2.2.2 MuKuNa-Werkstatt e.V
3. Kreativitätsbildung und Kunstpädagogik
3.1 Ästhetische Forschung
3.2 Künstlerische Bildung
4. Resümee: Grundzüge der Kreativitätsbildung
E. KREATIVITÄTSBILDUNG IM KONTEXT TRANSMEDIALER KUNST
1. Pädagogische Maxime
1.1 Sensibilität
1.2 Selbständigkeit
1.3 Genussfähigkeit
1.4 Kommunikationsfähigkeit
1.5 Beziehungsfähigkeit
2. Methodische Maxime
2.1 Präparation – Äußerer Rahmen
2.2 Inkubation – Persönliche Haltungen
2.3 Inspiration – Subjektives Erleben
2.4 Inkarnation – Vernetzte Ressourcen
2.5 Verifikation – Bewertung
3. HOMO CREANS als Heterotopie
4. Landung
Nachgesang – WERK your city
Literatur
Anhang 1: AC
Anhang 2: JF
Anhang 3: RL
Anhang 4: CF
Anhang 5: EM
Anhang 6: PR
Anhang 7: SM/KED
Anhang 8: DTG
Danksagung
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Homo Creans: Kreativität und Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst
 9783839436349

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Johanna Gundula Eder Homo Creans

Image | Band 104

Johanna Gundula Eder (Dr. phil.), geb. 1982, lehrt seit 2010 Kunstpädagogik, Kunstgeschichte und künstlerische Strategien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie unterrichtet zudem an einer Realschule und ist freie Kunstvermittlerin an Münchner Museen. 2006 wurde sie als »Nachwuchskünstlerin« auf der International Competition of Visual Arts Budapest ausgezeichnet.

Johanna Gundula Eder

Homo Creans Kreativität und Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst

Beim vorliegenden Band handelt es sich um die überarbeitete Fassung der im Jahr 2013 zugelassenen Dissertationsschrift der Verfasserin am Department Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Main Entrance To Voluptousness, Johanna Gundula Eder, München, 2011 Lektorat: Wanda Theobald Korrektorat: Edith Eder Satz: Johanna Gundula Eder Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3634-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3634-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. oder »Alle spiegeln einander oder lassen in sich Andere durchscheinen.« HAN 2005, S. 49.

Inhalt A V ERORTUNG DES HOMO CREANS

| 13

Was bedeutet der Begriff Kreativität? | 13 Wie wird Kreativität definiert? | 14 Welche Arten von Kreativität gibt es? | 14 Wie wird Kreativität gegenwärtig verstanden? | 15 1 »Stadt-Land-Fluss« des HOMO CREANS | 21

1.1 Stadt: Vernetzungen, Transformationen und Entgrenzungen | 22 1.1.1 Mediale Vernetzungen | 24 1.1.2 Kulturelle Transformationen | 25 1.1.3 Entgrenzte Identitäten | 29 1.1.4 Transmediale Kunst | 33 1.2 Land: Forschungsfeld und Zielsetzung | 39 1.2.1 Kunstpädagogik im Kontext transdisziplinärer Entgrenzungen | 39 1.2.2 Aktuelle Anforderungen | 41 1.2.3 Zielsetzung von HOMO CREANS | 42 1.3 Fluss: Transdisziplinäre Forschungsmethode und Aufbau des Buches | 42 1.3.1 Artistic Research | 43 1.3.2 Metaphorisches Leitthema: Kartierung des Netzwerks der Kreativität | 47 1.3.3 Aufbau des Buches | 47 2 H OMO C REANS : Schöpferische Ursprünge – Ursprünge des Schöpferischen | 51

2.1 Künstlerische Ursprünge | 51 2.1.1 Erste künstlerische Objekte | 52 2.1.2 Höhlenmalerei | 55 2.2 Mythologische Ursprünge der Schöpfung | 57 2.2.1 Gilgamesch-Epos | 57 2.2.2 Altes Ägypten | 58 2.2.3 Altes China | 59 2.2.4 Griechische und Römische Antike | 59 2.2.5 Christlicher Schöpfergott – die Dreifaltigkeit | 62 3 Der künstlerische H OMO C REANS | 69

3.1 Mythologische Ursprünge der Kunst und des Künstlers | 69

3.2 Erste Kunsttheorien | 71 3.2.1 Narziss | 71 3.2.2 Griechische Philosophie: Daimonion, Mimesis und Katharsis | 76 3.2.3 Christliche Logos-Ästhetik | 79 3.3 Künstlerstereotype | 80 3.3.1 Melancholiker | 80 3.3.2 Uomo Universale | 82 3.3.3 Genie | 83 3.3.4 Flaneur und Bohemien | 86 3.3.5 Die kreative Klasse – eine Synthese von Kunst und Leben | 87

B KONJUNKTION DES HOMO CREANS

| 91

1 Grundlagen der Kreativität: Spielerische Lernprozesse | 93 1.1 Kindheit | 93 1.1.1 Fundament des Lebens | 93 1.1.2 Kinderbildnerei | 94 1.2 Spiel | 96 1.2.1 Friedrich Schillers Spieltrieb | 96 1.2.2 Johan Huizingas Homo Ludens | 97 1.2.3 Phänomenologie des Spiels | 97 1.3 Lernen | 99 1.3.1 Hirnareale | 99 1.3.2 Neurobiologie des Lernens | 102 1.3.3 Wahrnehmung als Spiegelung | 103 1.3.4 Lernen aus Ästhetischer Erfahrung – Wahrnehmung, Erkenntnis und Wissenserwerb | 105 1.3.5 Lernen und Schlaf | 108 1.3.6 Gedächtniskategorien | 109 1.3.7 Emotionale und motivationale Aspekte des Lernens | 110 1.3.8 Lernmodelle: Behaviorismus, Kognitivismus, Konstruktivismus | 111 1.3.9 Erfahrungsbasierter Lernzyklus und Lerntypen nach David Kolb | 112 2 Kreativer Prozess | 115

2.1 Präparation | 116 2.2 Inkubation | 118 2.3 Inspiration | 120 2.3.1 Kreativität und Schlaf | 121 2.3.2 Der schöpferische Sprung und der Flow | 123 2.3.3 Flow als ekstatischer Rauschzustand | 125 2.3.4 Neurobiologie des Flow | 129

2.3.5 Exogener Rausch und Sucht | 130 2.4 Inkarnation | 133 2.5 Verifikation | 134 2.5.1 Kreatives Produkt | 134 2.5.2 Kreativitätstests | 135 3 Menschenbild des H OMO C REANS | 141 3.1 Kreative Persönlichkeitseigenschaften des HOMO CREANS | 141 3.1.1 Kreativität und Intelligenz | 142 3.1.2 Resilienz-Potenzial der Kreativität | 143 3.2 Extremformen kreativer Persönlichkeiten | 145 3.2.1 Narzissmus und Narzisstische Persönlichkeitsstörung | 146 3.2.2 Peter-Pan-Syndrom, Puer aeternus bzw. Puella aeterna | 147 3.2.3 Bipolare Affektstörungen | 148 3.2.4 Schizophrenie – Schizoide Persönlichkeitsstörung | 149 3.3 Kulturkonstituierende Aspekte der Kreativität | 151 3.3.1 Kreativität und Kultur | 151 3.3.2 Kreativität und Ethik | 151

C KÜNSTLERISCHE KREATIVITÄT

| 153

1 Wegbereiter der transmedial entgrenzten Kunst des 20. Jahrhunderts | 155

1.1 Marcel Duchamp – DIE BRAUT VON IHREN JUNGGESELLEN NACKT ENTBLÖSST, SOGAR | 156 1.1.1 Kurzbiografie und Lebensumstände | 156 1.1.2 Frühwerke | 157 1.1.3 DIE BRAUT VON IHREN JUNGGESELLEN NACKT ENTBLÖSST, SOGAR | 162 1.1.4 Bezüge und Verweise | 168 1.1.5 Resümee | 184 1.2 John Cage und Merce Cunningham | 189 1.2.1 Merce Cunningham und John Cage – Kurzbiografien | 189 1.2.2 Entgrenzung der Komposition – Entgrenzung der Choreografie | 192 1.2.3 Kollaboration zwischen John Cage und Merce Cunningham – UNTITLED EVENT | 196 1.2.4 John Cage – Transmediale Werke | 200 1.2.5 Resümee | 205 1.3 Glenn Gould – THE IDEA OF NORTH | 208 1.3.1 Kurzbiografie und Frühwerke | 209 1.3.2 Neue Kunstform Studioaufnahme | 215 1.3.3 THE IDEA OF NORTH | 217

1.3.4 Bezüge | 219 1.3.5 Resümee | 223 1.4 Joseph Beuys – ZEIGE DEINE WUNDE | 226 1.4.1 Kurzbiografie | 226 1.4.2 Prägungen: SONNENKREUZ, Krise, Lehrer, Vernetzung zu Marcel Duchamp und John Cage | 228 1.4.3 Z EIGE DEINE WUNDE | 232 1.4.4 Bezüge und Verweise: Erweiterter Kunstbegriff und Soziale Plastik | 235 1.4.5Resümee | 247 1.5 Bestandsaufnahme | 249 2 Fallbeispiele der Gegenwartskunst | 251

2.1 Alex Czinke und Julia Fehenberger – SERENDIPITY | 252 2.1.1 Alex Czinke – Kurzbiografie und Schlüsselerlebnisse | 253 2.1.2 Julia Fehenberger – Kurzbiografie und Schlüsselerlebnisse | 257 2.1.3 Musikalisch-kreativer Ansatz in der Komposition und auf der Bühne | 258 2.1.4 SERENDIPITY | 268 2.1.5 Resümee | 272 2.2 Robert Lippok und To Rococo Rot – MUSIC IS A HUNGRY GHOST | 273 2.2.1 Kurzbiografie und Künstlerisches Schaffen | 273 2.2.2 MUSIC IS A HUNGRY GHOST | 277 2.2.3 Einflüsse und Künstlerische Strategien | 279 2.2.4 Analog-digitale Ästhetik | 281 2.2.5 Resümee | 283 2.3 Claire Filmon – 8 MINUTES 8 SECONDS PRECISELY | 283 2.3.1 Der Weg zum Tanz | 284 2.3.2 Der Weg zum eigenen künstlerischen Ausdruck: Komposition in Echtzeit | 284 2.3.3 8 MINUTES 8 SECONDS PRECISELY | 286 2.3.4 Haltungen, künstlerische Strategien und Bezüge | 289 2.3.5 Resümee | 291 2.4 Estella Mare und Pascale Ruppel – ¨gallery | 293 2.4.1 Estella Mare – Kurzbiografie und Zeichnung | 293 2.4.2 ¨gallery – ÄNDERMEER | 296 2.4.3 Pascale Ruppel – Kurzbiografie und Werkgenese | 299 2.4.4 Hybrides kuratorisches Konzept der ¨gallery | 307 2.4.5 Resümee | 309 2.5 Klaus Erich Dietl und Stephanie Müller – THE FABRIC: DO IT TOGETHER | 310 2.5.1 Klaus Erich Dietl und Stephanie Müller – Kurzbiografien | 310

2.5.2 Kollaboration zwischen Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl: DIY/DIT | 314 2.5.3 THE FABRIC: DO IT TOGETHER | 315 2.5.4 Bezüge | 319 2.5.5 Resümee | 320 2.6 Bestandsaufnahme | 321 3 Interrelationale Ästhetik des H OMO C REANS | 325

3.1 Produzent und Kunstwerk | 325 3.1.1 Künstlerischer Schaffensprozess entlang des kreativen Prozesses | 325 3.1.2 Künstlerische Strategien | 327 3.2 Rezipient und Kunstwerk | 329 3.2.1 Rezeption als Kommunikation | 330 3.2.2 Co-Autorschaft und Relationale Kunst | 331 3.2.3 Resümee: Interrelationale Ästhetik des HOMO CREANS | 332

D KREATIVITÄTSBILDUNG : KOPF, HERZ UND HAND

| 335

1 Kreativitätsbildende Ansätze | 337

1.1 Johann Gottfried Herder, Johann Heinrich Pestalozzi und Wilhelm von Humboldt | 337 1.2 Ralph Waldo Emerson und Friedrich Nietzsche | 338 1.3 Maria Montessori und Kurt Hahn | 339 1.4 Kreativitätsförderung und Hemmnisse | 340 1.4.1 Kreativitätsförderung | 340 1.4.2 Hemmende und stützende Faktoren | 342 1.5 Kreativitätspädagogik und BIP | 343 1.6 Ästhetische Bildung | 344 2 Künstlerische Kreativitätsbildung | 347

2.1 Wegbereiter künstlerischer Kreativitätsbildung | 347 2.1.1 Bauhaus | 347 2.1.2 Black Mountain College | 351 2.1.3 Freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung FIU | 352 2.2 Konkrete Ansätze künstlerischer Kreativitätsbildung | 355 2.2.1 Schauspielstudio Gmelin | 355 2.2.2 MuKuNa-Werkstatt e.V. | 361 3 Kreativitätsbildung und Kunstpädagogik | 365

3.1 Ästhetische Forschung | 366 3.2 Künstlerische Bildung | 367

4 Resümee: Grundzüge der Kreativitätsbildung | 369

E KREATIVITÄTSBILDUNG IM KONTEXT TRANSMEDIALER KUNST | 373 1 Pädagogische Maxime | 377

1.1 Sensibilität | 380 1.2 Selbständigkeit | 380 1.3 Genussfähigkeit | 381 1.4 Kommunikationsfähigkeit | 381 1.5 Beziehungsfähigkeit | 382 2 Methodische Maxime | 385

2.1 Präparation – Äußerer Rahmen | 386 2.2 Inkubation – Persönliche Haltungen | 387 2.3 Inspiration – Subjektives Erleben | 388 2.4 Inkarnation – Vernetzte Ressourcen | 389 2.5 Verifikation – Bewertung | 389 3 H OMO C REANS als Heterotopie | 391 4 Landung | 393 Nachgesang – WERK your city | 395 Literatur | 397 Anhang Anhang Anhang Anhang Anhang Anhang Anhang Anhang

1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8:

AC | 415 JF | 436 RL | 451 CF | 465 EM | 476 PR | 490 SM/KED | 509 DTG | 538

Danksagung | 547

A VERORTUNG DES HOMO CREANS

Die Frage nach der menschlichen Fähigkeit, Leben zu gestalten, beschäftigte Menschen zu allen Zeiten. Der anthropologische Kernbegriff der Kreativität gilt als zentrales Wesensmerkmal des Menschen1, als Inbegriff des Schöpferischen und der menschlichen Kultur, der komplexes Wissen generieren kann. Vielfältige Positionen fächern den Kreativitätsbegriff auf. Zunächst sollen vier Schritte deutlicher machen, wie Kreativität gegenwärtig verstanden wird. Was bedeutet der Begriff Kreativität? Der Begriff leitet sich von dem lateinischen Verb creare – (er-)schaffen, hervorbringen, ins Leben rufen, bewirken, (er-)zeugen, gebären2 ab. Auch Nebenbedeutungen sind erwähnenswert: auswählen, aus einer großen Fülle herausnehmen, schöpfen – z.B. aus einem Fluss oder Brunnen.3 Das Substantiv creator steht für Schöpfer oder Erzeuger. Creativitas meint die Haltung4, Absicht und Fähigkeit zu schöpferischen Denkprozessen und Gefühlen, innovativen Vorstellungen und Ideen. Die Schöpfung creatio ist sowohl Grundlage als auch Produkt der Kreativität: die genuine Schöpfung und die daraus entstehende Schöpfung des Menschen. Demnach lässt sich Homo Creans5 – in Anlehnung an Johan Huizingas Homo Ludens6 – sinngemäß mit Schöpferischer Mensch übersetzen.

1

Diese Arbeit verwendet das generische Maskulinum und meint damit den Menschen an sich, also Frauen, Männer und Intersexuelle gleichermaßen.

2 3

Vgl. PONS Online Wörterbuch. Vgl. Gratzer, Wolfgang: Musikalische Interpretation als kreative Handlung, in: Hofmann 2007, S. 30.

4

Gesinnung, »Sinnesweise, Willenshabitus, dauernde Willensrichtung, die Motivation des Handelns in ethischer Hinsicht, die gefühlsbetonten Vorstellungen, aus denen der Wille entspringt.« Eisler 1904, S. 383.

5

Bei meiner Recherche bemerkte ich, dass dieser von mir selbst entwickelte Terminus bereits in einem völlig anderen Zusammenhang existiert: der Begriff Homo Creans wird be-

14 | HOMO CREANS

Wie wird Kreativität definiert? G. Schröter (1985) beschreibt Kreativität als Fähigkeit, von herkömmlichen Denkschemata abzuweichen und dabei ungewöhnliche Ideen und Einfälle zu produzieren.7 Anders als bei routinierten Handlungen gehe es vielmehr darum, Handlungsmuster, Normen und Rituale zu reflektieren und zu überwinden, so Karl-Heinz Brodbeck (2010).8 Kreativität bündle imaginatives, entdeckendes, erfinderisches, spontanes, schöpferisches Denken und Gestalten, das dem Menschen zu originellen, neuartigen Leistungen und Werken verhelfe und so zum Fortschritt der Kultur beitragen könne.9 Robert Sternberg unterscheidet drei Komponenten der Kreativität 10: • Intelligenz • Persönlichkeit (motivationale Antriebsaspekte) • Stil (Überschreiten gedanklicher Grenzen, Bilden neuer gedanklicher Strukturen)

In seiner interdisziplinären, dialektischen Kreativitätstheorie11 stellt Rainer Matthias Holm-Hadulla die Neukombination von Informationen als bipolare Dynamik zwischen Schöpfung und Zerstörung heraus, als krisenhaften Schwellenzustand mit der Notwendigkeit und dem Potenzial der Gestaltung. Welche Arten von Kreativität gibt es? Hans Glöckel definiert drei Arten von Kreativität: • Gedankliche Kreativität erkenne, erforsche und löse Probleme in Wissenschaft

und Technik, Wirtschaft und Politik.

reits gebraucht im Buch TGAC. What future lies hidden in your DNA? Darin entwirft die amerikanische Autorin Sue Man eine abstruse Utopie bzw. Dystopie des Menschen der Zukunft, der allein durch Willenskraft und analog zur Dynamik des Schwarms die zielgerichtete Mutation seiner Gene provozieren könne und sich damit selbstständig biologisch weiterentwickle. Die Autorin macht nicht klar, ob es sich um eine unterhaltsame Fiktion oder um ein ernst gemeintes Gedankenspiel handelt. Ich distanziere mich von diesem kontextuellen Gebrauch des Begriffes Homo Creans. Vgl. Man 2008. 6

Aufgrund der zentralen Bedeutung des Spiels für die Kreativität. Vgl. Huizinga 2006.

7

Vgl. G. Schröter zitiert in: Seibert/Serve 1992, S. 134.

8

Vgl. Brodbeck, Karl-Heinz: Entscheidung zur Kreativität. Wege aus dem Labyrinth der Gewohnheiten, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, vgl. Gratzer in: Hofmann 2007, S. 30.

9

Vgl. Beer zitiert in: Seibert/Serve 1992, S. 134.

10 Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 14. 11 Vgl. Holm-Hadulla 2011.

A V ERORTUNG

DES

HOMO CREANS

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• Schaffende Kreativität bewältige alltägliche und gesellschaftliche Aufgaben. 12 • Gestaltende Kreativität bewege das Kulturverständnis und die Künste.

Kreativität ist also die ganzheitliche (geistig, körperlich und gefühlsmäßig) produktive Begabung des Menschen. Sie wird in allen Lebensbereichen benötigt und kann die Persönlichkeit stabilisieren13. Als besonders komplexer Lernprozess ist sie eine Sonderform des Problemlösens (vgl. Kapitel B 1 und B 2), bei dem sowohl der Weg zum Ziel als auch das Ziel selbst offen sein können. Der vernetzende Gebrauch der eigenen Fähigkeiten schafft Neues nach dem Prinzip der Emergenz14: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.15 Zu ergänzen ist das Phänomen der Co-Kreativität16, eines systemischen Gestaltungsprozesses in Wechselwirkung mit der Wirklichkeit. Denn als systemischer Prozess beeinflusst Kreativität die Haltung von Menschen und Gesellschaft und hinterfragt bestehende Ordnungssysteme. Eine Gesellschaftsform lässt sich daran messen, ob und wie viel Kreativität in ihr entstehen kann, geduldet und mitgetragen wird.17 Wie wird Kreativität gegenwärtig verstanden? Das Schöpferische galt Jahrhunderte lang als metaphysisches Wunder (vgl. Kapitel A 2 und A 3). Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird das Schöpferische als ökonomische Ressource angesehen. Die Bundesrepublik Deutschland preist sich in einer Kampagne als das »Land der Ideen«.18 Das Jahr 2009 war das Europäische Jahr der Kreativität und Innovation. Es gibt zahllose Publikationen zu Kreativität in den unterschiedlichsten Wissenschaften und Sparten: im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Diskurs bis hin zu populärwissenschaftlichen Lebensratge-

12 Vgl. Hans Glöckel in: Seibert/Serve 1992, S. 135. 13 Hinsichtlich Selbstverwirklichung, Selbständigkeit, Kommunikationsfähigkeit, emotionaler und sozialer Kompetenzen wie Vernetzungsfähigkeit. 14 Der Begriff »bezeichnet das Auftreten einer qualitativ neuen Ordnungsebene, deren Eigenschaften nicht aus den Eigenschaften des materiellen und energetischen Unterbaus erklärt werden können.« Kneer/Nassehi 1994, S. 64. 15 Frei nach Aristoteles: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile; vgl. Aristoteles: Metaphysik, Buch 8.6. 1045a: Vers 8-10. 16 Er ist nicht zu verwechseln mit Heinrich Rombachs Begriff der Konkreativität. Vgl. Rombach 1994. 17 Vgl. Dercon, Chris: Das Künstlerprekariat sitzt in der Falle, in: Monopol. Magazin für Kunst und Leben, 19.07.2010, http://www.monopol-magazin.de/%E2%80%9Edask %C3%BCnstlerprekariat-sitzt-der-falle%E2%80%9C (03.11.2015). 18 http://www.land-der-ideen.de/ (10.02.2013).

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bern. Im Arbeitsleben sollen Kreativitätstechniken die Effektivität, Innovationskraft und Zusammenarbeit stärken.19 Im Privatleben sollen sie verfügbares Glück und individuelle Selbstverwirklichung garantieren. Die innovative Produktivität des Schöpferischen wird zweckorientiert instrumentalisiert. Deshalb versteht der reformpädagogisch ausgerichtete Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig (1998)20 den Kreativitätsbegriff als ein aufgeladenes Heilswort des Wirtschaftsliberalismus. Er mache den Menschen zum Unternehmer seiner selbst, in einer Trias von Leistung, Kreativität und Eigenverantwortung.21 An eigentlicher Kreativität sei ihm nicht gelegen, da sie unkontrollierbar sei. Das Bildungssystem passe sich den Forderungen der Wirtschaft an und richte sich zunehmend auf die neuen Technologien aus – mit dem Ziel, Spitzenleistungen in Forschung und Technik zu gewährleisten, um Deutschlands Innovationskraft und Wettbewerbsstärke zu sichern. Folglich gebe das Bildungssystem seine Ausrichtung auf kulturelle bzw. ästhetische Bildung und seinen Anspruch auf eine Entfaltung der freien, kreativen Persönlichkeit preis. Zweckorientierung, Bevormundung und Zensur verschütteten daher die Chance auf mündige Entwicklung, die jede Gesellschaft benötige, um nicht anfällig für Ideologien zu werden. Deshalb hegt von Hentig skeptische Sympathie gegenüber der künstlerischen Kreativitätsbildung, die nicht im Dienst eines herrschenden Systems stehe. Er spricht ihr sogar eine korrigierende, erneuernde Funktion in der Gesellschaft zu.22 Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz hingegen diagnostiziert der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft ein Kreativitätsdispositiv im

19 Vgl. http://www.creaffective.de/de/trainings/offene-trainings/ (03.11.2015). 20 Von Hentig 1998. Hinsichtlich kreativer Zusammenhänge hat von Hentig tendenziell ein verkürztes Verständnis, was seinem ideologiekritischen, bildungsidealistischen Anliegen abträglich sein kann. Hartmut von Hentig steht mutmaßlich indirekt im Zusammenhang mit den Missbrauchsvorkommnissen der reformpädagogischen Odenwaldschule und ist entsprechend kritisch zu sehen. 21 Er rationalisiere und unterdrücke Spontaneität, Irregularität und damit Humanität, um das Primat von Ökonomie und Ordnung einzuhalten. 22 »Wagnis und Sensibilität, Ironie und Spiel, Bereitschaft zu unkonventionellen Lösungen und Konsens – diese Elemente der Kunst – sind […] die Tugenden, ohne die […die funktionalisierte Welt] nicht funktionieren würde.« von Hentig 1998, S.45. Die Bildung durch Kunst ordnet er dem Erfahrungsbereich »Wahrnehmen und Gestalten« zu. Dieser solle ein Fünftel der Schulzeit einnehmen und den gleichen Rang haben, wie andere Bildungsinhalte. (»…hier geht es um die Übung der aisthesis […], die Lust, den Ernst und das Wagnis des Sehens und Hörens, des Erprobens, des Simulierens, des spielerischen Verwandelns und […] des kontrollierten Hervorbringens von Wirkungen.«) von Hentig 1998, S.42/43.

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Spannungsfeld zwischen Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ. 23 Es bezieht sich nicht nur auf das Herstellen von neuen Dingen, sondern auch auf die Gestaltung des Individuums selbst. Das heterogene Kreativitätsideal, eingesickert in Arbeits-, Konsum- und Beziehungsformen, setze sich aus vier affektiv-sinnlichen Komponenten zusammen: • Die kreative Tätigkeit im Beruf und im Privaten umfasst den gesamten Lebens-

stil, verheißt Enthusiasmus und Befriedigung durch scheinbare Unabhängigkeit. • Die zweckfreie ästhetische Erfahrung verspricht Freiheit von der Notwendigkeit. • Das Kreativsubjekt zieht durch seine expressive Individualität positive Aufmerk-

samkeit auf sich. • Kreative Räume, insbesondere die Stadt, wirken anziehend und anregend.

In der Machtstruktur des Kreativitätsdispositivs sei das Schöpferische universalisiert. Künstlerische Kreativität sei ins Soziale entgrenzt und relativiere die privilegierte Stellung der Kunst. Der Künstlerbegriff fungiere als soziales Modell. 24 Kreativität werde verknüpft mit den scheinbar unbeschränkt positiven Emotionen des Gestaltens, Erlebens, Bewunderns und Anregens, des Könnens und Dürfens. Kehrseiten seien Leistungszwang und eine Diskrepanz zum Kreativerfolg. Strategien wie diese sollen das Kreativitätsdispositiv in Balance bringen: 25

23 Vgl. Reckwitz 2013. 24 Vgl. Knoblich, Tobias J.: Kreativitätsdispositiv oder drohender »Kreativinfarkt«? Überlegungen zu Andreas Reckwitz’ »Die Erfindung der Kreativität«, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 141, II/2013, S. 39-41. 25 Vgl. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 141, II/2013, S. 23-34.

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• Profane Kreativität • Skepsis gegenüber dem Mythos des Neuen und der Innovation durch eine Wie-

dergewinnung der Dauer und Rehabilitierung der Wiederholung. Kreativität – ein idealisierter, strategisch codierter, missbrauchbarer oder gar ideologischer Begriff? Dabei ist der kreative Prozess zunächst wertfrei. Er umfasst Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, Selbstgestaltung und Weltgestaltung, Haltungen und Persönlichkeitseigenschaften des kreativen Protagonisten, ein kreatives Umfeld, den Ablauf des kreativen Prozesses, den Umgang mit dem kreativen Produkt, seine Rezeption und Weiterentwicklung. Tatsächlich beschreibt Kreativität weniger einen Innovationsmechanismus, als vielmehr eine grundsätzliche Lebenshaltung27. Der Schlüsselmoment bzw. Katalysator des kreativen Prozesses ist der Flow als bipolares Entgrenzungserlebnis, eine ästhetische Erfahrung bis hin zum orgasmischen Rausch, der gleichsam die Lust schürt und den Menschen antreibt, immer neue

26 »Wenn Kreativität bedeutet, dass etwas ästhetisch Neues verfertigt wird, gibt es keinen Grund, sie zwangsläufig an eine Konstellation zu binden, in der ein Produzent dieses Neue vor einem und für ein Publikum verfertigt, um dessen Aufmerksamkeit er ringt. Einer Vorstellung von Kreativität, die sich vom Publikum, vom Vergleich und von der Steigerung emanzipiert, ginge es hingegen um das, was man »profane Kreativität« nennen kann. Anders als das heroische Modell der Kreativität, das vom Ideal des Künstlers ausgeht, bezeichnet die profane Kreativität ein Phänomen, das sich in den alltäglichen Praktiken und Netzwerken immer schon ergibt und dabei auf kein Publikum angewiesen ist. Die profane Kreativität findet sich in der Alltäglichkeit individueller, scheinbar banaler Verrichtungen, die ganz ohne Zuschauer auskommen, wie auch in der intersubjektiven Praxis. Entscheidend für Letztere ist, dass es hier keine Trennung von Produzenten und Publikum gibt, sondern nur Teilnehmer und Mitspieler. Löst man die kreative Praxis von der Beurteilung durch ein externes Publikum, dann genügt es, dass sie von den Teilnehmern selbst als neu und anders empfunden wird. Für die profane Kreativität gilt, dass sie eine lokale, eine situative kreative Praxis ist: ob es um urban gardening oder gemeinsames Spiel, um Musizieren gemeinsam oder allein geht: Wenn kreative Praxis eine moderne Verheißung war und ist, dann bezieht sie sich auf ein Tun, in dem gerade kein Publikum über Wert oder Minderwert entscheidet.« Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität, in: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 141, II/2013, S. 31. 27 Haltung bzw. Gesinnung oder Einstellung bezeichnet in der Psychologie die aus der Erfahrung kommende Bereitschaft, in bestimmter Weise auf eine Person, eine soziale Gruppe, ein Objekt, eine Situation oder eine Vorstellung wertend zu reagieren, was sich im kognitiven (Annahmen und Überzeugungen), affektiven (Gefühle und Emotionen) und behavioralen (Verhaltensweisen) Bereich ausdrücken kann. Vgl. Gerrig/Zimbardo 2008, S. 642-646.

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Flows zu erleben, die aber auch in Abhängigkeiten und Lethargien führen kann. Eine kreative Persönlichkeit kann zudem bis ins Psychopathologische übersteigert sein. Das vorliegende Buch zielt deshalb auf einen verantwortungsbewussten, mündigen Umgang mit dieser menschlichen Grundkompetenz. Die Autorin vertritt die Haltung, dass ein differenziertes Kreativitätsverständnis und Kreativitätsbildung gerade heute – gerade auch im Feld der Kunstpädagogik – notwendig sind, da eine unkritische Kreativitätseuphorie naiv und sogar gefährlich wäre.

1 »Stadt-Land-Fluss« des Homo Creans

Zunächst spannt ein kleines »Stadt-Land-Fluss« Spiel das Territorium des HOMO CREANS auf. Der Titel dieses Wissensspiels steht hier metaphorisch für die Kartierung grundlegender Begriffslandschaften der Gegenwart. Was besagt die Metapher der Kartierung? Eine Karte erklärt das Wissen über Zustände, Wegstrecken, Orientierungspunkte und Beziehungsachsen. Kartierende bzw. kartografierende Landnahme als Form der Wissensgenerierung beginnt mit der subjektiven sinnlichen Erfahrung, dem Staunen, dem Fragen, dem Sammeln, Ordnen und Systematisieren. Eine Karte bannt die Erfahrung der multidimensionalen, mulitperspektivischen, rhizomatisch vernetzten Welt in ein reflektiertes Modell. Sie spannt ein Territorium auf, indem sie abstrakte Zeichen, symbolische Chiffren und verdichtende Maßstäbe findet. Die Virtualität der beschreibenden Zeichen wird sogar zum Ersatz des Territoriums. Das macht sie zu einem »Diagramm der Idee«1, bzw. einer Utopie der Welt. Es ist unmöglich, alle Details der Realität bis in die Mikroebene messtechnisch zu erfassen und zu speichern. Welches Dilemma die Leidenschaft für die Kartierung einer Stadt nach sich ziehen kann, davon erzählt das Münchner Stadtmodell2 des Johann Baptist Seitz (1786-1850), der der Utopie der genauen Wiedergabe unterlag.3 Eine weitere Metapher wissenschaftlicher Hybris ist die Karte im Maß-

1

Marcel Duchamp zitiert durch: Buci-Glucksmann 1997.

2

Ausgestellt im Bayerischen Nationalmuseum.

3

»Dem 1839 König Ludwig I. den Vorschlag unterbreitet hat, ein neues Relief der Hauptund Residenzstadt München in ihrem gegenwärtigen Zustand anzufertigen. Er verlangt 6.000 Gulden für drei Jahre Arbeit. Sieben Jahre später ist er immer noch nicht fertig und sagt eine Beendigung im Lauf der nächsten zwei Jahre zu. Doch zu diesem Zeitpunkt war Seitz die Aufgabe längst über den Kopf gewachsen. Er war verschuldet, hatte sämtliche Bauteile an über ein Dutzend Gläubiger verpfändet und sich ein Brustleiden zugezogen, wie er schreibt durch das Einatmen des feinen Holzstaubs und durch häufiges Erhitzen und schnelle Abkühlung des Bürgers bei Besteigung der höchsten Gebäude. 1850 stirbt Seitz 64-jährig. Sein Sohn Franz macht weiter, verliert aber schnell das Interesse, ehe der

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stab 1:1.4 Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986) erzählt in seiner Kurzgeschichte DEL RIGOR EN LA CIENCIA (1960) von einem Landvermessungsprozess, an dessen Ende die Karte so groß wie das Land selbst ist.5 Kontrastiv dazu steht das Modell einer völlig leeren Karte, einem imaginären Territorium zwischen Sein und Nichtsein – z.B. in Lewis Carrolls Nonsensballade THE HUNTING OF 6 THE SNARK (AN AGONY IN EIGHT FITS) (1876) . In der folgenden Kartierung symbolisiert die Metapher der Stadt transformatorische Kontexte der zeitgenössischen westlichen Lebenswelt. Land präsentiert das Forschungsfeld und die Zielsetzung. Fluss stellt den Verlauf des vorliegenden Buches dar.

1.1 S TADT : V ERNETZUNGEN , T RANSFORMATIONEN UND E NTGRENZUNGEN Eine Stadt ist ein hybrider Beziehungsraum. Ein urbanes System ist ein aufeinander abgestimmter, interdependenter Organismus. Alles steht miteinander in Beziehung,

Bildhauer Anselm Sickinger das 6 m große Modell 1863 vollendet. Der Held dieser Stadtgeschichte ist natürlich der alte Seitz, der an seiner Detailwut zugrunde gegangen ist. An dem Wahn, nicht nur die Hauptgebäude erhaben und vertieft darzustellen, sondern die Stadt bis in den letzten Hinterhof so genau wie möglich abzubilden.« Vgl. Filmessay München – Geheimnisse einer Stadt (D 2000; R: Michael Althen und Dominik Graf). 4

Sie taucht erstmals 1893 im Roman Sylvie and Bruno Concluded des britischen Schriftstellers Lewis Carroll (1832–1898) auf. Ein Fremder namens Mein Herr berichtet, dass diese Karte in seinem Land nur selten benutzt worden sei, da die Bauern gegen das Auffalten protestiert hätten. Stattdessen benutze man das Land selbst als Karte. Vgl. Carroll 1899.

5

Span.: Von der Strenge der Wissenschaft, Kurzgeschichte in: Borges 2005. Auch der italienische Philosoph Umberto Eco erörtert in seinem Aufsatz Die Karte des Reiches im Maßstab 1 : 1 (Teil seines Diario minimo, 1963) in humorvollem wissenschaftlichem Duktus die praktische Umsetzung einer solchen Karte: »Eine Karte im Maßstab 1 : 1 gibt das Territorium immer nur ungenau wieder. […] Das Reich wird im selben Moment, in dem man seine Karte erstellt, undarstellbar. […] Jede Karte im Maßstab 1 : 1 besiegelt das Ende des Reiches als solches und wäre mithin die Karte eines Territoriums, das kein Reich mehr ist.« Vgl. Eco 1993, S. 101.

6

Engl.: Die Jagd auf den Snark – eine Agonie in acht Anfällen. Diese erzählt von einer Jagd-Expedition nach dem mysteriösen Wesen namens Snark, die auf einer völlig leeren Meereskarte basiert. Snark sei »eine Allegorie für das Streben nach Glück.« (Lewis Carol 1897 in einem Brief, ein Jahr vor seinem Tod). Vgl. Reichert 1982, S. 148/149.

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ist ständig in Bewegung und im Wandel. Oft fließt ein Fluss durch die Stadt und vernetzt sie mit anderen Gegenden des Landes. Eine solche Stadt ist ein Netzwerk, ein Kontaktraum und Lebensraum, Resonanzraum und Stauraum, ein Schauplatz und Spielplatz, ein Ort der Erkundung und der Erschließung, der Gestaltung und der Kulturentwicklung in all ihren Dimensionen. Die Stadt ist Erfahrungsfeld von Gemeinschaft sowie öffentlicher Raum verantwortungsvoller Mitgestaltung. Die Stadt ist der Ort der Kreativität – des Einzelnen und der Gesellschaft.7 Das experimentierfreudig poetische Filmessay München – Geheimnisse einer Stadt (2000) von Michael Althen und Dominik Graf portraitiert die Stadt als ein Kaleidoskop aus Sehnsüchten und Geschichten. Folgendes Filmzitat fasst die Stadt als Metapher für die Grundcharakteristika der Kreativität zusammen: »Dies ist München. Aber es könnte auch jede andere Stadt sein, die groß genug ist zu zeigen, wie die Lebensgeschichte jedes einzelnen verstrickt ist in die Geschichte eines Ortes. Wie sich das Persönliche und das Anonyme dort ineinander schieben und ergänzen und wie die Tausenden von Geschichten auch so etwas wie eine Biografie dieser Stadt ergeben. Ob man will oder nicht, so trägt jeder seine innere Stadt in sich. Und wie beim Baum würde ein Schnitt Altersringe sichtbar machen, die sozusagen abbilden, wie die Stadt in uns allen wächst. Oder anders herum: wie man selbst in die Stadt hineinwächst. […] Die Stadt – das sind erstmal Bilder. Und man kann versuchen, sie zu sammeln […] Der Blick aus großer Entfernung auf die Stadt, in der wir leben […] lässt uns ja immer darauf hoffen, ein Muster zu finden, nach dem sich solche Bilder und unsere Empfindungen ordnen lassen. Aber wahrscheinlich erfahren wir bei unserer Suche nur eines: es gibt eine tiefe Beziehung der topografischen Geheimnisse in der scheinbar vertrauten Umgebung, der Räume unseres Elternhauses, der Straßen und Wege unserer Heimatstadt zu den Geheimnissen unserer Seele und unserer Psyche. Aber wie mögen diese Geheimnisse beschaffen sein?«8

Charakterisiert die Metapher der Stadt als vernetzter Beziehungsraum die zeitgenössische westliche Lebenswelt? Heute ist auch das Leben auf dem Land oder in der Kleinstadt stark vernetzt. Im gegenwärtigen Zeitalter des Internets verkörpert das global village9 ein virtuell ins Globale entgrenztes Konzept der Stadt.

7

Vgl Heßler 2007.

8

Zitat aus dem Filmessay München – Geheimnisse einer Stadt (D 2000; R: Michael Althen und Dominik Graf).

9

Engl.: globales Dorf. Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan thematisiert diesen Begriff bereits 1962 und später im gleichnamigen Buch. Vgl. McLuhan/Powers 1995.

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1.1.1 Mediale Vernetzungen Seit dem vergangenen Jahrhundert provozieren technische Errungenschaften eine exponentielle Entwicklung und haben Kulturen wie Einzelindividuen in einen tiefgreifenden Vernetzungs- und Transformationsprozess geführt. Insbesondere die elektronischen Massenmedien und der damit einhergehende, explosionsartige Wissenszuwachs bestimmen die gegenwärtige Transformation von Welt- und Selbstbild. Der reale, physische Raum wird zunehmend vom unkontrollierbaren Virtuellen durchsetzt bzw. erweitert. In den vergangenen Jahrzehnten hat das Bild die Wortsprache machtvoll abgelöst und sich als einflussreichstes Kommunikationsmedium erwiesen.10 Die weltweite Verbreitung des Intern–t bewirkt sowohl eine symbiotische Abhängigkeit des Menschen von der Technik als auch eine irreversible Vernetzung der Menschen untereinander. Diese mediale Landnahme verändert alle Lebensbereiche. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan (1911-1980) entwirft mit der Idee des global village eine Utopie der Mediengesellschaft. Mit seiner 1967 formulierten zentralen These »The medium is the message«11 legt er den Schwerpunkt auf den medialen Austausch von Botschaften. Die Begegnung und Verknüpfung unterschiedlicher Medien entgrenzt den Medienbegriff hinein in die Intermedialität und Transmedialität12. Der Philosoph Frank Hartmann definiert mediale Kommunikation als das Herstellen von sozialen und kulturellen Beziehungen.13 Ausgehend von der Theorie sozialer Systeme (1984) des Soziologen und Gesellschaftstheoretikers Niklas Luhmann (1927-1998) prognostiziert der Neuropsycho-

10 Man spricht vom Visualistic Turn, Pictorial Turn bzw. Iconic Turn. Vgl. Sachs-Hombach 2009; vgl. Boehm 1994. 11 Ein Medium ist ein kommunikativ vermittelndes Element, das sich bestimmter sinnlich wahrnehmbarer Zeichen bedient. Vgl. McLuhan 1969. 12 Die Begegnung und Verknüpfung unterschiedlicher Medien. Intermedialität ist die additive Koppelung verschiedener, voneinander unabhängiger Medien. Der Transmedialitätsbegriff beschreibt hingegen den Übergang von einer medialen Ausdrucksweise (z.B. zusammengesetzt aus mehreren unterschiedlichen Medien) in eine andere Medialität, die nicht bloß die Addition ihrer einzelnen Komponenten ist, sondern neue, eigenständige Qualitäten entwickelt. Vgl. Meyer et al. 2006, S. 43. 13 Vgl. Hartmann 2003. »Kommunikation ist zwischenmenschliche Beziehung auf der Grundlage gemeinsamer Verständigungssysteme oder anderer, nicht kodifizierter Kommunikationsformen. […] Kommunikation ermöglicht aggressionsfreies Handeln zwischen Individuen, zwischen Individuum und Gruppe und zwischen Gruppen. Kommunikation ist die Grundlage gemeinsamen Handelns.« Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 187.

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loge Peter Kruse14, dass die kollektive Netzverdichtung und erhöhte Komplexität von Beziehungen einen g–sellschaftlichen Paradigmenwechsel provoziere. Um auf diese Komplexität angemessen zu reagieren, müsse man die Intelligenz aller mit ins Spiel bringen. Kollektiv vernetzte Kreativität versteht er als geeignetes Mittel, um Komplexität zu reduzieren und damit Ordnung und Orientierung in der Welt zu schaffen.15 In jedem Fall erzeugen mediale Umbrüche Reflexionsbedarf16 und bedürfen einer tiefgehenden Kompetenz im Umgang mit der heutigen komplexen Informations- und Vernetzungsdichte. 1.1.2 Kulturelle Transformationen Die globale Vernetzung stößt Transformationsprozesse an und führt zu einem kulturellen Austausch zwischen transnationalen Kulturen wie auch Subkulturen. Die ökonomische und mediale Globalisierung17 öffnet die Grenzen einander abgegrenzter Kulturen, destabilisiert, vernetzt und transformiert sie in weltweiten Dimensionen. In der von Roland Robertson beschriebenen Glokalisierung18 sind zwei sich ergänzende Dynamiken auszumachen: globale Öffnung, homogenisierende Vernetzung und Abhängigkeit sowie lokale Heterogenisierung, Abgrenzung und Autonomie. Bereits 1993 beschreibt der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch in seinem Buch ÄSTHETISCHES DENKEN die akute, epochale Umwandlung der westlichen Gesellschaft. Darin skizziert er die Grundcharakteristika der vergangenen Epochen der Moderne und der Postmoderne: eine Einheit, die sich gewandelt habe in ein plurales, fragmentiertes Nebeneinander scheinbar nicht vereinbarer Vielfältigkeiten.19 Der Begriff der Stadt steht heute gleichsam paradigmatisch für eine solche multikulturelle Gesellschaft. Bei der Interkulturalität stehen Kulturen im Dialog bzw. im Austausch miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Die transkulturelle Ge-

14 Zudem Systemtheoretiker und Unternehmensberater, arbeitete 2013 im Rahmen des Forums Gute Führung für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales an einer Studie zum Thema »Gute Führung«. Vgl. http://www.forum-gute-fuehrung.de/ (05.10.2014). 15 Vgl. Kruse, Peter et al. in: Metz-Göckel 2008, S. 71–96. Vgl. Kruse, Peter, Zukunft der Führung: Kompetent, kollektiv oder katastrophal? Vortragscharts vom 18.09.2013 auf der Messe Zukunft Personal in Köln, in : http://www.forum-gute-fuehrung.de/sites/default/ files/Bilder-menu/Zukunft-Personal-Kruse-2013.pdf (22.09.2014). 16 Vgl. Münker 2009. 17 Der Begriff bezieht sich auf die zunehmende weltweite Vernetzung. 18 Vgl. Robertson, Roland: Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Beck 1998. 19 Vgl. Welsch 1993.

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sellschaft20 entstehe, so Welsch, wenn die Begegnung unterschiedlicher Kulturen zur Verwischung bzw. Aufhebung von Grenzen führe. Die separaten Einzelkulturen nähmen sich jedoch nicht gegenseitig ein, sondern kombinierten bzw. integrierten Elemente verschiedener Herkunft.21 Basis einer solchen Kultur sei das Erkennen von Ähnlichkeiten im Fremden. Durch diese Art der Begegnung entstünden neue kulturelle Verknüpfungen und Netzstrukturen, an der alle teilhaben, egal welcher Herkunftskultur.22 Die mit der Globalisierung einhergehenden kulturellen Transformationen führen also zu einer Hybridisierung23 von Kulturen bis hin zu einer rhizomatischen24 Hyperkulturalität25. Der koreanisch-deutsche Philosoph und Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han versteht diese als eine freundliche Kultur der Teilhabe, die nichts ausschließe.26 Hyperkultur sei geprägt von der Transversalität eines Reisenden, der im zeit- und ortlosen Dazwischen, im Transitraum des Hier und Jetzt, zuhause sei. Die Grundstruktur der Hyperkultur gleiche einer Bricolage27.

20 Lat.: trans – darüber hinaus. Das Präfix verweist auf das Überschreiten von Grenzen und das Verbinden von Unvereinbarem. 21 Bilder, Klänge, Vorstellungen, Symbole, Rituale, Bräuche etc. 22 Vgl. Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Darowska/Machold 2009. 23 Lat.: hybrida – etwas Gebündeltes, Gekreuztes oder Gemischtes. Vgl. der vietnamesischdeutsche Politologe Kien Nghi Ha 2005. 24 Griech.: rhizoma – Wurzel. Der philosophische Begriff Rhizom dient als Metapher für die vernetzten Strukturen der Wirklichkeit. Vgl. Deleuze/Guattari 1977. 25 Griech.: hyper – über. Vernetzungen oberhalb üblicher Strukturen. Verschiedene kulturelle Ausdrucksformen lösen sich von ihrem Ursprung, existieren gleichzeitig nebeneinander und vernetzten sich zu einer offenen und entgrenzten Hyperkultur. »Die Kultur […] wird ent-grenzt, ent-schränkt, ent-näht zu einer Hyper-Kultur. Nicht Grenzen, sondern Links und Vernetzungen organisieren den Hyperraum der Kultur« Han 2005. S. 16/17. 26 »Das Fremde weicht dem Neuen.« Han 2005, S. 61. »Wo der gemeinsame Horizont zu unterschiedlichsten Identitäten und Vorstellungen zerfällt, stiftet [die Freundlichkeit] ein singuläres Beteiligtsein« Han 2005, S. 71. 27 Eklektizismus, interdisziplinäre bzw. hyperdisziplinäre Vernetzung, Vorhandenes nehmen und miteinander verknüpfen. Der Begriff Bricolage geht zurück auf Claude LéviStrauss und sein Konzept des Wilden Denkens (1962). Für ihn ist Bricolage die nicht vordefinierte Reorganisation von unmittelbar zur Verfügung Stehendem zu neuen Strukturen. Ein prototypischer Bastler sei der Künstler mit seiner selbst entwickelten Praxis. Den Gegenentwurf bilde der Ingenieur mit seinem theoretischen Wissen. Das Produkt der Bricolage sei ein Objekt der Erkenntnis sowohl für den Produzenten, als auch für den Rezipienten. Im Zusammenhang mit dem Disziplinendiskurs meint Bricolage die Entgren-

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Dieses emergente Kulturphänomen nennt der karibisch-französische Philosoph und Autor Édouard Glissant (1928-2011) Kreolisierung28. Sie verschmelze scheinbar Unvereinbares in kreativer Vitalität zu neuen, eigenständigen, unvorhersehbaren kulturellen Ausdrucksformen. In der achtsamen Bewahrung von Vielfalt und Heterogenität stünden Beziehungen und Prozesse im Vordergrund. Da Globalisierung alle Kulturen zur Kollision bringe und Universalität lediglich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner erreiche, versteht Glissant die Utopie einer weltweiten kulturellen Kreolisierung als nötiges Gegengewicht.29 Das Territorium der gegenwärtigen Kultur ist also ein vom provisorischen Übergang geprägter Transitraum30. Das Alte gilt nicht mehr, im Neuen ist man noch nicht angekommen. Dies entspricht einer menschlichen Grunddynamik zyklischer Phasen des Aufbruchs, der Festigung, der Ruhe, des Abbaus und des neuerlichen Aufbaus. Der Ethnologe und Anthropologe Victor Turner (1920-1983) beschreibt 1969 den Transitraum des Lebens als krisenhaften Schwellenzustand der Liminalität31. Individuen oder Gruppen würden ihn passieren, nachdem sie sich von herr-

zung zwischen Gattungen und Medien. Vgl. Lévi-Strauss 2009. Vgl. Kirschenmann/ Marcuse 2009, S. 70/71. 28 Kreolsprachen sind autonome und grammatikalisch anspruchsvolle Sprachen, die teilweise auch ein breites Vokabelspektrum aufweisen. Sie basieren meist auf verschiedenen Kontaktsprachen. Kreolisierung schafft neue, komplexere Strukturen. Der schwedische Kulturanthropologe Ulf Hannerz übertrug 1987 den Begriff Kreolisierung auf sein Fach, um Kultur im Zeitalter der Globalisierung als dynamischen, fließenden, kreativen, wechselseitigen Transformationsprozess zu beschreiben. Vgl. Stoll 2005, S. 146 ff, (http:// www.fb06.uni-mainz.de/inst/iaa/vorl/transkreo.pdf, 12.03.2015). 29 »We should also get accustomed to the idea that our identity is going to change profoundly on contact with the Other as his will on contact with us, without either of them losing their essential nature or being diluted in a multicultural magma« Glissant (2000), zitiert in: Stoll 2005, S. 146 ff (http://www.fb06.uni-mainz.de/inst/iaa/vorl/transkreo.pdf, 12.03. 2015). 30 Lat.: transire – durchgehen, ein Dazwischen. 31 Im Laufe des Lebens werden zahlreiche Übergänge zwischen Lebensstadien vollzogen, z. B. zwischen Kindheit und Erwachsensein, Ledigkeit und Ehe, Außenstehend-Sein und eingeweihtem Mitglied, Fremdheit und Vertrautheit. Der Ethnologe Victor Turner entwickelte Arnold van Genneps Dreiphasen-Modell solcher Übergänge weiter: der Separation (Ablösungsphase) folgt eine undefinierte und für negative Einflüsse besonders anfällige Liminalität (Zwischenphase) und schließlich die Integrationsphase, in der sich die neue Identität stabilisiert. Der Begriff der Liminalität beschreibt den Schwellenzustand, den Individuen oder Gruppen passieren, nachdem sie sich von herrschenden Ordnungen gelöst haben. Eine Art Niemandsland des Nicht-mehr und Noch-nicht, des »betwixt and

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schenden Ordnungen gelöst hätten. In der Liminalität seien gewohnte Beziehungen verändert und manchmal außer Kraft gesetzt. Es sei eine Phase der Orientierungslosigkeit und Neuorientierung, eine Art Niemandsland des Nicht-mehr und Nochnicht. Dieser ungeschützte, undefinierte Transitzustand stelle eine Gefahr für die Stabilität einer Gesellschaft dar. Er berge das Potenzial und die Notwendigkeit der Gestaltung. Liminale Phasen des Übergangs sind gleichsam ein Nährboden für Kreativität. Die gegenwärtigen Entgrenzungs- und Kreolisierungstendenzen fasst der Kurator und Kunstkritiker Nicolas Bourriaud in seinem Konzept der Altermoderne32 zusammen, wie er die gegenwärtige Epoche nach der Postmoderne nennt. Der zeitgenössische Mensch sei Ausdruck der Wege zwischen seiner Herkunft und seiner ständig wechselnden Lebenssituation. Gleich einem Reisenden übersetze er kulturelle Werte ins weltweite Netzwerk. Dieser Reisende verhalte sich ähnlich zu Radi-

between« (Victor Turner). Soziale Regeln sind aufgehoben. Die gewohnten Beziehungen sind verändert und manchmal außer Kraft gesetzt. In der Bestandsaufnahme des bisherigen Lebens geschieht Neuorientierung, indem Erkenntnisse zu existentiell wichtigen Fragen gefunden werden. Dieser ungeschützte, undefinierte Transitzustand stellt eine potentielle Gefahr für die Stabilität einer Gesellschaft dar. Entsprechend entwickelten sich in allen Gesellschaften, Kulturen und Weltreligionen kontrollierte, archaische rituelle Bewältigungen. Übergangs- bzw. Einweihungsrituale markieren den Abschied von der Kindheit und den Eintritt ins Erwachsenenalter bzw. die Aufnahme in die Gesellschaft. Antike Mysterienkulte wie die samothrakischen Mysterien und der Dionysoskult gebrauchten das Motiv von Tod und Wiedergeburt. Das Individuum starb symbolisch und legte damit seinen früheren Status ab. Die Initianten galten als heilig und zugleich unrein bzw. gefährlich. Seit dem Spätmittelalter bis zur beginnenden Industrialisierung war in Europa die Wanderschaft nach Abschluss der Lehrzeit für einen Handwerks-Gesellen eine der Voraussetzungen, die Prüfung zum Meister zu beginnen. Der Geselle sollte vor allem neue Arbeitspraktiken, Lebenserfahrung und fremde Orte, Regionen und Länder kennenlernen. Außerhalb religiöser Kontexte existieren in den westlichen Kulturen heute oft keine wirkmächtigen Initiationsriten mehr. Heranwachsende in Pubertät und Adoleszenz erleben sich zeitweise immer wieder als in einer liminalen Phase gefangen.Vgl. van Gennep 2005; vgl. Turner 2005; vgl. Giebel 2003; vgl. Schulz 1999. 32 »Artists are looking for a new modernity that would be based on translation: What matters today is to translate the cultural values of cultural groups and to connect them to the world network. This »reloading process« of modernism according to the twenty-firstcentury issues could be called altermodernism, a movement connected to the creolisation of cultures and the fight for autonomy, but also the possibility of producing singularities in a more and more standardized world.« Bourriaud, Nicolas: Altermodern, Tate London 2009.

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kantenpflanzen wie dem Efeu, der sich auf der Erdoberfläche in alle Richtungen ausbreitet und mit jedem neuen Trieb Wurzeln schlagen kann, um sich zu verankern.33 Unterschiedlichste Kulturen und Lebensmodelle, Werte und Meinungen treffen mitunter konflikthaft aufeinander und relativieren sich gegenseitig. Autonomie und Vielfalt werden vor Standardisierung verteidigt, Unterschiede und Einzigartigkeit werden zelebriert. Dieser widersprüchliche Kampf um Zugehörigkeit, Identität und Nachhaltigkeit führt auf urbaner wie globaler Ebene zu wachsenden sozialen, kulturellen, politischen und ökologischen Schwierigkeiten. Radikalisierungen bedrohen die Menschenrechte und den Weltfrieden. 1.1.3 Entzgrenzte Identitäten Die medialen Entgrenzungen und kulturellen Transformationen haben enormen Einfluss auf die Identität des Einzelnen. Der Begriff der Identität34 bezeichnet das Zuhause des Selbst. Die als Ich erlebte innere Einheit der Person setzt sich u. a. zusammen aus subjektiven Erfahrungen, Überzeugungen und sozialen Rollen. Identität verlangt nach einem Selbst-Bewusstsein, der Fähigkeit, sich selbst zum Objekt des eigenen Denkens machen zu können. Die Identität synchronisiert die innere und äußere Welt und wird nur im Resonanzkörper einer Gesellschaft erfahrbar.35 Bereits der antike griechische Philosoph Platon (427-347 v. Chr.) setzte sich in seinem SYMPOSIUM (etwa 380 v. Chr.) mit einer Art dynamischem Identitätsbegriff auseinander.36 Der amerikanische Psychologe und Philosoph William James (1842-1910)

33 »Der moderne Mensch ähnelt einer Emulsion: die gesellschaftliche und kulturelle Flüssigkeit gerät durch einen Anstoß in Bewegung und erzeugt ein Amalgam, das die einzelnen Zutaten, die in die Zusammensetzung einfließen, vermischt, ohne sie aufzulösen.« Bourriaud, Nicolas: Radikant, Berlin: Merve 2009, S.42. 34 Lat.: idem – derselbe, identitas – (Wesens-)Einheit. 35 Andrea Korenjak übernimmt die Interpretation von Böhme 1997, S. 686. Vgl. Korenjak, Andrea: Adolf Wölfli. Kunst, Identität und Kreativität im Spiegel psychischer Krankheit, in: Hofmann 2007, S. 81/82. 36 »Denn auch von jedem einzelnen Lebenden sagt man ja, dass er lebe und dasselbe sei, wie einer von Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist: und heißt doch immer derselbe, unerachtet er nie dasselbe an sich behält, sondern immer ein neuer wird und Altes verliert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und dem ganzen Leibe; und nicht nur an dem Leibe allein, sondern auch an der Seele, die Gewöhnungen, Sitten, Meinungen, Begierden, Lust, Unlust, Furcht: hiervon behält nie jeder dasselbe an sich, sondern eins entsteht und das andere vergeht.« Platon: Symposion,

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beschreibt das Selbst als »the total sum of all that he CAN call his.«37 Das Selbst habe materielle, soziale und geistige Anteile. Zudem unterscheidet er ein erkennendes und ein erkanntes Selbst. Nach dem amerikanischen Psychotherapeuten James Bugental (1915-2008) sei Authentizität38 erreicht, wenn das In-der-Welt-Sein im Einklang mit der innerweltlichen Natur stehe, wenn Selbstbild und Selbsterfahrung kongruent ineinander fielen. Wesentlich seien dabei die Beziehungen zwischen Körper, Emotion, Verstand und Handeln.39 Der französische Psychiater und Psychoanalytiker Jaques Lacan (1901-1981) hingegen interpretiert die Ansätze Sigmund Freuds neu. Nach Lacan lebt der Mensch in der unkontrollierbaren und unsagbaren Außersprachlichkeit des Realen40. Das Ich entstehe auf der Grundlage eines Bildes, wenn das Kind zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat beginne, sich selbst im Rahmen eines Aha-Erlebnisses im Spiegelbild zu erkennen und zu identifizieren. Diese narzisstische Selbstbegegnung und Selbsterkenntnis ermögliche gleichsam den reflektorischen Blick von außen auf das eigene Selbst. Im sogenannten Spiegelstadium beginne das Kind, nicht nur sich selbst, sondern auch andere wahrzunehmen. Diese psychische Geburt des autonomen Ichs sei zugleich der Beginn einer Entfremdung. Denn das Selbstbild im Spiegel zeige ein imaginäres Ideal-Ich, an dem sich das Subjekt folglich orientiere. Zugleich spalte sich ein soziales Ich ab. Die angeborene Einheit von innerer und äußerer Welt zerbreche. Ich und Nicht-Ich trennen sich voneinander und treten stattdessen in eine duale Beziehung zueinander. Die dualistische Imagination41 des Spiegelstadiums finde daher auch einen Ausdruck in der symbolischen Ordnung einer Sprache. Der Begriff der Identität gewinnt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts theoretische Bedeutung – v. a. durch das linear aufgebaute Stufenmodell des

207d/e; Übers.: Friedrich Schleiermacher, zitiert in: Allesch, Christian: Identität – Kreativität – Authentizität, in: Hofmann 2007, S. 9. 37 Engl.: die Summe all dessen, was er das Seine nennen kann. Vgl. James 1890, S. 292. 38 Griech.: echt, zuverlässig. Wenn Selbst-Sein und Selbst-Darstellung in Übereinstimmung sind. 39 Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 16. 40 Das Reale ist nicht gleichzusetzen mit dem Begriff der Realität. 41 Imagination Bezeichnet einen psychischen Vorgang, der in der älteren Philosophie und Anthropologie Phantasia, in der neueren Einbildungskraft oder Vorstellungskraft genannt wird. Der Imagination wird in der Kunsttheorie eine Schlüsselrolle im künstlerischen Prozess zugewiesen – als inventio, conceptio, disegno. Dazu gehören auch die räumliche Vorstellung, zeitliche Antizipations- und Erinnerungsleistung. Imaginationsfähigkeit ist abhängig von individuellen Begabungen. Zudem ist sie determiniert durch kulturelle Einflüsse und situative Bedingungen (Medienkonsum, Welterfahrung). Imagination ist bildund förderbar. Vgl. Sowa/Przybilla 2009, S. 20.

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deutsch-amerikanischen Psychoanalytikers Erik Erikson (1966). Er definiert Identität als menschliches Grundgefühl.42 In persönlichen Krisen sei die Synchronisation von innerer und äußerer Welt gefährdet. Der deutsche Sozialpsychologe Heiner Keupp versteht Identität in unserer krisenhaften Gegenwart hingegen als nichtlineares soziales Konstrukt. Da sich die äußere Welt des Individuums ständig ändere, sei die Entwicklung bzw. Gestaltung der Identität niemals abgeschlossen, sondern müsse ständig auf die krisenhaften Transformationen der Kultur reagieren. Die Identität sei keine Einheit, sondern gleiche vielmehr einem heterogenen, rhizomatischen Patchwork. Wie Kultur und Gesellschaft, so trage auch der Einzelne Fragmentierungen und Brüche in sich.43 Das plurale Dasein von gleichzeitigen IchTeilen könne wie ein Baukasten je nach Bedarf konfiguriert werden. Die Entgrenzung der Welt, die Pluralität der Lebensformen und Sinnangebote provoziert Identitätskrisen und schafft hybride Identitäten.44 Kollektive Identitäten wie Rasse, Nation und Gender destabilisieren, vertraute Identitätsanker fallen weg. Im »Regime der Kurzfristigkeiten«45, in der Flexibilisierung, Vernetzung und Vielfalt der Globalisierung ist der Einzelne wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und weltpolitischen Entwicklungen und Interessen ausgeliefert. Dies erzeugt für Rainer Holm-Hadulla eine wirtschaftliche, soziale und persönliche Instabilität, die zum Verlust von Sicherheit, Orientierung und Vertrauen führen könne. Die Entwicklung des eigenen Selbst brauche deshalb Achtsamkeit für das Gleichgewicht von stabilen Strukturen und neuen Erfahrungen im Spannungsfeld von Leistung, Kreativität und Verantwortung.46 Man ist, was man aus sich macht. Der dadurch entstehende Anpassungs- und Leistungsdruck erinnert an Charles Darwins »survival of the fittest«47. Es hat derjenige Erfolg, der am besten ausgerüstet ist. Auch Eickelpasch

42 »Das angesammelte Vertrauen darauf, dass der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität (also das Ich im Sinne der Psychologie) aufrecht zu erhalten.« Erik Erikson zitiert in: Hofmann 2007, S. 9. 43 Vgl. Keupp 1999. 44 »Wir erkennen, dass Identitätsbildung unter Bedingungen der Spätmoderne einen ästhetisch-kreativen Prozess von Selbstorganisation darstellt. Wir haben es nicht mit >Zerfall< oder >Verlust der Mitte< zu tun, sondern eher mit einem Zugewinn kreativer Lebensmöglichkeiten.« Eickelpasch, Rolf und Rademacher, Claudia: Identität, Bielefeld: transcript Verlag 2004, S. 28. 45 Eickelpasch/Rademacher 2004, S. 32. 46 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 203-209. 47 Bedeutet im Sinne der Darwin’schen Evolutionstheorie das Überleben der am besten angepassten Individuen.

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und Rademacher (2004)48 verstehen Identitätsbildung als Gestaltungspflicht und – möglichkeit, als eine herausfordernde Bricolage, als nicht abschließbaren kreativen Prozess des Einzelnen. Die multiplen Rollen der Patchwork-Identität müssten aus den vielen Möglichkeiten der Lebenswelt abgewogen, aus flexiblen Fragmenten zusammengefügt, nach eigenen ästhetischen Vorstellungen gestaltet und mit Sinn versehen werden.49 Die Identitätsarbeit wird so zu einem narrativen Prozess 50, einer lebenslangen Gestaltungsaufgabe. Nach Ansicht des Psychologischen Humanismus verwirklicht sich die verantwortungsbewusste, mündige Persönlichkeit durch die eigenen Fähigkeiten und Talente.51 Thomä (2009) diagnostiziert jedoch eine gegenwärtige Überbetonung von kognitiven Fähigkeiten und Wissensvermittlung in Schule, Beruf und Alltag bis hin zur Verkümmerung der sinnlichen und kreativen Fähigkeiten.52 Schon allein aufgrund der hohen Vernetzungsdichte, der damit einhergehenden kürzer werdenden Halbwertzeit des Status Quo und entsprechenden Flexibilitätsforderungen ist eine kreative Grundhaltung dem Leben gegenüber notwendig, ja sogar zentral. Zudem ist das Selbst nicht isoliert, sondern eingeflochten in eine interrelationale53 Sozialstruktur. Diese wechselseitige Bezogenheit des Menschen lässt sich zusammenfassen mit Byung-Chul Han: »Alle spiegeln einander oder lassen in sich Andere durchscheinen.«54 Dies führt zu folgendem Rück-

48 Vgl. Eickelpasch/Rademacher 2004. 49 Der Philosoph Richard David Precht fasst diese Grundfrage zusammen im Titel seines populärwissenschaftlichen Buches Wer bin ich und wenn ja wie viele?, Precht 2007. 50 »The capacity to keep a particular narrative going« Giddens zitiert in: Hofmann 2007, S. 9. 51 Das Streben nach Selbstverwirklichung sei zugleich der »Organisator all der unterschiedlichen Kräfte, deren Zusammenspiel ununterbrochen das erschafft, was eine Person ausmacht […] Dieses angeborene Streben nach Selbsterfüllung und nach Realisierung des eigenen einzigartigen Potentials ist eine konstruktive leitende Kraft, die jede Person im Allgemeinen zu positiven Verhaltensweisen und zur Weiterentwicklung des Selbst bewegt.« Zimbardo 1992, S. 415. 52 Vgl. Thomä, Dieter: Ethik der Kreativität. Konsequenzen für die akademische Bildung der Zukunft, in: Jansen 2009, S. 228/229. 53 Relationalität: Ein Beziehungs-Geflecht bzw. Zusammenspiel mehrerer mitunter komplexer Beziehungen. Interrelationalität: Ein Gewebe aus vernetzten Beziehungen, die wechselseitig aufeinander bezogen bzw. interdependent sind. Das Dazwischen der Beziehungen ist eine unablässige Bewegung des einen im anderen. In Homo Creans wird der Begriff der Interrelationalität dem der Relationalität vorgezogen. Vgl. Kneer/Nassehi 1994. 54 Han 2005, S. 49.

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schluss: »Ich spiegle mich, also bin ich.«55 Identitätsarbeit geschieht im interrelationalen Spiegelkabinett. 1.1.4 Transmediale Kunst Bannung/Sprache/Kommunikation/Übersetzung/Narration Orientierung und Sinn erzeugen sich z.B. durch Reflexion, Selbst- und Welterkenntnis. Am Anfang von Ordnungs-, Erkenntnis- und Sinngebungsprozessen steht eine subjektive, vor-sprachliche Erfahrung von Wirklichkeit. Durch Sprachformen wird diese Erfahrung externalisiert. Als Kommunikationsmittel dienen Medien wie Klang, Ton, Bild, Bewegung oder Verbalsprache. Diese Bannung von Innerlichkeit birgt die Möglichkeit der Außensicht bzw. Reflexion. Sie bindet Handlungsstränge und Symbole56 zu inhaltlichen Zusammenhängen und spiegelt den Reichtum der Fantasie57 wider. In symbolischen Sprachformen58 bannen Individuen, Gesellschaften und Kulturen das Wesen des Menschen. Jede Form von Sprache ist Begriffsbildung, Narration und im übertragenen Sinn Bildnerei. Der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857-1913) entwickelte ein linguistisches Kommunikationsmodell. Dies verdeutlicht, dass jede kommunikative Äußerung aus einem Sender, einem Empfänger und einem sprachlichen Zeichen (signifiant) besteht, das auf eine außersprachliche Wirklichkeit (signifié) verweist, sie bezeichnet und komprimiert. Das sprachliche Zeichen fungiert gleichsam als abstrahierendes Übersetzungsmedium, um die außersprachliche Wirklichkeit überhaupt fassbar und kommunizierbar zu machen.

55 In Erweiterung des französischen Philosophen René Descartes (1596-1650) und seinem Grundsatz cogito, ergo sum – »Ich denke, also bin ich.« 56 Griech.: etwas Zusammengefügtes. Bedeutungsträger. 57 Sie ist »Fähigkeit zur Erzeugung von anschaulichen Vorstellungen, […] die über die Grenzen wahrgenommener Dinge oder geläufiger Ideen hinausgeht.« Eid/Langer/ Ruprecht 2002, S. 182. Basierend auf Sinneseindrücken und Erinnerungen ist Fantasie die Kraft der Imagination, Vergegenwärtigung von Nicht-Existierendem und Zukünftigem. Sie ist mit Begriffen wie Synästhesie, Intuition, Halluzination und Träumen verbunden. Vgl. Huchler in: Jansen 2009, S. 7. 58 Geschichten und Bildern, Mythen, Religionen, Kunstwerken, Kulturlandschaften, Architekturen, wissenschaftlichen Denkbildern und alltäglichen Gebräuchen.

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Abbildung 1: Sprachliches Zeichen nach Ferdinand de Saussure signifié, Bedeutung, Inhalt

signe, sprachliches Zeichen, Medium

signifiant, Ausdruck, Form Quelle: Johanna G. Eder

Eine Übersetzung ist immer eine Interpretation, eine semantische Öffnung, die in Form von Sprachbildern, symbolischen Gleichnissen und Narrationen eine analoge Wirklichkeit schafft zur subjektiven Weltwahrnehmung und Imagination des Rezipienten.59 Die Wirklichkeit des Beschriebenen liegt in der subjektiven Erfahrung der außersprachlichen Wirklichkeit. Ihre Bannung in einem sprachlichen Symbol ist immer eine Reduktion bzw. Abstraktion, eine Reduktion von Komplexität und gleichzeitig die Schaffung einer neuen Komplexität. Sender und Empfänger müssen diese verstehen können, sodass damit Kommunikation geschieht.60 Jaques Lacan gliedert das Sprachliche triadisch in ein Symbol, eine außersprachliche Wirklichkeit und die Beziehung zwischen diesen beiden Elementen. In diesen drei unauflösbar verbundenen Dimensionen Reales-Imaginäres-Symbolisches konstituiere sich das Selbst.61 Diese gebannten (Selbst-)Bilder schaffen Identität. Der Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908-2009) erforschte narrative Erzähltraditionen in Nord- und Südamerika als ein Grundelement des menschlichen Zusammenlebens, um zu beweisen, dass Mythen und Riten dem primären menschlichen Bedürfnis entspringen, in der Welt Ordnungsstrukturen zu schaffen. »Die Welt besteht aus sichtbaren und aus unsichtbaren Dingen. Das führt zur Entwicklung von Symbolen, die das Unsichtbare im Sichtbaren repräsentieren.

59 Z.B. bezeichnet das Wort Apfel die ganzheitliche außersprachliche Wirklichkeit des Apfels. Apfel ist ein Sprachbild, in dem gleichsam all die transzendenten Erfahrungsdimensionen eines reellen Apfels mittransportiert werden und vom individuellen Rezipienten verstanden bzw. interpretiert werden müssen. Eine solche definierende Formgebung Apfel ist eine Eingrenzung der nicht eingrenzbaren Erfahrungsdimensionen eines reellen Apfels. Doch trotz der Reduktion öffnet sich ein Deutungsraum. 60 Vgl. Saussures Kommunikationsmodell in: Böker/Houswitschka 2000, S. 115-118. 61 Vgl. Lacan 1987.

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Kunst kann, unter anderem, Symbolisierungsfunktionen dieser Art übernehmen.«62 Niklas Luhmann fasst hier das Wesen der Kunst als Sprachform kompakt zusammen. Die Kategorisierung menschlichen Gestaltens als Kunst obliegt einer kulturellen Zuschreibung.63 Sie ist eine Form von Sprache, mit welcher der Mensch sein Wesen, seine Herkunft und seine Dimensionen zu erklären und zu verstehen versucht. Der Künstler vermittelt durch sein Tun Ideen und weltanschauliche Auffassungen. Sein Gestalten speist sich sowohl aus der ästhetischen Idee als auch aus seinem Können. Kunst gilt als ein prototypisches kreatives Produkt mit autopoietischem64 Selbstzweck. Kunst als Sprache: Ihre Syntax sind Bild- und Textmetaphern.65 Ein Bild bannt ein Konzept auf einen zeitlosen Punkt. Ein Text scheint gleichsam die lineare Übersetzung eines Bildes. Bild und Text entwerfen in ihren jeweiligen Medialitäten Landschaften. Diese lassen sich beschreiben durch die Aspekte Medium, Inhalt und Form.66 Das Medium ist das sprachliche Zeichen bzw. Kommunikationsmittel. Der Inhalt ist die außersprachliche Wirklichkeit, die durch

62 Luhmann, Niklas: Schriften zu Kunst und Literatur, Berlin: Suhrkamp 2008. 63 Was heute zur Kunst zählt, musste einen langen Weg der Anerkennung gehen. In der griechischen Antike waren die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksmedien Musik, Sprache und Körper in der sogenannten mousiké zu einer künstlerisch einheitlichen Gestaltungsform verschmolzen. (Vgl. Brandstätter in: Brandstätter et al. 2008, S. 15.) Im Mittelalter galten nur die sieben anerkannten Freien Künste, die septem artes liberales: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Heutzutage gibt es eine Vielfalt künstlerischer Erscheinungsformen. Eine ausführlichere Betrachtung kategorisierender Kriterien führt an dieser Stelle zu weit. Ausgespart werden außerdem Fragen nach der gesellschaftlichen Konstruktion, Funktion und Instrumentalisierung von Kunst. 64 Der Begriff der Autopoiesis steht für eine Form des Selbstausdrucks, einen Spiegel bzw. eine Beschreibung des Menschen und seiner Lebenszusammenhänge. Er besagt, dass Ordnungsstrukturen in Natur, Sprache, Gesellschaft, Psychologie und dem Denken bzw. Handeln des Menschen von sich wiederholenden Mustern durchzogen seien. Die Struktur der menschlichen Fantasie sei autopoeitisch und selbstreferenziell. Der Mensch entkomme seiner Subjektivität nicht. Vgl. Kneer/Nassehi 1994, S. 56. 65 Bild bzw. Text meint hier eine abstrakte Sprachform. Deshalb bezieht sich das Bild- und Textverständnis auch auf Musik und Bewegung. Olfaktorische und gustatorische Kunstformen, die mit den Geruchs- und Geschmackssinnen interagieren, befanden sich lange Zeit außerhalb des kunstwissenschaftlichen Diskurses. Zu nennen sind die norwegische Geruchskünstlerin und Wissenschaftlerin Sissel Tolaas, sowie der spanische Kochkünstler Ferran Adrià. 66 Vgl. Ursula Brandstätters systematische Untergliederung eines Kunstwerks in Medialität, Form und Inhalt. Vgl. Brandstätter 2008, S. 121.

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das Medium beschrieben wird. Die Form entspricht der Struktur der Erzählung. Diese drei Aspekte stehen in transformatorischen Wechselwirkungen. Verändert sich ein Aspekt, verändert sich die Gesamtaussage. Das Künstlerische liegt in der Verbindung dieser drei Aspekte zu einer transmedialen bzw. transzendenten Einheit, die über die Materialität des Mediums hinausgeht. 67 Dieses Künstlerische schafft Symbole und Chiffren, in denen sich Welt eröffnet, erweitert und entgrenzt. Abbildung 2: Das Künstlerische

Quelle: Johanna G. Eder

67 Ursula Brandstätter erarbeitet in ihren Grundfragen der Ästhetik (2008) einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Sinnen bzw. Medien des Menschen und den Kunstgattungen. Die Verwendung eines bestimmten Mediums wirke sich auf die Wahrnehmung und Wirkung einer Kunstform aus. Die Sinne sind der Zugang des Menschen zur Welt, oder besser: sie übersetzen die Welt mithilfe bestimmter Wellenspektren in den Menschen hinein. Das Gehirn baut aus diesen Informationen ein subjektives Bild der Wirklichkeit, das elementar mit dem Medium des eigenen Körpers verbunden ist. Nach diesem Verständnis gibt es eine objektive Wirklichkeit nicht. Unter die Kategorie Bildende Kunst fallen die visuell orientierten Gattungen Malerei, Bildhauerei, Architektur, Fotografie und Medienkunst. Die Darstellende Kunst vereint Tanz, Theater, Filmkunst und Ausdrucksformen der neuen audio-visuellen Medien. Musik und Literatur gelten als eigene Gattungen. Das Kunstgewerbe und der Grenzbereich Kunsthandwerk zählen zur Angewandten Kunst. Vgl. Brandstätter 2008, S. 119-158; vgl. Krieger 2007, S. 29.

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Intertextualität/Interpiktorialität/Palimpsest/Autorschaft Die Beschreibung von Kunst ist – wie die Sprache selbst – eine interpretierende Übersetzung von einer Sprachform in eine andere.68 Beschreibung geschieht in Resonanz69 auf diese und kreiert eine eigene Erfahrung.70 Der Philosoph Jacques Derrida (1930-2004) dekonstruiert die elementare Unterscheidung von außersprachlicher Wirklichkeit und sprachlichem Zeichen, Urbild und Abbild, Sein und Schein, Natur und Kultur, primärer und sekundärer Wirklichkeit. In seiner Grammatologie (1967) schreibt er: »il n’y a pas un en-dehors-texte«71 – sinngemäß: Alles ist Text. Worte verweisen immer auf andere Worte. Diesen unendlichen Verweischarakter der Text-Text-Bezüge, das Spiel aus Ähnlichkeiten und Assoziationen, Differenzen und Neukombinationen nennt der strukturalistische Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker Rolande Barthes (1915-1980) Intertextualität,72 die semantische Absorption und Transformation eines anderen Textes.73 Analog hierzu steht das Phänomen der Interpiktorialität74. Bilder verweisen nicht auf Urbilder, sondern auf weitere Bilder. Sie entstehen im Imaginären. Ihre Verständlichkeit ergibt sich aus ihrem Kontext75. Ein materialistischer Vorläufer bzw. Verwandter dieser Phänome-

68 Man mag hier an Charles Baudelaires Auffassung vom Übersetzer denken, der »nur wiedergeben kann, indem er auch dichtet« Rexroth 1991, S. 9. Eine gute Übersetzung entfernt sich vom Original, um sich ihm anzunähern – so besagt die Übersetzung von Walter Benjamin: »Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern lässt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen.« Rexroth 1991, S. 18. 69 Resonanz bringt etwas zum Erklingen oder Schwingen (vgl. akustische Spiegelung des Echos). Schwingende Saiten eines Instruments können bestimmte andere Saiten zum Mitschwingen und damit Mitklingen bringen. Resonanz ist eine Metapher für die menschliche Fähigkeit zu emotionalem Verständnis und Empathie. Vgl. Bauer 2006, S. 17. 70 Vgl. Mecherlein, Klaus: Das Verstummen der Sprache – Joseph Beuys’ Environment zeige deine Wunde, in: Rebel 1996, S. 212. 71 Derrida 1974, S. 274. 72 »Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen, miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander infrage stellen.« Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Fotis 2000, S. 190. 73 Vgl. Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Hillebrandt 1978, S. 391. 74 Vgl. Isekenmeier 2013. 75 Von lat. contexere, dt. zusammenweben. Zusammenhang, Beziehung zwischen miteinander verbundenen Teilen.

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ne seit der Antike ist das Palimpsest76, das Überschreiben und Wiederbeschreiben von Pergamenten. Intertextualität und Interpiktorialität werfen Fragen nach der Autorschaft auf. Den veränderten Autorbegriff des pluralistisch entgrenzten Subjekts erörtert Roland Barthes in seinem Essay Der Tod des Autors (1968)77. Darin versteht er Kunst als Resultat eines intersubjektiven Ereignisses zwischen Produzent, Werk und Rezipient. Im Freiraum des ästhetischen Spiels verweisen Produktion und Rezeption wechselseitig aufeinander. Anstelle des monolithischen Autors wird das Künstlerische durch das kollektive Gefüge einer Wissensordnung konstituiert. Diese offene Werkproduktion in Interaktion zwischen Werk und Betrachter definiert Nicolas Bourriaud als relational art (1998).78 Dahinter steht das entgrenzte Konzept der CoKreativität, des systemischen Gestaltungsprozesses eines interrelationalen Zusammenspiels. Altermoderne Kunst Pluralismus, Vernetzungsdichte, Kreolisierung, Interrelationalität – gegenwärtige Entgrenzungstendenzen wirken sich auch auf Kunstformen aus. Künstler aller Gattungen bedienen sich seit dem frühen 20. Jahrhundert hybrider Arbeitsstrategien wie z. B. der Bricolage oder der Inter- und Transmedialität und entgrenzen damit Kategorien.79 Alles kann zum künstlerischen Material gemacht werden, nach den eigenen Vorstellungen rücksichtslos oder rücksichtsvoll angeeignet und verarbeitet werden.80 Kreativität als Betriebssystem des Kunstschaffens verbindet die Künste zu einem transmedialen Kunstbegriff.81 Die altermoderne Ästhetik82 interessiert sich

76 Altgriech.: reiben, abschaben. 77 Vgl. Fotis 2000. 78 Vgl. Bourriaud 2010. 79 Die wechselseitige Durchdringung der Künste beginnt bereits im frühen 20. Jahrhundert. Phänomene wie Fluxus, Happening, Performance Art, experimentelle Musik, experimentelles Musiktheater, Klang- und Videoinstallationen und vielfältige künstlerische Mischformen lösen die Grenzen zwischen den einzelnen Künsten auf. Vgl. Vorwort, in: Brandstätter et al. 2008, S. 5/6. Heute haben viele Künstler die ehemals geltenden Gattungsgrenzen hinter sich gelassen: z.B. Olafur Eliasson, Robin Rhode, Christoph Schlingensief, Olaf und Carsten Nicolai, Jonathan Meese. 80 Vgl. Dimke, Ana: IMPULS – Alles kann zum künstlerischen Material gemacht werden, in: Brandstätter et al. 2008, S. 9. 81 Auch transmediale Kunst ist eine Form von Kreolisierung. Die Documenta 2002 war unter der Leitung von Okwui Enwezor dem Projekt Kreolisierung der Welt gewidmet. Vgl. Stoll 2005, S. 146 ff, (http://www.fb06.uni-mainz.de/inst/iaa/vorl/transkreo.pdf, 12.03.2015).

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besonders für das Dazwischen der Künste, das Ereignis an den Schnittstellen von Bild-, Klang- und Bewegungserzählungen, wo Musik, Sprache, Körper und Bild eine Einheit bilden.83

1.2 L AND : F ORSCHUNGSFELD

UND

Z IELSETZUNG

Nachdem die Metaphorik der Stadt transformatorische Kontexte der zeitgenössischen westlichen Lebenswelt ausdifferenzierte, repräsentiert die Metapher Land das Forschungsfeld und die Zielsetzung des vorliegenden Buches. Konkret geht es um aktuelle Anforderungen an die Kunstpädagogik im Kontext transdisziplinärer Entgrenzungen. 1.2.1 Kunstpädagogik im Kontext transdiziplinärer Entgrenzungen Die gegenwärtigen altermodernen, transformatorischen Beziehungsachsen zwischen Kulturen greifen auch auf wissenschaftliche Disziplinen über. Disziplinarität bewegt sich in den eigenen, mehr oder weniger gut definierten Fachgrenzen. Wenn sich zwei unterschiedliche Disziplinen begegnen, agiert jeder Dialogpartner zunächst aus seinem eigenen Verständnissystem heraus und bemisst den anderen mit seinen systemimmanenten Kategorien. So kommt es leicht zum Missverständnis. Eine echte gleichwertige Begegnung und interdisziplinäre Verständigung findet erst dann statt, wenn sich jeder Dialogpartner auf die Spezifik des fremden Systems einlässt. Dafür braucht es das Übersetzungsinstrument bzw. die Schnittmenge eines übergeordneten gemeinsamen Nenners. Das setzt eine sehr gute Kenntnis der eigenen disziplinären Identität voraus. Interdisziplinarität fußt gleichsam auf der Disziplinarität. Ein Miteinander über die etablierten Fachgrenzen hinaus birgt die Gefahr von Fehlinterpretation, Instrumentalisierung und Vereinnahmung. Eine interdiszi-

82 Die philosophische Disziplin der Ästhetik taucht als Kategorie zum ersten Mal 1735 in der Dissertation des Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) auf. Gegenüber der damals dominierenden mathematisch-logischen Erkenntnisweise des Rationalismus betont Baumgarten, dass Erkenntnis nur durch eine Verbindung des rationalen Denkens mit der sinnlichen Wahrnehmung gefunden werden könne. Der Begriff leitet sich vom griech. aisthesis ab, dt: sensorische Wahrnehmung. Vgl. Hauskeller 2004, S. 77. 83 Vgl. Brandstätter in: Brandstätter et al. 2008, S. 15. z.B. Transmedialität von Bildender Kunst, Musik, Literatur, Film, Sound, Performance, Darstellender Kunst, Angewandter Kunst. Dies setzt sich fort in Formen der Indifferenz zwischen Hochkultur und Subkultur und führt zu partizipativen Ansätzen wie Do It Yourself (DIY), Do It Together (DIT) und Guerilla Art.

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plinär vernetzende Perspektive sieht die Unterschiede, führt den Dialog jedoch über die Brücke der Gemeinsamkeiten. Die fremde Sicht auf das eigene Wissen und Können kann zu positiven Rückkoppelungen führen. Dann wird plurales Miteinander eine Chance zur Erweiterung und Ergänzung.84 Dem interdisziplinären Bündnis verschiedener Wissensfelder wird immer größere Bedeutung beigemessen. Es geht ihr nicht um Gleichmachung, sondern um Erkenntnisgewinn über den Kontrast bzw. über synergetische Beziehungsachsen. Von einer transdisziplinären Perspektive sprechen Hanschitz/Schmidt/Schwarz (2009), wenn sich eine theoretische Wissenschaft und ihre praktische Anwendung zu einer neuen Einheit vernetzen.85 In Analogie zur Hyperkultur ergebe sich aus dem Ansatz der Bricolage eine Hyperdisziplinarität, die die Fäden einzelner Disziplinen zu einem gemeinsamen Netz verknüpfe. Über welchen gemeinsamen Nenner können kunstwissenschaftliche Disziplinen angesichts transmedial entgrenzter Kunst in einen synergetischen Dialog treten? Wenn sich die einzelnen Kunstgattungen nicht mehr auf das ihnen entsprechende Medium beschränken, hat dies Konsequenzen für die wissenschaftliche und vermittelnde Auseinandersetzung. Eine inter- bzw. transdisziplinäre Vernetzung der verschiedenen kunstwissenschaftlichen Disziplinen liegt daher nahe. Wie kann die Kunstpädagogik mit diesen Herausforderungen umgehen? Eine zentrale Aufgabe ist die Kreativitäts- und Persönlichkeitsbildung mithilfe der Kunst.86 Ihr produktiver und rezeptiver Bildungsgegenstand87 ist traditionell vor al-

84 Vgl. Hanschitz/Schmidt/Schwarz 2009, S. 7-39 und S. 155-160; vgl. Eder, Johanna: Interdisziplinarität in den Kunstwissenschaften als transformatorisches Prinzip, in: Reiche et al. 2011, S. 149-152; vgl. Vorwort, in: Brandstätter et al. 2008, S. 5/6. 85 Vgl. Hanschitz/Schmidt/Schwarz 2009, S. 185-197.Nach Krohn (2012) sind die wichtigsten Merkmale transdisziplinärer Forschung die Komplexität nicht-linearer Wechselwirkungen, die Integration von Spezialwissen, heterogene Akteure, real-experimentelle Innovationen und eine Legitimation und Akzeptanz. Vgl. Krohn, Wolfgang: Künstlerische und wissenschaftliche Forschung in transdisziplinären Projekten, in: Tröndle/Warmers 2012, S.1-5. 86 Referenz auf den Kunsterziehertag in Dresden 1901. Vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 106. 87 Die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen durch künstlerisches Gestalten und Kunstrezeption. Vgl. Selle 1988, S. 30; Grünewald 1997; Kirchner/ Otto 1998, S. 1 ff. Zitiert in: Peez, Georg: Qualitative empirische Forschung in der Kunstpädagogik. Zu den Wirkungen ästhetischer Erziehung am Fallbeispiel, Vortrag auf der Tagung zum Thema »Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung« im Rahmen des Graduiertenkollegs »Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffens-

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lem die Bildende Kunst. Um die aktuellen Gesellschaftsentwicklungen mitgehen zu können und transmediale Kunst für Vermittlungs- und Bildungsprozesse fruchtbar zu machen, bedarf es gerade auch in der Kunstpädagogik einer flexiblen Neuorientierung und Öffnung hin zu den Phänomenen der altermodernen Kultur.88 Dabei hat sie gute Anlagen, denn sie ist selbst ein Hybrid aus Kunstschaffen, Kunstgeschichte bzw. Bildwissenschaften, Kunstphilosophie, Linguistik und Semiotik, Naturwissenschaften, Psychologie, Kommunikations- und Medienwissenschaften, Kulturwissenschaften, Pädagogik bzw. Bildungswissenschaften, Didaktik und weiteren Nachbardisziplinen. Darüber hinaus ist sie ein transdisziplinär angelegtes Fach, da sie Theorie und praktische Anwendung in sich verbindet.89 1.2.2 Aktuelle Anforderungen Dem nomadisch durch den krisenhaften Transit der globalen Hyperkultur reisenden, zeitgenössischen Menschen ist eine kreative Grundhaltung dem Leben gegenüber notwendig, ja sogar zentral. Daraus ergibt sich die Forderung nach Kreativitätsbildung. Welche subjektiven wie intersubjektiven Anforderungen stellen sich dabei an eine kunstpädagogische Kreativitätsbildung? • Im Sinne einer Persönlichkeitsbildung sollte sie sich weder für Innovationsdruck,

Wirtschaftsexpansion und Konkurrenzfitness instrumentalisieren lassen, noch sollte sie in schönheitstrunkener Harmlosigkeit und kompensatorischem Genussstreben verharren. • Sie sollte dem Kreativitätsdispositiv eine differenzierte Gestaltungskompetenz entgegensetzen. Dazu gehören das Kennenlernen, der kritische Nutzen und das Genießen der eigenen Fähigkeiten sowie der mündige Umgang mit Potenzialen, Grenzen und Gefahren der eigenen Kreativität – besonders hinsichtlich lebenslanger Identitätsgestaltung.

prozesses«, UDK Berlin, 01.- 03. März 2002. http://www.muse-forschung.de/texte/ber lin/aesterf.htm (15.09.2014). 88 Vgl. Eder 2011, S. 150. 89 Im Bereich der künstlerischen und kunstpädagogischen Ausbildung gibt es bereits interdisziplinäre Studiengänge, die ästhetische Fächer grenzüberschreitend verbinden und den Forschungssektor ausbauen. Seit 2003 Transmediale Kunst an der Universität für Angewandte Kunst in Wien unter Brigitte Kowanz, seit 2011 Lernbereich Ästhetische Erziehung an der Universität zu Köln, Musisch-Ästhetische Erziehung an der UDK Berlin. Vgl. Mattenklott 2007.

42 | HOMO CREANS • Sie sollte der komplexen Informations- und Vernetzungsdichte mit der Vermitt-

lung von ideologiekritischer Selbständigkeit, Orientierungs- und Beziehungsfähigkeit sowie Bild-, Medien- und Reflexionskompetenzen begegnen. • Sie sollte sich ausrichten auf verantwortungsbewusste, nachhaltige Lebensführung und demokratische Mitgestaltung eines tragfähigen interrelationalen Miteinanders im lokalen wie globalen Zusammenleben. Dazu gehören das Zelebrieren von Vielfalt und Einzigartigkeit sowie der Umgang mit Komplexität, Autonomie und Einmischung. 1.2.3 Zielsetzung von HOMO C REANS Kunstpädagogische Publikationen zur Kreativität verfolgen tendenziell ein produktorientiertes Kreativitätsverständnis, die qualitativ evaluierende Kategorisierung kreativer Produkte sowie entsprechende Fördermethoden. In HOMO CREANS geht es jedoch primär um die Auslotung einer künstlerisch bzw. kunstpädagogisch kreativitätsbildenden Grundhaltung90, abgeleitet von Grundsätzen interrelationaler Kreativität der transmedialen Kunst.91 HOMO CREANS möchte damit die Orientierung der Kunstpädagogik an der Kreativitätsbildung neu und explizit herausstellen. Als Grundlagenarbeit ist HOMO CREANS auf Offenheit, Anschlussfähigkeit und Übertragbarkeit angelegt. Sie richtet sich an Studierende der Künste und ihrer Vermittlungsdisziplinen, an Künstler, Pädagogen und Interessierte.

1.3 F LUSS : T RANSDISZIPLINÄRE F ORSCHUNGSMETHODE UND AUFBAU DES B UCHES Auf welchem Forschungsweg kann das Hybridfach Kunstpädagogik das weite Feld der Kreativität beforschen? Und welchen Fluss verfolgt der Aufbau dieses Buches?

90 Kunstpädagogische Grundprinzipien und Maxime, die zu kreativen Bildungsprozessen führen können. 91 Unter dem kunstpädagogischen Blickwinkel wird das Künstlerische hier nicht nur vom abgeschlossenen Werk her begriffen – also werkästhetisch – sondern in biografischen Entstehungskontexten und Bezügen, von den künstlerischen Strategien her (z.B. Spiel, Zufall, Vernetzung, Improvisation, Komposition, Co-Kreativität) verstanden – also produktionsästhetisch.

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1.3.1 Artistic Research Als zentrale epistemologische Methode wählt es den transdisziplinären Ansatz des Artistic Research – die künstlerische Forschung.92 Der Begriff bezeichnet einen prozessorientierten zeitgenössischen Kunst- Theorie- und Wissenschaftsbegriff, der die Vielfältigkeit von Forschungsgegenständen, -methoden und -produkten anerkennt. Er nutzt die Schnittstellen verschiedener sich gegenseitig ergänzender Arbeitsweisen der Kunst, der Theorie sowie der Wissenschaft, um neues Wissen zu generieren.93 Somit durchbricht Artistic Research den dichotomischen Gegensatz zwischen den intersubjektiv-wissenschaftlichen und subjektiv-künstlerischen Erkenntnismethoden von Wissenschaft und Kunst 94, wie er seit der Aufklärung verstanden wurde.95 Künstlerisches und wissenschaftliches Handeln haben beide eine gemeinsame Ausgangsmotivation: Erkenntnisdrang und Wissensgenerierung. Bruno Latour fasst den gemeinsamen Ursprung des Wissens zusammen: »Es gibt keine zwei Ressorts, sondern ein einziges, dessen Produkte sich erst später und nach gemeinsamer Prüfung unterscheiden.«96 In forschender Auseinandersetzung mit Wirklichkeit gestalten Kunst wie Wissenschaft Wirklichkeit, indem sie Sprachen erler-

92 Laut UNESCO-Definition ist Forschung »jede kreative systematische Betätigung zu dem Zweck, den Wissensstand zu erweitern, […] sowie die Verwendung dieses Wissens in der Entwicklung neuer Anwendungen.« OECD Glossary of Statistical Terms 2008, zitiert in Klein 2011, www.kunsttexte.de (14.09.2014), S. 1. Der Begriff Künstlerische Forschung umfasst sowohl Kunst als Wissenschaft wie auch Wissenschaft als Kunst. Julian Klein teilt die Kunst als Wissenschaft in drei Kategorien: Kunst, die auf anderer Forschung beruht, Kunst, die Forschung oder deren Methoden für sich verwendet, und Kunst, deren Produkte Forschung sind. Florian Dombois erweitert dies: »Forschung über/für/durch Kunst | Kunst über/für/durch Forschung«. Vgl. Klein 2011, www.kunst texte.de (14.09.2014), S. 1. Julian Klein ist Komponist, Regisseur und Mathematiker, Direktor des Instituts für künstlerische Forschung !KF in Berlin. Vgl. http://www.artisticresearch.de/archives/1 (14.09.2014). Vgl. Dombois 2006, S. 21-29. 93 Vgl. Tröndle, Martin: Zum Unterfangen einer ästhetischen Wissenschaft – eine Einleitung, in: Tröndle/Warmers 2012, XVii. 94 Wissenschaftler zeichnen ein vermeintlich objektives, analytisch-lineares Bild der Welt. Sie beschreiben Vorgefundenes und formulieren allgemeingültige Gesetze, die durch Reproduzierbarkeit beweisbar sind. Künstler arbeiten individuell. Vermeintlich konventionslos fügen sie dem Vorgefundenen neue Wirklichkeiten hinzu, indem sie ihre subjektive Welterfahrung ausdrücken. Vgl. Singer, Wolf: Vorwort: Kunst und Wissenschaft, in: Dresler 2009, S. 7/8. 95 Vgl. Mersch/Ott (2007), zitiert in: Klein 2011, S. 2. 96 Latour 2008, S. 190.

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nen oder erfinden, mit denen sie sinnlich nicht unmittelbar Fassbares beschreiben können. Vermutlich vollziehen sich die gleichen kognitiven Prozesse 97: Tabelle 1: Kognitive Prozesse in Kunst und Wissenschaft 1 2 3 4

Unvermittelt erfahrbare Wahrnehmung wird unvoreingenommen beobachtet. Nach bestimmten Kriterien werden komplexe Bezüge erschlossen und vermessen. Stimmigkeiten werden erspürt, Beziehungen aufgedeckt, Bedeutungen zugewiesen. Wissen wird medial gebunden, reflektiert, publiziert und zur Diskussion gestellt.

Quelle: Johanna G. Eder

Wissenschaft bewertet Erkenntnis durch Messen, Befragen und Beobachten und generiert Wissen98 durch Methoden wie Hermeneutik99 oder Empirie100. Künstleri-

97

Vgl. Balkema/Slager 2011; vgl. Singer, Wolf: Vorwort: Kunst und Wissenschaft, in: Dresler 2009, S. 7/8.

98

Wissensgenerierung ist ein konstruktiver und rekonstruktiver Prozess der Schemabildung. Neue Information wird mit existierenden kognitiven Strukturen, bekannten Wahrnehmungs-, Denk-, Erinnerungs- und Wissensstrukturen in Beziehung gebracht und interpretiert. 1. Selektion: nur die Information wird aufgenommen, die für bereits vorhandene Schemata relevant erscheint. 2. Erwartung: Leerstellen werden mit dem konkreten Informationsangebot gefüllt. 3. Aufmerksamkeit: Schemabezogene Information wird besser behalten. 4. Abstraktion: die Bedeutung einer Information wird weiterverarbeitet. 5. Interpretation: in Bezug auf die vorhandenen Schemata. 6. Integration: die verarbeitete Information wird zu einem neuen System verbunden.

99

Logische lineare bzw. zirkuläre Erkenntnisstruktur des Verstehens und der Sinnkonstruktion. Für Hans-Georg Gadamer ist jegliches Verstehen an symbolhafte Sprachlichkeit gebunden. »Die Ausschöpfung des wahren Sinns aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß. Es werden nicht nur immer neue Fehlerquellen ausgeschaltet, so daß der wahre Sinn aus allerlei Trübungen herausgefiltert wird, sondern es entspringen stets neue Quellen des Verständnisses, die ungeahnte Sinnbezüge offenbaren. Der Zeitenabstand, der die Filterung leistet, hat nicht eine abgeschlossene Größe, sondern ist in einer ständigen Bewegung und Ausweitung begriffen.« Gadamer 1990, S. 303.

100 Die qualitativ-empirischen Sozialwissenschaften überprüfen und interpretieren unmittelbare Wahrnehmungen mithilfe von Datenerhebungen und Analysemethoden. Georg

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sche Praxis umfasst die Hermeneutik der Geisteswissenschaften, die experimentelle Methodik der Naturwissenschaften und das soziale Interesse der Sozialwissenschaften. Forschung wird dann künstlerisch in Gegenstand, Methode und Produkt, wenn sie ihr Wissen zudem durch die künstlerische Erfahrung101 gewinnt. Diese produziert embodied knowledge102, das sich nur erfahren lässt. Dieses implizite Wissen braucht künstlerische Formen der Erforschung, des Diskurses und der Publikation.103 Forschungsgegenstand des Artistic Research ist der künstlerische und wissenschaftliche Gehalt von Objekten, Vorgängen und Ereignissen der Welt, der Gesellschaft oder des Menschen. Auch kreative Prozesse und das Kunstwerk als Erkenntnismedium zählen dazu. Die Forschungsmethoden des Artistic Research sind vielfältig. Zentral ist ein produktives Miteinander von sinnlicher Erfahrung und geistiger Reflexion durch logisch kausales Denken, wie auch ästhetisches und nichtlineares Denken. Daten werden nicht nur durch Archivrecherche, Experimentieren und Dokumentieren erhoben, sondern durch die Feldforschung, soziale Interventionen oder Interviewtechniken. Zusammenhänge werden kartierend104 vernetzt mithil-

Peez (2002) adaptiert diese Forschungsmethoden für die Kunstpädagogik besonders hinsichtlich Wirkung und Evaluation ästhetischer Erfahrung, um zur bildungstheoretischen Fachlegitimation beizutragen. Vgl. Peez 2000. »Um in diesem Konzert der Ansprüche zu bestehen und in der bildungspolitischen Diskussion nicht unter die Räder zu kommen, müssen wir […] der Empirie gegenüber der Theorie einen größeren Stellenwert zugestehen und mehr darüber sagen können, was wirklich im Kunstunterricht bzw. in ästhetischen Lernprozessen geschieht, welche kurz-, mittel- und langfristigen Wirkungen daraus resultieren und welche Faktoren auf welche Weise die Qualität solcher Wirkungen beeinflussen können.« Legler 2001, S. 44. 101 Künstlerische bzw. Ästhetische Erfahrung ist ein sinnlich-aisthetischer Prozess. Durch die Reflexion von sinnlicher und emotionaler Wahrnehmung konstruiert er körperliches, fühlbares und gefühltes Wissen. Wissen, das sich aus der subjektiven Erfahrung generiert, ist prozedural und implizit. Es lässt sich erst in zweiter Linie intersubjektiv verhandeln. Vgl. Dewey 1934, Polanyi 1966, Piccini & Kershaw 2003, zitiert in: Klein 2011, S. 2-3. 102 Vgl. Klein, Julian in: Tröndle/Warmers 2012, S. 146. 103 Klein, Julian/Tröndle, Martin: Wie kann Forschung künstlerisch sein? in: Tröndle/Warmers 2012, S. 139-147. 104 Kartierung (engl. mapping) als künstlerische Arbeitsform bzw. kunstwissenschaftliche Erkenntnis-Methode geht auf den unvollendeten Bilderatlas Mnemosyne des deutschen Kunsthistorikers Aby Warburg (1866-1929) zurück. Darin ordnete er Bildwerke nach ikonographischen und thematischen Kriterien. Beispiele aus der Kunstgeschichte: Marcel Duchamp, Joseph Beuys, die bildliche Kartierung der Welt im Werkzyklus Atlas

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fe der folgenden künstlerischer Strategien: durch Ambiguität, Analogien, Assoziationen, Bricolage, Intertextualität, Intuition, Metaphern, Spiel und Subtext. Daten und Zusammenhänge werden subjektiv oder intersubjektiv interpretiert, auf einer Meta-Ebene analysiert, strukturiert und zu einem Modell verbunden. Zuletzt wird die Komplexität und Vieldeutigkeit des Wissens intersubjektiv nachvollziehbar gemacht, z.B. sprachgebunden. Es bleibt jedoch eine ästhetische Leerstelle im Dazwischen. Abbildung 3: Bricolage

Quelle: Johanna G. Eder

Das vorliegende Buch benutzt vor allem die spielerisch vernetzende Bricolage aus bezugswissenschaftlichen Analysen, qualitativ-empirischen Datenerhebungen und metaphorischen Leitthemen. Auch (Sprach-)Bilder sind maßgeblicher Teil des Verstehensprozesses.105 Eine rigide Struktur schafft Ordnung. Der schriftsprachliche Vermittlungsprozess will als ästhetisches Ereignis verstanden werden. Aus der Sicht der analytischen Wissenschaft wäre dem Artistic Research vorzuwerfen, dass sein collagierendes Vorgehen zu komplex und unpräzise ist, dass zu viele Verästelungen offen bleiben. Der Gebrauch von Ambiguität, Metaphern und Subtext könnte einen willkürlichen, unwissenschaftlich-normativen oder oberflächlich-illustrativen Eindruck vermitteln. Es wird sich jedoch zeigen, dass diese Methode der immanenten Dynamik des kreativen Prozesses entspricht.

von Gerhard Richter, 1962-1996. Vgl. Busse 2007; vgl. Heil 2007; K+U Hefte: 285/286. 2004 105 Bilder haben eine offene Dimension, durch welche die intersubjektiven, kommunikativen und kooperativen Prozesse der Kunstproduktion und der Vermittlung hervorgerufen werden. Vgl. Haarmann, Anke: Artistic Research – Künstlerische Forschung, Vortrag an der UDK Berlin, http://www.aha-projekte.de/HaarmannArtisticResearch.pdf, (12.09. 2014), S. 4.

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1.3.2 Metaphorisches Leitthema: Kartierung des Netzwerks der Kreativität Die Strukturen des kreativen Prozesses bzw. kreativer Zusammenhänge lassen sich in eine metaphorische106 Narration fassen: Der HOMO CREANS bereist transitorische Wissensorte, erfährt ihre komplexe Interrelationalität, ihre spielerische Poetik, die Atmosphäre und Symbolik ihrer Strukturen, öffnet sich dem, was er nicht versteht und kartiert das sich ihm darbietende Netzwerk. Folgende Metaphern werden im Buch leitmotivisch verwendet. • • • • •

Kartierung als kreative Forschungsmethode Netzwerk als interrelationale Struktur der Spiegel als Medium der Beziehung und (Selbst-)Erkenntnis das (Sprach-)Bild als Spiegel der Fantasie das (Liebes-)Spiel als evolutorische Kraft.

1.3.3 Aufbau des Buches Was ist das überhaupt, der HOMO CREANS? Das vorliegende Buch stellt diese selbstreferentielle Frage aus kunstpädagogischer Warte. Es stellt sie in Form eines inhärenten, kreativen Prozesses. Hinter der leitmotivischen Metapher einer kartierenden Expeditionsreise durch das sich ständig transformierende Beziehungsnetzwerk der Kreativität liegt der konkrete Fluss des Buches in fünf Kapiteln. 107 A. Verortung des HOMO CREANS An dessen Anfang stehen komplexe Bestandsaufnahmen und sich daraus ergebende Fragen. Deshalb beginnt die Erkundung des HOMO CREANS mit einer Bilanz gegenwärtiger Transformations- und Vernetzungstendenzen, nach dem spielerischen Motto »Stadt-Land-Fluss«. Darin werden Zielsetzungen, Forschungsmethoden und die Reiseroute festgelegt. Die konkrete Frage nach dem HOMO CREANS beginnt mit der Auslotung komplexer kreativer Prozesse: den Ursprüngen des Schöpferischen bzw. schöpferischer Ursprünge sowie Kreativität in der Kunst.

106 Aus dem Griech.: Übertragung. Der Begriff der Metapher bezeichnet bei Brandstätter 2008 das Denken in Bildern und Analogien. Vgl. Brandstätter 2008, S. 24-25. 107 Die fünf Etappen orientieren sich in ihrer Makro- und Mikrostruktur selbstverweisend an den fünf strukturellen Phasen des kreativen Prozesses: Präparation, Inkubation, Inspiration, Inkarnation, Verifikation.

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B. Konjunktion des HOMO CREANS Das zweite Kapitel fragt nach der inneren Logik des HOMO CREANS mithilfe einer Verknüpfung von Aussagen kunstpädagogischer Bezugswissenschaften. Abgesteckt werden die Grundlagen der Kreativität, der kreative Prozess, die Messbarkeit bzw. Evaluation kreativer Prozesse, die kreative Persönlichkeit und kulturkonstitutive Aspekte des HOMO CREANS. C. Künstlerische Kreativität Das dritte Kapitel fragt danach, wie künstlerisch-kreative Prozesse in der transmedial entgrenzten Kunst verlaufen, in welch komplexen Netzwerkstrukturen sie stehen und wie sie von den Protagonisten subjektiv erfahren werden. Um die Charakteristika eines transmedial entgrenzten Kunstbegriffs nachzuvollziehen, begegnet ein erster Schritt vier kunsthistorischen Entgrenzungspositionen, die fundamentale Transformationen der westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts anstießen. In einem zweiten Schritt werden anhand von fünf nicht-kanonisierten Positionen der Gegenwartskunst künstlerisch-kreative Strategien und Prozesse dargestellt. Ein dritter Schritt skizziert eine interrelationale Ästhetik des HOMO CREANS. D. Kreativitätsbildung Das vierte Kapitel fragt nach der Kreativitätsbildung. Es stellt etablierte kreativitätsfördernde, kreativitätspädagogische bzw. kunstpädagogische Ansätze dar und fasst Grundzüge der Kreativitätsbildung zusammen. E. Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst Das fünfte Kapitel resümiert schließlich einen kunstpädagogischen Ansatz des HOMO CREANS. Dieser fußt auf der Ästhetischen Bildung und definiert eine kreative Grundhaltung durch folgende kreativitätsbildende Kernkriterien: Sensibilität, Selbständigkeit, Genussfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Beziehungsfähigkeit. Das Fazit zeigt, dass der HOMO CREANS gleichsam eine Heterotopie108 wäre, ein geschützter Lernort, an dem von der Norm abweichendes Verhalten möglich ist.

108 Vgl. Foucault 2005.

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Die Reise wird zeigen: das sprichwörtliche »weite Feld« aus Theodor Fontanes EFFI BRIEST109 ist eine zwingende Beschreibung des Themas Kreativität. Die Expeditionsreise wird der Versuchung widerstehen müssen, im Laufe des Kartierungsprozesses eine Karte im Maßstab 1 : 1 zu produzieren. Keine Karte kann ein weites Feld komplett abbilden, das sich selbst auffaltet wie ein unendliches Netzwerk sich verzweigender Beziehungsachsen. Auch ist es unmöglich, eine komplexe, sich durchdringende Netzstruktur linear darzustellen. Verkürzungen sind unvermeidlich. Der Forschungsgegenstand Kreativität ist gleichzeitig auch Forschungsmethode und steuert den eigenen Forschungsverlauf. Das Netzwerk Kreativität ist Thema, Weg und Ziel – der Kern ihres eigenen Wesens. Man kann sich von verschiedenen Winkeln her nähern. Dies wird dazu beitragen, einen kunstpädagogischen Ansatz der Kreativitätsbildung herauszustellen. So bleibt der Leserschaft eines zu wünschen: »Gute Reise!«

109 Vgl. Fontane 1986.

2 HOMO CREANS: Schöpferische Ursprünge – Ursprünge des Schöpferischen

Um das weite Feld der Kreativität zu erkunden und ihre Ursprünge zu verstehen, führt die Reise zunächst in die Höhlen der Vorzeit.

2.1 K ÜNSTLERISCHE U RSPRÜNGE Zwischen 1994 und 1998 wurden im Braunkohletagebau in Schöningen bei Braunschweig unter der Leitung von Hartmut Thieme die vermutlich ältesten erhaltenen Wurfspeere der Menschheit gefunden, Jagdwaffen mit perfekter Ballistik. Ihre Datierung reicht von etwa 270.000 Jahren1 bis in die Altsteinzeit vor 400.000 Jahren2. Somit belegen die Funde die aktive Jagd des Homo Heidelbergensis3, einer Art des Frühmenschen Homo Erectus. Die Funde haben das Bild der kulturellen Entwicklung des frühen Menschen nachhaltig verändert. Am Fundort fanden sich auch Feuerstellen – Entwicklungsorte menschlichen Miteinanders und der Kultur. Schöningen erzählt von der kulturellen und sozialen Entwicklung des frühen Menschen und widerlegt die Forschungs-

1

Vgl. Baales, Michael und Jöris, Olaf: Zur Altersstellung der Schöninger Speere. In: Burdukiewicz 2003 (Festschrift Dietrich Mania), S. 281-288.

2 3

Vgl. Thieme 2005, S. 409-417. Eine Art der Gattung Mensch, die aus dem Homo Erectus hervorging und sich zum Neandertaler weiterentwickelte, der schließlich ausstarb. Heute ist der Mensch biologisch die einzige Art seiner Gattung Homo Sapiens, deren Ursprung in Afrika liegt. Vor Hunderttausenden Jahren existierten noch mehrere Menschenarten nebeneinander. Nur die erfolgreichsten Arten breiteten sich aus: der Neandertaler und der Homo Sapiens. Entscheidende Faktoren für das Überleben waren dabei der Körperbau, Wissen über Werkzeuge, planerisches Denken und Sprache. Vgl. Wagner 2007.

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meinung, der Homo Heidelbergensis und der sehr viel jüngere Neandertaler seien primitive, sprachlose Wesen gewesen. Denn die Speere und ihr Fundzusammenhang liefern den eindeutigen Beleg für eine aktive (Großwild-)Jagd mit technologischen Fähigkeiten. Eine erfolgreiche Jagd auf schnell fliehende Herdentiere ist nicht denkbar ohne ausgefeilte Jagdstrategien, ein komplexes Sozialgefüge und entwickelte Formen der Kommunikation. Schon der Homo Heidelbergensis mag über intellektuelle und kognitive Fähigkeiten wie Zeitbewusstsein, vorausschauendes, planendes Denken und Handeln verfügt haben, die eigentlich erst dem wesentlich späteren modernen Menschen Homo Sapiens zugeschrieben wurden.4 Die Speere von Schöningen zeigen, dass die Menschen-Art vor 400.000 Jahren Werkzeuge und Feuer machen konnte, über Sprachformen verfügte, jagte und logisch dachte. Warum starb der Nachfahre des Homo Heidelbergensis, der Neandertaler als nächster Urverwandter des Homo Sapiens, vor rund 30.000 Jahren aus? Archäologische Funde zeigen, dass er dem Homo Sapiens in vielem ähnelte. Er war ein erfolgreicher Jäger, verfügte über medizinisches Wissen und Erfindergeist. Der Befund einer Genomanalyse von Leipziger Molekularbiologen besagt, dass es keine Genvermischung mit dem Homo Sapiens gegeben hatte. Zudem verfügte der Neandertaler über ein bestimmtes Gen, dessen Mutation zu Sprachstörungen führt. Im Rückschluss konnte der Neandertaler also mit gewisser Wahrscheinlichkeit sprechen. Der Homo Sapiens war jedoch flexibler und anpassungsfähiger. Anders als der Neandertaler konnte er nähen, Häuser und komplexe Siedlungen errichten. Ganz zentral für diese kulturelle Evolution waren Kommunikation und Kooperation. Sich über abstrakte Inhalte auszutauschen, Wissen weiterzugeben, Erkenntnisse, Gefühle und Empfindungen zu teilen. Dieses gemeinschaftliche Mitteilen verschaffte dem Homo Sapiens enormen Vorsprung und machte ihn zum ersten Kulturwesen. 2.1.1 Erste künstlerische Objekte Funde bezeugen, dass der Homo Sapiens vor 40.000 Jahren schlagartig eine ganze Reihe radikaler kreativer Innovationen entwickelte. Der Archäologe Nicholas Conard fragt nach den Ursachen der kulturellen Evolution und vermutet, dass der Zufall, aber auch der Spaß an der Exploration zu einer kreativen Explosion führten. Eines der ältesten künstlerischen Objekte der Menschheit ist eine 40.000 Jahre alte, etwa sechs Zentimeter hohe, 33,3 Gramm schwere, aus Mammut-Elfenbein ge-

4

Vgl. Thieme, Hartmut: Der große Wurf von Schöningen: Das neue Bild zur Kultur des frühen Menschen, in: Thieme 2007, S. 224-228; vgl. Haidle, M.: Menschenaffen? Affenmenschen? Mensch! Kognition und Sprache im Altpaläolithikum, in: Conard 2006, S. 69-97.

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schnitzte Frauenfigurine, die im September 2008 bei Ausgrabungen in der Karsthöhle Hohlefels5 von Nicholas Conard6 entdeckt wurde. Die Venus vom Hohlefels ist die weltweit älteste gesicherte Darstellung eines Menschen. Sie ist nahezu vollständig erhalten. Abbildung 4: Hohle Fels Venus

Quelle: Hilde Jensen. © Universität Tübingen

Die Beine sind kurz, spitz und asymmetrisch. Nur der linke Oberarm und der Kopf fehlen. Eine Öse über den Schultern legt die Vermutung nahe, dass die Figur als Anhänger getragen wurde. Ihre sexuellen Merkmale sind stark betont: überdimensionierte Brüste, ein akzentuiertes Gesäß sowie ein deutlich hervorgehobener Genitalbereich. Die tiefe Furche zwischen den Gesäßhälften zieht sich durch bis zu den großen Schamlippen zwischen den geöffneten Beinen. Die kurzen Arme und die sorgfältig geschnitzten Hände liegen unterhalb der Brüste auf dem Bauch. Neben

5 6

Am Südfuß der Schwäbischen Alb bei Schelklingen. Archäologe der Universität Tübingen. Von seinen Mitarbeitern wurden insgesamt sechs bearbeitete Elfenbeinstücke innerhalb der Grabungsfläche etwa 20 Meter vom Höhleneingang entfernt im Höhleninneren geborgen. Die Fragmente lagen dicht beieinander.

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den intensiv ausgearbeiteten anatomischen Details weist die Figur eine Reihe komplexer Ritzlinien und Kerben auf.7 Dieses Artefakt ist mit Sicherheit kein Werkzeug und keine naturalistische Darstellung mit rein analytischem Interesse, sondern es ist dem Bereich des Kult zuzurechnen. Welche konkrete Bedeutung ihm zukommt, lässt sich nur schwer interpretieren. Die zeitgenössische Kategorisierung betrachtet die Venus vom Hohlefels als Kunstwerk. In dieser Gegend der Schwäbischen Alb gab es außerdem noch Funde: verzierte Mammuts, feingestaltete Pferdefiguren und Raubtierwesen. In der Höhle Geißenklösterle im Achtal bei Blaubeuren wurde eine 40.000 Jahre alte Musikflöte ohne Mundstück, aus den Flügelknochen eines Raubvogels hergestellt, gefunden. Ihr Tonspektrum ist ebenso variantenreich wie das einer zeitgenössischen Flöte und auch ihre Tonleiter kommt der heutigen Hörgewohnheit recht nahe. Sie ist der weltweit älteste gesicherte Nachweis für Musik8. Höhlen sind mit ihrer Akustik ein idealer Ort um Musik zu machen. Man stelle sich vor: die Sippe ist abends um das Feuer versammelt, das ihre Schatten an die Wände wirft. Der Geruch von gebratenem Fleisch liegt in der Luft. Man erzählt sich Geschichten. Einer beginnt auf der Flöte zu spielen, mit dem Echo der Höhle als natürlichem Verstärker. Dazu wird geklatscht, gesungen und getanzt – ein multimediales Ereignis.

7 8

Vgl. Conard/Malina 2009, S. 19-22, 248-252. Musik ist eine unmittelbare und eindringliche Kunstform. Als zeitgebundenes, ephemeres Phänomen berührt sie den Menschen im wörtlichen Sinne. Klang, Rhythmus und Tempo sind ein physischer Bestandteil des Menschen und können ihn in bestimmte Stimmungen und Erregungen versetzen. Im Rhythmus von Entstehen, Dauer und Vergehen schafft Musik aus der vermeintlichen Unordnung akustischer Signale – Geräuschen, Klängen oder Tönen – eine Ordnung. Durch Musik dringen auditive Wahrnehmungen in den Menschen ein, die auch andere sinnliche Erfahrungsbereiche erregen. Die Stille ist der eigentliche Moment des Hörens. Tonkombinationen können etwas beschreiben, Gefühle und Fantasien auslösen. Die musikalische Erzählung arbeitet mit Verdichtung, Spannung und Auflösung, mit Dur und Moll, mit chromatischen Harmonien und dissonanten Reibungen, mit Klangflächen und dynamischen Phrasierungen, mit Tonalität und Atonalität. Tonabstände und Rhythmen sind kulturell determiniert. Die Vernetzung von akustischen Signalen zu Bedeutungseinheiten erfolgt im Gehirn. Tempo, Lautstärke, Rhythmus und Klangfarbe werden in verschiedenen Arealen verarbeitet, die im ganzen Gehirn verteilt sind. Keine andere Aktivität beansprucht die Koordinationsleistung des Gehirns so komplex und intensiv – gleichermaßen rational wie emotional. Musik stimuliert das Belohnungszentrum des Gehirns und stellt Beziehung her. Somit ist Musik eine grenzüberschreitende, soziale Interaktion – sowohl für die Musizierenden, als auch für den Rezipienten. Vgl. Brandstätter in: Brandstätter et al. 2008, S. 15.

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Die ältesten von Menschenhand gefertigten Kulturobjekte zeigen, dass die Homo Sapiens-Menschen vor 40.000 Jahren dem Menschen der Gegenwart schon sehr ähnlich waren. 2.1.2 Höhlenmalerei Die Erforschung prähistorischer Höhlenmalereien steht in Verbindung mit einer spektakulären Entdeckung: ein kleines Mädchen namens Maria kletterte 1879 in schwer zugängliche unterirdische Galerien einer Höhle und entdeckte so mit ihrem Vater Marcelino de Sautuola (1831–1888) die etwa 930 Höhlenmalereien von Altamira. Eine Radiokarbonanalyse datiert die Malereien auf etwa 11.300-12.900 Jahre v. Chr. – also ins Obere Paläolithikum (35.000-10.000 v. Chr.), in die Steinzeit9. Die Höhlenwand zeigt Darstellungen von Pferden, Steinböcken, Ebern und Auerochsenherden, einer seit Jahrtausenden ausgestorbenen Bisonart. Die Unebenheiten des Gesteins sind in die großformatige Malerei miteinbezogen und verleihen den Tieren eine reliefartige Gestalt. Die Komposition zeugt von genauer Beobachtung, ausgeprägtem ästhetischem Empfinden und hoher Kunstfertigkeit. Die überwiegend schwarzen und roten Tierdarstellungen sind umrissen mit Konturen in Braun, Purpur, Gelb, Rosa und Weiß aus verschiedenen, kräftigen Oxid- und KohlenstoffPigmenten. Menschen oder Pflanzen kommen in den Malereien nicht vor. Es ging wohl nicht um eine mimetische Darstellung der Lebenswelt. Doch was war die Darstellungsabsicht der Urheber? Dazu entwickelten sich verschiedene Theorien. Die Haupttätigkeit des paläolithischen Menschen war wohl die Jagd. Die Höhlenmalereien könnten in einem magisch rituellen Zusammenhang stehen, um sich der Beute bildnerisch zu ermächtigen. Ein Fund widerlegt diese These jedoch. Die Analyse von Knochen und Speiseresten aus der Höhle von Altamira verweist nicht wie erwartet auf die dargestellten Tiere, sondern auf Hirsche, Rehe, Ziegen, Wildschweine und Schalentiere. Ein neuropsychologisches Modell für die allerersten Anfänge der symbolischen Darstellung stammt vom Südafrikaner David Lewis-Williams und findet weltweit bei vielen Fachleuten Zustimmung. David Lewis-Williams zieht seit den 1960ern Analogien zwischen den prähistorischen Höhlenmalereien, den Felsmalereien der südafrikanischen Buschleute vom Drakensberg und ihren noch heute praktizierten schamanistischen Riten. Dieses jagende und sammelnde Volk lebe in kulturellen Zusammenhängen, die Urvölkern noch sehr ähneln. Dabei spiele der Schamane eine

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Die weltweit ältesten Höhlenmalereien finden sich in der El-Castillo-Höhle und lassen sich auf ca. 40.000 v. Chr. datieren.

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zentrale Rolle.10 Das Setting eines schamanistischen Ritus könnte folgendermaßen aussehen: bei Einbruch der Dunkelheit wird ein Feuer entzündet, um das herum die Frauen der Sippe zusammen mit den Kindern Platz nehmen. Sie stimmen ein in rhythmisches Singen und Klatschen. Unter der Führung eines Ältesten, der besonders geschmückt ist mit klappernden Knöchelchen, tanzen und stampfen die Männer um den Kreis herum und summen Gesänge, stundenlang ohne Pause, immer im Kreis. Der ekstatische Tanz mag eine erfolgreiche Jagd feiern oder einem bevorstehenden Beutezug Glück bringen. Unabhängig von der ersehnten Beute haben Tiere auch Symbolwert als Schutzgeister. Solch ein Ritus kann im Zusammenhang mit Initiationen stehen. In ihm sind alle Künste vereint: Körperbemalung, Musik, Gesang und Tanz, Erzählkunst, vielleicht sogar theatrale Elemente. Zunehmend treten die Protagonisten in den veränderten Bewusstseinszustand der Trance ein. Sie haben intensive körperliche oder visuelle Wahrnehmungen und Halluzinationen. Diese intensive, existenzielle Erfahrung lässt sich wohl kaum unmittelbar zeichnerisch oder malerisch mitteilen, jedoch aus der Erinnerung. Die von David Lewis-Williams beforschten Felsmalereien vom Drakensberg zeigen surreale geistige und körperliche Erfahrungen des Menschen im Zustand der Ekstase11 und stammen wahrscheinlich von Schamanen. Seine Theorie besagt, dass die Fähigkeit des Menschen zu symbolischer Darstellung durch neuropsychologische Prozesse ausgelöst werde.12 Die paläolithischen Maler übertrugen nicht die Beobachtungen der sie umgebenden Welt auf die Höhlenwände, sondern die Visionen ihrer mystischen Erfahrungen und rauschhaften Traumvorstellungen.

10 Ein Schamane habe Erfahrung mit dem Übernatürlichen, bringe sie zum Ausdruck und setze sie zum Wohl der Sippe ein – z.B. als Seher und Heiler. Schamanen treten mitunter in Tiergestalten auf. Vgl. Müller 2006. 11 Griech. aus sich heraus treten, außer sich sein, Verzückung. Eine Sammelbezeichnung für rauschhafte psychische Erlebnisse der Ich-Auflösung. 12 Die Hirnanatomie des paläolithischen Menschen gleicht der des heutigen Menschen. Neuronale Prozesse laufen heute noch ebenso ab, wie bereits vor 35.000 Jahren – z.B. in veränderten Bewusstseinszuständen der mystischen Erfahrung. Sie kann ausgelöst sein durch halluzinogene Substanzen, Tanz, Dunkelheit, Erschöpfung, Hunger, Meditation, Migräne, Schizophrenie. Der Inhalt dabei erlebter mystischer Visionen ist nach Schmidt (2006) subjektiv determiniert. Mehr dazu in Kapitel B 2 zum kreativen Prozess. Vgl. Schmidt 2006.

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2.2 M YTHOLOGISCHE U RSPRÜNGE

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S CHÖPFUNG

In Europa fand die Höhlenmalerei vor etwa 12.000 Jahren ihr Ende. Vor etwa 11.000 Jahren war die Symbolkraft von Bildern in den Köpfen der Menschen so mächtig geworden, dass sie zum Aufstieg von Hochkulturen in Ägypten und Mesopotamien beitrug. Dies löste um 9.000 v. Chr. im Nahen Osten einen enormen kulturellen Umwandlungsprozess aus: den Übergang von einer Jagd- und Sammelkultur zur Agrarkultur.13 Elementarer Teil dieser Kultur war die Erzählkunst, die mythologische Erklärungsmodelle des Schöpferischen entwickelte. Nach dem Kulturwissenschaftler und Ägyptologen Jan Assmann (1997) ist ein Mythos14 die Überlieferung einer symbolischen, narrativen Erklärung des Aufbaus der Wirklichkeit und der Stellung des Menschen in der Welt. Mythen der Welterschaffung sind philosophische oder theologische Denkbilder des Schöpferischen.15 2.2.1 Gilgamesch-Epos Der Ursprung der schriftlich überlieferten Erzählkunst liegt im babylonischen Land Mesopotamien, dem heutigen Irak. Von dort stammt der archetypische Mythos des Gilgamesch-Epos um 2400 v. Chr., der bisher weltweit früheste Nachweis für die Existenz von Schrift.16 In verschiedenen Fassungen erzählt das Epos vom König Gilgamesch17, der zu einem Drittel menschlich und zu zwei Dritteln göttlich ist und vor 5000 Jahren in einem Schreckensregiment18 über die sumerische Stadt Uruk herrscht. Die Göttin Aruru erhört die Hilfegesuche der leidenden Untertanen und erschafft aus Ton die menschliche Gestalt Enkidu, ein ungehobeltes Steppenwesen. Enkidu fordert Gilgamesch zum Kampf heraus. Die beiden schließen jedoch

13 Vgl. Spivey 2006, S. 17. 14 Altgriech.: Laut, Wort, Rede, Erzählung, sagenhafte Geschichte. Ein Mythos ist eine erzieherische Geschichte, die Normen setzt, Regeln und Anweisungen zur menschlichen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung gibt und folglich Kultur formt. Die Kulturleistung eines Mythos ist eine Selbstvergewisserung des Menschen, die Wirklichkeit erzeugt, indem sie sie zu erklären versucht. 15 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 13-16. 16 1872 von George Smith wiederentdeckt, ist die ursprüngliche Fassung in Keilschrift auf Tontafeln verzeichnet. Vgl. Wilcke, Claus: Vom göttlichen Wesen des Königtums und seinem Ursprung im Himmel, in: Erkens 2002, S. 67. 17 Sein Name bedeutet Der Vorfahr war ein Held beziehungsweise Der Nachkomme ist ein Held. 18 Z.B. verbrachte er mit jeder frisch vermählten Braut die Hochzeitsnacht.

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Freundschaft und erleben gemeinsame Heldentaten.19 Als Enkidu eines elenden Todes stirbt, quält der Gedanke an die eigene Sterblichkeit auch Gilgamesch und er verlässt Uruk auf der Suche nach dem Geheimnis ewigen Lebens. Der Lebensfinder Utmapischtim, der in einer Arche die große Sinntflut überlebt hat, verrät dem König, dass auf dem Grund des Ozeans eine Herzschlagpflanze wächst. Gilgamesch taucht hinab, erkennt jedoch seine Hilflosigkeit und die Tatsache, dass er geboren wurde, um zu sterben.20 2.2.2 Altes Ägypten Im Alten Ägypten (ca. 4000 v. Chr.) herrscht die Vorstellung, dass die Welt der Urform allen Seins Atum21 entstammt. Nach der Schöpfungsgeschichte der ägyptischen Stadt Memphis erschafft der Gott Ptah, Gott der Handwerker und Baumeister, durch seine Zunge und sein Herz den Atum. 22 Der noch nicht seiende Atum nimmt in seiner ersten Schöpfungstat während des ersten Sonnenaufgangs die Gestalt eines Sonnengottes an. Währenddessen erschafft er zudem zwei weitere Wesen: den Gott der Luft Shu und die Göttin des Feuers Tefnut. Mit ihnen bildet Atum eine Ureinheit, die sich zur Dreiheit selbstentfaltet. Dieser Schöpfungsakt vollzieht sich mit jedem Sonnenaufgang aufs Neue. Die Ordnung des Chaos wird in der schöpferischen Wiederholung immer wieder neu hergestellt. Shu und Tefnut gebären ihrerseits die Göttin des Himmels Nut und den Gott der Erde Geb. Die beiden Geschwister umschlingen sich in enger Umarmung wie zwei Liebende. Ihre Eltern bemerken dies und treiben die Geschwister auseinander. Da diese ihre liebevolle Umarmung nicht ganz aufgeben wollen, drücken sie zwar ihre Körper voneinander weg, berühren sich aber noch an den Zehen- und Fingerspitzen. Dazwischen tut sich Lebensraum auf. Dieser wird gestaltet vom Schöpfergott Chnum, einem Gott mit Widderkopf und Meister der Kunst. Er formt auf seiner Töpferscheibe sowohl Götter und Menschen als auch Tiere und Pflanzen und erweckt sie mithilfe eines Zauberstabes zum Leben.23

19 Sie töten den Riesen Chumbaba, der Libanons Zedernwälder bewacht. Gilgamesch wies die Göttin Ischtar zurück. Zur Strafe schickt Ischtar ein Untier. Auch dies töten Gilgamesch und Enkidu. 20 Vgl. Sallaberger 2008; vgl. Spivey 2006, S. 90-92. 21 Atum bedeutet das All und das Nichts im Sinne von Noch-nicht oder Nicht-mehr. 22 Somit ist die memphitische Theologie die früheste bekannte Theologie, in der sich die Schöpfung durch das Wort und die Rede vollzieht. 23 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 16-18; vgl. Reiss/Tjoyas 2006, S. 46-53; vgl. Helck/Otto 1999, S. 61.

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2.2.3 Altes China Über die folgende chinesische Schöpfungsgeschichte berichtet der Schreiber Xu Zheng (265-220 v. Chr.). In ihr ist der Urschöpfer ein Maler, der mit einem kreisförmigen Strich ein Ei entstehen lässt. In seinem Inneren befinden sich die kosmischen Prinzipien Yin (Erde) und Yang (Himmel) vereint – zwei sich ergänzende Pole, die sowohl der Ursprung als auch das Wesen aller Dinge sind. In der absoluten Harmonie des Ur-Chaos entsteht und vergeht nichts. In seiner Mitte befindet sich nur Pangu, der 18.000 Jahre lang in diesem Ei zu einem Riesen heranwächst. Dann spaltet er das Ei mit einem Axthieb. Yin und Yang zerteilen sich. Der kreisförmige Strich des Malers ist zum waagerechten Strich der Weltachse geworden, auf der Pangu steht und die Erde vom Himmel scheidet. Als er seine Arme ausstreckt, wächst der Himmel nach oben. Die Erde verfestigt sich und sinkt nach unten. Noch ist sie leer wie ein weißes Blatt Papier. Pangu legt sich nun erschöpft von der Anstrengung nieder, schläft ein und wacht nicht mehr auf. Es gibt noch niemanden, der darüber trauern oder sich freuen könnte. Da beginnt sein linkes Auge zu strahlen und wird zur Sonne, das rechte bildet den Mond. Den Schädel überzieht Humus und er wird zum ersten Gebirge, ebenso Bauch, Arme und Beine. Aus seinem Leib bilden sich nach und nach die vier Pole und die fünf Hauptgebirge. Zähne und Knochen werden Metalle. Sein Fett schmilzt und verwandelt sich zusammen mit seinem Blut in Flüsse, Seen und Meere. Seine Haare werden zu Bäumen und anderen Gewächsen. Aus seinem Atem entstehen der Wind und die Wolken. Seine Stimme wird zum Donner. Das Ungeziefer auf seinem Körper verwandelt sich in allerlei Lebewesen – und schließlich in die Menschheit. Das Universum entsteht durch die Selbstopferung Pangus. Als die Welt vollendet ist, zeichnet der Maler auf Papierrollen mit einem Strich alles, was er nun vor sich sieht. Aus diesem einen Strich wird eine Schrift. Und so werden aus der einen Welt zwei Welten. 24 Der Mythos des Pangu sagt jedoch nichts über die Welt des Malers. 2.2.4 Griechische und Römische Antike Der erste bekannte griechische Dichter, Hesiod (740-670 v. Chr.), fasst die altgriechischen Schöpfungsmythen in seiner Theogonie zusammen. Mithilfe anthropomorphistischer Gottheiten, die an der menschlichen Psyche orientiert sind und menschlichen Leidenschaften wie Liebe und Hass unterliegen, beschreibt er die Entstehung des Kosmos aus dem Chaos. Zu Anfang ist der noch nicht personifizierte Eros als Schöpfungsprinzip wirksam. Uranos, dessen Sohn Kronos und sein Enkel Zeus sind die drei Götterväter. Kronos trennt seinem Vater Uranos das Ge-

24 Vgl. Guter 2004, S. 256f; vgl. Reiss/Tjoyas 2006, S. 28-33.

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schlechtsteil ab und wirft es ins Meer. Aus dem Samenschaum des Penis entsteht Aphrodite als Inkarnation25 der Schönheit und der erotischen Schöpferkraft der Liebe. Eros begleitet sie seit ihrer Geburt, bis er als ihr Sohn in Erscheinung tritt. Beide verkörpern Schönheit, Liebe und Fruchtbarkeit. Sie bringen höchstes Glück und tiefste Verzweiflung.26 Die römische Antike übernimmt Narrationen aus der griechischen Mythologie. Der Gott Ianus, ursprünglich ein Licht- und Sonnengott, wird darin allmählich zum Gott allen Ursprungs, des Anfangs und des Endes, zum Vater aller Dinge und Mittler zwischen Menschen und Göttern. Die griechischen Götter Eros und Aphrodite werden zu Amor und Venus. Kronos wird mit dem italienischen Erdgott Saturnus gleichgesetzt und weiterhin als ambivalenter Gott der Fruchtbarkeit und des Schöpferischen verehrt.27 In der griechischen Theogonie von Hesiod (700 v. Chr.) wird Hephaistos, der Gott des Handwerks und der Künste, von seiner Mutter Hera im Streit mit ihrem Gatten Zeus empfangen. Da Hephaistos geschickt ist, weist Zeus ihn an, aus Lehm Pandora, die erste Frau, zu erschaffen. Zu diesem Zeitpunkt kennt die Menschheit noch keine Übel und ist unsterblich wie die Götter. Doch Pandora heiratet den Bruder des Titanen Prometheus, der den Göttern das Feuer gestohlen hat28. Zur Strafe dafür gibt ihr Zeus eine Büchse, die unter keinen Umständen geöffnet werden dürfe. Pandora öffnet sie dennoch kurz. Daraufhin entweicht aus ihr alles Schlechte und erobert die Welt. Unerkannt liegt am Boden der Büchse die Hoffnung. Als Pandora die Büchse erneut öffnet, kann auch sie die Welt erfüllen.29 Der griechische Komödiendichter Aristophanes (ca. 450-380 v. Chr.) erzählt eine andere Ursprungsgeschichte über das Symbolon, das ganzheitliche Wesen der Liebe. Ursprünglich seien die Menschen Kugelwesen gewesen. Doch als sie sich schlecht benehmen, schneiden die Götter sie entzwei. Nun suche jede Hälfte einer vollständigen Lebens- und Seinskugel ihre Ergänzung. In der Begegnung der Liebe

25 Lat.: Fleischwerdung. 26 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 19-23. 27 Nach Hesiod ist er der Sohn des Himmelsgottes Caelus und der Erdgöttin Tellus. In der Tradition Platons ist er der Gott der Philosophie. Er steht einerseits für Acker- und Landbau, die Erschaffung von Reichtum und Bauwerken. Andererseits wird er mit Armut, Verderbtheit und Introversion in Verbindung gebracht. Er hat eine bipolare Persönlichkeit. Denn er ist zornig, gewalttätig und tyrannisch, aber auch aufrichtig, besonnen und weise. Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 25; vgl. Vgl. Peterich/Grimal: Götter 2011, S. 119. 28 Sinnbild für die Hybris der menschlichen Schöpferkraft. 29 Vgl. Schönberger 2002.

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als Gleichnis für Seelenfindung erfülle sich die Erwartung der Einheit mit dem ergänzenden Bruchstück.30 In der vorsokratischen Philosophie sondern sich philosophische von mythologischen Denkbildern ab. Der Ordnungsgedanke des Eros, sein Drang nach Erkenntnis und schöpferischer Tätigkeit inspiriert die griechische Philosophie. In ihr setzen sich Gedanken über die Ursprünge bzw. das Wesen der Schöpfung fort. Nach Platon (427-347 v. Chr.) ist die Welt von einem Demiurgen, einem göttlichen Werkmeister nach arithmetischen, geometrischen und physikalischen Prinzipien geschaffen worden, um eine gute Ordnung herzustellen. Die Proportion halte alles innerlich zusammen. In der Politeia31 stellt die Idee des Guten das wesentliche schöpferische Prinzip dar.32 Diese Idee sei »für alle Dinge die Ursache von allen Regelmäßigkeiten und Schönheiten [und das] Urprinzip der objektiven Wahrheit als auch unserer Vernunfteinsicht.«33 Platons Höhlengleichnis34 besagt, dass die für den Menschen sinnlich wahrnehmbare, vergängliche Welt nur ein Schatten der absoluten Wirklichkeit sei, des Wahren, Guten und Schönen, der vollkommenen Idee Logos35, die

30 Vgl. Gadamer 1977, S. 41-48. 31 Vgl. Platon 1962. 32 »Da nämlich Gott wollte, dass, soweit es möglich, alles gut und nichts schlecht sei, da er aber alles, was sichtbar war, nicht in Ruhe, sondern in regelloser und ungeordneter Bewegung vorfand, so führte er es denn aus der Unordnung in die Ordnung hinüber.« (Politeia 29D-30C). Auch im biblischen Schöpfungsbericht findet sich dazu eine Analogie. 33 Politeia, (517B-517C). 34 Aus dem siebten Buch seines Hautwerkes Politeia (ca. 370 v. Chr.). Danach lebe der Mensch wie im Bauch einer Höhle und sehe die Schatten reeller Gegenstände, die ein Feuer an die Höhlenwand projiziert. Er möchte zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Dabei halte er zunächst seine subjektive Wahrnehmung für die wahre Wirklichkeit. Diese sei jedoch nur Abglanz der absoluten Wahrheit, die als solche nicht erkennbar sei. Um zur Wahrheit zu gelangen, müsse der Mensch den Aufstieg aus der Höhle wagen. Dann komme er ans Sonnenlicht als Urgrund allen Seins. Er würde dabei jedoch womöglich erblinden, da seine Augen nur das Licht der Höhle kennen. 35 Logos bedeutet in der griechischen Grammatik zunächst Rede oder Wort. Die philosophisch-weltanschauliche Denkrichtung der Stoa sieht im Logos das Vernunftprinzip des Weltalls, den ruhenden Ursprung, aus dem alle Tätigkeit hervorgehe. Im daran anknüpfenden hellenistischen Judentum bezeichnet Logos den von Ewigkeit her gedachten Weltgedanken Gottes, der im Schöpfungsakt aus Gott herausgetreten sei. Als Abglanz der göttlichen Vollkommenheit habe er sich in der Schöpfung manifestiert und sei als logos spermatikos – Seelenfünklein – in jedem beseelten und vernunftbegabten Wesen anzutreffen. Vgl. Aristoteles. Poetik.

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dem Bewusstsein jedoch verborgen bliebe. Das Schöpferische verorte sich nur dann auch im Menschen, wenn er das Gute erkenne und danach lebe.36 Platons Schüler Aristoteles (384-322 v. Chr.) entwickelt eine andere Auffassung. Die einzige wahre Wirklichkeit sei eine ganzheitliche Einheit aus sinnlich wahrnehmbaren und der sinnlichen Wahrnehmung verborgenen Aspekten. Diese müssten im menschlichen Leben im Gleichgewicht sein. Die vollkommene Idee Logos als Teil des transzendentalen Aspektes durchsetze als einheitstiftende Lebensordnung die wahrnehmbaren Dinge. Seit der Antike kreist die philosophische Diskussion um die Frage der Schöpfung aus dem Nichts – creatio ex nihilo. Demgegenüber steht die Aussage Ex nihilo nihil fit – aus nichts entsteht nichts, die von Aristoteles übernommen wird. Er nimmt einen primum movens, einen unbewegten Erstbeweger, als Anfangspunkt jeder Bewegung an. 2.2.5 Christlicher Schöpfergott – die Dreifaltigkeit Das Schöpferische ist das große Leitmotiv der Bibel. Das erste Verb der Bibel lautet creavit37. Das christliche Gottesbild speist sich aus dem Alten Testament und dem Neuen Testament der Bibel. Es gründet auf dem Konzept der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und bezieht auch platonische wie aristotelische Wirklichkeitskonzepte der griechischen Philosophie mit ein. Die Genesis, das erste Buch der Bibel, liefert zwei monotheistische Schöpfungsberichte. Der erste und zugleich jüngere Bericht in Gen 1,1-2,4 entstand im Volk Israel um die Zeit des Babylonischen Exils (586-538 v. Chr.). Der Urgrund alles Seienden, die transzendente, vollkommene und absolute Schöpfermacht Gott, schafft die Welt in sieben Tagen 38. Die ersten ordnenden Elemente sind Geist und Licht.39 Dann erst folgt die Materie. Mithilfe des Wortes gibt Gott den geschaffenen Dingen und Wesen Namen. Hierin erweist sich Schöpfung als ein Beziehungsakt. Am sechsten Tag erschafft er den Menschen.40 In diesem Schöpfungsakt spricht Gott von sich selbst als ein Wir. Er

36 Vgl. Aristoteles. Poetik; vgl. Ratzinger 2000. 37 Lat.: creativ – er schuf. 38 1. Das Licht – Tag und Nacht, 2. Das Himmelsgewölbe, 3. Land und Meer, Pflanzen, 4. Sonne, Mond und Sterne, 5. Die Vögel des Himmels, die Lebewesen des Meeres, 6. Alle Tiere des Landes, den Menschen. 39 »1,1 Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; 1,2 die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. 1,3 Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. 1,4 Gott sah, dass das Licht gut war. [...]« 40 »1,26 Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh,

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selbst ist Beziehung. Den Menschen erschafft Gott als sein Ebenbild, als Mann und Frau, und verleiht dem Menschen damit ein göttliches Wesen und göttliche Würde. Außerdem überträgt Gott dem Menschen die Sorge bzw. Verantwortung für die Welt. Am siebten Tag, vollendet Gott sein Werk, indem er ruht. In dieser Ruhe bleibt die weitere Entwicklung des Geschehens offen. Der zweite Schöpfungsbericht in Gen 2,4-3,24 (900 v. Chr.) hat eine andere Struktur. Die Dauer des Schöpfungsakts ist unklar. Aus Lehmboden erschafft Gott nach handwerklichem Prinzip zuerst den Menschen Adam und haucht ihm Geist ein. Dann legt Gott nach der gleichen Technik den paradiesischen Garten Eden an, wo alles in üppigem Überfluss existiert. In der Mitte des Gartens steht der Baum des Lebens und der Erkenntnis von Gut und Böse. Nur von ihm darf Adam nicht essen, sonst würde er sterben. Adam bestellt den Garten und gibt den Tieren Namen. Doch er fühlt sich einsam und sehnt sich nach einem partnerschaftlichen Gegenüber. Da lässt Gott ihn in einen tiefen Schlaf fallen, entnimmt ihm eine Rippe und formt daraus Eva, das Leben. Adam erkennt Eva und nimmt sie zur Frau. Sie sind von Anfang an ein Leib in zwei Personen, leben einträchtig mit Gott im Garten Eden und schämen sich nicht ihrer Ursprünglichkeit. Doch eine Schlange auf dem Baum des Lebens und der Erkenntnis suggeriert dem Paar, sie wären erst dann wie Gott, wenn sie auch von diesem Baum äßen. Adam und Eva geraten in Zweifel. Das Paar isst die Früchte, bekommt augenblicklich ein schlechtes Gewissen, erkennt plötzlich die eigene Nacktheit, verliert seine unbeschwerte Freiheit, beginnt sich zu verstecken und sich vor Gott zu fürchten. Als Gott diese Veränderung bemerkt und sie zur Rede stellt, beschuldigen sie sich gegenseitig. Als Konsequenz ihres Tuns schickt Gott sie hinaus in die Mühen des Lebens und sie werden die Stammeltern der Menschheit. Ihr Sohn Kain wird später seinen Bruder Abel aus Neid erschlagen. Durch ihren Erkenntnisdrang und den Zweifel an der Gottesebenbildlichkeit zerstören die ersten Menschen ihre natürliche Selbstverständlichkeit und die paradiesische Harmonie. Das entstehende Menschenvolk ist auch weiterhin auf der Suche nach Gotteserkenntnis. Gott offenbart sich schließlich dem Mose in Ex 3,1-22 aus einem brennenden Dornbusch heraus mit dem Namen JHWH – »Ich-bin-da« (Ex 3,14), der letztlich auf das Sein verweist. In diesem transzendenten Mittelpunkt der Welt fallen göttlicher Himmel und menschliche Erde in eins. Diese mystische, ästhetische Erfahrung des Mose übersetzt sich in die abstrakte Form des Gottesbegriffs JHWH, der dann eine eigenständige Beziehung und Gotteserfahrung ermög-

über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. 1,27 Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. 1,28 Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.«

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licht. Denn der Name für Gott ermöglicht dem Menschen eine Kommunikation mit ihm. Gott offenbart die 10 Gebote als ethischen Rahmen des menschlichen Zusammenlebens und stellt dem nach Wahrheit und Vollendung suchenden Volk in Aussicht, es ins Paradies zurückzuführen.41 Dieser Mythos zeigt auf, dass der Mensch durch sein eigenes Tun gefährdet ist,42 wenn ihm der Zweifel bzw. die Hybris43 zugrunde liegen. Das Neue Testament fusioniert mythologische und philosophisch-theologische Erklärungsmodelle. Es übernimmt die alttestamentliche Vorstellung von Gott als Schöpfer und das griechische Konzept des Logos als Urgrund der Welt.44 Im Prolog des Johannesevangeliums, einer Variation des ersten Schöpfungsberichts, wird der Logos mit Gott gleichgesetzt. Als Wort Gottes, das von Anfang an war, wird der Logos in Jesus Christus45 Mensch.46 Dieser offenbart die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und das Wesen Gottes als Liebe (vgl. 1Joh 4,16).47 Nach Ratzinger (2000) sei der christliche Liebesbegriff angelehnt an die Bedeutungsvielfalt bei Platon. Platon definierte die Liebe in drei Wirkweisen: Eros, Agape und Philia. Eros sei das stärkste Gefühl begehrender Zuneigung, das sich dem Menschen bemächtige

41 Vgl. Zenger 1995, 5. Aufl., S. 99–123 und 156–175. 42 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 29. 43 Griech.: Übermut, Anmaßung. 44 »Logos heißt Vernunft, Sinn, aber auch Wort – ein Sinn also, der Wort ist, der Beziehung ist, der schöpferisch ist. Der Gott, der Logos ist, verbürgt uns die Vernünftigkeit der Welt, die Vernünftigkeit unseres Seins, die Gottgemäßheit der Vernunft und die Vernunftgemäßheit Gottes, auch wenn seine Vernunft die unsere unendlich überschreitet und für uns so oft wie Dunkel erscheinen mag.« Ratzinger 2000, S. 23/24. 45 Griech. christos übersetzt das hebräische Wort Maschiach (Messias, der Gesalbte). Die Salbung des Hauptes mit kostbarem Öl durch einen Propheten zeigte in Israel die göttliche Berufung eines neuen Königs an (1 Sam 10). Der Hoheitstitel Messias bzw. Christus bezeichnet einen von Gott erwählten und bevollmächtigten Menschen, Retter und Friedensbringer mit besonderen Aufgaben für sein Volk. Das Judentum wartet seit jeher auf den von Gott geschickten Messias, der das vollendete Heil bringen wird. Das Urchristentum bezeichnete Jesus von Nazaret mit diesem griechischen Titel. 46 »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott […] Alles ist durch das Wort geworden…« (Joh, 1,1-2); »Und das Wort ist Fleisch geworden …« (Joh, 1,14); »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau« (Gal 4,4). 47 Folgender Spruch aus dem Buch der Weisheit »…denn von der Größe und Schönheit der Geschöpfe lässt sich auf ihren Schöpfer schließen.« (Weish 13,5) besagt, dass das Geschaffene immer Teil und Ausdruck des Schaffenden ist. Wenn Gott die Liebe ist, so sind auch seine Schöpfung und das Wesen des Menschen geprägt vom Liebesprinzip.

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und das er für ein von ihm verschiedenes Gegenüber zu empfinden vermöge. Es sei die Sehnsucht nach Einheit mit dem ganz Anderen hin zur Selbstüberschreitung und Vollkommenheit, die dem Menschen Freude und Glück schenke, auf die sein ganzes Sein ausgerichtet sei. Eros sei die göttliche Macht selbst. Er bewirke eine geistliche und körperliche Einheit, aus der heraus sich Leben gestalten könne. Aus der sexuell-erotischen Liebe zwischen Mann und Frau könne auch biologisch neues Leben entstehen. Agape bezeichnet nach Ratzinger (2000) eine altruistische Haltung selbstloser Nächstenliebe zu einer Person, die den reinen Zweck oder Nutzen übersteige und sich durch tätige Zuwendung zum Anderen ausdrücke. Es sei eine sich verschenkende, hingebende Liebe. In ihr sei die Schöpferkraft mit Leid und Schmerz verbunden, da der Liebende aus sich heraustrete. Die Gegenseitigkeit der Liebe in Eros und Agape führe den Menschen zur Selbstüberschreitung und somit zur Vervollkommnung. Auf die Philia, die gegenseitige Freundesliebe, geht Ratzinger (2000) nicht dezidiert ein. Nach christlichem Verständnis bezeichnet Gott die Liebe als existentielles Bedürfnis nach Kommunikation, Anteilnahme und Gemeinschaft. Gott als Liebe ruhe nicht in sich selbst, sondern brauche ein erwiderndes Du, einen Kommunikationspartner.48 Nach Ratzinger (2000) ist der dreifaltige Gott eine Einheit in drei Erscheinungsformen: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Gott als das transzendente Sein sei das Liebesprinzip. Da die schöpferische Kraft der Liebe sich erst dann entfalte, wenn sie erwidert werde, müsse Gott bereits in sich selbst Kommunikation und Gemeinschaft sein. Als der Schöpfer sei Gott die sich verschenkende Liebe. Schon zu Beginn schwebe sein liebender Geist über der Schöpfung. Er stehe in einer Liebesbeziehung mit dem göttlichen Prinzip Logos. Dieser Geist sei gleichsam die kreative Liebe, die alles Sein hervorbringe. Die Schöpfung werde vom Logos liebevoll beschrieben. Sie sei das Du, dem sich die Liebe Gottes hingeben könne. Die ganze Schöpfung trage gleichsam den Spiegelstempel des Liebesprinzips Logos. Der Logos werde in Jesus Mensch. Dessen empfangende und antwortende Liebe überwinde die Trennung zwischen Mensch und Gott.49 Alle vier Evangelien berich-

48 »Liebe, die nicht weitergibt, stirbt. Die Bewegung der Liebe heißt […]: sich nicht um sich drehen, sondern sich um ein Anderes drehen. Nur dann, wenn der Geliebte zugleich Liebender ist, kommt sein Geliebtsein bei ihm an…« Hemmerle 2002, S. 9. 49 Wie stellt sich dies dar? Die Suche des Menschen nach einer ihm vorenthalten geglaubten Vollkommenheit, die sich im Zweifel von Adam und Eva ausdrückt, unterbricht die Liebe zwischen Mensch und Gott. Jesus predigt, dass der Mensch die Vollkommenheit seines Wesens in der Liebe finde und lebt dies vor. Da ihm Blasphemie vorgeworfen wird, wird er zur schlimmsten Todesstrafe verurteilt – der Kreuzigung bei lebendigem Leib. Kurz vor seinem Tod durchleidet er selbst die Abgründigkeit des gespaltenen Menschseins, den Zweifel und die Gottesferne: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich ver-

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ten sinngemäß, dass Jesus im Moment des Todes seinen Geist aushaucht.50 Diese Aussage lässt sich folgendermaßen deuten: in den biblischen Schöpfungsberichten ist es jeweils der Geist51, der Materie zum beseelten Leben erweckt. Im Prinzip von Tod und Auferstehung erweise sich der Geist der Liebe als das kreative Prinzip.52 Die Bibel berichtet davon, dass Jesus noch vor seinem Tod ein Testament in Form eines Doppelgebotes hinterlässt, in dem er das Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5) mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) zu einem einzigen Gebot zusammenschließt.53 Wenn der Mensch nach dem Liebesprinzip lebe, im Vertrauen, der Freude und der Liebe eines Kindes54, dann sei der Mensch ein Kind Gottes55, also Gottes Abbild. Dann verbinden sich menschliche Erde und göttlicher Himmel56. Der Mensch trete ein in Gott und damit in den Inbegriff der Kreativität, in der sich sein Wesen verwirkliche. Das Bekenntnis zum dreifaltig liebenden Gott bzw. der Auftrag zur Nächstenliebe begründet die Religionsgemeinschaft der Christen. Wenn Gott, die kreative Liebe, im Menschen sein Spiegelbild findet, dann spiegelt sich in der Liebe das menschliche Sein. Dies führt zum Rückschluss: »Ich

lassen!« (Mk, 15,34) Doch er verliert nicht den Glauben an das Liebesprinzip als den tragenden Sinn des Lebens. Selbst in der Erfahrung der Gott- bzw. Liebesverlassenheit verlässt er sich auf Gott, allein dadurch, dass er in der Stelle des Markusevangeliums seinen Zweifel an Gott adressiert. Im Lukasevangelium heißt es sogar: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.« (Lk 23,46) In diesem Moment des Festhaltens an der Liebe und Sinnhaftigkeit des Lebens ist der Wechselstrom der vertrauenden Liebe zwischen Mensch und Gott ununterbrochen. Nach christlichem Verständnis holt Jesus auf diese Weise Gott wieder in alle Lebensbereiche des Menschen hinein. Im 1 Kor 15,3-9 berichtet die Bibel davon, dass Zeitgenossen Jesu Auferstehung bezeugt hätten. Die Entstehung der neuen Religionsgemeinschaft der Christen begründet sich u.a. darauf. 50 Mt 27,59; Mk 15,37; Lk 23,46; Joh 19,30. 51 Eine mögliche Metapher bzw. Analogie zur Inspiration. 52 Hier besteht eine Analogie zum Todesverständnis von Joseph Beuys. 53 »…du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft… [und] du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.« (Mt 22,36-40 bzw. Mk 12,29-31) Das zweite Teilgebot deckt sich mit der Goldenen Regel, die alle Weltreligionen und viele andere Weltanschauungen teilen: »Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst und wie du dich selbst behandelst.« 54 »Wer das Reich Gottes nicht annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.« (Lk 18,17). 55 Vgl. Röm 8,14-17. 56 »…Wie im Himmel so auf Erden…« (Mt 6,10).

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spiegle mich, also bin ich.« Die biblischen Schöpfungsgeschichten und das sich daraus ergebende Menschen- und Gottesbild prägten die abendländischen Kulturen.57 Resümee Mythen sind anthropomorphe Sprachbilder. Sie zeigen, dass Schöpfungskonzepte ihren Schöpfer spiegeln. Im Gilgamesch-Epos erschafft die Göttin Aruru aus Ton die menschliche Gestalt Enkidu. Im alten Ägypten erschafft der Gott der Handwerker und Baumeister durch seine Zunge und sein Herz das All. Der sich auftuende Lebensraum ist ein Liebesraum. Der Schöpfergott Chnum formt die Welt auf seiner Töpferscheibe. Im alten China entwirft ein Maler die Welt. Die Griechische und Römische Antike erklärt die Entstehung der Welt mit der erotischen Schöpferkraft der Liebe. Zunehmend entstehen philosophische Überlegungen. Im jüdischchristlichen Modell eines Schöpfergottes wird das Motiv des Schöpferischen schließlich besonders ausführlich dargelegt. Ausgangspunkt schöpferischer Prozesse ist oft ein Schwellenmoment, Sehnsucht nach Erkenntnis und dem Erleben eines ganzheitlichen Idealzustands. Das Schöpferische offenbart sich als Kommunikation und Beziehung in der Freiheit des Denkens, in der Sprache und in der Liebe. In Analogie zu handwerklich-künstlerischen Arbeitsprozessen wird das Schöpferische dargestellt als zyklischer Umwandlungsprozess von Geburt, Werden Vergehen bzw. Zerstören und Tod. Das Alte potenziert sich im Neuen. In alldem tritt der schöpferische Mensch HOMO CREANS hervor als Spiegelwesen, Sprachwesen, Mangelwesen und Beziehungswesen. Auch das Künstlerische zählt zu seinen Facetten. Im Folgenden wird sich zeigen, dass die dargelegten Kreativitätsverständnisse Entsprechungen in Dynamiken des kreativen Prozesses finden.

57 Das Alte Testament der Bibel stellt die Grundlage für die drei abrahamitischen Weltreligionen: Judentum, Christentum und Islam. ‚Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 27.

3 Der künstlerische HOMO CREANS

3.1 M YTHOLOGISCHE U RSPRÜNGE UND DES K ÜNSTLERS

DER

K UNST

Archaische Mythologien wollen nicht nur den Ursprung der Schöpfung erklären. Antike Schöpfungsmythen setzen sich fort in Inspirations- und Künstlermythen, die vom göttlichen Ursprung der Kunst erzählen. Auch hier sind Eros und Logos zentrale Schöpferkräfte, in fruchtbarer Kombination aus begehrender und sich hingebender Liebe. Sie hauchen unbelebter Materie in der Inspiration1 göttlichen Geist und beseeltes Leben ein. In der griechischen Mythologie sind die Gottheiten der Künste zwei Zeus-Söhne: der ästhetisch kontemplative Apollon 2 und der rauschhaft vitale Dionysos3.4 Die Schutzgöttinnen der Künste sind die neun Musen5 – Gefähr-

1 2

Lat.: inspiratio – Beseelung, Einhauchen von spiritus, Leben, Seele, Geist. Der Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der Reinheit und Mäßigung sowie der Weissagung und der Künste, insbesondere der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs. Er gehört, wie seine Zwillingsschwester Artemis, zu den zwölf Olympischen Hauptgöttern. Das Heiligtum in Delphi, die bedeutendste Orakelstätte der Antike, ist ihm geweiht. Der Name A-pollon – der Nichtviele – mag eine Anspielung sein auf das Eine, das Absolute, das transzendente Prinzip.

3

Der Gott des Weines, der Freude, der Fruchtbarkeit, des Rausches und der Ekstase. Sein Kultbild ist der Phallus, der erigierte Penis. Während der winterlichen Abwesenheit des Apollon überwacht er das Orakel von Delphi. Dionysos entfessle die Menschen und befreie sie von Sorgen. In Athen wurde durch die Festspiele der Dionysien das Theater erfunden. Der Dionysos-Mythos hat seit der Renaissance zahlreiche Künstler inspiriert.

4

Friedrich Nietzsche stellte in seinem Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) das Dionysische dem Appolinischen als die beiden Grundprinzipien menschlicher Existenz gegenüber. Vgl. von Reibnitz 2000, S. 246–271.

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tinnen des Apollon, die am Berg Parnass leben. Sie umgeben die Kastalische Quelle, die das geflügelte Pferd Pegasos mit einem Huftritt losgeschlagen hat und deren Wasser Enthusiasmus und Dichtergabe verleiht. Die Quelle des Parnass ist Sinnbild der Lyrik. Die Metapher des Musenkusses umschreibt die göttliche Eingebung durch eine Muse. Die antiken Heiligtümer der Musen heißen Museion6. Auch das deutsche Wort Musik stammt von der Kunst der Musen ab.7 Eine Legende des römischen Gelehrten Plinius des Älteren (etwa 24-79 n. Chr.) schreibt den Ursprung von Malerei und Plastik dem Töpfer Butades von Sikyon zu. Der Geliebte seiner Tochter zieht in eine todbringende Schlacht. Um ihren Kummer zu trösten, zeichnet die Tochter den Schattenriss des Geliebten an die Wand und Butades arbeitet ihn zu einem Halbrelief aus. So ersetzt die Kunst den abwesenden Liebsten.8 Die Metamorphosen9 des römischen Dichters Ovid (43 v. Chr. – 17 n. Chr.) berichten vom Bildhauer Pygmalion, der enttäuscht ist vom weiblichen Geschlecht und sich selbst eine ideale weibliche Aktskulptur schafft, die an Schönheit und Erotik10 alle realen Frauen weit übertrifft und in die er sich verliebt. Die Liebesgöttin Venus erhört sein Flehen und belebt die Statue, die er sich daraufhin zur Geliebten nimmt. Das Können des Künstlers und die Liebe zu seinem eigenen Werk beseelen es gleichsam, hauchen ihm Geist und Leben ein. Beide archetypischen Künstlermythen zeigen eine enge Beziehung zwischen erotischem Begehren und Kreativität, in der die Hingabe ihren Ausdruck finden kann und einen erlebten Mangel ausgleicht.11

5

Sie sind verschiedenen künstlerischen Aufgabengebieten zugeordnet: der Geschichtsschreibung, Tragödie, Tanz, Komödie, Flötenspiel. Liebesdichtung, Astronomie, Gesang an der Leier, Philosophie/Wissenschaft.

6

Woraus das heutige Wort Museum entstand.

7

Vgl. Krieger 2007, S. 16-27.

8

Vgl. Plinius, Naturalis historia 35,151 und 35,152; vgl. Pfisterer 2001, S. 305.

9

Buch 10, Vers 243 ff.

10 Bezieht sich auf Griech. eros, zur Liebe gehörig, die Liebe betreffend. Die sinnliche Liebe in allen ihren Erscheinungsformen, die den geistig-seelischen ebenso wie den körperlichen Bereich umfasst. 11 Vgl. Krieger 2007, S. 133.

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3.2 E RSTE K UNSTTHEORIEN 3.2.1 Narziss Aus antiken Mythologien heraus entwickeln sich auch erste Kunsttheorien. Eine besonders vielschichtig interpretierbare Variante des mythologischen Ursprungs der Kunst präsentiert der antike griechische Mythos des Narziss12, den Ovids Metamorphosen III aufgreifen. Sie erzählen von der tragischen Liebe eines 16-jährigen Jünglings zu seinem eigenen Spiegelbild. Die Mutter des kleinen Narziss ist die schönste der Nymphen. Vom Seher Tiresias wurde ihr geweissagt, dass der Knabe ein hohes Alter erreichen würde, wenn er sich nicht selbst erkenne. 13 Der jugendliche Narziss wird von Mädchen wie Jungen begehrt. Doch keine Liebe ist ihm genug. Eines Tages beim Waldspaziergang verliebt sich die Nymphe des Schalls, die alles erwidernde Echo14, in den Jüngling. Narziss bemerkt sie und ruft ihr zu. Doch Echo kann seine Sätze immer nur kopieren – gleichsam spiegeln. Als die Nymphe auf Narziss zutritt, ergreift dieser angsterfüllt die Flucht. Die Liebe zwischen Echo und Narziss bleibt unerfüllt. Echo zieht sich zurück in den Wald und ihr Körper löst sich vor Liebeskummer langsam auf. Er gibt sich dem Wald förmlich hin. Nur ihr sehnsüchtiger Geist und ihre widerspiegelnde Stimme bleiben für immer bestehen. Der durstige Narziss hingegen findet einstweilen einen unberührten Quell, an dem er seinen Durst löscht. Dabei blickt ihm ein Gesicht entgegen, das ihn sogleich bezaubert. Er hält dieses spiegelnde Bild für einen Körper, den schönsten, den er je gesehen hat. Dies zieht ihn völlig in seinen Bann und entzündet in ihm eine betörte, geradezu wahnhaft begehrende Liebe. Er findet sich gänzlich wieder im geliebten Gegenüber, findet endlich einen Gleichgesinnten. Doch die Sehnsucht, vereint zu sein mit dem Geliebten, wird nicht erfüllt. Das Spiegelbild entzieht sich stets, sobald er es anfassen will. Als er schließlich erkennt, dass er selbst es ist, der sich im reinen Quell spiegelt, dass er begehrt, was er bereits in sich trägt, es jedoch trotzdem nie erfassen kann, stirbt er vor Kummer über die Unmöglichkeit dieser Liebe. Auch sein Körper löst sich auf durch inneres Feuer. Der Geist der liebenden Echo begleitet ihn von Ferne in diesen letzten Lebensmomenten, bevor er sich in eine

12 Lat.: Narcissus. 13 Mögliche Analogie zu Adam und Eva: sie würden nicht sterben, wenn sie nicht vom Baum der Erkenntnis äßen. 14 Juno (Hera), die Tochter des Saturn, hatte ihr diese Bürde auferlegt, um ihren untreuen Mann Jupiter (Zeus) von Echo fernzuhalten. So war Echo dazu verdammt, immer die letzten Worte eines Satzes zu wiederholen. (Juno ist außerdem das weibliche Gegenstück zum männlichen Genius.)

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Narzissen-Blume verwandelt. Echo und Narziss – zwei parallele Dilemmas unerfüllter Liebe. Im Alltagsverständnis wird die Moral dieses Mythos tendenziell negativ gedeutet. Nach dieser Lesart ist ein narzisstischer Mensch egozentrisch, selbstsüchtig und für niemand anderen offen. Das als Schatten bezeichnete Spiegelbild in der Quelle steht für die unfruchtbare Eigenliebe, deren Vergänglichkeit in der Auflösung des Narziss symbolisiert wird. Die Metamorphose sei schließlich die Strafe für seine Selbstüberhöhung und Hybris.15

15 Vgl. Pfisterer 2001, S. 311. Dies wurde über Jahrhunderte in verschiedenen Narrationen aufgegriffen. Oscar Wildes Interpretation des Narziss-Mythos in The Picture of Dorian Gray (1891) betont den homoerotischen Charakter des Mythos. Sowohl Narziss als auch Dorian können ihre jeweiligen Verehrerinnen aufgrund ihrer autoerotischen Neigungen nicht lieben. Dorian ist so angetan von seiner Schönheit, dass er seine Seele dafür verkauft. Ein Bildnis soll statt seiner altern und die Spuren all seiner Schandtaten auf sich nehmen. Während er ein zügelloses Leben genießt, bleibt er äußerlich völlig unverändert. Sein Bildnis jedoch zeigt die abstumpfende Ruchlosigkeit und den steten Verfall seiner Seele. Ähnlich wie Narziss entfremdet sich auch Dorian weit vom realen Leben. Als er den Zustand seiner Seele erkennt, kann er die Wahrheit über seine eigentliche Hässlichkeit nicht ertragen, sticht ein Messer in sein Porträt und stirbt. Vgl. Pfister 1986, S. 66f. Auch ein Ausschnitt aus Thomas Manns Der Tod in Venedig (1913) fügt dem NarzissTopos eine weitere Nuance hinzu, indem er die Euphorie narzisstischer Liebe beschreibt: »Standbild und Spiegel! Seine Augen umfassten die edle Gestalt dort am Rande des Blauen, und in aufschwärmendem Entzücken glaubte er mit diesem Blick das Schöne selbst zu begreifen, die Form als Gottesgedanken, die eine und reine Vollkommenheit, die im Geiste lebt und von der ein menschliches Abbild und Gleichnis hier leicht und hold zur Anbetung aufgerichtet war. Das war der Rausch; und unbedenklich, ja gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen. Sein Geist kreiste, seine Bildung geriet ins Wallen, sein Gedächtnis warf uralte, seiner Jugend überlieferte und bis dahin niemals von eigenem Feuer belebte Gedanken auf. Stand nicht geschrieben, dass die Sonne unsere Aufmerksamkeit von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge wendet? Sie betäube und bezaubere, hieß es, Verstand und Gedächtnis dergestalt, dass die Seele vor Vergnügen ihres eigentlichen Zustandes ganz vergesse und mit staunender Bewunderung an dem schönsten der besonnten Gegenstände hängen bleibe: ja, nur mit Hilfe eines Körpers vermöge sie dann noch zu höherer Betrachtung sich zu erheben.« Mann 1963, S. 41.

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Der Kunsthistoriker Ulrich Pfisterer verweist jedoch auf einen völlig anderen interpretatorischen Ansatz Leon Battista Albertis16 aus der Frührenaissance, der den Narziss-Mythos als Entstehungsmythos der Kunst heraushebt.17 Alberti sieht die Liebe als schöpferische Urkraft und Antriebskraft jeder künstlerischen Betätigung. Seine Ausdeutung verbindet den narzisstischen Liebes- und Spiegeltopos mit der Malerei. In der Kunsttheorie der Renaissance wird dem Künstler besonderes Liebesvermögen zugeschrieben. Alberti setzt den künstlerischen Schaffensprozess dem Liebesakt analog. Dies galt bereits in der Antike: die körperliche Liebeskraft schenkt Kinder, die künstlerische Liebeskraft schenkt Werke. Das Wort Pinsel entstammt dem Lateinischen penicillus und teilt laut Cicero die gleiche ethymologische Wurzel wie das Wort Penis.18 Francesco Petrarca (1304-1374) pflegte die Vorstellung vom Amor pictor, der ins Herz des Liebenden mit seinem Pfeil das Bild der Geliebten einzeichnet.19 Am Beginn des narzisstischen Liebesdramas steht das begehrende Verlangen des Durstes. An der spiegelnden Quelle folgt die Erfahrung von Schönheit, die Fragen auslöst und das Begehren nur steigert. Narziss stellt das Phänomen der geliebten Schönheit infrage, möchte hinter die Quelle blicken, die Spiegelung im Wasser be-greifen. Er verliert sich in der Spiegelung, die ihn gleichzeitig zur Selbsterkenntnis führt.20 Die Selbsterkenntnis wird außerdem zur Medienerkenntnis, zur Entdeckung der Möglichkeit von Bildern. Im Bild materialisiert sich Immaterielles. Transzendenz gewinnt eine leibliche Form. Alberti sieht den Startpunkt der Kunst im Quellen- und Spiegelungserlebnis des Narziss. Denn die spiegelnde Wasseroberfläche hält den Schattenumriss fest, kann die dreidimensionale Wirklichkeit gleichsam wiedererschaffen, spiegelt auch das Liebesbegehren wider, bleibt jedoch nur Projektionsfläche. Die Vorstellungskraft des Narziss füllt sie mit Bedeutung. Ana-

16 In: De Pictura (1435), dem ersten Malerei-Traktat der Neuzeit. Die italienischen Renaissance-Künstler und Kunsttheoretiker nach 1435 setzten sich geradezu obsessiv mit dem Narziss-Thema auseinander. Vgl. Pfisterer 2001, S. 308. 17 Vgl. Pfisterer 2001, S. 305-330. 18 Vgl. Cicero in: Pfisterer 2001, S. 307. 19 Vgl. Pfisterer 2001, S. 306. Hier findet sich eine Analogie zu Verzückung der Heiligen Teresa von Avila im Kapitel C 1.3 über Glenn Gould. 20 Die griechische Mythologie sieht in der Musenquelle des Parnass den Ursprung der Poesie. Zudem ist die Quelle eine Metapher für den erkenntnisspendenden Spiegel der Welt. Im aristotelischen Logos-Konzept ist wiederum die Schöpfung der Spiegel des immateriellen, transzendenten Seins. Im Spiegel der Natur und des Menschen banne sich das unfassbare Wesen Gottes. (Hier besteht eine Analogie zur christlichen Anthropologie des Menschen als Abbild Gottes.) Im Bild der Quelle erkennt der Jüngling dieses Wesen, die Schönheit des Seins, die auch ihm selbst innewohnt. Vgl. Pfisterer 2001, S. 315.

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log dazu seien auch der Geist und das Werk des Malers wie ein Spiegel, der sich die Schöpfung bzw. die Natur des Menschen aneigne mithilfe der Erkenntnis (cognitio) und der Liebe (amor) und dieser in der künstlerischen Tat Form verleihe. 21 Zündfunken der künstlerischen Erkenntnis sei die voluptas22, eine sexuelle Lust oder ganz allgemeine Lebenslust, die in der Fantasie gründe. In organischen Zufallsformen konkrete Gestalten zu erkennen, in Fremdem Bekanntes zu sehen und sich zweckfrei daran zu freuen, dies sei der Sehmodus eines Liebenden. 23 Bereits das Sehen von Schönheit generiere Liebe. Die Schönheit des Geliebten spiegle sich gleichsam in den Augen des Liebenden.24 Der Scholastiker Thomas von Aquin (1225-1274) sagt: »omne agens agit sibi simile« – »Jedes Wirkende bewirkt etwas ihm Ähnliches.«25 Die Verbindung von begehrender Lust, Fantasie, Liebe und Kunst sieht Alberti außerdem in Anlehnung an die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Dieser erarbeitet die Begriffe Freundschaft (amicitia) und Wohltätigkeit (benevolentia) und vergleicht sie überraschenderweise mit den Künsten. Ein Wohltäter spiegle sich in seinem Gegenüber. Er bringe demjenigen mehr Liebe entgegen, als er zurückbekomme. So liebe auch ein Künstler sein Werk mehr, als dieses ihn lieben würde, wenn es zum Leben erwachte. Das Werk werde dann jedoch gewissermaßen selbst zum Schöpfer, wenn es eine eigenständige Wirkung ausstrahle. Dann eröffne sich ein Liebesprozess des Gebens und Nehmens, wie er im christlichen Schöpfungsmodell bereits als trinitarische Dynamik herausgearbeitet wurde. Schon nach aristotelischem Liebesverständnis geht Lieben (amare) mit schöpferischem Herstellen (facere) einher.26 Eine Potenz dränge zur Umsetzung. Darin verwirkliche sich das menschliche Wesen. Es sei gleichsam eine autopoiesis27, eine materielle Form für die potentia und das transzendente Wesen des Herstellers, die diesen sogar überdauere. Die Liebe zum Werk sei letztlich also eine Form der Eigenliebe. Aristoteles hat eine positive Sicht auf die Eigenliebe: »Der ethisch hochstehende

21 Vgl. Pfisterer 2001, S. 306/307. Zusammengefasst steht dahinter die Kombination von Kopf, Herz und Hand. Analog dazu das Kapitel D 1 zur Kreativitätspädagogik und Maria Montessori. 22 Lat.: voluptas – Lust, Vergnügen, Genuss. 23 Vgl. Pfisterer 2001, S. 319/320. 24 Vgl. Pfisterer 2001, S. 325. 25 Thomas von Aquin in: Pfisterer 2001, S. 327. 26 Vgl. Pfisterer 2001, S. 324. Hier besteht eine Analogie zu Joseph Beuys. 27 Altgriech.: Selbstbildnis. Jedes Werk spiegle in gewisser Weise seinen Schöpfer.

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Mensch soll sich also selbst lieben – denn von seinem edlen Handeln wird er selbst Gewinn haben und auch die anderen fördern…«28 Übertragen auf den Narziss ist das Spiegelbild im visuellen wie philosophischen Sinn sein Selbstbildnis. Narziss liebt einseitig sein eigenes, schönes Spiegelbild, d.h. die durch den Blick in die Quelle produzierte Veräußerlichung seiner selbst. Doch welche Rolle spielt seine Metamorphose in eine Blume? Plinius sieht die Blumen als zweckfreie Schöpfung, welche die Natur schlichtweg aus Freude an der Schönheit hervorbringe. Der Humanist deutet die Metamorphose des Narziss als Metapher für eben diese Transformationsleistung der Malerei von materieller Wirklichkeit in die immaterielle fictio.29 Die eigenen Produkte seien wiederum Projektionsflächen der Selbsterkenntnis. Ulrich Pfisterer (2001) fasst zusammen, dass Alberti mithilfe des Narziss-Mythos eine erste rudimentäre Psychologie des Künstlertums entwerfe. Darin beginne die Geschichte der Kunst mit einem Selbstbildnis. Der Künstler liebe seine Werke, da sich in ihnen sein Menschsein spiegle. Sie seien eine Art Veräußerung bzw. Bannung seiner selbst und gewährten ihm Selbsterkenntnis. Diese Schönheit der Autopoiesis bereite zweckfreie Freude, verschaffe Lust- und Liebesgewinn. In der Zusammenschau der aristotelischen benevolentia-Lehre und der Wasseroberfläche als malendem Spiegel der Welt entwirft Alberti die Vorstellung von Narziss als dem Archetyp des Künstlers, in der die Macht der Liebe den Menschen in einen Künstler verwandelt.30 Der Produktionsakt und der Liebesakt erscheinen quasi deckungsgleich. In einer solchen Ausdeutung der narzisstischen Identifikation tritt an die Stelle reiner Selbstbezogenheit eine auf Gegenseitigkeit und Erkenntnis ausgerichtete Liebesbeziehung als schöpferisches Prinzip. Dann ist Kunst gerade in der Spiegelung die Vermessung des Selbst und der Welt. Wer einem Kunstwerk mit offenen Sinnen begegnet, begegnet dem Auge des Künstlers auf die Welt und das Leben. Allein durch die unmittelbare Kommunikation eines schweigenden Blickaustausches, vom Blick zum gespiegelten Blick, kann sich eine nicht in Worte zu fassende Erkenntniserfahrung ereignen – wenn der Spiegel gleichsam zur Rückspiegelung des eigenen Auges und der eigenen Lebenserfahrung wird, die einem zuraunt: »Das bist du«, »Das ist das Sein«, »In deinen Augen erkenn’ ich mein Staunen.«31 Nach

28 Vgl. Pfisterer 2001, S. 328. Analog hierzu die Goldene Regel »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Mt 19,19. Man könnte in diesem Zusammenhang auch sagen: »Liebe dein Werk wie dich selbst.« 29 Von Lat.: fingere – gestalten, formen, sich ausdenken. Vgl. Pfisterer 2001, S. 328. 30 Vgl. Pfisterer 2001, S. 306. Hier besteht eine Analogie zu Joseph Beuys. 31 Textzeile aus dem Song Apfelbaum des Albums Meister Hora von Rosalie & Wanda, erschienen 2013 bei Ahoi.

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einem solchen Verständnis ist Kunst die Spiegelung des menschlichen Wesens, der Conditio Humana. Im Ruhepunkt des Augenblicks begegnet Narziss in der Spiegelung sich selbst als Bild, sich selbst als Geschöpf, dessen Ursprung im schöpferischen Prinzip liegt, das der Welt zugrunde liegt, das ihn selbst ausmacht und übersteigt. Er tritt dem schöpferischen Prinzip leibhaft gegenüber, schaut es, widerspiegelt es und empfängt dabei sich selbst. Sobald er sich dem schöpferischen Prinzip ermächtigen, es festhalten und für sich vereinnahmen will, verunklart es sich jedoch. Die Sehnsucht des Narziss nach Erfassung des Mysteriums erfüllt sich nicht. So löst sich sein Geist von der Materie, um mit dem schöpferischen Prinzip selbst in eine interrelationale Beziehung treten zu können. In diesem Rezeptions- und Produktionsprozess wird Narziss zum Co-Kreator seiner selbst. Es wird sich zeigen: Der Narziss-Mythos ist gleichsam ein Spiegel der interrelationalen Ästhetik des HOMO CREANS. Der parallel zum Narziss geführte Spiegelungs- bzw. Rückkoppelungstopos der Echo mag den Anfang der Musik symbolisieren. Von einer ausführlicheren Interpretation wird an dieser Stelle jedoch abgesehen. 3.2.2 Griechische Philosophie: Daimonion, Mimesis und Katharsis Bei Sokrates (469-399 v. Chr.) vermittelt das Geistwesen, bzw. die innere Stimme daimonion32 dem Philosophen göttliche Eingebungen. Der Begriff Illumination33 stammt aus der antiken philosophischen Lichtmetaphorik von Platons Höhlengleichnis. Das Aufleuchten von Einsicht und Verständnis bildet nach dem Siebten Brief den Abschluss eines fünfstufigen Erkenntnisprozesses. In der Seele entstehe Erleuchtung wie ein plötzliches Feuer, das von einem überspringenden Funken entfacht werde und sich verselbständige.34 Menschliche Widersprüche würden im schöpferischen Tun zu einer höheren Einheit gebracht. Besonders die Poeten und Philosophen realisierten das göttliche Prinzip in ihrem Enthusiasmus35 als privilegierten Zustand göttlicher Inspiration. Diese Form des Außer-sich- und in-GottSeins helfe dabei, eine höhere Ordnung zu erfassen. Für Aristoteles hat der Mensch durch seinen eigenen unsterblichen Geist Anteil am Göttlichen. Erkenntnis erscheint ihm als die höchste Lebensaufgabe. Dabei sei »die Liebe Ursache des Gu-

32 Griech.: die innere Stimme bzw. der Teil des Ichs ist, der erkennt, was der Vernunft verborgen bleibt, Gegeninstanz zyum Logos. Vgl. Krieger 2007, S. 21. 33 Lat.: illuminatio – Erleuchtung. 34 Platon, Siebter Brief 341c–d. 35 Griech.: enthousiasmós, gesteigerte Freude und Begeisterung, Besessenheit durch Gott, bezeichnete ursprünglich die Inspiration durch eine göttliche Eingebung. Den Enthusiasmus lobt Platon in seinem Diyalog Phaidros als göttlichen Wahnsinn des Dichters. Vgl. Platon: Phaidros.

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ten«36. In der römischen Antike entspricht der genius dem griechischen daimonion. Bis zum Tod sei er ein Schutzgeist der menschlichen Persönlichkeit, seines Schicksals und insbesondere seiner Zeugungskraft. Er ermögliche dem Menschen die innere Schau höherer Dinge, die sich in seinen Kunstwerken materialisiere. Dieser Schutzgeist setzt sich im christlichen Schutzengel fort. Das Motiv der Spiegelung führt zum künstlerischen Prinzip der Mimesis37, das seit den Anfängen der Erzähltheorie in der antiken griechischen Philosophie diskutiert wird. Für Sokrates verweist die mimetische Nachahmung des Besonderen auf Allgemeinheiten. Platon versteht unter Mimesis die direkte Rede. In der Politeia unterstellt er der mimetischen Kunst, sich lediglich an sinnlicher Oberflächlichkeit zu orientieren. Den Wahrheitsgehalt des Logos bilde sie nur defizitär ab. Als Schöpfung zweiter Natur sei sie gleichsam eine Kopie der Kopie der Idee. Der zwangsläufige Datenverlust könne vom wahren Sein wegführen. Eine erbauliche Dichtung hingegen, die dem Wahren, Guten und Schönen diene, sei pädagogisch wertvoll. Aristoteles sieht die Struktur der Wirklichkeit und davon abhängig die Bedeutung der mimetischen Kunst anders als Platon. Basierend auf seiner systematischen Literaturtheorie Poetik erarbeitet er ein reflektiertes künstlerisches Selbstbewusstsein. Den Menschen treibe es von Geburt an zum mimetischen Nachspüren der Wahrheit. Nachahmung verhelfe zu Erkenntnissen, Lern- und Entwicklungsprozessen, wobei man lebhafte Freude und Glück empfinde.38 Der natürliche Nachahmungstrieb von Kindern sei der Urgrund der Dichtung bzw. des Theaters.39 Als Reflexionsmittel verweise mimetische Kunst auf die Wirklichkeit und ahme sie lustvoll nach. Sie habe die Aufgabe, die Wirklichkeit eben gerade in ihrer Ganzheitlichkeit abzubilden und auf die innere Einheit allen Seins zu verweisen. Das Kunstwerk sei eine eigenwertige Schöpfung, die den Menschen mit dem Logos in sich verbinde. 40 In der Mimesis lege der Künstler die Wahrheit gleichsam ein stückweit frei. Erfahrbar mache er sie hingegen mithilfe einer Katharsis, einer gezielten starken Erregung von Emotionen. In der Katharsis sei mimetische Kunst ein Ablassventil der Affekte, das den Menschen emotional reinige, ihn moralisch bessere und ihn dem Gleichgewicht aus Emotio und Ratio bzw. einer Erfahrung der ganzheitlichen Einheit mit dem Absoluten näherbringe.41 Um eine solche persönlichkeitsbildende Erfahrung zu

36 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 45. 37 Altgriech.: Nachahmung, Spiegelung. 38 Eine Analogie hierzu findet sich im sozio-kognitiven Modell-Lernen nach Bandura. Vgl. Edelmann 2000, S. 188 f. 39 Vgl. Pfisterer 2001, S. 320. 40 Vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 78; vgl. Hauskeller 2004, S. 15-20. 41 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1982, S. 144-178.

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gewährleisten, solle ein Theaterstück eine abgeschlossene Handlungsstruktur mit Anfang, Mittelteil und Schluss haben. Aufbauend auf der aristotelischen Poetik entwickelte die Dramentheorie über Jahrhunderte eine fünfteilige, symmetrisch verlaufende Spannungskurve der Katharsis, die Gustav Freytag (1816–1895) in seinem Buch Die Technik des Dramas (1863) darlegte:42 Abbildung 5: Kathartische Spannungskurve nach Gustav Freytag

Quelle: Johanna G. Eder

1. Exposition: In einer Einleitung werden die handelnden Personen eingeführt, der dramatische Konflikt kündigt sich an. 2. Katastase: Der Konflikt entwickelt sich, Spannung baut sich auf, die Erregung steigt. 3. Klimax: Auf dem Höhepunkt der Handlung tritt in der Anagnorisis eine Erkenntnis bzw. Wiedererkennung ein. Im Wendepunkt, der Peripetie, schlägt die Stimmung plötzlich um in Unkenntnis oder Kenntnis, Unglück oder Glück. Die Katastrophe bzw. Lösung leitet sich ein. 4. Retardierendes Moment: In einer Phase höchster Spannung verlangsamt sich die Handlung. 5. Katastrophe oder Lysis: In der Vollendung der Handlung löst sich die Spannung schließlich wieder auf.

42 Freytag 2012.

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Die kathartische Spannungskurve eines Handlungsgefüges ermöglicht dem Rezipienten eine Imagination, Identifikation und Immersion43. Im Miteinander von Anspannung und Entspannung werden starke Emotionen und Gefühle 44 erzeugt, durchlebt, genossen, dissoziiert und verarbeitet. Das körperlich-kathartische Miterleben macht sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Kunst zu einem ganzheitlichen Erkenntnismittel.45 Auch die mimetische Spiegelung des Narziss erzeugt eine Katharsis und beschreibt in dieser Metapher ein Erkenntniswerkzeug des künstlerischen HOMO CREANS. 3.2.3 Christliche Logos-Ästhetik Der frühe Kirchenvater Augustinus (354-430) schafft einen Transfer von den Lehren Platons und Aristoteles’ ins Christentum, indem der Logos als Schönheit dem Gottesbegriff entspricht und sich in der Schöpfung ausdrückt. Aufgabe der Kunst sei es, die Spuren Gottes in der Welt nachzuzeichnen, das Wirken des Unsichtbaren im Sichtbaren hervorzuheben und damit die Liebe zu Gott zu fördern. Im Mittelalter ist nach Thomas von Aquin (1224/5-1274) dasjenige schön, was Einheit und Unterschiedenheit auf harmonische Weise in sich vereint. Er richtet sich dabei nach den antiken Schönheitskriterien Symmetrie, Ordnung und Proportion. Die Kunst nimmt abermals eine Mittlerrolle zwischen Schöpfer und Geschaffenem ein. Ihre Aufgabe sei es, die Schönheit der Schöpfung durch Mimesis mystisch erfahrbar zu machen und die Seele somit zu Gott zu führen. Der Künstler sei durch das Herstellen schöner Gegenstände ein demütiger Diener Gottes. Das Schöne solle mit Gefühl und Verstand kontemplativ erlebt werden. 46 Basierend auf den ästhetischen Lehren Platons und Aristoteles’ und aufbauend auf den christlichen Kirchenvätern, tritt im 14./15. Jahrhundert ausgehend von Italien der Paradigmenwechsel der Renaissance ein. Der Mensch wird zum Entdecker.47 Man entdeckt die Antike wieder und verbindet sie mit dem christlichen

43 Der Begriff der Immersion bedeutet das Eintauchen in eine künstliche Welt durch Auflösung der räumlichen Grenzen. Das Konzept geht auf einen Text des ungarischen Ästhetikers und Filmkritikers Béla Balázs von 1938 zurück und bezeichnete dort den Eingang bzw. die Tür in einen anderen Raum. Vgl. Balázs 1995, S. 204–226. 44 Z.B. Bedrohung, Angst, Vorahnung, Erwartung, Schaudern und Gruseln, Macht, Lust, Genuss, Erhabenheit. 45 In der Antike wurde diese Dynamik bewusst eingesetzt, um moralisch zu bilden. 46 Hauskeller 2004, S. 21-26. 47 Wagemutige Menschen wie Christoph Kolumbus (1451-1506) unternehmen weite Reisen und entdecken unbekannte Länder. Der Mensch erforscht auch sich selbst. Die Erfindung des Buchdrucks verbreitet das neue Wissen schnell und überall hin.

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Glauben, dessen Mittelpunkt das Geheimnis der Menschwerdung Gottes und gleichsam die Vergöttlichung des Menschen darstellt. Diese Impulse des Humanismus und der darauf folgenden Entwicklungen in Kultur und Wissenschaft erzeugen ein neues Verständnis des Menschen, der Wirklichkeit und somit auch der Kunst. Durch Marsilio Ficino (1433-1499)48 finden die altgriechischen Schöpfungsvorstellungen neue Aufmerksamkeit und verbinden sich mit den christlichen Lehren. 49 Nach der aristotelischen Auffassung, dass die wahrnehmbare Wirklichkeit durchzogen sei vom Logos, wird die Schönheit der Welt im Studium der Natur erforscht und mathematisch analysiert. Dabei entdeckt man die schöpferischen Prinzipien der Beziehung und Vernetzung als ganzheitliche harmonische Ordnung. Diese Gesetzmäßigkeit der logischen Schönheit wird nun auch Gegenstand der Kunst. Der Mensch wird zum Maß aller Dinge. Er sei Abbild Gottes, könne das Göttliche erkennen und selbst hervorbringen.

3.3 K ÜNSTLERSTEREOTYPE Der eigentliche Begriff des Künstlers ist eine Erfindung der Neuzeit. Seit der Renaissance gilt er als Inbegriff einer schöpferischen Persönlichkeit. In den folgenden Jahrhunderten wird die technische Perfektion und Originalität des Künstlers idealisiert. Die zumeist männlichen Künstlerstereotypen bündeln jedoch auch eine Vielzahl weniger glamouröser Eigenschaften.50 3.3.1 Melancholiker Ein Melancholiker ist nach geläufigem Verständnis ein Mensch, der zu Pessimismus, Traurigkeit, Ängsten und Depression neigt, zu Introversion, Misstrauen und Zweifel. Bereits dem Aristoteles-Schüler Theophrast (371-287 v. Chr.) wird die

48 Er gehört zu den bekanntesten Persönlichkeiten des Renaissance-Humanismus in Florenz. Mit seinen Übersetzungen und Kommentaren macht er dem lateinischsprachigen Publikum Schriften antiker griechischsprachiger Autoren zugänglich und trägt maßgeblich zum Verständnis Platons bei. Dies wird für die Frühe Neuzeit wegweisend. 49 Vgl. Hauskeller 2004, S. 27-32. 50 Eruptives inspiriertes Arbeiten im Wechsel mit Untätigkeit, Capriccio (Lat.: der absichtliche, lustvolle Regelverstoß, die fantasievolle, spielerische Überschreitung der akademischen Normen, ohne die Norm außer Kraft zu setzen), ein übersteigertes Ego, Verhaltensauffälligkeiten und Zügellosigkeit, Vernachlässigung des Äußeren, Jähzorn, Verstöße gegen gute Sitten, Unverbindlichkeit, Ehelosigkeit, sexuelle Auffälligkeiten, Ängste, Zwangsneurosen und Depressionen. Vgl. Krieger 2007, S. 95.

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Mutmaßung zugeschrieben, dass alle außergewöhnlichen Philosophen, Politiker, Dichter und Künstler Melancholiker seien. Die Melancholie wird von Marsilio Ficino zum Schlüssel besonderer geistiger Begabung und künstlerischen Schaffens erhoben. Er bezieht sich auf die antike Konzeption der vier Temperamente 51, die auf Hippokrates (um 460-375 v. Chr.) zurückgeht und die Einflüsse von vier menschlichen Körpersäften, den Elementen, Jahreszeiten, Sternzeichen und Himmelskörpern für den menschlichen Charakter verantwortlich macht. Der melancholische Charakter sei bestimmt durch die schwarze Galle, die in der Milz produziert werde. Ihm sind außerdem das Element Erde, der Herbst, das Erwachsenenalter, der Nachmittag und die Sternzeichen Jungfrau, Steinbock, Stier sowie der Planet Saturn zugeordnet. Im Neoplatonismus verliert die Saturngestalt ihren destruktiven Aspekt. Saturn als der Stammvater aller Planetengötter symbolisiert den reinen schöpferischen Geist. In seiner Gleichsetzung mit Kronos, der Zeit als Urprinzip, gebe er allem Seienden Maß und Ordnung.52 Der Künstler sei im Zeichen des Saturn geboren. Ein Hochbegabter, der unter Saturn leide, solle sich der Melancholie freiwillig zuwenden. Das wirke auf rein intellektueller Ebene positiv, heilend und förderlich, da es mit der Kontemplation des Göttlichen verbunden sei. Im Melancholiker seien visionäre Kraft und seelisches Leid untrennbar. Der zwiespältige Charakter der Melancholie zwischen genialischem Höhenflug und emotionalem Abgrund könne die künstlerische Tätigkeit jedoch auch hemmen. Deshalb gibt Marsilio Ficino zusätzliche Gesundheitsratschläge: häufiges Spazierengehen, Massagen, einen vernünftigen Tagesrhythmus, gesunde Ernährung, Musik hören.53 Die traditionelle Ikonografie des Melancholikers ist das aufgestützte, verschattete Gesicht. Sein unbestimmter Blick demonstriert den eigentlichen schöpferischen Vorgang: das mehr nach innen

51 Eine medizinische Theorie, die erstmals von Hippokrates um 400 v. Chr. zur Erklärung allgemeiner Körpervorgänge und als Krankheitskonzept entwickelt wurde und bis ins 19. Jahrhundert dominierend für die Naturwissenschaften blieb. Neben dem Melancholiker gibt es drei weitere Temperamente: den Sanguiniker (Blut aus der Leber, Luft, Morgen, Frühling, Kindheit, die Sternzeichen Waage, Wassermann, Zwillinge, der Planet Jupiter), den Choleriker (gelbe Galle aus der Leber, Feuer, Sommer, Jugend, Mittag, die Sternzeichen Löwe, Widder, Schütze, der Planet Mars) und den Phlegmatiker (Schleim aus dem Gehirn, Wasser, Abend, Winter, Greisenalter, die Sternzeichen Krebs, Fische, Skorpion und der Mond). Vgl. Schöner 1964. 52 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 26. 53 Seit der Antike gilt Musik als bewährtes Antidepressivum mit antimelancholischer Macht. Vgl. Sontag 1983, S. 126-147.

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als auf die Außenwelt gerichtete Nachdenken, aus dem heraus der künstlerische Einfall entsteht, den es anschließend umzusetzen gilt. 54 3.3.2 Uomo Universale Bis zum späten Mittelalter gehört künstlerisches Tun zum Handwerk. Künstler sind in Zünften organisiert und erhalten die Ausbildung bei einem Meister. Kunst steht maßgeblich im Dienst der Religion. In der Renaissance wird der antike Anthropoplast wiederentdeckt, der Mensch als Bildhauer seiner selbst.55 Entsprechend dem christlichen Verständnis vom Schöpfergott und der Gottesebenbildlichkeit des Menschen werde die göttliche Creatio vom kreativen Menschen gespiegelt und fortgeführt. Im Künstlersein versteht er sich aktiv beteiligt an der Vollendung der Schöpfung und seiner eigenen Vollendung. Er könne die Natur als Kunstwerk Gottes in der Mimesis bewundernd nachahmen. Wie bisher der Wissenschaftler, erforscht nun auch der Künstler die Gesetzmäßigkeit der Welt. In der harmonischen Ausgewogenheit der Proportionen strebt er die vollkommene Gestalt an. Es vollzieht sich eine zunehmende Intellektualisierung der künstlerischen Tätigkeit. Die Zentralperspektive wird erfunden. Aufgrund ihrer neuen Affinität zur Arithmetik wird die Bildende Kunst als angewandte Wissenschaft in die septem artes liberales56 aufgenommen. Marsilio Ficino stellt die Bildenden Künste in seiner Schrift Theologia platonica der Musik und Poesie gleich. Mit der Gründung der ersten Kunstakademie, der Accademia del disegno, in Florenz im Jahre 1563 nimmt der Einfluss der Zünfte stetig ab. Dadurch steigt die Autonomie der Künstler, was große Auswirkungen auf ihr Selbstbewusstsein hat. Es werden erste Kunsttheorien und Biografien über individuelle Künstlerpersönlichkeiten veröffentlicht.57 Kunst wird zur höchsten Tätigkeit des Menschen erklärt, mit dem Ziel, den Logos in einer autonomen Neuschöpfung freizulegen. Diese Auffassung führt zum Ideal des Uomo Universale, des allgemein gebildeten und begabten Humanisten, der Dinge kritisch hinterfragt und göttliches Schöpfertum verkörpert. Er steht mit allem in Verbin-

54 Dies synthetisiert sich in Albrecht Dürers symbolreichem Stich Melancholia I aus dem Jahre 1514. Aus seinen Tagebüchern geht hervor, dass Dürer selbst Melancholiker war. Vgl. Krieger 2007, S. 95-103. 55 Vgl. Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen (1486), Ditzingen: Reclam 1997. 56 Der damals gültige, aus der Antike stammende Wissenschaftskanon. Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik/Logik, Quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie. 57 Leone Battista Alberti: Della Pittura (1435), Lorenzo Ghiberti (um 1450), Giorgio Vasari: Le Vite de’ più eccelenti pittori scultori e archi tettori (1550).

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dung, empfängt Wissen von überall her und vernetzt sich in alle Richtungen. 58 Vertreter dieses umfassend gebildeten Künstler-Wissenschaftlers sind u. a. Leonardo da Vinci (1452-1519), Michelangelo (1475-1564) und Albrecht Dürer (1471-1528). 3.3.3 Genie Von der Antike bis zur Spätrenaissance wird die individuelle schöpferische Kraft eines Menschen als Gottes Werk verstanden. Der Künstler fungiert als eine Art Medium. Angeborene Talente und Virtuosität dienen als Werkzeuge göttlicher Offenbarung.59 Die Quellen der Inspiration sieht man in den bereits beschriebenen Metaphern von Eros, Euphorie, Daimonion, Logos, Genius, bzw. dem Musenkuss.60 Melancholie gilt als Voraussetzung des Genies, das bewussten und unbewussten Eingebungen folgt. Im 3. Jahrhundert entwickelt Plotin (205-270), der Begründer des Neoplatonismus, eine Lehre von der Erleuchtung in der Schau der Einheit. Vor allem Augustinus formt daraus eine christliche Theorie der Illumination durch das göttliche Licht in der menschlichen Seele. Ab der Neuzeit wird ein Genie oft von einer weiblichen oder männlichen Musenpersönlichkeit begleitet. Sie inspiriert den Künstler durch ihren Charakter, ihre (laszive) Ausstrahlung und ihre (erotische) Zuwendung. In der Ästhetik des Sturm und Drang61 und der deutschen Klassik entsteht der Geniebegriff aus der antiken Vorstellung des Genius. Der schöpferische Künstler setzt sich im Werk jedoch an die Stelle Gottes. Er selbst wird durch angeborenes Talent zum monadischen62 Genius. Immanuel Kant (1724-1804) räumt dem Geniebegriff in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) maßgebliche Bedeutung ein. Die Mimesis der Kunst müsse das aus sich selbst schaffende Wesen der Natur darstellen, das von unendlicher Schönheit zeuge. Den Künstler setzt er analog zur Natur, insofern dieser nur seinen eigenen Gesetzen gehorche und dabei etwas Überwältigendes erschaffe. Im Genie vermutet er einen »Günstling der Natur«63. Der

58 Vgl. Thomä, Dieter: Ethik der Kreativität. Konsequenzen für die akademische Bildung der Zukunft, in: Jansen 2009, S. 226/227. 59 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 44; vgl. Krieger 2007, S. 16-27. 60 Der Genius wird in Zusammenhang gesehen mit sexueller Potenz, die sich u. a. in leidenschaftlichen Beziehungen zu inspirierenden Frauen äußert. So ist das Genie Inbegriff der sexualisierten, männlichen Kreativität. Vgl. van den Berg, Karen: Kreativität. Drei Absagen der Kunst an ihren erweiterten Begriff, in: Jansen 2009, S. 213. 61 Wegen der »Verherrlichung des ‚Originalgenies‘ als Urbild des höheren Menschen und Künstlers« wird diese Strömung auch als »Geniezeit« bezeichnet. Vgl. von Wilpert 1969, S. 747. 62 In sich abgeschlossene Einzelheit. 63 Kant 1968, S. 318.

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zum Werk führende, kreative Prozess bleibe zumeist unbewusst. Das Genie bewege sich dabei in einem Spannungsfeld von individueller Imagination und kollektivem Geschmack, der ihn mit der sozialen Gemeinschaft verbinde. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775-1854) fasst die Genieästhetik in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) zusammen. Die höchste Stufe des Selbstbewusstseins sei das schöpferische Ich. Das Genie verwirkliche sein Potenzial in freier und notwendiger, subjektiver und objektiver sowie unbewusster und bewusster Tätigkeit. In dieser Weise realisiere sich das dem Menschen innewohnende Göttliche. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) sieht Talent und Genius als Voraussetzungen des Schöpferischen. Die technische, handwerkliche Seite des Werks bedürfe auch der fleißigen Übung und geduldigen Arbeit. Wichtige Voraussetzungen des Schöpferischen seien außerdem eine besondere Wahrnehmung, kombinatorisches Denken und ein gutes Gedächtnis.64 Spätestens in der Romantik findet die Vorstellung des Künstlergenies ihren Höhepunkt.65 Das Künstlerische wird zum Paradigma der menschlichen Selbstverwirklichung. Friedrich Nietzsche beleuchtet den Begriff der Offenbarung und die schöpferische Dialektik der apollonischen und dionysischen Aspekte. In Vernichtung und Chaos sieht er die Grundbedingung des Schöpferischen. Bei Richard Wagner findet sich der Gedanke der künstlerischen Erlösung, der gleichzeitig in ein utopistisches Menschenbild weist.66 In der Romantik wächst die Sehnsucht nach der naiven, unschuldigen Ursprünglichkeit der Kindheit, nach Intensität und Authentizität, nach einem Leben in Einheit mit Natur und Geist, Vernunft und Gefühl, einem Leben vor der Vertreibung aus dem Paradies. Sowohl Johann Wolfgang von Goethe als auch Friedrich Schiller befassen sich mit dem Begriff des Dilettanten.67 Um 1900 sucht die Kunst den Genius im Primitiven68. Das bildnerische Schaffen von Urvölkern und Kindern wird zur Quelle der Inspiration. Paul Klee fasst die moderne Kunstauffassung zusammen: »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, son-

64 Das »Auffassen der Wirklichkeit und ihrer Gestalten, welche durch das aufmerksame Hören und Sehen die mannigfaltigen Bilder des Vorhandenen dem Geistigen einpräge.« Friedrich Hegel zitiert durch Holm-Hadulla 2001, S. 50. 65 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 48-51. 66 Die »Erlösung des Denkens, der Wissenschaft, in das Kunstwerk [führt zur] unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur.« Richard Wagner zitiert durch Holm-Hadulla 2011, S. 53. 67 Lat. delectare: sich erfreuen. Der Begriff Dilettant bezeichnet einen Liebhaber von etwas ohne professionelle Kenntnisse (heute meist abwertend gebraucht). Während Friedrich Schiller dem Dilettantismus kritisch gegenübersteht, ist Goethe eher von seinem Nutzen überzeugt. 68 Kulturen von Ur-Völkern und Kindern.

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dern macht sichtbar.«69 Sie möchte eine subjektive Wirklichkeitserfahrung zum Ausdruck bringen, die sich zusammensetzt aus Sinneseindrücken und der psychisch emotionalen Innenwelt bzw. der metaphysischen Realität der Seele und des transzendenten Geistes. In Anlehnung an die romantische Sehnsucht nach Ursprünglichkeit verknüpft die Moderne das Konzept des Genies mit der kindlichen Naivität. Ein Kind sei eins mit der Natur und daher angeschlossen an die Wahrheit. 70 Auch heute noch existiert das Klischee des künstlerischen Genies, das auf der Grundlage göttlicher Eingebungen oder aus sich selbst quasi aus dem Nichts heraus Nie-da-Gewesenes schafft. Dabei koexistieren verschiedene Vorstellungen: • Der vom eigenen Genius überzeugte Künstler versteht seine Kunst als gesell-

schaftliche Aufgabe und wird mitunter zur Projektionsfläche messianischer Hoffnungen, Verehrungs- bzw. Idealisierungstendenzen. • Dem verkannten Genie dienen Leid und Melancholie als Antriebs- und Schöpferkraft. • Das unverstandene Genie erntet für seine besondere Begabung Einsamkeit und Spott bis hin zu Verfolgung.71 Der Geniebegriff liegt nahe am Begriff des Wahnsinns. Die reichhaltige Fantasie des Genies versetze es in die Lage, Wahrheiten zu erkennen und künstlerisch auszudrücken. Gleichzeitig berge eine Vision jedoch die Gefahr, ihr nicht mehr gewachsen zu sein. Der Wahnsinn ist gleichsam die Pathologisierung des schöpferischen Menschen. Unter Berufung auf den antiken Enthusiasmus, den göttlichen Wahnsinn, schreibt bereits Giorgio Vasari 1568 dem Künstler »Wahnsinn und Wildheit«72 zu. Der spanische Maler Francisco de Goya (1746-1828) schafft seine Werke aus chaotischen Träumen, Wahn und Ekstase. 73 Der Arzt und Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) formuliert in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819): »Genialität und Wahnsinn haben eine Seite, wo sie aneinandergrenzen, ja ineinander übergehen.«74 Er diagnostiziert dem Genie Hochsensibilität, Überspanntheit, Sprunghaftigkeit, schnellen Wechsel der Launen, träumerische Versunkenheit, überstarke Affekte und Triebe, herausragende geistige Tätig-

69 Erster Satz aus: Edschmid, Kasimir: Schöpferische Konfession, Berlin: Erich Reiß 1920. 70 Vgl. Fineberg 1995. 71 Vgl. Krieger 2007, S. 95-103. 72 Vasari: Vite, S. 196. 73 »Die Phantasie, von der Vernunft verlassen, bringt unmögliche Monster hervor. Vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und der Ursprung der Wunder.« Sog. Prado-Kommentar Goyas, zitiert nach: Hofmann 1980, S. 61. 74 Schopenhauer, Arthur: I, S. 272, zitiert in: Krieger 2007, S. 107.

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keit, jedoch ein abnormes seelisches Erleben und Sozialverhalten.75 Genies seien ein Ausdruck von Degeneration.76 3.3.4 Flaneur und Bohemien Der geniale Künstler, der sich nicht an die Ordnung der Welt hält, der durch seine rebellische Haltung ausschert, wird zum Prototyp des modernen Individuums. Im 19. Jahrhundert ist in Europa die Ära der Industrialisierung angebrochen. Auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand strömen die Menschen in die Städte. Durch die Landflucht wird die Städtegesellschaft immer heterogener. Es gibt alle möglichen Facetten von Kultur – die ersten Anfänge der modernen Großstadtstruktur.77 Die Urbanisierung prägt den Zeitgeist und auch den Künstlerstereotyp. Der französische Schriftsteller Charles Baudelaire (1821-1867) entwirft in Le peintre de la vie moderne (1863) das Bild des Künstlers als Flaneur78, der durch die Straßen der Großstadt streunt, Schaufenster besieht, andere Menschen beobachtet und Eindrücke sammelt. Langeweile, Nachdenken und träumerischer Müßiggang sind Quellen seiner Inspiration. Sozial völlig ungebunden, lässt er sich besonders anziehen von der Frau als dem »Wesen, das für die meisten Männer die Quelle der lebhaftesten und sogar […] der dauerhaftesten Genüsse ist.«79 Im Flaneur drückt sich das moderne, hedonistische Individualistentum aus, die Lebenshaltung eines kultivierten Stadtmenschen, der charmant und unterhaltsam ist, der die Freuden des Lebens genießt, der jedoch auch ein frivoler, etwas oberflächlicher Frauenschwarm ist und sich schwer einordnen kann. Vertreter dieses Typus sind z.B. Charles Baudelaire selbst und Edouard Manet (1832-1883). Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag

75 Vgl. Schopenhauer, Arthur: II, S. 486-502, zitiert in: Krieger 2007, S. 108. 76 Der italienische Psychiater Cesare Lombroso (1836-1909) attestiert einem irren Genie folgende Eigenschaften: Charakterlosigkeit und Inkonsequenz, Hochmut, Frühreife, abnormen Geschlechtstrieb, Alkoholismus, Ruhelosigkeit, unstetes Herumstreunen, Grübeln über metaphysische Lebenszusammenhänge, quälende Zweifelsucht, Gewissensängste, Züge von Größenwahn. Schon beim normalen Genie fänden sich Defekte des Gefühlslebens, verkümmerte Empathie und Liebesfähigkeit. Vgl. Lombroso 1894, S. 275 ff, zitiert in: Krieger 2007, S. 109. 77 Als Reaktion auf die Revolutionen wird das Stadtbild von Paris von 1853 bis 1869 unter der Leitung von Baron Haussmann radikal umstrukturiert. Daraufhin wird Paris von einer neuen bürgerlichen Klasse in Besitz genommen und somit zur kulturellen, kosmopolitischen Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. 78 Franz.: flaner – umherstreifen, umherschlendern. Ein Mensch, der durch die Straßen und Passagen der Großstadt spaziert, schaut, genießt und schweigt. 79 Baudelaire 1863, S. 245, zitiert in: Krieger 2007, S. 134.

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(1933-2004) beschreibt den Flaneur anhand der Persönlichkeit des Philosophen und Baudelaire-Übersetzers Walter Benjamin (1892-1940) und seiner subtilen Beziehung zur Einsamkeit im Imaginationsraum der Großstadt. Dieser schrieb über Paris, es habe ihm das wahre Wesen des Großstadtlabyrinths offenbart und ihn die Kunst des Verirrens gelehrt, bzw. des sich Wiederfindens auf einem imaginären Plan.80 Der Flaneur rechnet sich gerne der Boheme81 zu, einer künstlerischen Subkultur, die ihre Besonderheit ausdrückt in mitunter provozierender Ablehnung von Normalität bzw. von den einschränkenden Normen des Bürgertums. 82 Der Bohemien verwirklicht sich in kreativer Freiheit und leidenschaftlicher Hingabe an Leben und Kunst. Seine exzentrische, prekäre Lebensführung birgt besondere Glückserlebnisse, aber auch den Hang zu Selbstzerstörung und Depression.83 3.3.5 Die kreative Klasse – eine Synthese von Kunst und Leben Im 19. Jahrhundert intensivierte sich das Streben nach einer Synthese von Kunst und Leben. Zu den wichtigsten ästhetischen Positionen der Frühromantik zählt Friedrich Schillers utopisch-idealistisches Modell, das sich u. a. mit der Werte-Trias der Französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auseinandersetzt und das er in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen zur Kunst (1801) darlegt. Im Kern geht es um die Freiheit und Vollendung des Individuums und folglich auch der Gesamtgesellschaft durch die Verbindung von Verstand und Gefühl. Diese Veredelung des menschlichen Charakters geschehe im Schönen der Kunst.84 Friedrich Schillers universeller Anspruch an die Kunst, sein Freiheitsgedanke und die Integration von Verstand und Gefühl sind bei dem Musiker Richard Wagner (1813-1883) konkretisiert. Ihm geht es um die politische Beziehung zwischen Kunst und Revolution. Künstlerisches Handeln ist für ihn Gesellschaftspolitik. Seine radikale Kunstkonzeption führt ihn hin zum Gesamtkunstwerk. Durch eine radikalisierte Konzeption des Theaters und dessen Weiterentwicklung im Musikdrama möchte Wagner der gesellschaftlichen Entwicklung auf eine höhere Ebene verhel-

80 Vgl. Sontag 1983, S. 126-147. 81 Der Begriff stammt ab von der französischen Bezeichnung bohémien (ab dem 15. Jahrhundert) für die aus Böhmen kommenden Roma. Seine Bedeutung löste sich jedoch von der Herkunftsbezeichnung und wurde eine Selbstbezeichnung von unkonventionellen Künstlern. 82 Vgl. Krieger 2007, S. 95. 83 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 9. 84 Vgl. Schiller 2000.

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fen und die revolutionäre Utopie einer politisch-ästhetischen Gesellschaft exemplarisch verwirklichen.85 Friedrich Nietzsche (1844-1900) beschwört das Schöpfertum auf emphatische Weise. In seiner frühen Schrift Der Ursprung der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) konzipiert er das Schöpferische als Produkt zweier Grundkräfte, dem Dionysischen als Rauschhaftes, Exzessives, Unkontrolliertes und dem Apollonischen als das Klare, Rationale, Maßvolle. Beide Prinzipien sind nach Nietzsche konstitutiv für das Zustandekommen von Kunst. Jeder Mensch soll ein Künstler sein in dem Sinne, dass er über sich hinaus schafft und selbst zum Kunstwerk wird. In der Verabsolutierung des Schöpferischen zielt Nietzsche ebenfalls auf eine umfassende Neugestaltung des ganzen Lebens ab.86 Im 19. Jahrhundert gewinnt die Erforschung schöpferischer Prozesse, ihre Beherrschbarkeit und Berechenbarkeit auch zunehmend an Bedeutung in Wissenschaft und Ökonomie. Theodor Fechner (1801-1887) und Wilhelm Wundt (1832-1920) begründen die Psychologische Ästhetik, die den Fokus vom künstlerischen Urheber hin zum Rezipienten verschiebt. Sie erforschen empirisch, wie ästhetische Phänomene auf die menschliche Psyche wirken. Dabei wenden sie sich von einer metaphysischen Begründung des Schönen ab.87 Kreativität wird zunehmend ein Schlüssel- bzw. Heilsbegriff. Ihre Erforschung beginnt mit dem Werk Hereditary genius (1869) von Francis Galton (1822-1911), einem britischen Naturforscher, Schriftsteller und Cousin von Charles Darwin. Darin stellt er Überlegungen zur Messbarkeit von intellektuellen Fähigkeiten an, insbesondere von Hochbegabung und Genialität.88 Um den 1. Weltkrieg herum verwenden die USA Intelligenztests zur Rekrutierung von Soldaten. Spätestens nach dem schrecklichen Höhepunkt des Genie-Begriffs in den faschistischen Ideologien der Moderne wird er Mitte des 20. Jahrhunderts durch den aus dem Englischen entlehnten Begriff Kreativität ersetzt, der sich nicht mehr auf künstlerische Fähigkeiten beschränkt. Der englische Kunsthistoriker Herbert Read (1893-1968) greift den Gedanken des Schöpferischen als Wesensbestimmung des Menschen in seinem Buch Education through Art (1943) auf. Die Kunst solle die Grundlage der Erziehung sein.

85 Wagners spätere Äußerungen tragen antisemitische Züge und eine große Nähe zu nationalistischem Gedankengut. Vgl. Krieger 2007, S. 68-71. 86 Diese Gedanken teilen bald Künstlerströmungen des jungen 20. Jahrhunderts wie die italienischen Futuristen und die russische Avantgarde. Später fokussiert auch Joseph Beuys diese Gedanken. Vgl. Krieger 2007, S. 115. 87 Vgl. Krieger 2007, S. 117. 88 Vgl. Allesch, Christian G.: Identität – Kreativität – Authentizität, in: Hofmann 2007, S. 11.

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»Jeder Mensch ist auf seine Weise ein Künstler; wenn er schöpferisch tätig ist, wenn er spielt oder arbeitet […] drückt er nicht nur sich aus, sondern er offenbart, welche Form unser Gemeinschaftsleben annehmen sollte.«89

Der amerikanische Intelligenzforscher Joy Paul Guilford (1897-1987) liefert entscheidende Impulse für die moderne psychologische Kreativitätsforschung in seinem Grundsatzvortrag Creativity 1950 beim Kongress der American Psychological Association, der den heute geläufigen Terminus Kreativität prägt. Dort hebt er die Bedeutung kreativer Begabungen für Innovationen in Industrie, Verwaltung, Erziehung, Kunst und Wissenschaft hervor. Er stellt Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Intelligenz, Kreativität und Denkvermögen, woran man Begabung erkennen bzw. messen könne und wie man die wichtige Ressource Kreativität methodisch fördern könne, die man human capital90 zu nennen beginnt.91 Die Erforschung der Kreativität verfolgt also von Beginn an instrumentalisierte Interessen. Im Zuge dessen entsteht seit den 1970er Jahren ein neuer Künstlertypus, der den kreativen und autonomen Künstler mit dem Rollenmodell des Managers verbindet.92 Der innovative Künstler verfüge über Flexibilität, Motivation, Lernbereitschaft und die Fähigkeit, über die alte Welt hinauszugehen. Deshalb wird er zur Galionsfigur des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts. Das schöpferische Subjekt gründet nicht mehr auf göttlichen Gnaden oder individuellen Gaben, sondern muss sein Selbst stets neu schaffen. Im Jahr 2002 schreibt der amerikanische Ökonom Richard Florida der kreativen Klasse93 eine wachsende Rolle in Kultur, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und der urbanen Gesellschaft zu. Die kreative Fähigkeit, neue bedeutungsvolle Formen zu schaffen, sei die fundamentale Quelle ökonomischen Wachstums, denn sie halte den Konsum in Gang. Viele Künstler sind jedoch auch skeptisch gegenüber dem Kreativitätspostulat und der damit verbundenen Vereinnahmung von künstlerischen Arbeitsformen für ein neoliberales Gesellschaftskonzept. Die Subkultur des DIY94 erhebt den Dilettantismus zur neuen Avantgarde.

89 Herbert Read zitiert in: Krieger 2007, S. 123. 90 Menschliche Grundkompetenz. 91 Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 11. 92 Z.B. Damien Hirst, Jeff Koons, Takashi Murakami und Olafur Eliasson. Vgl. van den Berg in: Jansen 2009, S. 210. 93 Vgl. Florida 2003. 94 Engl.: do it yourself – mach es selbst. Die DIY-Subkultur entstand mit der Punk-Bewegung in England. Ihre Anhänger sind Amateure, die mit Spaß und Kreativität Dinge selber fertigen und ihre eigene Kraft, Improvisation und Autonomie als Triebfeder für Veränderungen sehen.

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Resümee In der Verortung des HOMO CREANS zeichnete Kapitel A nun erste Skizzen des schöpferischen Menschen. Ausgehend von gegenwärtigen Transformationen fiel der Blick zurück auf ursprüngliche, mythologisch-metaphorische und stereotype Sichtweisen des künstlerischen HOMO CREANS. In Kapitel B wird sich zeigen: in den Künstlerstereotypen bündeln sich die dem kreativen Prozess zugrunde liegenden psychologischen Dynamiken. Zudem symbolisieren sie Vorstellungen über die kreative Persönlichkeit des HOMO CREANS.

B KONJUNKTION DES HOMO CREANS

Die menschliche Entwicklung scheint geprägt zu sein von der Erschließung von Lebensraum, der Auflösung alter Formen und dem Schaffen neuer Ordnungen. Dabei kommt es immer wieder zu Krisen, Strukturverlust und kreativer Weiterentwicklung.1 Was ist die Grundlage menschlicher Kreativität? Kapitel B verbindet Wissensbestände aus kunstpädagogischen Bezugswissenschaften bzgl. der inneren Logik des HOMO CREANS. Ausgelotet werden die lernpsychologischen Grundlagen der Kreativität, der kreative Prozess und die kreative Persönlichkeit. Dies generiert eine Art Menschenbild des HOMO CREANS.

1

Zu den Stufen der menschlichen Entwicklung gibt es verschiedene theoretische Ansätze. Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson (1902-1994) entwarf in einer Übertragung der Phasenlehre Sigmund Freuds ein achtstufiges Modell der psychosozialen Entwicklung, in dem er den Lebensphasen des Menschen bestimmte Krisen zuweist, deren Überwindung glücken oder scheitern kann. Vgl. Erikson 1973, S. 55-123.

1 Grundlagen der Kreativität: Spielerische Lernprozesse

1.1 K INDHEIT 1.1.1 Fundament des Lebens »Die Kindheit ist die schöpferische Phase par excellence«1 so der Schweizer Entwicklungspsychologe und Epistemologe Jean Piaget (1896-1980). Sie ist das Fundament des Lebens. Das stereotype Kind wird assoziiert mit ursprünglicher Unschuld und spontaner Wildheit. Unbeschwert und ungehemmt lebt es seine Triebe aus. Es reflektiert und unterscheidet noch nicht zwischen innerer und äußerer Welt. Neugierig erkundet und erforscht es seine Umwelt. Mit einem vertrauensvollen, vorurteilslosen Blick sieht es intuitiv das Wesentliche. Im Einfachen und Alltäglichen findet es das Wunderbare. Kindliche Wahrnehmung und Erlebnisdichte sind geprägt von der emotionalen Intensität erster Male. In der Kindheit werden zentrale neurobiologische Strukturen für Kreativität geschaffen, auf die der Mensch später zurückgreift. Die Mutter spielt dabei eine besondere Rolle, mit deren Körpergefühlen und Affekten das Kind schon intra-uterin verbunden ist. Nach der Geburt sind es sinnliche Reize wie Geruch, Berührung, Blick und Stimmen der Bezugspersonen, die dem Kind Vertrauen in eine geordnete Welt vermitteln. Vom Säuglingsalter an werden Reize aus der Innen- und Außenwelt in beständigem Austausch mit der Umwelt aktiv verarbeitet. Rainer HolmHadulla (2011) führt aus, dass die Kindheit auch geprägt sei von archaischen Ängsten wie Verlust- und Vernichtungsangst, die sich in Form von Körpergefühlen, Affekten und Stimmungen zeigten. Wenn das Kind sich geliebt fühle, auf sichere Bin-

1

Jean Piaget zitiert in: von Hentig 1998, S. 52.

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dungen vertrauen und archaische Ängste abbauen könne, dann festige sich ein psychologisches Selbst in einer kulturellen Welt.2 1.1.2 Kinderbildnerei Auch die menschliche Imaginationskraft3 bildet sich in der Kindheit. Kinder verfügen über ein besonderes Maß an lebhafter Fantasie, ungezügelter Offenheit und innerer Freiheit, da ihre Denk- und Verhaltensweisen noch nicht auf bewährte bzw. kulturell normierte Lebensmuster festgelegt sind. Vor allem in den von Jean Piaget als sensomotorisch (0-2 Jahre) und präoperational (2-7 Jahre) beschriebenen Phasen haben sie noch ungenaue, fließende, wechselnde Vorstellungen von der Welt. 4 Somit liegen die Anfänge der Kunst in der Kindheit. Das Kind denkt in Bildern, verarbeitet Gefühle und Erlebnisse durch seine gestalterische Aktivität.5 Der Umgang mit Gestaltungsmaterialien entspricht seinem kognitiven und motorischen Entwicklungsstand. Jede bildnerische Entwicklungsstufe hat ihre eigenen Qualitäten. In einer ersten Kritzelstufe genießt das Kind allein das haptisch-sinnliche Erleben. Zunehmend wächst das Bewusstsein über das Hinterlassen einer Spur aus der eigenen Bewegung heraus. Im dritten Lebensjahr ist der Wortschatz des Kindes groß genug, dass es die gekritzelten Gebilde gegenständlich benennen und in eine Narration einbinden kann. So entwickelt es eine definierte Darstellungsabsicht.

2 3

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 181-184. Kinder und Jugendliche haben Imagination in qualitativer und quantitativer Hinsicht sehr unterschiedlich entfaltet. Das hängt auch von individuellen Begabungen ab (z.B. Sprachfähigkeit, bildnerische Darstellungsfähigkeit, räumliche Vorstellung, zeitliche Antizipations- und Erinnerungsleistung). Zudem ist sie determiniert durch kulturelle Einflüsse und situative Bedingungen (Medienkonsum, Welterfahrung). Imagination ist bild- und förderbar. Vgl. Sowa/Przybilla 2009, S. 20.

4 5

Vgl. van der Kooij, Rimmert: Spiel, in: Rost 2001, S. 688. Vgl. Daucher 1990. Die Eigenständigkeit der kindlichen und jugendlichen Bildsprachen wurde erst seit Ende des 19. Jahrhunderts ernst genommen und wissenschaftlich untersucht. Der italienische Kunsthistoriker Corrado Ricci analysierte und interpretierte Kinderzeichnungen in seinem 1887 erschienenen Werk Die Kunst der Kinder. 1897 beherbergte die Kunsthalle zu Hamburg die erste Ausstellung von über tausend Kinderbildern aus aller Welt unter dem Motto »Das Kind als Künstler«. Der Direktor Alfred Lichtwark, Begründer der Museumspädagogik, beförderte zu diesem Zweck die Werke der Kunstgeschichte ins Magazin. Für die Künstler der Klassischen Moderne war Kinderbildnerei eine zentrale Inspirationsquelle, die ihnen Zugang zum freien mentalen Raum der Kindheit, sowie zur Utopie der Ursprünglichkeit und Reinheit des Unbewussten verschaffte. Vgl. Legler 2007; vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 106.

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Noch ist das Produkt unwichtig. Das ästhetische Erlebnis des prozesshaften Tuns geschieht in einem lustbetonten, spielerisch-spontanen Automatismus. Dadurch stärken sich geistige Aktivität, die Bewusstwerdung des Ich und das Selbstvertrauen – essenzielle Grundsteine für die Entwicklung der Kreativität. Das Kind nimmt nach allen Seiten hin Kontakt auf. Ab dem dritten Lebensjahr geschieht in der ersten gegenständlichen Zeichnung eines Kopffüßlers der entscheidende Durchbruch zur Menschendarstellung. Mit ca. fünf Jahren hat das Kind sein individuelles, unverwechselbares Bildrepertoire gefestigt. Man spricht von Werkreife. Es stellt seine subjektiven Erlebnisse, Wünsche und Ängste dar. Somit erklärt es sein Verständnis von der Welt und sich selbst. Eine expressive Gestik entwirft anthropomorphe, geometrisierende Symbole. Die Darstellung strebt unbewusst nach Ordnung, Prägnanz und Klarheit. Die Darstellungsweise der Bildgegenstände richtet sich nach ihrer Bedeutung. Im bildnerischen Schaffen von Kindern sind bereits essenzielle Schaffensbedingungen des Künstlers angelegt, v. a. die offene, intensive Wahrnehmung und die unmittelbare, gestalterische Umsetzung in konsequenter Ehrlichkeit, temperamentvoller Begeisterung, naiver Unbekümmertheit und authentischer Reinheit. Um diesen direkten Zugang zu natürlichen künstlerischen Quellen muss der erwachsene Künstler ringen. Kindlicher Selbstausdruck im Singen, Musizieren, Tanz und Theater spricht zwar von der Conditio Humana, wird üblicherweise jedoch nicht als Kunst kategorisiert.6 Die natürliche Lust des Kindes an Geschichten, Bildern und Tönen übernimmt wichtige, mentale Funktionen. Denn Narrationen aller Art erzeugen ein Gefühl von Zusammenhang. Die Bennennung von Gegenständen, die Versprachlichung alltäglicher Erfahrungen, Märchen, Geschichten und Bilder schafft Ordnung und Sinn im Chaos unstrukturierter Erregungen. Sie erschließen gleichsam den Lebens- und Kulturraum und bauen angstvolle Desorientierungen ab.7 Das Kind lernt sich zunehmend zurechtzufinden im Chaos seiner Sinnlichkeit, Träume und Wünsche. Mit der steigenden Orientierung wächst auch das Bedürfnis, die Realität bewusst zu erfassen und abbildhaft darzustellen. Am Ende der Schemaphase im neunten Lebensjahr verliert das Kind das uneingeschränkte Vertrauen in seine eigene Schöpferkraft und wendet sich verstärkt seiner Umwelt zu. Das pseudonaturalisti-

6

Selbst wenn Kunst von Erwachsenen auch nicht immer bewusst ist, so verfolgt der Erwachsene eine andere, selbstbestimmtere Darstellungsabsicht. Nach Kerschtensteiner (1905) geht es dem Kind zwar um Selbstabbildung, aber noch nicht um Selbsterkenntnis, da der Unterschied von Bild und Wirklichkeit noch nicht bewusst sei. »Für das Kind »bedeuten« die Darstellungen nicht etwas, sondern »sind« etwas. Das Zeichnen wird erst dann zum Symbol, wenn wir uns des Unterschiedes von Bild und Wirklichkeit klar bewusst sind.« Kerschensteiner 1905, S. 477.

7

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 183-185.

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sche Darstellen kündigt die Phase der liminalen Adoleszenz an, einer besonders krisenhaften Übergangszeit vom Kind zum Erwachsenen. Sie ist ebenfalls ein Lebensabschnitt der Entdeckungen: Gefühle, Freundschaft und Liebe, Identität und Zugehörigkeit. Der Jugendliche wendet sich verstärkt Leitbildern, Idolen und Rollenmodellen zu. Themen wie Utopie, Selbstzweifel, Sehnsucht, Romantik, Erotik, Liebe, Gewalt und Tod treten hervor. Dies drückt sich aus in einer spezifischen Jugendkultur mit eigener Mode, Musik, Codes und Initiationsriten.8 Das Ideal der kindlichen Kreativität sollte nicht überfrachtet werden. Jedoch schöpft der Mensch für den Rest seines Lebens aus der Quelle erster Kindheitserfahrungen, besonders aus dem Spiel.

1.2 S PIEL Stadt-Land-Fluss – dieses Buch begann mit einer Art Spielaufbau. Vorbild ist ein Spiel, bei dem es um Wissen, spontane Schnelligkeit, Wettbewerb und vor allem Spaß geht. Spiel ist ein universelles Handeln, das an keine Kultur oder Weltanschauung gebunden ist. Man spielt mit einem Gedanken, einem Spielzeug oder mit Spielgenossen. Komplexere Spiele kombinieren diese Elemente. Die Ursache des Spiels kann nicht gänzlich geklärt werden. Tiere und Kinder spielen aus Vergnügen und unbewusstem Instinkt. Doch Spiel ist mehr als Instinkt oder Reflex. Es generiert Kultur und steht in besonderem Zusammenhang mit Kreativität. 1.2.1 Friedrich Schillers Spieltrieb »Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.« FRIEDRICH SCHILLER9

Ende des 18. Jahrhunderts tritt das Spiel ins Zentrum philosophischer Überlegungen. Aufgrund seiner enttäuschten Hoffnungen in die Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der gescheiterten Französischen Revolution (1789-1799) schreibt Friedrich Schiller (1759-1805) in 27 Briefen seine utopistischen, moralphilosophischen und anthropologischen Reflexionen Über die Ästhetische Erziehung des Menschen (1794). Darin entwirft er eine Ästhetik, die den destruktiven menschlichen Zwiespalt aus Emotio und Ratio in ein ganzheitliches Kräftegleichgewicht

8

Vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 119-159; vgl. Daucher 1990.

9

Schiller, Friedrich: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, 1794, 15. Brief.

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bringen möchte.10 Als spielerisch vermittelndes Glied zwischen emotionalem Stofftrieb und rationalem Formtrieb nennt Schiller im 14. Brief den Spieltrieb. Im Spiel finde der Mensch zur lebendigen Freiheit und vollkommenen Schönheit seines Wesens. Er erlebe Freude und Frieden, Liebe und das persönliche Glück. Allein diese Freude könne den Boden für eine menschliche Gesellschaft bereiten. 1.2.2 Johan Huizingas Homo Ludens »Man kann das Spiel eine freie Handlung nennen, die als »nicht so gemeint« und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft.«11

Auf der Basis des Spiels entwirft der holländische Schriftsteller, Historiker und Kulturphilosoph Johan Huizinga (1872-1945) in seinem Buch Homo Ludens (1938) eine Kulturtheorie. Der Mensch entwickle seine individuellen Fähigkeiten über das Spiel. Das gesamte kulturelle System aus Politik, Recht, Wissenschaft, Religion, Kunst usw. habe sich ursprünglich aus spielerischen Ritualisierungen entwickelt. Die Anthropologie des wissenden Menschen (homo sapiens) bzw. des denkenden Menschen (homo cogitans) und des tätigen Menschen (homo faber) werde gekrönt durch die Anthropologie des spielenden Menschen Homo Ludens. 1.2.3 Phänomenologie des Spiels Die zentralen Elemente menschlichen Zusammenlebens sind vom Spiel durchwoben, allen voran die Sprache als höchstes Werkzeug des Menschen. Jedes sprachliche Zeichen ist ein Wortspiel, eine Metapher für eine außersprachliche Wirklichkeit, die gleichsam eine parallele Wirklichkeit erschafft. Jedes Spiel bedeutet etwas.12 Sein immaterielles Wesen sitzt zwischen Instinkt und Geist. Das Spiel unterscheidet sich vom Alltag mit seinen Normen, Werten und Strukturen. Es ist ein

10 Der sinnlich emotionale Stofftrieb gehe aus den körperlichen Bedürfnissen des Menschen hervor. Der vernünftige Formtrieb versuche, ihn über die physischen Grenzen hinweg in Freiheit zu setzen. 11 Huizinga 2006, S. 22. 12 Jean Piaget unterscheidet das sensomotorische Übungsspiel und das symbolische Spiel. Zudem gibt es das Wiederholungs- bzw. Imitationsspiel, das Konstruktions- und das Gruppenspiel. Vgl. van der Kooij 2001, S. 686-690.

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freies Handeln. Ein befohlenes Spiel ist kein Spiel mehr. Es schafft eine eigene in sich abgeschlossene, fiktive und gleichzeitig reale symbolische als-ob-Welt mit eigenen, vereinbarten Grenzen von Zeit, Spielraum und Spielregeln. Recht und Ordnung wurzeln gleichsam im Boden spielerischen Handelns. Das Spiel stellt Anforderungen an die Kognition13, Emotion14 und die gesamte Persönlichkeitsstruktur. Der Zweck des Spiels liegt in der Lust und dem immanenten Vergnügen an der im Spiel erlebten Freiheit. Im Spiel erfährt der Mensch nicht nur Genuss und kompensiert damit seine Angst. Er übt sich auch in Selbstbeherrschung, erkundet Grenzen, überwindet seine Egozentrik. Im vergleichenden Wettbewerb stellt er seine Fähigkeiten unter Beweis: Körperkraft, Macht, Ausdauer, Mut, Durchhaltevermögen, geistige Kräfte, Kreativität. Damit probt, trainiert und simuliert oder verarbeitet er den Ernstfall. Das Schicksal des Spielers ist ungewiss. Wird sein Spielmanöver glücken? Das Spiel ist ein kathartisches Ventil. In der Zerstreuung des Spiels wird die Tragik des Lebens durchlebt und gleichzeitig vergessen. Das Spiel bindet und löst, fesselt und entfesselt. Es bannt, bezaubert und befriedigt. Wenn das Spiel ein Spiel bleibt, erlangt der Spieler Gleichgewicht. 15 Folglich sei das Spiel die Wurzel der Entwicklung, der Erkenntnis, des Lernens und der Kultur: »Wenn [etwas] einmal gespielt worden ist, bleibt es als geistige Schöpfung oder als geistiger Schatz in der Erinnerung haften, es wird überliefert und kann jederzeit wiederholt werden.«16

Mit Ausnahme des selbstversunkenen Spiels ohne Regeln ist ein Spiel auf Kommunikation angelegt, auf ein Hin und Her von Bewegung. Es braucht einen Mitspieler oder zumindest einen Zuschauer, der in der participatio, der inneren Teilhabe, ebenfalls aktiv mitspielt. Es ist ein kommunikativer Akt, der menschliche Gesellschaft voraussetzt und Zusammenleben erprobt. Jedes Spiel meint es ernst und kann den Spielenden ganz absorbieren. Wer sich dem Spiel nicht ernsthaft hingibt, wer sich nicht an die Regeln hält, ist ein Spielverderber, denn er entzieht sich der spielimmanenten Welt und zerstört dadurch die Illusion der zeitweiligen Vollkommenheit. Der Zauber des Spiels verfliegt.

13 Informationsverarbeitung. Kognitive Strukturen sind kein Abbild der Umwelt, sondern geistig mentale Konstruktionen. Vgl. Edelmann 2000, S. 113/114. 14 Erregter Ich-Zustand, der sich in körperlichen Veränderungen (z.B. Erhöhung der Herzund Atemfrequenz, Pupillenerweiterung) bzw. psychischen Vorgängen äußert und das Verhalten beeinflusst. Er tritt in Form eines definierten Gefühls ins Bewusstsein. Vgl. Edelmann 2000, S. 241/242. 15 Vgl. van der Kooij 2001, S. 686-690; vgl. Gadamer 1977. 16 Huizinga 2006, S. 18.

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Das kindliche Spiel ergibt sich häufig aus der Nachahmung von Alltagssituationen. Das als-ob-Spiel bildet gleichsam eine Brücke zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit. Es gleicht die Ist- oder Realwelt mit den persönlichen Bedürfnissen ab. Im Spiel wird die Welt erfahren und Sinn konstruiert.17 Der Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott (1896-1971) zeigte auf, dass sich kreative Fähigkeiten aus dem versunkenen kindlichen Spiel heraus entwickeln und dass konzentriertes Spiel in der Kindheit das zentrale Erlebnis-, Erkenntnis- und Lernmittel ist.18

1.3 L ERNEN Lernen ist ein Prozess des Sammelns, Ordnens, der Fremdheitsaneigung und Erfahrungsbildung. Er fußt auf sinnlichen Erkenntnisprozessen. Gedächtnis ist verbunden mit Vorgängen der Wissensgenerierung, -speicherung und des Wissensabrufes von Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gefühlen oder Bewegungen, Denk- und Handlungsmustern, Wünschen oder Entscheidungen und jeglicher Form der Kreativität. Es wird ermöglicht durch neuronale Prozesse im Gehirn.19 1.3.1 Hirnareale 20 Das Gehirn ist ein kommunikatives »Beziehungsorgan«21, ein extrem komplexes Netzwerk. Es steuert den Organismus, kanalisiert Erregungen, ordnet und verarbeitet Wahrnehmungsreize und soziale Erfahrungen, erkennt ihre Bedeutungen, erstellt neue Verknüpfungen und gestaltet Bewusstsein. Die Netzstruktur passt sich ständig an Umweltbedingungen an und repräsentiert die individuelle Biografie des Menschen. Die Leistung und Formbarkeit hängt von der entsprechenden Stimulation ab und kann bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Die Speicherung einer Information benötigt nur ca. hundert Nervenzellen (Neuronen). Nach heutigen Schätzungen sind im Gehirn 100 Milliarden Neuronen durch mehr als 100 Billionen Synapsen miteinander vernetzt. Durchschnittlich ist ein Neuron demzufolge mit 10.000 anderen Neuronen verbunden und könnte von jedem beliebigen anderen Neuron aus in

17 Vgl. Bockhorst 2006. Vgl. Oerter 1999. 18 Vgl. Winnicott 2012. 19 Vgl. Edelmann 2000, S. 276-279; vgl. Pöppel, Ernst: »Heureka, ich hab’s gefunden«, in: manager-magazin, 23.02.2005 http://www.manager-magazin.de/unternehmen/karriere/ 0,2828,341834,00.html (29.03.2013). 20 Vgl. http://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/ (29.07.2015) 21 Thomas Fuchs in: Holm-Hadulla 2011, S. 57.

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höchstens vier Schritten erreicht werden. Dies kann eine nahezu unendliche Vielzahl von Gefühlen, Ideen und Überzeugungen, Verhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften repräsentieren. Verschiedene Hirnareale (Großhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn sowie der Hirnstamm, der ans Rückenmark anschließt) übernehmen verschiedene Zuständigkeiten – z.B. für sensorische Wahrnehmung, Motorik, Emotionen, Gedanken, Sprache, Sinn, Raum- und Zeitgefühl. Alle Hirnareale sind durch interagierende, sich ständig neu organisierende Netzwerke miteinander verbunden. Erst das korrekte Zusammenspiel ermöglicht eine Funktion. Abbildung 6: Hirnareale

Quelle: Johanna G. Eder

Unter der Schädeldecke faltet sich die Großhirnrinde, der Kortex, auf. Diese Schicht bündelt die Nervenzellen. Darunter liegen die Nervenfasern. Der eng verknüpfte, assoziative Kortex umfasst jene Areale, die Sinnesinformationen aus verschiedensten Hirnarealen aufnehmen und sie zu neuen Mustern zusammensetzen. Der assoziative Kortex gilt als Sitz des unbewussten Denkens.22 Der frontale Kortex stattdessen ist verantwortlich für Urteilsvermögen und moralisches Handeln. Er steht im Zusammenhang mit der Planung, Kontrolle und Überwachung von kognitiven Denkprozessen. Er strukturiert die flexible Fokussierung und Defokussierung der

22 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 67-70.

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Aufmerksamkeit, die (Neu-)Kombination von gespeicherten Denkinhalten, das Arbeitsgedächtnis, und die mentale Strukturbildung.23 Diese Hirnareale sind komplizierter organisiert als andere Hirnareale und beim Menschen wesentlich ausgeprägter als bei Primaten. Sie reifen am spätesten und stellen mindestens bis zum 20. Lebensjahr ständig neue Verknüpfungen her. Der Kortex des Großhirns teilt sich in der Mitte in zwei Hemisphären, die durch den dicken Nervenstrang des Corpus callosum in Austausch stehen.24 Neurowissenschaftliche Studien betonen die besondere Bedeutung der rechten Gehirnhemisphäre im Zusammenhang mit kreativem Denken. Ihr wird eine symbolische, ganzheitliche Verarbeitung von Information zugesprochen. Sie repräsentiere das Gefühl25, Rhythmus und Musikalität, Bilder, Assoziationen, Intuition und Gegenwartssinn. Der linken Gehirnhemisphäre wird eher eine abstrakte, logisch-analytische Arbeitsweise, Verstand, verbale Kommunikation, Zahlen, Vergangenheits- und Zukunftsbewusstsein zugeordnet.26 Das Limbische System27 und die darin befindliche Amygdala (Mandelkern) im Zentrum des Gehirns verbinden die Verarbeitung von Emotionen und intellektuellen Leistungen.28

23 Vgl. Fink in: Dresler/Baudson 2008, S. 41. 24 Die Teile des Kortex, in denen komplexe kognitive Prozesse stattfinden, sind bei Menschen mit musikalischer Ausbildung dicker. Aufgrund der Koordination von Denken und Bewegung ist der Corpus Callosum stark vergrößert, wenn ein Instrumentalist früh mit dem Musizieren begonnen hat. 25 Die Neurobiologie unterscheidet zwischen Emotion und Gefühl. Emotionen sind unbewusste körperliche Reaktionen wie starkes Herzklopfen oder Zittern. Gefühle hingegen versehen diese Körperreaktionen mit Bewusstsein. Dadurch können Zustände wie Glück, Angst, Wut, Ekel und Trauer differenziert werden. Vgl. Müller 2009, S. 150. 26 Vgl. Fink in: Dresler/Baudson 2008, S. 40/41; vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 56-67; vgl. Müller 2009, S. 145; vgl. Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. Heyne Verlag: Hamburg 2006, S. 157. 27 Eine Gruppe von Hirnstrukturen, die mit der Verarbeitung von Emotionen und Gedächtnisprozessen befasst sind. Die wichtigsten sind Hippocampus, Amygdala, Gyrus cinguli und Gyrus parahippocampalis. Vgl. Krämer, Tanja: Das limbische System, 01.08.2011, in: https://www.dasgehirn.info/entdecken/anatomie/das-limbische-system/ (30.07.2015). 28 Einige Krankheiten lassen sich vermutlich auf Störungen des Limbischen Systems zurückführen, darunter Emotions- und Gedächtnisstörungen, Ängste, Schizophrenie, Depressionen und bipolare Störungen.

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1.3.2 Neurobiologie des Lernens Die wesentliche Grundlage von Lernprozessen ist die Veränderung neurobiologischer Strukturen. Lernen ist das Vernetzen einzelner Nervenzellen. Neuronale Netzwerke werden immer wieder desorganisiert. Anschließend werden unbewusst neue Verknüpfungen hergestellt, die zu einer Neukombination von Informationen führen. Je komplexer etwas organisiert ist, desto höher sind die Anforderungen an die Hirnstrukturen.29 Diese verarbeiten Informationen nach der Kommunikationsstruktur von Sender und Empfänger. Das sprachliche Zeichen ist dabei ein elektrischer Impuls, der Informationen von den Sinnesnerven und von überall her zu den Neuronen sendet. Die einzelnen Neuronen sind verbunden durch Synapsen – gleichsam die Knotenpunkte des Informationsnetzes. An den Synapsen lösen die elektrischen Impulse durch biochemische Prozesse eine Ausschüttung von Neurotransmittern30 aus. Diese diffundieren durch den synaptischen Spalt, docken an speziellen Rezeptoren der benachbarten synaptischen Membran an, an denen die Information wieder in einen elektrischen Impuls rückübersetzt und vom nächsten Neuron weitertransportiert wird. Dies ermöglicht Fühlen, Denken und Lernen. Je häufiger Signale ankommen, desto stärker werden die Synapsen der aktivierten Neuronen. Es herrscht ein Wechselspiel von Synchronisierung und Desynchronisierung. Nur zwischen synchronisierten Neuronen kann Information schnell und sicher übertragen werden. Wenn eine Neuronenverbindung schließlich eine gewisse Synchronizität erreicht hat, tritt der Informationsgehalt ins Bewusstsein. Wie stabil die Koppelungen sind, hängt von der Biografie und dem individuellen Lebensstil ab. Neuronenverbindungen sind aufmerksamkeits- und emotionsabhängig. Sie sind wie ein Muskel trainierbar. Stresssituationen können die Datenströme blockieren. Wenn ein Signal lange nicht auftritt, werden die entsprechenden Synapsen wieder abgebaut.31 Die Zahl der Synapsen nimmt schon nach dem ersten Lebensjahr wieder ab, da nicht benötigte Verbindungen verschwinden. Die Adoleszenz steht auch auf neuronaler Ebene in starkem Kontrast zur Kindheit. Das für das Denken essenzielle Zusammenspiel der Hirnsysteme entwickelt

29 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 70. 30 Biochemische Botenstoffe. Der wichtigste erregende Neurotransmitter ist Glutamat. Weitere Neurotransmitter sind z.B. Noradrenalin, Acetylcholin, Dopamin und Serotonin. 31 Bislang lässt sich die Hirnaktivität nur unscharf nachvollziehen. Seh-, Aufmerksamkeitsund Gedächtnisprozesse lassen sich messen über das EEG (Elektroenzephalografie), das kleine elektrische Schwankungen der Kopfoberfläche aufzeichnet. Auch sind die Blutbewegungen der aktiven Hirnareale messbar. Das Areal mit verstärkter Durchblutung entspricht jedoch nicht genau dem Areal, in dem das Denken stattfindet. Auch vermeintlich inaktive Bezirke können beteiligt sein.

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sich in den ersten Lebensjahren bis zur Pubertät in Abhängigkeit vom Umfeld und vom Geschlecht. Die Größe der Gehirne von Jungen und Mädchen ist sehr ähnlich. Sie unterscheiden sich jedoch im Verlauf ihrer Entwicklung. Die Hirnmasse der Mädchen erreicht ihr maximales Volumen 1-2 Jahre früher als bei Jungen. Dies hat Auswirkungen auf kognitive und soziale Fähigkeiten. Die Vorpubertät spielt für die Gehirnreifung eine Schlüsselrolle. In dieser für die kreative Entwicklung so sensiblen Phase findet ein besonders intensives Wechselspiel von Erregungen und neuronaler Strukturbildung statt. Der weibliche bzw. männliche Hormonspiegel steigt um das 10 bis 20-fache an. Das äußere Erscheinungsbild und die Art der Erfahrungen verändern sich. Die Umbauprozesse in Körper und Gehirn erhöhen den Schlafbedarf.32 Der Kortex ist noch nicht komplett verschaltet. Er kann zwar bereits komplizierte kognitive Funktionen übernehmen. Doch das Gehirn von Heranwachsenden ist noch nicht in der Lage, starke Leidenschaften, Triebe und Risikofreude zu kontrollieren. Zudem können Emotionen noch nicht so gut gedeutet werden. Besonders in Stressphasen kommt es zu Stimmungsschwankungen und Angstzuständen. Erst im Laufe der Jahre lernt das Gehirn das Miteinander der beiden Hemisphären besser auszubalancieren und unter Druck oder starker Gefühlsbelastung Entscheidungen zu treffen.33 Im adoleszenten Gehirn werden nicht ausreichend genutzte Neuronenverbindungen wieder abgebaut. Die am meisten verwendeten Verbindungen werden gestärkt. Diese Entwicklung ist frühestens mit 21 Jahren abgeschlossen. 1.3.3 Wahrnehmung als Spiegelung Der größte Teil des menschlichen Wissens ist nicht neuronal gespeichert, sondern ausgelagert in Mythen, Religionen, Sitten, Gebräuche und Rituale, Landschaften, Architekturen, Kunstwerke, Sprache und Institutionen. Der Schlüssel zu diesem Wissensreservoire ist das zwischenmenschliche Beziehungsgeflecht.34 Der Mensch lebt gleichsam in einem Resonanzraum, der das intuitive Erkennen und Verstehen von Gefühlen, Handlungen und Absichten anderer überlebensnotwendig macht. Elementarer Bestandteil der Wahrnehmung und des Wissenserwerbs ist die Wiedererkennung bekannter Strukturen und Muster. Selektive Kontrollmechanismen im frontalen Kortex lenken die Aufmerksamkeit. Der Großteil an Informationen bleibt unbewusst und wird vom Gehirn als unwichtig aussortiert. Zudem orientiert sich Wahrnehmung an individuellen Bedürfnissen, bestimmten Vorannahmen und dem

32 Aufgrund des veränderten Melatonin-Spiegels verschiebt sich der Schlaf/Wach-Rhythmus in die Nacht hinein. 33 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 58-60. 34 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 56.

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aktiven Wollen. Die Sinnesorgane und die nachgeschalteten Nervenbahnen gleichen einem Übersetzungsmedium, das aus der Komplexität der Sinnesreize einzelne Aspekte der Wirklichkeit herausfiltert und zu größeren Sinneinheiten, Mustern, Seh- und Hör-Bildern verknüpft. Wahrnehmung ist demnach immer subjektiv und bildet nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit ab. »Die Welt durch deine Augen sehen, Augen zu und durch Wände gehen. Und das ist alles nur in meinem Kopf… Du bist wie ich, ich bin wie du. Wir sind aus Staub und Fantasie.«35

Hinter der neuronalen Hardware, die diese Resonanz und stille Kommunikation ermöglicht, steht das System der Spiegelneuronen, das Ansichten und Empfindungen anderer Menschen gleichsam spiegelt und dadurch aufschlüsselt. 36 Spiegelneuronen sind handlungssteuernde Nervenzellen, die jedoch auch dann aktiv sind, wenn die spezifische Handlung und die damit in Verbindung stehenden Stimmungen und Gefühle von einer anderen Person ausgeführt und vom Rezipienten lediglich beobachtet werden. Sogar die Vorstellung einer bestimmten Handlung reicht aus und die Zellen werden aktiv. Die Aktivität ist dann am stärksten, wenn die beobachtete oder imaginierte Handlung simultan mitvollzogen wird. Körperhaltungen sind demnach ansteckend. So entsteht der zwischenmenschliche Beziehungsraum – ein Resonanzund Spiegelraum. Die Spiegelneuronen liegen beim Menschen im Sprache produzierenden Hirnareal. Sprache ist also verknüpft mit Imagination und Imitation. Spiegelneuronen sind gleichsam die neurobiologische Erklärung des Phänomens der kathartischen Ansteckung im Theater oder Kino.37 Spiegelaktionen sind elementar wichtig für die Sozialfähigkeit des Menschen. Die angeborenen Spiegelsysteme können sich jedoch nur bei einer adäquaten Rückspiegelung weiterentwickeln. Dazu bedarf es eines adäquaten Spiegelpartners. Dem Säugling ermöglichen Spiegelneuronen bereits wenige Stunden nach der Geburt erste Spiegelungsaktionen mit seinen wichtigsten Bezugspersonen. Zwischen Säugling und Bezugsperson geschehen ähnliche, neurobiologische Prozesse wie zwischen frisch Verliebten. Signale

35 Textzeilen aus dem Song Nur in meinem Kopf des Albums Staub und Fantasie von Andreas Bourani, erschienen 2011 bei Vertigo/Universal. 36 Entdeckt wurden Spiegelneuronen 1996 vom Team um Giacomo Rizzolatti. Neuronale Spiegelungs- bzw. Resonanzphänomene lassen sich mit der funktionellen Kernspintomografie (f-NMR) nachweisen. Eine 2010 publizierte Studie berichtet über den ersten direkten Nachweis von Spiegelneuronen beim Menschen. Vgl. Mukamel 2010, S. 750–756. 37 Vgl. Bauer 2006, S. 23; vgl. Müller 2009, S. 154.

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werden wechselseitig aufgenommen und zurückgespiegelt. Bilder erzeugen Bilder. Der Säugling benötigt diese Spiegelung durch zugewandte Bezugspersonen, um seine Umwelt neugierig erkunden zu können. Die emotionale Fähigkeit zu Empathie und die kognitive Fähigkeit zur Perspektivenübernahme werden schon in den ersten Lebensmonaten gelernt und stellen wichtige Grundlagen für die spätere kreative Entwicklung dar. In einer weniger intensiven Form bildet dieses Spiel den Beginn jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Jedes Verhalten und jede Beziehung hinterlässt neurobiologische Spuren im Gehirn. Die individuellen Gehirne arbeiten quasi synchronisiert. »Ich spiegle mich, also bin ich.« Spiegelneuronen offenbaren die zentrale Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen auf die Hirnstrukturen. Fähigkeiten und Eigenschaften können sich nur entwickeln, wenn die genetischen Anlagen durch zwischenmenschliche Beziehungen aktiviert werden. Sonst gehen sie wieder verloren.38 Ob und wie man sozialkognitive, affektive und emotionale Fähigkeiten trainieren kann und wie sich dabei Strukturen und Netzwerke im Gehirn verändern, dazu forscht die Psychologin und Vertreterin der Sozialen Neurowissenschaft Tania Singer. Ihr Schwerpunkt liegt bei der Erforschung von Mitgefühl, Empathie, compassion, emotionaler Resonanz, Ansteckung sowie der Plastizität des sozialen Gehirns. Demnach ist Empathie die universelle Fähigkeit der affektiven Resonanz, sich in andere einzufühlen und Perspektiven anderer zu übernehmen. Als empathischer Mensch empfindet man ähnlich wie das Gegenüber. Man aktiviert dann neuronale Netze, die auch der eigenen Empfindung dieser Gefühle – zum Beispiel Schmerz – zugrunde liegen. Und was für negative Empfindungen gilt, gilt auch für Lachen und Freude. Es sind dieselben Netzwerke, die dann in einem empathischen Beobachter aktiviert werden.39 1.3.4 Lernen aus Ästhetischer Erfahrung – Wahrnehmung, Erkenntnis und Wissenserwerb Der Prozess des Lernens bzw. des Wissenserwerbs beginnt mit der sensorischen Wahrnehmung – griechisch aísthesis.40 Alltagssprachlich bezeichnet der Ausdruck ästhetisch heute meist eine subjektiv positiv konnotierte Wahrnehmungen wie ge-

38 Vgl. Bauer 2006, S. 58/59, S. 157. 39 Vgl. http://www.cbs.mpg.de/depts/singer (05.08.2014). Beim Mitgefühl hingegen geschieht hirnphysiologisch eine andere Reaktion. Der eine geht nicht in das Leiden des anderen hinein, sondern empfindet Fürsorge, Wärme und eine Motivation, dem Leidenden zu helfen. 40 Visueller Sehsinn, auditiver Hörsinn, haptisch kinästhetischer Spürsinn, olfaktorischer Geruchssinn, gustatorischer Geschmackssinn.

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schmackvoll, ansprechend oder erhaben. Als philosophischer Begriff meint ästhetisch jedoch das ganze multisensorische Spektrum sinnlicher Wahrnehmungen, das dem Menschen unabhängig von Wertzuschreibungen Bedeutung vermittelt. Folglich ist Ästhetik eine Erkenntnismethode über den Weg der physischen Sinne. Der Begriff der Ästhetischen Erfahrung wurde maßgeblich geprägt vom amerikanischen Philosoph und Pädagogen John Dewey (1859-1951). Er definiert Erfahrung als die »Interaktion von lebendigem Geschöpf und Umwelt«41. Dieser bilaterale, interrelationale Prozess geschehe auf kognitiver und emotionaler Ebene. Lernen setze eine aktive und reflexive Auseinandersetzung mit Erfahrungen (z.B. einer herausfordernden Bewältigung problematischer Situationen) voraus. Erst die Reflexion, das intensive Nachdenken darüber, führt Dewey zufolge zu Erkenntnis und Wissenserweiterung. Am Anfang einer Ästhetischen Erfahrung steht ein sinnlicher Reiz. Nicht jede sinnliche Erfahrung ist schon eine Ästhetische Erfahrung. Letztere geschieht erst, wenn Wahrnehmung sich mit bewusster Erkenntnis verbindet.42 (Z.B. Erfahrungen in der Natur bei körperlicher Betätigung, Erfahrungen menschlicher Schöpfung, Erfahrung von Interrelationalität). Um zur Ästhetischen Erfahrung zu werden, bringt ästhetisches Denken und Tun die Gegensätze von Emotion und Kognition, von kausalem und analogem Denken in Einklang. Sigmund Freud unterschied diese beiden Denkarten in Primär- und Sekundärprozesse des Denkens. Primärprozesse sind ein nicht-sprachliches, sprunghaftes, unbewusstes und unzensiertes Denken in Bildern, Musik, Träumen und Assoziationsketten, das sich am Lustprinzip orientiert.43 Diese genuin menschliche Eigenschaft des Denkens und Erlebens sei besonders ausgeprägt in der frühen Kindheit und im Traum.44 Sekundärprozesse sind durch sprachlich diskursive Logik charakterisiert. Joy Paul Guilford unterschied 1959 konvergentes und divergentes Denken.45 Heute spricht man zudem von kausalem und analogem Denken. Kausales Denken strebt nach Präzision und Eindeutigkeit. Analoges Denken ist in der Sinnlichkeit

41 Dewey 1988, S. 47. 42 »Erst wenn wir uns einer sinnlichen Wahrnehmung bewusst werden, […] die Wahrnehmung mit anderen Wahrnehmungen und Empfindungen in Beziehung setzen und ausleben, dann verhalten wir uns nicht nur sinnlich, sondern ästhetisch.« Peez 2005, S. 22. Außerdem vgl. Sievert-Staudte, Adelheit: Ästhetisches Lernen, in: Haarmann 1998, S. 25. 43 Vgl. Baudson in: Dresler/Baudson 2008, S. 86. 44 Vgl. Korenjak in: Hofmann 2007, S. 87. 45 Beim konzentrierten konvergenten Denken lässt sich im EEG eine Zunahme von Gamma-Aktivität in abgegrenzten Hirnarealen messen.

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subjektiver Erfahrung verankert und bezieht unbewusste sowie emotionale Anteile mit ein. Es sucht nach Ähnlichkeitsbeziehungen zu bereits gemachten Erfahrungen, nach Einheitsstrukturen des Makro- und des Mikrokosmos der Welt, um Widersprüche und Fremdheit auszugleichen, Orientierung und Sinn zu generieren. Analoges Denken ist metaphorisch bildhaftes, allegorisches Denken. Es überträgt einen Sinnesreiz in eine bildhafte Denkfigur, eine auf der Imagination beruhende Rationalität, die sich dann in einer zweiten metaphorischen Umformung als Sprachfigur äußert.46 Georg Peez (2005) sortiert den Prozess der Ästhetischen Erfahrung: Erkunden, Ins-Bewusstsein-Rufen, Verstehen, Deuten, Transfer. Wichtige Vorraussetzungen seien Aufmerksamkeit für ein Ereignis oder Objekt, Offenheit und Neugier für Eindrücke, die Interesse wecken, emotional involvieren und gewohnte Wahrnehmungsweisen durchbrechen.47 Im Augenblick der Erkenntnis erlebe der Protagonist lustvollen Genuss, der ihn in Spannung, Überraschung und Staunen versetze, die Fantasie anrege und das Wahrgenommene mit neuen Assoziationen verknüpfe. Daraus können anspruchsvolle Vorgänge resultieren wie die Reflexion über eigene Wahrnehmungen, ästhetische Produktion und Kommunikation über den Prozess. 48 Ästhetische Erfahrungen sind also grundlegende Erkenntnis-, Lern- und Sinnbildungsprozesse, die Verstand und Gefühl gleichermaßen beanspruchen. Sie erzeugen Begehren und Lust, entfesseln Fantasie und Mitteilungsdrang – z.B. in Form von gestalterischem Verhalten. Auf der Grundlage sinnlicher Wahrnehmung und Ästhetischer Erfahrung konstruiert der Mensch subjektive Wahrheit und Erkenntnis, wobei die Grenze zwischen unbewusster Wahrnehmung und bewusstem Erkennen fließend verläuft.49

46 Vgl. Brandstätter 2008, S. 22-28. 47 Ästhetische Erfahrungen »als Erfahrungen der Diskontinuität, der Differenz zum bisher Erlebten«. Peez, Georg: Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. Beispiele zu ihrer empirischen Erforschung, München: kopaed 2005 (Ästhetik – Medien – Bildung Bd. 8), S. 20. 48 Vgl. Peez, Georg: Evaluation ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse. Beispiele zu ihrer empirischen Erforschung, München: kopaed 2005 (Ästhetik – Medien – Bildung Bd. 8), S. 14-15. 49 Vgl. Brandstätter 2008, S. 14-21.

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Abbildung 7: Ästhetisches Lernen

Quelle: Johanna G. Eder

1.3.5 Lernen und Schlaf Tatsächlich erfolgt Lernen im Schlaf, denn er konsolidiert das deklarative und prozedurale Gedächtnis. Erholsamer Schlaf ist wichtig für ein funktionierendes Gedächtnis. Auf neurobiologischer Ebene ist der Schlaf ein heterogener Zustand vielfältiger neuronaler Prozesse. Auch in Ruhe und Schlaf sind die neuronalen Netzwerke aktiv. Das Schlaf-EEG gliedert die Hirnaktivität des Menschen in sechs verschiedene, durch den Melatonin-Spiegel organisierte Schlafstadien: Sie wiederholen sich im Laufe von üblicherweise vier oder fünf 90-minütigen Schlafzyklen einer Nacht. Die Schlafstadien 1-4 werden der Reihe nach durchlaufen. Mit zunehmender Schlaftiefe50 sinkt die im Wachzustand intensive Noradrenalin- und Serotoninausschüttung und erreicht ihren Tiefpunkt in einer kurzen Zeit des Traumschlafs. Danach wiederholt sich der Prozess in einem neuen Zyklus. In den ersten beiden Zyklen der Nacht herrscht vor allem Tiefschlaf, in der zweiten Nachthälfte vor allem Traumschlaf. Dieser heißt auch REM-Schlaf51 (rapid eye movements) aufgrund der gleichzeitig auftretenden Augenbewegungen. Die Acetylcholinausschüttung nimmt ebenfalls mit zunehmender Schlaftiefe ab, springt mit dem Beginn des REMSchlafs jedoch auf ein Niveau zurück, das noch über dem des Wachzustands liegt. Dies führt zu einer wachähnlichen Hirnaktivität, die in frappierendem Gegensatz zur gleichzeitig großen Schlaftiefe steht. Der REM-Schlaf wird im Hirnstamm aus-

50 Gekennzeichnet durch sehr langsame Wellen im EEG (Slow-Wave-Sleep). 51 Der REM-Schlaf wurde 1953 durch Aserinsky und Kleitman entdeckt. Vgl. Dresler/ Baudson 2008, S. 153.

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gelöst. Je höher der Melatonin-Spiegel ist, desto länger dauert die REM-Phase mit ihren existentiellen Verarbeitungsprozessen. Denn während des REM-Schlafs sind bestimmte Hirnareale stark aktiviert: die zentrale Relaisstation des Gehirns, die instinktiven Funktionsstrukturen, das Limbische System, insbesondere die Amygdala und der Hippocampus, die für Emotionen und Gedächtnisprozesse zuständig sind. Weiterhin aktiviert sind der für die Integration von Sinneswahrnehmungen zuständige assoziative Kortex und die motorischen Strukturen. Während des REM-Schlafs deaktiviert sind v. a. der mit höheren kognitiven Funktionen wie Aufmerksamkeit und Wollen in Verbindung gebrachte, frontale Kortex und der für die eher primitive visuelle Erstverarbeitung zuständige Occipitallappen, da keine sensorischen Reize von außen ankommen. Zu Beginn des ungestörten REM-Schlafs wird der Kortex in chaotischer Weise stimuliert. In zufälliger Folge werden Gedächtnisspuren, sinnliche Erfahrungen, aktivierte Wissensbestände sowie ältere Gedächtnisinhalte aktiviert. Der Kortex trennt Wichtiges von Unwichtigem, vergleicht und vernetzt Daten miteinander, interpretiert die neuen Verbindungen und ordnet sie den entsprechenden Assoziationsfeldern zu. Die durch die Alltagserfahrung tiefgreifend veränderten Neuronenverbindungen werden im Schlaf stabilisiert. Dadurch entsteht ein kohärentes Narrativ der biografischen Erfahrung, das gestörte Gleichgewichtszustände wiederherstellt. Für die bewusste Bewertung der Daten-Kombinationen ist dann jedoch wieder der im Wachzustand aktive frontale Kortex notwendig, wofür die zahlreichen kurzen Wachzustände zwischen den Schlafphasen sorgen. Der Träumende ist sich in diesen Momenten des luziden REM-Schlafs bewusst, dass er träumt. 1.3.6 Gedächtniskategorien Erworbenes Wissen wird in verschiedenen Gedächtniskategorien abgespeichert. Das sensorische Gedächtnis bzw. Ultrakurzzeitgedächtnis nimmt alle unbewusst ankommenden Sinnesreize entgegen und macht sie für eine weitere Verarbeitung zugänglich. Es hat eine sehr große Kapazität. Die Gedächtnisspuren zerfallen jedoch schon nach wenigen Zehntelsekunden. Bewusste, verbal mitteilbare Informationen werden ans Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis weitergeleitet, einer komplexen Ansammlung interagierender Subsysteme, die in begrenzter Kapazität eine kleine Menge von aktivierter Information kurzfristig speichert. Mithilfe des Botenstoffes Dopamin geht konsolidiertes Wissen über ins Langzeitgedächtnis, das über eine nahezu unbegrenzte Kapazität verfügt. Das Langzeitgedächtnis ist zentral für Prozesse des Lernens, Internalisierens, Erinnerns und Vergessens. Es teilt sich auf in das deklarative und das prozedurale Gedächtnis.

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Das deklarative Gedächtnis befindet sich im Kortex. Es spaltet sich wiederum auf in einen semantischen und einen episodischen Bereich. Der semantische Bereich umfasst das Welt- und Sachwissen, das nicht mit der eigenen Person verbunden ist. Der episodische Bereich beinhaltet zeitlich geordnete, episodische oder autobiografische Erinnerungen und setzt sie in Beziehung zur eigenen Persönlichkeit. Er erzeugt Selbstbewusstsein, Identitätsgefühl und die Fähigkeit, eigene Erfahrungen mit denjenigen anderer Menschen zu verbinden. Das deklarative Gedächtnis kann bewusst fokussieren, bezieht sich auf Vergangenes, ermöglicht eine Zukunftsperspektive, kann aber auch in einem unbewussten Leerlaufzustand des Traums, der Meditation oder einer spirituell-religiösen Erfahrung stehen. Das prozedurale Gedächtnis speichert implizit gelerntes Handlungswissen und explizit gelernte Fertigkeiten, z.B. das Spielen eines Musikinstruments. Bewusst wiederholtes und gelerntes Wissen, konzentriert eingeübte Fertigkeiten und automatisierte Handlungen werden nicht mehr vom frontalen Kortex gesteuert, sodass sie automatisch und unbewusst ausgeführt werden können. Im Unterschied zum deklarativen Gedächtnis können die neuronalen Schaltkreise des prozeduralen Gedächtnisses nicht leicht verändert werden. Auch einmal internalisierte Fehler sind schwer zu verbessern.52 Darüber hinaus soll die Intuition als unbewusste Wissensstruktur an dieser Stelle erwähnt sein. Sie steht im Zusammenhang mit dem Limbischen System und ermöglicht dem Menschen unmittelbare Mustererkennung und schnelle Entscheidungen.53 1.3.7 Emotionale und motivationale Aspekte des Lernens Die Speicherung von Wissen erfolgt also durch die Verbindung von Kognition und Emotion. Positive Emotionen ermöglichen einen kognitiven Prozess, negative Emotionen blockieren ihn.54 Zentraler Faktor ist dabei die Motivation55, bedingt durch

52 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 62-70; vgl. Edelmann 2000. 53 Vgl. Kruse, Peter, Zukunft der Führung: Kompetent, kollektiv oder katastrophal? Vortragscharts

in:

http://www.forum-gute-fuehrung.de/sites/default/files/Bilder-menu/Zu

kunft-Personal-Kruse-2013.pdf (22.09.2014). 54 Vgl. Edelmann 2000, S. 241/242; vgl. Tunner, Wolfgang: Emotion, Phantasie, Kunst, in: Herding/Stumpfhaus 2004, S. 122-125. 55 Zielgerichtetes Bedürfnis. 1. intrinsisch: Interesse an der Sache selbst. 2. extrinsisch: selbstbestimmte Handlungen erfolgen freiwillig aufgrund der Erwartung von Belohnung, Lob oder Prestige. 3. extrinsisch nicht selbstbestimmt: zwingt den Protagonisten zu einer Handlung. 4. Amotivation: Unfähigkeit oder Unwillen, Handlungen zu vollziehen. Vgl. Edelmann 2000, S. 241-261.

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Gefühle wie Lust und Unlust, Liebe und Angst. Sie helfen dem Menschen, die Bedeutung von Situationen, Beziehungen oder Lernprozessen zu erkennen. Sowohl das erhebende Gefühl eines Erfolgserlebnisses, als auch das Gefühl des Zweifels in Reflexion und Selbstkritik sind wichtige Regulative der menschlichen Entwicklung. Die Angst spielt dabei eine besondere Rolle. Sie ist ein lebenswichtiges biologisches, psychologisches und soziales Warnsystem. Viele Ängste sind angeborene Reflexe auf Schlüsselreize. Ein Leben ohne Angst wäre gefährlich. In Angstzuständen sorgt die Amygdala dafür, dass alle Hirnzentren angesteuert werden. Der ganze Mensch ist in Alarmbereitschaft. Der Körper wird auf die Gefahrensituation vorbereitet. Wenn die Angst überwunden ist, sendet das Gehirn den Botenstoff Serotonin aus, der ein Glücksgefühl erzeugt. Je nachdem, um welche Angst es sich handelt, kann sie den Menschen völlig blockieren, jedoch durch Gewöhnung überwunden werden. Sie warnt nicht nur vor Gefahren, sie spornt auch Problemlöseprozesse an. Die Angst vor dem Ungewissen und vor dem Tod beeinflusst die Umsetzung von Lebenszielen. Lernen lässt sich folglich nicht nur physiologisch fördern, durch eine gute Versorgung des Gehirns mit nährstoffreicher Ernährung und ausreichend Schlaf, sondern auch emotional – z.B. durch empathische Beziehungen. 1.3.8 Lernmodelle: Behaviorismus, Kognitivismus, Konstruktivismus Die Lernpsychologie entwickelte verschiedene Modelle, um Lernprozesse zu erklären. Das Lernmodell des Behaviorismus bzw. des instrumentellen Lernens verfolgt eine Konditionierung von Verhalten. Ein Lerner wird mit bestimmten Reizen konfrontiert und reagiert entsprechend. Je nachdem ob seine Reaktionen positive oder negative Konsequenzen haben, z.B. Lob, Belohnung oder Bestrafung, wird sich ein bestimmtes Verhaltensmuster einprägen. Auch das Lernen durch Versuch und Irrtum fällt in diese Kategorie. Der Kognitivismus entspricht einem Lernen am Modell. Eine Person eignet sich beobachtete Verhaltensformen oder Begriffe durch Imitation bzw. verstärkende Wiederholung an. Das Erlernte verfestigt sich durch unterstützende Bekräftigung. Das Lernen am Modell ist nicht nur entscheidend in der Kindheit, sondern bleibt während des gesamten Lebens die wesentliche Lernform. Da jeder Mensch für andere die Rolle eines Modells einnimmt, trägt er somit Verantwortung. Angelehnt an Jean Piaget, entspricht der Konstruktivismus eher einer Erkenntnistheorie, nach der sich der Mensch seine eigene, subjektive Realität konstruiert und die Welt interpretiert.56 Der aktive Lerner steuert das Lerngeschehen selbstän-

56 Vgl. Riedl 2010, S. 55.

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dig und rekonstruiert (entdeckt) bzw. konstruiert (erfindet) sich aufgrund eigener Erfahrungen subjektive Bedeutung.57 Beim konstruktivistischen Lehr/Lernverständnis steht der Lernende in einer ganzheitlichen sozio-kulturellen Lernumgebung. In problemorientierten, entdeckenden und handelnden Lernprozessen interagiert er mit der Welt und mit Gleichgesinnten (Peer-Lernen), mit denen und von denen er lernt. Der Lehrende instruiert nicht, sondern formuliert und verdeutlicht Problemstellungen, greift bei Bedarf unterstützend und beratend ein. Als Lernbegleiter kommt ihm die Aufgabe zu, Lernkontexte erfahrungsorientiert zu gestalten.58 Lernen ist also ein ästhetischer und interrelationaler Prozess. Individuelle Erfahrungen sind der Ursprung eines jeden Lernprozesses. Soziale Interaktion und Kommunikation ermöglichen eine Abstimmung individueller Sichtweisen (intersubjektive Verständigung) und bieten Lernchancen durch das Zusammentreffen unterschiedlicher Perspektiven. Gerade die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen ist Kontrastmittel und Katalysator für persönliche Entwicklungsprozesse. 1.3.9 Erfahrungsbasierter Lernzyklus und Lerntypen 59 nach David Kolb Die Betonung der sinnlichen Erfahrung, des Handelns und der sozialen Interaktion schlägt sich in Modellen des Erfahrungsbasierten Lernens nieder, das auf John Dewey zurückgeht. In den 1980er Jahren entwickelte der amerikanische Erziehungswissenschaftler David Kolb in seiner experiential learning theory60 einen vierstufigen Erfahrungsbasierten Lernzyklus, der von der sinnlichen Erfahrung im Experiment bis hin zur kognitiven Abstrahierung reicht.61

57 »Lernen [gilt] als Prozess, bei dem der Einzelne auf der Grundlage seiner erworbenen Denk-, Gefühls-, Wollens- und Könnensstrukturen dem Wahrgenommenen durch Akte der Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion Bedeutung und Sinn gibt.« Wiater 2007, S. 29. 58 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 208; vgl. Edelmann 2000. 59 Aus Sicht der Kognitionswissenschaften gelten Lerntypen heute eher als Mythos, wenngleich sie in der Pädagogik populär sind. 60 Diese Theorie basiert u. a. auf Werken von John Dewey, Jean Piaget und Joy Paul Guilford. 61 Vgl. Kolb 1983.

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1. Konkrete Erfahrung: bildet den Ausgangspunkt eines Lernprozesses (ähnlich wie John Deweys problematische Situation). 2. Beobachtung und Reflexion: die Erfahrung wird beobachtet und anschließend reflektiert. 3. Abstrakte Begriffsbildung: der Reflexionsprozess mündet in das Erkennen zugrunde liegender Prinzipien, Generalisierung und abstrakter Begriffsbildung. Die gewonnenen Einsichten werden zu übertragbarem Wissen. 4. Aktives Experimentieren: im Experimentieren mit dem neu erworbenen Wissen wird der Lernende erneut zum Handelnden. Neue Erfahrungen führen zu einem weiteren Lernzyklus. Der Lernzyklus kann prinzipiell an jedem der vier Punkte beginnen und läuft in einer Spiralbewegung ab. Kolb ordnet den vier Schritten zudem vier Lerntypen 62 zu: • Divergierer: bevorzugt konkrete Erfahrung, Beobachten und Reflexion, erkennt

Probleme und bearbeitet Alternativen. • Assimilierer: bevorzugt Beobachten, Reflexion und abstrakte Begriffsbildung, definiert Probleme und formuliert Theorien. • Konvergierer: bevorzugt abstrakte Begriffsbildung und aktives Experimentieren, testet Theorien und löst Probleme. • Accommodator: bevorzugt aktives Experimentieren und konkrete Erfahrung, beschafft Ressourcen und führt Lösungen aus.

62 Analog zu Kolbs vier Lerntypen mag die Lerntypologie des deutschen Naturwissenschaftlers Frederic Vester (1925-2003) stehen, der entlang der Primärsinne folgende vier Lerntypen unterscheidet: Hören (auditiv), Sehen (visuell), Lesen, Fühlen/Tasten (haptisch). Vgl. Vester 2007.

2 Kreativer Prozess

Es ist die Lust auf neue Erlebnisse, die dafür sorgt, dass der Mensch gerne lernt und sich weiterentwickelt. Erkenntnisse aus Psychologie und Neurowissenschaften tragen heutzutage zum Verständnis von kreativen Schaffensprozessen bei. Dabei geht es nicht um Geschwindigkeit und Effizienz. Kreativität arbeitet langsam und in viele Richtungen. In Abgrenzung zum Aufgabenlösen sind kreative Prozesse Problemlöseprozesse mit hohem Komplexitätsgrad. Im vergangenen Jahrhundert entwickelten sich verschiedene psychologische Modelle zur Erklärung kreativer Prozesse: • Die psychologische Forschung geht seit den frühen Arbeiten von Graham Wallas

• •

• •

1

1

(1926) davon aus, dass ein kreatives Produkt Ergebnis eines oft mehrjährigen vierstufigen Prozesses ist. (Präparationsphase, Inkubationsphase, Illuminationsphase, Verifikationsphase) Der ungarisch-amerikanische Psychologe Mihály Csikszentmihályi formulierte 1975 das Konzept des Flow-Erlebens während der kreativen Inspiration. Zum Ende des 20. Jahrhunderts widmen sich Evolutions- und Neurobiologie der Kreativitätsforschung. Die neuropsychologische Erforschung von Kreativität wird Ende der 1970er maßgeblich von der Low-Arousal-Theory des amerikanischen Neuropsychologen Colin Martindale geprägt. 2 Auch der Erfahrungsbasierte Lernzyklus nach David Kolb kann als pädagogisches Kreativitätsmodell gesehen werden. Urban und Jellen (1994) entwickelten ein komplexes Theoriemodell mit drei Ebenen kreativer Leistungen: individuelle Leistungen, der Vergleich in der Gruppe, kulturelle Leistungen. Die kreative Persönlichkeitsstruktur ordnet sich in sechs Komponenten an: 1. divergentes Denken, 2. konvergentes Denken, 3. spe-

Vgl. Wallas, Graham: Art of Thought, London: C. A. Watts & Co. 1926, zitiert nach Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 168f.

2

Vgl. Fink, Andreas: Kreativität aus Sicht der Neurowissenschaften, in: Dresler/Baudson 2008, S. 39.

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zifisches Wissen und Fertigkeiten, 4. Fokussierung und Anstrengungsbereitschaft, 5. Motive und Motivation, 6. Offenheit und Ambiguitätstoleranz, Spielen und Experimentieren, kindliche Gelassenheit und Humor.3 • Heute spricht u. a. Rainer Holm-Hadulla von fünf Phasen des kreativen Prozesses.4 In der Präparation wird ein offenes Problem formuliert und analysiert. Zu seiner Lösung werden Informationen gesammelt und Fertigkeiten angeeignet. Erste Lösungsversuche zeigen, dass das Problem noch nicht lösbar ist. Während der Inkubation wird die aktive Suche eingestellt. In einer vermeintlichen Resignation laufen Lösungsprozesse jedoch unbewusst weiter. Im Augenblick der Inspiration tritt die Lösung plötzlich ins Bewusstsein. Anschließend wird in der Inkarnation die Realisierbarkeit der kreativen Idee geprüft und mühsam ausgearbeitet. Die Verifikation entscheidet schließlich über die Legitimation der neuen Idee.

2.1 P RÄPARATION Rainer Holm-Hadulla (2011) führt an, dass die kognitive und emotionale Kohärenz5 ein wesentlicher Faktor für psychische Gesundheit sind. Der Mensch ertrage Ungewissheit und Unordnung nicht lange. Die Balance wahre er, indem er Erfahrungen zu kohärenten Narrationen verbinde, denn er brauche Orientierung und Sicherheit, gewohnte Ordnungen und Routinen.6 Doch Gewohnheiten können auch zu Langeweile, Unbefriedigung und Entwicklungsstillstand führen. Solche mit unangenehmen Gefühlen verbundenen Zustände helfen, Probleme bzw. Gefahren zu erkennen, und fördern Lernprozesse. Ein gewisser Grad an Angst und depressiver Verstimmung könne dabei leistungsfördernd sein, da er kognitive und emotionale Selbsthilfestrategien aktiviere.7 Ein ebensolcher krisenhafter Zustand8 bzw. eine

3 4

Vgl. Kirchner/Peez 2009, S. 11-13. Vgl. Holm-Hadulla 2011; vgl. Edelmann 2000, S. 216-220, 245-248, vgl. Helmut Serve in: Seibert/Serve 1992, S. 126-137.

5

Lat. cohaerere: zusammenhängen. Die Ereignisse des Lebens stehen in flüssigen, sinnhaften Zusammenhängen. Psychische Konflikte korrespondieren neurobiologisch mit einem niedrigen Maß an Kohärenz. »Unser Geist kann wie unser Gehirn keine Inkohärenz ertragen […] Wie unsere neuronalen Netzwerke […] ist unser Geist genötigt, seine Meinungen und Bedürfnisse in einem sinnvollen Ganzen zusammenzubinden.« Richard Rorty zitiert in: Holm-Hadulla 2011, S. 10.

6

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 10.

7

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 66.

8

Darunter fallen auch Lust und Neugier als Indikatoren für subjektive Bedürfnisse.

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solche Problemstellung9 kann einen kreativen Prozess auslösen (vgl. »Not macht erfinderisch«), wenn sie eine Lust, Suche bzw. Notwendigkeit für Veränderung erzeugt – jedoch nur, wenn sie an die subjektive Lebenswelt anschließt. Eine ausdauernde und widerstandsfähige Persönlichkeit ist von großer Bedeutung. Denn Veränderung stört das psychische Gleichgewicht. Das Bewahren10, das »bleib so, wie du bist« und der Selbstzweifel blockieren die kreative Weiterentwicklung. Die Suche nach dem Neuen kann nur konstruktiv werden, wenn der Protagonist eine mutige Entscheidung trifft, wenn er genug Vertrauen aufbringt und das Risiko eingehen will, sich auf Unvorhersehbarkeiten mit offenem Ausgang einzulassen. Ein kreativer Prozess wird also durch eine Spannung des Unerfülltseins angestoßen, um eine inkohärente, liminale Krise zu bewältigen.11 In der Vorbereitung wird zunächst die vorliegende Problemsituation fokussiert und definiert. Anschließend werden vorhandene Wissensbestände12 im Langzeitgedächtnis bewusst wie unbewusst geordnet und kartiert. Wahrnehmung und Denken sensibilisieren sich. Bei Bedarf wird der persönliche Wissenshorizont durch das Sammeln weiterer sinnlicher und intellektueller Anregungen13 erweitert. Zuviel Fachwissen kann jedoch blind machen gegenüber neuen Ideen. 14 Auch stark Ich-bezogene Gedankenstrukturen hemmen den Prozess. Förderlich sind die intrinsisch motivierte Zerstörung alter Denk- und Handlungsstrukturen, Neugier und Spontaneität, Spiel und Experiment, kindliche oder erotische Lust und Leidenschaft. Die Lösung aus der Spannung beginnt in der Verbindung von Emotio und Ratio, wenn der Verstand aufhört, das Denken zu behindern.15 Eine gleichsam positive Krise kann auch durch eine Ästhetische Erfahrung ausgelöst sein und ebenso zu kreativem Denken und Tun anspornen.

9

Z.B. ein Bedürfnis, eine Unruhe und Fremdheit, eine prekäre Situation, Not oder Krise, ein Mangel, eine Notwendigkeit oder Sehnsucht, ein Begehren oder irgendeine andere Art von konfliktartigem Gefälle.

10 Sowohl etwas als auch jemanden vor etwas bewahren wollen. 11 Diesem Zustand könnte der Künstlerstereotyp des Melancholikers zugeordnet werden. 12 Die persönliche Biografie, Talente, Bildung und Fertigkeiten. Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 82/83. 13 Alltägliche Eindrücke, Gefühle, Bilder, Weltwissen. 14 Vgl. Funke, Joachim: Zur Psychologie der Kreativität, in: Dresler/Baudson 2008, S. 35. 15 Vgl. Huchler, Andreas/Jansen, Stephan in: Jansen 2009, S. 7.

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2.2 I NKUBATION Nach einem initialen Impuls durch eine Ästhetische Erfahrung und/oder eine krisenhafte Problemstellung hat das Gehirn zwar alle für eine mögliche Lösung verfügbaren Wissensbestände aktiviert, eine angemessene Lösung ist jedoch noch nicht gefunden. In der heuristischen Regression16 wird das Problem scheinbar resigniert beiseite gelegt oder ganz vergessen. Die konzentrierte Anspannung der Präparation geht über in eine emotionale Entspannung der Inkubation17. Man lenkt sich ab, beschäftigt sich mit anderen Themen und Tätigkeiten, man frönt dem Leerlauf, dem Müßiggang und der Langsamkeit, sucht die Einsamkeit, um den gewohnten Denkmustern zu entkommen. Man zieht sich zurück in eine kindlich-spielerische Mentalität des Vertrauens und der unvoreingenommenen Offenheit, befreit sich von Normen und Konventionen. Der deutsche Psychologe Karl Duncker (1903-1940) prägte den Begriff der funktionalen Gebundenheit.18 Er beschreibt den Ablauf in immer gleichen Mustern und Bahnen. Lernen bzw. Kreativität muss die funktionale Gebundenheit aufbrechen. So werden neue Verbindungen zwischen Ideen erleichtert, z.B. durch Überraschung, Unerwartetes, Kontingenz19. Bricht man aus der Routine aus, verändert sich dadurch das Gehirn. Der US-amerikanische Neuropsychologe Rex Jung empfiehlt, die Gedanken schweifen zu lassen. Man träumt dahin. Frei von rationaler Steuerung wandern unbewusste Gedanken in verschiedene Richtungen. Die Fantasie produziert Bildkombinationen.20 Diese Vorgänge beschreibt Colin Martindales Low-Arousal-Theorie. Vor der kreativen Inspiration finde ein Wechsel von abstrakt-logischem, bewusst fokussiertem, konvergentem Denken zum defokussierten, divergenten Denken statt, das mit einer vergleichsweise schwachen und

16 Vgl. Edelmann 1996, S. 325. 17 Lat. incubatio: auf etwas liegen, brüten. In der Antike wird mit Inkubation der Schlaf an den Kultstätten bezeichnet, um eine höhere Einsicht oder eine Heilung von Krankheit zu erhalten. Auch an christlichen Wallfahrtskirchen fand sich dieser Brauch in der Hoffnung auf eine Offenbarung, Erleuchtung, Glück oder Ähnliches. In der Biologie versteht man unter Inkubation entwicklungsfördernde Erwärmung. Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 83. 18 Er steht im Zusammenhang mit schöpferischen Problemlösungsprozessen durch Umstrukturierung. Die bestehende Funktion eines Elementes innerhalb der Aufgabe ist bereits so gefestigt, was ihre zur Lösung notwendige Veränderung erschwert. In einem Experiment sollten Kerzen an eine Wand montiert werden. Die dazu benötigte Schachtel war aber in Funktion einer Streichholzschachtel. Diese funktionale Gebundenheit musste überwunden werden, um zur Lösung zu gelangen. Vgl. Duncker 1935. 19 Rahmenbedingungen für Unerwartetes: z.B. Zufall, Passivität, Dilettieren, Kalkül, Souveränität, Kontrolle, Kontrollverlust, Ruhe, Reflexion. 20 Vgl. Jung, Rex: http://www.rexjung.com/ (01.08.2015).

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gleichmäßigen Aktivität mehrerer Hirnareale korreliere. In der Annahme, dass unkonzentriertes, divergentes, frei-assoziatives Denken nicht einfach ein passiv verträumtes Abschweifen ist, sondern dass es diffus verteilte Denkinhalte neu miteinander vernetzt, führte Nancy Andreasen eine Studie (2005) durch. Sie stellte einer Gruppe eine einfache Aufgabe. Eine zweite Gruppe sollte in Ruhe einfach nichts denken. Innerhalb der Ruhe-Gruppe hatten zufällige, assoziative Denkprozesse ihren freien Lauf. Tatsächlich herrschte dort eine wesentlich höhere GammaAktivität im assoziativen Kortex, als in der Problemlöse-Gruppe. Andreasen bewies so, dass im Zustand des ruhigen Gedanken-schweifen-lassens die höchstentwickelten und komplexesten Hirnareale aktiver sind als beim fokussierten Lösen definierter Aufgaben. Diesen neuronal interaktiven Zustand unbewusster Lösungssuche nannte sie REST: Random Episodic Silent Thought.21 Dabei öffnen sich neuronale Verbindungen. Kohärenz geht verloren, sodass bisher unverbundene Informationen miteinander abgeglichen und auf eine Passung hin geprüft werden können. Besonders wichtig ist das memory retrieval system im Temporallappen, das episodische oder autobiografische Erinnerungen aufruft. Das Gehirn empfängt zudem ständig eine Vielzahl neu eintreffender Signale und sortiert sie in den hauseigenen Fundus ein. Der Datenabgleich verstärkt den ohnehin inkohärenten, liminalen Transitzustand. Die Spannung des Noch-nicht kann lustvoll erlebt werden, jedoch auch beunruhigende (Selbst-)Zweifel, vorübergehende Lernblockaden und Arbeitsstörungen erzeugen. Wenn Angst- und Spannungszustände unerträglich werden, wächst die Versuchung, sie mit medialer Ablenkung, Alkohol oder Drogen zu betäuben. In der Regel findet man dadurch jedoch nur kurzfristige Befreiung. Die Gefahren sind mitunter größer als der Gewinn. Studien untermauern zudem, dass bei exzessiver Ablenkung durch Fernsehen, Internet und Computerspiele die Kombinations- und Fantasiefähigkeit leidet und dass die Emotionskontrolle abnimmt. Neurobiologisch lässt sich zeigen, dass bei massiver Reizüberflutung die Hirnareale für moralisches Handeln zugunsten primitiver affektiver Erregungen ausgeschaltet werden. Reize können nicht verarbeitet werden. Es kommt zur Abstumpfung. 22 Ein dysfunktionaler Mediengebrauch, der keine Freiräume zum Verarbeiten der Informationen und zum REST lässt, kann zu dauerhaften Verkümmerungen des frontalen Kortex führen, der für kreative Problemlösung von entscheidender Bedeutung ist. Die Inkubationsphase kann wenige Augenblicke oder mehrere Jahre dauern. Gerade der labile Zustand der wachsenden Inkohärenz kündigt die unmittelbar bevorstehende Problemlösung an. Wenn er zu großen Stress bereitet, kann er Angst,

21 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 67-70. 22 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 201.

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depressive und andere psychische Störungen hervorrufen. Deshalb erfordert er ein subjektives Gleichgewicht von Aktivität und Passivität und die Geduld, demoralisierende Spannungen zu ertragen. Der Druck kann sinnvoll kompensiert werden durch Entspannungstechniken, Arbeitsrituale und soziale Rückendeckung wie Förderung, Ermutigung und Bestätigung.23 Wer das Vertrauen nicht verliert, sondern den Prozess mutig laufen lässt, trotz Zweifel und Niederlagen, wer spielt wie ein Kind, sich löst und entspannt, wer umherstreunt wie ein Flaneur und mit offenen, genießerischen Sinnen aufnimmt, was ihm der Zufall über den Weg schickt, wer die äußerst sensible Phase der liminalen Inkubation durchsteht, den führt sie direkt zu auf das Zentrum des kreativen Prozesses.

2.3 I NSPIRATION »Wenn die Zeit die vierte Dimension des Raumes ist, so ist die fünfte Dimension das Imaginäre.«24 Mithilfe der Vorstellungskraft und Fantasie tauchen in der anschließenden Inspirations- bzw. Illuminationsphase plötzlich und unvorhersehbar neue überraschende Lösungsideen auf. Fantasie ist die »Fähigkeit zur Erzeugung von anschaulichen Vorstellungen, […] die über die Grenzen wahrgenommener Dinge oder geläufiger Ideen hinausgeht.«25 Basierend auf Sinneseindrücken und Erinnerungen ist es die menschliche Fähigkeit der Vergegenwärtigung von Nicht-Existierendem und Zukünftigem.26 Es ist die Kraft der Imagination, der Vor-Stellung und Ein-Bildung. Sie holt ein Bild herein, stellt es vor die Leinwand des inneren Auges. Fantasie erschafft gleichsam eine virtuelle Welt. Sie ist mit Begriffen wie Synästhesie, Intuition, Halluzination und Träumen verbunden. Aufgrund der Spiegelneuronen hat jeder Mensch die trainierbare Fähigkeit, sich neuronal zu erregen, in sich eine Emotion zu erzeugen und sich etwas Abwesendes vorzustellen. Die Spiegelneuronen aktivieren neuronale Repräsentationen schon dann, wenn man sich etwas mit geschlossenen Augen vor-

23 Vgl. Fink in: Dresler/Baudson 2008, S. 39/40, vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 67-70. 24 Zitat aus dem Filmessay München – Geheimnisse einer Stadt (D 2000; R: Michael Althen und Dominik Graf). 25 Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 182 26 Vgl. Huchler in: Jansen 2009, S. 7.

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stellt.27 Es ist die Als-ob-Realität des Spiels, Grundlage der Empathie, des Verständnisses der Mitmenschen und der Welt. Die Als-ob-Realität von Vorstellungsbildern steht in Verbindung mit der Realität, stimuliert sie und kann sie verändern. Diese fünfte Dimension des Menschen ist gleichsam das Samenkorn der Weiterentwicklung. Inspiration kann ausgelöst sein durch nebensächliche Details oder zufällige Erlebnisse in Situationen, die keinerlei Bezug zur Problemstellung haben, die dem Gehirn aber den fehlenden Baustein für die ersehnte Lösung schenken. In der anschließenden, scheinbar zufälligen Bisoziation28 der Fantasie vernetzen sich bis dahin unverbundene neuronale Wissensbestände und potenzieren sich zu einer Lösung, die wie ein plötzlicher Geistesblitz klar wird und die zuvor verlorene kohärente Ordnung wiederherstellt. Tatsächlich entwickelt sich die Lösung schrittweise im Unterbewusstsein, um schließlich im Zusammenhang mit hypersynchronisierten neuronalen Erregungsmustern mithilfe von Intuition und Fantasie ins Bewusstsein projiziert zu werden.29 Chaotische Empfindungen und Vorstellungen haben in der Inspiration eine geordnete Form gefunden. Nach dem Prinzip der Intertextualität konstruiert sich ein hybrides Netzwerk, eine sensible Neuordnung des Sehens, Erkennens und Wissens. Die mitunter leidvollen Wachstumsschmerzen der Inkubation münden gleichsam in einen Entwicklungsschub bzw. im Feld der Kunst in den furor poeticus, die Erregung des künstlerischen Schaffensrausches.30 Die kathartische Erregung der Inspiration kann sich sowohl im produktiven Denken eines Rezeptionsprozesses als auch in einem Handlungsvorgang einstellen. 2.3.1 Kreativität und Schlaf Für die Inkubation und Inspiration ist der Schlaf eine unschätzbar wichtige Komponente. Die Aussprüche »über etwas schlafen« oder »Den Seinen gibt’s der Herr im

27 Kernspintomographisch findet man ganz ähnliche Erregungsmuster wie bei Probanden, die dasselbe Objekt mit geöffneten Augen betrachten. 28 Der kreative Grundbegriff der Bisoziation beschreibt das Durchbrechen geistiger Routinen. Während die Assoziation Verknüpfungen auf einer Ebene vollzieht, geht die Bisoziation darüber hinaus, indem sie Begriffe, Bilder oder Vorstellungen aus zwei einander üblicherweise nicht zugeordneter Bezugsrahmen vernetzt. Dies kann zu drei verschiedenen Entdeckungen führen: 1. Witz und Komik, 2. Erkenntnis/Entdeckung, überraschende Einsicht, 3. Verständnis von Zusammenhängen. Der Begriff wurde von Arthur Koestler in seinem Werk The Act of Creation 1964 eingeführt. Vgl. Koestler 1966. 29 Eine hohe Gamma-Aktivität signalisiert die Lösungsfindung. Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 189. 30 Vgl. Baudson, Tanja Gabriele: Rausch und Kreativität, in: Dresler/Baudson 2008, S. 82.

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Schlaf.« (Bibel, Psalm 127,1-2) deuten den Zusammenhang mit kreativen Leistungen an. Schlaf und Traum sind quasi eine Extremform des REST. Anne Dufourmantelle widmet sich in ihrem Buch Intelligence du rêve (2012) der Traumintelligenz. Darin beschreibt sie das Transitbewusstsein des Traums als Sonderform der Fantasie und als Mittel der Erkenntnis. Das fokussierte Wachbewusstsein und das defokussierte Schlafbewusstsein seien radikal verschieden, auch wenn es Wachzustände gebe, in denen Traum und Wirklichkeit sich ununterscheidbar vermengen. Im Traum werde der konstruktivistische Charakter der Realität klar. Der Traum ist eine subjektive Bildnarration, die Bildsprache des Unbewussten. Ausgangsmaterial der Traumbilder ist der neuronale Vorratsspeicher31. Der Traum wird auch als kurzer Wahnsinn beschrieben. Unter dem weitgehenden Verlust der Willensstärke hat der Träumende assoziative Halluzinationen jenseits von Normen und Tabus. Er ist desorientiert hinsichtlich Zeit und Ort und durchlebt intensive, stark fluktuierende Emotionen. Es kann auch zu Einsichten kommen. Denn der Traum ist eine kreative Transformation. Er ordnet und verschaltet aktuelle und vergangene Erfahrungen miteinander. Seine Bilder, Geschichten und Einsichten können Handlungen im Wachzustand inspirieren. Besonders das Einschlafen und das Erwachen sind ideenreiche Transitzustände des Nicht-mehr und Nocht-nicht. In Analogie zur Geburt wiederholt es stets den ersten Moment des Lebens, die Ankunft in der Wirklichkeit, das Erwachen des Bewusstseins, das einen erneut in Beziehung setzt zur Welt und zu sich selbst.32 Schlaf- und Wachzustand des Menschen stehen auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung. Schon nach einer Nacht ohne Schlaf sind die geistige Flexibilität und die kreative Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Der REM-Schlaf hat positive Effekte auf kreative Leistungen im Wachzustand. Umgekehrt erhöhen kreative Anforderungen tagsüber den REM-Schlaf nachts. Auch traumartiges Denken im Sinne von Tagträumen und aktiver Imagination fördert Kreativität. 33 Die Inspiration tritt ein bei vorübergehender Hyperfrontalität, gleich einem momentanen Schlafzustand. Dieser Hirnzustand ist besonders empfänglich für kreative Ideen und kann auch absichtlich hergestellt werden. Z.B. Meditation, langes Spazieren, Baden, Dösen.34

31 Erfahrungen, kollektive Bilder, Erzählungen, Kulturgut, Weltwissen. Carl Gustav Jung (1875-1961) stellte eine Theorie über die Existenz eines kollektiven Unbewussten auf, eines Fundus an archetypischen Symbolen und Geschichten, in dem alle Menschen ihre eigenen Träume oder Erfahrungen gespiegelt fänden. Vgl. Spivey 2006, S. 89. 32 Vgl. Dufourmantelle 2012; vgl. Dresler/Baudson 2008, S. 149/150, S. 157/158. 33 Vgl. Dresler/Baudson 2008, S. 152-154, S. 157-160; vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 62-64. 34 Vgl. Jung, Rex: http://www.rexjung.com/ (01.08.2015).

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2.3.2 Der schöpferische Sprung und der Flow Die Schöpfungsmythen zeigten: der schöpferische Sprung der Inspiration – der Moment, in dem die Frage in eine Antwort übergeht – wurde zu allen Zeiten mit Metaphern, mythischen und religiösen Vorstellungen erklärt, z.B. als magischer Musenkuss, göttliche Vision oder Offenbarung. In der Inspiration öffnet sich tatsächlich eine eigene Erfahrungs- und Bewusstseinsdimension. In Friedrich Nietzsches Ecce homo findet sich eine metaphorische Beschreibung seines individuell-subjektiven Inspirationserlebnisses: »Plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, [wird] Etwas sichtbar, hörbar […], Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft […]. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. […] ein vollkommenes Ausser-sichsein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste […] wirkt […] als eine nothwendige Farbe innerhalb […] solchen […] Überflusses […] Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht von Göttlichkeit […]. Dies ist meine Erfahrung von Inspiration«35

In den 1970er Jahren erforschte Mihály Csikszentmihályi die Psychologie der Inspiration und nannte diese Erfahrung Flow36. Es ist ein positiv bewertetes, intuitivganzheitliches, freiheitliches Lebensgefühl, das innerste Fähigkeiten und Erlebnisweisen aktiviert. Der Flow fördert eine intensive Wahrnehmung, baut Ängste ab und stärkt Vertrauen. Er ist die schöpferische Freude des Menschen, die ihm Lebensglück und Kraft, Sinn und Erfüllung schenkt. Mit Einsetzen des Flow erlebt der Mensch einen so genannten Heureka-Moment37, eine kognitive Einsicht gefolgt von

35 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner, Kritische Studienausgabe: Band 6, Berlin: de Gruyter 1988, S. 339f. 36 Engl.: flow – fließen, strömen. Vgl. Csikszentmihaly 1996; vgl. http://www.flowskills. com/neurobiologie-und-flow.html (13.02.2011). 37 Altgriech.: Heureka heißt so viel wie »Ich hab’s gefunden.« und wird als freudiger Ausruf nach gelungener Lösung einer schweren, meist geistigen Aufgabe verwendet. Er steht auch als Synonym für eine plötzliche Erkenntnis. Der Ausruf ist nach einer von Plutarch und Vitruv überlieferten Anekdote berühmt geworden, der zufolge Archimedes von Syrakus unbekleidet und laut »Heureka!« rufend durch die Stadt gelaufen sein soll, nachdem er in der Badewanne das nach ihm benannte Archimedische Prinzip entdeckt hatte; vgl. Marcus Vitruvius Pollio: De Architectura, Buch IX, Einleitung, Vers 10.

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einem besonders lustvollen Gefühl der Befriedigung und dem völligen Aufgehen im Tun. Er wird subjektiv erlebt als überwältigende Erregung, intensives Glück und sich selbst übersteigende Freiheit. Eine erotische Komponente der Lust ist nicht auszuschließen. In einem Zustand extremer Wachheit, geschärfter Sinne und geistiger Transzendenz fließen Fühlen, Wollen, Denken und Handeln ineinander. Die kognitive Herausforderung und die emotionale Beteiligung stehen in einem harmonischen Gleichgewicht. Wie einer inneren Logik folgend vollzieht sich das Erleben oder die Handlung in müheloser Leichtigkeit. Das automatisierte Bewusstsein vermittelt dem Protagonisten einen lustvollen Schauder, eine Erlebnistiefe der Leere und Fülle zugleich, ein Machtgefühl sublimer Erhabenheit, in begehrender Hingabe und lustvollem Empfangen. Es ist ein glücklicher Ausnahmezustand des Gleichgewichts von Emotio und Ratio, Eros und Agape, Subjekt und Welt. Gleich einer ozeanischen Selbstentgrenzung verschmilzt das Ich mit der Welt. 38 Im gegenwärtigen Augenblick sind Raum und Zeit aufgehoben bzw. entgrenzt. Das macht die autotelische39 Einheitserfahrung des Flow zu einem Zustand der Selbstverwirklichung und Vollkommenheit. Der Flow-Zugang und die Art bzw. Intensität des Flow-Erlebens sind individuell sehr unterschiedlich. Jede sinnliche, praktische wie geistige Aktivität kann zum Flow führen: Essen, Spiel und Sport, Wissenschaft und Kunst, Musik und Tanz, Sex und Meditation. Die Auseinandersetzung mit den Spiegelneuronen hat gezeigt: ein Glücksgefühl kann sogar allein in der Aussicht auf das Erlebnis entstehen. Der imaginierte Genuss bewirkt schon den ersehnten Zustand.40 Csikszentmihalyi unterscheidet microflow und macroflow. Microflow entsteht z.B. im sich wiederholenden Rhythmus einer einfachen Handlung (1). Macroflow entsteht in komplexeren Handlungen, welche die gesamten geistigen, seelischen oder körperlichen Fähigkeiten einer Person beanspruchen (4). Im Spannungsfeld zwischen Überforderung (Angst) und Unterforderung (Langeweile) absorbiert der Wechselstrom aus konvergentem und divergentem Denken den Protagonisten in hochkonzentrierter Versenkung.41 Diese Konzentration darf nicht gestört werden. Wenn die Herausforderung etwas über der Leistbarkeit liegt, provoziert ihre Bewältigung einen besonders starken Flow (4). Es braucht Mut, sich einem Erleben ganz zu öffnen. Konzentra-

38 »Was gewöhnlich im »flow« verloren geht, ist nicht die Bewusstheit des eigenen Körpers oder der Körperfunktionen, sondern lediglich das Selbstkonstrukt, die vermittelnde Größe, welche wir zwischen Stimulus und Reaktion einzuschieben lernen.« Csikszentmihalyi 1985, S. 67. 39 Griech.: auto – selbst, telos – Ziel, autotelisch: selbstgerichtet. 40 Vgl. Bayer, Johanna: Schokolade macht glücklich! 25.11.2008 in: http://www.wdr.de/ tv/quarks/sendungsbeitraege/2008/1209/005_ernaehrung_2.jsp (29.01.2013). 41 Thalmann-Hereth 2001, S. 311/312

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tionsfähigkeit, Sensibilität der Sinne und des Geistes sind trainierbar, Rituale können helfen.42 Hemmend wirken hingegen Ablenkungen, Lustlosigkeit, extreme Schüchternheit, Tabus und starke Ängste. Die Suche nach Erkenntnis kann zum Hindernis des eigenen Ziels werden. Der Flow lässt sich weder vorhersagen noch erzwingen. Wenn der Anspruch die Fähigkeiten übersteigt, bricht der Flow ab und die Leichtigkeit geht verloren. Dies kann Überanstrengung, Ängste oder Frustration erzeugen (3). Liegen die Fähigkeiten jedoch über den Ansprüchen, kippt der Flow in Langeweile (2). Abbildung 8: Der Flow nach Mihály Csikszentmihályi

Quelle: Johanna G. Eder

2.3.3 Flow als ekstatischer Rauschzustand Die Flow-Erfahrung ist höchst subjektiv und sprachlich nur oberflächlich vermittelbar. Der Flow ist ein mitunter ekstatischer Rauschzustand. Der Begriff Rausch umfasst Zustände veränderter Wahrnehmung, veränderter Affekte und kognitiver Fähigkeiten mit Auswirkungen auf Bewusstsein und Verhalten. Ein Rauschzustand umgreift Körper, Gefühl, Geist und Fantasie. Ein endogener Rausch wird vom Kör42 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 189.

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per selbst produziert, ein exogener Rausch ist ein Effekt pharmakologischer Substanzen.43 Ein Rausch muss noch nicht ekstatisch sein. Doch eine Ekstase ist ein Rauschzustand. Sie ist eine Sammelbezeichnung für rauschhafte psychische Erlebnisse der Ich-Auflösung, die man auch als transzendent bezeichnen könnte. Während der Ekstase wird das Bewusstsein als erweitert erlebt. Andersartige Wahrnehmungsmöglichkeiten und Visionen scheinen völlig real und bedeutender, als die Alltagsrealität. Ekstatische Erlebnisse werden sowohl durch Reizarmut 44 als auch durch Steigerung sensorischer Reize45 begünstigt. Auch Ohnmachtszustände und Nahtoderlebnisse können ekstatische Erfahrungen hervorrufen. Eine Ekstase kann Momente tiefster Verzweiflung als auch überschäumender Lebensfreude umfassen, den mitunter erotischen Genuss intensiven Glücks bis hin zum Erleben eigener Göttlichkeit. Sie kann völlig überraschend eintreten oder einen Höhepunkt planvoll herbeiführen. Fernöstliche Traditionen streben die Ich-Auflösung im Erleben des absoluten Nichts an. Ein Blick auf zwei endogene, ekstatische Rauschzustände ähnlich dem Flow mag das Verständnis vertiefen: die Trance und der Orgasmus. Trance ist ein schlafoder traumähnlicher, höchst konzentrierter Bewusstseinszustand, der ausgelöst werden kann durch eine stark geschärfte Wahrnehmung oder mehrfache Wiederholung eines Reizmusters.46 Bei hoher Konzentration wird die Außenwelt praktisch völlig ausgeblendet. Auch die Trance kann Visionen hervorrufen sowie zu geistigen und körperlichen Höchstleistungen führen. Religiöse Praktiken nutzen die Trance als Mittel der spirituellen Erkenntnis. Sie kann auch durch psychische Extremzustände wie Angst, Schock, physische oder psychische Schmerzen ausgelöst werden. Der überwältigend ekstatische Rauschzustand des Orgasmus47 bezeichnet den Gipfel sexueller Lust und Erregung, kurz vor der Entladung der sexuellen Spannung. Für den orgasmischen Höhepunkt steht oft die Metapher von Katharsis, Tod und Auferstehung. Er kann auf vielen Wegen erreicht werden. Besonders komplex ist die selbstentgrenzende Transzendierung im orgasmischen Liebesspiel 48 zweier

43 Vgl. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information: ICD-10-GM Version 2010; vgl. Berger 2009. 44 Askese, Isolation, Krankheit, Fasten, Gebet und Meditation. 45 Musik, wiederholender Tanz, Trommeln, Gesänge, Hyperventilation, Sexualtechniken. 46 Z.B. durch Sport, Musik, Sex. 47 Altgriech. heftige Erregung, heftiges Verlangen. Die Befriedigung der Lust erzeugt ein Gefühl des Genusses. Sie trägt bei zur Stärkung des Selbstwertgefühls, zur Steigerung der Lebensqualität, der Erweiterung der Frustrationstoleranz und der Anerkennung von Meinungen und Gefühlen. Mitunter treten plötzliche Visionen aus dem Unbewussten an die Oberfläche, was die Orgasmus-Erfahrung in die Nähe der spirituellen Mystik rückt. 48 Spiel als Tätigkeit zum Selbstzweck aus purem Genuss.

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Partner. Überschwängliche Verführung und ungezähmte Leidenschaft helfen, die Selbstkontrolle zu überwinden und die jeweilige Fantasie und Erlebnistiefe zu entfesseln. Ein Orgasmus kann auch in geistigen oder körperlichen Extremsituationen49 auftreten. Die Leidenschaft dieser Erfahrungen birgt kreatives Potenzial. Das erotisch orgasmische Liebesspiel ist sogar biologisch kreativ, da aus diesem Ausdruck der Liebe menschliches Leben erwachsen kann.50 Johann Wolfgang von Goethe (17491832) findet in seinem Gedicht Selige Sehnsucht (um 1815) metaphorische Worte für eine vergleichbare Erfahrung: Sag es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet: Das Lebendge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. In der Liebesnächte Kühlung, Die dich zeugte, wo du zeugtest, Überfällt dich fremde Fühlung, Wenn die stille Kerze leuchtet. Nicht mehr bleibest du umfangen In der Finsternis Beschattung, Und dich reißet neu Verlangen Auf zu höherer Begattung. Keine Ferne macht dich schwierig, Kommst geflogen und gebannt, Und zuletzt, des Lichts begierig, Bist du Schmetterling verbrannt. Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde.

49 Gezielte Sportübungen, exzessives Beten, Hungern, Tanz, Musikerleben, körperlicher Schmerz, eine massive Angst- oder Bedrohungssituation oder Amok Gewalterlebnisse. 50 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 195.

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Die beschriebenen ekstatischen Zustände umfassen das ganze Wesen des Menschen und überschreiten das Alltagsbewusstsein hin zum Vor-Sprachlichen. In einer euphorisch oder angstvoll erlebten Ich-Auflösung fallen Geist und Materie ineinander. Mitunter treten plötzliche Visionen aus dem Unbewussten an die Oberfläche und ermöglichen Einsichten in eine transzendente Wirklichkeit. Die oft wunderbar anmutende Klarheit über eine Frage oder ein Problem rückt diese Erfahrung in die Nähe der spirituellen Mystik. Ihr Zustandekommen und die Interpretation sind jedoch abhängig vom jeweiligen weltanschaulichen oder religiösen Hintergrund des Protagonisten.51 Neurophysiologisch geschieht diese Illumination immer nach dem gleichen Grundprinzip. Realpsychologisch macht es jedoch einen enormen Unterschied, ob man den Flow beim Schachspiel, beim Musizieren oder im orgasmischen Liebesspiel mit dem Partner erfährt. Hinter der Lust stehen physische und psychische Bedürfnisse. Die Befriedigung der Lust erzeugt ein Gefühl des Genusses. Dieser trägt bei zur Stärkung des Selbstwertgefühls, zur Steigerung der Lebensqualität, der Erweiterung der Frustrationstoleranz und der Anerkennung von Meinungen und Gefühlen. Friedrich Schiller sieht im Zustand der Einheit von Ratio und Emotio – wie sie im Flow gegeben ist – die Möglichkeit zu wahrem Genuss, dem jedoch auch die Beherrschung der Lust 52 zugrunde liege. Das Genussprinzip liegt der hedonistischen Philosophie des Aristipp zugrunde. »Der Hedonismus sieht im Genuss das Ziel allen menschlichen Handelns. Glück und Tugend des Menschen sind in der Sinnesfreude vereint.«53 »Happiness is a warm gun«54. Diese Songzeile der Beatles synthetisiert das lustvolle Glück des Flow auf ihre Weise: ein metaphorischer Schuss löst sich und hinterlässt eine warme Welle des Glücks. Man hat Glück oder ist glücklich. Dieser Begriff bewertet sowohl positive Lebensereignisse, als auch die damit verbundenen Emotionen. Glück ist jedoch stets ein unsicherer Zustand. Die griechische doppelgesichtige Glücksgöttin Tyche wird daher verehrt und gefürchtet zugleich. Die römische Glücksgöttin Fortuna verteilt wahllos Reichtum und Unglück. Sie verkörpert den subjektiven Zufall des Schicksals.55 Unsicherheit, Misserfolg und Schmerz sind die Kehrseite der Medaille des Glücks, jedoch gleichzeitig die motivationale Wurzel der erneuten Glückssuche und Weiterentwicklung. Glück als stets verfügbares Konsumgut befriedigt nur ober-

51 Vgl. Schmidt 2006. 52 Im Sinne des Erlernens von Genuss und dessen maßvollen Gestaltens. 53 Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 189. 54 Songtitel von den Beatles aus dem Album The Beatles, erschienen 1968 bei Apple. 55 Die Rolle des Zufalls im Bezug auf das Glück steht im scheinbaren Widerspruch zum Sinnspruch des Appius Claudius Caecus (4./3. Jahrhundert v. Chr) »Jeder ist seines Glückes Schmied«. Daraus lässt sich ableiten, dass der Zufall gestaltbar ist.

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flächlich. Es vermittelt nicht die ersehnte, ehrliche und tiefe Lusterfüllung. Dazu bedarf es nach Rainer Holm-Hadulla (2011) der mühevollen Anstrengung und Ungewissheit, Leidenschaft und Leidensfähigkeit, Achtsamkeit und Vertrauen, Gelassenheit und Dankbarkeit.56 2.3.4 Neurobiologie des Flow Der endogene Rauschzustand des Flow äußert sich nicht nur psychisch, sondern auch neuronal. Das Limbische System steht im idealen Gleichgewicht mit dem Neokortex, dem Sitz für Bewusstsein und Verstand. Herzschlag, Atmung und Blutdruck sind optimal synchronisiert. Während die neuen Neuronenverbindungen die neuronale Kohärenz wieder herstellen, unterstützt das Gehirn diesen Entwicklungsprozess, indem es den Erfolg im Belohnungszentrum des Nucleus accumbens durch eine Ausschüttung von Endorphinen57, unterschiedlichen Neurotransmittern sowie verschiedenen Hormonen signalisiert, die allesamt im Limbischen System einen euphorisch rauschhaften Glückszustand bewirken. Als Folge werden Informationen schneller verarbeitet und ausgeführt. Außerdem bleibt das Flow-Erlebnis positiv in Erinnerung. Der hedonistische Lustgewinn des Schaffensrausches gleicht einer Belohnung der Natur für ein evolutionär sinnvolles Verhalten. Der Flow provoziert gleichsam eine positive Sucht, um den Menschen anzuhalten, stets aufs Neue nach dieser Erfahrung zu streben, ohne die es keine biologische Fortpflanzung und Weiterentwicklung gäbe.58 Wie läuft der Flow auf der Mikroebene des Gehirns ab? Nach einer starken Aktivität des frontalen Kortex im konvergenten Denken nimmt die Hypofrontalität 59 des frontalen Kortex im divergenten Denken und im Zustand des Flow stark ab.60 Eine Inaktivität des frontalen Kortex bewirkt einen potentiellen Verlust der IchGrenzen, die Aufhebung von Raum- und Zeitgefühl und die Versenkung in einen Automatismus bzw. in ein großes Ganzes. Dies führt zu Gefühlen der Verschmelzung, der Freiheit und Liebe bis hin zur Ekstase. Für eine Bewertung der gefunde-

56 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 192-195. 57 Endogene Morphine, vom Körper selbst produzierte Opioide, gleichsam Drogen, welche die Schmerzempfindlichkeit herabsetzen und zur Trance führen. Diese Neurotransmitter setzen besonders viel Dopamin, Noradrenalin und Serotonin frei. 58 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 192/193. 59 Im Zustand der Hypofrontalität ist vor allem der frontale Kortex neuronal stark aktiv. Er ist verantwortlich für die Integration höherer kognitiver Funktionen wie das Bewusstsein der eigenen Person und der Zeit, die fokussierte Aufmerksamkeit und geplantes Handeln. 60 Eine Studie von Limb und Braun (2008) weist eine beidseitige Deaktivierung des frontalen Kortex bei Jazzmusikern während der spontanen Improvisation nach.

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nen Idee und deren Umsetzung ist eine erneute frontalkortikale Aktivität notwendig.61 Eine besondere Bedeutung übernimmt das Hormon Oxytocin62, das wie Dopamin zu jenen Neurotransmittern gehört, die Angst und Stress reduzieren und den Menschen auf gelingende Beziehungen hin polen. Eine interdisziplinäre Studie der Universität Zürich ermittelte es als das Hormon menschlichen (prosozialen) Vertrauens und Glücks, gleichsam das chemische Bindemittel für zwischenmenschliche Beziehungen. Es hat eine Schlüsselposition in der Paarbildung, im Sexualverhalten, der elterlichen Fürsorge und der sozialen Bindungsfähigkeit. Es ist vor allem bekannt durch seine wichtige Funktion beim Geburtsprozess, sowohl bei der Mutter als auch beim Vater.63 Oxytocin bewirkt eine überbetonte Wahrnehmung positiver Emotionen. Die körpereigene Produktion des stressreduzierenden und bindungsstärkenden Oxytocins wird angeregt durch zärtliche körperliche Berührungen wie Umarmungen und das Streicheln der Haut. Doch auch der Genuss von Essen, Gerüchen und Musik, gemeinsames Singen und Lachen, der Anblick liebgewonnener Menschen, jegliche Form liebevoller zwischenmenschlicher Resonanz und Verbundenheit sowie deren bloße Imagination stimulieren den Oxytocin-Spiegel.64 In besonders hohen Dosen wird Oxytocin während des (orgasmischen) Flows ausgeschüttet. Nach dem Orgasmus bewirkt es eine Phase der Entspannung und Müdigkeit.65 2.3.5 Exogener Rausch und Sucht Der neuronale Rauschzustand des Flow kann durch Rauschmittel auch künstlich induziert werden. Man kann einen Rauschzustand aus einer hedonistischen Lust bzw.

61 Vgl. Dresler/Baudson 2008, S. 156/157. 62 Griech.: schnelle Geburt. 63 Es bewirkt eine Kontraktion der Gebärmuttermuskulatur und leitet damit die Geburtswehen ein. Auch bei Vätern führt die Geburt eines Kindes zu einem Anstieg der OxytocinProduktion. Beim Stillen an der Brust verursacht es den Milcheinschuss und hat eine beruhigende Wirkung. Es begünstigt den Aufbau einer intensiven emotionalen Bindung der Mutter zum Kind. Vgl. Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Hamburg: Hoffmann und Campe 2006, S. 49. 64 Vgl. Bauer 2006, S. 50. 65 »Auf jeden Fall ist es […] am Gefühl der engen persönlichen Verbundenheit nach einer befriedigenden sexuellen Begegnung beteiligt, so ähnlich wie es die Bindung zwischen der stillenden Mutter und ihrem Säugling verstärkt.« Walter, Henrik: Liebe und Lust. Ein intimes Verhältnis und seine neurobiologischen Grundlagen. a. a. O., S. 374; vgl. Kosfeld 2005, doi:10.1038, nature03701, S. 673-676; vgl. Müller 2009, S. 151.

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aus Neugier an der Selbsterfahrung herbeiführen wollen. Im Tabubruch und der bewussten Verletzung bürgerlicher Normen kann Rauschmittelkonsum zur Identitätsbildung beitragen. Er kann jedoch auch eine kompensatorische Reaktion sein auf übermäßige Empfindsamkeit und eine überbordende Kreativität oder eine Flucht vor Überforderung bzw. Langeweile. Enthemmende Rauschmittel können Ängste, Spannungen und Stress dämpfen, das frei-assoziative, fantasievolle Denken stimulieren und blockierende Schleusen des Unterbewusstseins öffnen. Drogenkonsum scheint den Flow verfügbar zu machen. Da viele Substanzen jedoch die notwendige Konzentration der konvergenten Denkanteile des Flow verhindern, kann es nicht zu derselben tiefen, komplexen Befriedigung eines endogenen Rausches kommen und bleibt beim oberflächlichen Konsum.66 Bei dieser exogenen Form des Rausches besteht zudem eine ernstzunehmende psychische wie physiologische Suchtgefahr. Die bloße Ausschüttung von Dopamin und Oxytocin ist dabei nicht verantwortlich für die Suchtentwicklung. Anders als im endogenen Rausch werden jedoch die übergeordneten, sich gegenseitig steuernden Noradrenalin- und Serotonin-Systeme durch wiederholten Drogenkonsum entkoppelt und autonom. Eine Impulskontrolle findet nicht mehr statt und es kommt zur pharmakologischen Abhängigkeit. 67 Wie stark diese Systeme zur Entkoppelung neigen, hängt von der Vorgeschichte des Einzelnen ab. Auch das Alter des ersten Drogenkontakts ist entscheidend für die Entwicklung einer Sucht. Wenn der Drogenkontakt bereits zwischen 10-12 Jahren stattfand, also zu Beginn der pubertären Liminalität, kann dies gravierende hirnphysiologische Folgen haben, unabhängig von der Art der Droge68. Eine vermeintliche emotionale und kognitive Leistungssteigerung lässt sich durch nootropische Medikamente69 künstlich herbeiführen. Man muss allerdings nach der Wirkung des Mittels als Nebenwirkung einen Leistungsverlust in Kauf nehmen. Auch hier besteht eine psychische Abhängigkeitsgefahr. Gegenüber der natürlichen Leistung des Gehirns, seiner Selbststeuerungsfähigkeit und seinem Glückserleben fallen exogene Substanzen ab. Der Zustand des REST, körperliche Anregung wie Schwimmen, Laufen oder Spazierengehen, geistige Anregung durch Musik, Lesen oder andere kulturelle Aktivitäten sind dem exogenen Hirndoping überlegen, weil sie keine Nebenwirkungen haben.70

66 Vgl. Baudson, Tanja Gabriele: Rausch und Kreativität, in: Dresler/Baudson 2008, S. 85/ 86. 67 Z.B. bei Alkohol, Amphetaminen, Kokain. 68 Bei natürlichen wie auch synthetischen Rauschmitteln. 69 Sie verbessern Konzentration, Erinnerungsvermögen und Befindlichkeit. 70 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 192.

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Die Vollkommenheit des Flow ist häufig nur von kurzer Dauer. Die Gefühlsintensität erfüllender Befriedigung verpufft und wird von neuen, herausfordernden Problembewältigungsprozessen abgelöst. Rasch stellt sich wieder Inkohärenz ein mit der entsprechenden Unlust bzw. Sehnsucht nach der Befriedigung neuer Kohärenzzustände. Die Lust nach dem Flow – die elementare Lebenskraft und der Antrieb aller Entwicklung – kann zur Sehn-Sucht werden, zur süchtig machenden rastlosen Jagd nach intensiver Erregung. Vor allem wenn die psychischen Kräfte nicht ausreichend Widerstandskraft und Frustrationstoleranz aufbringen. Besonders die emotionale Instabilität von Melancholie und Depression erhöhen die Anfälligkeit. 71 Jede Handlung, die einen Flow provoziert, kann zu einer nicht-substanzgebundenen Sucht führen. Süchte wirken sich direkt und indirekt negativ auf die Kreativität aus. Die Übermacht der Lust zersetzt den Verstand. Die Konsequenzen sind oft destruktiv auf physiologischer, psychischer, emotionaler und sozialer Ebene und verstärken sich mit der Dauer der Sucht.72 Neben dem Suchtpotenzial hat der Flow auch eine weitere gefährliche Seite. Abgekoppelt von ethisch-moralischen Korrektiven kann seine Sogwirkung missbraucht werden – z.B. in der Wirtschaft, im Krieg, in ideologischen Systemen. Resümee Es ist mühsam, die Spannung der Präparation und Inkubation auszuhalten. Sie lässt im Flow der Inspiration jedoch eine tiefere Befriedigung erleben. Die FlowErfahrung weist erotische Komponenten auf. Sie ist gleichsam die kreative Kraft des Menschen, kann eine positive Lebenseinstellung und Liebesfähigkeit stärken. Dies macht den Flow zu einer sinn- und identitätstiftenden Selbsterfahrung. Die multidimensionale Rauscherfahrung und Begeisterung des Flow kann sich über die Spiegelneuronen auch auf Mitmenschen übertragen. Die transzendente Dimension als solche ist virtuell und noch nicht kommunikativ. 73 Um Erkenntnisse aus dieser Erfahrung mitzuteilen, muss man sich wieder vom Rauschzustand verabschieden und den kreativen Prozess fortsetzen. Der Flow bleibt als kraftspendende Erinnerung. Die Ausschüttung von Oxytocin bewirkt (Selbst-)Vertrauen und leitet in der Inspiration die Geburt der Creatio ein.

71 Sontag 1983, S. 126 ff. 72 Vgl. Baudson in: Dresler/Baudson 2008, S. 85. 73 Vgl. Gadamer 1977, S. 67.

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2.4 I NKARNATION »Von nichts kommt nichts.« VOLKSWEISHEIT

Nach dem Abschluss der heuristischen Regression setzt sich die Ästhetische Erfahrung der Inspiration in der Gestaltungsphase der Inkarnation fort und materialisiert sich im schöpferischen Akt der Creatio. Die neu vernetzten Wissensbestände externalisieren und bannen sich in einer konkreten Transformation von Lebenswelt bzw. in einem ephemeren oder materiellen Kunstwerk. Durch ihre bannende Materialisierung wird die zunächst virtuelle kreative Idee kommunizierbar. Ihre Umsetzung besteht aus vielen kleinen, kreativen Prozessen. Zwar unterstützt die Schubkraft des Flow die intrinsiche Motivation, dennoch ist mit der beglückenden Inspiration noch gar nichts gewonnen. Die Produktion ist gleichsam eine Reproduktion der schöpferischen Idee. Die Materie widersetzt sich mitunter der direkten Umsetzung der Idee. Es müssen Einschränkungen und Anpassungen vorgenommen werden. Durch Widerstände kann auch etwas Unvorhersehbares, etwas Neues, entstehen. Einsichten müssen immer wieder kritisch im Abgleich mit der Ausgangsproblematik analysiert sowie auf ihre Umsetzbarkeit geprüft werden. Erneut sind Widerstandsfähigkeit, Neugier und Leidenschaft gefragt, um den meist langsamen Produktionsfortschritt, Trägheit und enttäuschende Rückschläge zu ertragen. Es ist wichtig, sich diesen Gefährdungen des kreativen Prozesses und besonders emotionalen Turbulenzen gegenüber in gesunder Distanz zu verhalten, mit Disziplin, Geduld und Durchhaltevermögen. Diese Persönlichkeitseigenschaften sind von Kindheit an erlernbar. Geeignete Rituale halten das Gleichgewicht zwischen disziplinierter Arbeit und unstrukturierten Freiräumen. Doch auch eine fördernde und fordernde Begleitung und die belohnende Anerkennung durch Bezugspersonen bleiben bis ins Erwachsenenalter bedeutsam. Es ist dem Protagonisten überlassen, das für sich rechte Maß zu finden.74 »Genie bedeutet 1 % Inspiration und 99% Transpiration.«75 So fasst der Erfinder Thomas Edison (1847-1931) den Prozess der Inkarnation zusammen. Im kreativen Produkt materialisiert sich Erkenntnis und wird somit reflektierbar. Es ist gleichsam die materielle Spur des kreativen Aktes inklusive seiner transzendenten Dimensionen. Somit ist das kreative Produkt ein Spiegel des Produzenten. 76

74 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 84, S. 189. 75 In: Funke, Joachim: Zur Psychologie der Kreativität, in: Dresler/Baudson 2008, S. 32. 76 Analog zum Narziss-Mythos ist der kreative Prozess ein Spiegelungsprozess – jedoch nicht im egoistischen Sinn. Er widerspiegelt auf produktive Weise das Selbst als Geflecht jeglicher Beziehungen, in denen es steht.

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2.5 V ERIFIKATION In der letzten Phase der Verifikation prüft und bestätigt der Protagonist die realisierte Lösungsstrategie und ihre Bedeutung mithilfe von Normen und Werten, Menschen- und Weltbild und konfrontiert sie mit der kritischen Meinung anderer 77. Auch eine kritische Reflexion des eigenen Flow von einer distanzierten Metaebene aus ist überaus wichtig.78 Denn die distanzlose, unkritische Immersion des Flow ist anfällig für ideologische Manipulierbarkeit. Eine kritische Infragestellung bildet den entscheidenden Abschluss des kreativen Prozesses. Diese letzte Phase ist jedoch abermals gefährdet durch selbstkritische Zweifel und Hemmungen, sich und sein Produkt zu offenbaren, aus Angst vor Enttäuschung, Kränkung, Neid und Ausgrenzung. Bestätigender Erfolg stärkt Mut und Selbstvertrauen und ist Ansporn, sich der nächsten Inkubations- und Illuminationsphase zu überlassen. Misserfolg kann ein positives Lernen aus Fehlern anregen oder lähmen. Das Ignorieren individueller Unterschiede von Begabung, Wissen, Motivation und Persönlichkeitseigenschaften führt zur Vernachlässigung und Blockierung sowohl unterdurchschnittlich als auch überdurchschnittlich leistungsfähiger Menschen. Der Umgang mit solchen narzisstischen Konflikten ist eine Frage der Persönlichkeit und Lebenssituation. 79 2.5.1 Kreatives Produkt Schöpfung ist sowohl ein Prozess als auch sein Produkt. Eine kreative Schöpfung ist nicht einfach die Neuordnung vorhandenen Materials. Nicht alles was neu ist, wird auch automatisch als kreativ bewertet. Kreativ ist etwas erst dann, wenn es eine sinngebende Narration erzeugt, die es vorher nicht gab, wenn das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Bewertung des kreativen Produkts ist abhängig vom sozialen Konsens und muss sich bewähren. Hinzu kommt die Offenheit, weitere Anwendungen zu initiieren. Werden Tabus extrem verletzt, sinkt die Akzeptanz, die Bekanntheit steigt. Dies kann wiederum zur Gewöhnung beitragen und Produkte etablieren. Cropley und Cropley (2008) definieren vier grundlegende Bewertungskriterien für kreative Produkte: Nützlichkeit, Neuartigkeit, Eleganz, Genesis.80 Peez und Kirchner bewerten kreative Produkte und Persönlichkeiten anhand von

77 Freunde, Mentoren, Öffentlichkeit. 78 Metareflexion: Nachdenken über das Nachdenken bzw. den eigenen Arbeitsprozess. 79 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 84/85, S. 190. 80 Vgl. Baudson 2008, S. 86; vgl. Funke 2008, S. 34.

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sieben zentralen Kriterien: Fluktualität, Flexibilität, Originalität, Sensitivität, Komplexitätspräferenz, Elaboration, Ambiguitätstoleranz.81 2.5.2 Kreativitätstest Bislang konnten die Prozesse hinter alltäglicher und außergewöhnlicher Kreativität noch nicht differenziert werden. Sie sind individuell einzigartig und aufgrund der komplexen Netzstruktur82 nur bedingt an allgemeinen Maßstäben zu messen. Mit gewöhnlichen statistischen Modellen sind sie nicht zu erfassen, da kreative Prozesse nicht kontinuierlich verlaufen. Die Zuschreibung außergewöhnlicher Kreativität erfolgt meist erst rückblickend mit der Bewertung des Produkts. Ein valider Weg ist die biografische Forschung und Untersuchung einzelner kreativer Persönlichkeitskomponenten, der Verlauf des kreativen Prozesses und die Bewertung des kreativen Produktes.83 Kreativitätstests gehen zurück auf Jay Guilford. Die meisten Kreativitätstests 84 verwenden entweder Einsichtaufgaben, testen divergentes Denkvermögen oder produktive Originalität. Wichtig ist die Ergebnisoffenheit, Objektivität, Reliabilität 85 und Validität86.87 Resümee: Kreativer Prozess als kathartisches Spiel Beim kreativen Prozess geht es weniger um die Ausrichtung des Handelns an definierten Zielen, effektiven und effizienten Handlungsstrategien, sondern es geht um die Reduktion von Komplexität durch Mustererkennung und das Verstehen von Zu-

81 Vgl. Wagner 2003, S. 59 zitiert in: Kirchner, Constanze/Peez, Georg: Kreativität in der Schule, in: Kunst und Unterricht, Heft 331/332 2009, S. 17. 82 Begabung, Wissen, intrinsische Motivation, spielerische Neugier, Persönlichkeit, Umgebungsbedingungen. 83 Dies entspricht dem Analyseverfahren der folgenden Fallbeispiele. 84 Minnesota Tests of Creative Thinking von E. Paul Torrance (1974); Harrison Goughs (1962) Fragebogenverfahren zur Messung von intellektueller Kompetenz, kognitiver Flexibilität, ästhetischer Sensitivität und Selbstwertgefühl; Kreativitätstest für Vorschul- und Schulkinder (KVS-P) von Krampen, Freilinger und Willems (1996), der divergente Handlungs- und Imaginationsfähigkeiten bei Kindern erfasst. Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 13. 85 Messgenauigkeit. 86 Der Test misst nur das was er zu messen vorgibt. 87 Vgl. Dresler/Baudson 2008, S. 150.

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sammenhängen. Die Intuition spielt dabei eine zentrale Rolle.88 Der kreative Prozess steht gleichsam analog zur biologischen Evolution durch Mutation 89, die sich bewähren muss, um sich durchzusetzen. Kreativität als die transformatorische und damit evolutionäre Kraft des Menschen ist das kulturelle Pendant zu den biologischen Wachstums- und Entwicklungskräften90. Sie vereint in sich aktives Gestalten und Geschehenlassen – creare und crescere. Sie ist der Auslöser für neue Ordnungsperspektiven auf das Sein, für die individuelle und gesellschaftliche Kulturentwicklung. Sie findet ihren Anfang im Lustprinzip, in der intrinsischen Motivation und im Genuss der Ästhetischen Erfahrung. Ebenso steht der kreative Prozess analog zum Geschlechtsakt und der menschlichen Fortpflanzung. Er vereinigt in sich die biologischen Prinzipien des Männlichen und Weiblichen: potentes Eindringen, Empfangen, potenzierende Vereinigung und Gebären. Es ist ein auf Beziehung angelegter co-kreativer Prozess. Die empathische Liebe ist dabei die Basis wie auch die Folge der gegenseitigen Erkenntnis, des gemeinschaftlichen Flow und der anschließenden Creatio. Darüber hinaus führt sie den Menschen in einen zyklischen, anstrengenden, lebenslangen Entwicklungsprozess hinein. Der kreative Prozess ist eine krisenhafte Transitzone des Menschen und steht paradigmatisch für Krisenbewältigung. Analog zum Ursprung des kreativen Denkens und Tuns in der leidenschaftlichen Liebe steht eine Aussage Peter Sloterdijks über den Ursprung des philosophischen Denkens: »Aus den Überschüssen der ersten Liebe, die sich von ihrem Ursprung losmacht, um anderswo in freien Neuanfängen weiterzugehen, speist sich auch das philosophische Denken, von dem man vor allem wissen muss, dass es ein Fall von Übertragungsliebe zum Ganzen ist. Übertragung ist die Formquelle schöpferischer Vorgänge; Die Grenzen meines Übertragungsvermögens sind die Grenzen meiner Welt.«91 Man kann nicht aus Nichts heraus Etwas schaffen. Es gibt keinen Ursprung im Sinn eines radikalen Anfangs, sondern nur ein Kontinuum, das im Netzwerk der interdependenten Beziehungen herumreist – Wechselbeziehungen der Liebe zum Selbst, zu anderen Menschen, zur Welt und zum Leben. Kreativität ist ein interrela-

88 Vgl. Kruse, Peter, Zukunft der Führung: Kompetent, kollektiv oder katastrophal? Vortragscharts

in:

http://www.forum-gute-fuehrung.de/sites/default/files/Bilder-menu/Zu

kunft-Personal-Kruse-2013.pdf (22.09.2014). 89 Der zufälligen bzw. notwendigen Neukombination des Genmaterials aus nahezu unendlichen Kombinationsmöglichkeiten. 90 Biologische Evolution verfolgt das Ziel eines stabilen Gleichgewichts. Neue Strukturen bauen sich auf, indem sich zufällige Mutationen aus Notwendigkeit durchsetzen und der Umwelt anpassen. Wachstum geschieht unter dem Energieeinfluss von Wasser, Nahrung, Licht und Wärme. 91 Sloterdijk 1998, S. 14.

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tionaler Prozess, der Beziehungen abbildet, sie gestaltet und in sich selbst Beziehungsarbeit ist – so wie Beziehungsarbeit ein kreativer Prozess ist – auch hinsichtlich der Selbstbildung. Abbildung 9: Kathartische Spannungskurve des kreativen Prozesses

Quelle: Johanna G. Eder

Wie bereits angedeutet ist der kreative Prozess ein kathartisches Spiel. Seine fünf Stufen verlaufen analog zur Spannungskurve des griechischen Dramas. Am Anfang steht eine Krise. Die Präparation stellt sich geduldig in Beziehung zur Innen- und Außenwelt des Selbst, seinem Wissen und Können. Die Inkubation spielt mit diesen Beziehungen in Form von kindlich freiem Fantasieren. In der Inspiration, dem Höhepunkt menschlicher Erlebnisdichte, findet die Bipolarität des Menschen von Ratio und Emotio ins Gleichgewicht. In der fünften Dimension, der Fantasie, verbinden sich Arbeit, Spiel und Zufall. Das Chaos erscheint plötzlich geordnet. Die Fantasie ist der Kreuzungspunkt all der Beziehungen, in denen der Mensch steht. In der Inkarnation der Creatio entäußert bzw. überträgt sich diese Dimension auf die Gestaltung von Beziehungen und Lebenswelt, wird jedoch gleichzeitig durch abwei-

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chende Ideen bedroht. Die Creatio erhält jedoch erst Sinn in der Verifikation, in ihrer Beziehung zu Anderen. Ein kreativer Prozess kann nur wenige Sekunden oder viele Jahre dauern. Die Phasen des kreativen Prozesses folgen nicht linear aufeinander, sondern durchdringen sich gegenseitig, gleich einer Spirale, in einem Rückkoppelungskreis von Anspannung und Entspannung, Nehmen und Geben, Risiko und Lebensfreude, Versagung und lustvoller Erfüllung, Zerstörung und Neuschöpfung, Vergehen und Werden. Abbildung 10: Zirkuläres Kreativitätsmodell

Quelle: Johanna G. Eder

Und schließlich ist ein kreativer Prozess wie eine Reise: mit Transitphasen, Horizonterweiterung, Neuerschließung, Landnahme und territorialer Entgrenzung. In diesem Prozess der Sinnbildung bildet der Mensch sich selbst, gestaltet in Liebe und Verantwortung seine vielfältigen Beziehungen. Darauf trifft das demokratisierte Künstlerverständnis des 20. Jahrhunderts: Jeder Mensch ein Künstler. Trotz der relativierenden Materialität der Neurobiologie, die hinter dem kreativen Prozess steht, bleibt er im subjektiven Erleben magisch. Hermann Hesse (1877-1962) mag in seinem Gedicht Stufen Bilder für diesen dynamischen Prozess des Menschseins gefunden haben.92

92 Er schrieb das Gedicht am 4. Mai 1941 nach langer Krankheit. Ursprünglich trug es den Titel Transzendieren. Es beschreibt das Leben als fortwährenden Prozess, bei dem auf jeden durchschrittenen Lebensabschnitt ein neuer folgt. Vgl. Zeller 2005, S. 159.

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Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern In andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, An keinem wie an einer Heimat hängen, Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen. Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde Uns neuen Räumen jung entgegen senden, Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden... Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

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3 Menschenbild des HOMO CREANS

»Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!« J. W. V. GOETHE/FAUST, VERS 1112

Aus dem kreativen Prozess lassen sich verschiedene schöpferische Persönlichkeitsfacetten des HOMO CREANS ableiten. Er vernetzt in sich Elemente folgender Menschenbilder: der spielende Mensch Homo Ludens, der denkende Mensch Homo Cogitans, der wissende Homo Sapiens (nicht im Sinne der paläontologischen Bezeichnung), der durch die Welt reisende Viator Mundi, der auf Gemeinschaft ausgerichtete kommunikative Beziehungsmensch Homo Socialis, der arbeitende Mensch Homo Faber, und schließlich der Homo Oeconomicus, der den kulturellen und wirtschaftlichen Nutzen bzw. Mehrwert prüft. Die ambivalente Bipolarität des kreativen Prozesses kennzeichnet auch kreative Persönlichkeitsanteile des HOMO CREANS.

3.1 K REATIVE P ERSÖNLICHKEITSEIGENSCHAFTEN DES H OMO C REANS Die kreative Persönlichkeit ist die psychologische Kategorisierung eines bestimmten Persönlichkeitstyps. Der HOMO CREANS bezeichnet hingegen nicht einen bestimmten Typus, sondern meint die schöpferischen Persönlichkeitsanteile, die jeder Mensch individuell ausgeprägt hat. Nach Joy Paul Guilford, Gisela Ulmann, Ellis Torrance und Mihály Csikszentmihályi bündeln sich in herausragenden kreativen Persönlichkeiten viele kontrastierende Merkmale: Sie lieben komplexe Situationen, stoßen an Grenzen und wollen sie erweitern. Intensive Wahrnehmung, Konzentration, Staunen und Reflexion lässt sie im kreativen Prozess das Zeitgefühl verlieren und völlig in ihrer Tätigkeit aufgehen. Ihre Persönlichkeitsstruktur kann situationsbedingt von einem Extrem ins andere wechseln. Sie neigen dazu, das gesamte Spektrum menschlicher Emotionen und Denk-

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weisen in sich zu vereinen und auszuschöpfen. Sie nutzen sowohl die Denkweise des fokussierten konvergierenden, als auch des defokussierten divergierenden Denkens. Zwischen frei-assoziativen, traumähnlichen (primären) und abstraktlogischen, analytischen (sekundären) Bewusstseinszuständen können sie flexibel wechseln. Sie sind fähig zu extremer Anspannung bzw. Entspannung. Sie sind häufig weltklug, humorvoll und kindlich naiv zugleich, verbinden in sich Disziplin und Spiel bzw. Verantwortungsgefühl und Ungebundenheit, Imaginationskraft und lebhafte Fantasie sowie bodenständigen Realitätssinn, Leidenschaft und ein Höchstmaß an Objektivität. Als schüchterne, introvertierte Persönlichkeiten ziehen sie sich gerne in die Einsamkeit zurück, haben aber auch selbstbewusste, temperamentvolle, extrovertierte Züge, sind gesellschaftsfroh und mitteilungsbedürftig. Kreative Menschen wenden sich in gewisser Weise gegen rigide Rollenverteilungen,1 sind sowohl traditionell konservativ als auch mutig, veränderungs- und risikobereit, individualistisch originell, rebellisch, unabhängig und nonkonform. Kreative Menschen sind stolze, egozentrische Narzissten, aber auch sozial, demütig, altruistisch und selbstlos. Durch ihre Offenheit und Hochsensibilität sind sie häufig zermürbendem Leid und Selbstzweifeln ausgesetzt, erleben aber auch intensive Freude, höchsten Genuss und ekstatische Hingabe, die sie wiederum befähigt zu Selbstvertrauen, Zielstrebigkeit, Konflikt- und Frustrationstoleranz, um Anfechtungen zu widerstehen. Sie sind getrieben von ihrer Neugier sowie von ihren weitgespannten Interessen und Begabungen.2 Kreative Persönlichkeiten fassen gleichsam die schöpferischen Persönlichkeitseigenschaften des HOMO CREANS zusammen. Das Kind mit seiner indifferenten Neugier und seinem intensiven Erleben erscheint als ideale bzw. extreme kreative Persönlichkeit. 3.1.1 Kreativität und Intelligenz Grundvoraussetzung für Kreativität ist eine allgemeine Intelligenz. Dennoch unterschied Joy Paul Guilford Kreativität von Intelligenz: • Intelligenz ist die effektive Lösung vorgegebener Probleme mit bekannten Lö-

sungen. Je höher die Intelligenz, desto schneller die Verarbeitungsgeschwindigkeit im Arbeitsgedächtnis. Diese kann jedoch nicht die Komplexität kreativer Be-

1

Z.B. ist ein kreativer Junge sensibler und weniger aggressiv als seine Altersgenossen; vgl. Csikszentmihalyi 1997, S. 107.

2

Vgl. Eder in: Reiche et al. 2011, S. 153/154; vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 165-167; vgl. Csikszentmihalyi 1997, S. 80-115; vgl. Fink in: Dresler/Baudson 2008, S. 37-39; vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 78; vgl. Funke in: Dresler/Baudson 2008, S. 33.

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gabungen erklären. Oberhalb einer gewissen Schwelle 3 hat Intelligenz keine Auswirkung mehr auf kreative Leistungen. • Kreativität ist die Lösung neuer Probleme durch überraschende Einsichten und originelle Lösungen. Hohe Kreativität erfordert überdurchschnittliche Intelligenz, umgekehrt ist eine hohe Intelligenz jedoch nicht zwangsläufig mit hoher Kreativität verbunden. Kreativität braucht Wissen bzw. Fertigkeiten, mit denen sie in einem dynamischen Gleichgewicht von konvergentem und divergentem Denken arbeiten kann. Zentral ist das Arbeitsgedächtnis, das wiederum Expertenwissen in anderen Hirnarealen abruft. Intelligente Menschen haben ein besonders effektives Arbeitsgedächtnis. Entscheidend ist jedoch die spielerische Interaktion von sprachlicher, logisch-mathematischer, räumlicher, musikalischer, körperlich-kinästhetischer, inter- bzw. intrapersonaler, sowie emotionaler Intelligenz.4 Ein Wissenschaftler tendiert mehr zum konvergenten Denken, ein Künstler öffnet sich mehr dem emotionalen Erleben und dem divergenten Denken. Im Durchschnitt sind Wissenschaftler psychisch stabiler. Künstler hingegen verwenden ihre eigene Psyche als Arbeitsmaterial, was labile Zustände hervorrufen und begünstigen kann.5 3.1.2 Resilienz-Potential der Kreativität Wie bereits dargelegt, ist der Ausgangspunkt für Kreativität eine Form von Krise. Kreativität im Kindesalter kompensiert Wissensdefizite und treibt die kognitive Entwicklung an. Die liminale, krisenhafte Phase der Adoleszenz mit ihren emotionalen Turbulenzen kann entscheidende Impulse liefern für die Entwicklung der Kreativität. Manche Adoleszente leiden unter einer fehlenden Zugehörigkeit. Gerade sie können aber in ihrer Einsamkeit besondere Produktivität entfalten. In der pubertären Entfremdung entstehen oft besonders originelle und fantasievolle Ideen. 6 Kreativität im Erwachsenenalter beruht auf Expertise und befördert die kulturelle Entwicklung. Besonders kreatives Potential bergen Zustände einer psychischen Labilität, die leicht genug sind, um gemeinsam mit den Gegenkräften der Selbststärke produktiv sein zu können. Frühkindliche Ängste, Widrigkeiten der Vergangenheit und Inkohärenz können außergewöhnliche Denk-, Fantasie- und Gestaltungstätigkeiten bewirken und sich im Verlauf des kreativen Prozesses transformieren, Identi-

3 4

Ab einem IQ von etwa 120. Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 12; vgl. Gardner, Howard in: Dresler/Baudson 2008, S. 33.

5

Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 12; vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 73-76.

6

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 81.

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tät und Selbstwertgefühl stärken, wenn sie begleitet sind von positiven Strukturen und anerkennender Bestätigung. Die kathartische Entlastungsfunktion und die kompensatorische, resiliente7 Wirkung der künstlerischen Kreativität findet besonders in der Psychoanalyse Beachtung.8 Demnach ist eine künstlerische oder allgemein kreative Tätigkeit und die damit einhergehende Konstitution von Kultur eine kompensatorische Bewältigungsstrategie unbewusster Konflikte und unerfüllter Bedürfnisse. Dies steht hinter Sigmund Freuds (1856-1939) Begriff der Sublimierung. Seiner Theorie zufolge erwachsen die kulturellen Leistungen des Menschen aus der sexuell erotischen Triebenergie der Libido bzw. ihrer kompensatorischen Sublimierung. Ihre Verdrängung resultiere hingegen in seelischen Krankheiten.9 Kreatives Schaffen sei die geglückte Bewältigung eines Konflikts zwischen Lust und Triebverzicht. Eine von der Freud’schen Pathologisierung befreite Sichtweise entwickelt der Psychoanalytiker und Kunsthistoriker Ernst Kris (1900-1957). Er versteht Kreativität als Triebbewältigungsstrategie im Sinne der Ich-Auflösung und der IchFestigung.10 Das Kunstwerk sei sowohl ein Ventil für libidinöse Triebe. Gleichzeitig verhelfe es dem Protagonisten durch Sublimierung zur Triebkontrolle und mache seine inneren Kräfte kulturell fruchtbar. Die Gesellschaft unterdrücke jedoch vorsprachliche, regressive Assoziationsvorgänge (Primärprozesse) weitgehend durch das abstrakte, logische Denken (Sekundärprozesse).11 Carl Gustav Jung (1875-1961) verfolgt ein ganz anderes Verständnis. Er knüpft an die antike Enthusiasmuslehre. Die schöpferischen Kräfte führten gleich einer Naturkraft ein unkontrollierbares Eigenleben. C.G. Jung überhöht den Künstler zum prophetischen Sprachrohr dieser Kräfte.

7

Lat. resilire, zurückspringen, abprallen. Resilienz beschreibt die Widerstandsfähigkeit und Toleranz gegenüber Störungen, die Fähigkeit von Stehaufmännchen, sich aus jeder beliebigen Lage wieder aufzurichten. Der Begriff ist verwandt mit der Selbstregulation. Vgl. Wolter 2012.

8

Vgl. Krieger 2007, S. 114; vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 82.

9

»Die Triebkräfte der Kunst sind dieselben Konflikte, welche andere Individuen in die Neurose drängen.« »Der Künstler hatte sich wie der Neurotiker von der unbefriedigenden Wirklichkeit zurückgezogen, aber anders als der Neurotiker verstand er den Rückzug aus ihr zu finden und in der Wirklichkeit wieder Fuß zu fassen.« Sigmund Freud zitiert in: Krieger 2007, S. 121.

10 Ein schöpferischer Prozess verlaufe in zwei psychologischen Phasen. In der Ich-Regression werde das Unbewusste produktiv, ähnlich wie im Traum. In der zweiten Phase festige sich das Ich wieder, um die Fantasie bewusst weiterzuverarbeiten. 11 Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 13.

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In Ausrichtung auf die menschliche Entwicklung versteht Alfred Adler (1870-1937) Kreativität als Antriebskraft, sich in gestalterischer Freiheit selbstschöpferisch zu bilden durch die Verarbeitung von Erfahrungen, die Bildung von Auffassungen, Gefühlen und Reaktionsweisen. So erschaffe der Mensch sich und seine Persönlichkeit selbst. Auch für Otto Rank (1884-1939) verhilft der grundsätzliche Schaffensdrang dazu, den menschlichen Dualismus zwischen Körper und Geist, Seele und Materie zu überwinden. Fortpflanzung bzw. kulturelles Schaffen seien gleichsam ein Unsterblichkeitsdrang. In seiner höchsten Stufe unterstehe der Schaffensdrang direkt der eigenen Persönlichkeitsgestaltung.12 Der Psychologe Hans Müller-Braunschweig weist darauf hin, dass »die Möglichkeit der Objektivierung unbewusster Inhalte, die Möglichkeit, sie ‚herzustellen‘ und dann ‚draußen‘ zu bearbeiten, die Angst vermindert, die die Zulassung dieser Inhalte sonst auslösen könnte. Ursprünglich Verdrängtes wird weniger gefährlich, wenn es in einer künstlerischen Technik oder einer wissenschaftlichen Sprache handhabbar wird.«13 Die persönlichkeitsstärkende Resilienz ist somit eine der zentralen Potenziale der kreativen Persönlichkeit.

3.2 E XTREMFORMEN

KREATIVER

P ERSÖNLICHKEITEN

Kreative Persönlichkeiten zeigen in ihrer Widersprüchlichkeit jedoch mitunter auch einen Hang zu psychiatrischen Auffälligkeiten bzw. umgekehrt.14 Um Menschen in persönlichkeitsbildenden kreativen Prozessen gut begleiten zu können, ist es daher wichtig, auch Extremformen kreativer Persönlichkeiten zu kennen.

12 Vgl. Krieger 2007, 120-123. 13 Hans Müller-Braunschweig zitiert in: Kraft 2008, S. 96. 14 Die Kategorisierung einer gesamten Persönlichkeit als gestört ist ethisch nicht unproblematisch. Das menschliche Wesen lässt sich nicht normieren. Die Betroffenen selbst empfinden sich oft nicht als gestört. Dahinter stehen von der Norm abweichende, unflexible oder wenig angepasste Persönlichkeitsmerkmale, Erlebens- und Verhaltensmuster. Diese beeinflussen meist die persönliche Leistungsfähigkeit und zwischenmenschliche Interaktionen. Sie können bedingt sein durch Umstände in der Kindheit und spätere Lebensabschnitte, durch genetische Faktoren oder Hirnschäden. Zudem gehen Persönlichkeitsstörungen oft einher mit Suchtverhalten und einem problematischen Konsum psychotroper Substanzen wie Alkohol oder illegalen Drogen. Vgl. Dresler/Baudson 2008, S. 149.

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3.2.1 Narzissmus und Narzisstische Persönlichkeitsstörung Die kreative Persönlichkeit zeichnet sich aus durch einen gewissen Narzissmus. Narzissmus bezeichnet das gesunde Selbstwertgefühl und leitet sich ab vom Dilemma des mythologischen Narziss. Für Jaques Lacan dient primärer Narzissmus in Kindheit und Jugend der Imagination, Identifikation und der lebenswichtigen IchKonstitution. Laut dem amerikanischen Psychoanalytiker Heinz Kohut (1913-1981) ist gesunder Narzissmus eine wichtige, frühkindliche Phase der Ich-Bildung, die jeder Mensch durchlaufe und die bis ins Erwachsenenalter die psychische Struktur des Selbst stabilisiere. Auch die schweizerische Psychologin Alice Miller (19232010) versteht gesunden Narzissmus als eine positive Eigenschaft. Im Fall einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung mangelt es einem Betroffenen jedoch an ausreichendem Selbstwertgefühl. Seine Wahrnehmung ist oft geschönt oder verfälscht. Sein Selbst ist gespalten in die Hybris eines genialen Ideal-Selbst und in ein entwertetes Selbst. Ein pathologischer Narziss vergleicht sich stark mit anderen Menschen, stuft entweder den anderen, oder sich selbst herab, oder entwickelt sogar Neid auf die Begabungen anderer. Er ist besonders empfindlich gegenüber Kritik und meidet die korrigierende Begegnung, bzw. weist sie rechtfertigend, aggressiv, beschämt oder gedemütigt ab. Sie kränkt sein ohnehin schwaches Selbstwertgefühl. Das Grundgefühl eines pathologischen Narziss ist ein melancholisches Leiden. Die ihm entgegengebrachte Liebe ist nie genug. Ohne die ständige Bestätigung hat er ein Gefühl der Leere.15 Ein pathologischer Narzissmus entsteht laut Alice Miller, wenn ein Kind seine eigenen Gefühle und Interessen nicht artikulieren durfte bzw. konnte und im Erwachsenenalter ein kompensatorisches Ventil für frühkindliche Entbehrungen braucht.16 Betroffene leiden darunter oft lebenslang – mit Auswirkungen auf ihr

15 Er hat einen Blick für das Besondere, hat oft gepflegte, statusbewusste Umgangsformen und kann leistungsstark sein. Nach außen kompensiert er sein Dilemma durch ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, die Sehnsucht nach einer Sonderstellung und Wichtigkeit. Aufgrund seiner extremen Selbstbezogenheit, der stetigen Suche nach Bestätigung und bewundernder Anerkennung, kann ein Betroffener anderen Menschen nur wenig echte Aufmerksamkeit schenken. Am Anderen genießt er v. a. die Spiegelung. Anderen gegenüber zeigt er ausbeutendes Verhalten und einen Mangel an Empathie, was mitunter respektlos wirkt. Sich selbst gegenüber ist er hochsensibel bzw. hypochondrisch und neurotisch. Um die fürsorgliche Aufmerksamkeit der Mitmenschen sicherzustellen, badet er in Selbstmitleid und neigt mitunter zu manipulierenden Lügen. 16 In einer Sicherheit vermittelnden und interessierten Umgebung nimmt der Säugling seine Umgebungsreize begierig auf. Das Neugierverhalten muss begleitet werden durch die aufmerksame Zuwendung der ersten Bezugsperson, ihre beständige Bestätigung und kon-

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Umfeld und Lebensmodell. Symptome können sein: Egozentrik, rastlose Hyperaktivität und Autoaggression, Perfektionismus und Burnout-Syndrom. Hinter dem mangelnden Selbstwertgefühl, der Angst vor Zurückweisung und Ablehnung sowie Dissoziation und Angststörungen steht meist eine Depression. Nicht selten geht die narzisstische Persönlichkeitsstörung einher mit Süchten wie der Sex- oder Alkoholsucht oder dem Borderline-Syndrom. Narzisstische Persönlichkeitsstörungen können auch vorübergehend auftreten und wieder abflauen.17 3.2.2 Peter-Pan-Syndrom, Puer aeternus bzw. Puella aeterna Kreative Persönlichkeiten haben eine gewisse spielerische Kindlichkeit. Ein unangemessenes, kindisches Verhaltensmuster (v. a. bei Männern) kann zum Peter-PanSyndrom tendieren. Die Geschichte Peter Pan von James M. Barrie18 handelt von der vorübergehenden Freundschaft dreier Londoner Kinder mit dem faszinierenden Jungen Peter Pan19, der nicht erwachsen werden will, sondern sein Leben in ewigem Spiel verbringt. Er lockt sie in sein traumhaftes Nimmerland20, wo sie gemeinsam unvergleichliche Abenteuer erleben. Als die Kinder das Heimweh plagt, bleibt Peter Pan einsam zurück. Der amerikanische Familientherapeut Dan Kiley benannte das Peter-Pan-Syndrom in seinem gleichnamigen populärwissenschaftlichen Buch

tinuierliche Anerkennungen, achtsames Einfühlungsvermögen und unbedingte Liebe. Störungen können vor allem dann entstehen, wenn die narzisstischen Bedürfnisse des Säuglings bzw. Kleinkindes von der primären Bezugsperson nicht angemessen gespiegelt werden können – z.B. durch unempathische, wenig akzeptierende Eltern, die das Kind schon früh überfordern. Oder umgekehrt wird das Kind übermäßig bewundert. Das Kind passt sich an und ist gleichzeitig der Furcht ausgesetzt, Fremdansprüchen (resultierend aus Überforderung bzw. übermäßiger Bewunderung) nicht zu genügen. Das sich ausbildende Beziehungsmuster mag lauten: »Ich muss viel dafür tun, um geliebt zu werden.« bzw. »Ich bekomme meine überlebenswichtige Liebe für meine außergewöhnliche Besonderheit.« 17 Vgl. Miller 1983; vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 77; vgl. List 2009, S 107. 18 Barrie 1993. 19 In der griechischen Mythologie ist Pan der Gott des Waldes und der Natur. In seinen Händen trägt er die siebenröhrige Panflöte. Ovids Metamorphosen berichten vom musikalischen Wettstreit zwischen Pan und Apollon. Pan liebt Musik, Tanz, Fröhlichkeit und Wollust. Umgeben von Nymphen und Satyrn gehört er zum Gefolge des Dionysos. Vgl. Krieger 2007, S. 8/9. 20 Ein Ort der grenzenlosen Möglichkeiten der Fantasie, der ewigen Kindheit und Unsterblichkeit, an dem man nur an etwas zu glauben braucht, dass es passiert.

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(1983). Weiterentwickelt wurde es vom amerikanischen Psychiater John J. Ratey. 21 Symptome zeigen sich in unbekümmerter Verantwortungslosigkeit, dem Drücken vor Regeln, Pflichten und Selbstdisziplin. Ein Betroffener schiebt Aufgaben vor sich her. Die Ursachen von Misserfolg sucht er nicht bei sich selbst. Gleichzeitig tendiert er zu Perfektionismus und Narzissmus. Um Ängste und innere Einsamkeit zu kompensieren, entwickelt er eine blühende Fantasie und Tagträume, sucht nach Freunden und Spaß. Emotional verarmt er jedoch zunehmend, entwickelt einen respektlosen Chauvinismus bzw. sexuellen Rollenkonflikt und wird unfähig zu tiefer Liebe für andere Menschen. Einerseits führen Sexualtrieb und der Wunsch, geliebt zu werden, schnell zu Partnerschaften. Andererseits verhindern Unsicherheit, mangelndes Selbstvertrauen, Prahlerei und cooles Macho-Gehabe eine positive und von Offenheit geprägte Beziehung zur Partnerin. Es sei denn, diese übernimmt aus Verlustangst eine opferbereite, überfürsorgliche, einseitig altruistische, auf Harmonie und Konfliktvermeidung bedachte Mutterrolle.22 Die schweizerische Philologin Marie-Louise von Franz (1915-1998) beschreibt die dem Peter-Pan-Syndrom verwandte Pathologie des Puer Aeternus23 bzw. der Puella Aeterna. Das emotionale Leben des Puer Aeternus blieb auf der Stufe der Adoleszenz stehen. Aus einer Bindungsangst heraus führt er ein provisorisches Leben in Unabhängigkeit und Freiheit, reibt sich an Grenzen, ist unverbindlich und kann Fremdbestimmungen nur schlecht ertragen.24 Dem liegt eine gestörte VaterSohn- bzw. Mutter-Tochterbeziehung zugrunde. Der Betroffenen fühlen sich vom gleichgeschlechtlichen Elternteil abgelehnt, haben Schuldgefühle, sind verunsichert und trauen sich nicht viel zu. Statt verantwortungsbewusste Erwachsene zu werden, wenden sie sich den amüsanten, hedonistischen Seiten des Lebens zu. 3.2.3 Bipolare Affektstörungen Eine Studie von Nancy Andreasen in den 1970ern fand heraus, dass bei kreativen Menschen auffallend häufig eine bipolare Affektstörung vorliegt, wobei das Aus-

21 Vgl. Ratey/Johnson 1999. 22 Vgl. Kiley 1991. 23 Lat.: ewiger Junge; geht auf Ovids Metamorphosen zurück. Diese preisen den ewig jungen Kind-Gott Iaccus für seine Rolle in den Eleusinischen Mysterien als Puer Aeternus. Später wird Iaccus mit Dionysos und Eros assoziiert. Wie Adonis ist er ein Gott der Vegetation, der Auferstehung und göttlichen Jugend. Vgl. von Franz 2000, S. 7. (Angelehnt an die Psychologie Carl Gustav Jungs). 24 Sharp 1991, S. 109.

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maß der Erkrankung eine Rolle spielt. Dazu gehören die manische Depression25 und deren schwächere Ausprägung der Zyklothymia.26 Eine gehobene Grundstimmung ermöglicht gesteigerten Antrieb, schnelles Denken, originelle Assoziationen und besondere Konzentrationsleistungen. Ein Betroffener hat größeres Selbstbewusstsein, erhöhten Rededrang und Sexualtrieb, Kontakt- und Risikofreude bis hin zu Grenzübertretungen. Zyklothymia kann begleitet sein von einem reduzierten Schlafbedürfnis und verändertem Appetit. Erschöpfungszustände und depressive Episoden reduzieren diese Symptome wieder. Bei stärkeren Störungen können kreative Energien nicht mehr sinnvoll genutzt werden. Der Betroffene wird von Ideen überschwemmt, ohne sie sinnvoll überprüfen oder nutzen zu können. 27 3.2.4 Schizophrenie – Schizoide Persönlichkeitsstörung In der Schizophrenie28 können die innere und äußere Welt des Selbst nicht mehr in Einklang gebracht werden. Die subjektiv empfundene Einheit der eigenen Identität im Fühlen, Denken und Wollen bricht zusammen. Die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich geht verloren. Der Schizophrene löst diese quälende Situation auf, indem er die Außenwelt klein und unwichtig werden lässt und sich für den Rückzug in seine Innenwelt entscheidet. Dies äußert sich in einzelgängerischem Verhalten, dem Abbau sozialer Kontakte und einer Flucht in die Fantasie, in psychotische, hysterische Ausnahmezustände bzw. den Dämmerzustand der Ekstase des Flow mit seinen mitunter mystischen Visionen, außergewöhnlichen Sinneswahrnehmungen und einem sexuell gefärbten Entzücken, das den ganzen Körper durchzieht. Das eigene

25 Manie Altgriech.: Raserei, Wut, Wahnsinn. Bei einer manischen Depression ist die Wahrnehmung gestört aufgrund einer veränderten Balance der Neurotransmitter Noradrenalin, Serotonin und Dopamin. Signale werden nicht mehr richtig übertragen. Gedanken drehen sich im Kreis. Phasen übersteigerter Aktivität, Unruhe, übersprudelnder Ideen und schöpferischer Energie wechseln sich ab mit Phasen gesteigerter Selbstvorwürfe, Zweifel, Ängste, Lethargie und Depression bis hin zur völligen Handlungsunfähigkeit. Vgl. Assion/Vollmoeller 2006. 26 Zyklothymia entwickelt sich meist in der späten Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter und hält mitunter ein Leben lang an, wobei der Zustand über Monate unauffällig bleiben kann. Eine Episode dauert wenige Tage bis zu mehreren Monaten. Die Veränderungen im Gehirn sind oft reversibel. Psychotherapie und Psychopharmaka können das aus dem Gleichgewicht gekommene Gehirn wieder austarieren. Vgl. Assion/Vollmoeller 2006. 27 Vgl. Krieger 2007, S. 114; vgl. Marneros 2004, S. 139–141. 28 Griech.: schizo – ich spalte; phren – Geist

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magische Universum wird Dreh- und Angelpunkt. Zwischen wahnhafter Fantasie und Realität kann nicht mehr unterschieden werden.29 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrt sich das wissenschaftliche und sammlerische Interesse an bildnerischen Arbeiten psychisch kranker Menschen. Im Jahr 1895 kommt der 31-jährige an Schizophrenie erkrankte Adolf Wölfli in die Irrenanstalt Waldau bei Bern, wo er 1930 stirbt. Im Laufe seiner 35 Jahre dauernden Internierung entwickelt Adolf Wölfli einen geradezu zwanghaften Schaffensdrang und schafft sich seine eigene mythologische Weltordnung jenseits gesellschaftlicher Normen und Identitäten, die er nicht mehr verlassen kann. Er erlebt fantastische Reisen, die er in Gedichten aufschreibt, zeichnet und collagiert. Er stellt mystisch anmutende Buchstaben- und Zahlenkombinationen zusammen, notiert und spielt Musik. Das Wort Allgebrah wird sein individuelles Schöpfungsprinzip. Es steht für Wonne, Hass, Liebe, Glück, Musik, Gott, Licht, Sommer, Krankheit und Donnerrollen. Wölfli erschafft nach eigenen Angaben jene inneren Bilder, die er auf Gottes Befehl bereits vor dem achten Lebensjahr auf seinen Fantasiereisen durch das Weltall imaginiert und schon einmal gezeichnet habe. Bereits im Jahr 1921 erschienen Walter Morgenthalers umfassende Werksammlung und Lebensbeschreibung Adolf Wölflis unter dem Titel Ein Geisteskranker Künstler. Diese wird zur Inspiration für zahlreiche Komponisten und Musiker.30 In Reaktion auf Morgenthalers Schrift spricht Rainer Maria Rilke von einer Flucht vor der Krankheit in die Kreativität der Kindheit.31 Im 1922 erschienenen Buch Bildnerei der Geisteskranken von Hans Prinzhorn (1886-1933) kommentiert der deutsche Psychiater gesammelte Werke seiner zumeist schizophrenen Patienten. Er spricht von Bildnerei statt Kunst. Die ästhetische

29 Vgl. Korenjak, Andrea: Adolf Wölfli. Kunst, Identität und Kreativität im Spiegel psychischer Krankheit, in: Hofmann 2007, S. 81. 30 Vgl. Korenjak in: Hofmann 2007, S. 79-83. 31 Seine Briefpartnerin Lou Andreas-Salomé antwortet darauf: »Was Dich gewaltsam gepackt haben muß, ist […] auch der Umstand, daß der zwanghafte Werkdrang des Schaffenden deutlich im Schizophrenen wiederkehrt, – jenes Unbegreifliche, daß in ihm Aktiv und Passiv, Vision und Formung ganz und gar eins sind, das Schaffen so wenig innezuhalten wie die Offenbarung selbst: denn beides geht noch als eins, ungeschieden, hinter alledem vor sich, was bewußterweise Subjekt und Realität als zweierlei scheidet. […] Dies ist das ungeheuer Rührende, Ergreifende am Psychoten, […] daß er uns entblößt, was keines Gesunden Gebaren je zu entblößen vermöchte: und was doch unsagbar wichtig ist, weil ja jenseits des Individualisierten (sozusagen hintenherum) das Objektive wieder berührt wird. […] Im Psychoten wie im Künstler schließt sich der Kreis von neuem.« Lou Andreas-Salomé zitiert in: Hofmann 2007, S. 83. Analog hierzu steht die Beschreibung des Flow und der autotelischen Aspekte des kreativen Prozesses.

B K ONJUNKTION DES HOMO CREANS

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Gestaltung sowohl eines Künstlers, als auch die eines psychisch Kranken sei der »Ausdruck von Seelischem«32, ein Trieb, den er in den Werken Geisteskranker als unbewussten Nachahmungstrieb bzw. Spieltrieb benennt.33 Die kompensatorische Kreativität psychisch Kranker und ihre mitunter triebhafte bildnerische Kraft sollte jedoch nicht idealisiert werden.

3.3 K ULTURKONSTITUIERENDE ASPEKTE

DER

K REATIVITÄT

Der schöpferische Mensch HOMO CREANS gestaltet seine Kultur. Was sind die besonderen kulturkonstituierenden Aspekte der Kreativität? 3.3.1 Kreativität und Kultur Die Kreativität als Urtrieb und Grundbedürfnis des Menschen prägt die Mikro- und die Makrostruktur des menschlichen Lebens. Sie ist der Antrieb jeder menschlichen Entwicklung – so auch der Kultur. Ursprung der Kultur ist die Bipolarität von Materie und Geist, die im Flow immer wieder zu einer mystischen Symbiose findet. Der Mensch schafft Rituale und Ausdrucksbilder jeglicher Art, um diese Symbiose zu erkunden, zu bannen und reflektierend zu verstehen. Kultur widerspiegelt das Selbst- und Weltbild von Gesellschaften. Kreativität verändert die gewohnten Denk- und Wahrnehmungsmuster, sucht neue Formen oder die Formlosigkeit, bricht Tabus, wird zum Skandalon. Aus dem Ärgernis wird ein Teil der bestehenden Ordnung. Kultur ist gleichsam die sozial-gesellschaftliche Dimension der Kreativität.34 Kreatives Denken sichert den Fortbestand der Welt und die Lösung ihrer komplexen Probleme. 3.3.2 Kreativität und Ethik Die schöpferische Suche nach dem Neuen strebt nach Befriedigung und Glück, ist jedoch ein Prozess mit ungewissem Ausgang, der ebenso gut die Abgründigkeit des Menschen zu offenbaren vermag. Denn kreative Motivationen und Persönlichkeitseigenschaften können sich auch negativ ausprägen. Es sind kreative Erfindungen, die den Menschen mit der Möglichkeit seiner Selbstzerstörung und der Zerstörung

32 Prinzhorn zitiert durch Korenjak in: Hofmann 2007, S 84. 33 Vgl. Prinzhorn zitiert durch Korenjak in: Hofmann 2007, S. 84. Analog dazu steht die Kinderbildnerei. 34 Vgl. von Hentig 1998.

152 | HOMO C REANS

seiner natürlichen Umgebung konfrontieren.35 Schöpfungsmacht kann in Rücksichtslosigkeit und Missachtung gipfeln, einer Hybris bis hin zu pervertierter Machtfantasie, totalitärem Gestaltungswahn, autoritärer Tyrannei, Gewaltherrschaft und totaler Zerstörung.36 Ein Beispiel ist das menschenverachtende NS-Regime mit seiner nationalsozialistischen, utopischen bzw. dystopischen Ideologie. Eine solch absurde Fantastik und brutale Rationalität geht allerdings nicht zusammen mit der hier verwendeten Definition des Schöpferischen, sondern macht vielmehr klar, wie sehr Kreativität auf der Bildung des Menschen und seiner Werte aufbaut. Zügellose Kreativität jenseits ethischer und moralischer Grenzpfosten kann sehr gefährlich werden. Wenn sie sich ohne den Maßstab strukturierender Werte verselbständigt, ergibt sie keinen Sinn. Innovation muss nachhaltig sinnstiftend sein. Gerade der interrelationale, interdependente Charakter kreativen Denkens und Handelns verleiht der Kreativität große ethische Verantwortung – für das eigene Leben, das Gemeinschaftsgefüge und die Welt. Deshalb schuf jede Kultur, aufbauend auf philosophischen oder religiösen Weltanschauungen, einen ethisch normativen Rahmen aus Moral und Gesetzen. Heute gelten die Menschenrechte als allgemein verbindlicher Verhaltenskodex. Resümee: HOMO CREANS – Kind und Erwachsener Der HOMO CREANS schließt die Kluft zwischen Kind und Erwachsenem. Kindliche Freiheit wird auf einer reflektierten Stufe nachgeholt bzw. fortgesetzt. Gelebte Kindlichkeit ist nicht naiv, sondern eine bewusste Haltung, wenn sie nicht Teil einer Persönlichkeitsstörung ist. In freier Selbstverfügbarkeit kann sie Lust und Intensität bewahren bzw. wiederentdecken und so eine Weiterentwicklung erwirken, in der das Vorhergehende enthalten ist.37 Diese und andere Dynamiken des kreativen Prozesses werden nun im folgenden dritten Kapitel vertieft untersucht.

35 Vgl. Funke in: Dresler/Baudson 2008, S. 35. 36 Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 229. 37 Vgl. Rebel, Ernst in: Daucher 1990, S. 228-240.

C KÜNSTLERISCHE KREATIVITÄT

Das dritte Kapitel fragt in anderer Methodik nach dem HOMO CREANS. Konkret interessiert es sich für • künstlerisch-kreative Prozesse in der transmedial entgrenzten Kunst des 20. Jahr-

hunderts, • wie sie verlaufen, • in welchen komplexen Netzwerkstrukturen sie stehen und • wie sie von den Protagonisten subjektiv erfahren werden.

Künstlerischem Arbeiten liegen häufig besonders komplexe, kreative Prozesse zugrunde. Deshalb werden anhand von ausgewählten Fallbeispielen künstlerische Produktionsprozesse ausführlich analysiert, um ableitend Allgemeingültiges über den kreativen Prozess zu lernen. In allen Fallbeispielen erweist sich Kreativität als komplexes Netzwerkphänomen. Gemeinsam ist ihnen eine kreative Kraft im Dazwischen von Beziehungen – die Co-Kreativität. Artistic Research bedeutet in diesem Zusammenhang: In der produktionsästhetischen Werkanalyse1 transmedialer Kunstformen aus der Warte einer visuell geprägten Bildenden Künstlerin wird auch die Subjektivität der Autorin miteinbezogen – z.B. in Form von Assoziationen und inneren Bildern.

1

Die Werkanalyse basiert auf einem dreistufigen Analyse- und Interpretationsschema: 1. Bildbeschreibung: Bildarchitektur und -rhetorik (Form, Inhalt, Medium). Vgl. Brandstätter 2008, S. 121. 2. Produktionsästhetische Kontexte: Kreativität (kreative Persönlichkeit, kreatives Umfeld, kreative Strategien, kreativer Prozess, kreatives Produkt). In welchen Kontexten, Verwurzelungs- und Vernetzungsstrukturen liefen kreative Prozesse ab? z.B. verschiedene Inspirationsquellen, kulturelle Ebenen, Gattungen und Medien. 3. Deutungsversuch: Resümee und kunsthistorische Bedeutung.

1 Wegbereiter der transmedial entgrenzten Kunst des 20. Jahrhunderts

Um zunächst die Entstehungsgeschichte und die Charakteristika eines transmedial entgrenzten Kunstbegriffs nachzuvollziehen, begegnet ein erster Schritt vier kunsthistorischen Entgrenzungspositionen, die fundamentale Transformationen der westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts anstießen und die den Weg zu einem transmedial entgrenzten Kunstbegriff bereiteten. Am Ende einer jeden Position fasst eine Tabelle definierende Rahmenbedingungen des künstlerisch-kreativen Prozesses zusammen. Tabelle 2: Analysekriterien Ausgangsposition Netzwerkstrukturen Subjektive Erfahrungsebene künstlerisch-kreative Strategien Entgrenzungs-Phänomene

Quelle: Johanna G. Eder

Krisenhafte Schwellenzustände bzw. Problemlagen Bezüge aus dem kreativen Umfeld Affektive Aspekte bzw. kreative Persönlichkeit des Protagonisten Werkgenese, Kontingenz Bewertung des kreativen Produkts, Charakteristika eines transmedial entgrenzten Kunstbegriffs (z.B. Kommunikation zw. Autor und Rezipient, emergente Erkenntnisse)

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1.1 M ARCEL D UCHAMP – D IE B RAUT VON IHREN J UNGGESELLEN NACKT ENTBLÖSST , SOGAR Marcel Duchamp wurde durch eine Serie provozierender und ironischer Angriffe auf die Kunstwelt bekannt, in denen er die westlichen Kunstdefinitionen irreversibel untergrub. 1.1.1 Kurzbiografie und Lebensumstände Geboren 1887 in Blainville-Crevon verbrachte Marcel Duchamp als jüngster Sohn von sechs Kindern eine glückliche Kindheit in der Normandie in Nordfrankreich. Beide Elternteile schufen ein kulturell förderliches Ambiente, schätzten Bücher, Malerei und das Schachspiel. Jedes Familienmitglied spielte ein Instrument und man musizierte gemeinsam. Die beiden von Marcel bewunderten, älteren Brüder Gaston1 und Raymond gaben ein Jura- bzw. Medizinstudium auf, um mit der Unterstützung des Vaters Maler bzw. Bildhauer zu werden. Auch Marcel begann zu malen und zu zeichnen und zog nach Abschluss des Gymnasiums 1904 zu den Brüdern nach Paris an den Montmartre. Die jüngere Schwester Suzanne musste jedoch kraft der herrschenden Konventionen bei der Familie bleiben. 2 In Paris begann Marcel ein Malereistudium an der Académie Julian und wurde von seinen Brüdern sogleich in die franzosischen Künstlerkreise eingeführt. Dem Unterricht zog er jedoch das Billardspiel vor. Zum Broterwerb zeichnete Marcel Duchamp humoristische, visuell wie verbal doppeldeutige, schlüpfrige Karikaturen für Zeitschriften.3 Als Maler eignete sich Marcel Duchamp eine Vielzahl künstlerischer Stile an. Seine ersten Bilder waren vom Impressionismus und von Paul Cezanne beeinflusst. Besonders der Maler Odilon Redon hinterließ nach eigenen Angaben einen starken Eindruck.4 Auf individualistische Weise vertrat dieser die durch Träume, Fantasie und das Unterbewusste bestimmte Bildersprache des Symbolismus, die die Frau zum mysteriös bedrohlichen Geschöpf stilisierte. Redons Bilder wurden zudem häufig von Literatur und einer mikroskopisch sezierenden Wissenschaft inspiriert. Im Paris der 1910er Jahre wälzte sich die Kunst gravierend um. Fauves und Kubisten sprengten die Ikonographie von Form und Farbe. 1911 wendete sich Marcel Duchamp selbst dem Kubismus zu, freundete sich mit Guillaume Apollinaire und

1

Mit Pseudonym Jacques Villon, in: Mink 1994, S. 11.

2

Vgl. Mink 1994, S. 11.

3

Vgl. Mink 1994, S. 12.

4

»Wenn ich sagen müsste, was mein Ausgangspunkt gewesen ist, würde ich sagen, dass es die Kunst Odilon Redons war.« Duchamp hinsichtlich seiner Einflüsse zu Beginn seiner Laufbahn, in: Pach 1938, S. 163.

C K ÜNSTLERISCHE K REATIVITÄT

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Francis Picabia an, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte. Der innovative, experimentierfreudige Picabia machte ihn mit weiteren progressiven Künstlern bekannt.5 1.1.2 Frühwerke Abbildung 11: Jüngling und Mädchen im Frühling

Quelle: © The Estate of Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2016 1911, Öl auf Leinwand, 65,7 x 50,2 cm Mailand, Sammlung Arturo Schwarz

5

Vgl. Mink 1994, S. 14/15.

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Im Jahr 1911 begann Marcel Duchamps malerische Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Mann und Frau, mit Nähe und Distanz, Bewegung und Übergang. In seinem Gemälde JÜNGLING UND MÄDCHEN IM FRÜHLING (1911) (Abb 12) umrahmen zwei junge, nackte Menschen – zur Androgynität stilisierte Frau und Mann – in einer Dreieckskomposition eine stark abstrahierte, paradiesische Gartenszene. Auf der Mittelachse des Bildes erhebt sich der Stamm eines Baumes. Seine lichte, helle Krone spannt den Himmel auf. Die Frau zur Linken und der Mann zur Rechten strecken ihre Arme hinauf in das himmlische Blätterwerk, fast als wollten sie etwas herunterpflücken. Diese Geste mag auch wie der Versuch wirken, sich über die Brücke des Blätterdachs gegenseitig zu erreichen, da sich zwischen ihren Standflächen ein dunkler Graben aufzutun scheint.6 Inspiriert von der Chronofotografie7 des Eadweard Muybridge entstand 1912 die kinetische Malerei AKT, EINE TREPPE HERABSTEIGEND NR. 2. Gemäß dem Titel zeigt das Werk in Simultanperspektive und kubistischer Zersplitterung Bewegungsfragmente einer herabsteigenden Aktfigur. Abgesehen von der Farbigkeit des Inkarnats missachtete Marcel Duchamp das natürliche Erscheinungsbild des nackten Körpers völlig und transformierte die Extremitäten der Figur vielmehr in maschinenartige Formen und abstrakte Linien – eine radikalere und mechanisiertere Version der Figuren aus JÜNGLING UND MÄDCHEN IM FRÜHLING. In der an sich progressiven Kunstwelt des Salon des Indépendants8 provozierte er damit unterkühlte Reaktionen. Das Werk war dem kubistisch orientierten Kreis aufgrund der Bewegungsmomente zu futuristisch. Man bat Duchamps Brüder, Marcel zur freiwilligen Rücknahme des Gemäldes zu bewegen. Dies tat er ohne Widerstand, war jedoch gekränkt.9

6

Auf diese metaphorische Darstellung der Dynamik zwischen Mann und Frau wird später das Große Glas in komplex chiffrierter Weise Rückbezug nehmen.

7

Fotografische Bewegungsstudien bzw. analytische Zeitfotografie.

8

Ausstellungsort der Pariser Vereinigung unabhängiger Künstler.

9

Im Jahr 1913 hatte der Wirbel um Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 noch ein Nachspiel auf der Armory Show in New York. Dort waren die avantgardistischen Stilströmungen Europas vom Impressionismus bis zur abstrakten Malerei erstmals in einer großen Ausstellung in den USA vertreten. Duchamps vormaliger Skandal wurde zum Erfolg und der abwesende Maler über Nacht zum berühmtesten modernen Künstler in den Vereinigten Staaten. Eine aufgeschlossene Gruppe der kulturellen Elite erkannte im Akt ein bahnbrechendes Meisterwerk. Alle vier seiner ausgestellten Werke wurden verkauft. Gegenüber der Vereinnahmung durch den Kunstmarkt zeigte Marcel Duchamp jedoch großen Widerstand. Das lukrative Angebot einer Galerie, ihn zu vertreten, lehnte er ab.

C K ÜNSTLERISCHE K REATIVITÄT

Abbildung 12: Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2

Quelle: © The Estate of Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2016 1912, Öl auf Leinwand, 146 x 89 cm Philadelphia Museum of Art Sammlung Louise und Walter Arensberg

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Der zurückgewiesene Akt löste bei dem 25-jährigen Marcel Duchamp eine persönliche Krise aus und sollte sich zu einem neuralgischen Punkt seiner Biografie entwickeln. »(Diese Affäre) […] hat mir zu einer völligen Befreiung von der Vergangenheit, meiner persönlichen Vergangenheit, verholfen. Ich sagte mir: >Na, wenn das so ist, dann kommt es nicht in Frage, einer Gruppe beizutreten, man kann nur mit sich selbst rechnen, man muss allein sein.Mache< (so, wie man einen Seiltänzer bewundert), genießen die >Malerei< (so, wie man eine Pastete genießt). Hungrige Seelen gehen hungrig ab. […] Mensch, der was sagen könnte, hat zum Menschen nichts gesagt, und der, der hören könnte, hat nichts gehört.«46

Abbildung 14: Marcel Duchamp 1912 in München

Quelle: Foto: Heinrich Hoffmann

45 Vgl. Mink 1994, S. 37. 46 Kandinsky, Wassily: Über das Geistige in der Kunst, Bern: Benteli 1965, S. 25. In der Bibliothek seines Bruders wurde später eine Erstausgabe von Über das Geistige in der Kunst mit Duchamps Anmerkungen darin entdeckt.

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Marcel Duchamp ließ sich von Heinrich Hoffmann fotografieren, verschickte Postkarten vom Hofbräuhaus und vom Nymphenburger Schloss. Auch besuchte er die Gegend von Neufahrn. Dessen Kirche wird mit der heiligen Wilgefortis in Zusammenhang gebracht, einer frühchristlichen Jungfrau und Prinzessin, die sich weigerte zu heiraten und der, so die Legende, wunderbarerweise ein Bart wuchs, als sie von ihren Henkern entblößt wurde.47 Die Begriffe »Übergang«, »Jungfrau«, »Braut«, »Maschine« standen nicht nur im Vordergrund von Marcel Duchamps Aufmerksamkeit und Interesse, sie waren sogar Themen in der Lokalpresse. Zur Zeit seiner Ankunft berichtete das Feuilleton der Münchner Neuesten Nachrichten von einem Pariser Heiratsschwindel. Eine junge Dame gab in einem Inserat vor, vermögend und auf der Suche nach einem Junggesellen zu sein. Sie erhielt 1500 Rückmeldungen, entpuppte sich jedoch als Mann.48 An Duchamps 25. Geburtstag am 28.07.1912 war die erste Feuilletonmeldung in den Münchner Neuesten Nachrichten die »Eroberung der Jungfrau«49. Gemeint war die Eröffnung der Jungfrauenjochstation der Jungfraubahn in den Berner Alpen.50 Gegen Ende seines Aufenthalts besuchte Marcel Duchamp wohl das Oktoberfest und die zeitgleich stattfindende Bayerische Gewerbeschau, die auch unterhaltsame Panoptiken zeigte. Nachbildungen des menschlichen Körpers sollten vordergründig der medizinischen Bildung dienen. Tatsächlich befriedigten sie aber ebenso die voyeuristischen Bedürfnisse. In aller Ausführlichkeit wurden Eingeweideformen und Geschlechtsteile in verschiedenen Zuständen gezeigt. Aus Gründen der Scham und der Zucht wurden die Wachsfigurenkabinette von Männern und Frauen getrennt besucht. Während des ganzen Sommers war Marcel Duchamp zudem unglücklich verliebt in Gabriele Buffet-Picabia, die Frau seines Freundes. Er unterbrach den Münchenaufenthalt für eine Nacht, fuhr 700 km zu einem kleinen Bahnhof in Frankreich, wo Gabriele auf einer Reise umsteigen musste. Sie trafen sich heimlich, er gestand ihr seine Gefühle. Die Liebe blieb jedoch unerwidert und er fuhr direkt zurück nach München.51

47 Vgl. Mink 1994, S. 34. Hier besteht eine Analogie zur Braut des Großen Glases als ein entblößter, weiblicher Gehenkter. 48 Vgl. Münchner Neueste Nachrichten, 19.06.1912, S. 2-3, in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 136. 49 Münchner Neueste Nachrichten, 28.07.1912, S. 2, in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 137. 50 Sie liegt etwa 700 Meter unter dem Gipfel des gleichnamigen Berges und gilt noch heute als höchste Eisenbahnstation Europas. Vgl. Girst in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 137. 51 Vgl. Girst in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 137.

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Abbildung 15: Braut

Quelle: © The Estate of Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2016 1912, Öl auf Leinwand, 89,5 x 55,25 cm Philadelphia Museum of Art Sammlung Louise und Walter Arensberg

In München entstanden auch Ölmalereien, die den Weg für das GROßE GLAS bahnten. Sie thematisieren allesamt den Übergang, die ganz und gar erotisch durchwirkte Wandlung von der Jungfrau zur Braut. Darunter sein letztes kubistisches Gemälde BRAUT (1912), eine Weiterentwicklung von AKT, EINE TREPPE HERABSTEIGEND NR. 2. Formal markiert die BRAUT den Übergang zu einer Form des Ausdrucks, die sich anderen Schulen gegenüber nicht mehr verpflichtet, sondern völlig unabhängig ist. Auch die Farbigkeit ist verändert. Die Oberfläche hebt sich samten und mit ihrer warmen Farbgebung in Braun, Ocker und Korallenrot elegant von einem dunklen Hintergrund ab. Das Inkarnat lässt an die fleischfarbenen Tönungen von Cranach denken.52 Die Farben sind teilweise haptisch-sinnlich mit den Fingern aufgetra-

52 Vgl. Mink 1994, S. 37.

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gen.53 Im Vergleich zum AKT trägt die BRAUT nur wenige, gepunktete Bewegungslinien und ist still. In der Kombination von sinnlich-verschlungenen und mechanischen Formen fällt besonders ein insektenartiger Stachel auf, der in den linken unteren Bildrand sticht.54 Die BRAUT steht in Zusammenhang mit einem Alptraum, in dem ein riesenhaftes, käferähnliches Insekt Marcel Duchamp mit seinen Deckflügeln peinigte.55 Die BRAUT ist links unten auf dem Gemälde in Kapitalschrift signiert. Seit 1911 verwendete er diesen entpersonalisierten, mechanistischen Schreibduktus.56 Tatsächlich ist das dargestellte Motiv exakt die maschinenartige Braut des späteren GROßEN GLASES, hier mit leicht veränderter Proportion, Farbigkeit und Malweise. Später sagte Marcel Duchamp, dass ihm von seinen Gemälden die BRAUT das liebste sei. Er schenkte es noch 1912 Francis Picabia. Die Braut im GROßEN GLAS steht somit eindeutig im Zusammenhang mit den Erlebnissen in München und der unerfüllten Liebe zu Gabriele Buffet-Picabia. Im Oktober 1912 brach Marcel Duchamp zu einer weiteren Reise auf. Zusammen mit Francis Picabia, Gabriele Buffet-Picabia und Guillaume Apollinaire fuhr er per Auto in den Jura. Gabriele Buffet-Picabia beschrieb die Reise als »Ausflüge der Demoralisierung, die ebenfalls Ausflüge des geistreichen Geplänkels und der Clownerien waren … die Auflösung des Kunstbegriffs.«57 Apollinaire schrieb hinterher: »Vielleicht wird es einem derart von rein ästhetischen Belangen freien, derart um Energie bemühten Künstler wie Marcel Duchamp vorbehalten sein, Kunst und Volk wieder miteinander zu versöhnen.«58 Nach der BRAUT folgten 1913 vier letzte Gemälde – allesamt Ölstudien zu einem der Hauptelemente der Junggesellenmaschine, der SCHOKOLADENREIBE. (Abb. 16)59

53 Vgl. Tomkins 1999, S. 99. 54 Vgl. Mink 1994, S. 37. 55 Im selben Jahr verfasste Franz Kafka in Prag seine Erzählung Die Verwandlung. Vgl. Lebel, Robert: Marcel Duchamp, New York 1959, S. 73, zitiert in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 134. 56 Vgl. Girst in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 137. 57 Gabriele Buffet-Picabia, Some Memories of Pre-Dada: Picabia and Duchamp, 1949, in: Motherwell 1951, S. 257. 58 Eines der zentralen Anliegen der Moderne, vgl. Apollinaire 1956, S. 108. 59 Broyeuse de chocolat, Vgl. Girst in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 137.

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Abbildung 16: Schokoladenreibe, 1913

Quelle: © The Estate of Marcel Duchamp/VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Eine Schokoladenreibe mahlt die Kakaobohnen und conchiert die weiche Kakaomasse.60 Dabei entfalten sich die Aromen. Diesen sinnlichen Vorgang zu beobach-

60 In den sogenannten Conchen (Concha, span. für Muschel, frühere Form des Gerätes) wird die Schokoladenmasse erwärmt und gerieben. Dies geschah ursprünglich in flachen Be-

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ten, erweckt Fantasie und Begierde, stellt Genuss in Aussicht und nimmt ihn visuell vorweg. Kakao enthält Stoffe61, die auf den Organismus anregend und stimmungsaufhellend wirken. Der Glücksmoment des Schokoladengenusses ist durch die Inhaltsstoffe alleine jedoch nicht komplett schlüssig erklärbar, sondern hat auch psychische Komponenten. Wenn man Schokolade in besonderen Situationen isst – als Trost oder als Belohnung – gewinnt sie emotionale Bedeutung und erregt das Belohnungssystem des Gehirns. Allein die Aussicht auf den Genuss kann diesen erregenden Effekt erzeugen.62 Viele Menschen fühlen sich glücklich, beruhigt, getröstet oder befriedigt, wenn sie Schokolade essen. Sie erregt Auge, Nase, Lippen und Zunge. Ihr komplexes Aroma aus bitter, herb und süß, der zarte, warme Schmelz auf der Zunge, all dies kann geradezu ein olfaktorisch-gustatorisch erotisches Erlebnis sein, eine ästhetische Erfahrung der Sinne und der Imagination: Geschmacksbad, Schmelzen, Lust und Glück. Ein Moment der Verdichtung und Erfüllung, der jedoch verfliegt. Allein der Nachgeschmack und die Erinnerung bleiben. Marcel Duchamp hatte eine Schokoladenreibe im Schaufenster eines Süßwarenladens in Rouen in Betrieb gesehen. Das GROßE GLAS ähnelt von seinen Proportionen einem Kaufhausschaufenster. Schaufenster präsentieren verfügbare Konsumgüter, sind transparente Projektionsflächen, in denen sich die entkörperte Realität gleichsam wie das Hologramm eines Lebenstraums widerspiegelt. Tatsächlich schließt eine auf das Jahr 1913 datierte Notiz der WEIßEN SCHACHTEL mit der Anmerkung: »Nicht starrsinnig, weil absurd, den durch die Fensterscheibe vollzogenen Koitus mit einem oder mehreren Gegenständen in der Auslage verheimlichen. Die Strafe besteht darin, die Scheibe einzuschlagen und Wut und Bedauern zu empfinden, sobald der Besitz konsumiert ist. Q.E.D.« 63

hältern mit hin- und herpendelnden Walzen. Das Conchieren dauerte bis zu 90 Stunden. Vgl. Kuske 1939. 61 Z.B. das chemisch dem Koffein ähnliche Theobromin, das molekulare Grundskelett des Amphetamins Phenylethylamin, die Serotonin-Vorstufe Tryptophan, ein natürliches Antidepressivum, und das Cannabinoid Anandamid. Vgl. di Tomaso et al. 1996. Vgl. Bayer, Johanna: Schokolade macht glücklich! 25.11.2008 in: http://www.wdr.de/tv/ quarks/sendungsbeitraege/2008/1209/005_ernaehrung_2.jsp (29.01.2013). 62 Mehr dazu im Kapitel über den kreativen Prozess. Vgl. Bayer, Johanna: Schokolade macht glücklich! 25.11.2008 in: http://www.wdr.de/tv/quarks/sendungsbeitraege/2008/ 1209/005_ernaehrung_2.jsp (29.01.2013). 63 In: Mink 1994, S. 76.

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Die sinnlichen Konnotationen von Schokolade und der Schokoladenreibe im Schaufenster können somit als Metapher gelesen werden für diese Sehnsucht nach lustvollem Begehren und erfüllender Befriedigung, die jedoch gefangen ist in der Virtualität imaginierten Genusses. Zurück in Paris verdiente Marcel Duchamp sein Einkommen als Bibliothekar in der Bibliothèque Sainte-Geneviève64. Die Wissenschaft bot ihm reichlich Anregung.65 Der Kunsthistoriker Herbert Molderings macht deutlich, dass insbesondere der Physiker Jules Henri Pointcaré (1854-1912) Bedeutung für Duchamp und seine Epoche hatte. Pointcaré diagnostizierte eine ernste Krise der Wissenschaft, einen Paradigmenwechsel von der vermeintlichen Objektivität hin zur Subjektivität von Erkenntnis.66 Dieser grundsätzliche Zweifel an der Möglichkeit objektiver Erkenntnis, diese Philosophie des Agnostizismus67 führte zu einer Relativierung tragender Prinzipien und unterstrich besonders das Moment der Relationalität von Wirklichkeit: »Was die Wissenschaft erreichen kann, sind nicht die Dinge selbst, sondern es sind einzig die Beziehungen zwischen den Dingen; außerhalb dieser Beziehungen gibt es keine erkennbare Wirklichkeit.«68 Diese Aussage Pointcarés über die Relationalität der Wirklichkeit findet sich als ein Leitmotiv bei Marcel Duchamp. Menschliches Leben, seine Entwicklung und die Kunst fangen im Denken an. Gedanken sind Ausdruck der Beziehung zwischen den Dingen. Um seinen Geist zu erforschen, Gedanken und Denkkonzepte zu visualisieren und durch diese Erkenntnisprozesse Kunst und Leben zu verbinden, ging Marcel Duchamp weg von traditionellen künstlerischen Ausdrucksmitteln. An deren Stelle traten nun Zeichnen, ironische Texte und Experimente. Ein konkretes Experiment floss ein in die Komposition des GROßEN GLASES: die männischen Gussformen hängen an willkürlich verspannten Linien – den Kapillarröhrchen. Grundlage für die Platzierung und Anordnung der Linien war das NETZ DER STOPPAGEN (1914)69, das wiederum DREI KUNSTSTOPF-FADEN LÄN70 GEN NORMAL (1913/14) aufgriff. Letzteres war ein Experiment, für das Marcel Duchamp nach eigenen Angaben drei Fäden von einem Meter Länge aus einer Höhe von einem Meter auf bemalte Leinwände fallen ließ, wo sie drei zufällige wel-

64 Von Ende 1912 bis Mai 1914. 65 Vgl. Mink 1994, S. 43. 66 Vgl. Molderings 1987, S. 35-37. 67 Latinisierte Form des Altgriech.: nicht wissen, unbekannt, unerkennbar. 68 In: Molderings 1987, S. 35-37. 69 Résaux des Stoppages, Öl und Bleistift auf Leinwand, 148,9 x 197,7 cm, The Museum of Modern Art New York. Vgl. Molderings 2006. 70 Trois Stoppages-Étalons. Ein Kasten, der eine Idee enthält, eine Anwendung dieser Idee und das Gesetz, das daraus resultiert.

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lenförmige Linien erzeugten. Diese Linien übertrug der Künstler auf Holzlatten und erklärte sie zu Urmaßwerkzeugen, die neue, willkürliche Normen schafften. Will man dieses Experiment empirisch nachstellen, kommt man selbst unter Anwendung verschiedener Fadenstärken auf völlig abweichende Falllinien, die eher Knäueln ähneln. Es wird klar, dass es sich bei der Versuchsbeschreibung um einen Fake oder eine scherzhafte Hypothese handelt. Marcel Duchamp bezog sich dabei explizit auf Alfred Jarrys Konzept der ’Pataphysik.71 Beim NETZ DER STOPPAGEN nahm er eine größere, unvollendete Version von JÜNGLING UND MÄDCHEN IM FRÜHLING und zeichnete einen Entwurf des GROßEN GLASES mit Bleistift darüber. In dieser alten Paradiesvision sind die männlichen und weiblichen Bereiche noch nicht völlig getrennt. Dann drehte er die Leinwand um 90° im Gegenuhrzeigersinn auf die Seite. Mit den pataphysischen Stoppagen-Messeinheiten vermaß er den Bildraum, zog sich verzweigende Linien von der rechten unteren Ecke nach links oben. Die Kreise und Zahlen auf den Linien markieren die Stellen der späteren neun männischen Gussformen, während die Linien selbst zu neun Kapillarröhrchen werden. Im GRO-

71 Die Stoppagen beschreibt er als »casting a pataphysical doubt on the concept of the straight line as being the shortest route from one point to another« Duchamp zitiert in: Henderson 1998, S. 62. ’Pataphysik: ein Wortspiel mit den homophonen Formulierungen patte à physique, pas ta physique und pâte à physique. Dahinter steht ein absurdistisches Konzept der Wissenschaft des Einzelfalls und der imaginären Lösung nicht vorhandener Probleme, ein künstlerisches Paralleluniversum und der Beleg für die Vereinbarkeit des Unvereinbaren. Eine Erkenntnis der ’Pataphysik ist die Formel zur Berechnung der Oberfläche Gottes: Gott sei der kürzeste Weg von Null bis Unendlich. Die ’Pataphysik präsentiert sich als scheinbar logische Erweiterung der Wissenschaft und Philosophie: »Die ’Pataphysik steht zur Metaphysik so wie die Metaphysik zur Physik.« So legt es der französische Dichter und Bohemiens Alfred Jarry (1873-1907) seiner absurden Romanfigur, dem Erfinder Doktor Faustroll, in den Mund. Erst nach seinem Tod veröffentlicht, kann Jarrys Werk »Heldentaten und Lehren des Dr. Faustroll [Pataphysiker]« als sein Vermächtnis gelten. Es verbindet Autobiographisches mit poetischer Erfindung und koboldscher Burleske, technische Fiktion mit philosophischer Reflexion. Vgl. Jarry 1968. Die literarische Idee der ’Pataphysik inspirierte viele Künstler und Schriftsteller. 1948 kam es zur Gründung des Collège de ’Pataphysique. Prominente Mitglieder waren hauptsächlich Künstler, Musiker und Schriftsteller, wie Jean Baudrillard, Umberto Eco, Max Ernst, Jean Dubuffet, Marcel Duchamp, Joan Miró, Man Ray und Harald Szeemann. In den 1960er Jahren wurde ’Pataphysik als konzeptualistisches Prinzip benutzt. Zufall und gezielte Beliebigkeit, wie in Werken von Marcel Duchamp und John Cage, stehen in ’pataphysischer Tradition. Sprachspiele wie Palindrome sind ein anderes von ’Pataphysikern gerne verwendetes Prinzip. Vgl. Ferentschik 2006.

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GLAS sind die Stoppagen-Linien auf die untere Domäne der Junggesellen begrenzt.72 Als pataphysisches Werkzeug transportieren sie die erotische Energie bzw. das Ejakulat der Junggesellen hinüber zu den Sieben. Als absurdistisches Urmaß vermessen sie das GROßE GLAS und beschreiben im übertragenen Sinn den irrationalen Beziehungsraum zwischen Mann und Frau.73 Durch das spielerische bzw. hypothetische Experiment werden Normen transformiert. Das Stilmittel des (imaginierten) Zufalls tritt an die Stelle bewusster Kontrolle. Die neun Bohrlöcher in der Domäne der Jungfrau entstanden tatsächlich nach dem Zufallsprinzip. Marcel Duchamp hatte in Farbe getauchte Streichhölzer dorthin katapultiert.74 ßEN

Mithilfe der künstlerischen Strategie des Zufalls arbeitete Marcel Duchamp zwischen 1912 und 1915 auch an verschiedenen musikalischen Ideen, von denen zwei Kompositionen und eine Notiz für ein musikalisches Happening überliefert sind. Bei der Klang-Skulptur SCULPTURE MUSICALE (1913) laufen sechs räumlich angeordnete Spieluhren gleichzeitig ab. Musik geht hier von einer zeitlichen in eine räumliche Kunstform über.75 Bei dem unvollendeten, dreistimmigen Musikstück DIE BRAUT VON IHREN JUNGGESELLEN NACKT ENTBLÖßT, SOGAR. ERRATUM MUSICAL (1913) handelt es sich um eine Komponiermaschine. Nummerierte Bälle liegen in einem Trichter, unter dem eine Kette von offenen Spielzeugwägen rollt. Die zufällige Reihenfolge, in der die Bälle in die Wägen fallen, bestimmt die Komposition.76 Hier nahm Marcel Duchamp eine Zufallsanwendung vorweg, die Jahrzehnte später John Cage wiederentdecken und weiterführen würde.77

72 Vgl. Mink 1994, S. 45-48. 73 Vgl. Williams, Jonathan: Pata or Quantum: Duchamp and the End of Determinist Physics, Dezember 2000, http://www.toutfait.com/issues/issue_3/Articles/williams/williams. html (17.04.2013). 74 Vgl. Stauffer 1994, S. 103. 75 Vgl. John Cage in: Interview, New York 2.4.1991. https://www.youtube.com/watch? v=pcHnL7aS64Y (17.5.2015). 76 1934 in der Grünen Schachtel veröffentlicht. According to the manuscript, the piece was intended for a mechanical instrument »in which the virtuoso intermediary is suppressed«. The manuscript also contains a description for »An apparatus automatically recording fragmented musical periods«, consisting of a funnel, several open-end cars and a set of numbered balls. Vgl. Petr Kotik. Liner Notes der CD The Music of Marcel Duchamp, Edition Block + Paula Cooper Gallery 1991. 77 Vgl. Fuhrmann, Wolfgang: König Zufall regiert. Musik von Marcel Duchamp beim Podewil-Festival »x-tract Sculpture Musicale«, in: Berliner Zeitung vom 08.04.2003, http://www.berliner-zeitung.de/archiv/musik-von-marcel-duchamp-beim-podewil-

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Während Marcel Duchamp das Formenrepertoire für das GROßE GLAS entwickelte, gab er die Malerei schließlich völlig auf. Es entstanden die ersten Readymades78. Abbildung 17: Rotierende Glasplatten (Optisches Präzisionsgerät, 1920)

Quelle: © The Estate of Marcel Duchamp / VG Bild-Kunst, Bonn 2016 120,6 x 184,1 cm und 99 x 14 cm Glasplatte Yale University Art Gallery New Haven

Beim FAHRRAD-RAD (1913) montierte er Gabel und Rad eines Fahrrads umgekehrt auf einen Schemel, stellte das kinetische Objekt in sein Pariser Mansardenatelier, drehte und betrachtete es. Das Rad dreht sich immerzu – wie die Schokoladenreibe. Die Bewegung schafft einen visuellen Anziehungspunkt, absorbiert die Wahrneh-

festival--x-tract-sculpture-musicale--koenig-zufall-regiert,10810590,10078490.html (14.05.2015). 78 Vgl. Mink 1994, S. 49-60.

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mung, während man mitunter an etwas anderes denkt. Das Werk erzeugt und thematisiert die Faszination der Bewegung sowie die Immersion einer Trance – einen wertfreien Transitzustand im Gleichgewicht von Bewusstsein und Unbewusstsein. Die phonetische Collage von »roue« (Rad) und »selette« (Schemel) zu »Rousselette« macht es außerdem zu einem kleinen, ironischen Portrait von Roussel, dem Autor der bereits erwähnten Afrikanischen Impressionen. Die im FAHRRAD-RAD thematisierten, trance-artigen Auswirkungen der Bewegung auf die Wahrnehmung setzten sich fort in weiteren »technischen Spielereien«79. So auch die ROTIERENDEN GLASPLATTEN (OPTISCHES PRÄZISIONSGERÄT) von 1920 (Abb 18). Fünf bemalte Glasplatten drehen sich um eine Metallachse. Ähnlich einem Flugzeugpropeller bilden sie aus einem Meter Entfernung betrachtet einen einzigen Kreis. Im GROßEN GLAS findet dieser Effekt Anklang in den transparenten Ornamentscheiben und dem Kreis der rechten Domäne der Junggesellen. 1914 kaufte Marcel Duchamp ein Haushaltsflaschengestell, einen industriell erzeugten Gebrauchsgegenstand, und stellte ihn in sein Atelier, ohne jemals Flaschen aufzustecken. Losgelöst von der Funktion hat die Form des FLASCHENTROCKNERS eine ganz eigene Charakteristik. Sie mag an einen Rock erinnern. Die einzelnen Trocknerdornen stechen phallisch empor. Allerdings bleibt dies in einer funktionalen Sehweise gleichsam unsichtbar. Erst die Geste des Signierens dekontextualisiert den Gegenstand, enthebt ihn seiner alten Bedeutung und schafft Platz für Assoziationen. Das FAHRRAD-RAD und der FLASCHENTROCKNER wurden konzeptionell erst 1916 zu Readymades erklärt. Das erste explizit gemachte Readymade war eine Schneeschaufel: DEM GEBROCHENEN ARM VORAUS (1915). Am meisten Aufsehen erregte jedoch die FONTÄNE. Im Jahr 1917 wurde nach dem Vorbild des Pariser Salon des Indépendants in New York eine Society of Independent Artists gegründet, dessen Vorstand und Ausstellungsjury Marcel Duchamp angehörte. Wer sechs Dollar zahlte, durfte zwei Arbeiten einreichen. Unter dem Pseudonym R. Mutt reichte Marcel Duchamp anonym etwas ein – nämlich ein Urinal mit Titel FONTAINE, um 90° gekippt und auf einen Sockel gelegt, sodass die Öffnung nach oben zeigte – der Form einer Vagina nicht unähnlich. Die Fantasie des Betrachters hat es nicht schwer sich vorzustellen, wie der männliche Penis zu dieser Form in Beziehung tritt. Das Werk wurde lange Marcel Duchamp selbst zugeschrieben, doch tatsächlich scheint es ein Geschenk einer Freundin, der DADA-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven, gewesen zu sein.80 Allein das Pseudonym spannt einen komple-

79 Duchamp zitiert in: Blunck 2008, S. 155. 80 Die exzentrische Berliner Varietee-Tänzerin und Performance-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven (1874-1927) war in den 1920er Jahren die DADA-Ikone New Yorks, wo sie von 1913-1923 lebte, um sich künstlerisch auszuleben. Sie war in ihrer Wildheit ein großer Einfluss Marcel Duchamps. Beispielsweise trug sie einen Vogelkäfig auf dem

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xen Bezugsrahmen auf: dem Komitee mag dreckiger Köter (engl. mutt) in den Sinn gekommen sein, oder die Comicfiguren Mutt and Jeff . Das R. mag für Richard stehen, was im Französischen Argot (Slang, im Sinne von Gaunersprache) bedeutet.81 Die anonyme Einsendung dieses frechen, subversiven Werks führte zu einem Kunstskandal, denn sie verstieß gegen alle Regeln der traditionellen Kunst. Damit provozierte sie die Zurückweisung durch die Jury, der Duchamp selbst angehörte. FONTÄNE wurde auch zum kalkulierten Medienereignis. In der Zeitschrift The Blind Man, die von Marcel Duchamp, seiner Freundin Beatrice Wood und Henri-Pierre Roché herausgegeben wurde, verteidigte man den Fall R. Mutt: es handle sich um kein vom Künstler geschaffenes, sondern von ihm ohne jedes ästhetische Vorurteil ausgesuchtes Alltagsobjekt. R. Mutt habe allein durch seine Wahl einen neuen Gedanken für das Objekt geschaffen. Darin bestehe der künstlerische Akt. 82 Die Readymades werden oft losgelöst vom GROßEN GLAS betrachtet, da sie spontan als individuelle Objekte entstanden. Tatsächlich dienten frühe Readymades als Prototypen für Elemente des GROßEN GLASES, weil sie dessen Idee im Raum von Marcel Duchamps Atelier visualisierten. In einer Skizze für die Braut taucht der FLASCHENTROCKNER gestülpt auf seine Dornenkrone wieder auf, wo er als Modell für den Sex-Zylinder dient. Aus der Schneeschaufel werden im GROßEN GLAS die drei schwebenden Flächen der Milchstraße. Die Gemälde der Schokoladenreibe können als Bilder eines Readymades verstanden werden, das Marcel Duchamp nicht kaufte.83 Auch die Braut gleicht einem Readymade. Oder ist vielmehr eine ready maid (deutsch: bereite Jungfrau)84. Die Übertragung der in warmen Farbtönen gemalten BRAUT auf das GROßE GLAS sollte ursprünglich direkt mittels fotomechanischer Reproduktion erfolgen, scheiterte jedoch an der technischen Umsetzung. Dem Urheberverständnis entzog sich Marcel Duchamp nicht nur, indem er Alltagswaren mit Pseudonymen signierte. Er erschuf auch ein weibliches Alter Ego – RROSE SÉLAVY. In ihr fanden die androgynen Elemente seines Werkes 85 ihre Personifizierung. Später berichtete er: »Damals war Rose ein blöder Name. Das Doppel-

Kopf, riss bei Ausstellungen Bilder von der Wand und stellte sich stattdessen selbst hin. Sie erklärte noch vor Marcel Duchamps Readymades auf der Straße gefundene Objekte zur Kunst. Deshalb wurde sie »Terror Of The District« genannt. Vgl. Higgs, John: Was Marcel Duchamp's 'Fountain' actually created by a long-forgotten pioneering feminist? In: Higgs 2015. 81 Vgl. Mink 1994, S. 63/64. 82 Vgl. Mink 1994, S. 67. 83 Vgl. Mink 1994, S. 60. 84 Readymade gleichlautend mit ready maid, vgl. Zaunschirm 1983. 85 Z.B. in Jüngling und Mädchen im Frühling, dem Flaschentrockner und Fountaine.

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R hängt mit dem Bild von Picabia Das Kakodylsaure Auge (OEil Cocadylate) zusammen, das in der Bar »Le Boef sur le Toit« hängt… und das auf Picabias Wunsch alle seine Freunde signierten… Ich glaube, ich schrieb … Pi Qu’habilla Rrose Sélavy. (Phonetisch gelesen: Picabia l’arrose c’est la vie).«86 Auch wenn das GROßE GLAS und die Readymades keine offenkundig sexuelle oder erotische Wirkung haben – spätestens eines der Wortspiele hinter RROSE SÉLAVY verweist darauf, dass Sexualität und die erotische Verbindung zwischen Mann und Frau Marcel Duchamps zentrale Themen sind: Eros c’est la vie (Eros, das ist das Leben).87 Im GROßEN GLAS scheint der Orgasmus – die selbstentgrenzende Transzendierung im erotischen Liebesspiel – eine zentrale metaphorische Bedeutung zu übernehmen. Das Überwinden von Selbstkontrolle, die Entfesselung der Fantasie aus dem Unbewussten an die Oberfläche, Einsichten in eine transzendente Wirklichkeit, all dies rückt eine Orgasmus-Erfahrung in die Nähe der spirituellen Mystik. In der Sphäre der Braut mag die Wolke mit ihren drei altarbildhaften Durchblicken auf solche orgasmischen Transzendierungen verweisen. Die Metaphorik des erotischen Orgasmus als Erkenntniserfahrung verdeutlicht eine spätere Aussage Marcel Duchamps: »Ich möchte die Dinge mit dem Verstand genauso erfassen, wie der Penis von der Vagina erfasst wird.«88 Sein Verstand ist der Penis, die Dinge der Welt und Erfahrungen des Lebens sind die Vagina. In der Beziehung von Penis und Vagina ereignet sich der Orgasmus, entsteht neues Leben, Weiterentwicklung der Schöpfung. Dieses Sprachbild verdeutlicht Duchamps kreative Grundhaltung einer gleichsam erotischen Liebesbeziehung zum Leben, in dem Erkenntnisprozesse einem Geschlechtsakt gleichen: die erfüllende und bewusstseinserweiternde Vereinigung von Körper, Geist und Empfindung mit den Erfahrungen des Lebens, wo Fragen zu Antworten werden. Aus den Bausteinen Transit, Maschinenraum, Schaufenster, Liebesspiel lässt sich folgender inhaltlicher Deutungsversuch anstellen: Das GROßE GLAS präsentiert einen zunächst nüchternen, analytischen Blick auf Geschlechterverhältnisse und deren kommunikative Interaktion. In tiefen Schichten fokussiert er die zutiefst persönliche, sinnliche und übersinnliche universelle Erfahrung der menschlichen Sexualität, das Begehren eines Idealzustands, das Sehnen nach Auflösung der Grenzen zwischen Ratio und Emotio, zwischen Ernst und Spiel, Wirklichkeit und Traum, zwischen Ich, Du und Welt, die Transzendierung des Bewusstseins im Dazwischen

86 In: Mink 1994, S. 71. 87 Vgl. Mink 1994, S. 73. 88 In: Mink 1994, S. 84.

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der Einheitserfahrung, die Sehnsucht nach Erfüllung in Ekstase, Freiheit und Liebe, in der Intensität des gemeinsamen Orgasmus. Die Liebesmaschine ist jedoch auch eine Leidensmaschine. Die Vierdimensionalität einer Braut ist nur eine zweidimensionale Vision auf flachem Glas, gleich einem imaginierten Hologramm.89 Es thematisiert ein koitales Nebeneinander von Maschinenmenschen, deren tiefstes Begehren aufgrund der Trennung virtuell bleiben muss und sich nicht in der Vereinigung erfüllen kann. Sowohl die Junggesellen als auch die Braut scheinen, so Mink 1994, nur die Möglichkeit zur Masturbation zu haben.90 Die Begierde verharrt in einer Schaufensterprojektion. Vielleicht sind die Begierde und Virtualität der Fantasie selbst schon die größte Lust? Vielleicht bereiten sie größere Lust und Intensität als das real physische Erleben? Vielleicht ist Vorfreude wirklich die schönste Freude? Ist ihre sinnliche Erfüllung nur ein Abklatsch, der die in der intensiven Imagination vorweggenommene Befriedigung nicht stillen kann? Denn die antizipierte Befriedigung flaut ab, sobald sich die Sehnsucht materialisiert. Bleiben tiefe und dauerhafte Erfüllung verwehrt? Eine Metapher für die unerklärliche Unmöglichkeit des logischen Verstehens der erotischen Einheit von Frau und Mann?91 Jedenfalls geht es um die lustvolle Vieldeutigkeit der Fantasie, die Macht des Eros und den schöpferischen Aspekt des Denkens. In all dem wird Kunst zu Leben und Leben zur Kunst. Die Frage nach dem Mysterium des Menschen bleibt offen. Das Bedürfnis nach schlüssiger Eindeutigkeit wird nicht befriedigt. Das GROßE GLAS bleibt ein in sich prozesshaftes Werk, das Lebenserfahrung synthetisiert. Marcel Duchamp legte sich nicht auf ein singuläres Konzept fest, sondern bastelte über Jahre an dem Werk herum, sodass sich die Bedeutungen überlappen. 92 Janis Mink bringt es auf den Punkt: »Dreht man das Kaleidoskop der Interpretation nur ein wenig, so fügen sich die Mosaiksteinchen von Duchamps Leben und Schaffen wieder zu einem neuen Muster.«93 Es gibt keine endgültige Position. Besonders an den SCHACHTELN wird deutlich, dass sie aus offenen Gedankengefügen bestehen – eine radikal andere Vorstellung von Kunst als die eines mit seiner Präsentation abgeschlossen Werkes. Dies zeigt auch die Integration der Bruchlinien ins Konzept des GROßEN GLASES. Dennoch ist Marcel Duchamps Gesamtwerk in sich sehr schlüssig. Seine Arbeiten spiegeln, reflektieren und projizieren sich alle gegenseitig. Alles ist gleich einem Hypertext miteinander vernetzt, bezieht sich aufeinander,

89 Vgl. Marcel Duchamp in einem Interview mit Richard Hamilton, BBC, 1959, in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 137. 90 Vgl. Mink 1994, S. 77. 91 Vgl. Mink 1994, S. 45-48. 92 Das geht aus den Notizen der Grünen Schachtel hervor. Vgl. Mink 1994, S. 73. 93 Mink 1994, S. 8.

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verweist aufeinander: ein Geflecht, das gleich einem Spiegelkabinett Beziehungen herstellt und reflektiert. Im Denken, Erleben und Fantasieren, im spielerischen Experiment, im Zufall, im Schachspiel und im Geschlechtsakt – Marcel Duchamp thematisierte jeweils eine Erfahrung der Entgrenzung, die Einheit von Ratio und Emotio, der Koppelung von Geist und Körper und der daraus resultierenden Immersion in Lebensintensitäten und Erkenntnisprozessen. Die Unermesslichkeit der Transzendenz brach Marcel Duchamp wiederum durch ein verschleierndes Stilmittel: die spielerische Haltung ironischen Humors. Das GROßE GLAS nannte er selbst ein »tableau hilarant«94, Lachbild. Tatsächlich führte ein ganzes Geflecht an Einflüssen zu diesem vielschichtigen Werk. Die Summe der Teile macht das GROßE GLAS zu einer Bildsynthese für unerfülltes Begehren, zu einem Bildnis von Menschsein im Allgemeinen und zu einem Selbstportrait Marcel Duchamps kreativer Persönlichkeit im Besonderen – bzw. zu einer Synthese seines Selbst-, Menschen- und Weltbildes und dem Ringen darum, seine Lebensfragen und -erfahrungen zu bannen. Das GROßE GLAS begann Marcel Duchamp zunehmend zu langweilen, denn er hatte den Eindruck, sich selbst zu reproduzieren. 1923 stellte er die Arbeit daran ein und erklärte es für unvollendet. Beim Rücktransport von einer Ausstellung 1926/1927 im Brooklyn Museum ging die Scheibe des Glases versehentlich zu Bruch. Duchamp nahm den Schaden gelassen hin und reparierte ihn 1936 selbst. Die zufällig entstandenen, sichtbaren Bruchlinien gefielen ihm und er integrierte sie in sein Werkkonzept.95 Aus den Sprüngen des Glases ergibt sich ein Seherlebnis von abwechselnd transparenten und undurchsichtigen Partien: Durchblick und Verweigerung. Diese Seherfahrung ähnelt dem unvollendeten Entschlüsselungsversuch der Darstellung. Das zerbrochene Schaufenster ermöglicht eine Erfahrung der Selbstreflexion, wenn es auch eine gebrochene Spiegelung ist, eine Metaerfahrung des Sehens und Denkens. Der Werkinhalt ist zugleich Idee und Darstellung, Konzept und künstlerische Methode. Gerade in den Brüchen der subjektiven Determiniertheit bzw. Begrenztheit entsteht Offenheit für eigene Fantasien. 1.1.5 Resümee Dem GROßEN GLAS liegt ein biografischer Wendepunkt zugrunde. Zentraler Schauplatz hierfür war München. Rückwirkend nannte Marcel Duchamp München den

94 In: Friedel/Girst et al. 2012, S. 151. 95 Vgl. Mink 1994, S. 84.

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»Ort meiner völligen Befreiung«.96 Er wandte sich ab von der avantgardistischen Tendenz zur »Entliterarisierung der Malerei«97, die lediglich die malerischen Mittel selbst ins Zentrum stellte,98 um sie wieder »in den Dienst des Geistes zu stellen.«99 Dies geschah unter folgenden Rahmenbedingungen: • Eine innere Tabula Rasa auf der Grundlage des krisenhaften Transitzustands, ein

biografisches Niemandsland, in dem alte Werte nicht mehr galten und neue noch nicht etabliert waren. • Entdeckerische Lebenslust, gesteigerte Intensität des Erlebens, wissenschaftliche und künstlerische Anregungen, sinnliche, intellektuelle und emotionale erste Male in einem neuen Lebensumfeld. Für ihn war München also eine liminale Zeit und ein Ort des Übergangs. Reisen war eine Bewusstseinserweiterung und Selbstinitiation. Zur Folge hatte der Aufenthalt sowohl eine persönliche Selbstermächtigung und Entgrenzung wie auch eine grundsätzliche Erweiterung des Kunstbegriffs.100 Duchamps künstlerisch-kreative Erkenntnis-Methode war die Bricolage. Zu künstlerischem Material kann alles werden, was wahrgenommen, gesehen, gehört, vorgestellt, gedacht und getan werden kann.101 Der Intellekt ist inspiriert von autobiografischen Alltagserfahrungen, erforscht sie mit sezierendem Blick und sezierendem Denken. Perspektivenwechsel schafft Relativierungen, Konstruktionen und Dekonstruktionen. Das Spiel mit maskierten Identitäten schafft vermeintlich absurde und verwirrende Narrationen. Analogien, Wortspiele, Metaphern und Provokationen synthetisieren menschliche Bedürfnisse.102 Nicht zuletzt der Zufall hilft, Selbst-Wirklichkeit zu ergründen und zu bannen. Den gängigen Kunstbegriff entgrenzte Marcel Duchamp besonders durch die Einführung des »schon gemachten« (engl. ready made) Gegenstands in die Kunst.

96

Duchamp anlässlich einer Vortragsreihe durch US-amerikanische Museen und Universitäten 1963-1964 im Rahmen seiner Ausführungen über die dort entstandene Braut. Vgl. Girst in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 136.

97 98

Molderings 2006, S. 16. »Man dachte an nichts anderes als an den physischen Aspekt der Malerei. Keine Idee von Freiheit wurde gelehrt. Keine philosophische Anschauung wurde in sie hineingebracht.« Duchamp in: Molderings 2006, S. 16-18.

99

Duchamp in: Molderings 2006, S. 16.

100 »Kunst oder Antikunst, das war die Frage, vor der ich 1912 nach meiner Rückkehr aus München stand.« Duchamp in: Molderings 2006, S. 16. 101 Vgl. Dimke in: Brandstätter et al. 2008, S. 9. 102 Vgl. Rappe in: Friedel/Girst et al. 2012, S. 151.

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Die Readymades sind visuelle Ideen- und Materialsammlungen auf dem Weg zum GROßEN GLAS, Bedeutungsverdichtungen und -öffnungen, Grenzsprengungen in einen neuen Kunstbegriff hinein, der Denken als eine Form des künstlerischen Handelns versteht. Die humorvolle Lust zur Provokation kann dabei gleichzeitig als eine sehr persönliche, selbstreferenzielle, radikale Suche nach Erkenntnis gedeutet werden. Das Readymade FONTÄNE ist heute ein zentrales Werk der Kunstgeschichte, Schlüsselwerk der Moderne und Geburtswerk der Konzeptkunst. Es beansprucht auf spielerisch ironische Weise einen Kunstbegriff, auch wenn es nicht dem HandWerk des Künstlers, sondern vielmehr seinem Denk-Werk entspringt. Der Künstler ersetzt den materiellen Schaffensakt durch einen immateriellen Auswahl- und anschließenden Kaufakt, vereinnahmt das Ding durch die Geste der Signatur und präsentiert es im Rahmen der Kunst dekontextualisiert bzw. zweckentfremdet. Damit verschiebt und entgrenzt er die Bedeutung und verwandelt das gewöhnliche Ding in einen offenen Raum des Denkens, Imaginierens und der Poesie des Betrachters. Indem Marcel Duchamp Alltagsgegenstände auf einen Sockel hebt, stößt er gleichzeitig die häufig elitär hochstilisierte Kunst vom Sockel herunter und trägt zur Demokratisierung von Kunst und zu neuen Zusammenhängen in der Verbindung von Kunst und Leben bei. Dies stellt nicht nur alle vorherigen Kunstbegriffe infrage, sondern erweitert zudem den Autorenbegriff. Bis zur Moderne hatte die Malerei dem Darstellen von Narrativen gedient. Die Impressionisten, die Fauves und Kubisten thematisierten jedoch vielmehr den Eigenwert von Form und Farbe. 103 Marcel Duchamp nannte das retinale Kunst104, die nur den auf oberflächliche Befriedigung ausgerichteten, physischen Sinneseindruck beträfe. Ihm ging es hingegen um die Verbindung von sinnlichen und intellektuellen Herausforderungen, sowie um die Befriedigung des Geistes und der Imagination – ähnlich dem Erleben im Schachspiel. Er tilgte alle handwerklich virtuosen Aspekte individueller künstlerischer Arbeit. Seine Readymades entsprechen eher einer komplexen Ideenkunst, die nicht primär visuell ist. Der Flaschentrockner EGOUTTOIR klingt im Französischen wie egouter – etwa: den Geschmack austreiben. Die Readymades kritisieren den normierten Geschmack. Sie wollen weder dem guten noch dem schlechten Geschmack entsprechen, weder gefallen noch missfallen, sondern gleichsam geschmacksneutral sein. Ziel ist die visuelle Indifferenz105 des Rezipienten, eine allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen und der Welt, die die Dinge ohne praktischen Zweck und Nutzen betrachtet. Gleich-gültig im wörtlichen Sinne, also ohne Vorannahmen, einnehmende Bewertungen und Kategorisierungen. Dieser reine, vorurteilsfreie Blick eines ersten Mals ist Voraussetzung, noch unbekannte Bedeutungen zu entde-

103 L’art pour l’art, Kunst um der Kunst willen 104 Kunst für die Netzhaut 105 Vgl. Nemeczek 1999, S. 50 f., S. 148 f.

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cken und somit kreativer Mitkünstler des Werkes zu sein. Hinter Marcel Duchamps Abneigung gegen rein ästhetische Kunstformen steckt also ein lebendiger Glaube an die Poesie, an Zusammenhänge zwischen Leiden, Liebe und kreativer Schaffenskraft.106 Es ist eine herausfordernde Poesie der Offenheit auf den Rezipienten hin. Dieser steht der ihm unbekannten Empfindungswelt des Künstlers gegenüber, wird mit Vorstellungen konfrontiert, die keiner narrativen Deutung zugänglich sind. So muss er in sich selbst nach Orientierungspunkten suchen. Marcel Duchamp nahm alle Interpretationen seiner Kunst unkommentiert hin. Sie interessierten ihn als schöpferische Leistungen der Rezipienten, nicht aber als unbedingte Wahrheiten.107 Duchamps kunst- und künstlertheoretische Reflexionen galten der Bedeutung des Rezipienten für das Werk. Herbert Molderings bewertet Duchamps Kunst als »eine Kunst, die Fragen stellt, keine Kunst, die, weil sie die Antworten bereits kennt, die gegnerische Position verhöhnt.«108 Im Gegensatz zur retinalen Kunst und der Dominanz von Visualität verfolgte Marcel Duchamp also ein ganz anderes Konzept von Wahrnehmung – nämlich die kreative Fantasie des Betrachters, der selbst Bedeutung ins Werk legt und es mit Assoziationen auflädt. Es geht um einen tiefschichtig hedonistischen, erkenntnisreichen Genuss innerer, eigener Bilder und Gedanken. Den Freiraum für Poesie eröffnet das Zusammenspiel von üblichen Konnotationen mit den sich in Wortspielen und Dekontextualisierungen neu ergebenden, polyvalenten Bedeutungen und der Variable des Rezipienten. Er schafft die Bilder, sie entstehen in ihm, in Kommunikation mit dem Werk. So ist er stets Teil des Werkes. Daraus ergibt sich ein bilateraler Künstlerbegriff. Letztlich verleugnet dieser Ansatz die Objektivität der Kunstwissenschaften, die eindeutige Definierbarkeit von Kunst, und führt auf die Demokratisierung der Kunst zu.109 Seiner eigenen Braut gab Marcel Duchamp 1927 einen Rat, als sie ihn nach der Bedeutung von Picabias Hochzeitsgeschenk fragte: »Ein Künstler drückt sich mit seiner Seele aus, es muss mit der Seele aufgenommen werden. Das allein zählt.«110 Dieses Zitat verdeutlicht, dass Marcel Duchamp dem Rezeptionsvorgang einen zentralen Anteil in der Werkgenese zugestand. 111 Das GROßE GLAS kann als ein künst-

106 Vgl. Mink 1994, S. 76. 107 Vgl. Mink 1994, S. 8. 108 Herbert Molderings in: Blunck 2008, S. 25/26. 109 Hier greift er Joseph Beuys vor. 110 In: Mink 1994, S. 73. 111 Hier nimmt Marcel Duchamp rezeptionsästhetische Denkansätze vorweg, wie sie der Poststrukturalist Roland Barthes später in seinem literaturtheoretischen Aufsatz Der Tod des Autors von 1967 pointieren wird. Dessen These besagt, dass der Sinngehalt

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lerisches Manifest der antiretinalen Haltung gelesen werden. Um seine Unabhängigkeit vom Kunstsystem zu betonen, wählte sich Marcel Duchamp die Bezeichnung »an-artist«112 – Nicht-Künstler. Viele Künstler nahmen die Gedanken des Readymades auf und gewannen ihm neue Aspekte ab, darunter Robert Rauschenberg und Andy Warhol. John Cage nutzte das Prinzip des aleatorischen Zufalls als musikalisches Kompositionsprinzip. Marcel Duchamp gilt als Vater der Konzeptkunst113, Wegbegleiter des Dadaismus und Surrealismus114. Tabelle 3: Marcel Duchamp Ausgangspositionen

Netzwerkstrukturen Subjektive Erfahrung

Künstlerisch-kreative Strategien Entgrenzungsphänomene

Unkonventionelle Unangepasstheit, Drang nach Unabhängigkeit, multiple Interessen, Vorbereitende Auseinandersetzung, Krise, Bruch mit Bisherigem, Suche nach neuen Orientierungspunkten, prägende Begegnungen mit anderen Kunstgattungen und Künstlerpersönlichkeiten, Reiseerfahrung: kraftvolle Inspirationen an einem besonderen Ort in einer besonderen Zeit, Beschäftigung mit der Beziehung von Mann und Frau, Nähe und Distanz, Bewegung und Übergang Vernetzung von Kunstformen, Reisen, Schachspiel Erkenntnissuche, Künstlerische Neuorientierung im Kontext einer Krise, Kunstschaffen als Metaerfahrung des Denkens Künstlerisch-forschende Experimente mit dem Zufall, Verbindung von Emotion und Kognition im assoziativen Spiel Indifferenz, Kunst als offener Raum des Denkens, Denken als Form künstlerischen Handelns, entgrenzte Autorschaft und Demokratisierung der Kunst

Quelle: Johanna G. Eder

eines Werkes unabhängig vom Autor im Rezeptionsprozess erzeugt werde. Vgl. Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Fotis et al. 2009, S. 185-193. 112 Dimke, Ana: Duchamp KuenstlerTheorie 2001, http://www.duchamp.kuenstlertheo rie.de/ (03.02.2013). 113 Manches Werk der Konzeptkunst erschließt sich erst durch die Auseinandersetzung mit dem Künstler, seinem Denken und seiner Philosophie. 114 Der Surrealismus zieht seine Erkenntnisse und Inspirationen u. a. aus dem Unbewussten bzw. Vorsprachlichen, aus Träumen und aus dem Zufallsprinzip.

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M ERCE C UNNINGHAM

Das Künstlerpaar John Cage und Merce Cunningham befasste sich Mitte des 20. Jahrhunderts mit den Gesetzen des Zufalls. In ihren künstlerischen Aktionen, in denen Musik und Tanz autonom zusammenwirkten, erforschten sie Raum und Zeit mithilfe von Klang und Körperbewegung. Als Inspiration dienten ihnen unter anderem Marcel Duchamp, die Natur, andere Künste und fernöstliche Weltanschauungen. 1.2.1 Merce Cunningham und John Cage – Kurzbiografien Merce Cunningham (1919-2009) war einer der innovativsten und einflussreichsten Choreographen des 20. Jahrhunderts. Seine Werke finden sich heutzutage weltweit im Repertoire von Ballett- und Tanztheater-Companien. Als Tänzer, Choreograf und Pionier des modernen Tanztheaters hält er eine ästhetische Sonderstellung in der amerikanischen Modern Dance Bewegung. Geboren als Mercier Philip Cunningham in Centralia/Washington, fand er als Elfjähriger zufällig zum Stepptanz. In seiner Teenagerzeit studierte er bei Maude Barrett, einer Zirkus- und Varietekünstlerin. Diese erste Theatererfahrung begleitete ihn sein Leben lang. Nach dem Schulabschluss 1937 studierte er am Cornish College of the Arts in Seattle Schauspiel, wechselte dann aber in eine Tanzklasse nach der Methode von Martha Graham. Dort choreografierte er seine ersten Tanzstücke. In Seattle lernte er auch John Cage kennen. 1939 ging Merce Cunningham nach New York, wo er Hauptrollen in der Martha Graham Dance Company tanzte. Dort absolvierte er zudem eine klassische Ballett-Ausbildung an der School of American Ballet. Ab 1942 entwarf er seine Choreografien zur Musik von John Cage. Während Merce Cunningham ein großer Performer war, war John Cage weniger ein Bühnenkünstler, als vielmehr ein Entdecker.115 In diesen kontrastierenden Eigenschaften würden sie sich später gegenseitig bereichern. Der Musiker, Komponist, Musikpädagoge, Philosoph, Bildende Künstler und Schriftsteller John Cage (1912-1992) war ein bescheidener, humorvoll ernsthafter Freigeist, neugierig, wach und suchend.116 Seine über 250 Kompositionen werden

115 Vgl. Merce Cunningham. The Biography.com website. http://www.biography.com/ people/merce-cunningham-9263457 (12.05.2015). Vgl. Huschka 2000. Vgl. Evert 2003. 116 Zudem vielseitig interessiert und begabt. Seine kindliche, einladende Persönlichkeit war emotional, einfühlsam und sensibel, mit Sinn für Spielfreude, Lust und Leidenschaft. Er begegnete jedem so, dass er von vornherein große Intelligenz voraussetzte und dem Anderen dadurch einen Respekt- und Chancenraum eröffnete. Seine Nachlassverwalte-

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als Schlüsselwerke der Neuen Musik gesehen. Er gilt als einer der einflussreichsten Komponisten und größten Inspiratoren des 20. Jahrhunderts.117 John Cage wurde 1912 in Los Angeles geboren als einziger Sohn des Ingenieurs und Erfinders118 John Milton Cage Sr. und dessen Frau Lucretia Harvey. Die Mutter arbeitete als Redakteurin für die Los Angeles Times. Beide Eltern hatten nie ein College besucht. Ab 1920 erhielt er Klavierunterricht119. Er interessierte sich für die Dichtungen von Gertrude Stein, studierte zwei Jahre Literatur am Pomona College in Claremont, wo er erste Gedichte im College-Magazin Manuscript veröffentlichte. 1930 ging John Cage für 17 Monate nach Europa, studierte in Paris gotische und griechische Architektur sowie Klavier bei Lazare Lévy, der ihn mit der Musik Johann Sebastian Bachs vertraut machte. Auf einer inspirierenden Reise durch Europa120 zusammen mit seinem Freund Don Sample malte und dichtete er. Mit ihm setzte er sich auch mit Künstlern der europäischen Avantgarde auseinander.121 Es entstanden erste Kompositionen nach einer mathematischen Methode, die er jedoch vernichtete und an die er sich später nicht mehr erinnerte. Im Dezember 1931 kehrte er mit Don Sample nach Los Angeles zurück. Sie studierten die mitgebrachten Bauhaus-Bücher. 1932 begann John Cage ein Kompositionsstudium. 1933 lernte er die Kunststudentin Xenia Andreyevna Kashevaroff kennen und heiratete sie 1935 trotz der Beziehung zu Don Sample. Von 1935 bis 1937 nahm er Privatunterricht bei Arnold Schönberg122, dessen Zwölftontechnik sich in Cages Kompositionen

rin Laura Kuhn gab am 01.12.2012 darüber Auskunft im Rahmen der Nachtmusik in der Pinakothek der Moderne in München. 117 Neben Arnold Schönberg gibt es nur wenige Komponisten mit einer ähnlichen Bedeutung für die Entwicklung eines neuen Musikverständnisses. Vgl. Magill 1998, S. 1090. 118 Er bemühte sich um Innovationen in Medizin und Elektrotechnik, U-Boot- und Weltraumreisen. 119 Zeitweise von seiner Tante, der Sängerin und Pianistin Phoebe James. 120 »An einer Straßenecke in Sevilla bemerkte ich die Vielfalt simultaner visueller und hörbarer Ereignisse, die im eigenen Erleben alle zusammenliefen und Lust und Freude hervorriefen. Das war für mich der Beginn von Theater und Zirkus.« Cage, John: Ein autobiografisches Statement, in: Polzer/Schäfer 2004, S. 9-13. 121 Der Sorbonne-Student Don Sample machte ihn auf die von Eugene Jolas 1927 gegründete Zeitschrift Transition aufmerksam, die sich der Musik, Literatur, Bildenden Kunst sowie dem Film widmete. Sie bot einen umfassenden Überblick über die europäische Avantgarde, darunter Arbeiten von Hans Arp, Marcel Duchamp, James Joyce, László Moholy-Nagy und Kurt Schwitters. 122 (1847-1951), ein österreichischer Komponist, Musiktheoretiker, Kompositionslehrer, Maler, Dichter und Erfinder. Schönberg war einer der einflussreichsten Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts und eine zentrale Figur in der Aufgabe der Dur-Moll-

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niederschlug. 1938 gründete John Cage in Seattle ein Percussion-Ensemble. Hier begegnete er dem damals 19-jährigen Tänzer Merce Cunningham, der gelegentlich in seiner Percussion-Band mitspielte. Abbildung 18: John Cage und Merce Cunningham

Quelle: http://the-data-stream.blogspot.de/2009/07/merce-cunningham-nytimesobit.html (22.04.2013).

Sie verliebten sich ineinander und begannen zusammenzuarbeiten. Ab 1942 schuf Merce Cunningham eigene Choreografien zur Musik von John Cage. 1953 wurde die Merce Cunningham Dance Company gegründet, die bald weltweite Anerkennung erhielt. Die Musik für sie schrieb unter anderem John Cage und 1965 wurde er ihr Präsident. Die beiden Künstler begleiteten sich, bis John Cage drei Wochen vor seinem 80. Geburtstag 1992 in seiner Wohnung in New York City an einem Tonalität, die bei ihm zwischen 1906 und 1909 erfolgte. Er begründete die Zwölftontechnik, eine Kompositionstechnik, die später zur Seriellen Musik weiterentwickelt wurde und von zahlreichen Komponisten der Neuen Musik aufgegriffen wurde. Vgl. Freitag 1973.

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Schlaganfall starb. Merce Cunningham tanzte, unterrichtete und choreografierte bis zu seinem Tod im Jahr 2009. Sowohl John Cage als auch Merce Cunningham vollzogen in ihren jeweiligen künstlerischen Ansätzen Entgrenzungsprozesse. Ihre enorme Vielseitigkeit und ihr ungebremster Schaffensdrang erzeugten ein nahezu unüberschaubares Werk und beeinflussten zahllose Künstler.123 1.2.2 Entgrenzung der Komposition – Entgrenzung der Choreografie Im Laufe der unsteten 1940er Jahre zog John Cage mit seiner Frau Xenia häufig um und machte Bekanntschaft mit Vertretern des Bauhaus, der Moderne und Avantgarde124. Bereits 1939 hatte er in der Cornish School eine kleine Ausstellung mit Werken von Paul Klee, Alexej von Jawlensky und Wassily Kandinsky organisiert. 125 Er war beeindruckt von Oskar Fischinger, Filmemacher und Pionier des abstrakten Films, und dessen »Idee einer allen Dingen innewohnenden Seele, die befreit werden kann, indem man den Gegenstand zum Klingen bringt.«126 Er lernte Walter und Louise Arensberg kennen, die Sammler von Marcel Duchamp, mit dessen Werk er sich auseinanderzusetzen begann. In Santa Monica lernten er und Xenia das Buchbinden von der Buchbinderin Hazel Dreis. John Cage entwarf Buchdeckel und Xenia fertigte später Duchamps Große Schachteln an.

123 Einen großen Einfluss übte John Cage auf die Anfänge der Fluxus-Bewegung aus. Viele Fluxus-Künstler zählten zu seinen Schülern, darunter Allan Kaprow und Yoko Ono. Auch die Klangkunst der Einstürzenden Neubauten beruft sich auf Cage. Sonic Youth coverten eine seiner Kompositionen. 124 Auf Einladung László Moholy-Nagys unterrichtete er an der Chicago School of Design eine Klasse in experimenteller Musik. Dort lernte er Max Ernst und dessen Frau Peggy Guggenheim kennen, zog mit seiner Frau zu ihnen nach New York City und wurde in einen Kreis von avantgardistischen Musikern, Tänzern und bildenden Künstlern eingeführt. Darunter Josef und Anni Albers, Hans Arp, André Breton, Alexander Calder, Leo Castelli, Marcel Duchamp, Buckminster Fuller, Alberto Giacometti, Ellsworth Kelly, Franz Kline, Willem und Elaine de Kooning, Roberto Matta, Piet Mondrian, Man Ray, Ad Reinhardt, Harold Rosenberg, Mark Rothko, Clyfford Still, Dorothea Tanning, Jean Tinguely. John Cage verkehrte oft im von Robert Motherwell im Jahre 1948 gegründeten New Yorker Artist’s Club, einer Hochburg des Abstrakten Expressionismus. Später wurde er auch mit Joseph Beuys, Nam June Paik, Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez bekannt gemacht. 125 Vgl. Herzogenrath/Nierhoff-Wielk 2012, S. 73. 126 Herzogenrath/Nierhoff-Wielk 2012, S. 295.

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Die Ehe zerbrach jedoch 1943. Auch musikalisch durchlebte John Cage in dieser Zeit eine Krise. Er suchte nicht mehr den Ausdruck des subjektiven Inneren, sondern sah die Aufgabe der Kunst vielmehr darin, den ewigen Kreislauf der Natur nachzuahmen. Da John Cage Tanzklassen am Klavier begleitete,127 kam er in intensiven Kontakt mit dem Tanz und erkannte die gemeinsame Zeitstruktur als Schnittpunkt zwischen den Kunstgattungen Musik und Tanz. In der Musik wandte er sich zunehmend Geräuschen und Alltagsklängen zu – ein ähnlicher Ansatz wie Marcel Duchamps Indifferenz.128 Als Begleitung für eine Tanzstudentin schrieb er 1940 BACCHANALE, sein erstes Stück für ein mit Gegenständen präpariertes Klavier. Der musikalische Ansatz, alle Geräusche der Musik gleichzustellen und akustische Fremdkörper in die Partituren zu integrieren, setzte sich fort in der zwischen 1939 und 1952 komponierten, fünfteiligen Serie IMAGINARY LANDSCAPES.129 In seinem STRING QUARTET IN FOUR PARTS (1950) entwarf er noch völlig intentionale, von Arnold Schönberg beeinflusste, serielle Musik, die in spielerischem Ernst Naturzustände wiederzugeben versucht. Dieser kompositorische Ansatz löste sich jedoch auf. John Cage war an einem persönlichen Nullpunkt angekommen.

127 In San Francisco am Mills College und am Cornish College of the Arts. 128 Musik ist intentional. Sie erzählt Gefühle, Beziehungen, Ideen. John Cage hingegen liebte Klänge, ihr bloßes Sein, ihre non-intentionale Aktivität. Sie seien nicht innerlich, nur äußerlich. In der Klangerfahrung verfließen die Grenzen zwischen Zeit und Ort. John Cage betrachtete alle Klänge als eigene Zentren gleichen Seinsrechts, wollte ihr je eigenes Wesen herausfinden und ausdrücken. Vgl. John Cage in: Interview, New York 2.4.1991. »Ich ging in die Küche, nahm einen Kuchenteller, brachte ihn ins Wohnzimmer und legte ihn auf die Klaviersaiten.« Des Weiteren verliehen Hämmer und Nägel, Radiergummis, Holzstöckchen und andere Kleinteile auf den Klaviersaiten dem Instrument eine besondere Klangfarbe. John Cage zitiert durch Schmidt, Volker: Als der Stille Ohren wuchsen, in: Zeit Online vom 05.09.2012, http://www.zeit.de/kultur/musik/201209/john-cage-100-jahre (01.03.2013). 129 Im Radiostück Imaginary Landscape No. 1 (1939) für vier Spieler sind neben präpariertem Klavier und chinesischem Becken zwei Plattenspieler mit variabler Umdrehungszahl zu hören, auf denen, gleich akustischen Readymades, Testtöne gespielt werden. In weiteren Teilen dieser Serie kommen Konservendosen, elektronische und mechanische Geräte zum Einsatz. In Imaginary Landscape No. 4 (1951) werden von zwei Personen jeweils zwölf Radios durch Drehung des Sender- beziehungsweise des Lautstärkereglers gespielt. Was die Sender spielen, obliegt dem Zufall. Vgl. Frisius, Rudolf: Die musikalische Emanzipation der Klänge und Geräusche, http://www.frisius.de/rudolf/ texte/tx323.htm (02.03.2013), vgl. Herzogenrath/Nierhoff-Wielk 2012.

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Den Wendepunkt markierte eine spirituelle Entgrenzung in der Hinwendung zum Zen-Buddhismus.130 In New York geschah 1950 eine weitere entscheidende Begegnung. John Cage lernte den Komponisten Christian Wolff kennen. Dieser schenkte ihm das I Ging, das BUCH DER WANDLUNGEN, eine antike chinesische Orakelsammlung, die zur entscheidenden Kompositionshilfe wurde. Aus vorher festgelegten Rahmenbedingungen und Variablen ermittelte John Cage durch aleatorische131 Zufallsoperationen wie Münzwurf kompositorische Handlungsmöglichkeiten und deutete sie mithilfe der 64 Hexagramme des I Ging. MUSIC OF Changes (1951) war sein erstes vollständig auf Zufallsverfahren basierendes Stück. Diese Methode wurde zum kompositorischen Grundprinzip. In seinen Partituren stehen nur Zahlen bzw. Kalligrafie. Time brackets132 sichern einen zeitlich strukturierten Kontaktraum. Es gibt keine verbindlich richtige Interpretation. Der Dirigent gibt nur das Tempo vor, soll jedoch nicht beachtet werden. Der Interpret soll vielmehr seiner Intuition folgen und mit Klängen experimentieren. Er wird selbst zum Komponisten, der Entscheidungen trifft. Nicht das vollendete Werk steht im Mittelpunkt, sondern der Entstehungsprozess mit offenen und unvorhersehbaren Handlungsanweisungen – sogenannten Scores. Damit wollte John Cage autonome, nichtintentionale, kontingente Ereignisse ermöglichen. Der kontrollierte Zufall als selbstdisziplinierte, künstlerische Strategie der Unvorhersagbarkeit befreite das Werk von den persönlichen ästhetischen Vorlieben und Abneigungen. Daraus resultierte eine zu Freiheit und Gleichheit befreite Zufallsmusik, die in ernsthaftem Spaß Fragen stellt, statt Antworten zu geben. John Cage wollte darin Abläufe und Prozesse der Natur erforschen, den ephemeren Fluss und die dynamische Einheit bzw. Differenz des gegenwärtigen Augenblicks.133 Merce Cunningham verstand Bewegung als Denk- und Sprachform. Analog zu John Cages Klangverständnis definierte er sein entgrenztes Tanzverständnis: »Dan-

130 Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der religiösen Praxis der Meditation. Bereits 1948 hatte er begonnen, Zen sowie die indische Musik und Philosophie zu studieren. 1952-54 belegte er an der Columbia University Zen-Kurse bei Daisetz Teitaro Suzuki. 131 Vorgänge, deren Verläufe durch kinetische Parameter wie Position im Raum, Richtung, Körperteil, Zeitdauer festliegen, im Einzelnen aber durch Würfel- oder Münzwurf ermittelt werden. Ab 1990 benutzte Cunningham auch Software zur datentechnischen Konstruktion von Bewegungsentwürfen. 132 Zeitklammern für frei gewählte Aktionen. 133 Vgl. Interview von John Cage und Merce Cunningman am Walker Art Center in Minneapolis, Minnesota, 1981. https://www.youtube.com/watch?v=ZNGpjXZovgk, (14.05.2015). Vgl. Cage 2011. Vgl. Herzogenrath/Nierhoff-Wielk 2012, S. 299.

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cing is movement in time and space.«134 Damit stellte er sich in das Erbe zeitgenössischer Tanzverständnisse. Exkurs: Tanz Im Tanz werden Rhythmen und Musik auf besondere Weise mit dem Körper synchronisiert. Das klassische Ballett erzählt im Miteinander von Musik und Tanz eine Geschichte. Die hierarchisch strukturierte Choreografie unterliegt einem kodifizierten Ausdruckskanon. Ein im Tanz entmaterialisierter Körper soll die transzendentale Natur des Menschen versinnbildlichen. Dabei werden jedoch die physischen Bedingtheiten des Körpers unterdrückt zugunsten einer übermenschlichen Künstlichkeit des Körpers. Anfang des 20. Jahrhunderts erweitert der Modern Dance das Repertoire des klassischen Balletts. Tänzer wie Vaslav Nijinsky135, Isadora Duncan136 und Martha Graham137 prägen einen neuen Stil, der offen ist für fremde Kulturen und Populärkultur. In der Abstimmung von Musik und Bewegung und mithilfe traditioneller choreografischer Verfahren erzählt der Modern Dance noch immer Ge-

134 Merce Cunningham zitiert in: Huschka 2000. 135 (1889-1950). Der Russe galt als modernes Genie des Tanzes und der Choreographie. Zu Claude Debussys L’Après-midi d’un faune choreografierte Vaslav Nijinsky ein Ballett in einem Akt, das 1912 von den Ballets Russes in Paris uraufgeführt wurde. Das Stück gilt als choreografisch-musikalische Revolution und als eines der ersten avantgardistischen Ballette. Aufgrund seiner Inspiration durch antike Vasenmalereien, seiner abgehackten, eindimensional und im Profil verlaufenden Bewegungen und seiner sexuellen Anspielungen war der Faun Gesprächsthema aller Feuilletons Europas. Im Jahr 1919 wurde bei Vaslav Nijinsky eine schwere Schizophrenie diagnostiziert, die ihn zwang, den Tanz aufzugeben. Vgl. van Cronenburg 2011. 136 1877-1927. Die amerikanische emanzipatorische Tänzerin und Choreografin lehnte das klassische Ballett ab und war Wegbereiterin des modernen sinfonischen Ausdruckstanzes. Ihre Ästhetik orientierte sich am antiken griechischen Schönheitsideal. Z.B. tanzte sie barfuss in griechisch-römischen Tunika-Gewändern. Zusammen mit ihrer Schwester Elizabeth Duncan (1871–1948) gründete sie 1904 in Berlin ein Tanzinternat nach ihrem tanzpädagogischen Ansatz, in dem Mädchen kostenlos ausgebildet wurden. Körper, Seele und Geist der Schülerinnen sollten sich gleichermaßen entwickeln. 1936 wurde das Institut nach mehreren Stationen in die Kaulbachstraße in München verlegt. Vgl. Schulze, Janine: Den befreiten Körper suchend: Isadora Duncan, in: Soyka 2004, S.2124. 137 1894-1991. Die amerikanische Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin revolutionierte das klassische Ballett aus der bedingungslosen Vorrangstellung von Gefühl und Emotion. Die Martha-Graham-Technik zeichnet sich aus durch die elementaren Bestandteile von Anspannung und Entspannung sowie der Atmung.

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schichten. Doch ein expressiver Gestus archetypischer, erdig kraftvoller Bewegungen sucht vielmehr den individuellen körperlichen Ausdruck und möchte die Sprache der Seele in Bewegung verwandeln.138 Die Übernahme von Elementen aus dem klassischen Ballett139 und dem Modern Dance führte schließlich hinüber in den Postmodern Dance.140 Er erforscht die kulturell determinierte, durchlässige Grenze zwischen Bewegung und Tanz. Wie John Cage folgten auch Merce Cunninghams Choreografien ab 1950 aleatorischen Zufallsprozessen. Er verstand das Tanzensemble als Gesamtkörper, bestehend aus Individuen, die sich je anders bewegen, aufeinander verweisen und gleichzeitig voneinander unabhängig sind. Auf der Bühne gab es keine räumliche Hierarchie mehr. Jeder Mensch wurde zum Zentrum, alle Bewegungen trugen das gleiche ästhetische Gewicht. Sein künstlerischer Ansatz stellte Aufgaben bzw. Scores, die das Bewegungsspektrum des Tanzkörpers ausloten und dehnen wollten. Nicht mehr erzählerische Bilder, Gefühle oder Geschichten sind Inhalt der Choreografie. Vielmehr sollen Bewegungen für sich stehen. Dies bringt die Tänzer in Situationen, in denen sie trotz Regeln und Vorgaben sich selbst einbringen müssen. 141 Auch die dichotomische Trennung zwischen Bühne und Publikum löst sich auf, da sich der Tanz wegbewegt von traditionellen Spielorten und sich hineinstreckt in den öffentlichen Raum. 1.2.3 Kollaboration zwischen John Cage und Merce Cunningham – UNTITLED EVENT John Cage und Merce Cunningham wurden privat und beruflich ein Paar. Ihre künstlerischen Entwicklungen durchdrangen sich gegenseitig. Sie teilten ihre spirituelle Weltanschauung und den künstlerischen Anspruch, im Zufallsprinzip die Wirkungsweisen der Natur aufzugreifen. Voraussetzung für die Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung war, dass jeder Erfahrungen im Genre des Anderen gesammelt hatte. Beide fanden in ähnlicher Weise Inspiration in der Naturbeobachtung142, der Feldforschung und in anderen künstlerischen Medien, waren vernetzt

138 Vgl. Huschka 2002, S. 226-245. 139 Klarheit und Anmut, außerordentliche Beweglichkeit, Leichtigkeit und Sprungkraft. 140 Vgl. Huschka 2000. 141 Cunningham, Merce: Choreography and the Dance. In: Celant 1999. 142 Neben seinem künstlerischen Schaffen befasste sich John Cage auch mit Mykologie, der Wissenschaft von den Pilzen. Mehrere Freunde von John Cage gründeten 1954 in Stony Point, New York, eine kooperative Kommune. Auf der Suche nach einem einfachen Leben in Erholung und Sammlung zog John Cage in diesem Jahr dorthin, um sich

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mit anderen Kunstformen wie der Bildenden Kunst und dem Film. 143 Im Konzept der Non-Intentionalität räumten sie auch scheinbar unästhetischen und unmusikalischen Momenten Raum ein.144 Bereits ihr erstes Gemeinschaftsprojekt 1942 war eine unabhängige Co-Existenz von Musik und Tanz entlang rhythmischer Strukturen, die von einem Zustand in den nächsten übergingen. Musik und Tanz wurden voneinander autonom entwickelt und erst zur Aufführung zusammengebracht. Ein gemeinsamer Zeitrahmen diente als Klammer. Ausgangspunkt war nicht eine gemeinsame Idee oder der Ausdruck eines gemeinsamen Gefühls, sondern das bloße Zusammensein am gleichen Ort zur gleichen Zeit. So verließen und entgrenzten sie das tradierte Konzept der CoAbhängigkeit von Tanz und Musik. In der Co-Existenz von Verschiedenheiten behielt jede Kunstform ihre autonome Komplexität.145 Von 1941 bis 1957 hatte John Cage mehrere Lehraufträge am Black Mountain College146 in North Carolina, dessen am Bauhaus angelehntes Schulkonzept ihn beeindruckte. Im Sommer 1952 inszenierte er dort die multimediale Arbeit UNTITLED EVENT, die als erstes performatives Happening der Kunstgeschichte gilt.147 Der Speisesaal des Colleges war in vier auf die Raummitte ausgerichtete Dreiecke unterteilt. Zuschauerraum und Bühnenraum waren nicht voneinander getrennt. Die Performance war nicht öffentlich. Beteiligte erinnern sich an 35-50 Zuschauer. Auf jedem Zuschauerstuhl stand eine weiße Tasse. Teilnehmende Künstler – Maler, Musiker, Tänzer und Dichter – waren Merce Cunningham, Charles Olsen, Robert Rauschenberg, Mary Caroline Richards, Alan Watts, David Tudor und John Cage. Die Partitur von John Cage gab lediglich time brackets vor. Von einer Leiter herab las John Cage einen Text über die Beziehung zwischen Musik und ZenBuddhismus sowie Auszüge aus Meister Eckharts mystischen Schriften. Außerdem führte er eine Komposition mit einem Radio auf. Robert Rauschenberg spielte alte

intensiv dem Sammeln, der Bestimmung und Zubereitung von Pilzen zu widmen. Er war ein ausgesprochen guter Koch und betrachtete diese Beschäftigung als Wahrnehmungsschärfung. 1959 brachte er Pilze und Komposition zusammen: er lehrte an der New School for Social Research in New York zu den Themen Pilzbestimmung und experimentelle Komposition. 1962 gründete er die Mycological Society. 143 Cunninghams Bühnenbilder entwarf oft der Maler Robert Rauschenberg. 144 Vgl. Schröder 2011. 145 Vgl. Interview von John Cage und Merce Cunningman am Walker Art Center in Minneapolis, Minnesota, 1981. 146 Eingehendere Informationen folgen im Kapitel über das Bauhaus. (Kapitel D 3.1.1.) 147 Das macht sie zu Schlüsselfiguren für die Ende der 1950er Jahre entstandenen Happening- und Fluxus-Bewegungen. Beide Strömungen wirkten mit medienübergreifenden künstlerischen Eingriffen in den Alltag hinein.

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Schallplatten auf einem Phonographen148 und projizierte abstrakte Dias und Filmausschnitte auf die Decke und an eine Wand. Seine White Paintings hingen neben einem Bild von Franz Kline von der Decke. David Tudor bearbeitete ein prepared piano und goss Wasser aus einem Eimer in einen anderen. Von einer zweiten Leiter herab trugen Charles Olsen und Mary Caroline Richards abwechselnd eigene Dichtungen vor. Merce Cunningham tanzte mit anderen Tänzern durch und um das Publikum. Alan Watts spielte auf verschiedenen Musikinstrumenten. Am Ende schenkten vier weiß gekleidete Jungen den Zuschauern Kaffee in die Tassen. Exkurs: Performance Art Ab Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich die performance art149 zur Bezeichnung für eine situations- und handlungsbetonte ephemere Kunstform im Kontext der Bildenden Kunst – ein offener künstlerischer Prozess, dessen Medium der Performancekünstler selbst ist. Sein Körper erhält somit Symbolcharakter. Anders als in der Darstellenden Kunst tritt der Performer nicht hinter einer Rolle zurück, sondern die Performance ist an seine Person gebunden. Dabei kommen vier Grundelemente ins Spiel: Zeit, Raum, der Körper des Künstlers und eine Beziehung zwischen dem Künstler und dem Rezipienten. Durch eine Spielanleitung wird der Rezipient oft körperlich, emotional wie intellektuell engagiert und somit Teil des offenen künstlerischen Prozesses. Die trennende Grenze zwischen Künstler und Rezipienten wird verwischt bzw. überwunden. Kunst und Leben durchdringen sich. Zurück bleiben oft nur mediale Dokumentationen wie Videos oder Fotografie. Durch Partizipation des Rezipienten werden das traditionelle konsumatorische Kunstverständnis, die Trennbarkeit von Künstler und Werk, sowie die Materialität traditioneller Kunstwerke hinterfragt. Performance dehnt den Werkbegriff über die traditionelle Vorstellung eines materiellen Objektes wie Gemälde oder Skulptur hinaus, verbindet die einzelnen Kunstgattungen und demokratisiert die Kunst. 150 Inspiriert wurde UNTITLED EVENT – neben Bezügen zu Richard Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks, Dada und den Futuristen – durch die Essay-Sammlung LE THEATRE ET SON DOUBLE (1938) des französischen Schriftstellers Antonin Artaud. Diese stellt die künstliche, literarische Form des Theaters der sinnlichen Erfahrung lebendiger Rezeption gegenüber und greift damit theatralische Konventio-

148 Handbetriebenes Grammophon. 149 Mit Bezug auf Antonin Artaud, Dada, die Situationistische Internationale, Fluxus und Konzeptkunst 150 Vgl. Dimke in: Brandstätter et al. 2008, S. 11/12.

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nen an.151 Zentraler Gedanke von UNTITLED EVENT war die Interaktion zwischen Künstlern und Publikum bzw. die Aktivierung des Rezipienten. Akteure und Zuschauer waren im Raum verteilt. Es gab weder eine vorgegebene Bedeutung der Handlungen, noch einen Fokus der Rezeption. Inhalt war vielmehr ein flüchtiger Prozess, in dem der Zuschauer selbst den Fokus wählen kann und die Bedeutung im Moment der partizipatorischen Wahrnehmung selbst mitgestaltet, indem er Bezüge herstellt zwischen Akteuren und Handlungen. Die Rezipienten beobachteten sich auch gegenseitig, blickten in eine Art Spiegel, wurden zu Beobachtern von Beobachtern. Nicht zuletzt die Tasse ermöglichte dem Zuschauer, selbst Akteur zu werden. Sie kann als Requisit gesehen werden, das die Spielstätte thematisiert, oder als Programm, das den co-kreativen Rezipienten aktiviert und einbindet in dieses Gesamtkunstwerk jenseits der Gattungsgrenzen. Performer und Rezipient werden zur Einheit in einem besonderen Raum-, Zeit- und Körperempfinden.152 Der Rezipient wird – wie schon bei Marcel Duchamp – gleichsam zum Beteiligten, der das Werk vervollständigt. Dies veranschaulicht sich in folgender Trias. Abbildung 19: Werkgenese bei Cage und Cunningham

Quelle: Johanna G. Eder

151 Zu den berühmten Texten der Sammlung gehören No More Masterpieces, ein Angriff auf den elitären Anspruch eines veralteten Literatur- bzw. Theaterkanons, und The Theater of Cruelty, das die Wichtigkeit unterstreicht, eine Art einzigartige Sprache aus Gestik und Gedanken wiederzufinden. 152 Vgl. Herzogenrath/ Nierhoff-Wielk 2012, S. 37, vgl. Schmidt, Volker: Als der Stille Ohren wuchsen, in: Zeit Online vom 05.09.2012, http://www.zeit.de/kultur/musik/201209/john-cage-100-jahre (01.03.2013), vgl. Fischer-Lichte, Erika: Grenzgänge und Tauschhandel – Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, in: Wirth 2002, S. 277300, vgl. Harris 2002.

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Sowohl John Cage, als auch Merce Cunningham pflegten eine Künstlerfreundschaft zu Marcel Duchamp153, die z.B. 1968 in der gemeinsamen Schach-Performance REUNION154 künstlerischen Ausdruck fand. Am 10. März 1968 führte Merce Cunningham mit seiner Dance Company in New York das 49 minütige Stück WALKAROUND TIME für acht Tänzer auf, mit einem von Jasper Johns nach Motiven des GROßEN GLASES gestalteten Bühnenbilds.155 1.2.4 John Cage – Transmediale Werke Um die Entgrenzungen zu veranschaulichen, die beide Künstler anstießen, werden im Folgenden transmediale Werke von John Cage näher betrachtet. Die radikalste Umsetzung des Ansatzes eines co-kreativen Rezipienten wurde am 29. August 1952 in der Maverick Concert Hall in Woodstock, New York uraufgeführt: ein Stück von John Cage mit dem Titel 4′33″. Dieser gibt eine Gesamtdauer von 4 Minuten und 33 Sekunden vor. Der Interpret hat drei Sätze zu spielen. Die einzige Spielanweisung lautet tacet – schweigend, stumm. Musikalischer Akteur ist vielmehr die Stille bzw. zufällige Publikums- und Umgebungsgeräusche. 4‘33‘‘ schafft gleichsam einen Ereignisrahmen, einen freiheitlichen, unendlichen Spielraum. Alles, das Zuhören eingeschlossen, soll Bestandteil der Komposition werden.156 Für das Verständnis von John Cages Auffassung von Stille, seiner bevorzugten Klangerfahrung, ist der Begriff der Non-Intentionalität zentral.157 Im Sinne einer

153 Cage traf Duchamp in den 1960ern zu wöchentlichen Schachpartien. Er komponierte die Duchamp-Sequenz im Experimentalfilm Dreams that Money Can Buy (1947) von Hans Richter. Als Beitrag zur Ausstellung The Imagery of Chess in der Julien Levy Gallery in New York, zu der Duchamp eingeladen hatte, malte Cage das Bild Chess Pieces. Vgl. http://www.dada-companion.com/duchamp/music.php (05.03.2013). 154 05.03.1968 im Ryerson Theatre in Toronto. Jeder Schachzug generierte über Sensoren einen elektronischen Klang. Duchamp gewann das erste Spiel unverzüglich. Ein zweites Spiel zwischen Cage und Duchamps Frau Teeny dauerte 4 Stunden. 155 Vgl. Mink 1994, S. 76. 156 Tatsächlich ist die Dauer frei wählbar, ebenso die Zahl der Ausführenden und die Instrumentierung. Für die Uraufführung erwürfelte der Pianist David Tudor die Dauer der drei Sätze mit 0:33, 2:40 und 1:20 Minuten. Er grenzte sie durch Schließen und Öffnen des Klavierdeckels voneinander ab. Dazwischen spielte er keinen Ton. 157 »Was mich viel stärker interessiert – weit mehr als alles was geschieht – ist, wie es wäre, wenn nichts geschähe. Gegenwärtig ist mir sehr wichtig, daß die Dinge, die geschehen, nicht den Geist auslöschen, der schon vor ihnen, ohne daß irgendetwas geschehen wäre, da war; und wenn ich heute sage, 'ohne daß irgendetwas geschehen wäre', so mei-

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absoluten Geräuschlosigkeit gibt es Stille nicht. Diese Erkenntnis resultierte aus einem Selbstversuch. Ende der 1940er hatte John Cage sich in einen schalldichten Raum eingeschlossen und festgestellt, dass er selbst dort noch etwas hörte: den eigenen Herzschlag, das Rauschen des Blutes in den Adern, vom Nervensystem produzierte Frequenzen. Selbst die Stille war also voller Klänge. Die nonintentionale Narration des Lebens geschah im Dazwischen akustischer Wahrnehmungen. Boris Parena sagte: »Die Stille von John Cage ist ein offenes Ohr für den Ton der Welt.«158 Einen geradezu gegenteiligen Ansatz verwirklicht das Orgelwerk ORGAN²/ ASLSP mit der Tempoangabe as slow as possible – so langsam wie möglich.159 Es ist potentiell unendlich denk- und spielbar – zumindest für die Lebensdauer einer Orgel und so lange es von zukünftigen Generationen unterstützt wird.160 Seit dem 5. September 2001 wird ORGAN²/ASLSP in der St.-Burchardi-Kirche zu Halberstadt161 aufgeführt, wo im Jahr 1361 die erste Großorgel der Welt mit der ersten 12-tönigen Klaviatur162 gebaut wurde. 639 Jahre später entschied man sich für die Dauer des »langsamsten Konzerts der Welt«163 von 639 Jahren – bis zum 4. September 2640. Dank Sandsäckchen auf den Tasten erklingt ein Dreiklang aus sechs Orgelpfeifen der kleinen Cage-Orgel.164 In ORGAN²/ASLSP gibt es keine Stille. Der Klang gibt

ne ich die Stille, das heißt, einen Zustand frei von Intentionen. Wir haben immer Töne um uns und wir haben überhaupt keine Stille auf der Welt. [...] Was Stille und Lärm gemeinsam haben, das ist der Zustand der Absichtslosigkeit, und dieser Zustand ist es, der mich interessiert.« John Cage zitiert in: Charles 1979, S. 24/25. 158 Boris Parena zitiert in: Charles 1979, S. 9. 159 John Cage schuf es 1985 zunächst in einer Fassung für Klavier, bearbeitete es dann 1987 auf Anregung des Organisten Gerd Zacher für Orgel. 160 Auf einem Orgelsymposium 1997 in Trossingen diskutierten Organisten, Musikwissenschaftler, Orgelbauer, Theologen und Philosophen die spieltechnischen, ästhetischen und philosophischen Aspekte von Organ²/ASLSP. 161 Die romanische St.-Burchardi-Kirche wurde um 1050 von Burchard von Nabburg gebaut. Nach der Säkularisierung im Jahr 1810 diente sie als Scheune, Lagerschuppen, Schnapsbrennerei und Schweinestall. Mit Unterstützung der Stadt und privater Hände wurde die Kirche in ihrer Substanz gesichert. 162 Dieses Klaviaturschema wird bis heute auf Tasteninstrumenten gebraucht. 163 Stock, Ulrich: Das Summen Gottes, in: Zeit Online vom 05.08.2011, http://www.zeit. de/2011/31/WOS-Halberstadt/seite-1 (02.03.2013). 164 Sie wird nach dem Vorbild der ersten Faber-Orgel durch einen Blasebalg betrieben und wächst während der Aufführung. Sie wird entworfen und gebaut von dem Kevelaerer Orgelbauer Romanus F. Seifert & Sohn mit der Unterstützung der Firma Reinhard Hüfken-Orgelbau aus Halberstadt. Vgl. http://www.aslsp.org/de/john-cage.html (01.03.

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sich dem Sein hin, hebt die Zeit auf, vermag die Bewusstseinsgrenzen des Menschen und des gegenwärtigen Augenblicks hinein in die Ewigkeit der Mystik zu entgrenzen. So ist ORGAN²/ASLSP eine Hymne an die Transzendenz des Jetzt und gleichzeitig ein Symbol des Vertrauens in die Zukunft. John Cage setzte seinen gattungsübergreifenden Ansatz auch als Kurator um. Vom 18. Juli bis 27. Oktober 1991 kuratierte er den MUSEUM CIRCLE in der Neuen Pinakothek München. Die Ausstellung hatte den Titel KUNST ALS GRENZBESCHREI165 TUNG. JOHN CAGE UND DIE MODERNE. Münchner Museen sollten jeweils etwa ein Dutzend Werke aus unterschiedlichen Epochen und Bereichen zur Verfügung stellen. Mithilfe des Zufalls ermittelte John Cage die auszustellenden Objekte und ihre Platzierung auf der Empore der Neuen Pinakothek und stellte sie somit auf indifferente166 Weise in völlig neue Zusammenhänge.167 Kurz vor seinem Tod vollendete John Cage seinen einzigen Film ONE11 (1992), einen 90-minütigen Schwarz-Weiß-Film über elegische Bewegungen des Lichts, der gleichsam sein Testament darstellt. Die Musik zum Film ist das NUMBER PIECE 103 (1991) für Orchester. Die Art der Lichteffekte, die Kamerabewegungen und der Schnittvorgang beruhen auf Zufallsoperationen mithilfe des I Ging. 168 DIE RYOANJI -ZEICHNUNGEN Ein Werk wird abschließend besonders in den Blick genommen: Im Rahmen des MUSEUM CIRCLE waren auch John Cages RYOANJI-ZEICHNUNGEN ausgestellt, gleichsam eine Synthese von John Cages und Merce Cunninghams künstlerischem Ansatz.169 Von 1983 bis zu seinem Lebensende schuf John Cage in der zurückgezogenen, konzentrierten Atmosphäre seines Studios rund 170 RYOANJI-ZEICHNUNGEN

2013), vgl. Schmidt, Volker: Als der Stille Ohren wuchsen, in: Zeit Online vom 05.09.2012, http://www.zeit.de/kultur/musik/2012-09/john-cage-100-jahre (01.03.2013) vgl. Stock, Ulrich: Das Summen Gottes, in: Zeit Online vom 05.08.2011, http://www.zeit.de/2011/31/WOS-Halberstadt/seite-1 (02.03.2013). 165 Vgl. Bischoff 1991. 166 Im Sinne von gleich gültig, gleichwertig. 167 Z.B. der Kopf einer Prinzessin aus Quarzit von etwa 1350 aus der Staatlichen Sammlung Ägyptischer Kunst, die Handpuppe Der Tod aus dem Puppentheatermuseum oder eine Armbrust aus dem 17. Jahrhundert aus dem Deutschen Jagd- und Fischereimuseum. 168 In Zusammenarbeit mit Henning Lohner. Vgl. Herzogenrath/Nierhoff-Wielk 2012, S. 69. 169 Vgl. Roelcke, Eckhard: Der Stachel stumpft, in: DIE ZEIT, 26.7.1991 Nr. 31, http://www.zeit.de/1991/31/der-stackel-stumpft (18.04.2013).

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(Abb. 20), Kern seines bildnerischen Werks.170 Darin tanzen freistehende bzw. sich überlagernde Bleistiftkreise als chaotische Gespinste durch den Raum bzw. verharren in asketisch schweigender Harmonie als stille Inseln auf dem Weiß des Blattes. Die unsichtbare, rätselhaft rhythmische Choreographie der zeichnerischen Gesten erscheint wie die Verteilung von Noten in einem Notensystem, wie die Topografie einer Landschaft in Vogelperspektive, eine von fallenden Regentropfen bewegte Wasseroberfläche, oder wie das verspielte Muster des Lichts auf dem Boden. Hinter dem Chaos ist jedoch eine Gesetzmäßigkeit spürbar. In welchem Entstehungskontext stehen die Zeichnungen? Anlässlich der Performance FUCK YEAH von Yoko Ono171 waren John Cage und James Tudor 1962 in Begleitung von Peggy Guggenheim auf eine sechswöchige Konzerttournee nach Japan gereist. In diesem Rahmen hatte John Cage in Kyoto den Ryōan-ji Garten eines alten buddhistischen Zen-Klosters aus dem späten 15. Jahrhundert besucht. In dem Garten sind 15 große Steine auf gerechtem weißem Kies angeordnet – ein vom Menschen komponiertes Bild von Natur, gleichsam der Kreuzungspunkt von Natur und Kultur. Von jeglichem Punkt der Abtei-Terrasse aus sieht man immer nur 14 der Steine. Ein Aspekt der Wirklichkeit bleibt stets verhüllt. John Cage war von diesem Garten enorm fasziniert und verarbeitete dieses Erlebnis nicht nur musikalisch, sondern auch in besagter Reihe graphischer Blätter. Die Bleistiftkreise geben tatsächlich Konturen von fünfzehn verschiedenen Steinen wieder. Wie zuvor bei seinen musikalischen Kompositionen – bzw. Merce Cunningham bei seinen tänzerischen Choreografien – ermittelte er den konkreten Bildaufbau durch Befragung des I Ging. Im Zeichenprozess stellte John Cage folgende Variablen auf: • • • •

Anzahl der Steine Jeweils Anzahl der Kreise Bleistiftstärke Position auf dem Blatt

Kompositorisches Stilmittel und künstlerische Strategie ist also die autonome und kontingente Natur des kontrollierten Zufalls. Intentionalität und Non-Intentionalität

170 Kaum bekannt sind John Cages frühe grafische und malerische Werke, ebenso wenig wie das Versprechen an Arnold Schönberg, sich ganz der Musik zu widmen. Dennoch behielt John Cage stets großes Interesse an den visuellen Künsten. Die Notationen seiner Musik sind von außerordentlicher grafischer Qualität. In den 1970er Jahren verfolgte er Zeichnung und Aquarell schließlich als eigene Ausdrucksform. 171 Yoko Ono und John Lennon waren seine Nachbarn. Sie freundeten sich an und er lud sie oft zum Essen ein. Aufgrund einer fortschreitender Arthritis begann er 1977 auf Anraten von Yoko Ono eine makrobiotische Diät, eine auf taoistischen Lehren und asiatischen Traditionen basierende Ernährungs- und Lebensweise.

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treten miteinander in Dialog. Diese grundlegende Änderung des traditionellen bildchoreografischen Verfahrens thematisiert die Wirkkräfte der Natur und die nichtlineare Narrativität des Lebens, in Analogie zur Natur als geordnetem Muster, dessen Systematik sich nicht entwirren lässt.172 Abbildung 20: Ryoanji -Zeichnungen, 1983-1992

Quelle: Abdruck mit freundlicher Genehmigung von C. F. Peters Musikverlag Leipzig, London, New York

172 Vgl. Charles 1979, vgl. Thierolf 2013.

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Die RYOANJI-ZEICHNUNGEN sind wie die Momentaufnahme eines meditativen Augenblicks. In der lebendigen Askese eines Zen-Gartens loten die kalligrafischen Kreise die Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten im Raum aus. Sie sind gleichsam eine tänzerische Kartierung des Zufalls und machen einen verborgenen Aspekt der Wirklichkeit sichtbar. Zudem gleicht die schweigende Rhythmik der Linienkreise einer musikalischen Partitur. Musik und Stille, Zufall und Ordnung fallen ineinander. Alles verbindet sich und setzt sich miteinander in Beziehung. 173 Das macht die RYOANJI -ZEICHNUNGEN zu einer Bildsynthese von John Cages und Merce Cunninghams Konzept. 1.2.5 Resümee John Cage sagte einmal: »My favourite music is the music I haven`t yet heard.«174 Sein humorvoller Ausspruch »Happy New Ears«175 mag den Wunsch formulieren, Musik, Kunst und letztlich die Lebenswelt als solche immer wieder neugierig wahrzunehmen, mit offenen Sinnen und offenem Denken. John Cage und Merce Cunningham selbst mögen einem solch wachen Lebensmotto gefolgt sein. Sie begegneten sich im Resonanzraum des Lebens, erforschten seine Klänge, fließenden Bewegungen und Bewusstseinsdimensionen – jeder für sich, wie auch gemeinsam. Die ebenso experimentelle wie kontrollierte künstlerische Strategie des Zufalls eröffnete ihnen dabei spirituell-holistische Erkenntnisse über Kunst und Leben, dass im Gegenwärtigen alles enthalten ist und mit allem in Beziehung steht. 176 Stille und Zufall als gleichberechtigte kompositorische Mittel bewirken eine entgrenzte Auffassung von Kreativität und provozieren ein neues Künstlerverständnis. In der Entsubjektivierung des Ausdrucks wird jeder Augenblick zur Kunst und jeder Rezipient zum Mit-Künstler.177

173 Zum Zufall meinte John Cage ironisch, man solle ihn nicht walten lassen beim Überqueren der Straße, beim Geschlechtsakt und beim Pilze sammeln. 174 Engl. Meine Lieblingsmusik ist die Musik, die ich noch nicht gehört habe. Cage, John: Ein autobiografisches Statement, in: Polzer/Schäfer 2004, S. 9-13. 175 Engl. fröhliche neue Ohren, ein Wortspiel mit »Happy New Year« (Engl. Frohes Neues Jahr). 176 Vgl. Reinhard Oelschlegel in: http://www.aslsp.org/de/john-cage.html (01.03.2013). 177 Vgl. Schmidt, Volker: Als der Stille Ohren wuchsen, in: Zeit Online vom 05.09.2012, http://www.zeit.de/kultur/musik/2012-09/john-cage-100-jahre (01.03.2013).

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Tabelle 4: John Cage und Merce Cunningham Ausgangspositionen

Netzwerkstrukturen Subjektive Erfahrung

Künstlerisch-kreative Strategien Entgrenzungsphänomene

Multiple Interessen, Reiseerfahrung, Suche, prägende Begegnungen mit anderen Kunstgattungen und Künstlerpersönlichkeiten Vernetzung von Kunstformen und fernöstlicher Spiritualität Künstlerische Entwicklung im Kontext einer Lebensund Schaffenskrise, persönliche Erkenntnissuche, Liebe, Freude und Freiheit Erforschung von Naturphänomenen, Co-Kreativität, kontrollierte Anwendung des Zufalls durch das I Ging Entgrenzte Autorschaft: Trias aus Künstler/Zufall/Rezipient

Quelle: Johanna G. Eder

Weiterführung bei Simone Forti In engem Zusammenhang mit John Cage und Merce Cunningham brechen Tänzerinnen wie Anna Halprin178, Trisha Brown179 und Simone Forti mit traditionellen Formen der Choreografie und erweitern die Kunstform des Tanzes in die Performance hinein. Die Malerin, Musikerin, Tanz-Performerin und Choreografin Simone Forti wurde 1935 in Florenz als Tochter einer jüdischen Familie geboren, die Anfang der 1940er nach Amerika emigrierte. Sie wuchs in Los Angeles auf. Mit der Heirat 1956 brach sie das College ab und zog nach San Francisco, wo sie mit 21 Jahren bei Anna Halprin zu tanzen begann. Nach einer expressionistischen Malphase setzte sie 1959 ihre Ausbildung bei Martha Graham und Merce Cunningham in New York City fort. Auf der Basis von Beobachtung und experimenteller Improvi-

178 Anna Halprin wandte sich zu Beginn der 1950er vom Modern Dance zur Improvisation und zählt zu deren Pionieren. Ihr tänzerischer Ansatz geht von der Beobachtung aus. Jede Bewegung – nicht nur die der Menschen – habe ihre Stimmung, ihr Wesen und ihre Qualität. In Kalifornien gründete sie 1955 den San Francisco Dancer's Workshop, eine von ihrem Mann, dem vom Bauhaus beeinflussten Landschaftsarchitekten Laurence Halprin, gebaute Labor-Bühne unter freiem Himmel im Wald. Dort arbeitete sie mit vielen gleichgesinnten Künstlern wie Merce Cunningham und John Cage zusammen. Ab Ende der 1970er-Jahre befasste sie sich vermehrt mit (selbst) heilenden Aspekten des Tanzes. Vgl. Ross 2009. 179 Geboren 1936 im Bundesstaat Washington. Ihr virtuoser Stil basiert auf alltäglichen Bewegungen und repetitiven Gesten.

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sation entstanden 1960 zwei erste Performances 180. In SEE-SAW sitzen eine Frau und ein Mann auf den gegenüberliegenden Enden einer Wippe. Sie verändern abwechselnd ihre Position, was das empfindliche Gleichgewicht der Wippe beeinflusst. Jede Aktion provoziert eine Reaktion. So ist die fragile Körperkommunikation in SEE-SAW gleichsam ein synthetisches Schaubild für die Beziehung zwischen zwei Menschen. In ROLLERS ist die Rollenaufteilung zwischen Akteuren und Rezipienten aufgehoben. Die Performer sitzen in rollbaren Wägen, an denen je zwei Seile befestigt sind, an denen das Publikum die Wägen durch den Aufführungsraum zieht. Die Bewegungen sollen durch gesungene Haltetöne begleitet werden. Folglich ist ROLLERS eine interaktive audio-visuelle Tanzskulptur. Simone Forti war von 1962-1966 in zweiter Ehe mit Robert Whitman verheiratet. In dieser Zeit entstanden gemeinsame Happenings. Erst nach der Scheidung schuf sie wieder eigene Arbeiten, darunter zunehmend Soundperformances unter dem Einfluss von John Cage. Musikalisch arbeitete sie außerdem zusammen mit avantgardistischen Komponisten wie La Monte Young, Terry Riley und Yoko Ono. Das Jahr 1969 war geprägt von Theaterexperimenten mit der Gruppe The Zoo und Drogenexperimenten in Woodstock. Zurück in Kalifornien ersetzte Simone Forti gelegentlich Allan Kaprow am California Institute of the Arts in einer offenen Tanz-Session. Ähnlich den Choreografien Merce Cunninghams verbindet Simone Forti Spielregeln und Zufallsprozesse. Doch zudem bezieht sie Sprechen und Singen, Improvisation und die Manipulation von außen mit ein. Ihr Ansatz basiert auf Alltagsbewegungen, kindlichen und tierischen Bewegungsmustern. Der Tanzraum wird zum Kontaktraum, der in Körperbildern, in Aktion, Reaktion und Resonanz Beziehungen zwischen Personen und Lebenswelt zum Ausdruck bringt.181

180 Aufgeführt zu Weihnachten 1960 in der Reuben Gallery. Vgl. Forti 1974, S. 35/36. 181 Vgl. Banes 1993, S.142, vgl. Banes 1987.

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1.3 G LENN G OULD – T HE I DEA OF N ORTH Der Pianist, Komponist, Organist und Musikautor Glenn Herbert Gould war eine exemplarische kreative Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts.182 Vielen galt Glenn Gould zu Lebzeiten vor allem als Exzentriker. Zahlreiche Ticks prägten sein Außenbild. Er saß stets außergewöhnlich tief und geduckt auf einem individuell einstellbaren Klappstuhl183 am Flügel und summte zu seinem Klavierspiel, die Augen teilweise geschlossen. Er trug auch im Sommer und in Innenräumen einen Schal und Handschuhe. Selbst schrieb er, dass dies keine persönlichen Exzentrizitäten seien, sondern schlichtweg berufsbedingte Übel eines in hohem Maße subjektiven Geschäfts.184 Es ist anzunehmen, dass diese spielerisch gepflegten Markenzeichen zu seinem Erfolg beitrugen.185 Die Exzentrik hatte ihren Gegenpol in Bescheidenheit, Humor186 und Zurückgezogenheit. Glenn Goulds zeitweilige Lebensgefähr-

182 Zeitgenossen beschreiben Glenn Gould als charismatisch, liebenswert, originell, kindlich humorvoll, mit überschießender Energie, spontan und unberechenbar, freundlich, unprätentiös, als jemanden, der für die kleinen Freuden im Leben enthusiastisch war und der sich selbst nicht so wichtig, die Musik hingegen sehr ernst nahm. Er war jedoch auch ein narzisstischer, radikaler Konservativer mit einem stark ausgeprägten Kontrollzwang hinsichtlich seiner Arbeit wie auch seiner Beziehungen. Er habe sozialen Kontakt über das Telefon bevorzugt, über das er den Gesprächspartnern in übersprudelnder Begeisterung seine neuesten Ideen mitteilte. Vgl. Bazzana 2004; vgl. Glenn Gould: A Portrait (CA 1985; R: Tom Daly); vgl. die Dokumentation Glenn Gould: Life & Times (CA 2003; R: David Langer); vgl. den englischsprachigen Dokumentarfilm Glenn Gould. Hereafter (F 2006; R: Bruno Monsaingeon), der auch unter dem französischen Untertitel Au delà du temps bekannt ist. 183 »Bert Gould sägte die Beine eines hölzernen Klappstuhls mit hoher Lehne ab und steckte 8cm lange Schrauben in die Beine. Glenn passte die Schrauben der Höhe an, in der er sich am besten fühlte. Er nahm den Stuhl überall mit hin. Als der Sitz des Stuhls schließlich zerfiel, benutzte ihn Glenn weiterhin, indem er einfach auf dem leeren Rahmen saß.« In: Lester 2007, S. 85. Übersetzung: Johanna Eder. 184 Vgl. Lester 2007, S. 95. 185 Helen Mesaros schätzt seine Exzentrizitäten als Rituale ein, die Goulds enorme Bühnenangst kompensieren sollen; vgl. Glenn Gould: Life & Times. Die Unregelmäßigkeiten zwischen Goulds Medienimage und seinem Privatleben erkundet der neueste Dokumentarfilm von Michèle Hozer und Peter Raymonts Genius Within: The Inner Life of Glenn Gould (CA 2009; R: Michèle Hozer, Peter Raymonts). 186 »Was ihn oft vor seinen Exzentrizitäten rettete, war sein wunderbarer Sinn für Humor.« Robert Silverman zitiert in: Lester 2007, S. 108. Übersetzung: Johanna Eder.

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tin Cornelia Foss sagte über ihn: »Sehr viele hatten einen falschen Eindruck von Glenn, weil er so absolut privat war.«187 Ihn umwehte der Mythos des schüchternen, freiheitsliebenden puritanischen Genies, das aus der asketisch-kontemplativen Kraft der Einsamkeit schöpfte. Isolation und Einsamkeit gelten als wichtige Quellen seines Schaffens,188 wenn auch wenigstens in Form von hochkonzentrierter geistiger Versenkung. 189 In dieser von der Außenwelt zurückgezogenen Zentrierung entfaltete er intellektuelle Kraft. 190 Sein Klangkunstwerk THE IDEA OF NORTH synthetisiert Transformationen, mit denen er die Musikproduktion, Rezeption und Musiktheorie des 20. Jahrhunderts entgrenzte.191 1.3.1 Kurzbiografie und Frühwerke Glenn Gould wurde 1932 in Toronto/Kanada geboren. Als hochsensibles, spätes Einzelkind wuchs er im wohlhabenden Milieu der puritanischen oberen Mittelschicht der 1930er Jahre in den Toronto Beaches auf. Schon im Alter von drei Jahren trat sein musikalisches Talent zutage, als er Klavierspielen und Notenlesen lernte. Er begann früh, eigene Kompositionen zu schreiben. Die behütete Kindheit mit seiner musikalischen Mutter als erster Lehrerin sollte stets Quelle seines Schaffens bleiben.192 Glenn Goulds Mutter war Organistin. So machte er früh Erfahrungen an

187 http://www.thestar.com/article/249787 vom 12.02.2011. 188 Z.B. im Familienlandhaus am Lake Simcoe. 189 Z.B. ließ Gould neben dem Üben den Staubsauger oder andere Geräuschkulissen laufen, um vielmehr seine innere, ideale Musik zu hören; vgl. Glenn Gould. Hereafter. 190 »Für jede Stunde, die man in der Gesellschaft anderer Menschen verbringt, braucht man X Stunden alleine... Isolation ist eine unverzichtbare Komponente des menschlichen Glücks.« Glenn Gould zitiert nach Lester 2007, S. 6. Übersetzung: Johanna Eder. 191 Vgl. Eder, Johanna in: Reiche et al. 2011, S. 149-169. Zahlreiche Dokumentarfilme werden hier im Sinne von Sekundärquellen verwendet. Bei den Regisseuren handelt es sich um Journalisten (Tom Daly, David Langer, Michèle Hozer and Peter Raymont) sowie Musikerfreunde Goulds (z.B. Bruno Monsaingeon). Gould selbst übte maßgeblichen Einfluss auf die Produktion der Dokumentation Glenn Gould. The Alchemist (EU 2002; R: Bruno Monsaingeon) aus. Die anderen Dokumentarfilme entstanden dagegen erst nach Goulds Tod. Hier trugen besonders seine Freunde, Kollegen und Fans zu einer idealisierenden Typisierung bei. 192 Die Psychiaterin und Gould-Biografin Helen Mesaros erarbeitete die These, dass die Ursachen der späteren Ticks und Neurosen in der Kindheit und speziell der Beziehung zwischen Glenn und seiner dominanten, überbeschützenden Mutter liegen. Sie hatte enormen erzieherischen Einfluss auf seine Einstellung zur Welt bzw. provozierte durch

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der Orgel. Auch das neue Medium des Radios prägte ihn, brachte ihm Musik, Hörspiele und die Geschichten der Welt ins Haus und befeuerte seine Fantasie. Er wollte schon früh Pianist werden und brach die Schule ab.193 Stattdessen bildete er sich autodidaktisch weiter und las viel.194 Musikalisch entwickelte Glenn Gould früh einen sehr eigenen technischen wie interpretatorischen Ansatz und Musikgeschmack. Innerhalb der Musikgeschichte liebte er besonders die Schwellenmomente, an denen sich Ausdruckssprachen und möglichkeiten verändern.195 Dabei hegte er besondere Leidenschaft für die Kontrapunktik, die nach einer Entgrenzung linearer Strukturen hin zu einer Einheit der Verschiedenheiten strebt und hochgradig komplexen Ordnungs- und Kontrollsystemen folgt.196 Eine zentrale Figur war Johann Sebastian Bach.197 An ihm bewun-

ihre Dominanz Goulds rebellische, eigenwillige Haltung gegen bestimmte Konventionen. Vgl. Glenn Gould: Life & Times. 193 Hierbei spielten soziale Gründe eine wichtige Rolle: Glenn war seinen Altersgenossen weit voraus. Schulisch war er unterfordert. Aufgrund seiner Sensibilität hatte er Integrationsschwierigkeiten. Vgl. Bazzana 2001. 194 Er beschäftigte sich u. a. mit Theodor W. Adorno, Karl Barth, George Bataille, Charles Baudelaire, Samuel Beckett, Bertold Brecht, Martin Buber, Charles Dickens, Denis Diderot, Fjodor Dostojewski, T. S. Eliot, William Faulkner, Sigmund Freud, Stefan George, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Aldous Huxley, Henrik Ibsen, Henry James, James Joyce, Franz Kafka, Sören Kierkegaard, Thomas Mann, Friedrich Nietzsche, Harold Pinter, Rainer Maria Rilke, Bernhard Shaw, Friedrich von Schiller, Lew Tolstoi; vgl. Stegemann 2007, S. 109f. 195 Vgl. die Dokumentation Glenn Gould. The Alchemist. In epochalen Schwellenmomenten ereignet sich stets ein komplexer Übergang von einer entwickelten in eine neue, noch nicht definierte Epoche. Meist sind avantgardistische Strömungen maßgeblich prägend für sich entwickelnde, neue Formen, Medialitäten und Inhalte. Dieses avantgardistische Vordringen in Neuland ist von einer besonders kreativen Dynamik angetrieben. 196 Als kontrapunktisch bezeichnet man Musik, deren unabhängige Melodiekurven simultan und kommunikativ interagieren – z.B. in der barocken Fuge. »Counterpoint is the total ordering of sound, the complete management of time, the minute subdivision of musical space…« Edward Said in: Cushing, Anthony: Examining the New Counterpoint: Gould’s Contrapuntal Radio (18.10.2010), in: http://glenngould.ca/articles/2010/ 10/18/examining-the-new-counterpoint-goulds-contrapuntal-radio.html

(12.02.2011).

Vgl. Bazzana, Kevin: Glenn Gould oder die Kunst der Interpretation, Kassel: Bärenreiter 2002, S151-166. 197 »Für Bach war der kontrapunktische Stil […] ein Weg, das Leben des Geistes musikalisch zu beschreiben, eine Struktur, die viele unterschiedliche Elemente zusammen-

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derte er die Suche nach Tiefe jenseits von Konventionen und Zeitgeist. Zu seiner Musik baute er eine spirituelle Beziehung auf. In Bach sah er analog zu sich selbst einen missverstandenen, unabhängigen Nonkonformisten mit mystischer Sensibilität.198 Glenn Gould komponierte auch selbst. Seine bekannteste Komposition ist das STREICHQUARTETT IN F-MOLL OP. 1 (1953-1955), das er 1956 veröffentlichte und 1960 aufnahm. Im Januar 1955, im verhältnismäßig späten Alter von 23 Jahren, hatte Glenn Gould sein triumphales Bühnendebüt in der Town Hall von New York. Der Konzertpianist Elyakim Taussig bewertet den durchschlagenden Erfolg wie folgt: »Plötzlich bekommt man einen Klang, den niemand je zuvor gehört hat … er ist knochig, er ist stramm … er ist sehr rhythmisch, sauber und transparent. Da ist dieser drahtige, dürre Typ aus Kanada, der aussieht als würde er gleich sterben in dem Moment, wo er die Bühne betritt – so blass … er sitzt fast auf dem Boden, er singt, während er spielt. Wir haben so was noch nie gehört. Man fragt sich, wo kommt der denn her…«199

David Oppenheim von Columbia Records erinnert sich: »[Gould] erzeugte so eine religiöse Atmosphäre, dass es einfach hypnotisierend war. Und es dauerte nicht länger als fünf oder sechs Noten, um diese Atmosphäre zu schaffen, durch eine Art Zauber zwischen präziser Rhythmik und Kontrolle der werkimmanenten Stimmen.«200

Gerade Glenn Goulds geistig aufgeladene Haltung, sein unkonventionelles Repertoire201 wie auch die eigenwilligen Interpretationen erregten Aufmerksamkeit. Spätestens durch seine Bestseller-Studioaufnahme der GOLDBERG VARIATIONEN von Bach wurde er 1955 international bekannt.

bringt und vereint. Das war für ihn die beste Art, Gott zu verherrlichen.« Glenn Gould zitiert nach Lester 2007, S. 129. Übersetzung: Johanna Eder. 198 »Das Großartige an der Musik von Bach ist, dass sie alle dogmatischen Anhänglichkeiten der Kunst transzendiert, all die frivolen, verweichlichten Voreingenommenheiten der Ästhetik. Sie zeigt uns das Beispiel eines Mannes, der seine eigene Zeit bereichert, indem er nicht Teil von ihr ist. Es ist das ultimative Argument, dass man seine eigene Synthese von Zeit schaffen kann, ohne an die Konformitäten gebunden zu sein, die einem die Zeit aufdrückt.« Glenn Gould zitiert nach Lester 2007, S. 131. 199 In: Lester 2007, S. 79. Übersetzung: Johanna Eder. 200 In: Lester 2007, S. 76. Übersetzung: Johanna Eder. 201 Z.B. Arnold Schönberg und die Wiener Schule.

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Kevin Bazzana setzte sich musikwissenschaftlich mit Glenn Goulds interpretatorischem Ansatz auseinander.202 Ein musikalischer Interpret arbeitet reproduktiv, hat also vermeintlich wenig Spielraum für Kreativität. Glenn Gould verstand musikalische Interpretation jedoch als ein kreatives bzw. re-kreatives Kunstwerk. Er begriff Musik als mentalen Prozess.203 Seine Interpretationen folgten dem Ansatz eines Komponisten, der die Architektur der Komposition intellektuell seziert, von innen her erfasst und sie im Moment des Spiels gleichsam neu schreibt. Ausgestattet mit einem hohen Maß an technischer Perfektion erhielt er sich einen intuitiven Zugang zur Musik – einen direkten Strom des Denkens in die Hand.204 Glenn Gould war auf der Suche nach der »ecstatic experience«205, die für ihn nicht einfach die Erfahrung eines euphorischen Augenblicks war, der verglimmt. »Der Sinn von Kunst ist nicht ein spontaner Adrenalinschub, sondern eher das allmähliche, lebenslange Schaffen eines Zustands des Staunens und der Klarheit.«206 Ekstase bezeichnete für ihn vielmehr eine transzendentale Lebenshaltung, die in der Freude des Spiels aufgeht und über die mechanischen, zeitgebundenen Abläufe des Musizierens hinausgeht. Wie in einer Vielzahl von Filmaufnahmen zu beobachten, gibt sich Glenn Gould der intimen Unmittelbarkeit der Musik hin, verschmilzt gleichsam mit ihr in ekstatischer Erfüllung. In tranceartigen Momenten begleitet er die Musik mit seiner Stimme, wiegt den Oberkörper im Uhrzeigersinn, erfühlt mit geschlossenen Augen jeden einzelnen Ton, sublimiert ihn in spiritueller Transzendenz aus seinem Inneren, seinem Geist, seiner Geistlichkeit. Er identifiziert sich mit der Musik, als sei er selbst der Komponist. Besonders anschaulich und nachvollziehbar wird dies in der Videoaufnahme seiner Rezitation des Stücks LORD OF SA207 LISBURY PAVAN des Renaissance-Komponisten Orlando Gibbons. Von dieser intensiven ästhetischen Erfahrung Goulds geht auch für den Rezipienten eine große Kraft aus.208

202 Vgl. Bazzana 2001. 203 Vgl. Glenn Gould: A Portrait; vgl. Bruno Monsaingeon in: Glenn Gould. Hereafter. In seinen Interpretationen spiegelt sich wahre Modernität: »Der expressive Konstruktivismus der Wiener Atonalen ist nicht ohne Einfluss geblieben auf Goulds Intellektualität.« Kaiser 1997, S. 193. 204 Vgl. Glenn Gould: A Portrait. 205 Glenn Gould in: Glenn Gould: A Portrait. 206 Übersetzung: Johanna Eder, aus dem von Glenn Gould verfassten Begleittext des Albums A State of Wonder: The Complete Goldberg Variations 1955 & 1981, erschienen 1982 bei Sony BMG. 207 In: Glenn Gould. The Alchemist. 208 Vgl. Bruno Monsaingeon in: Glenn Gould. Hereafter. Wer Glenn Gould hört und in Filmaufnahmen sieht, wird hineingezogen in eine Erfahrung, von der Gould während

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Abbildung 21: Ekstase der Hl. Teresa von Ávila

Quelle: Johanna G. Eder Giovanni Lorenzo Bernini 1645-1652, 350 cm, weißer Carraramarmor Cornaro-Kapelle, Santa Maria della Vittoria in Rom

Vielleicht lässt eine mimische Parallele zu Giovanni Lorenzo Berninis EKSTASE 209 besser verstehen, welche Erfahrung Glenn Gould DER HL. TERESA VON ÁVILA des Spiels erfasst zu sein scheint. Ein solches Erlebnis schildert der Cellist Yo-Yo Ma: »Goulds Geist war ein strahlend schimmerndes Prisma, durch welches Klänge, Gefühle und Ideen magisch transformiert wurden. Als ich als Teenager seine CBS-Aufnahme von Bachs Goldberg Variationen von 1955 zum ersten Mal hörte, erlebte ich eine musikalische Erweckung, die mein musikalisches Denken der folgenden Jahre befeuern sollte« Yo-Yo Ma in: Lester 2007, Klappentext, Übersetzung: Johanna Eder. 209 L'Estasi di santa Teresa d'Avila, entstanden 1645-1652, 350 cm, weißer Carraramarmor, Cornaro-Kapelle, Santa Maria della Vittoria in Rom.

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während des Musizierens macht. Die Figurengruppe zeigt die Mystikerin 210 mit hingebungsvollem, orgasmisch verklärtem Blick im Augenblick, als ein Engel im Begriff ist, ihr den Pfeil der göttlichen Liebe ins Herz zu stoßen – eine Vision, die die Mystikerin in ihrer Autobiografie als Erkenntnis stiftende, ekstatische Immersion beschreibt.211 Eine psychoanalytische Deutung sieht in dieser Religiosität auch eine erotische Komponente.212 Abbildung 22: Glenn Goulds Mimik

Ausschnitt aus dem Cover-Foto

Ausschnitt von

des Albums Glenn Gould: A State of Won-

Giovanni Lorenzo Berninis

der: The Complete Goldberg

EKSTASE DER HL. TERESA VON ÁVILA

Variations (1955 & 1981)

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Inwieweit man Glenn Goulds Erfahrung als mystisch bezeichnen kann, sei dahingestellt. In Mimik und Gesamtausdruck der Figurengruppe und des im Musizieren

210 1515-1582. 211 »Unmittelbar neben mir sah ich einen Engel in vollkommener körperlicher Gestalt. […] In der Hand des Engels sah ich einen langen goldenen Pfeil mit Feuer an der Spitze. Es schien mir, als stieße er ihn mehrmals in mein Herz, ich fühlte, wie das Eisen mein Innerstes durchdrang, und als er ihn herauszog, war mir, als nähme er mein Herz mit, und ich blieb erfüllt von flammender Liebe zu Gott.« Zitiert aus: Weisbach 1921, S. 135f. »[Gott] lässt [der Seele] den Gebrauch ihrer äußeren Sinne verlieren, damit sie nichts anderes mehr wahrnehme. Das nennt man Ekstase (arrobamiento).« Vgl. von Avila 1991, S. 80. 212 Vgl. von Krafft-Ebing, 1907. 213 Erschienen 2002 bei Sony.

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Versunkenen gibt es jedenfalls augenscheinliche Analogien: die orgasmische Hingabe an ein intimes, transzendierendes Liebesspiel – hier die göttliche Vision, da die Musik. Glenn Gould lebt eine Liebesaffäre mit der Musik, die aus seiner Tiefe emporsteigt, mit dem Instrument und letztlich auch mit dem Rezipienten. Die Trennung zwischen Komponist, Interpret und Rezipient wird überwunden. Die Musik ist ein Kommunikationsmittel, das den Menschen214 hineinzieht in die transzendente Wirklichkeit, die er in sich trägt. Sie verhilft ihm zu einer Erfahrung der Einheit zwischen Emotio und Ratio, zwischen Ich, Du, Es und Wir, einer Erfahrung von Ganzheitlichkeit. 1.3.2 Neue Kunstform Studioaufnahme Die Sehnsucht nach stark erregenden Emotionen und einer beständigen Einheitserfahrung in der Hingabe an die Musik war für Glenn Gould immer weniger vereinbar mit der Öffentlichkeit des Konzertbetriebs. Deshalb gab er 1964 mit 32 Jahren seine steile Karriere als international gefeierter Konzertpianist auf.215 An der Form des Bühnenkonzerts beklagte er den Mangel an Fantasie216 und hielt es auf der Grundlage der neuen, kreativen und re-kreativen Möglichkeiten der Aufnahmetechnologien für tot.217 Folglich widmete er sich ausnahmslos dem Experimentieren mit elektronischen Medien und wählte das Tonstudio als neue Wirkungsstätte.218 Bei Aufnahmen spielte er jeden Take ein, ohne vorher geübt zu haben. Er wollte empfänglich und noch nicht auf eine bestimmte Interpretation festgelegt sein. Bei 15 Takes war jede Aufnahme anders modularisiert und emotional interpretiert. Die für

214 Produzent wie Rezipient. 215 Das Ende seiner Konzertkarriere hatte für ihn künstlerische Gründe. Doch eine nicht zu vernachlässigende Größe sind die physischen und psychischen Belastungen des öffentlichen Lebens sowie seine Publikumsscheu, die wachsenden Druck auf den sensiblen Musiker ausübten. Vgl. Glenn Gould. The Alchemist. 216 »Lack of imagination« Glenn Gould in: Glenn Gould. Hereafter. 217 Die kreativen Möglichkeiten eines Bühnenkonzerts waren ihm zu flach und reproduktiv. Er empfand sie als »antimusical«; vgl. Glenn Gould. The Alchemist. 218 Gould war der erste große Künstler, der die Studioaufnahme als eigenständige Kunstgattung betrachtet, da die neue Medialität ihm zu einer neuen Ausdruckssprache verhalf. Auf diesem Gebiet leistete er Pionierarbeit; vgl. Glenn Gould. Hereafter. Zudem mochte Gould kein Publikum. Für ihn war jede Person einzigartig. Er mochte mit ihr in Verbindung treten und ihre Fähigkeit stimulieren, auf Schönheit zu antworten. Es erschien ihm unmöglich, Menschen in der Masse des Publikums individuell zu berühren. Deshalb stellte für ihn das Medium der Studioaufnahme den einzig möglichen Weg dar, Menschen individuell zu erreichen; vgl. Glenn Gould: A Portrait.

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ihn gültige Version wählte er erst am Schluss.219 Besonders reizte ihn der künstlerisch-kreative Prozess des Editing, denn hier kann die Interpretation eines Werks noch entscheidend gestaltet und beeinflusst werden.220 Gegenüber Tontechnikern und Produzenten war er deshalb sehr bestimmt hinsichtlich der Gestaltungshoheit und duldete keine Anfechtung seiner Interpretationsansätze.221 Auf diese Weise entlockte er der Musik ganz neue Ausdruckswerte.222 Bereits in den 1970er Jahren formulierte Glenn Gould seine Vision einer idealen Musik, die zugleich Vision einer demokratisierten Musik ist, in der der Rezipient selbst am künstlerischen Prozess beteiligt ist: Es wird eine Anzahl an Takes eingespielt, der Hörer bekommt das ganze Paket, kann und soll es selbst zusammenstellen und nach seinem Gusto abmischen. Der Rezipient nimmt dabei nicht nur eine konsumatorische Haltung ein, sondern hat selbst Teil am kreativen Prozess und ist in seiner Rolle als aktiv Wahrnehmender gleichsam Co-Kreator. Am folgenden Ausspruch Glenn Goulds wird deutlich, dass er in seiner Kunst ein relationales Kommunikationsmodell verfolgte, in dem der Komponist, der Interpret und der Rezipient in einer dialogischen Beziehung stehen: »I think in fact we are coming into a time where […] the old stratified notions of composer, performer, listener and so on become intermingled. […] The listener and the maker are intermingled. And in a way that takes us again back to our old thoughts about the medieval age because the performer as composer as listener becomes like the illuminators who served a purpose larger than themselves. And it seems to me that what went wrong in music went wrong in the 18th century when the composer, the performer and the audience split off and became isolated. I want to see them back into a cosmic rapport once again.«223

219 Vgl. Weagel, Deborah: Musical and Verbal Counterpoint in Thirty Two Short Films About Glenn Gould, in: Lodato/Urrows 2005, S. 182. 220 »[Editing] is more exciting than playing the piano because putting together a recording is actually like being a creator.« Glenn Gould sinngemäß in: Glenn Gould: Life & Times. 221 Andrew Kazdin, Goulds langjähriger Produzent, litt zunehmend unter dessen Bevormundung, was er in seinem Buch über Gould thematisiert; vgl. Kazdin 1989. 222 Besonders anschaulich hinsichtlich Goulds experimenteller Arbeitsweise im Studio ist der Stereo-Aufnahme-Prozess von Alexander Scrjabins Désir, op. 57 no. 1 und Caresse dansée, op. 57 no. 2 aus dem Jahre 1974 mit verschiedenen Aufnahmewinkeln und perspektiven, angelehnt an die Kameratechniken des Films, in: Glenn Gould. The Alchemist. 223 Vgl. Glenn Gould. The Alchemist.

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Glenn Gould und John Cage waren Zeitgenossen. Auch Glenn Gould präparierte seinen Steinway-Flügel auf seine Weise, um mit Klängen zu experimentieren. Die beiden kannten sich auch persönlich. Im Jahr 1973 fand ein erster Briefwechsel statt. Glenn Gould hatte von der CBC224 den Auftrag erhalten, anlässlich des 100. Geburtstags von Arnold Schönberg eine Radiodokumentation über sein Leben und Wirken zu produzieren sowie über das kulturelle Klima, in dem Schönberg lebte und arbeitete. In freundschaftlich lockerem, flappsigem Ton bat er John Cage um ein Interview, im Wissen um dessen ambivalente Haltung zu Schönberg. Das Interview erfolgte telefonisch.225 Weitere Parallelen zu John Cage werden sich in der Werkanalyse herausstellen. Glenn Goulds Hochsensibilität belastete ihn und selbstzerstörerische Gewohnheiten nahmen seine Existenz mehr und mehr ein. Er lebte zurückgezogen in einem vollgestellten Hotelzimmer und arbeitete nachts. Die Liebesbeziehung zu Cornelia Foss scheiterte an seiner Bindungsangst und den zahlreichen Ticks.226 Er entwickelte hypochondriale Ängste vor Krankheiten und eine Medikamentensucht, die er vor seinen vielen Ärzten verbarg.227 Zeitweise führte er im Viertelstundentakt ein Blutdrucktagebuch, litt unter Verfolgungswahn, Halluzinationen und Panikattacken. Ratschläge von Freunden, psychiatrische Hilfe zu suchen, lehnte er ab. Doch trotz immer massiver werdender psychischer Probleme bewahrte er sich in gewisser Weise seinen speziellen Humor, seine kreative Vorstellungskraft und kindliche Begeisterungsfähigkeit. »Er wollte einfach spielen.«228 Wie krank Glenn Gould wirklich war, blieb sein Geheimnis. Er starb 1982 mit 50 Jahren an den Folgen mehrerer Schlaganfälle. 1.3.3 T HE IDEA OF NORTH Glenn Goulds Faszination für das Medium Radio spiegelt sich in zahlreichen Tonarbeiten der 1960er Jahre, die er unter anderem in Kooperation mit der CBC erstellte. 1967 lud die CBC ihn ein, sich am Programm der Hundertjahrfeier Kanadas zu beteiligen.229 In diesem Kontext entstand THE IDEA OF NORTH als erster Teil der

224 Canadian Broadcasting Company. 225 Vgl. Gould 1999, S 276/77. 226 Vgl. Genius Within: The Inner Life of Glenn Gould. 227 Er nahm Medikamente gegen Schlafstörungen, Unruhe und Angstzustände, Antidepressiva und Valium. Vgl. Lester 2007, S. 88. 228 Tim Page in: Glenn Gould. Life & Times. 229 Vgl. http://www.hermitary.com/solitude/gould.html (zuletzt aufgerufen am 13.02. 2016).

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Radiodokumentationsreihe SOLITUDE TRILOGY230. THE IDEA OF NORTH synthetisiert Glenn Goulds inhaltlichen Zugang zur Kreativität, seine transmediale Arbeitsstrategie und die dadurch von ihm provozierten Transformationen des Musikbegriffs. Dieses Werk wird hier weniger als Radiodokumentation verstanden, denn vielmehr als akustisches Kunstbild.231 Als Grundlage einer ästhetischen Analyse dient die Tonaufnahme von THE IDEA OF NORTH232 und eine von Glenn Gould selbst angefertigte Grafik über die kontrapunktische Struktur des Prologs.233 Abbildung 23: Kontrapunktische Struktur des Prologs von The Idea of North

Quelle: Lester 2007, S. 153

Am Startpunkt der einstündigen Arbeit taucht eine ruhige, weibliche Stimme am akustischen Horizont auf, die von ihren naturromantischen Beobachtungen der Hudson Bay aus einem Flugzeugfenster berichtet. Ihre modularisierte Melodiekurve fließt weich dahin. Sie hat bei 0:35 Minuten einen ersten akustischen Höhepunkt hinsichtlich der Lautstärke und fällt dann wieder etwas ab. Bei 0:50 Minuten stößt eine energische männliche Stimme dazu. Die Melodiekurven greifen ineinander, bis

230 The Idea of North (1967), The Latecomers (1969) und The Quiet in the Land (1977). 231 Das Deutsche Guggenheim wertet Goulds Solitude Trilogy und insbesondere dessen ersten Teil The Idea of North als medienkünstlerische Pionierarbeit und nennt sie »oral tone poems«; vgl. http://www.deutsche-guggenheim-berlin.de/d/ausstellungen-truenorth 03.php (zuletzt aufgerufen am 25.06.2016). 232 Gould, Glenn: The Idea of North, CBC 1967, Neuauflage als CD: 2000. 233 Diese Grafik ist abgebildet in: Lester 2007, S. 153.

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die männliche Stimme die weibliche überlagert. Ab diesem Zeitpunkt rückt die Inhaltlichkeit der Erzählungen etwas in den Hintergrund. Stattdessen gewinnt die melodische Wirkung an Gewicht. Dennoch gibt es stets eine führende Stimme, deren Worte dem Zuhörer inhaltlich verständlich bleiben. Die weibliche Stimme erreicht ihren absoluten akustischen Höhepunkt bei 1:00 Minute, insofern sie aus dem übrigen Tonmaterial herausragt, fällt dann jedoch rapide ab, bis sie bei 1:25 Minuten ausgleitet und nahezu im Off verschwindet. Hinzu kommt stattdessen eine weitere männliche Stimme. Die weibliche kehrt bei 1:55 Minuten zurück und übernimmt die Erzählung. Schließlich werden bei 2:55 Minuten alle drei Stimmen in pluraler, kakophoner Manier zusammengeführt. Man kann sie nur noch schwer voneinander unterscheiden. Allmählich fällt das Tonvolumen ab und die Stimmen fügen sich im Hintergrund zu einem weichen Klangteppich. Trotz der Kakophonie wirken die unterschiedlichen, überlagerten Stimmen nicht unharmonisch, sondern sie erzeugen vielmehr ein akustisches Gesamtbild, das gerade durch die aufscheinenden Kontraste der Stimmen, Intonationen und narrativen Inhalte eine spannungsreiche Einheit der Vielfältigkeiten widerspiegelt. Bei 3:00 Minuten begrüßt die Stimme Glenn Goulds den Zuhörer im akustischen Vordergrund: »This is Glenn Gould, and this programme is called The Idea of North […].«234 Nach dem Prolog und Goulds inhaltlich konzeptioneller Einführung sickert der erste Monolog durch das basso continuo eines ratternden Zuges – diese Vorstellung bildet gewissermaßen den Schauplatz der Szene. Fünf Protagonisten tauschen ihre Erfahrungen über das Leben im Norden aus, unterbrechen sich und antworten inhaltlich aufeinander. Glenn Gould schneidet ursprünglich voneinander unabhängige Interviews zu Dialogen zusammen und bezieht sie somit aufeinander. Dabei modularisiert er das Tonvolumen der einzelnen Stereo-Tonspuren verschieden und schneidet sie so zusammen, dass die narrative Szenerie eine virtuell räumliche Dimension erhält, als ob der Zuhörer gleichsam zwischen den Konversationen im Zugabteil hin- und hergehen könnte. Dieser wogende Rhythmus erzeugt eine fast theatralisch oder filmisch inszenierte Wirkung von Raum und Zeit.235 1.3.4 Bezüge Glenn Gould wählte eine zunächst thematisch induzierte, künstlerische Arbeitsstrategie. Er entschied sich für den Topos des Nordens und entwickelte von dort her

234 Cushing 2010. 235 Gould behandelt den virtuellen Raum wie eine Bühne, auf der er das akustisch repräsentierte Handlungsgeschehen arrangiert und inszeniert. Da Gould Kameratechniken wie close up und wide shot ins Akustische überträgt und im Editingprozess verstärkt, erzeugt er ähnliche narrative und räumlich-plastische Effekte wie im Film.

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sein Werk. Die unerschlossene Arktis und Subarktis bestimmen ein Drittel der kanadischen Geografie. Der Norden steht für ein archaisches, kanadisches Lebensund Kulturgefühl.236 Schon allein dieser Topos strebt nach Entgrenzung – physisch wie metaphysisch.237 Vom Norden und seiner abstrakten Weite war Gould fasziniert, hatte jedoch eine eher romantisierende, metaphorische Vorstellung. Die Angst vor menschlicher Nähe, die Erfahrung der Einsamkeit als Voraussetzung für innere Entgrenzung, die Suche nach einem puritanischen Ideal der Reinheit und Unberührtheit, die Stille der Natur, vielleicht auch die Konfrontation mit einer Extremsituation, all dies erzeugte in ihm die Sehnsucht nach dem Norden.238 Da der Norden jedem Menschen, der sich dorthin wagt, Einsamkeit und Isolation aufzwingt, entspricht die Allegorie des Nordens für Gould folglich einer Quelle und einem Garant für Kreativität.239

236 Vgl. Glenn Gould: A Portrait; vgl. Atwood 1972. 237 In der kanadischen Kultur bezeichnet der Topos des Nordens – analog zum Topos des Westens in der US-amerikanischen Kultur – die Sehnsucht und Notwendigkeit, sich im Landnahmeprozess unerschlossenes Territorium anzueignen, Lebensraum physisch zu entgrenzen. Der Norden birgt jedoch, anders als der Westen, viel dramatischere Bedingungen wie Permafrost, Tundra und Taiga. Metaphysische Entgrenzung meint hier die subjektive, psychische Dimension einer Extremerfahrung des Lebens in lebensfeindlichem Gebiet; vgl. Grace 2007. Die psychische Dimension einer Extremerfahrung des nordamerikanischen Nordens wird anschaulich thematisiert in: Krakauer 2007. 238 Vgl. Stegemann 2007, S. 249. 239 Vgl. den Online-Artikel zu The Idea of North: http://www.hermitary.com/solitude/ gould.html.

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Abbildung 24: Glenn Gould im Muskeg-Express

Quelle: http://www.collectionscanada.gc.ca/glenngould/0280101040.03-e.html (22.04.2013).

Inspiriert wurde er durch eine private Zugreise 1964 mit dem Muskeg-Express von Winnipeg nach Churchill.240 Auf dieser Reise sammelte er mit einem Tonbandgerät Stimmen und Geräusche. Das Erlebnis dieser Reise, die Begegnungen, Gespräche und die Atmosphäre in seinem Zugabteil dienten als inhaltliche Vorlage für sein Klangkunstbild. Er ergänzte sein Footage241 mit fünf unabhängigen, selbst aufgezeichneten Interviews verschiedener Personen, die in der Funktion von dramatis personae242 in reflexiver und assoziativer Manier von ihrer persönlichen Beziehung 240 »The Muskeg Express, as it is known, was an overnight excursion and it stopped at every town, village and camp site along the way. It was a most interesting trip and the train was filled with many colourful characters, each one with enough stories to fill a thousand train rides.« Penner, Fred: Train to Churchill, in: http://www.travelmanitoba.com/ default.asp?page=843622 (zuletzt aufgerufen am 27.04.2011). Vgl. Salino, Brigitte: LE MONDE. In the footsteps of Glenn Gould, in the Great North (08.-09.02.2009), in: http://www.cdn-orleans.com/2009-2010/images/stories/images/fichiers/0809/FicheSpectacleIdeeDuNordENG.pdf (zuletzt aufgerufen am 16.05.2016). 241 Hiermit ist Ausgangsmaterial in Form von Ton- bzw. Filmbändern gemeint, das dann im Editing-Prozess zusammengeschnitten wird. 242 Dramatis personae (lat.) bezeichnet die handelnden Personen in einem Bühnenstück. Der Begriff wird in diesem Kontext neu verwendet; vgl. http://www.hermitary.com/ solitude/gould.html vom 06.02.2013.

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zum Norden Kanadas berichten und deren kontrastierende Persönlichkeiten bewusst gewählt sind hinsichtlich des dramatischen Konzepts, das Glenn Gould nach dem Prolog einführt.243 Das Footage und die fünf Stimmen wurden nach einer komplexen Choreografie zu einer einstündigen Radiosendung zusammengestellt. Inhaltlich kondensierte Gould damit gleichsam seine eigene ästhetische Erfahrung wie auch die der fünf Protagonisten. Im Laufe der Dokumentation entwickelt sich jedoch kein zusammenhängender Plot, sondern die Inhalte des Footage sind vielmehr collageartig nach akustisch-formalen bzw. assoziativen Kriterien zusammengestellt. Damit behält die inhaltliche Gesamtwirkung einen sehr offenen, beiläufigen Charakter – eben wie die Fahrt in einem Zugabteil, während der man mal diesem, mal jenem Gesprächsfetzen folgt und sich in seiner eigenen Vorstellung einen narrativen Zusammenhang erstellt. Auch hier sickert abermals Glenn Goulds relationales Kommunikationsmodell durch. Das musikalische Konzept der Klang-Collage entstand bereits 1930 mit Walter Ruttmanns Weekend und in den 1940er Jahren in Verbindung mit der Musique concrète, als Künstler neuartige, technische Möglichkeiten wie Tonbandschleifen und Klangveränderung entdeckten und Naturgeräusche, Musikausschnitte und andere Samples zu oftmals verstörenden Klangexperimenten verbanden. In Anlehnung an das künstlerische Konzept der Collage entstanden von kompositorischen Konventionen befreite Werke, die großen Einfluss auf die spätere elektronische Musik und repetitive Arrangements haben sollten. Von dieser Stilistik und von avantgardistischen Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und John Cage waren auch die Beatles fasziniert.244 Glenn Gould hingegen reist in die Stille der Einsamkeit, blickt hinter die Struktur einer ästhetischen Erfahrung im Norden, in der Natur, in der Musik. Unter kompositorischen Gesichtspunkten wagt Glenn Gould ebenfalls eine Reise in unerschlossenes Territorium.245 Auf musikalischer Ebene arbeitet er akribisch mit dem Material des gesprochenen Wortes und mit Geräuschen, die er wie separate, ineinander verwobene Melodiekurven behandelt. Tatsächlich komponiert er die

243 Gould, Glenn: The Idea of North, CBC 1967, Neuauflage als CD: 2000. 244 Ab 1966 bauten sie entsprechende Aufnahmetechniken in ihre Songs ein. So etwa im experimentell avantgardistischen Stück Revolution 9 des weißen Albums, das den Rezipienten in ein Großstadt-Karussell kakophoner Reizüberflutung steckt, gleichsam als Spiegel der Wahrnehmung und des Zeitgeists. (Erschienen 1968 bei Apple, von John Lennon und Yoko Ono in Zusammenarbeit mit George Harrison. Mit einer Laufzeit von 8,22 Minuten ist es das längste veröffentlichte Stück der Beatles.) Vgl. Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. In: Dahlhaus 1984. 245 Eine Analogie zum kanadischen Topos des Nordens.

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ersten drei Minuten des Prologs nach dem kontrapunktischen Kompositionsschema der barocken Fuge und nennt diese Technik »contrapuntal radio«246. Diese anachronistische Strategie der Klang-Collage lässt sich auf Goulds bereits beschriebene Passion für Bachs kontrapunktische Musik zurückführen. Heute scheint eine solche transmediale Arbeitsweise247 nicht mehr ungewöhnlich. Doch 1967 prägte sie ein ganz neues Radioverständnis. Indem Glenn Gould die Regeln der Radiodokumentation brach248, transformierte er sie ein für alle Mal. Doch er ging sogar noch einen Schritt weiter. Indem er Analogien zwischen der Welt des musikalischen Kontrapunkts und der technischen Audioproduktion erzeugte, begründete er eine neue Form der Komposition. In der Verbindung von Leben und Kunst, von Natürlichkeit und Künstlichkeit und besonders unter Verwendung neuester Technologien verließ Glenn Gould sein Terrain, um die musikalisch-territoriale Grenze so weit wie möglich zu entgrenzen. Er transformierte bzw. erweiterte damit den Musikbegriff. 1.3.5 Resümee The Idea of North ist eine künstlerisch forschende Expedition in ferne Territorien. In der Kombination zweier völlig konträr anmutender künstlerischer Strategien – der narrativen Radiodokumentation und dem kompositorischen Konstrukt der Fuge – werden nicht nur der archaische Topos des Nordens und seine immanent romantische Poesie reflektiert, sondern auch die akustische Ästhetik und die Entwicklungsmöglichkeiten der Fuge im Kontext neuer Medialitäten ergründet. Glenn Goulds feldforschender, konzeptioneller Ansatz vernetzt außerdem Spezifika verschiedener Kunstgattungen.249 Dem Arbeitsprozess ging eine intensive ästhetische

246 Cushing 2010. 247 Goulds Arbeitsweise kann in The Idea of North als transmedial bezeichnet werden, da er verschieden konfigurierte Zeichenverbundsysteme ineinander übergehen lässt. Er verschmilzt musikalische Kompositionstechniken, die normalerweise an das Medium eines Musikinstruments gebunden sind, mit dem Medium der dokumentarischen Tonbandaufnahme, das er wiederum mit den zur Verfügung stehenden Medien im Schneidelabor manipuliert. Dabei entsteht ein neues Medium mit besonderen Qualitäten. 248 In einer konventionellen Radiodokumentation ist dokumentarisches Footage so zusammengeschnitten, dass informative Zusammenhänge möglichst objektiv vermittelt werden. Gould wandte sich dagegen und schnitt sein dokumentarisches Footage so zusammen, dass nicht nur eine abstrakte, fiktive Narration entstand, sondern dass das Footage zweckentfremdet wurde. Es hatte nicht mehr dokumentarischen, sondern klangkünstlerischen Wert. 249 Er verbindet die musikalische Qualität der Fuge mit theatral-filmischen Schneidestrategien und erzeugt auf semantischer Ebene innere Bilder beim Rezipienten.

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Recherche über Inhalt, Form und Medialität des zu entstehenden Werks voraus. Gerade in der Balance von sozialer Konfrontation, spielerischem Experiment und dem Rückzug in die intellektuelle Reflexion ereignet sich die kreative Transformation des Ausgangsmaterials.250 Damit überschreitet die transmediale Klang-Collage The Idea of North normative Grenzen und erschließt letztlich Neuland – nicht nur hinsichtlich der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten Glenn Goulds, sondern auch für den Rezipienten. Denn das Werk konstituiert sich in seiner subjektiven Imagination und macht ihn somit zum Co-Kreator.251 Howard Fink fasst die Bedeutung von The Idea of North für Glenn Goulds eigenes Schaffen prägnant zusammen: »A major theme of The Idea of North is existential human communion … Gould’s contrapuntal documentaries are … his greatest creations, the realization of his desire to move from the world of performance to that of ›composition‹. It was with The Idea of North that Gould seriously launched his new genre, and began his creative adventure.«252

Glenn Goulds Persönlichkeit schien geprägt zu sein von einer bipolaren Widersprüchlichkeit. Schon aus seiner Kindheit geht hervor, dass sich zwei Pole in ihm vereinten: Intellektualität und kindliches Spiel. Sein Leben lang überschritt er damit etablierte Formen, um Gestaltungsraum zu gewinnen. Doch diese nonkonformistische Möglichkeit zum entgrenzenden Experiment kann auch zu problematischen Extremfällen führen. Der aus dieser avantgardistischen Haltung resultierende, gesellschaftliche Stress strapazierte Glenn Goulds sensible Persönlichkeit ebenso wie seine Gesundheit und führte neben anderen Auslösern letztlich zu psychopathologischen Symptomen. Seine kompromisslose, ekstatische Hingabe an den Selbsterkenntnisprozess der Musik war bei ihm auch eine Form der Egozentrik. Anderes hatte immer weniger Platz. Dennoch birgt seine Musikerfahrung das Moment einer kollektiv erfahrbaren Gemeinschaft. Damit erschloss er auch anderen ein neues Territorium. Mit seinem Schaffen setzte er seiner Heimat Kanada ein identitätsstiftendes Denkmal und konstituierte so die Kultur einer noch jungen Nation entscheidend mit. Bis heute rührt er Menschen an und inspiriert die Werke vieler Musiker, Komponisten, Maler und Bildhauer, Choreografen, Schriftsteller, Filme-

250 Gould wird inspiriert durch die Begegnungen auf der Reise mit dem Muskeg Express. Diese verarbeitet er anschließend in der Einsamkeit des Tonstudios. Vgl. Oerter 1999, S. 298-303, hier S. 303: »Die künstlerische und die spielerische Tätigkeit haben als formale Merkmale Selbstzweck und intrinsische Regulierung miteinander gemeinsam.« 251 Analog hierzu vgl. Dewey 1988, S. 62. 252 Howard Fink zitiert nach Lester 2007, S. 153.

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macher und Kulturphilosophen – sei es durch seine Persönlichkeit, sei es durch seine Arbeitsstrategien.253 Im Glenn Gould Park in Toronto254 steht eine Bronzeplastik, die den bereits in Kapitel B 3 erwähnten Peter Pan darstellt. Es ist die einzige explizite Verbindung zwischen der Musikerpersönlichkeit und dem Helden der Erzählung. Auch Glenn Gould lotete im Spiel und in der Einsamkeit die Grenzenlosigkeit der Fantasie aus und bewahrte sich zeitlebens das innere Kind. Der »state of wonder and serenity« mag sein Nimmerland gewesen sein. Tabelle 5: Glenn Gould Ausgangspositionen

Netzwerkstrukturen Subjektive Erfahrung Künstlerisch-kreative Strategien

Entgrenzungsphänomene

Nonkonformismus, multiple Interessen, Suche, prägende Auseinandersetzung mit Komponisten und anderen Kunstgattungen Vernetzung von Kunstformen Erkenntnissuche, Liebe und Freiheit, Immersion, transzendente Musikerfahrung Reisen, Feldforschung, Spiel, Komposition, ReKreativität, contrapuntal radio, anachronistische Klang-Collage, theatral-filmische Schneidestrategien, Einsamkeit und Isolation Erweiterter Musikbegriff, Demokratisierung der Musik: Trennung zwischen Komponist, Interpret und Rezipient wird überwunden

Quelle: Johanna G. Eder

253 Künstler beziehen sich in ihren Werken direkt oder indirekt auf Gould, knüpfen an seine Arbeitsstrategien und Inhalte an. Zeugnisse dafür sind z. B. die Romane Der Untergeher (1983) von Thomas Bernhard und The Silence of the Lambs (1988) von Thomas Harris, sowie die experimentellen Dokumentarfilme Thirty two Short Films about Glenn Gould (P/CA/FIN/NL 1993) von Francois Girard und Pilgrimage to Solitude (CA 2009) von Mark Laurie. 254 An der Ecke St. Clair Ave und Avenue Road. Ein Abguss der 1912 von James Matthew Barrie (1860–1937) persönlich bei Sir George Frampton in Auftrag gegebenen Plastik, deren Original in den Londoner Kensington Gardens steht.

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1.4 J OSEPH B EUYS – Z EIGE

DEINE

W UNDE

Joseph Beuys setzte sich in seinen Werken intensiv mit Fragen des christlichen Humanismus, der Sozialphilosophie, der Anthropologie und Anthroposophie auseinander. Dies führte zu seinem erweiterten Kunstbegriff und zur Konzeption der Sozialen Plastik. Joseph Beuys’ Aussage »Jeder Mensch ist ein Künstler« besagt, dass jeder Mensch kreative Liebesfähigkeit in sich trage. Seit Ende der 1970er forderte er zu einem kreativen Mitgestalten in Politik und Gesellschaft auf und schuf Soziale Kunst als eine neue Kunstgattung. Der Kreativitätsbegriff, der dabei im Zentrum steht, hängt mit seinen Erfahrungen von Krise und Tod zusammen. Joseph Beuys beeinflusst Künstler weltweit und polarisiert bis heute. 1.4.1 Kurzbiografie Geboren wurde Joseph Heinrich Beuys 1921 in Krefeld als Sohn des Kaufmanns Josef Beuys und Johanna Beuys. Er wuchs im kleinbürgerlichen, streng katholischen Milieu Kleves und in der legendenumwobenen Landschaft des Niederrheins auf. Zu den Eltern bestand keine besonders enge Beziehung. Joseph Beuys war ein naturwissenschaftlich interessiertes, wildes Kind. Besonders identifizierte er sich mit einer historischen Figur der Gegend: Anacharsis Cloots, geboren 1755 auf Schloss Gnadenthal bei Kleve. Cloots hatte während der Französischen Revolution in den Reihen der Jakobiner gekämpft, hatte der französischen Nationalversammlung als »Redner des Menschgeschlechts«255 ein Dankesschreiben überreicht und die Werte der Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – als allgemeine Menschheitsideale erklärt. Für diese Ideale war er 1794 durch das Fallbeil hingerichtet worden. Eben diese Prinzipien würden Joseph Beuys sein Leben lang nicht loslassen. Er zeigte bereits im Zeichenunterricht Talent, ebenso lernte er früh Klavier und Cello spielen. Musikalisch interessierte er sich u.a. für Richard Wagner und Richard Strauß. Während der Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten im Hof des Klever Gymnasiums rettete Joseph Beuys als 17-Jähriger heimlich einen Katalog mit Abbildungen von Werken des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck. Diese Entdeckung hatte eine mystische Wirkung auf ihn und stieß die Auseinandersetzung mit der Plastik an. Später formulierte er in Erinnerung an Lehmbruck: »Ich verstand, es geht um das Weiterreichen der Flamme in eine Bewegung hinein […] als eine Grundidee zur Erneuerung des sozialen Ganzen.«256

255 Schminnes 1988. 256 Stachelhaus 1989, S. 16.

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Diese Episode markierte gleichsam eine Art Berufungserlebnis.257 Joseph Beuys interessierte sich schon früh für existentielle anthropologische Fragen. Vor dem Abitur las er Paracelsus, Goethe, Schiller, romantische und skandinavische Literatur. Bei Novalis faszinierte ihn die Gleichsetzung von menschlicher Todesüberwindung mit der Auferstehung Christi. In der Philosophie konzentrierte sich sein Interesse auf Kierkegaards Ansatz, dass die Existenz die Synthese des Zeitlichen und Ewigen und der Mensch das Absolute sei. Hier lagen die Anfänge von Joseph Beuys’ lebenslanger Auseinandersetzung mit dem Christentum, dem mystischen Pantheismus, der Kosmologie, der Anthroposophie. Nach dem Abitur 1940 folgte der Einberufungsbefehl. In der Luftwaffe fügte sich der Individualist Joseph Beuys nicht ohne Weiteres den Regeln des Gehorsams. Doch sein Vorgesetzter Heinz Sielmann, der Biologe, Zoologe und spätere Tier- und Dokumentarfilmer, freundete sich mit ihm an und bildete ihn zum Bordfunker aus. Durch ihn vertiefte Joseph Beuys sein naturwissenschaftliches Wissen und kam in Kontakt mit einem Kreis philosophisch interessierter Kameraden. Sie führten philosophische, psychologische und pädagogische Diskussionen und befassten sich intensiv mit Friedrich Nietzsche. Die einzig bekannte Kriegsepisode wurde zur Legende: Im Winter 1943 stürzte Joseph Beuys mit seiner Maschine über der Krim ab. Der Pilot kam ums Leben, Joseph Beuys überlebte lebensbedrohlich verletzt. Der Körper war von Granatsplittern durchdrungen. Er erlitt unter anderem einen doppelten Schädelbasisbruch. Von einem halbnomadisch lebenden Tartaren-Stamm wurde er aufgelesen und gepflegt.258 Sie versorgten seine Wunden mit talghaltigen Salben, wickelten ihn in Filzdecken ein, damit er nicht auskühlte. Diese Erfahrungen von großen Schmerzen, Todesnähe, menschlicher Zuwendung und wiedererlangtem Leben waren prägend. Zurück in der Armee wurde er aufgrund von Befehlsverweigerungen degradiert, doch aufgrund weiterer Kampfverletzungen erhielt er dennoch Tapferkeitsauszeichnungen.

257 Vgl. Stachelhaus 1989, S. 16-18. Eine Kerzenflamme stellt in der Geschichte der Malerei häufig eine Gotteserfahrung dar, ein inneres Brennen, das zu abstrakt ist, um es in Worte zu fassen. So ist die Flamme Sinnbild für die Sehnsucht nach transzendenter Erfahrung. Aus der Distanz heraus kann man wissen, was eine Flamme ist. Wenn man die Wärme der Flamme spüren möchte, muss man in ihr Inneres gehen. Das ist eine Form der Selbsthingabe. 258 Man geht heute davon aus, dass Beuys nur wenige Stunden bei ihnen war. Vgl. Lange 1999.

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1.4.2 Prägungen: SONNENKREUZ, Krise, Lehrer, Vernetzung zu Marcel Duchamp und John Cage Nach einem Jahr britischer Kriegsgefangenschaft immatrikulierte sich Joseph Beuys 1946 an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Zunächst in der Klasse für Monumentalbildhauerei bei Joseph Enseling wechselte er bald zu Ewald Mataré. Dieser ernannte den außergewöhnlich begabten Studenten mit einer großen Sensibilität für Materialien 1951 zu seinem Meisterschüler. Joseph Beuys bezog ein Atelier unter dem Dach der Akademie, wo er naturwissenschaftliche und alchemistische Experimente durchführte. Sein Kommilitone Günter Grass erinnert sich, dass es in der Klasse »christlich bis anthroposophisch zuging«259. Mataré selbst orientierte sich an den alten Bauhüttenidealen der Gotik, die auch Joseph Beuys faszinierten.260 Ein zentrales Thema der Klasse war die Diskussion über Rudolf Steiners Anthroposophie.261 Bereits in seinen Frühwerken spielten christliche Bezüge eine Rolle.262 Seine Arbeiten hatten häufig christliche Themen. Doch er veränderte die gängige Ikonographie. Das SONNENKREUZ263 aus seinem ersten Studienjahr 1947/48 zeigt den Corpus des Gekreuzigten Jesus Christus mit nach oben gewinkelten Armen. Das Haupt ist mit Weintrauben umkränzt. Darüber sendet eine rotierende Sonnenscheibe ihre Strahlen aus. Die nach oben gereckten Arme hängen regelrecht an der Sonne als kosmischem Symbol des sich immerzu erneuernden Lebens. Joseph Beuys sucht hier Synthesen. Diese Kreuzigungsdarstellung verbindet Jesu Opfertod am Kreuz

259 Grass 2006, S. 348. 260 In der Bauhüttenkultur verschreibt sich das Künstlerkollektiv ganz dem mystischreligiösen Konzept des Dombaus. 261 Im Beuys’schen Denken finden sich dazu viele Parallelen. Rudolf Steiner (1861-1925) war eine wichtige Inspirationsquelle. (Vgl. Stachelhaus 1998, S. 54-59.) 262 Nach Beendigung des Studiums 1953 erhielt Joseph Beuys weitere plastische Aufträge im Bereich der angewandten Sakralkunst. Auch setzte er sich intensiv mit Auschwitz auseinander. Das Symbol des Kreuzes dominierte. Rückblickend äußerte sich Joseph Beuys zur frühen, religiös motivierten Kunst wie folgt: »Ja, das ist wohl der erste Versuch, sich an so etwas heranzubegeben … Dann erschöpft sich diese Versuchsreihe, vom traditionellen Motiv her an das Spirituelle heranzukommen. Dieses Experiment erschöpft sich schon um 1954 herum. […] Und da wird mir klar, daß über diesen abbildlichen Weg mit dieser Christusfigur das Christliche selbst nicht zu erreichen ist. Jedenfalls nicht durch mich.« Joseph Beuys zitiert in: Rombold 1998, S. 151. 263 36 cm hohe Bronzeplastik, Pinakothek der Moderne, München.

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mit der Eucharistie und der Auferstehung.264 Zudem lässt sich eine Verbindung zu Nietzsches Ausdeutung der griechischen Mythologie von Dionysos und Apoll vermuten.265 Abbildung 25: Sonnenkreuz

Quelle: © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 1947/1948, 36 cm hoch, Bronzeplastik Pinakothek der Moderne, München

264 Tod und Auferstehung gehören in der Christologie zusammen, ausgedrückt im Kreuz, dem Symbol des Triumphes über den Tod, der Erlösung und des Lebens. Vgl. Rombold 1998. 265 Vgl. von Maur, Katrin: Joseph Beuys und der »Christusimpuls«, in: Bastian 1992. Analog dazu mehr im Kapitel A 2 zu den Schöpfungsmythen.

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Im Dezember 1954 löste seine Verlobte unerwartet die Verbindung, was Joseph Beuys in eine tiefe, zwei Jahre andauernde Depression stürzte. Er arbeitete nicht mehr und zog sich immer stärker zurück, bis ihn Freunde verwahrlost fanden. Die Wende markiert eine sechswöchige Episode im Sommer 1957 auf dem Bauernhof seiner frühen Förderer, Sammler und Freunde Hans und Franz Josef van der Grinten, die ihn gesund zu pflegen versuchten. In einem zentralen Gespräch kam heraus, dass Beuys eine innere Dunkelheit durchlitt. Dabei antwortete ihm die liebevolle, tief gläubige Mutter seiner Freunde, dass Gott ganz sicher mit Joseph sei, da er ihm das Talent für die Kunst ins Herz gelegt habe. Sie appellierte an sein Verantwortungsbewusstsein, diesem Talent zu genügen. Ihre Eindringlichkeit bewirkte einen kraftvollen Wandel in Joseph Beuys. Mit dem erstarkenden Selbstvertrauen blühte auch die Schaffenskraft wieder auf. Später begriff er seine Krankheit als eine Art Läuterung und deutete sie als den Samen eines positiven Entwicklungsprozesses. Jedenfalls waren Depression und Genesung eine prägende Erfahrung, die als zweite Lebensrettung durch tätige Nächstenliebe verstanden werden kann, diesmal auf psychischer Ebene.266 Diese Jahre der Krise führten zu einer Umwandlung seiner Person.267 Nach der bewältigten Krise folgte ein künstlerischer Neubeginn. Joseph Beuys wandte sich von den traditionellen Formen der Gestaltung ab. Vielmehr entdeckte er die Kunst als Lebensprinzip und strebte eine Synthese von Kunst und Wissenschaft an. 1958 verwendete er erstmals die für die Kunst ungewöhnlichen Materialien Fett und Filz. 1959 heiratete er die Kunsterzieherin Eva-Maria Wurmbach.268 Die Kleidung des Künstlers avancierte zum Markenzeichen.269 1961 folgte die Berufung an den Lehrstuhl für Monumentalbildhauerei der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf. Bald wurde klar, dass Joseph Beuys’ Kunstverständnis mit

266 Vgl. Stachelhaus 1998, S. 54-59. 267 Joseph Beuys sagte später in einem Gespräch: »Bei dieser Krise wirkten zweifellos Kriegsereignisse nach, aber auch aktuelle, denn im Grunde mußte etwas absterben … Der Initialvorgang war ein allgemeiner Erschöpfungszustand, der sich allerdings schnell in einen regelrechten Erneuerungszustand umkehrte … Krankheiten sind fast immer auch geistige Krisen im Leben, wo alte Erfahrungen und Denkvorgänge abgestoßen, beziehungsweise zu durchaus positiven Veränderungen umgeschmolzen werden.« Joseph Beuys zitiert in: Rombold 1998, S. 151. 268 Mit ihr bekam er die Kinder Wenzel und Jessyka. Seine Familie war ihm eine starke Stütze und er legte Wert auf ihre Teilnahme an seiner Kunst. Eva Beuys erlebte ihren Mann stets als ausgeglichen, geduldig, humorvoll, in sich und seiner positiven Lebenseinstellung ruhend. Vgl. Stachelhaus 1998, S. 182-186. 269 Er trug einen Filzhut, auch aufgrund seiner kriegsbedingten Kopfverletzungen. Die Anglerweste nähte ihm seine Frau. Jeans und weißes Hemd galten in den 1960er Jahren als legere Arbeitskleidung.

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klassischer Bildhauerei nichts mehr zu tun hatte. Als engagierter, nahbarer Pädagoge pflegte er Beziehungen auf Augenhöhe. Er war auf der Suche nach einem umfassenden Kunstbegriff für alle Menschen, betreute jeden, der bei ihm studieren wollte – zeitweise 400 Studierende.270 So kam es jedoch zum Eklat: Nachdem er mit Studierenden das Sekretariat besetzt hatte, um eine Änderung des Zulassungsverfahrens zu bewirken, folgte 1972 die Kündigung und eineinhalb Jahre später, nach weltweiter, heftiger Forderung auf Wiedereinsetzung eines der bedeutendsten Künstler der deutschen Nachkriegszeit, die Heimholung an die Kunstakademie – inszeniert von seinen Studenten.271 Joseph Beuys stand in einer gewissen Vernetzung zu Marcel Duchamp und John Cage. 1962 stieß er auf die Fluxus-Bewegung und stand ihr eine Zeit lang nahe. Er war fasziniert vom Moment der Bewegung und des Fließens. Doch mit ihrer AntiKunst-These konnte er sich nicht anfreunden bzw. missverstand sie womöglich. Schon mit seiner ersten Aktion272 stellte er vielmehr die Frage nach dem Geheimnis der Existenz und forderte eine Transformation vom herrschenden Materialismus hin zum Geistigen und Spirituellen. Aktionen wurden zum eigentlichen Zentrum seines Werks. Sie verbinden Raum und Zeit, Zeichnung und Verbalsprache, Körper und Musik. Durch verschlüsselte Symbolsprachen entzog er die Werke einem raschen Verständnis. Vielmehr wies er auf die Selbstbestimmung des Rezipienten und die Bedeutung der Intuition hin.273 Am 11. Dezember 1964 führte er im Zuge einer Live-Sendung des ZDF im Landesstudio Nordrhein-Westfalen die Aktion DAS SCHWEIGEN VON MARCEL DUCHAMP WIRD ÜBERBEWERTET auf. Der Titel der Aktion enthielt »Kritik an Duchamps Kunstbegriff und ebenso an seinem späteren Verhalten und dessen Kultivierung, als er die Kunst aufgab und nur noch dem Schachspiel und der Schriftstellerei nachging.«274 Für Joseph Beuys war künstlerisches Gestalten ein Zusammenspiel aus Sprechen, Denken und Schweigen, um das eigenständige Denken des Rezipienten anzuregen.

270 Daraus gingen viele bedeutende Namen hervor wie Blinky Palermo, Jörg Immendorff, Anatol und Johannes Stüttgen. 271 Mehr zu seinem politischen und pädagogischen Engagement im Kapitel D 3.1.3. über kunstpädagogische Ansätze. 272 Am 2. Februar 1963, Sibirische Symphonie, 1. Satz im Rahmen des Festum fluxorum fluxus in der Kunstakademie Düsseldorf. 273 Vgl. Rombold 1998. 274 Vgl. Mink 1994, S. 15.

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John Cage hingegen schätzte er sehr..275 Am 1. Januar 1984, 35 Jahre nach Erscheinen des Romans 1984 von George Orwell, nahm er mit John Cage in einer globalen Live-Schaltung über Satellit am TV-Projekt GOOD MORNING MR. ORWELL (BONJOUR MR. ORWELL) von Nam June Paik teil. Mittels technischer Bildmanipulationen erschienen John Cage und Joseph Beuys simultan auf dem Fernsehschirm. 276 John Cage produzierte in New York mit einer Vogelfeder Geräusche. Joseph Beuys führte mit seiner Tochter Jessyka im Centre Georges Pompidou die Aktion ORWELLBEIN – HOSE FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT durch. Er trug dabei eine Jeans mit einem runden Loch auf dem rechten Knie. Er selbst äußerte über das Multiple, jeder auf der Welt solle sich eine solche Hose machen, um gegen den weltweiten Materialismus und die Unterdrückung zu kämpfen.277 Kurz vor seinem Tod hielt der Künstler 1985 mit Sprechen über das eigene Land: Deutschland278 eine Grundsatzrede in den Münchner Kammerspielen. Er thematisierte dabei noch einmal seine Theorie, dass »jeder Mensch ein Künstler« sei. Im Januar 1986 wurde ihm der angesehene Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg verliehen. Elf Tage später verstarb er mit 64 Jahren in seinem Atelier in Düsseldorf an den Folgen eines Herzinfarkts.279 1.4.3

ZEIGE DEINE

W UNDE

Eines seiner Schlüsselwerke, die Installation ZEIGE DEINE WUNDE (Abb. 26), synthetisiert Joseph Beuys’ Denken und Arbeiten. In Zusammenarbeit mit der Galerie Schellmann & Klüser wurde es 1976 als Environment280 in einer Fußgängerunter-

275 Vgl. Sharp, Willoughby: An interview with Joseph Beuys, In: Artforum, Dezember 1969, S. 46; zitiert nach Jürgen Geisenberger, Joseph Beuys und die Musik, S. 30. 276 Vgl. Detlef Stein in: Herzogenrath/Nierhoff-Wielk 2012, S. 171. 277 Vgl. Schellmann 1997, S. 491. 278 Beuys, Joseph: Sprechen über Deutschland. Rede vom 20. November 1985 in den Münchener Kammerspielen, Wangen: FIU-Verlag 2002. 279 Er wurde am 14. April 1986 auf See bestattet. Das deutsche Motorschiff Sueño (deutsch: Traum) übergab seine Asche der Nordsee. Vgl. Adriani et al. 1988, S. 204. 280 Das Environment (dt.: Umfeld, Umgebung) ist seit den späten 1950er Jahren ein Begriff für künstlerische Arbeiten, die sich mit der Beziehung zwischen Objekt und Umgebung auseinandersetzen. Dabei kann die Umgebung Teil des Kunstwerkes werden. Es bemüht sich um die Überwindung der Trennung zwischen Kunst und Leben. Vgl. Broer 1987.

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führung in der Münchner Maximilianstraße Ecke Altstadtring im Rahmen einer Aktion präsentiert.281 In szenenhafter Anordnung befinden sich 12 Objektpaare eng aneinandergerückt in einer Art Bühnenraum. Da der Raum durch ein Stahlseil abgetrennt ist, kann der Rezipient ihn nicht betreten, sondern erlebt ihn vielmehr wie einen überdimensionierten Schaukasten. Die Objekte sind durch strenge Geometrie miteinander verbunden, in einem abstrakten Netz von Rändern und Kanten, Linien und Flächen, Horizontalen und Vertikalen. Die Ränder des Raumes sind rhythmisch strukturiert: vier hochformatige Rechtecke gliedern die Rückwand. An der rechten Wand bildet eine querformatige, große, weiße Holzplatte ein Gegengewicht. Links und rechts ziehen je zwei senkrechte Stabwerkzeuge den Blick nach oben. Vorne links hängen zwei hochformatige Schaukästen. Auch im Raum selbst stehen Objekte. In der hinteren linken Ecke erzeugt eine Objektgruppe Tiefenraum, ist Zentrum bzw. visueller Startpunkt der Installation. Zwei fahrbare, abgeblätterte Leichenbahren282 bestimmen die Szene und wirken wie das Inventar aus einer anonymen Krankenstation bzw. Pathologie. Das Blech der Bahren hat hinten am assoziierten Kopfende je eine handgroße Öffnung. Genau darunter stehen zwei geöffnete Zinkblechkisten283, die randvoll sind mit einer verkrusteten, braungelben Fettmasse. Darin liegt je ein Fieberthermometer. Zwei mit Gaze verschlossene Reagenzgläser284 mit Schädeln von Singvögeln (Drossel) darin ragen ein Stück über den Rand und führen hinüber zu zwei mit Gaze abgedeckten Weckgläsern 285. Der fragile Aufbau wirkt wie die Improvisation einer chemischen Versuchsanordnung. Über den Kopfenden der Bahren hängen in frontaler Aufsichtigkeit als Lampen bezeichnete verglaste Kästen286 aus verzinktem Eisenblech. Ihre blinden, grünschimmernden Scheiben sind von innen mit Fett beschmiert und deuten den Blick ins Innere ebenso an, wie sie ihn verwehren. Rechts davon hängen in der oberen Hälfte der Raumrückseite mittig zwei monumentale schwarze Schultafeln287, ein monochromes Diptychon wie die Flügel eines Altars. Zwischen ihnen verläuft ein schmaler Spalt. Jeweils in der Mit-

281 Als Grundlage der folgenden Analyse dient jedoch eine spätere, veränderte Fassung, die Joseph Beuys im Januar 1980 in einem Durchgangsraum in Münchens Städtischer Galerie im Lenbachhaus neu einrichtete. 282 Metallgestell auf Rädern, Holzrahmen, verzinkte Blechbespannung, 84 x 200 x 60 cm, Signatur auf der Unterseite des Holzrahmens »Joseph Beuys 75«. 283 14,5 x 42,5 x 21 cm. 284 19,5 x 3 cm. 285 14 x 11 cm. 286 70 x 35,5 x 17 cm. 287 160 x 120 x 1 cm.

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te der Flächen steht in weißer, fast vollständig verblasster Kreide »zeige deine Wunde« in der unsicher bemühten Handschrift einer Schreibübung. An der linken Wand lehnen zwei doppelzinkige geschmiedete Eisenforken auf Stielen aus natürlich gewachsenem Astholz. Die abgenutzten Grabewerkzeuge tragen bunte Tuchfetzen an den Angriffsstellen und sind individuellen Körpermaßen angepasst288. Sie stehen jeweils so auf einer rechteckigen Schiefertafel289, dass eine der Spitzen einen Kreismittelpunkt, die andere einen eingeritzten Radius besetzt. Die Kreislinie ist die körperliche Spur einer Denkbewegung. Die Schieferstücke sind gerade groß genug, um einen Halbkreis abzubilden. Rechts lehnen zwei Schepser290 auf ihren Holzstäben an der weißen großen Holzplatte291, die an der Wand hängt und horizontal mittig zweigeteilt ist. Schepser sind Werkzeuge zum Entrinden von Bäumen. Ihre trapezförmigen Klingen zeigen wie Pfeile nach oben. Auf den geschmiedeten Eisen sind je ein Stempel (Braunkreuz und Hauptstrom) und ein griechisches Kreuz in rotbrauner Farbe aufgemalt. Links vorne neben der Tür zur nächsten Galerie hängen auf Augenhöhe zwei weiße, verglaste Holzkästen292. In ihrem Inneren präsentieren sie je eine Ausgabe der marxistischen italienischen Zeitung La Lotta Continua (dt. der Kampf geht weiter), die im Briefformat gefaltet und noch im Versandstreifen verschlossen sind. So bleibt der Text im Innern verborgen. Nur im linken Kasten trägt der Hintergrund um die Zeitung herum Einstiche eines Zirkels. Die Versandstreifen sind in verblasster Schreibmaschinentype an Joseph Beuys adressiert – jeweils mit Widmung für Jörg Schellmann bzw. Bernd Klüser. Poststempel zeigen: die linke Zeitung wurde am 16.01.1975 aus Rom geschickt, die rechte am 18.01.1975 aus Mailand. Vom Titel der Zeitung ist nur O T T lesbar. Das Wort als Bedeutungsträger ist ein leeres Zeichen. Die Möglichkeit des Lesens bleibt verwehrt. Bisher liegt auch hinsichtlich der gesamten Installation nicht ausreichend klärende Information vor, um seine Sinneinheiten zu entschlüsseln. Die geschlossene Formation umgreift den ganzen Raum, scheint einem in sich geschlossenen, symbolisch aufgeladenen Zusammenhang anzugehören. Stehengelassene Werkzeuge, ungelesene Zeitungen, die verblasste Tafelanschrift, die Leichenbahren und die Abwesenheit des Menschen – all dies erzeugt ein monumentales Bild der Verlassenheit, des Sterbens und der Erinnerung. Die suggestive Kraft der Installation wird zudem durch den Titel ZEIGE DEINE WUNDE katalysiert. Die Verdoppelung der spröden Objekte scheint sie jedoch auch zu beleben und öffnet ein Spannungsfeld aus Statik und Dynamik. Die Anordnung

288 124 bzw. 117 cm. 289 17,5 x 26 cm. 290 Rückseitige Signatur »Joseph Beuys«.147 bzw. 153 cm. 291 240 x 245 cm. 292 Vorn signiert mit »Beuys 75«, 50 x 40 x 6 cm bzw. 51 x 42 x 6 cm.

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provoziert eine springende Betrachtungsweise, die sich jedoch nicht auf Anhieb zu einer stringenten Deutung verdichtet.293 Abbildung 26: zeige deine Wunde 1974/75

Quelle: © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

1.4.4 Bezüge und Verweise – Erweiterter Kunstbegriff und Soziale Plastik Joseph Beuys, der die menschliche Katastrophe des zweiten Weltkriegs miterlebte, formt nicht nur Materialien und belegt sie mit Sinn. Er entwickelt einen komplexen, anthropologisch-utopischen, künstlerischen Ansatz, der Kunst und Leben zu verbinden sucht.294 In der Beuys’schen Ästhetik steht der Mensch, angelehnt an den christlichen Humanismus, als Abbild des Schöpfergottes im Zentrum der Welt. Gott

293 Vgl. Mecherlein, Klaus: Das Verstummen der Sprache – Joseph Beuys’ Environment zeige deine Wunde, in: Rebel 1996, S. 199-212. vgl. Katalog zu »zeige deine Wunde«, München: Schellmann & Klüser 1976. 294 Darin steht er in einem mehr oder weniger expliziten Erbe der bereits dargestellten Bestrebungen seit dem 19. Jahrhundert.

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erfüllte den Menschen mit göttlichem Geist, Weisheit, Verstand und künstlerischem Sinn, dass er als Gottes Abbild auch selbst schöpferisch sein könne (vgl. Ex 31,15). Als Einheit von Körper und Geist sei der Mensch, wie die ganze Schöpfung, geprägt von Leben und Tod und anderen Dualismen: Verstand und Gefühl, Kälte und Wärme, eckig und rund, Wissen und Glaube, Wissenschaft und Kunst, Skulptur und Plastik. Die spannungsreiche Harmonie der Kontraste werde durch das Transzendenzmoment der Seele hergestellt. Die Größe des Menschen als freies Wesen sei jedoch noch nicht entwickelt. In der Katastrophe des Krieges sei sichtbar geworden, dass das Gleichgewicht zwischen Körper, Geist und Seele nicht voll verwirklicht sei. Besonders die Seele sei in den Hintergrund geraten. Deshalb fordert Joseph Beuys eine grundlegende Erneuerung des einzelnen Menschen und der Gesellschaft hin zu einer Kultur der Ganzheitlichkeit, einer neuen Inspirationskultur, in der das Gleichgewicht aus Körper, Geist und Seele hergestellt sei.295 Seine Argumentation baut er auf einer dreistufigen Entwicklungsgeschichte der Kultur auf mit der Annahme, dass die Entwicklung des Menschen in Jesus Christus bereits vollendet sei. Jedoch versteht er dies nicht als einmaliges historisches Ereignis. Von ChristusJesus gehe vielmehr ein bewusstseinserweiternder Impuls der Liebe und Geschwisterlichkeit aus, der auf die Gottähnlichkeit des Menschen verweise und ihn in Freiheit setze. Joseph Beuys’ Verständnis dieses Christusimpulses erklärt sich in einer kirchenkritischen Karfreitagsaktion zusammen mit Jonas Hafner, der Friedensfeier296 am 31. März 1972 in Mönchengladbach. Er rezitierte dabei die Bibelstelle Joh 15, 9-17.297 Sie besagt, dass die Vollendung des freien, mündigen, göttlichen Men-

295 Vgl. Zumdick 2006, S. 125. 296 Die Aktion fand außerhalb der Institution Kirche statt und sollte sich »auf das Scheitern des sozialhumanen Anspruchs der christlichen Idee durch die Institution Kirche beziehen.« Adriani et al. 1973 S. 156. 297 Bibel: Das Neue Testament und die Psalmen. Einheitsübersetzung, Stuttgart 1980. »Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird. Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage. Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. Dann wird euch der Vater alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet. Dies trage ich euch auf: Liebt einander!«

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schen in der Liebe geschehe. Die Liebe als das alles erschaffende Kreativitätsprinzip habe in Jesus Christus die Einheit des Menschen mit sich und Gott hergestellt und so die Schöpfung vollendet. Beuys versteht dieses Liebesprinzip als den Weg zum wahren Menschsein in Freiheit. Dieser Christusimpuls müsse aufgenommen werden.298 Darauf sei letztlich die gesamte abendländische Philosophie- und Kulturentwicklung zurückzuführen. Joseph Beuys sieht keine Zukunftschancen in der gegenwärtigen Lebensstruktur. Um nicht in einen dritten Weltkrieg zu stürzen, sondern weiter an die Zukunft glauben zu können, bedürfe es eines weiteren Entwicklungsschritts in eine neue Inspirationskultur hinein, die Kollektiv und Individuum verbinde und schließlich zur Freiheit führe. Gerade in Einsamkeit, Leid und Tod werde dem Menschen seine ganze Kraft bewusst, selbstverantwortlich zu handeln. Gnade299 wird ersetzt durch Inspiration und Beziehung. Glauben wird ersetzt durch Wissen. Wissen wiederum wird erweitert durch die Intuition – anders als der herkömmliche Wissenschaftsbegriff. Auferstehung wird vom Jenseits ins Diesseits verlagert. Jeder Mensch könne und müsse durch die Liebe ein Messias sein, um sein göttliches Wesen zu verwirklichen.300

298 »Entweder ist er (Christus) real, dann lebt er im Menschen. Ist er nicht real, ist er nur historisch, ist Christus-Jesus nur ein Religionsstifter, der als historische Figur versucht hat, ein religiöses System zu begründen, dann gibt es keinen Christusimpuls. Ist es eine spirituelle Tatsache, ein wirkliches Geschehen, dann ist es vorhanden. Dann ist auch wahr, was geschrieben steht: >Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende< (Mt 28,20). Dann lebt Christus im Menschen selbst.« Joseph Beuys zitiert in: Rombold 1998, S. 155. 299 Im Sinne von willkürlicher Abhängigkeit von einem außerhalb des Menschen stehenden Gottes. 300 Das erste nachchristliche Jahrtausend sei noch weitgehend bestimmt durch den Geist eines archaisch mythischen Weltbildes und einer kollektiven Inspirationskultur. Doch im Kollektiv fehle die Mündigkeit des Individuums. Am Ende des Mittelalters habe der Kollektivgedanke die Kunst durch die gotische Bauhütte noch einmal zur unvergleichlichen Höhe des Gesamtkunstwerks Gotischer Dombau geführt. Doch die geistliche Kultur des Mittelalters sterbe mit Beginn der Neuzeit. Im zweiten Jahrtausend n. Chr. bestimme sich das menschliche Individuum mit Anbruch der Renaissance neu. Mit der Entwicklung des analytischen Denkens gerate jedoch die transzendentale Inspiration der Seele in den Hintergrund. Die christliche Idee habe sich bisher aufgrund von Einengung in ihrer freiheitlichen Vollkommenheit nicht voll verwirklicht. Stattdessen führe die unerfüllte Sehnsucht des Menschen in den absoluten Individualismus und Materialismus hinein, wo sie nicht gestillt werden könne. Sowohl die Kollektiv- als auch die Individual-Kultur hätten sich erschöpft. Vgl. Zumdick 2006.

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Anknüpfend an Friedrich Schiller ist Joseph Beuys davon überzeugt, dass die Transformation hin zur Freiheit durch die Kunst in Gang gesetzt werden kann. Die radikale und universelle Neuheit der Beuys’schen Theorie ist, dass er prinzipiell jedes Produkt der Kreativität als Kunst bezeichnet. Nur in Freiheit könne der Mensch kreativ sein. Nur wo er kreativ sei, sei er frei. Damit ist er Marcel Duchamps Ansatz tatsächlich sehr nahe, konkretisiert ihn gleichsam. Da Kreativität als Charakteristikum des Künstlers im erweiterten Sinn allgemeines Wesensmerkmal des Menschen ist, zieht Beuys den logischen Rückschluss: »Jeder Mensch ist ein Künstler«301. Dieser Satz erlangte große Berühmtheit und beinhaltet eine spezielle Programmatik: »Damit sage ich nichts über die Qualität. Ich sage nur etwas über die prinzipielle Möglichkeit, die in jedem Menschen vorliegt. […] Das Schöpferische erkläre ich als das Künstlerische, und das ist mein Kunstbegriff.«302

Joseph Beuys meint also nicht, dass jeder Mensch die gleichen Begabungen habe, um ein guter Maler oder Bildhauer zu sein. Sondern dass jeder Mensch allgemeine kreative Fähigkeiten besitze, um Leben zu gestalten. Da der Mensch nur als kreatives Wesen verwirklicht sei, sei er nur als Künstler verwirklichter Mensch. Allein in diesem universell verstandenen Künstlertum könne und müsse er die ganzheitliche Revolution und gesamtgesellschaftliche Bewusstseinserweiterung anstoßen.303 Dieser Evolutionsschritt ergebe sich folglich aus dem erweiterten Kunstbegriff. Indem Joseph Beuys schöpferisches Tun und Leben, ja den kreativen Menschen selbst als Kunst bezeichnet, überschreitet er bisherige Gattungsgrenzen und weitet den Kunstbegriff auf alle Lebensbereiche aus. »Jeder Mensch ist ein Künstler« besagt letztlich, dass jeder Mensch Zugriff hat auf die Kreativität des Liebesprinzips. Wenn er sie nutze, mache sie ihn frei.304 Es besagt auch, dass jeder Mensch gleichermaßen die Fähigkeit, das Recht und die Pflicht habe, an der Gestaltung der Gesellschaft mitzuwirken. Er sei Künstler, wenn er sich auf diese Verantwortung einlasse. So ist kreatives Tun immer auch Botschaft und Dienst mit sozialpolitischer Dimension. Dieser erweiterte Kunstbegriff ist für Joseph Beuys die Grundformel des Seins.

301 Vgl. Nietsche, Kapitel A 3.3.5. 302 König/Riedmaier 2004, S. 77. 303 »Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kraft der menschlichen Kreativität. Die einzig revolutionäre Kraft ist die Kunst.« Harlan 1984, S. 59. 304 »Was ich meine ist: jeder Mensch ist ein Träger von Fähigkeiten, ein sich selbst bestimmendes Wesen.« Joseph Beuys zitiert in: Harlan 1984, S. 59.

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»Wie kann jeder lebende Mensch auf der Erde ein Gestalter, ein Plastiker, ein Former am sozialen Organismus werden?«305 Diese Frage beantwortet Beuys im Konzept der Sozialen Plastik. Als Bildhauer arbeitet er mit den künstlerischen Konzepten von Skulptur und Plastik. Bei der Skulptur wird starre Materie – z.B. Stein – von außen nach innen abgetragen. Im erweiterten Sinn ordnet Joseph Beuys dieser Kategorie das abstrakte wissenschaftliche Denken, Verhärtung, Kälte und Tod zu. Im Gegensatz dazu wird bei der Plastik dynamische Materie – z.B. Ton – geformt. Die Plastik reagiert auf Wärme und Kälte. Ton wird gebrannt, gegossenes Metall härtet aus. Die Wärme der Sonne bewirkt das Wachstum von Pflanzen und formt somit das Leben auf der Erde. Die Herzenswärme bewirkt das Wachstum menschlicher Persönlichkeit und Beziehung. So steht Wärme im übertragenen Sinn für das Kreativitäts- und Liebesprinzip. Plastisches Formen als evolutionäres Grundprinzip beginnt für Joseph Beuys bereits im Denken, da es Chaos organisiert und konstruktive Handlungen hervorbringt.306 Die Idee der Sozialen Plastik besagt also, dass die Gesellschaft durch kreatives Denken und Handeln geformt wird. »Da wo gegenwärtig die Entfremdung zwischen den Menschen sitzt – man könnte fast sagen als eine Kälteplastik – da muss eben die Wärmeplastik hinein. Die zwischenmenschliche Wärme muss da erzeugt werden. Das ist die Liebe. Das ist das, was in diesem geheimnisvollen Christusbegriff steckt.«307

Um einen neuen Entwicklungsschritt zu vollziehen, müssten die toten Strukturen der Kälte durch Wärme wiederbelebt werden, müsse chaotische Wärme in eine Ordnung gebracht werden. Dieses Wärmepotenzial des spirituellen Bewusstseins, der Offenheit für Inspiration, Kreativität und Fantasie, diese Kräfte seien in jedem Menschen bereits vorhanden und müssten nur erkannt und gefördert werden. Jeder Mensch habe Verantwortung, mithilfe seiner Schöpfer- und Liebesfähigkeit am Bau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken. Im Künstlertum aller Menschen könne die Gesellschaft zur Wärmeplastik werden – ein ganzheitlich lebender Organismus nach dem Modell der Einheit in Vielfalt. Zur Veranschaulichung dieses Modells bringt Joseph Beuys den Vergleich eines Bienenstocks. Die Biene erfüllt ihr Dasein im Dienst am ganzen Bienenvolk. Sie orientiert sich dabei stets an der Sonne. Im übertragenen Sinn ist sie also bezogen auf die transzendente Wärmekraft. Zentrale Aufgabe ist die Honigproduktion.308 Dabei tritt die Biene in Dialog mit einer Pflan-

305 Harlan 1984, S. 20. 306 »Denken ist schon Plastik.« Joseph Beuys zitiert in: Kat.: Beuys zu Ehren, München 1986, S. 79. 307 Joseph Beuys zitiert in: Zumdick 2006, S. 126. 308 Bei Rudolf Steiner ist Honig eine spirituelle Substanz.

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ze, die ihr Nektar und Pollen schenkt. In diesem Moment der Wärme oder des Liebesakts sind Biene und Blüte eine Einheit. Durch die Biene wird diese Wärme dann in den Bienenstock hineingetragen und dort auf eine höhere Stufe hin organisiert – den Honig, der die Wärmekraft gleichsam potenziert in sich trägt und das Bienenvolk ernährt. Joseph Beuys setzt die Bienentätigkeit parallel zum Denken. Der Mensch gebe nicht Honig, sondern Ideen ab. Das menschliche Denken realisiere sich im kreativen Tun und erlange so einen höheren energetischen Gehalt, führe in eine höhere Evolutionsebene, genau wie der gesammelte Nektar sich in den Waben zu Honig wandelt. Als Beispiel für die Synthese des skulptural und plastischevolutionären Prinzips sei der Bienenstock in gewisser Hinsicht auch Vorbild einer wärmehaften Gesellschaft. In belebten Ordnungsstrukturen könne sich das kreative Leben in seiner Freiheit entfalten und der menschlichen Liebeskraft sogar auf eine höhere Entwicklungsstufe verhelfen.309 Der große Unterschied zum Menschen ist jedoch: die Biene ist kein freies, mündiges, denkendes und fühlendes Wesen. Beuys’ soziale Ästhetik sucht also nach einer konsequenten Methode zur Gestaltung der Zukunft. Komprimiert lautet sein künstlerisches Menschenbild folgendermaßen: Wenn das Göttliche das Schöpferische ist und das Schöpferische das Künstlerische, dann ist jeder Mensch ein Künstler, dann ist jeder Mensch ein Messias. Wenn er sein kreatives Potential für die Gemeinschaft nutzt, erhält eine so verstandene Kunst politische Dimension und trägt bei zur Weiterschöpfung des Menschen und der Welt. Eine so verstandene Kunst hat die Möglichkeit und die zentrale Aufgabe, auf allen Ebenen Lebenswelt zu verändern und durch Versinnlichung bzw. Vergeistigung einen fundamentalen Heilungs-, Evolutions- und Freiheitsprozess anzustoßen. Mit der Sozialen Plastik als gemeinschaftliches Kunstwerk schafft Joseph Beuys eine neue anthropologische Kunstgattung. Dieses Konzept ist aus jedem seiner Werke ablesbar und Beuys bezeichnete es als sein bestes Kunstwerk.310

309 »Dieser Begriff des Wärmehaften verbindet sich auch mit dem Begriff der Brüderlichkeit und des gegenseitigen Zusammenarbeitens, und deswegen haben Sozialisten die Biene genommen als Symbol, weil das im Bienenstock geschieht, die absolute Bereitschaft, sich selbst zurückzustellen und für andere etwas zu tun.« Joseph Beuys zitiert in: Rombold 1998, S. 152. 310 In der Etablierung der Sozialen Plastik als neues Gesellschaftsmodell erkannte er die Flamme seiner eigentlichen Berufung. Um dieses Konzept bekannt zu machen, nutzte er jede Gelegenheit. Er schuf zum Einen materielle Werke, die heute in Sammlungen und Museen stehen. Daran sollte der Rezipient seine Geistes-, Seelen- und Handlungskräfte reaktivieren, um zu einem freien und kreativen Menschen werden zu können. Doch Beuys deutete sein Werk auch selbst aus in zahlreichen Interviews, Vorträgen, Artikeln

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Materialästhetik Ein analytischer Blick auf den Beuys’schen Material- und Symbolfundus erweitert die Zugänge zu ZEIGE DEINE WUNDE. Die Leichenbahren, die verwaisten Gegenstände und die Abwesenheit des Menschen erzählen von erstarrtem Denken, vom Tod einer Struktur, wo keine Entwicklung mehr stattfinden kann. Joseph Beuys wählt Materialen nach physikalischen Eigenschaften wie Leit-, Isolier- und Formbarkeit. Fett ist der energiereichste Nährstoff. Je nach Kälte- oder Wärmegrad verändert sich sein Aggregatzustand. In warmem Zustand zerfließt es chaotisch und breitet sich aus. In Kälte erstarrt es. In warmer Umgebung füllt und ernährt es alle Lebensstrukturen. Übertragen auf die Beuys’sche Materialästhetik symbolisiert es das kreative Potential bzw. die Liebesfähigkeit des Menschen, die im Denken beginnt.311 Das Fett füllt Kästen aus Zink, einem elektrisch gut leitenden Metall. Darin steckt je ein Thermometer, das gleichsam Aufschluss gibt über die Kälte- bzw. Wärmehaftigkeit des Fetts. Die mit Fett bestrichenen Glasscheiben der Lampen an der Wand verschleiern das metaphysische Innere der Kästen. Oder symbolisiert gerade die Fettschicht das Licht, das von der menschlichen Liebesfähigkeit ausgeht? Zur Versuchsanordnung unter den Leichenbahren gehören mit Gaze abgedeckte Glasgefäße. Gaze ist ein sehr weiches, leichtes, halbdurchsichtiges Gewebe. Aufgrund seiner Saugfähigkeit wird es auch als Verbandsmaterial benutzt. Ein Gefäß kann man damit vor materiellen Festkörpern verschließen. Es bleibt jedoch weiter durchlässig für Gase. Im übertragenen Sinn bleiben die Gefäße also offen für Gedanken, Spiritualität und Inspiration. In den Reagenzgläsern liegt je ein Vogelschädel – ein Verweis auf den Tod, doch auch auf das Tier als ein ursprüngliches Wesen. Unberührt von Zivilisation und Technik lebt der Vogel mit den Kräften der Natur in Freiheit, kann fliegen und singen. Das Singen gilt dem Menschen als ästhetischer Selbstausdruck und künstlerisches Gestaltungsmittel. Hinten an den schwarzen Tafeln steht die fragile Spur menschlichen Denkens – die handschriftliche Botschaft »zeige deine Wunde«. Es ist kein Satz, keine Anredeform mit großgeschriebenem D312, kein Ausrufezeichen. Nur ein lose hingeworfener, flüchtiger Gedanke. Er könnte jederzeit weggewischt werden. Gerade in die-

und Aktionen. Er verstand sein ganzes Tun und Sein als Kunst im Dienst an seiner Idee und der Gesamtgesellschaft. 311 Die Materialien Fett und Filz stehen in biografischem Zusammenhang mit Beuys’ lebensrettender Erfahrung bei den Tartaren. So sind sie als Chiffre für das Heilmittel Nächstenliebe zu deuten. 312 Die persönliche Anredeform wurde nach der damals gültigen Rechtschreibung noch groß geschrieben.

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ser Formlosigkeit stellt er eine dialogische Beziehung her zum Rezipienten. An einer Tafel liest, denkt, lernt und reagiert man. Ist diese Denkspur schulmeisterlich? Die Tafelanschrift ist gleichzeitig der Werkstitel: ZEIGE DEINE WUNDE. Das Zeigen ist tatsächlich allen Gegenständen des Schaubildes gemeinsam. Zeigen setzt dort ein, wo man nicht mehr spricht. Der Zeigegestus folgt einem stummen Gefühl, schmerzhaft und erleichternd zugleich. Die Tafeln tragen keine Lehrformeln. Der Satz hört auf, Sprache zu sein. Er zeigt selbst auf eine fragile Stelle. Er weist dem Betrachter einen Platz an in der leer gebliebenen Mitte der Installation. Dass freiheitliches Denken alles enthalten kann, symbolisiert auch der dominante Dualismus der schwarzen Tafeln und der weißen Holzplatten. Weiß ist die Gesamtheit, Schwarz die totale Abwesenheit des Lichts. Im Dazwischen ergänzen sich die Farben komplementär.313 Auch die vereinsamten Arbeitswerkzeuge im Raum tragen lebhafte Spuren und weisen über ihren konventionellen Gebrauchssinn hinaus. Die Forken wurden als Zirkel umgedeutet und ritzten Halbkreise in Schieferplatten. Die Schieferplatten sind weitere Tafeln, also Projektionsflächen des Geistes. Das Symbol des Kreises als Unendlichkeitssymbol beinhaltet harmonische Vollkommenheit und absolut ausgeglichene Spannung. Die Kreise symbolisieren einen abstrakten Denkprozess, sind jedoch noch nicht zu Ende gezogen. Steht dies im Widerspruch zu den auf rustikale Muskelarbeit verweisende Werkzeuge? Das Symbol des Zirkels stellt Bezüge her zum Gedankengut des Humanismus.314 Die primären Arbeitswerkzeuge des Künstlers (Geist, Herz und Hand) verbinden sich hier mit den Werkzeugen einfacher Arbeiter. Diese Verbindung verweist auf das konstruktive und sinnstiftende Potential der Arbeit bzgl. Lebens- und Weltgestaltung.

313 Wenn weißes, gebündeltes Licht durch ein Prisma fällt, bricht es sich in die sieben Spektralfarben. Das weiße Licht scheint Nichts zu sein, enthält aber das Ganze. In jeder Farbe sind auch alle anderen Farben enthalten. Licht ohne eine Fläche, auf die es auftrifft und wieder abstrahlt, bleibt unsichtbar. Farbige Gegenstände reflektieren ganz bestimmte Lichtwellen. Ein blaues Farbpigment reflektiert das Licht im blauen Wellenbereich. Alle anderen Lichtwellen werden absorbiert. Der Reflektierte und der absorbierte Teil ergeben zusammen Weiß. Wenn alles absorbiert und nichts reflektiert wird, entsteht ein schwarzer Seheindruck. Vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 49-57. 314 Die Universalgelehrten der in Italien begründeten Renaissance versuchten in zahllosen Überlegungen, Proportionsstudien und Messungen dem Ordnungsprinzip nachzuspüren, das Gott der Schöpfung mithilfe von Maß, Zahl und Gewicht zugrunde gelegt hat (vgl. Weish. 11,21). Der Mensch sei aufgrund seiner Gottesebenbildlichkeit gerade in der künstlerischen Tätigkeit ein göttliches Wesen und habe Anteil am Göttlichen, insofern er selbst Schöpfer sei und mit den Kräften von Geist, Herz und Hand Welten zweiter Instanz entwerfe. Vgl. Rebel 1999.

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Die Klingen des zweiten Werkzeugpaares der Schepser zeigen nach oben. Sie weisen auf die große weiße Holzplatte und ziehen den Blick weiter nach oben. So deuten sie zum Einen auf die Fülle des Weiß, zum Anderen auf die Fülle der Transzendenz. Beim Entrinden verletzen Schepser die Bäume.315 Sie sind bemalt mit einem gleichschenkligen Kreuz. Als Lebensbaum symbolisiert das Kreuz den christlichen Auferstehungsglauben, ist ein Symbol für Rettung und Heilung. Bei Beuys geht es jedoch über die christliche Bedeutung hinaus. Als Schnittpunkt der Gegensätze Horizontale und Vertikale vereint es Kontraste. In der Mathematik spannt das Kreuz ein Koordinatensystem auf und erzeugt Raum. Im Kreuz verbinden sich Ratio und Intuition, das Irdische und das Himmlische, das Zwischenmenschliche und das Transzendente.316 Das Vereinigungssymbol des Kreuzes ist das Zeichen für den Menschen selbst, für seine Energie, sein Tun und die Dimensionen seines Wesens. ZEIGE DEINE WUNDE: Was bedeutet es, eine Wunde, einen wunden Punkt, eine Schwäche zu zeigen? Diese Entblößung macht berührbar und angreifbar. Es ist eine Geste der Hilflosigkeit. Doch es ist keine Kapitulation. Vielmehr zeigt sich darin Menschlichkeit. Es ist eine starke Geste der Beziehung, des vertrauensvollen sich Auslieferns an Andere bzw. an das Leben selbst. Eine Analogie aus der Bibel vertieft dieses Bild. In Joh 20,19-31 sind die 11 Apostel am Auferstehungstag hinter verschlossenen Türen versammelt. Sie wissen noch nicht und können nicht glauben, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Trauer und Enttäuschung sind groß. Der Messias, auf den sie alles gesetzt hatten, ist hingerichtet worden. Sie haben Angst vor weiterer Verfolgung. Da erscheint plötzlich der auferstandene Christus, schenkt ihnen seinen Geist und seinen Frieden, reicht den messianischen Auftrag an sie weiter. Als Thomas, der nicht dabei sein konnte, später davon erfährt, kann er dies nicht glauben. Es klingt zu abstrus. Acht Tage später wiederholt sich die Situation. Diesmal ist auch Thomas da. Und Jesus lädt ihn sogar ein, seine Hand in die frische

315 Der Baum ist in seinem jahreszeitlichen Wachstum aus Werden, Vergehen und wieder Werden ein Sinnbild des Lebens. Seine unsichtbaren Wurzeln sind tief vergraben im Erdreich, woraus sie die Nährstoffe ziehen. Der Baumsaft steigt in den Zellen des tragenden Stamms hinauf in die Krone, ihre Blätter, Blüten und Früchte. Sie bietet Tieren eine Heimat und entspricht der Größe des Wurzelwerks. Der Baum ist also ein komplexer, stetig wachsender Organismus. Jedes seiner Teile steht im Dienst am Ganzen. Wenn die schützende Rinde des Baums verletzt wird, produziert er Harz und heilt sich damit selbst. Wenn der Baum jedoch schon gefällt wurde, werden all seine Bestandteile in anderen Arbeits- und Produktionsprozessen weiterverwendet, oder werden wieder Nährboden für andere Pflanzen. 316 Friedhelm Mennekes hat dem Thema unter dem Titel »Das Kreuz … ist zur Kultur geworden« eine eingehende Untersuchung gewidmet. Vgl. Mennekes 1996, S. 162-193.

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Seitenwunde am Herzen zu legen.317 Thomas berührt also das Herz, symbolischer Sitz der menschlichen Liebeskraft. Er spürt und glaubt. In dieser biblischen Begebenheit sagt Thomas gleichsam: »Zeige deine Wunde, damit ich weiß, dass du bist.« Die Wunde ist ein Zeichen des lebendigen Seins. Man gehe gedanklich zurück ins Lenbachhaus. Dort steht der Rezipient gleichsam in der Mitte der Installation. Um ihn herum die 12 Objektpaare. Die Tafel spricht ihm entgegen »zeige deine Wunde«, als wäre sie der biblische Thomas. Joseph Beuys selbst hat Erfahrungen der Todesnähe gemacht und formulierte später den Satz »Der Tod hält mich wach.«318 Als ob ein klarer und illusionsloser Blick auf den Tod den Blick auf die Lebenskräfte ermögliche. Der Tod schaffe erst die wahrhafte Verbindung zum Leben. Denn durch ihn werde sich der Mensch seiner selbst bewusst. Dabei ist Tod nicht absolut gemeint. Vielmehr bezeichnet er Schmerz und Leid, den Stillstand des individuellen Lebens wie der Kultur. Gerade in diesem Zustand befinde sich eine besondere Energie, die kreativ genutzt werden könne. In dieser Kreativität vollziehe sich die Auferstehung aus dem Tod. Die Wunde ist gleichsam ein Zustand, aus dem ein Neuanfang und eine Weitergestaltung des Lebens erwachsen kann. Eine leidvolle Krise mit kathartisch-kreativem Potenzial als Chance des Lebens.319 Alle Elemente der Installation treten in Paaren auf, eine Begegnung von individuell unterschiedlichen Gleichgesinnten. Die Arbeitswerkzeuge zeichnen offene Halbkreise am Boden, sind auf Augenhöhe mit dem Rezipienten und deuten wie Antennen in den Himmel. Auch die Tafelanschrift und die Zeitungen sind kommunikative Elemente. Sie sind einander zugewandt. In semantischer Gleichwertigkeit ist das eine die Antwort des anderen. In ihrer Anordnung deuten die Paare Zusammengehörigkeit an, Kommunikationsbedürfnis und -möglichkeit. Beuys versteht Kommunikation als Übergang, als universelle Beziehung unter Menschen bzw. zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Kommunikation steht in Verbindung mit der Inspiration. Dabei sind die Begriffe von Sender und Empfänger zentral. Der transzendente Sender strahlt inspirierende Gedanken aus, die der Empfänger aufnimmt, wenn er die Offenheit und ein sensibilisiertes Bewusstsein dafür hat. Der inspirierte Empfänger verarbeitet die Gedanken weiter und wird so selbst zum Sen-

317 Ausgelöst durch den Lanzenstich ins Herz, der am Kreuz Jesu Tod feststellte. Daraus flossen Blut und Wasser. (vgl. Joh 19,34) 318 Beuys, Joseph: Der Tod hält mich wach. Im Gespräch mit Achile Bonito Oliva (1973). In: »Beuys zu Ehren«. Ausstellungskatalog Städtische Galerie im Lenbachhaus, München: 1986. 319 Vgl. Zumdick 2006, S. 88.

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der. Sie werden zur Metapher einer aus Individuen bestehenden sozialen Struktur, die auch nach außen kommuniziert. Zentraler Knotenpunkt des Bedeutungsnetzes von ZEIGE DEINE WUNDE sind die Leichenbahren, Sinnbild für die Abwesenheit des Lebens im Tod. Sie repräsentieren weniger die menschliche Sterblichkeit, als vielmehr die erstarrte, ihrer Seele beraubte Kultur. Die Bahren sind jedoch umgeben von Symbolen des Lebens, die sich in den Tafeln, den Werkzeugen und im Versuchsaufbau synthetisieren. Fett als Metapher für Liebeskraft steckt in Kisten aus leitfähigem Metall. Die Kisten sind also durchlässig für den Strom der Liebe, gleichsam Liebesbatterien. Die Thermometer deuten auf einen beobachtbaren, auf Zukunft ausgerichteten Prozess hin. Die mit Gaze bedeckten Glasbehälter sind empfänglich für Inspiration und spirituellen Austausch. Er mag die tot geglaubten Vogelkräfte der Freiheit und Poesie wieder zum Leben erwecken. Diese transzendenten Objekte sind der Wurzelpunkt von Vertikalachsen, die durch die kreisrunden Öffnungen der Leichenbahren hinauf zu den Lampen führen. Sie beleuchten mit ihrem fettigen Schummerlicht die Leichenbahren – im Gedenken des zurückgelassenen Lebens und in Erwartung der Auferstehung. Die Arbeitswerkzeuge rechts und links werden zu Zeicheninstrumenten, die Denken abbilden. Kreativität und Weltgestaltung beginnt im Denken und setzt sich in konstruktiven Handlungen fort. In ihrer senkrechten Ausrichtung verweisen die Werkzeuge ebenfalls nach oben zum Geistigen. Gerade das aufgemalte Kreuz der Vertikalen und Horizontalen steht für das Kommunikations- und Inspirationsprinzip von Sender und Empfänger. Die Schepser verweisen zudem auf das Wesen des Baums, den Kreislauf seines Lebens und seine selbstheilenden Kräfte. So vermitteln die Werkzeuge, dass die Erstarrung durch kreatives Denken und Tun überwunden werden kann. Im Zentrum der Tafeln steht »zeige deine Wunde«. Das zentrale Organ des Menschen ist das Herz, assoziierter Sitz der Seele. Der Satz könnte also anspielen auf die Verwundung des Menschen im Kern, im transzendenten Seelenmoment. Die inspirierenden Kräfte des Geistes und der Liebe versorgen diese Wunde. Denken und Arbeit bewirken neuen Aufbruch und Befreiung. Der Mensch kann selbst tätig werden, um sich und die Welt zu entwickeln. Leiden ist dabei ein kreativer Vorgang. Denn das Bewusstsein des Todes birgt die Wurzel des Lebens.320 Eine weitere Metaphorik ergänzt den Topos der Wunde: Künstlerisches Arbeiten steht im Zusammenhang mit narrativen Assoziationen über den Weg des Auges.

320 »Gehirn als materielle Unterlage des Denkens, Reflexionsorgan, so hart und blank wie ein Spiegel. Wenn das bewusst ist, dass es ein Spiegelorgan ist, wird auch klar, dass das Denken nur vollzogen werden kann durch den Tod hindurch. Und dann gibt es allerdings etwas Höheres für das Denken: seine Auferstehung in der durch den Tod errungenen Freiheit.« Joseph Beuys zitiert in: Stachelhaus 1989.

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Jedes Auge hat eine andere Perspektive auf das Leben. Die visuelle Erkenntnis baut sich aus den Einzelperspektiven der zwei Augen zusammen und verschaltet sich erst im Netzwerk des Gehirns zu einem sinnvollen Bild der dreidimensionalen Wirklichkeit. Die beiden Perspektiven berühren sich in der gemeinsamen, außersprachlichen Wirklichkeit. Jede Perspektive ergänzt die Leerstellen des jeweils anderen blinden Flecks – gleichsam einer Wunde, in der sich Energie bündelt, sie weiter trägt und mithilfe der Imagination fruchtbar macht für schöpferische Prozesse. Dies erfordert Offenheit, Mut und Vertrauen. Denn ein blinder Fleck macht verwundbar. Joseph Beuys selbst erklärte seine Rauminstallation folgendermaßen: »Zeige deine Wunde, weil man die Krankheit offenbaren muss, die man heilen will. Der Raum [...] spricht von der Krankheit der Gesellschaft [...] Dann ist natürlich der traumatische Charakter angesprochen. Eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden.« 321

Das Kunstwerk bleibe nicht bei der Verwundung und Todesstarre stehen. Es sei vielmehr »etwas [...], das, wenn man genau hinhört, einen Ausweg weist.«322 323 ZEIGE DEINE WUNDE wurde kontrovers aufgenommen. Es ist ein memento mori324, das auf Krankheit, Schwäche und Sterben, doch auch auf Heilung und neues Leben verweist. Es ist ein Zeige-Raum, ein Portrait des erweiterten Kunstbegriffs, in dem sich das Leben auffächert im Dazwischen vom Schwarz des Todes zum Weiß des Lebens, wo eine Wunde ein intersubjektiver Kommunikationsraum werden kann. Letztlich ist es ein Hoffnungsappell, gerade in Schwäche und Leid kreatives Entwicklungspotenzial zu entdecken.

321 Süddeutsche Zeitung, 26./27. Januar 1980. 322 Süddeutsche Zeitung, 26./27. Januar 1980. 323 Das Werk stieß anfänglich auf Unverständnis und Widerstand. Die Boulevardpresse titelte abwertend: »Der Mann mit dem Hut zeigt seine Wunden« (Abendzeitung, 13. Februar 1976; vgl. auch Bayerische Staatszeitung, 26. Oktober 1976; Münchner Merkur, 28. Januar 1980; alle in: Beuys 1980, Bd. 2, o.S.) Man thematisierte weniger das Werk, sondern vielmehr die Kriegsverletzungen des »Schmerzensmanns der Kunst«. Der Ankauf des Werks 1980 vom Münchner Lenbachhaus mit öffentlichen Geldern in Höhe von 270.000 DM wurde sehr kontrovers diskutiert und löste bundesweite Proteste aus. zeige deine Wunde wurde als »teuerster Sperrmüll aller Zeiten« kommentiert. (RohrBongard, Linde: Die Unsterblichen. In: Kunstkompass. Capital, 28. Oktober 2004, (29.08.2008)). 324 »Bedenke, dass du sterben musst«. Es ist ein Symbol der Vergänglichkeit.

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1.4.5 Resümee Joseph Beuys polarisierte die Kunstwelt. Man warf ihm vor: »Sie reden über Gott und die Welt, nur nicht über Kunst.« Er antwortete: »Aber Gott und die Welt ist die Kunst.«325 Sein holistischer kreativer Ansatz ist biografisch begründet. Mit den künstlerisch forschenden Strategien der Vernetzung und Umdeutung entwickelte er einen relational entgrenzten, eklektisch vernetzten, gesellschaftspolitischen Kunstbegriff, der sich im idealistisch utopistischen Gesamtkunstwerk der Sozialen Plastik realisieren sollte. Nur durch eine gelebte Kunst mit politischem und sozialem Verantwortungsbewusstsein könne Freiheit generiert werden. Dieser gesellschaftliche Erneuerungsprozess müsse stets hinterfragt werden. In Funktion des inspirierten Senders wollte Joseph Beuys diesen Evolutionsschritt anstoßen, um dem Menschen zu seiner Göttlichkeit zu verhelfen. Es wird kritisiert, dass Joseph Beuys’ Ideen seiner Privatikonografie folgen und nur schwer erfassbar seien, wenn man nicht tief in den Beuys’schen Kosmos eindringe. In autoritärem Absolutismus gebe Beuys durch viele erklärende Äußerungen die Interpretation seiner Werke selbst vor. Damit schränke er Freiheit vielmehr ein. Hier deutet sich an, dass Kreativität anfällig ist für Selbstüberschätzung. Womöglich mündete Joseph Beuys’ existenzielle Krise 1956/57 in eine Überhöhung der eigenen Person. Er selbst beschrieb sie als eine Art Erweckungserlebnis. Spätestens seit der umfassenden und kritischen Biografie von Hans Peter Riegel (2013) erfährt Joseph Beuys eine Neubewertung. Wie schon Wolfgang Zumdick (2006), so untersucht auch Riegel den Einfluss der anthroposophischen Ideologie Rudolf Steiners mit der Diagnose, Beuys sei Steiners esoterisch missionarischen, völkisch totalitären Ideen gefolgt. Er habe sogar den Habitus Steiners angenommen, dessen Vorträge, seine grammatischen Konstruktionen bis hin zum Schriftbild auf den Tafeln. Zudem fragt Riegel (2013) nach Beuys’ Verhältnis zum Dritten Reich.326 Joseph Beuys’ Denken ging nicht in eine antisemitische oder nationalpatriotische Richtung.327 Er war ein Selbstdarsteller mit demokratisch-politischem

325 Stachelhaus 1989, S. 73. 326 Riegel fördert zutage, dass Joseph Beuys als junger Mann eine latente Akzeptanz des NS-Regimes besaß, sich mit Militarismus im Allgemeinen befasste und für 12 Jahre bei der Nazi-Luftwaffe verpflichtet hatte. Sein Schwiegervater Hermann Wurmbach war NSDAP- und SA-Mitglied sowie stellvertretender Gaudozentenführer. Vgl. Riegel 2013. 327 Aber er distanzierte sich auch nie aktiv von dem Regime und seinen eigenen Rollen darin. Seine Kunstwerke durchzieht jedoch wie ein roter Faden die Aufarbeitung der darin verborgenen menschlichen Tragödie und das Sensibilisieren für neue Werte des Menschlichen.

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Sendungsbewusstsein. Was er exemplarisch anstieß, sollte in gleichem Maße von jedem Menschen aufgenommen werden.328 Er spürte eine Verantwortung, seine Inspirationen weiterzugeben. Letztlich wurde ein messianisches Bild auch von außen auf ihn projiziert. Er selbst sah jeden Menschen als Heilsbringer, der Verantwortung für sein Leben und die Welt trägt. Im Dienst an seiner Vision war Joseph Beuys Aktionskünstler, Alchimist, Anthroposoph, Antikünstler, Bildhauer, Christ, Gärtner, Humanist, Idealist, Kunstpädagoge, Kunsttheoretiker, Medienerscheinung, Mystiker, Performer, Philosoph, Plastiker, Politiker, Vermittler, Wissenschaftler, Zeichner – und in all dem Provokateur. Tabelle 6: Joseph Beuys Ausgangspositionen Netzwerkstrukturen

Subjektive Erfahrung

Künstlerisch-kreative Strategien Entgrenzungsphänomene

Multiple Interessen, prägende Kindheits- und Jugenderfahrungen, vielseitige Bildung, Nonkonformismus Vernetzung von Bildungsinhalten und künstlerischen Ausdrucksweisen (Installation und Aktion in Raum und Zeit, Zeichnung und Verbalsprache, Körper und Musik) Künstlerische Entwicklung im Kontext einer Lebensund Schaffenskrise, persönliche Sinn- und Erkenntnissuche Erforschung von Naturphänomenen, Materialästhetik, Co-Kreativität Intuitive Rezeption, Synthese von Kunst und Wissenschaft, entgrenzter Kunst- und Künstlerbegriff, Soziale Kunst

Quelle: Johanna G. Eder

328 »Was ich kann, können alle anderen prinzipiell auch.« (Harlan 1984, S. 32). Und an anderer Stelle: »Meine Fähigkeit ist es, umfassend einen Anstoß zu geben für die Aufgabe, die das Volk hätte.« Beuys et al. 1985.

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1.5 B ESTANDSAUFNAHME Welche Erkenntnisse liefert der Blick auf Wegbereiter der transmedial entgrenzten Kunst des 20. Jahrhunderts hinsichtlich der Frage nach Kreativität? Zu 1.1 Marcel Duchamp Bei Marcel Duchamp beginnt der co-kreative Ansatz bezüglich Zufallsstrategien, Produktions- und Rezeptionsprozessen. Kunstschaffen und -rezeption werden entgrenzt hin zu einer Metaerfahrung des Denkens. Sein GROßES GLAS erzählt von einem intellektuellen bzw. imaginierten Orgasmus. Zu 1.2 John Cage und Merce Cunningham John Cage und Merce Cunningham loten die unendliche Fülle des Nullpunkts aus. Bei ihnen systematisieren sich Zufallsstrategien. Zu 1.3 Glenn Gould Glenn Goulds transmediale Komposition nutzt Gattungs-übergreifende Strategien. Das Flow-Erleben (bzw. die Ästhetische Erfahrung) ist subjektiv sinnstiftend. Sein angestrebtes Lebensgefühl ist ein immerwährendes Fließen in der Musik, ein »state of wonder and serenity«329. Zu 1.4 Joseph Beuys Joseph Beuys’ Schaffen kreist um die Einheit in der Vielfalt der Liebe. Seine soziale Kunst pointiert den Kollektivgedanken der Co-Kreativität und löst Kunst ins Leben hinein auf. Hier gilt Liebe als zentrale kreative Kraft. Vernetzung In der Kunst des 20. Jahrhunderts ist der transmedial entgrenzte Charakter eines erweiterten Kunstbegriffs zentrales Motiv geworden. Kunst mischt sich in gesellschaftliche Zusammenhänge ein. Sie thematisiert multimedial und multiperspektivisch existentielle, kulturelle und politische Probleme. Jenseits der beschränkten Disziplinen und ihrer Methoden betreibt Kunst spezifische Formen von Forschung und verbindet sich dabei mit Fragestellungen der Naturwissenschaft und der Technik. Darin eröffnet sie einen universellen Blick auf den Menschen und seine Wirklichkeit.330

329 Aus dem von Glenn Gould verfassten Begleittext des Albums A State of Wonder: The Complete Goldberg Variations 1955 & 1981, erschienen 1982 bei Sony BMG. 330 Vgl. Beuys 1993, S. 174. Vgl. Buschkühle in: Brenk/Kurth 2005, S. 49/50.

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Die Wegbereiter transmedial entgrenzter Kunst haben folgendes gemeinsam: einen künstlerisch forschenden Ansatz mit einer dekonstruktivistischen und gleichzeitig konstruktiven, interrelationalen, vernetzenden Grundhaltung. Sie verbindet die poetische Sinnlichkeit der persönlichen Lebenserfahrung mit analytisch intellektueller Reflexion. Gerade dieses mitunter humorvoll ironische Bündnis aus Kunst und Wissenschaft entgrenzt die Kunst in neue Handlungs- und Beziehungsräume hinein. Dies entzaubert, entmessianisiert und dekonstruiert den Genie-Mythos des Künstlers, wie er bis zur Moderne vorherrschend war. In den entgrenzten künstlerischen Positionen deutet sich bereits ein Verständnis an, wie es Nicolas Bourriaud später im Konzept des Radikanten der Altermoderne formulieren wird. Was charakterisiert einen transmedial entgrenzten Kunstbegriff darüber hinaus? Tabelle 7: Charakteristika eines trasmedial entgrenzten Kunstbegriffs Ausgangspositionen: Netzwerkstrukturen Subjektive Erfahrungsebene Künstlerisch-kreative Strategien

Entgrenzungsphänomene

Quelle: Johanna G. Eder

Multiple Interessen, Indifferenz, Nonkonformismus, Krise, Reisen Neue audio-visuelle Medien, Vernetzung von Kunstformen Persönliche Erkenntnissuche Assoziatives Spiel, Vorhandenes neu miteinander verknüpfen, künstlerisches Forschen, Zufall als elementare Ursache für das Entstehen von Neuem Kreativität als Netzwerkphänomen komplexer, interrelationaler Beziehungsnetze, Denken als Form künstlerischen Handelns, entgrenzte Autorschaft, Co-Kreativität, Demokratisierung der Kunst

2 Fallbeispiele der Gegenwartskunst

Im Folgenden werden fünf nicht-kanonisierte Positionen transmedialer Gegenwartskunst dargestellt. Neue künstlerische Ausdrucksformen, wie z.B. die Verknüpfung von analogen und digitalen Medien hin zur Virtual Reality, werden nur angerissen. Auch hier kommt abermals die produktionsästhetische Analyse zum Einsatz. Die Fallbeispiele gehen u. a. diesen Fragen nach: • Welche Rahmenbedingungen und interrelationalen Vernetzungen liegen kreati• • • •

ven Prozessen zugrunde? Welche persönlichen Haltungen liegen ihnen zugrunde? Welche künstlerischen Strategien liegen ihnen zugrunde? Welche Wirkung können künstlerisch-kreative Prozesse erzeugen? Welche subjektive Bedeutung kann das Erleben künstlerisch-kreativer Prozesse haben?

Die Freilegung kreativer Prozesse basiert bei diesen Fallbeispielen auf einer rekonstruktiven Interviewanalyse. Die Datenerhebung erfolgte über teilnehmende Beobachtung und ein für diese Arbeit entwickeltes, persönlich geführtes, leitfadengestütztes, narratives Experteninterview.1

1

Die rekonstruktive Auswertung der Interviews lehnt sich an die Grounded Theory nach Strauss und Corbin an, eine qualitativ-empirische Methode aus den Sozialwissenschaften. Sie geht aus von der Offenheit der Sprache, die Sinn kommunikativ (re-)konstruiert. Die Grounded Theory analysiert sprachliche Ordnungsschemata und symbolisches Material (z.B. Metaphern) mit Blick auf kommunikative Rahmen und Handlungssituationen. Sie kodiert Konzepte und Schlüsselkategorien und generiert durch Abstraktion und Interpretation induktiv eine Theorie. Die Problematik einer kommunikativen Datenerhebungssituation ist die subjektive Selbstdarstellung des Interviewten, wie auch der nicht herausobjektivierbare Einfluss des Interviewers – in diesem Fall eine forschende Künstlerin bzw. künstlerische Forscherin, die selbst Teil des Expertenfeldes ist. Sie ist determiniert durch

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Tabelle 8: Leitfaden des Experteninterviews Leitfragen

Was steht dahinter?

Was ist für dich Kunst?

Individueller Kunstbegriff, persönliche Haltung Motivation, Ästhetische Erfahrung, subjektives Erleben (z.B. Flow-Erleben) Werdegang, interrelationale Vernetzungen

Was zieht dich daran an? Wie kamst du dazu? Beschreibung des künstlerischen Prozesses hinter einem Werk?

Beschreibung des durchlebten kreativen Prozesses, seinem äußeren Rahmen, persönlicher Haltung, künstlerischen Strategien, vernetzten Ressourcen und subjektivem Erleben

Quelle: Johanna G. Eder

2.1 ALEX C ZINKE S ERENDIPITY

UND

J ULIA F EHENBERGER –

Das erste Fallbeispiel reflektiert eine kollaborative Verbindung von Bild- und TonKunst des Gitarristen und Komponisten Alex Czinke sowie der Sängerin, Bildenden Künstlerin und Kunstpädagogin Julia Fehenberger. Sowohl die Analyse von Alex Czinkes musikalisch-kreativem Ansatz wie auch Analyse des Animationsfilms SE2 3 RENDIPITY fragen danach, welche intrasubjektiven und interrelationalen kreativen Dynamiken in der Musikproduktion und -rezeption ablaufen. Dabei wird deutlich, dass Kommunikation und Kollaboration im Dazwischen der Künste über Assoziations- und Sprachräume passiert. Zudem können produktive wie rezeptive Ästhetische Erfahrungen als Werkzeuge der Erkenntnis individuelle Sinnstiftung erzeugen.

ihr Vorwissen und beforscht Dynamiken, die ihre eigenen künstlerischen und kunstwissenschaftlichen Arbeitsprozesse bestimmen. Um der Gefahr der Distanzlosigkeit und Selbstreproduktion zu entgehen, muss die Forschungsperson Vorannahmen und Hintergrundwissen zurückstellen. Die bewusste Selbstreflexion und Metareflexion sind elementarer Bestandteil des Forschungsprozesses. Vgl. Strauss/Corbin 2010; Vgl. Peez 2002. 2

Betreffend die Innerlichkeit des Protagonisten.

3

Betreffend die Beziehung des Protagonisten zu anderen.

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2.1.1 Alex Czinke – Kurzbiografie und Schlüsselerlebnisse Geboren wurde Alex Czinke 1970 in München, wo er lebt und arbeitet. Neben seinem Alex Czinke Trio4, das sich v. a. Eigenkompositionen widmet, schreibt er Musik für animierte Kurzfilme, ist in verschiedenen Bands und musikalischen Projekten tätig, spielt Theatermusik5 und gibt Gitarrenunterricht. Rezensionen loben seine elegante Musikalität, seinen Einfallsreichtum6 und seinen Humor7. Das Gitarrenspiel begann Alex Czinke mit neun Jahren. Schon damals bewunderte er Menschen, die selbst Musik komponierten und veröffentlichten. Als Elfjähriger bekam er von seinem älteren Bruder das Rote Album der Beatles8 geschenkt. Die 26 Songs des Doppelalbums hörte er in einem Zug durch. Obwohl er den Text noch nicht verstand, waren diese Minuten ein intensiv emotionales, begeisterndes Ereignis – ein identitäts- und sinnstiftender Schlüsselmoment an der Schwelle zur Adoleszenz.9 Außerdem inspirierte ihn der technische Anspruch guter Musik zum Lernen und Üben. Ein Konzert von Pat Metheny im Sommer 1986 löste in Alex Czinke schließlich den Wunsch aus, selbst Berufsmusiker zu werden.10 Als Jugendlicher war er

4

Gegründet 1990. Unter den Kollegen waren der Schlagzeuger Guido May, Bassist Sven Faller, Schlagzeuger Stefan Noelle, Kontrabassist Christian Schanz. Die Besetzung wechselte über die Jahre immer wieder.

5

Woyzeck von Georg Büchner in der Fassung von Tom Waits mit dem Metropol Theater München und Dylan. The Times Are A-Changin’ von Heiner Kondschak am Stadttheater Ingolstadt.

6

Vgl. http://www.myheimat.de/pfaffenhofen/kuenstlerwerkstatt-fruehjahrsprogramm-2006

7

http://www.munichx.de/planen/muenchen/P1/Alex_Czinke_Quartett/15789.php

-d639.html (03.11.2012). (03.11.

2012). Beschreibungen wie »eine charmante, unaufdringliche Variante des Jazz« (Münchner Merkur Starnberg, in: http://www.alexczinke.de/5.html (03.11.2012)), »ein Vergnügen« (Schröder, Veronika: Isar Loisachbote, in: http://www.alexczinke.de/5.html (03.11.2012)). 8

1962-1966 (Red Album), erschienen 1973 beim Beatles-eigenen Label Apple.

9

Es spendete ihm »Kraft und Trost […] und so ein absolut positives Gefühl.« A.C. 2-3.

10 Konzert mit Charlie Haden und Billy Higgins in der Münchner Alabamahalle. Vgl. http://www.alexczinke.de/5.html, (31.12.2012). Für Pat Metheny ist Musik ein Weg der Erkenntnis. Es gehe darum, Liebe in sein Tun zu legen und damit eine Geschichte zu erzählen. »The whole idea is to tell a story – to form a narrative and to try to offer something to others that you yourself have found to be true or meaningful or even just that you think it sounds good. The skills that come with learning about improvising greatly enhance the composition process for me, and the inverse is also the case.« Peterson 2006, S. 194.

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Mitglied des Landesjugendjazzorchesters11 und des Bundesjugendjazzorchesters und gründete sein erstes Trio Caravan12. Nach einer siebenmonatigen Fußreise nach Gibraltar mit Musikerfreunden begann er 1990 Jazzgitarre zu studieren.13 1997 schloss er sich der Elektro Jazz Band Nikopol14 an. Durch den großen Erfolg der Bandkollegen Micha und Markus Acher mit dem Tied & Tickled Trio und The Notwist löste sich Nikopol allerdings auf. Von 2006-2010 bildete Alex Czinke mit Matthias Gmelin am Schlagzeug, Jerker Kluge am Kontrabass und Kathrin Pechlof an der Harfe das Cosmic Groove Orchestra.15 Er spielte mit Musikern wie Johannes Enders, Shankar Lal, Matthias Lindermayr, Michael Ray und Bobby Shew. 16 Mit der Sängerin Julia Fehenberger musiziert er seit 2008 im Duo. Exkurs: Jazz Der nordamerikanische Musikstil des Jazz definiert sich u. a. als »creative improvised music«17 Er erfuhr über die letzten vierzig Jahre eine enorme Transformation und brachte musikalisch reichhaltige Vielfalt hervor, da er einen freiheitlichen Resonanzraum bietet, in dem jeder Musiker das Recht und die Verantwortung hat, seine eigene Stimme zu finden. Jazz ist inkludierend – er ermöglicht es jedem Teilnehmer, seine Einzigartigkeit einzusetzen. Diese grenzüberschreitende musikalische Spielart lädt zur synergetischen Verbindung unterschiedlichster Stile ein. Ähnlich

11 Bis 1994. 12 Mit dem Bassisten Martin Zenker und dem Schlagzeuger Wolfgang Lohmeier. 13 Am Nürnberger Konservatorium bei Helmut Kagerer und Frank Möbus und wechselte 1992 ans Münchener Richard Strauss Konservatorium zu Peter O’Mara in den neuen Studiengang Jazzgitarre. Von 1994 bis 1996 studierte er am Mannes College in New York und schloss sein Diploma in Jazz-Gitarre ab. 14 Mit dem »Geräuschemacher« (A.C. 16) Andreas Gerd und Saxophonist Hugo Siegmeth, mit Micha Acher an der Trompete und Markus Acher am Schlagzeug. Seit 1992 musiziert Alex Czinke mit den Acher-Brüdern u. a. in der Dixie Band ihres Vaters. 15 Ihr Album Time Has Come war 2010 nominiert für den Preis der Deutschen Schallplattenkritik. Den Musikern geht es um eine gemeinsame Soundvorstellung. Inspiration und Vorbilder sind dabei Größen des Jazz wie John Coltrane, Alice Coltrane, Miles Davis und Pharoah Sanders. Diese Musiker vereinigten innovative Musiksprache mit Spiritualität und kreierten damit eine stilprägende Strömung des Jazz. Beim Jazzfest München 2010 spielten sie unter dem Motto »May there be peace and love and perfection throughout all creation.« – John Coltranes und Pharoah Sanders nachträglich eingefügtem Prolog auf Alice Coltranes Platte Monastic Trio. Zitiert in: http://www.jazzfestmuenchen.de/ 2010.417.0.html (03.11.2012). 16 Vgl. http://www.jazzfestmuenchen.de/Alex-Czinke-Info.239.0.html (03.11.2012). 17 Editor’s Foreword in: Peterson 2006.

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wie auch afrikanische Musikformen ist Jazz zumeist seriell organisiert und tendiert zu kleineren, modularen Gestaltungseinheiten mit offenem Ende. Improvisation und rhythmisch-metrischer Groove sind von großer Bedeutung und widerspiegeln die vielfältigen Einflüsse eines Musikers. Dem Musikwissenschaftler und Pianisten Vijay Iyer zufolge liegt das Augenmerk »statt auf der groß angelegten hierarchischen Form [vermehrt] auf den fein-körnigen rhythmischen Details und der Hierarchie rhythmischer Überlagerungen. Die größeren musikalischen Formen ergeben sich daher emergent aus der improvisierten Gestaltung dieser kleinen musikalischen Bestandteile.«18

Nach Pat Metheny erfordert Jazz den Einsatz der eigenen Persönlichkeit und Lebenserfahrung.19 Das freie Improvisationsspiel ist eine Art automatisiertes Musizieren aus der Quelle des subjektiven Bewusstseins des Musikers. Dafür steht seit den 1960er Jahren der Begriff des Free Jazz. Er bedient sich in seiner Extremform der Gesetzmäßigkeit der Gesetzlosigkeit. In Free Jazz-Passagen bricht die Struktur eines Stücks zusammen. Alle spielen frei, erzeugen Stimmungen, erzählen Geschichten. Vielstimmiges Chaos steht im Kontrast zur melodiösen Struktur.20 Ein Schlüsselerlebnis während eines zweiwöchigen Jazz-Workshops 1992 in Vermont/USA verdeutlicht Alex Czinkes Zugang zum Musizieren. Bei dem Workshop kamen Musiker unterschiedlichster Niveaustufen zusammen – von Anfängern bis hin zu erfolgreichen New Yorker Profimusikern. In einem großen Probenraum nahm Alex Czinke an einer Session mit nachhaltiger musikalischer Sogwirkung teil, zu der ihm der Jazz-Gitarrist Attila Zoller eine ganz besondere Gitarre mit Verstärker geliehen hatte. Dies löste in ihm eine große Euphorie und Selbstbestätigung aus.21 Anders als im Leistungsstress der Hochschule ging es nur um die Freude und

18 Iyer 1998. 19 »A kind of deep representation of each individual’s personal reality. One of the many things that makes jazz unique is how well suited it is to absorb material and styles and infinite shades of human achievement. [...] Everyone has a sense of things going on around them that they filter through their needs and desires [...] An improvising musician is [...] like a reporter – you talk about the things that are going on inside and around you. Each person’s response to the events of their time are very personal and unique.« Peterson 2006, S. 192/193. 20 Vgl. http://www.zeit.de/musik/genreuebersichten/freejazz/komplettansicht (06.01.2013). 21 »Und plötzlich kam es dazu, dass die besten Minuten Musizieren meines Lebens passierten. […] Wir spielten nichts besonders schweres, einen Blues – und ich merkte, so gut habe ich […] noch nie gespielt. Ich merkte, dass plötzlich jeder richtig zuhört und richtig

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Lust am Spiel, in einer Freiheitszone außerhalb der Alltagsnormen. Der Ortswechsel, die lockere Zwanglosigkeit und ausgelassene, ermunternde Atmosphäre bewirkten in Alex Czinke, »dass ich mir plötzlich einfach keine Gedanken mehr gemacht habe, wie gut oder nicht gut ich spiele oder was ich kann und was ich nicht kann. Ich machte es einfach […] Ich hatte das Gefühl, als würde ich jetzt besser spielen oder als würde mir das alles so einen Schub geben und als würde mich gerade das Neue, Fremde so reizen, dass ich wirklich gut spielte.«22

Den charakteristischen Sound seiner Eigenkompositionen entwickelt Alex Czinke seit 198923. Bisher erschienen drei akustisch als auch elektrisch instrumentierte Alben bei seinem eigenen Label noantidotemusic24. Einflüsse aus Blues, Folk und Country, Pop und Rock, Avantgarde und traditioneller Jazz-Gitarre mit Anklängen an den experimentell improvisatorischen Freiraum des Free Jazz verschmelzen untrennbar. Aus den bisher erschienenen Alben25 lassen sich folgende inhaltliche Schwerpunkte ermitteln: lässige Urbanität, Reiseeindrücke und -begegnungen, Transitmomente des Bewusstseins, erotisch anmutende Aspekte der musikalischästhetischen Erfahrung – und in allem auch biografische Bezüge. Der Geist dieser Musik vermittelt sich nicht durch markige Effekte, sondern erschließt sich mitunter erst nach mehrmaligem Hören – ähnlich dem Kennenlernen einer komplexen Per-

gut spielt. Und plötzlich hat dieser ganze riesige Raum von Leuten zugehört, obwohl es eigentlich gar nicht so gedacht war. Und plötzlich habe ich im Hintergrund so was gehört wie: »Yeah Alex, you are all right!« Wir wollten eigentlich gar nicht spielen. Wir haben einfach so angefangen und es hat sich total natürlich ergeben, als ob man einfach mal anfängt, auf der Wiese ein bisschen Fußball zu spielen, weil ein Fußball da ist. Und dann dachte ich mir: »Jetzt will ich, dass das ganz lange dauert.« Man konnte gar nicht mehr aufhören.« A.C. 5. 22 A.C. 5. 23 Vor allem auf einer hellen halbakustischen Jazzgitarre des amerikanischen Gitarrenbauers Roger Borys aus New York State. Daneben spielt er auch eine 12-Saitige Ibanez EGitarre. Auf einer solchen spielte Pat Metheny in den 1990er Jahren. Bei Studioaufnahmen kommt eine elektro-akustische Takamine Nylonsaiten-Gitarre zum Einsatz. 24 Der Name ist gewählt in Hommage an den Gitarristen der Dire Straits, Mark Knopfler; angelehnt an die Textzeile »Can’t get no antidote for blues« des Songs der Dire Straits One World aus dem Album Brothers in Arms, erschienen 1985 bei Vertigo Records. Das Lied Nr. 10 Antidote For Blues von Czinkes erstem Album spielt ebenfalls auf diese Verbindung an. 25 Beschreibung siehe Anhang 1.

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sönlichkeit. Seine Musik wirkt synästhetisch verknüpft mit Seheindrücken bzw. inneren Bildern, gleich einem halbbewussten, erregenden Transitzustand.26 Alex Czinke ist auch musikpädagogisch tätig. 27 Sein Zugang zur Musik und seine Unterrichtsmethode sind nicht voneinander zu trennen. Ein Instrument zu beherrschen sei eine Möglichkeit zum erweiterten Selbstausdruck. Dabei sind ihm Spielen und Perspektivenwechsel wichtige Begriffe.28 Neben der Vermittlung technischen Könnens29 geht es ihm zentral um die Selbständigkeit.30 2.1.2 Julia Fehenberger – Kurzbiografie und Schlüsselerlebnisse Geboren 1981 wuchs Julia Fehenberger mit einer älteren Schwester in der Gegend um Burghausen naturverbunden in einem alten Bauernhaus auf. Die Eltern waren beide Kunstlehrer und konfrontierten sie von klein auf mit Kunst. Viele Künstler gehörten zum Bekanntenkreis der Familie, die Kunst als idealistische Leidenschaft und Berufung sahen. Für Julia Fehenberger war stets klar, auch selbst diesen Weg einzuschlagen. Durch den alltäglichen Jazz-Gebrauch des Vaters erhielt Julia Fehenberger bereits eine frühe musikalische Prägung. Mit fünf Jahren war Billie Holiday ihre große Heldin, später dann Bobby McFerrin mit seinem Kosmos an stimmlichen Möglichkeiten. Zum Musizieren kam sie erst durch die unterstützende Förderung ihres Musiklehrers, der ihr Talent entdeckte. Bereits während des Studiums war Julia Fehenberger als Sängerin aktiv.31 Eines Tages musizierte sie mit einem holländischen Jazz-Trio, das unter anderem die Sängerin Dee Dee Bridgewater am Anfang ihrer Karriere unterstützt hatte – eines ihrer großen Vorbilder. Zur Band gehörte auch ein blinder Pianist, der sie allein durch ihre Stimme und Ausdrucksweise analysierte. Man bot ihr an, sie als Sängerin zu fördern. Sie erwog ernsthaft ein Gesangsstudium am Konservatorium. Doch andererseits hörte sie auf ein klares Gefühl:

26 Vgl. A.C. 9. 27 Er gibt Gitarrenunterricht u. a. an der Munich International School und der Music Academy München. 28 Vgl. A.C. 14. 29 Z.B. Komplexität, Rhythmusgefühl, Dynamik, Ausdruck, Artikulation und Phrasierung. 30 Vgl. A.C. 14. 31 Seit 1996 ist sie Sängerin in verschiedenen Jazz-Vocal-Ensembles, Duos (mit Alex Czinke, Stefan Kramer) und Combos (Deep Jazz, Cappuccino Jazzband), der Funk-und AfroSoul-Band The Boogoos, Big-Bands (The Uptown Jazz Orchestra, Big Band Burghausen) Filmmusik (Cinebanda, ebenfalls mit Alex Czinke). Sie sang in Clubs und auf JazzFestivals im Raum Salzburg-München, der Jazzwoche Burghausen, dem Jazzweekend Regensburg und dem Münchner Jazzclub Unterfahrt.

258 | HOMO C REANS »Musik ist mir viel zu wichtig. Das ist das Innerste von mir. […] im besten Falle, wenn ich wirklich damit Erfolg hätte, wäre ich nie zuhause und müsste singen, wann immer es geht, weil ich [darauf] angewiesen bin […] Ich geh nicht diesen Schritt.«32

Zudem hatte sie von klein auf gesehen, wie sich Menschen auf dem Kunstmarkt »ellenbogentechnisch benehmen«.33 Diese Show wollte sie nicht mitspielen. Der dritte Bereich, den sie durch ihre Eltern mitbekommen hatte, war die Kunstvermittlung: Kunst als eine Sprache zu vermitteln, kreative Fähigkeiten aufzuzeigen und Impulse zu geben, so wie sie es auch selbst erfahren hatte. Das erschien ihr ein geeigneter Beruf. Deshalb entschied sie sich schließlich für die Kunstpädagogik. Nach dem Abitur folgte zunächst eine Ausbildung zur Holzbildhauerin. 2004 schloss sich ein Studium der Freien Kunst an der Akademie der Bildenden Künste München an in den Klassen von Nikolaus Lang, Klaus vom Bruch und Res Ingold. Im Jahr 2011 gründete sie zusammen mit Kollegen die freie Kunstschule MuKuNa34 bei München. 2.1.3 Musikalisch-kreativer Ansatz in der Komposition und auf der Bühne Beide Künstler sehen ihr künstlerisches Schaffen als erweiterten Selbstausdruck. Für Julia Fehenberger ist künstlerisches Arbeiten eine erkenntnisreiche, ästhetische Erfahrung. Mit ihrer Performance-Partnerin Maria Berauer denkt sie sich gerne Geschichten aus.35 Im Atelier arbeitet sie hingegen gerne alleine. Im Werk findet sie sich selbst wieder, entspannt sich und genießt den Selbstausdruck. 36 Für Alex Czinke sind Offenheit als auch Rückzug in Ruhe und Einsamkeit wichtig, um kreative Prozesse anzustoßen.37 Vielseitige Interessen, menschliche Beziehungen, private Lebenssituationen und emotionale Befindlichkeiten erachtet er als entscheidende kreative Quellen – besonders Reisen38 – und Kino als eine andere Form des Reisens.39 Spielen und Komponieren machen Alex Czinke Spaß und

32 J.F. 2. 33 J.F. 2. 34 Musik-Kunst-Natur. Mehr dazu im Kapitel D 3.2.2. über kunstpädagogische Ansätze. 35 Traradibummstrara 2006, The AKA-DE-MIE Company 2007. 36 Vgl. J.F. 2. 37 Vgl. A.C. 11. 38 Vgl. A.C. 9. 39 Er ist ein »wahnsinniger Kino-Fan«. (A.C. 12), besonders Filme von Woody Allen und Rainer Werner Fassbinder. Als Kind begeisterte ihn besonders der Beruf der Kinokarten-

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sind ein natürliches Bedürfnis.40 Den Prozess des Komponierens beschreibt er als Spiel mit Tönen. Ein gängiger Ausgangspunkt sei das Improvisieren, Dinge unbedarft hin- und herzubewegen, mit ihnen herumzuspielen. 41 Die Freiheit dieses Spiels fuße jedoch auf jahrelanger mühevoller Arbeit, diszipliniertem Lernen und konzentriertem Üben. Neben dem Spieltrieb gebe auch der Selbstkritiker wichtige Impulse. Letztlich sei es beim Komponieren jedoch wichtig, mit dem Ergebnis zufrieden zu sein.42 In spielerischer Vernetzung lebensweltlicher Einflüsse eröffnet die Musik Entwicklungs- und Freiheitsräume. Auch ein Titel habe dabei die eigenständige Rolle, den Rezipienten zu inspirieren.43 Alex Czinke versteht Musizieren als einen spielerisch co-kreativen Beziehungsprozess. Trotz eigener Vorstellung von Eigenkompositionen ist Alex Czinke in der gemeinschaftlichen Interpretation offen für das Spielerische, für die Abweichung vom Gewohnten, für intuitive Ideen und das Können der Kollegen. Den Begriff des Zerstörens als musikalisches Stilmittel findet Alex Czinke besonders aufregend.44 Gerade aus einem gewissen Chaos heraus könne Intensität entstehen. Egoismus und Beschränkungen seien abträglich für die kreativen Möglichkeiten eines Ensembles. Menschliche Beziehungen seien wichtig – besonders das gemeinsame Bewältigen von Krisen.45 Haben die Musiker die Eigenkompositionen gemeinsam weiterentwickelt, geht es zu Aufnahmen in ein Tonstudio. Alex Czinke mag die Gestaltungsmöglichkeiten dieser Arbeit, wenn auch die ökonomischen Rahmenbedingungen nicht so einfach seien.46 In dieser intensiven Laborsituation (mehrere Takes und Overdubs47) herrsche »eine etwas andere Konzentration.«48 Der Ausdruck leide jedoch unter überzogenem Perfektionismus.49

Verkäuferinnen, die anderen Menschen damit inspirierende Erfahrungen ermöglichen. Vgl. A.C. 12. 40 Vgl. A.C. 16. 41 Hier lässt sich eine Analogie zum lustvoll versunkenen Spiel eines Kindes ziehen. 42 »Wenn ich selbst nicht darauf stehe, was ich gemacht habe, dann stehen die anderen auch nicht drauf.« A.C. 8. 43 Vgl. A.C. 16. 44 Z.B. im Kontext des Free Jazz bei John Coltrane. Vgl. A.C. 10. 45 Vgl. A.C. 10. 46 Aufnahmen müssen heutzutage meist selbst finanziert werden. Vgl. A.C. 13. 47 Verschiedene Tonspuren werden übereinander geschnitten. 48 A.C. 13. 49 Vgl. A.C. 13.

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Um die Intensität des Musizierens zu beschreiben, bringt Alex Czinke die Metapher einer überraschenden Reise mit einem Start und einem Ziel50. Anders als im Tonstudio gebe es auf der Bühne nur einen Versuch. Dort bündelten und synthetisierten sich all die Rahmenbedingungen51 im Hier und Jetzt zu komplexen Dynamiken.52 Zur Veranschaulichung dient im Folgenden die Beschreibung eines gemeinsamen Bühnenauftritts von Alex Czinke und Julia Fehenberger. Als vierter Live-Act in der Geschichte des Münchner Live-Clubs Milla53 spielte am Abend des 27.10.2012 das Alex Czinke Trio54 mit dem Bassisten Benny Schäfer und dem

50 »[Ein Musikstück] ist eine intensive kurze Reise die man macht. […] die kann sehr beglückend sein und es können Momente passieren, wo man wirklich gar nicht glaubt, dass so etwas überhaupt passieren kann, dass Dinge musikalisch passieren, die man gar nicht kennt oder die man gar nicht erwartet hat.« A.C. 4. 51 Zeit, technische Ausrüstung, der Musiker in Beziehung zu seinem Instrument, in einer bestimmten Verfassung oder Stimmung, mit seinem Können und seinem Zugang zur Musik, das musikalische Material, der interpretatorische Ansatz, die Musiker-Kollegen, die Proben zuvor, das Publikum, die Raumsituation. 52 »Es ist ein besonderer Zustand, wenn man mit Musikern auf der Bühne steht und das Musizieren findet gerade so richtig statt […] diesen Moment des Musizierens [im Rahmen eines Konzerts, wenn die Leute gebannt zuhören] finde ich […] so mit das Aufregendste überhaupt. […] wo man wirklich sehr tief in einen Zustand des Musizierens verfällt, wo man sich auch nicht mehr wirklich verspielen könnte, wo man eigentlich wirklich abhebt und merkt, das funktioniert jetzt alles so richtig.« A.C. 4. 53 Am 17.10.2012 eröffnete das Münchner Indie-Musiklabel Millaphon seinen eigenen Live-Club, Bar und Disco: die Milla in der Holzstraße 28 des Glockenbachviertels. Millaphon wurde Anfang 2011 gegründet von Gerd Baumann, Musiker und FilmmusikKomponist von Regisseur Marcus H. Rosenmüller, gemeinsam mit Mehmet Scholl, sowie Till Hofmann. Am Live-Club Milla ist zudem Peter Brugger von den Sportfreunden Stiller beteiligt. Vgl. Wörmann, Caroline: Milla. Neuer Live-Club im Glockenbachviertel, merkur-online.de, 19.10.2012, http://www.merkur-online.de/lokales/stadt-muenchen/ milla-neuer-live-club-glockenbachviertel-2556616.html, (04.01.2013). 54 Der 1980 geborene Münchner Bassist Benny Schäfer studierte bei Sigi Busch an der Universität der Künste Berlin, sowie bei Paulo Cardoso am Münchner Konservatorium. Er spielt unter anderem bei der Indie-Ska-Band Los Burritos, Das Rote Gras, Zollsound 5 und Frankzone. Er spielte Konzerte und Projekte mit Johannes Enders, Geoff Goodman, Joe Kienemann, Peter O´Mara, Wolfgang Muthspiel, Larry Porter und vielen anderen. Vgl. http://www.jazzfestmuenchen.de/Alex-Czinke-Info.239.0.html(03.11.2012). Der 1982 geborene und in Holzhausen aufgewachsene Andi Haberl studierte Schlagzeug in Berlin und zählt zu den originellsten und kreativsten Schlagzeugern der europäischen

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Schlagzeuger Andi Haberl featuring Julia Fehenberger und initiierte zudem das DAY TRIPPER PROJEKT55. Die Milla ist ein »unprätentiöser Musiker- und Künstlertreffpunkt«56 mit guter Akustik. Es haben etwa 180 Personen dort Platz. Da durch die Milla einmal der Westermühlbach geflossen war, ist das grottenartige Kellergewölbe schlauchförmig langgezogen, leicht gekrümmt und abschüssig. Eine Säule markiert die Raummitte. Links vom mittigen Eingang fällt der Raum zur kleinen Bühne hin ab. Dahinter führen Stufen nach oben zu einem schwarzen Vorhang. Rechts vom Eingang geht es hinauf zur Bar mit nackten Glühbirnen und einem Tresen, in dem Teile der alten Bar Schwabinger 7 und Schwemmholz aus der Isar verbaut sind. An der Decke verlaufen offene Rohre. Boden, Decke und Seitenwände sind grau gestrichen. Im hinteren Drittel zieren bunte Horizontalstreifen eine bordeaux-farbige Wandfläche. An den Rändern des Raumes sitzen die Gäste an Vintage-Tischgruppen auf Holz- oder Alustühlen und durchgesessenen Polstersofas.57 Dunkel schummeriges Licht, teilweise Schwarzlicht, schafft Atmosphäre. Die BarZone im oberen Teil ist erfüllt vom gesprächigen Miteinander. Die drei Musiker betreten die Bühne, allesamt in schlichte Alltagskleidung, Jeans, T-Shirt und Kapuzenpullover gekleidet, und starten mit dem ersten Stück Shelter58. Von links nach

Szene. Seit 2007 ist er der Schlagzeuger von The Notwist und spielt unter anderem im Andromeda Mega Express Orchestra, bei Marsmobil und Endersroom, bei Jersey, Noël, der Jazzcombo Max.Bab und Los Burritos. Im Tonstudio unterstützt er Contriva bei den Aufnahmen. Er spielte bei Till Brönner und tourte mit Charlie Mariano und Kenny Wheeler. Vgl. Willer, Annika: http://www.sz-jugendseite.de/der-junge-mann-und-die-in die-helden-andi-haberl-ist-der-neue-drummer-von-the-notwist-bei-deren-grundung-warer-sieben-jahre-alt-es-geht-um-musik-und-leidenschaft-nicht-um-fan-getue/ (03.11.2012). Bisher hatte das Alex Czinke Trio Auftritte u. a. im Münchner Jazzclub Unterfahrt, auf dem Münchner Jazz-Fest 2006, im Theatron des Münchner Olympiaparks, auf dem Regensburger Jazzweekend im Thon-Dittmer Hof, in diversen bayerischen Jazz-Clubs, im A-Trane in Berlin und in Bozen. Vgl. A.C. 17. 55 Im Day Tripper Projekt interpretiert das Alex Czinke Trio Songs der Beatles. Sie verstehen sich dabei nicht als Beatles-Coverband. Vielmehr entstehen durch Verlangsamungen und freie Improvisationen neue Arrangements, die die Stimmung der Beatles-Stücke interpretieren. Ähnlich den reicher instrumentierten Beatles-Interpretationen von Bill Frisell, All we are saying, erschienen 2011 bei Fontana. Vgl. A.C. 15. 56 Wörmann, Caroline, 19.10.2012. 57 Vgl. Sonnabend, Lisa: Schräge Nächte. Live-Club Milla im Glockenbachviertel, 26.10.2012, in: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/live-club-milla-im-glockenbach viertel-schraege-naechte-1.1506377, (04.01.2013). 58 Nr. 6 der Keila Malpartida, bzw. in einer Live-Version auf der Time Has Come des Cosmic Groove Orchestra.

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rechts Alex Czinke an den Gitarren, Benny Schäfer am E-Bass und rechts hinter dem Schlagzeug Andi Haberl. Sogleich bündeln und verdichten sich verschiedene Eindrücke. Bei geschlossenen Augen verschmilzt Shelter den Zuhörer, die Bühne und den Publikumsraum zu einem einzigen Erlebnisraum. Diese Immersion löst sich wieder etwas in der Beobachtung der Musiker. Der Seheindruck vermittelt eher ein Ringen um die Musik. Vor dem zweiten Stück tritt Alex Czinke an das für den schlaksig hochgewachsenen Mann zu klein eingestellte Mikrofon. Etwas linkisch und unbeholfen amüsiert er das aufmerksame Publikum mit einer humoristisch selbstironischen Entstehungsanekdote des folgenden Titels: er saß verliebt im Englischen Garten, ließ die Gedanken treiben und schmiedete Pläne: Goin’ To Mexico. Die Musiker nehmen die Fahrt auf – in unprätentiöser Spielfreude. Eine Improvisation entwickelt sich frei. Nun wirkt Alex Czinke ebenfalls absorbiert, in Symbiose mit der Gitarre. Die Musiker erzeugen durch minimalistische Mittel eine flirrige Spannung, ein Gewebe dichter Intensität, wie ein zartsensibles Liebesspiel. Dieser Sog hoher Konzentration scheint auf die Atmosphäre im Publikum überzugreifen. Im nächsten Stück Very Patient59 reagieren die Musiker dynamisch beschwingt aufeinander. Auch die Anekdote zu What Women Wish Men Knew About Women ist biografisch und hat mit Reisen zu tun.60 Nun kommt Julia Fehenberger für das DAY TRIPPER PROJEKT mit auf die Bühne. Ihr erster Song And I Love Her61 hält sich nahe an der Vorlage. Die Musiker bereiten den Boden für die intime Intensität der Sängerin. Das Miteinander von Gitarre und Gesang wirkt fast wie ein Tanz: mal führt der Mann und die Frau tanzt die Kür, mal umgekehrt. Sie lassen sich Platz, machen sich gegenseitig schön. Das natürliche Charisma Julia Fehenbergers vermittelt eine ganz eigene, bescheiden stilvolle Präsenz. Meist hält sie das Mikrofon nah am Mund in beiden Händen, den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen. Sie ist emotional im Text, singt mit deutlich artikulierter Mund- und Lippenspannung. Meist steht sie still, mit dem freien Arm den Gesang sanft unterstreichend. Ihre Altstimme gebraucht kaum Zierformen. Der teilweise nasale, intuitiv versunkene Gesang schneidet die Töne sachte an. In tiefen, rauchig faserigen Passagen ist die Stimme nur angedeutet. An anderen Stellen bringt die Sängerin klagend anmutende Laute hervor oder badet genüsslich in Vo-

59 Nr. 6 der Many Answers But No Question. 60 Eines Winters waren Alex Czinke und seine Freundin mit dem Mietauto auf dem Weg von New York nach Buffalo und weiter zu den Niagarafällen. Auf dem Weg kaufte er eine Kassette einer Paarberatung mit eben diesem Titel, die sie im Auto anhörten. Er fand es amüsant und komisch, sie hingegen nahm die Ratschläge ernst, was eine kleine Krise des Paars provozierte. Die Beziehung hielt nicht. Die Kassette ging verloren auf einem Konzert im Münchner Jazz-Club Unterfahrt. 61 Erschienen 1964 auf dem Beatles-Album A Hard Day’s Night, bei Parlophone.

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kalen und bauchigen Tiefen. Dann lassen sich das Volumen und die dynamische Kraft dieser zierlichen Person erahnen. Überhaupt wird bei allen Musikern klar: Musik ist Arbeit. Neben dem Geist ist der ganze Körper in Aktion. In der Pause löst sich die konzentrierte Spannung im Publikum auf in ausgelassene Unterhaltungen. Auf einer Projektionsfläche am Ende der Bühne werden animierte Kurzfilme von Julia Fehenberger gezeigt. Das zweite Set beginnt mit einer weiteren Eigenkomposition Alex Czinkes mit dem Titel Charakterstudie62. Wie einen Anlauf spielt der Gitarrist einen Ton im sich wiederholenden, wabernden Loop einer offenen Einleitung. Dann trudelt sich der Ton hinein in eine melancholisch beschwingte Melodie. Auch hier entsteht eine Atmosphäre analog zum umwerbenden Liebesspiel: ein austarierendes Balancieren auf dem Grat der Kontraste, still und leise die Spannung und das süße Prickeln des Noch-nicht aufrechterhaltend, sich dann scheinbar verlierend im wühlenden Sturm einer Ekstase, um am Schluss wieder zu verebben im Loop des Anfangs. Abbildung 27: Alex Czinke Trio am 27.10.2012 in der Milla

Quelle: Alex Czinke

Die langgezogene, abschüssige Grotte der Milla hat sich nach der Pause dreigeteilt: auf der Bühne und dem bestuhlten Zuschauerraum davor herrscht eine konzentrierte 62 Nr. 13 der Since I Moved The Table.

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Dichte – wenn auch nicht in der spannungsreichen Intensität des ersten Sets. Denn hinter der Säule bis hinauf zur Bar ist es seit der Pause unruhiger. Dort brodelt die kommunikative Atmosphäre eines Lokalbetriebs, wo Musik eher Teppich für angeregte Gespräche ist. Die Unruhe im hinteren Raumteil schwappt nach vorne. The Masterplan63 wird von Alex Czinke flappsig als Hommage an seine »ExLieblings-Gitarristin« Kaki King64 eingeführt. Der Klang der 12-saitigen E-Gitarre strahlt heraus. Andi Haberl begleitet mit verschiedenen Percussion-Elementen, Schlagstöcken und Rasseln. Der Gitarrist wirkt unkonzentriert und am Ende des Stücks erleichtert. Nun nimmt das Ensemble volle Fahrt auf und biegt auf die Autobahn der Beatles-Interpretation von Day Tripper65. Julia Fehenberger ist auf ihre minimalistische, sehr präsente Art rockig dynamisch, holt Energie aus der Tiefe des Körpers. Alex Czinke formuliert den Text mit den Lippen. Die Dynamik scheint nicht einstudiert, sondern entwickelt sich organisch im Spiel, wird von jedem mitgestaltet. Die Brücke zwischen Bühnen- und Zuschauerraum trägt wieder. Es folgt eine Überraschung: die verlangsamte Version des Beatles-Songs From Me To You66 schafft aufgrund einer zufälligen Parallelität 67 der ersten zwei Akkorde den Eindruck eines schillernden Blendings mit dem Stück Come Away With Me68 von Norah Jones. Die Interpretation löst sich stark vom Original. 69 Julia Fehenbergers mitunter markige Stimme spielt mit Rhythmus und Text. Die Kommunikation zwischen Gesang und Gitarre erzeugt Intensität. Eine Prise Coolness seitens der Sängerin bremst jedoch die Tendenz, sich in der Intimität freier, berührend subtiler Improvisation zu verlieren. Auch bei The Long And Winding Road70 schwimmt und treibt die Sängerin in der Musik. In Momenten intensiv versunkener Improvisation vermitteln Alex Czinkes Körper und Mimik den Eindruck eines Wechselspiels von Anspannung und Entspannung – als ob es darum ginge, jeden Ton mühsam aus dem Instrument herauszuziehen. Jede Phrase provoziert einen anderen Ausdruck in seinem Gesicht. Bei einer schnelleren Instrumentalversion von George Harrisons If I

63 Nr. 2 der Since I Moved The Table. 64 Eine US-amerikanische Gitarristin und Komponistin, geboren 1979 in New York. Während des Spiels verwendet sie ihre Gitarre auch als Schlag- und Rhythmusinstrument. Hier sind Rhythmik und Klang tatsächlich ähnlich dem Stil Kaki Kings – z.B. in ihrem schnellen, etwas düsteren Stück Doing The Wrong Thing. 65 Erschienen 1965 auf dem Beatles-Album Rubber Soul, bei Parlophone/Capitol/EMI. 66 Erschienen 1963 als Single bei Parlophone. 67 A.C 15. 68 Erschienen 2002 auf Norah Jones’ gleichnamigem Debut-Album bei Blue Note. 69 Stark verlangsamt, umarrangiert, veränderte Form und Ablauf, offener ImprovisationsTeil. 70 Erschienen 1970 auf dem Beatles-Album Let It Be bei Apple.

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Need Someone71 erzeugt die 12-saitige E-Gitarre einen leicht verstimmten, nostalgischen Sound. Höhepunkt dieses Stücks ist der frei improvisierte Teil. Die Improvisationen sind Reisen des Klangs. Ein Hin und Her von Formauflösung und Verdichtung, vermeintlichem Kontrollverlust und -rückgewinnung. Die Musiker haben Spaß am Spiel, scheinen voll in ihrem Element, versunken in einen Fluss. Alex Czinke entwirft einen sensibel wabernden, zunächst minimalistischen Klangteppich. An den Trommeln und Becken steigert sich Andi Haberl in ein ekstatisches Schlagzeug-Solo hinein. Er hat seinen eigenen Stil: auf dem Instrument als Experimentierfeld erzeugt er einerseits einen puristischen weichen Klang, explodiert andererseits in ausgelassener Spielfreude. Er wirft den Kopf zurück, lässt sich fallen in die Musik. Die Augen sind geschlossen. Haare und Arme fliegen. Sein mitreißendes Spiel ist schwelgerisch intuitiv. Plötzlich reduziert sich das Schlagzeug. Psychedelisch verzerrte Gitarrenklänge verdichten sich und drängen auf Entladung. Der vibrierende Pedal-Bass von Benny Schäfer hält die elektrische Spannung. Die tragende Plattform seines unaufdringlichen basso continuo72 ist der stabile Faktor. Alex Czinke platziert mit Hall verstärkte, klare filigrane Einzeltöne in den Raum. Diese Töne führen schließlich zurück in die Melodiekurve des Stücks. Auch das hingebungsvolle Schlagzeug stößt wieder dazu. Die Körper der drei Musiker schwingen den Rhythmus hinein ins Publikum. Nach insgesamt 10 Minuten gleitet das Stück mit einer gezupften Melodielinie aus – und beendet damit das Konzert. Die Hitzigkeit des letzten Stückes wird gemildert in einer Zugabe mit Julia Fehenberger: I’ll Follow The Sun73. Ein schlichter Abgang. Die Reise ist zu Ende. Alle aussteigen. Publikum und Musiker sind aufgewühlt und ausgelassen. Danach ein abrupter Szenenwechsel: spontan schließt ein australisches Vokal-Ensemble an. Julia Fehenberger bewertet das Konzert später als sehr gelungen.74 Beim Konzerterlebnis bestätigten sich die inhaltlichen Schwerpunkte der Alben75 (vgl. Anhang 1), verdichteten sich geradezu: urbanes Herumstreunen, Klangreisen in aufregende Fremdheiten, Beziehungslandschaften zwischen Mann und Frau, das Liebesspiel, die Sehnsucht nach den erregenden Intensitäten des Transitbewusstseins, z.B. im Improvisieren, im gemeinsamen Versinken in Musik. Im Falle der Beatles-Interpretationen ist es außerdem ein Nachspüren und Weiterführen biografischer Prägungen. Der kreative Prozess ist dabei getragen von existentieller, leidenschaftlicher Spiellust und Improvisation, von der Entscheidung und dem Mut,

71 Erschienen 1965 auf dem Beatles-Album Rubber Soul bei Parlophone/Capitol/EMI. 72 Fortlaufender, ununterbrochener Bass, der das harmonische Gerüst bildet. 73 Erschienen 1964 auf dem Beatles-Album Beatles For Sale bei EMI. 74 Vgl. Anhang 2, J.F. 13/14. 75 Siehe Anhang 1.

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eigene Spuren zu erzeugen, von arbeitsamen Mühen76, interrelationaler CoKreativität und ekstatischen Freuden. Es bedarf eines zumindest impliziten Bewusstseins des kindlichen Spiels, einer persönlichen Haltung der streunerischen Offenheit, Liebe und Leidenschaft sowie des konzentrierten Drängens nach Intensität. Alex Czinke beschreibt »das wahnsinnig Intensive beim Musizieren«77 als individuell wie kollektiv erlebtes Ereignis, wenn die Einheit zwischen Musik, Bühne und Publikum einen Sog schaffe. In ihrer maximalen Ausprägung sei es ein erregend glücklicher Moment, eine orgasmusnahe ästhetische Erfahrung.78 Kreative Persönlichkeit und kreatives Produkt sind nicht voneinander zu trennen. Hier passt die Analogie zur Trance bzw. zum Transitbewusstsein in Raum- und Zeitlosigkeit. Diese Intensitäten und Erfahrungsdichten ließen sich jedoch nicht erzwingen.79 Bühnensound und Bühnenpräsenz haben eine andere Wirkung als die Studioaufnahmen. Das Rezeptionserlebnis ist völlig verschieden. Das Hören einer Studioaufnahme ist sehr privat, intim und gleichsam intrasubjektiv. Die Musik evoziert persönlich-biografische innere Bilder, Erinnerungen und mitunter starke Gefühle. Dies passiert auch bei der Rezeption eines Live-Konzerts. Wo liegt jedoch der Unterschied? Eine Live-Performance hat immer auch szenischen Charakter. Von einer, im geschilderten Fall ironischen Selbstinszenierung Alex Czinkes kann man sprechen im Hinblick auf die anekdotischen Ansagen zwischen den Stücken. Der Automatismus der Improvisationen scheint Schleusen zu öffnen für den unmittelbaren, authentischen und ungefilterten Selbstausdruck. Im absorbierten Spiel fallen inszenatorische Masken. Ein weiterer Unterschied: ein komplexes Bühnenereignis ist einmalig. Auf dem beschriebenen Konzert interpretierte die Band mit Experimentierfreude die Kompositionen Alex Czinkes wie auch der Beatles. Er selbst gab den verschiedenen Charakteren seiner Band Raum zur freien Entfaltung. Auf der Bühne herrschte Gleichberechtigung, wertschätzender Respekt, liebevolle Anerkennung der Leistung des Anderen. Die Musiker waren orientiert an einer gemeinsamen Klangvision. Dabei machten sie augenscheinlich eine intensiv emotionale, mitunter intime, gerade in improvisatorischen Passagen auch ekstatisch kreative Erfahrung. Diese Emotionalität übertrug sich spürbar auf das Publikum. Der Unterschied zur

76 Gepaart mit kognitivem Erfassen, intellektueller Analyse, technischen Fähigkeiten und Fleiß. 77 A.C. 8. 78 Vgl. A.C. 16. 79 Im Bild des Reisens bleibend äußert sich Alex Czinke dazu: »Es kann auch einfach mal eine sehr unangenehme, kalte Fahrt in einem offenen Auto sein, wo es regnet und schneit und wo man halt einfach durch muss. […] es kann trotzdem sein, dass dabei gute Musik rauskommt.« A.C. 4.

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Rezeption einer Tonaufnahme liegt gerade im kollektiven und partizipatorischen, ja geradezu kommunikativ interagierenden Charakter dieser Erfahrung. Bühne und Publikum sind Teilnehmer einer unwiederholbaren Reise in Echtzeit, gemeinsam absorbiert von dieser flüchtigen Emotionalität – wenn auch mit unterschiedlicher Rollenaufteilung. Auf der Bühne geschieht die Koppelung von Körper und Geist, im Publikum hingegen seine Entkoppelung. Diese individuelle wie kollektive Freiheitserfahrung spielt gleichsam jenseits dieses Raumes und der verstrichenen Zeit. Sie ist virtuell. Hier läßt sich der Vergleich der Konzertperformance zum Film bemühen: zusammengesetzt aus Einzelbildern, gebündelt in Episoden, mit einer Spannungskurve aus Ouvertüre, Verknotungen, Höhepunkten und Auflösungen. Béla Balázs beschreibt diese Erfahrung: »Der Film hat dieses Prinzip der alten räumlichen Künste – die Distanz und die abgesonderte Geschlossenheit des Kunstwerkes – zerstört. Die bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewußtsein, mit: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein. Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe.«80

Im Gegensatz dazu steht die Metapher des Fensters. Durch das Fenster kann man zwar in einen anderen Raum hineinschauen, ihn jedoch nicht betreten. Im Konzert wird dieses Fenster geöffnet. Es obliegt dem Rezipienten, sich durch dieses Fenster in einen Resonanzraum hinein ziehen zu lassen, teilzuhaben an der Situation und anders als im Film81 in einen subtilen Dialog zu treten. In der Immersion eines Konzerts sind Kunst und Leben untrennbar vermischt. Die spannende Reise eines Bühnenkonzerts ist wie das Leben. Es gibt nur einen Versuch – wenn auch verschiedene Episoden. Scheitern gehört dazu, kann sogar zur Chance werden. Es ist sowohl eine intrapersonale wie auch interrelationale Erfahrung. Jeder ist Akteur. Um mit Martin Buber zu ergänzen: in diesem interrelationalen Resonanzraum ist alles Begegnung82 , in der der Mensch am Du zum Ich wird.83 Hier zeigt sich Musik als eine Beziehungserfahrung.

80 Balázs 1995, S. 215. 81 Oder der Tonaufnahme, wo das Rezipieren rein konsumatorisch ist. 82 Vgl. Buber 1979, S. 18. 83 Vgl. Buber 1979, S. 37.

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2.1.4 SERENDIPITY Im Folgenden weitet sich der Blick auf die Beziehung zwischen Ton und gezeichnetem Bild. Die kollaborative Verbindung von Bild- und Ton-Kunst wird analysiert anhand von Julia Fehenbergers und Alex Czinkes animiertem Kurzfilm SERENDIPI84 TY (2009) . Der 3:57 minütige Stop-Motion85 Clip SERENDIPITY ist eine fetzenhafte, manisch anmutende Narration von etwas unscharfen, nervös sich morphenden Zeichnungen und Schriftzeichen Julia Fehenbergers. Eine Welle atmosphärisch minimalistischer Instrumentalmusik und wortlos klagenden Gesangs fließt durch faszinierende und zugleich beunruhigend surreale Fantasielandschaften. In der Aneinanderreihung von ca. 900 durch Julia Fehenberger abfotografierten Einzelbildern auf Transparentpapier ergibt sich ein Motiv aus dem anderen.86 Die linearen und flächigen, spärlich kolorierten Handzeichnungen wurden im Comicstil auf Transparentpapier gefertigt und teilweise mit eingeklebten Fragmenten collagiert. Stilistisch sind sie inspiriert von Zeichnern wie Wilhelm Busch und Loriot, Maurice Sendak und Tomi Ungerer, die ihren jeweiligen Zeichenstil mit einem besonderen Humor verbanden. Es kristallisieren sich drei Episoden heraus. Die erste Episode beginnt mit einem Standbild: zwei linear reduzierte Formen auf gräulich weißem Grund erinnern an Papiertüten. Die Namen von Julia Fehenberger und Alex Czinke werden eingeblendet. Erst ab Minute 0:07 setzt eine Gitarre ein. Aus zwei verhallenden Akkorden spinnt sich eine von schwingenden Klängen und flirrig gezupftem Banjospiel umsponnene Melodielinie. Die anfänglichen Tütenformen morphen in flächig pinke Eulenwesen. In der Himmelszone erinnern Kleinformen an asiatische Schriftzeichen. Ornamente und pinke Blätter tanzen über die Bildfläche, fügen sich zu as-

84 Ihm ging der Kurzfilm Puma Story (4:56 Minuten, ca. 800 Einzelzeichnungen, Tusche, Aquarell und Farbstift) voraus. Im Rahmenprogramm des Filmfestes München 2010 erhielt Puma Story den Förderpreis der LfA Förderbank Bayern. Serendipity und Puma Story waren zudem zu sehen in Tierisch, der Großen Kunstausstellung 2011 im Münchner Haus der Kunst: 11. Juli – 21. August 2011, getragen von der Münchener Secession, der Neuen Münchner Künstlergenossenschaft und der Neuen Gruppe. Die Ausstellung beschäftigte sich damit, inwieweit der Umgang des Menschen mit dem Tier auch den Umgang des Menschen mit seiner eigenen Natur widerspiegelt. Vgl. http://www. alexczinke.de/ (02.11.2012); vgl. http://www.grossekunstausstellungmuenchen.de/gka 2011/seiten/kuenstler_einz/fehenberger.html (24.02.2013). 85 Stop-Motion ist eine filmische Animationstechnik. Von unbewegten Motiven werden einzelne Bilder aufgenommen. Von Bild zu Bild finden geringfügige Veränderungen statt. In schneller Bildabfolge wird so eine Illusion von Bewegung erzeugt. 86 In einer Bildfolge von ca. 5 Bildern pro Sekunde.

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soziativ-narrativen Zusammenhängen. Es ist unklar, ob es Tag oder Nacht, Außen oder Innen ist. Die Bildkomposition hat meist Boden- und Himmelsorientierung. Räumlichkeit spannt sich auf in den Kontrasten aus Horizontale, Vertikale und Diagonale, aus Groß und Klein, aus sich in einem Schwerpunkt verdichtenden Strukturen und deren Auflösungen. Die schwarzen Linien und zeichnerisch strukturierten Flächen werden begleitet von Farbakzenten, aquarelligen Wolken und duftig lasierenden Flächen in pinker, blauer, grüner und gelber Farbigkeit, deren Duktus teilweise erkennbar ist. Ab Minute 0:25 setzt eine tiefe, bauchige Stimme ein. Sie wird zum erzählenden Thema der Musik, erzeugt mitunter dissonant sich reibende akustische Flächigkeiten. Im Overdub wird sie zur Vielstimmigkeit, klimmt am stabilen Rhythmus empor, umspielt ihn, trudelt wieder hinab, zieht den Rezipienten mit melancholischer Verschmitztheit in einen tiefen Abgrund. Die zeichnerischen Figuren verformen, vermehren und reduzieren sich, blähen sich auf, ziehen sich zusammen und verschwinden. Die Bildfläche ist bewohnt von geschwürigen Ungeheuern, kindlich naiv anmutenden Symbiosen aus Mensch und Tier, Engelswesen und ins Komische verzerrten Masken. Symbole und fiktive Schriftzeichen wachsen aus den Figuren, aus Boden und Himmel heraus, schlängeln sich in Spiralen. Ornamentale Strukturen fallen wie ein Kaleidoskop in andere Formzusammenhänge. Plötzlich ändert sich der Rhythmus. Die erste Episode schließt, als ein Raketenwesen begleitet von lautmalerischen Geräuschen vom linken unteren Bildrand über den Kopf eines Anderen in einem Halbkreis nach rechts aus dem Bild herauszischt. Ab Minute 1:07 übernimmt Trommeln im Klang einer Tabla87 die Führung. Die menschliche Stimme wird sehr eindringlich. Banjo und Gitarre umspielen den rhythmisch-melodischen Korpus. Eine asiatisch anmutende Figur mutiert zur Giraffe mit Vogelkopf. Daraus erwachsen grimmige Katzen und Vögel, neurotische Insekten und bedrohliche Wortfetzen. Eine Meerjungfrau versinkt im Meer, wird zu Blumen, Fischen, Krokodilen, Hasen, Eule, Huhn, Mond, Sternen und allerlei verschiedenen Gestirnen. Das Trommeln reißt ab, der Rhythmus hält den Atem an. Auf dem schwingenden Klangteppich des Gesangs erscheint »STOPITNOW«. Ein Feld aus roten Punkten verwächst sich zu einem kleinteiligen Erdbeerfeld, in dessen Mitte eine Frauenfigur mit kokettem Blick und roter Kappe auftaucht. Ab Minute 2:11 bricht die Illusion der Narration schließlich für einen Moment weg, als eine menschliche Hand von rechts unten kommt und das Zeichenblatt im Zeitraffer von einer schwarz-weiß karierten Unterlage wegzieht, um von links unten ein nächstes Blatt hineinzuschieben – abermals lautmalerisch begleitet. Es folgt die dritte Episode. Stimmen flüstern unverständliche Worte und singen Klagelaute zu minimalistisch filigranen Gitarrenklängen. Eine männliche Figur mit gelbem Trenchcoat, hochgeschlagenem Kragen und Sonnenbrille grinst den Be-

87 Indische Trommel.

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trachter frech an. Sie trägt die rechte Hand lässig in der Tasche. Mit der Linken hält sie an einer senkrecht nach oben ziehenden Leine Kugelfische, die auf einer hohen Horizontale treiben. Der Mann wird zur Frau. Ein Fisch wird zum Regenschirm, zur Frisur, zum Schnabel eines Vogels. »Paul Paul Ach Paul« wird zur Krankenschwester mit zerkratztem blutendem Herz, zur Katze, zum Känguru, das einen Drachen an der Leine führt, wird zu Kugeln und Blasen. Ein violetter Oktopus schwebt links aus dem Bild. Eine Katze wird eingesponnen von einem Bündel aus Spaghetti, kommuniziert mit einem Ableger am Himmel, löst sich auf in davon flatternden Schmetterlingsformen, baut sich erneut zusammen in einer Katze und einer Mädchenfigur, die Schmetterlinge aus ihrer Hand in den Himmel schickt und bei 3:35 Minuten nach links aus dem Bild gleitet. Im Abspann setzen sich nur der klagende Gesang und das Wispern fort, umschlossen von verzerrtem Vibrato und Grillengezirpe. Abbildung 28: Einzelbilder aus Serendipity

Quelle: Julia Fehenberger

Das englische Wort serendipity heißt Spürsinn. Es bezeichnet die Gabe, zufällig unerwartete Entdeckungen zu machen. Der Kurzfilm SERENDIPITY spielt lustvoll mit Bildergeschichten und kreativen Wahrnehmungen, die im Rezipienten Assoziationsketten lostreten können. Die Verbindung aus bewegter Zeichnung und Musik

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öffnet gleichsam einen Raum des Sehens. Dieser erzählt eine traumgleich surreale Geschichte mit offenem Ende. Im nervösen Rhythmus des Lidschlags entspinnt sich eine unaufhaltsam fortschreitende Entwicklung. Mit jedem Blinzeln wird Wahrnehmung synthetisiert, wird das Kaleidoskop weitergedreht, fallen die sich morphenden Formen in neue Sinnzusammenhänge. Der rasante Bilderfluss gleicht dem Lebensfluss. Sein Fließen ist nicht zu stoppen. Nichts bleibt wie es war. Augenblick für Augenblick wird durchlebt. Im Dazwischen, während die Augen geschlossen sind, knüpft ein Bild an das vorherige an. Die Narration geschieht in der Aneinanderreihung einzigartiger harmonischer und dissonanter Momentaufnahmen. Nur das Loslassen des vergangenen Bildes kann ein neues Bild daraus gebären, kann die Geschichte weitererzählen, kann der Veränderung Sinn zuschreiben. In welchem Kompositionsprozess entstand dieses Miteinander von Bild und Ton? Es gibt verschiedene kompositorische Strategien. Beispielsweise entwirft man zuerst eine Melodie und hört dann den Text heraus. In einem bildhauerisch anmutenden Prozess wird die Melodie so zum sprach-plastischen Material. Oder man schreibt eine Melodie zu einem bereits existierenden Text. Im Falle von SERENDIPITY schufen Julia Fehenberger und Alex Czinke die Musik zu bereits existierenden, unregelmäßigen Bildfolgen, die bestimmte Phrasen, Pausen oder Atemlängen haben. Den Rhythmus der Bilder empfanden beide in ähnlicher, intuitiver Weise. 88 Alex Czinke formte eine Gitarrenlinie und Julia Fehenberger sang Stimmen drüber. Zudem kamen ein Banjo und ein Raagini89 zum Einsatz. So entstand in einem dialogischen Prozess gemeinschaftlichen Komponierens eine gemeinsame Klangvision, ein klangfarbiges Gewebe, eine intermediale Einheit aus Bild und Ton.90 Die Filmmusik mutet dabei wie ein Klagelied an. Welche Lebensumstände bilden den Entstehungskontext von SERENDIPITY? Kurz zuvor war Julia Fehenbergers Großmutter verstorben. Zur Zeit der Entstehung der Zeichnungen von SERENDIPITY lebte sie zudem am Rande ihrer Kräfte.91 Sie sah so schlecht, dass sie beim Abfotografieren der Bilder Unschärfe nicht mehr wahrnehmen konnte. Der Sehnerv ihres Auges war angegriffen und Julia Fehenberger erfuhr, dass sie die Krankheit Multiple Sklerose92 hat. Ihren Umgang mit der Krankheit beschreibt sie in charismatischer

88 Sie verstehen sich nach Angaben Julia Fehenbergers »musikalisch blind« J.F. 6. 89 Die Elektronik-Version eines indischen Instruments, das Sitar-ähnlich vor sich hinschwingt. 90 Vgl. J.F. 7. 91 Vgl. J.F. 4. 92 Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Entmarkungserkrankung des zentralen Nervensystems. Sie kann fast jedes neurologische Symptom verursachen. Sehstörungen mit Minderung der Sehschärfe und Störungen der Augenbewegung sind typisch, aber nicht spezifisch für die MS. Die Krankheit ist nicht heilbar, jedoch kann der Verlauf

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Klarheit, herzlicher Offenheit und angstfrei als etwas, das zu ihr gehört.93 Über SERENDIPITY sagt sie selbst: »Das ist im Grunde wie ein Blick in einen meiner höchst verwirrten Nervenstränge. Wie ein Millimeter-Ausschnitt eines solchen Strangs, in dem diese unendlich vielen Bilder passieren, die wir niemals fassen könnten in ihrer Menge, in ihrer Masse und Vielfalt. Und als wäre es so ein Einblick, ein Makroblick in einen unfassbaren Bilderstrang, der bei mir zu der Zeit auch wirklich in dieser Intensität ablief.«94

2.1.5 Resümee Welche intrasubjektiven und interrelationalen kreativen Dynamiken bezüglich Musikproduktion und -rezeption zeigten sich in der Analyse der beiden Künstler? Die Kommunikation und Kollaboration der beiden Künstler erfolgt im interrelationalen Dazwischen der Künste über Assoziations- und Sprachräume. Alex Czinke verwendet die Sprache der Musik, um auf seinem Instrument eine »ganz eigene Stimme«95 zu finden, um Fantasien, Räume und Welten zu erklären. In symbiotischem Miteinander fungiert sein Instrument gleichsam als verlängertes Organ. Seine Motivation ist die Sehnsucht nach einem intensiven, sinnstiftenden, transzendenten Zustand. Für Julia Fehenberger ist künstlerisches Denken und Tun eine humorvolle Lebenshaltung, eine kompensatorische, sinnstiftende Selbsterfahrung mit resilienter Wirkung.96 Kunst fungiert hier als Spiegel. Darin synthetisiert sich ihre Lebenssicht, die geprägt ist von stärkender Förderung, von menschlichen Beziehungen und krisenhaften Lebenserfahrungen. Durch die Kunst empfängt sie Freude und Energie, die sie weiterschenken möchte. Für sie drückt Kunst Liebe aus, schafft Einheit und Gemeinschaft. Künstler-Sein und Kunst-Vermittlung sind bei Julia Fehenberger nicht voneinander zu trennen.97 Allgemein lässt sich zusammenfassen: Musik ist eine ehrliche, leidenschaftliche Sprache für das, was Menschen bewegt. Musiker erleben und erforschen das Leben, kartieren es und bannen diese Erfahrung in Musik. Damit erschaffen sie eine virtuelle Welt aus Gefühl, Klang und Beziehung. Diese ephemere Welt genießen sie und

durch verschiedene Maßnahmen oft günstig beeinflusst werden. Vgl. Limmroth/Sindern 2004. 93 Vgl. J.F. 4-6. 94 J.F. 5. 95 A.C. 3. 96 Die Kunst und besonders das Singen sind für sie eine Kraftquelle, ein Medikament, gerade in der Gemeinschaft mit anderen. Vgl. J.F. 3. 97 Vgl. J.F. 1-3.

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verschmelzen mit ihr, finden Erfüllung in dieser Selbsterfahrung bzw. Selbstbestätigung und teilen sie mit anderen. Musizieren ist eine individuelle wie auch kollektive Erfahrung. Spieler lassen andere an ihrer Kommunikation teilhaben. Die Kreativität der Musiker übersetzt sich über die Brücke der interrelationalen Beziehung auch beim Rezipienten in kreatives Erleben, katalysiert innere, mitunter filmische Bilder. Musik wird zur Projektionsfläche, zum Spiegel subjektiver Assoziationen und Sehnsüchte. Sie verdichtet das Erlebte, wird zum Ereignis bis hin zur (Selbst)Erkenntnis. Im Moment des Ereignisses gibt es keine Distanz, keine Meta-Ebene. Diese Nähe kann Geborgenheit und Trost vermitteln oder Lebenslust bereiten. Es braucht Offenheit für Begegnung und Kommunikation. Eine solche entgrenzende ästhetische Erfahrung, eine Vernetzung vom Ich zum Du zum Wir zur Welt, ergibt ein Ganzes, das mehr ist als die Summe der Teile. Dies kann eine subjektive Anziehungskraft erzeugen und mitunter das ganze Leben prägen.

2.2 R OBERT L IPPOK UND T O R OCOCO R OT – M USIC I S A H UNGRY G HOST Das zweite Fallbeispiel reflektiert einen inter- bzw. transdisziplinären, autodidaktisch musikalischen Ansatz des Musikers, Klangkünstlers, Bühnenbildners und Bildenden Künstlers Robert Lippok. Seine baukastenähnliche transmediale Musik veranschaulicht die gegenwärtige analog-digitale Revolution. Es wird deutlich, dass ein Knotenpunkt der Künste in den künstlerischen Strategien liegt. 2.2.1 Kurzbiografie und künstlerisches Schaffen Robert Lippok wurde 1966 in Ost-Berlin geboren. Gemeinsam mit seinem drei Jahre älteren Bruder Ronald und einer Schwester wuchs er an der Ost-Berliner Zionskirche auf. Schon früh hatte Robert Lippok einen Hang zum spielerischen Basteln, den er weniger technisch als kreativ auslebte und selbst als »intuitives Löten«98 bezeichnet. Die Eltern unterstützten ihn nach Kräften in seinen künstlerischen Neigungen.99 Die Unterstützung und Anerkennung der Eltern verlieh den Kindern das Selbstvertrauen, Künstler zu werden.100 In der DDR war das nicht so einfach. Die

98

Zitiert in: Stock, Ulrich: Hausmusik aus zwölf Modulen, in: Zeit Online, http://www.zeit.de/2001/45/200145_lippok.xml (10.02.2013).

99

»In allem Quatsch, den die Lippok-Brüder sich ausgedacht haben, waren sie immer mit dabei.« Anhang 3, R.L.: Transkript des Leitfaden-Interviews mit Robert Lippok vom 21.05.2012, R.L. 1.

100 Vgl. R.L.1.

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Stasi hörte mit. Über die Mauer drang neue Musik nur mit zeitlicher Verzögerung. Als Teenager waren die Brüder beeinflusst von englischen Bands101 der späten 1970er, die mit einfachen Mitteln arbeiteten und deren musikalischer Zugang von allen möglichen Geräuschen kam. Die autodidaktische Kraft und wiedererkennbare Formsprache beeindruckte sie und brachte sie dazu, auch selbst Musik zu machen. 1982 gründeten sie die Band Ornament & Verbrechen, bei der bis in die frühen 1990er Jahre etwa 50 Musiker und Nichtmusiker mitmachten.102 Mit jedem, der sich anschloss, wandelte sich die Form der Band und erspielte sich in Ostberlin Legendenstatus.103 Das Studium brach Robert Lippok ab, da er die Universität als einen künstlichen Ort empfand, an dem er sich gefangen fühlte. Ihn interessierte das Leben an sich. Er arbeitete als Babysitter, erhielt eine Ausbildung am Theater, wollte mit einer Frau aus West-Berlin zusammensein und kämpfte drei Jahre lang um die Ausreise, die ihm schließlich Ende Januar 1989 gewährt wurde. Noch in der Nacht des 9. November 1989 kam ihn sein Bruder in Berlin Schöneberg besuchen. Bald zog er zurück nach Berlin Mitte. Nach der Wende sprossen viele progressive Clubs104 aus dem Boden. Das brodelnde Berlin der frühen 1990er hatte großen Einfluss auf seinen musikalischen Ansatz. Schon damals gab es die Verbindung zur Bildenden Kunst. Sein Bruder studierte Malerei, Robert Lippok studierte Bühnenbild. 1995 änderte sich sein Leben schlagartig. Er lernte seine Frau kennen, hatte eine Ausstellung mit Ronald105, sie gründeten mit dem Düsseldorfer Stephan Schneider106 das Trio To Rococo Rot107 (1995-2014) mit Ronald an Schlagzeug und Samples, Robert

101 Z.B. Flying Lizards. 102 Vgl. http://www.medienkunstnetz.de/kuenstler/robert-lippok/biografie/ (07.01.2013). 103 Vgl. R.L. 5. 104 Glowing Pickle, Daniel Pflumms Clubs Elektro und Panasonic. 105 Ronald Lippok ist ein präziser, experimentierfreudiger Schlagzeuger. Sein erstes Schlagzeug stammte von der Betriebskapelle für Bohr- und Sprengtechnik des väterlichen Autobahnbaukombinats. Seine erste Band hieß Rosa Extra nach einer DDRDamenbinde. Er war Hilfsarbeiter, studierte Malerei, spielte Punk- und Jazz-Musik. Seit 1995 hat er mit dem Bassisten Bernd Jestram Erfolg bei Tarwater. Ronald Lippok, der ein Faible für Alchemie und Mystik hat, montiert die rätselhaften Botschaften seines Sprechgesangs aus Texten von Marc Bolan und Philippe Cousteau. Vgl. Stock 2001. 106 Stefan Schneider, bildender Künstler und damaliger Bassist der Elektronikgruppe Kreidler, hörte mit dreizehn Jahren zum ersten Mal Musik der Band Kraftwerk im Radio. Er studierte in Düsseldorf an der Kunstakademie. Von 1994-1998 war er Bassist der Elektronikgruppe Kreidler. 107 Erschienene Platten: To Rococo Rot . CD erschienen 1996 bei Kitty-Yo, Veiculo erschienen 1997 bei City-Slang, Amateur View erschienen 1999 bei City-Slang, Kölner

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an E-Gitarre und Samples, Stefan Schneider am E-Bass.108 In einer englischen Palindromsammlung109 aus dem 19. Jahrhundert fand Ronald Lippok das Wortspiel to rococo rot, das ihn an eine unendliche Klangschleife erinnerte. Name und Programm des Trios war gefunden.110 Ihr erfolgreiches Debütalbum TO ROCOCO ROT. CD erschien 1996. Stilistisch zeigt ihr »spartenübergreifender neuer Sound«111 eine klare Referenz an die Mensch/Maschine-Dekonstruktionen von Krautrock Bands112 und bewegt sich zwischen Experimental Rock, IDM (intelligent dance music), Experimental Techno und Deutschem Electro. 113 Ihre frühen Alben sind komplexe Klangereignisse, die der zeitgenössischen Musik neue Richtungen eröffneten. 114 Sie verbinden experimentelle instrumentale Abstraktion und digitale Präzision mit der Zugänglichkeit des Pop. Für ihre CD KÖLNER BRETT verwandelten sie Architektur115 in ein eigenständiges Klangwerk. Dabei entstand Musik in zwölf Modulen zu je drei Minuten, rohbauartig wie die Loft-Architektur, mit wenigen wiederkehrenden Elementen, die eine starke Atmosphäre schaffen und Platz lassen für den Hörer.

Brett erschienen 2001 bei Staubgold, Music Is a Hungry Ghost erschienen 2001 bei City-Slang, Hotel Morgen erschienen 2004 bei Domino, Taken from Vinyl erschienen 2006 bei Staubgold, ABC ONE TWO THREE erschienen 2008 bei Domino, SPECULATION

erschienen 2010 bei Domino, die Compilation Rocket Road erschienen 2012 bei

City-Slang, Instrument erschienen 2014 bei City-Slang. 108 Stefan Schneider traf in einem Berliner Club auf Robert Lippok, der dort DJ war. »Mit Plattenspielern, Rhythmusmaschinen und Effektgeräten machte er Minimal-Techno, der zusammengelötet klang, ziemlich toll.« (Zitiert in: Stock 2001). Eine Zusammenarbeit ergab sich ein halbes Jahr später im Rahmen eines Audiokatalogs, als Robert und Ronald Lippok in der Berliner Galerie Weißer Elefant eine Ausstellung mit dem Titel to rococo rot hatten. Sie zeigten eine Klanginstallation, in der Soul-, Metal-und Technoplatten auf von Bohrmaschinen angetriebenen Plattenspielern rotierten. 109 Ein Palindrom ist sowohl vorwärts als auch rückwärts lesbar. 110 Vgl. Stock 2001. 111 Winkler, Thomas: Futuristisch und alltäglich, taz. Die Tageszeitung, vom 29.12.2014, http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2014%2F12%2F29%2Fa01 24&cHash=c4501723b514f534fd9e79ff2cf7b513 (29.12.2014). 112 Wie Neu!, Can und Amon Düül. 113 http://www.allmusic.com/artist/mn0000932732 (07.01.2013), Übersetzung: Johanna Eder. 114 Vgl. http://www.dominorecordco.com/artists/to-rococo-rot/ (07.01.2013), Übersetzung: Johanna Eder. 115 Ein New-Loft-Gebäude der Architekten Arno Brandlhuber und Bernd Kniess in KölnEhrenfeld: zwölf Module zu je 130 qm zu einem Quader zusammengesteckt ergeben flexibel gestaltbaren Wohn- und Arbeitsraum. Vgl. Stock 2001.

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To Rococo Rot schuf auch Soundarbeiten für Künstler, darunter Olaf Nicolai, Doug Aitken und Takehito Koganezawa.116 Am 29.12.2014. gaben To Rococo Rot in Berlin ein letztes Abschiedskonzert mit The Pastels. Die bisher erschienen Solo-Platten Robert Lippoks, sowie die Veröffentlichungen aus Gemeinschaftsprojekten zeugen von musikalischer Vielseitigkeit und komplexer Auseinandersetzung.117 An der Zusammenarbeit mit anderen interessiert ihn die Interaktion,118 das kollektive Spiel das entsteht, wenn man einander zuhört.119 Robert Lippok schätzt die Selbstbegrenzung einer abgeschlossenen Formsprache als Katalysator für Kreativität.120 Er sieht jedoch auch Bezüge zu sich fantasievoll modulierende Wiederholungen – wie in der Romanik121 oder in der Barock-Musik122. Als Bühnenbildner entwarf Robert Lippok seit ca. 1997 minimalistische Bühnenbilder für den Theaterregisseur Sebastian Baumgarten – z.B. für den Parsifal 2002 in Kassel.123 Auch als Bildender Künstler schafft er ortsbezogene Werke für spezielle Räume, die sich in improvisatorischen Arbeitsprozessen entwickeln. 124 Dabei verbindet er meist Visualität und Klang.125 Fotografien, Raumkörper und

116 Vgl. http://www.medienkunstnetz.de/kuenstler/robert-lippok/biografie/ (07.01.2013). 117 Open Close Open erschienen 2001 bei Rater-Noton, Falling Into Komeït erschienen 2004 bei Monika Enterprises, Robot erschienen 2006 bei Western Venyl, Pataphysical Mix Tape (eine Compilation, erschienen 2007 ohne Label) und Redsuperstructure erschienen 2011 bei Raster-Noton. Des Weiteren erschienen 2005 Tesri mit Barbara Morgenstern bei Monika Enterprises und Cloudland 2009 bei Ponderosa mit Whitetree (Luduvico Einaudi, Robert und Ronald Lippok). 118 Vgl. R.L. 6. 119 Nuukoono (erschienen 2012 bei Gusstaff Records) ist die erste Platte von Knuckleduster, einem transatlantischen Projekt Robert Lippoks mit dem indisch-kanadischen Perkussionisten und Improvisationsmusiker Debashis Sinha, den er seit einer gemeinsamen Live-Performance 2007 in Toronto kennt. Sie beide verbindet die Faszination für Klänge, minimalistischen Improvisationen, die intuitive Musik mit assoziativem Horizont schaffen.Vgl. R.L. 2. 120 »Ich bin glaube ich gegen zu viel Freiheit. Ich mag das gerne, wenn es Grenzen gibt und sich Dinge innerhalb von starken Grenzen entwickeln müssen.« R.L. 8. 121 Vgl. R.L. 8. 122 Johann Sebastian Bach, Henry Purcell, Claudio Monteverdi, Arcangelo Corelli, Vivaldi. 123 Vgl. Stock 2001. 124 »Meistens ist es so, dass ich so eine Art Baukasten habe. Ich habe verschiedene Elemente, die ich benutzen könnte. Und ich entscheide mich dann eigentlich erst während des Aufbaus, was ich wirklich zeige.« R.L. 3. 125 In Ost-Berlins erster privater Galerie Wohnmaschine war er in den Jahren 2001 (Steady) und 2003 (Field recordings) mit Einzelausstellungen vertreten. 2004 nahm er im

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field recordings126 werden digital verfremdet und geometrisch abstrahiert. Dies erzeugt einen neuen, offenen Zusammenhang von Raum, Bild und Ton.127 Robert Lippoks Beschäftigung mit Alfred Jarry, dem Erfinder der ’Pataphysik128 und Wissenschaftler der »imaginären Lösungen«, führte 2011 zu der Ausstellung FAUS129 TROLL in der Staatsgalerie Prenzlauer Berg. 2.2.2 MUSIC IS A HUNGRY GHOST Näheren Aufschluss über die Kreativität dieses spezifischen musikalischen Ansatzes gibt im Folgenden eine Analyse des 2001 beim Label City-Slang erschienenen Albums MUSIC IS A HUNGRY GHOST130 von To Rococo Rot und I-Sound. Das CDCover131 zeigt einen klar strukturierten, weiß gekachelten, leeren Raum mit zwei Säulen. Neonröhren tauchen ihn in kaltes Licht. Auf einer Diagonalachse von vorne links nach hinten rechts verteilen sich neun Klone der Musiker beiläufig im Raum. Gekleidet in sportlich lässige, schwarze Alltagskleidung nehmen sie verlegenene Posen ein oder halten in einer Bewegung inne. An der Decke hängen in schlichten blaugrauen Lettern der Albumtitel, der Name der Band und des beteiligten DJs. Die Rückseite sowie das minimalistische Booklet führen auf blass blaugrauem Grund

Westfälischen Kunstverein Münster an der Ausstellung space to face teil, wo er ein Audiokonzept für den Ausstellungsraum entwickelte. Vgl. http://www.medienkunstnet.de/ kuenstler/robert-lippok/biografie/ (07.01.2013). 126 Aufgenommene Alltagsgeräusche. 127 Im Rahmen der Ausstellung Halleluhwah! im Berliner Künstlerhaus Bethanien, einer Hommage an die Musik der Kölner Band Can, zeigte Robert Lippok die Installation Knitting Smoke, einen gemusterten Strickpullover. Dafür übersetzte er die Klänge des Can-Stücks Smoke (E.F.S. No. 59) auf seinem Computer in ein Strickmuster. Vgl. Pilz, Michael: Mit brennenden Ohren gesehen. Erfinder des Krautrock: In Berlin huldigen bildende Künstler der Band Can, 30.11.2011, http://www.welt.de/print/die_welt/ kultur/article13742538/Mit-brennenden-Ohren-gesehen.html (08.01.2013). 128 Vgl. Kapitel C 1.1 zu Marcel Duchamp. 129 In Zusammenarbeit mit dem evangelischen Theologen Dietrich Sagert entstand ein imaginäres Theaterprojekt (Objekte, Kostüme, Grafik) unter dem Aspekt der Abwesenheit seiner Aufführung. Vgl. http://www.staatsgalerie-prenzlauerberg.de/?inhalt=archiv &id=33 (10.04.2013). 130 1. A Number Of Things, 2. For A Moment, 3. How We Never Went To Bed, 4. First, 5. From Dream To Daylight, 6. Your Secrets, A Few Words, 7. Along The Route, 8. Overhead, 9. Koku, 10. Pantone, 11. Mazda In The Mist, 12. She Tended To Forget, 13. The Trance Of Travel. 131 Gestaltet von Susanne Brodhage und Stefan Schneider.

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die Titel, Instrumentierung, Referenzen, und Danksagungen auf. Die weiße CD liegt vor einem Foto-Ausschnitt des sterilen architektonischen Moduls. Der Titel MUSIC IS A HUNGRY GHOST, wie auch die Titel der Stücke verweisen auf Zustände des Musik-Erlebens: tranceartig sich wiederholende Strukturen, die im zeitlosen Transitzustand zwischen Wach und Schlaf innere Bilder, Traum- und Gedankenfetzen durchs Bewusstsein schießen. Mit Beginn der Musik betritt der Rezipient den Maschinenraum einer abstrakten, sich morphenden132 Klanglandschaft. Im Dunst kreisen dreidimensional plastische Objekte, collagiert aus verschiedenen sich durchdringenden Klangschichten und hypnotisierenden Rhythmen. Es brutzelt, hämmert, kratzt und knistert, schraubt, wabert, zischelt und zerbirst gegen konventionelle Hörgewohnheiten. Sich wiederholende mikroskopische Melodien fließen anmutig im Äther umher. Begleitet von elektronischem Donnergrollen schießen scharfkantige Geschoße durch den Raum. Subtil verflochtene, elektronische Klänge und bizarre Sample-Sequenzen133 bewegen sich aufeinander zu, verdichten sich, reagieren miteinander, veranstalten Hetzjagden auf der stabilen Matrix des leichtfüßig rhythmischen Schlagzeugs und laufen wieder voreinander weg. Unkende Ungeheuer lauern im morastig schleimigen Untergrund. Virtuelle Insektenschwärme steigen aus hitzigem Moor zum Himmel. Mal hier mal da dampfen organische Wolken einer harmonischen warmen Basslinie hinein in die zersplitterte Kantigkeit beunruhigend lebensfeindlich anmutender Geräusche. Ein glitzerndes Glockenspiel tropft in einen zähen Brei. Plötzlich reißt die undurchsichtige Masse auf, von dessen Grund dem Rezipienten Spektralfarben entgegenleuchten. Doch selbst die Beruhigung durch die sinnliche Melodik akustischer Klänge eines müde dahintrottenden Harmoniums und miteinander tanzender Geigen kann nervenzerreißend sein. MUSIC IS A HUNGRY GHOST ist ein futuristisches bzw. surreales Hybrid aus analoger Musik, künstlich generiertem Sound und digital veränderten field recordings. Letztere erlauben Assoziationen mit Alltagsgeräuschen einer Schreibmaschine, Tischtennisspiel, gluckerndem Ausgießen aus einer Flasche, Beatmungsgerät und Krankenwagen, Telefon-Freizeichen, Gesprächsfetzen und Morsezeichen, Schwenkkränen, metallisch industriellen Geräuschen und dröhnenden Klangtrümmern. Wiederholungs-Patterns formen narrative Körper, die einen klanglichen Beziehungsraum kartieren. Dabei erzählen sie keine illustrative Geschichte, sondern

132 Beim Morphing werden Bilder bzw. Klänge durch Einsatz von Verzerrungen ineinander geführt. 133 Zusammengeschnittene field recordings. In der Musik bezeichnet Sampling (engl. sample: Stichprobe, Auswahl) den Vorgang, einen Teil einer Ton- oder Musikaufnahme in einem neuen, häufig musikalischen Kontext zu verwenden; vgl. Großmann, Rolf: Collage, Montage, Sampling. Ein Streifzug durch (medien-)materialbezogene ästhetische Strategien, in: Segeberg/Schätzlein 2005, S. 308-331.

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der Rezipient kann selbst einsteigen mit seiner Fantasie. Das Miteinander von Analog und Digital hebt den Widerspruch zwischen intellektueller Zuhör-Elektronik und zugänglicher Tanzmusik auf. Als skulpturale Raum-Zeit-Synthese oszilliert die Musik im Dazwischen von Kunst und Unterhaltung.134 Als hungriger Geist frisst sie Körper und Raum, verdaut mit den Säften der Fantasie. Dies erzeugt auf berauschende Weise einen Transitraum. 2.2.3 Einflüsse und Künstlerische Strategien Für MUSIC IS A HUNGRY GHOST arbeitete das Trio mit dem New Yorker DJ und Musiker Craig Willingham alias I-Sound zusammen, den sie seit der US-Tour 1998 kannten. Der rumänische Violinist Alexander Blanescu135 spielt auf zwei Stücken136 Geige. An den 13 Stücken schraubten sie zwei Jahre herum. Für die Endproduktion campierten sie in einer leeren Wohnung. Nichts sollte die Konzentration stören. Das Referenzsystem Pop wurde weitestgehend überwunden, auch wenn For A Moment für Sekundenbruchteile wie Tina Turners I Can’t Stand The Rain klingt. Künstlerische Strategie ist dabei das modulare Baukastenprinzip.137 Tatsächlich erinnern die fragil montierten Geräusche an ein philosophisches Werkzeugkistenprinzip mit einer Reihe von Einflüssen und Inspirationsfragmenten. Darin ist die analogdigitale Klangkunstforschung von To Rococo Rot die lebendige Anwendung des Manifests über die Kunst der Geräusche138 des italienischen futuristischen Malers und Komponisten Luigi Russolo (veröffentlicht 1913 in Mailand). Basierend auf einem entgrenzten Musikbegriff ermuntert er »die genialen und wagemutigen jungen Musiker, alle Geräusche aufmerksam zu beobachten und ihre verschiedenen Rhythmen, ihren Hauptton sowie ihre Nebentöne zu verstehen«. Es gelte, »Geschmack und Leidenschaft für die Geräusche zu entwickeln, [den] alles umfassenden Erneuerungswillen [walten zu lassen und] verwegener als ein Berufsmusiker« zu sein, indem man die eigene »scheinbare Inkompetenz« ignoriere.139

134 Vgl. http://vimeo.com/46632132 (17.01.2013). 135 Er vertonte bereits Kraftwerk-Songs. 136 Along The Route und From Dream To Daylight. 137 »Wir haben nach einem Baukastenprinzip gearbeitet. Es war allerdings nicht klar, wer welchen Baukastentyp benutzt hat.« Stefan Schneider zitiert in: Teichmann, Klaus: Knistern, zischeln, rumpeln – aus dem Kontext, in den Kontext. http://www.laut.de/ToRococo-Rot/Music-Is-A-Hungry-Ghost-%28Album%29 (07.01.2013). 138 Russolo 2000. 139 Zitiert in: Stock 2001.

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Ein expliziter, methodischer Einfluss stammt vom deutschen Filmregisseur Walter Ruttmann140, einem bedeutenderen Vertreter des deutschen abstrakten Experimentalfilms.141 Sein filmhistorisch bedeutendstes Werk ist der 1927 entstandene Montagefilm Berlin – Die Sinfonie der Grosstadt. Darin dokumentiert er in rhythmisch geschnittener Dynamik einen Tagesablauf der Metropole Berlin. Dessen akustische Version ist seine Tonmontage Weekend von 1930, das erste pre-recorded, also voraufgenommene Radio-Hörstück, das als Begründung der Hörspielkunst gilt. Darin schnitt er field recordings nach Taktzahlen musikalisch zusammen und übersetzte ein Berliner Wochenende so ins Akustische.142 Eine Neufassung von Walter Ruttmanns Weekend entstand 1998 (Länge: 10'06) in einer Kooperation von To Rococo Rot mit dem Bayerischen Rundfunk.143 Diese abstrakt narrativ collagierende Arbeitstechnik findet sich bei Robert Lippok fortgesetzt. Er selbst zieht zudem eine Verbindung zum Bauhaus. Innerhalb des Schaffensprozesses interessiert ihn eine größtmögliche Körperlichkeit in Verbindung mit einer minimierten Struktur. 144 Wiederholungs-Patterns erinnern an den US-Amerikanischen Komponisten Steve Reich145 bzw. an außereuropäische Musik, speziell afrikanische Musik. Inspiration findet Robert Lippok auch im Techno, wo Geräusche das zentrale, strukturbildende Element eines Stückes sein können. Grundlage seines Schaffens sind meist Alltäglichkeiten, die Robert Lippok als sprunghafter Sammler mit synästhetisch wachen Sinnen aufnimmt.146 Musik- und Kunstschaffen entwickelten sich bei Robert Lippok parallel. Hinsichtlich der Ästhetik und Arbeitsstrategie zieht er keine Trennlinie. Sowohl im Akustischen als auch im Visuellen steht am Anfang ein inneres Bild, eine räumlich skulpturale Idee. Auf der Grundlage der Erfahrung sowie des konkreten Kontexts wählt er aus dem Baukasten verschiedene Samples oder Elemente, stellt sie in einen räumlichen Zusammenhang und entwickelt daraus eine musikalische Idee.147 Im Kompositionsprozess zeichnet oder malt er die neuen Stü-

140 1887 in Frankfurt am Main – 1941 in Berlin. 141 Ab 1933 passte Walter Ruttmann sich den Konventionen der nationalsozialistisch geprägten Ufa an und drehte Propagandafilme – u. a. in Zusammenarbeit mit Leni Riefenstahl. 142 Vgl. R.L. 10. 143 Vgl.

http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/hoerspiel-und-medienkunst/hoerspiel

pool-144.html 27.07.2015). 144 Vgl. R.L. 6/7. 145 Geboren 1936 in New York City, ein Pionier der Minimal Music, Musik ohne Anfang und Ende, die wenige, sich wiederholende rhythmische und melodische Formeln thematisiert. 146 R.L. 2/3; R.L. 5. 147 »Wie würde jetzt diese Linie klingen?« R.L. 4.

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cke mit Aquarellfarbe, bastelt auf dem Schreibtisch Skulpturen aus Alltagsgegenständen, legt verschiedene Ebenen übereinander oder verdichtet sie zu Knäueln. Wie anfänglich Walter Ruttmann, russische Konstruktivisten oder Futuristen, arbeitet er mit einfachen Formen wie Kuben und Dreiecken. Er hält verschiedene Fetzen bewusst oder intuitiv aneinander und komponiert sie zu neuen Formationen. Der Prozess der Ideenfindung ist collagierend. Die Umsetzung ist dann ein abstrakter skulpturaler Prozess. Das Komponieren ist ein offener Prozess, ein sehr zeitintensives Einschwingen, ein Einreißen und Wiederaufbauen, ein ringender, mitunter jahrelanger Transformationsprozess. Konkrete Klanquellen und Melodien werden synthetisiert, field recordings verfremdet und eingebunden. Daraus entstehen transzendente Klangskulpturen – ephemere Körper im Raum.148 Ein wichtiger Teil ist dabei das Feedback: Kommunikation als Arbeitsmaterial und co-kreativer Faktor.149 Wenn eine Form einen temporären Abschluss findet, konfrontiert er seine persönliche Erkenntnis mit Rezipienten und überprüft, ob ankommt was er kommunizieren möchte – auch um zu verstehen, welchen Gehalt sein Werk hat. Anhand der Reaktionen findet Robert Lippok heraus, ob die Stücke auch andere interessieren und begeistern. Gerade die Offenheit eines Werkes mache Dialog möglich. Selbstreproduktion kennt Robert Lippok dabei weder in der Musik, noch in der Bildenden Kunst. Er legt sich nicht gerne fest und fängt lieber etwas Neues an, statt eine Formsprache weiterzuführen. Er mag die Erforschung unterschiedlicher musikalischer Sprachen, die Konfrontation mit zunächst Fremdem, die Zusammenarbeit mit anderen Menschen und die Interaktion von Ideen. Dabei lässt er sich gerne überraschen. Er mag auch kommunikative Momente einer Konzertsituation, wenn die Kollegen ihm durch ihr Spiel direktes Feedback geben und er daraus wieder Neues entwickelt. Wenn sie gemeinsam einen undefinierbarer Organismus aus flachen Hierarchien bilden, wo sich nicht sagen lässt, wer die Melodie erzeugt.150 Dabei entsteht eine große, mitunter konträre Vielseitigkeit, ein erkennbarer Stil. 2.2.4 Analog-digitale Ästhetik To Rococo Rot’s Stil der Verschmelzung von digital erzeugten Klängen mit konventionellen Instrumenten – zugleich futuristisch und alltäglich – stellt eine Pionierleistung dar. Robert Lippoks Beitrag ist dabei eine physische Direktheit von Elekt-

148 Vgl. R.L. 3. 149 Vgl. R.L. 12. 150 Anders als im Jazz, wo es die hierarchische Bindung an Harmonien gibt und jemand die leitende Rolle spielt.

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ronik und komplex schichtenden Verbindungen aus analog und digital.151 Er mag es, Klänge und Strukturen zu erschaffen, die zunächst unsympathisch, kalt und sperrig wirken, die jedoch keineswegs entmenschlicht sind und sich einverleiben lassen. Formal-ästhetisch ist Robert Lippok fasziniert vom organisatorischen Element der Digitalität. Eine Datei wird geöffnet, von A nach B geschoben und wieder geschlossen. Seine Mutter spielte gerne Post mit ihm. Es gefällt ihm, Dinge zu sortieren und zu ordnen. Ein elektronischer Musiker müsse immer auch ein vermeintlich un-kreativer Archivar sein, um interagieren zu können. Das Besondere daran sei die Verfügbarkeit.152 Er kann zurückgehen zu einem Musikstück der Vergangenheit, das unverändert auf der Festplatte lagert. Er selbst hat sich in der Zwischenzeit jedoch verändert, hat einen anderen Zugang. Live-Improvisationen sind technisch viel aufwändiger als das Spielen eines analogen Instruments. Doch Robert Lippok kennt sein Ordnungssystem und weiß, welche Datei zu öffnen ist. Wenn er mit Effekten in Echtzeit arbeitet, leitet er analoge Klänge über Mikrophone in seinen Rechner und schickt diese verändert zurück. Dann kann er ebenso intuitiv spontan agieren. Er arbeitet zudem mit dem japanischen Instrument Tenori-on, das über eine graphische Oberfläche einfach zu bedienen ist. Es ermöglicht einen visuellen Zugang zu Melodien und Rhythmen. Trotz vieler Einflüsse habe seine Musik keinen komplexen intellektuellen Überbau. Deshalb hält Robert Lippok sein Schaffen nicht für Musik-Kunst.153 Was ihn vielmehr an der Musik interessiere, sei ein Gepacktsein, Musik als ein physisches Erlebnis154 – »dass ich da irgendwie verschmelze mit dem Klang«155. Dann merke er, dass er das Richtige tue.

151 Vgl. R.L. 8. 152 Vgl. R.L. 8/9. 153 Vgl. R.L. 7. 154 »Ich merke das eigentlich immer am Stärksten, wenn einen Musik so ganz direkt greift, packt oder in eine Situation zieht. Und das ist oft in Konzerten so. Auch in meinen eigenen, wenn ich selber Konzerte gebe. Ich hab letztens in Dijon gespielt auf einem Festival und ich merkte, wie ich von so einem Sog erfasst wurde. […] an dem Tag wurde ich von meiner eigenen Musik so mitgerissen. Und nach dem Konzert wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich gespielt habe. Weil viel über Improvisation läuft, viel im Moment entschieden wird. Und das sind Momente, die ich selber in meiner Musik suche, aber die ich auch im Hören von anderer Musik suche.« R.L. 1. 155 R.L. 2.

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2.2.5 Resümee Als Architekt und Baumeister von Klangräumen entwickelt Robert Lippok das Jazz-Prinzip im collagierenden Cross-Over einer Transmedialität von analog und digital weiter. Wie fand er zu seinem künstlerischen Ausdruck? Ein Schlüsselelement seiner Entwicklung war die freiheitliche Förderung des Elternhauses im die Freiheit stark eingrenzenden Umfeld der DDR. Auf der Grundlage eines entgrenzten Musikbegriffs entwickelte er in zunächst autodidaktischer Manier folgende Haltungen und künstlerischen Strategien: 156

• Liebe und Leidenschaft, • • • • •

Offenheit für verschiedenste Alltagserfahrungen und Andersartigkeiten assoziative Experimentierfreude, Erfindergeist, Gefühl und Intuition als Richtschnur Sammeln, Suchen, Scheitern Filtern, Konzentrieren, Ordnen, Baukastenprinzip Schöpfen aus der chaotischen Fülle von Variationen, Improvisation In-Beziehung-Setzen von Körper, Ton, Bild, Zeit und Raum

Aus diesen Bausteinen setzt sich seine laut-malerische Musik als prozesshaftes Beziehungsgebilde zusammen.157 Sie entwirft und kartiert Landschaften, übersetzt Alltagswahrnehmung und Fantasie in abstrakte Klangskulpturen und veranschaulicht, dass diese künstlerischen Strategien ein Knotenpunkt der Künste sind.

2.3 C LAIRE F ILMON – 8 M INUTES 8 S ECONDS P RECISELY Das dritte Fallbeispiel reflektiert Entgrenzungen im Tanz an einem konkreten physisch-kreativen Ansatz der Komposition in Echtzeit. Claire Filmon erforscht damit vorbewusste innere Bilder und möchte sie mitteilen. Als Tänzerin, TanzPerformance-Künstlerin und Tanzpädagogin lebt sie in Paris. Seit 1995 arbeitet Claire Filmon mit renommierten Tanz-Performance-Künstlern und Künstlern ande-

156 Vgl. http://vimeo.com/46632132 (17.01.2013). 157 Verflechtung verschiedener Beziehungsachsen: New York, West- und Ost-Deutschland, Rumänien, Verflechtung verschiedener Strategien aus Musik, Bildender Kunst und Architektur, Hoch- und Subkultur.

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rer Kunstgattungen zusammen.158 Die Begriffe Tänzerin bzw. Künstlerin beansprucht sie nur ungern für sich.159 Sie nennt sich vielmehr mover – Bewegerin. 2.3.1 Der Weg zum Tanz Claire Filmon wurde Anfang der 1960er Jahre in Anger in West-Frankreich geboren. Als offenherziger Genussmensch hat sie eine wache Beziehung zur sinnlichen Wahrnehmung. Ihr Körper ist ihr Instrument. Die Ästhetik der Bewegung ist ihre Ausdruckssprache. Sie hat lange feine schwarze Haare und lebendige dunkle Augen. Wenn ihre ruhige, warme Stimme nach Worten sucht, spricht Claire Filmon mit starken Gesten der Hände und Arme. Immer wieder greift ihr lautmalerisch kerniges, kehliges bzw. bauchiges Lachen in den Raum. In drahtiger Zierlichkeit, asketischer Kraft, gutmütiger Disziplin und Strenge strahlt sie eine natürliche Präsenz und sensible Poesie aus. Als sie sechs Jahre alt war, kam der erste Schwarz-Weiß Fernseher ins Haus. Die zweite Sendung, die sie sah, war ein Ballett. In diesem befremdlichen und zugleich beeindruckenden Apparat bewegte sich eine sehr kleine Frau, die ein Tutu trug. Für Claire Filmon war dies das Schönste, was sie je gesehen hatte. Auch sie wollte so sein. Damit begann ihr Lebenstraum und eine lebenslange Suche. Zusammen mit einer Freundin nahm sie Ballettunterricht. Die Freundin hörte bald auf, Claire Filmon blieb, bis sie 18 Jahre alt war. Sie träumte weiter, bis ihr ein Lehrer am Conservatoire sagte, sie würde es niemals zur Tänzerin bringen, da sie nicht die richtigen Füße hätte. Claire Filmons Suche war geprägt von Krisen und Rückschlägen. Einen Monat vor ihrem Schulabschluss brach sie sich bei einem Skiunfall beide Knie. Die einzige Möglichkeit, weiter tanzen zu können, sah sie in einer Ausbildung zur Sportlehrerin. Doch sie fiel durch die Abschlussprüfung ihres Hauptfachs Tanzpädagogik und beschloss entmutigt, sie nicht mehr zu wiederholen. Wie sollte es nun weiter gehen? 2.3.2 Der Weg zum eigenen künstlerischen Ausdruck: Komposition in Echtzeit An einer Tanzschule in Lyon lernte Claire Filmon die Technik von Merce Cunningham kennen. Dort blieb sie schließlich vier Jahre lang. 1990 folgte ein einjähriges USA-Stipendium des Französischen Kultusministeriums: eine entscheidende

158 Sie unterrichtet zudem Lehraufträge an internationalen Universitäten und ist künstlerische Direktorin von Asphodèle Danses Envol. Vgl. http://www.clairefilmon.com/eng lishbiography.html (07.03.2013). 159 Vgl. Anhang 4, C.F. 1.

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Erfahrung. Sie reiste nach New York, studierte in Los Angeles die Horton Technik160 bei Bella Lewitzky und Improvisation bei Anna Halprin in San Francisco. Am Ende verstand sie, dass sie eine »Bewegerin«161 war, dass Bewegung ihre Kunstform war. Diese einjährige, bewusstseinserweiternde Reiseerfahrung nennt sie rückblickend ihre »Wiedergeburt«162. Zurück in Europa folgte jedoch eine weitere Krise. Claire Filmon war bereits dreißig Jahre alt, erhielt als Tänzerin nur Ablehnungen und wollte sich zur Choreografin weiterbilden. Sie studierte ein wenig an der Universität, doch sie wollte lieber aus dem Leben lernen. In Paris besuchte sie einige Workshops bei Merce Cunningham und Trisha Brown. Sie begegnete der Alexander-Technik163, einer Technik der Contact Improvisation164, die sie bei einem Aufenthalt in New York vertiefte. Darin hatte sie endlich ihre Ausdruckssprache gefunden, in der sie sich zuhause fühlte. Dieser zentrale Moment ihres Lebens wurde zudem begleitet von Begegnungen mit Steve Paxton 165, Lisa Nelson und ganz entscheidend Simone Forti, die ihre Mentorin und Kollegin wurde. Nach langer Suche hatte sie in Simone Fortis Ansatz endlich ihre Inspiration gefunden. Mit ihr wurde sie wieder dieses kleine Mädchen vor dem Fernseher. Die Blockade war gelöst. Im Jahr 2000 lud Simone

160 Bei der Horton Technik steht der ganze anatomische Körper im Zentrum des Tanzes. Der Ausgleich körperlicher Schwächen, das Wissen um die Herkunft von Bewegungen, Körper- und Raumbewusstsein ermöglichen uneingeschränkte Ausdrucksfreiheit. Vgl. Warren 1967. 161 »At the end I understood that I was a mover.« C.F. 1. 162 C.F. 2. 163 Die Alexander-Technik beobachtet Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten und optimiert körperliche Dysfunktionalitäten. Damit soll auch das psychische Gleichgewicht stabilisiert werden. Diese vom australischen Schauspieler Frederick Matthias Alexander (1869–1955) um 1900 entwickelte Technik ist unter Schauspielern, Musikern und Tänzern verbreitet. Vgl. Barlow 1993. 164 Soziale Tanzform, 1972 begründet vom Cunningham-Schüler Steve Paxton. Ihre Wurzeln liegen gedoch bereits bei Isadora Duncan. Die Contact Improvisation ist die gemeinsame, körperlich aktive Erforschung von Bewegungsmöglichkeiten innerhalb vorgegebener Bedingungen. Sie verbindet Elemente der Kampfkünste, des Sports und kindlichen Spiels. Tanzende der Contact Improvisation verwenden eine Methode analog zum Free Jazz, der die Vielfalt der Klänge erkundet. Vgl. Banes 1987, vgl. Kaltenbrunner 2001. 165 Geboren 1939 in Arizona, ein experimenteller Tänzer und Choreograf. Er studierte bei Merce Cunningham. Er war beeinflusst von der experimentellen New Yorker Kunstund Performance-Szene der 1960er und 1970er. Das Interesse an Alltagsbewegungen tänzerischer Laien beeinflusste Tanz und Choreografie weltweit.

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Forti sie in ihr Trio nach Los Angeles ein und sie gingen zusammen auf Tour. Der Durchbruch war gekommen. Claire Filmons gegenwärtiger performativer Ansatz ist die »composition in real time« – die Komposition in Echtzeit. 2.3.3 8 MINUTES 8 SECONDS PRECISELY Im Rahmen eines studentischen Tanz-Performance-Projekts der Universität für Angewandte Kunst in Wien fand vom 15.-19. November 2012 ein WochenendWorkshop mit Claire Filmon zum Thema INSIDE OUTSIDE INBETWEEN166 statt. Die These des Workshops war, dass künstlerisches Arbeiten immer entlang von Knotenpunkten im Beziehungsnetzwerk verlaufe und somit auch Identitätsarbeit sei. »What does it mean to be myself?« Wer bin ich? Diese Frage stehe letztlich hinter der Kunst. Sie gleiche einem gigantischen Eisberg. Man sehe lediglich die Spitze, könne den Eisberg jedoch erfahren. Das Leitbild des Workshops eröffnete ein prozesshaftes Experimentierfeld der Selbsterfahrung und Reflexion. Ausgehend davon sollten die Studierenden ein eigenes Projekt entwickeln. Claire Filmon hatte die Rolle der Vermittlerin. Vermittlung versteht sie als Teil der Kunst. Zu ihrer Lehrmethode gehört es, ihren performativen Ansatz der Komposition in Echtzeit in kurzen Darbietungen zu veranschaulichen. Dies geschah in einem offenen Symposium am Abend des 17. November 2012 im WUK 167 in Wien. An eine Reihe von Performances knüpften sich ein Austausch und eine interaktive Übungseinheit. Die folgende Werkanalyse beschränkt sich jedoch auf die Tanz-Performances auf der Grundlage der teilnehmenden Beobachtung. Der Raum im zweiten Stock des Altbaus hat hohe weiße Wände, einen goldgelben Parkettboden und eine warme Beleuchtung. Die einzigen raumdefinierenden Elemente sind hohe Fenster, die in die Dunkelheit der Winternacht führen, ein kleines weißes schmiedeeisernes Abzugsgitter oben in der Wand sowie die brütenden Heizkörper. Die etwa 20 Teilnehmer sitzen auf ausgelegten Bodenmatten. Die erste Performance beginnt. Auf der Höhe des Publikums lehnt Claire Filmon an der Wand, sammelt sich, nimmt Körperkontakt mit dem Raum auf. Dann betritt sie in bescheidener, würdevoller Konzentration die zuvor definierte Bühnenzone, gekleidet in harmonische Farben und lockere Stoffe. Ihre Bewegungen durchschneiden

166 Engl.: innen außen dazwischen. 167 Das Werkstätten- und Kulturhaus, ein alternatives Kulturzentrum in der Währinger Straße 59. »Das WUK ist ein offener Kulturraum, ein Raum für die gelebte Verbindung von Kunst, Politik und Sozialem. Darin manifestiert sich ein erweiteter Kulturbegriff, der über die Bedeutung von Kultur im Alltagssprachlichen hinausweicht.« (Aus dem WUK Leitbild von 1994). Vgl. http://www.wuk.at/ (15.04.2013)

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den Raum. Sie wecken Assoziationen an den Faun168 von Vaslav Nijinsky, an japanischen Butoh-Tanz169 bzw. Bewegungsabfolgen asiatischer Kampftechniken mit imaginären Tanzpartnern. Pantomimische Elemente holen fiktive Gegenstände in die Narration herein. Claire Filmon atmet distinguiert und gibt verschiedene Laute von sich. Mit starkem französischem Akzent wirft sie immer wieder unzusammenhängend erscheinende, englische Sprachfetzen ein.170 Im Raum stehen zudem das Klopfen der Heizung und das nervöse Summen einer Fliege. In einer präsenten Wachheit und gleichzeitigem Automatismus nimmt Claire Filmon diese Rhythmen auf und spielt damit, als befände sie sich in einer eigenen Dimension. Nach 8:08 Minuten markiert das monotone Piepsen eines Weckers das Ende der Performance. Die Spannung löst sich auf. Die Künstlerin schließt direkt eine zweite Performance an. Wieder beginnt sie in der gleichen Position an der Wand. Diesmal wechseln schnelle und langsame starre Diagonalbewegungen und erzeugen Spannung im Raum. Der ganze Körper ist beteiligt, Augen, Hände und ihre langen Haaren. Die intuitiven Bewegungen muten biografisch an, ebenso die gesprochenen Fragen und Gedankenfetzen wie »Thank you« und »pain soft pain«. Die pfeifende Heizung, das Knarzen des Parkettbodens und die Geräusche des Publikums ergänzen die Klanglandschaft. Claire Filmon summt sich hinein in die Melodie des Jazz-Standarts SUMMERTIME171, wälzt sich auf dem Boden, scheint ihre inneren Kommunikationen zu tanzen. Wieder löst der Weckerton die Spannung nach 8:08 Minuten und hinterlässt dem Rezipienten den Eindruck zweier völlig unterschiedlich anmutender Stücke.

168 L’Après-midi d’un faune (dt. Der Nachmittag eines Fauns) ist der Titel eines von Vaslav Nijinsky (russischer Balletttänzer und Choreograf (1889-1950)) choreografierten Balletts in einem Akt zu Claude Debussys Musikstück Prélude à l'après-midi d'un faune (nach dem Gedicht von Stéphane Mallarmé L'Après-midi d'un faune). Es wurde 1912 von den Ballets Russes in Paris uraufgeführt und gilt als eines der ersten avantgardistischen Ballette. Vgl. van Cronenburg 2011. 169 Tanztheater ohne feste Form, entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Wurzeln reichen in die 1920er zum modernen deutschen Ausdruckstanz. Vgl. Haertder/Kawai 1998. 170 »So delicate«, »three one two three«, »the light«, »because the softness of your voice«, »the care of your silence«, »not knowing«, »what deep deep deep through«, »it start before it begin«, »it end before it start«. 171 Komponiert 1935 von George Gershwin für die Oper Porgy and Bess. Text von DuBose Hayward.

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Abbildung 29: Claire Filmon in 8 Minutes 8 Seconds Precisely

Quelle: Johanna G. Eder

In freier Improvisation, mit den künstlerischen Materialien Raum, Körper, Publikum, und mit dem Stilmittel der Wiederholung erzählen Gesten, Bewegungsformen, Körper- und Raumpositionen sowie Geräusche und Worte von emotionalen Intensitäten. Sie erschaffen Bilder und Beziehungslandschaften im Raum. Das Instrument im Dazwischen von Raum und Beziehung ist der prosaische Körper, seine Bewegungen, seine Stimme, seine immaterielle Poesie. Der Körper trägt biografische Spuren von Begegnungen mit Anderen. Darin offenbart und feiert er zugleich die Wertschätzung des Flüchtigen und die Freiheit momentaner Einzigartigkeit. Im unmittelbaren Anschluss an die Darbietungen folgt ein gemeinsames Gespräch über das Erlebte. Daraus geht hervor, dass sich die Atmosphäre im Raum, die Dynamik und emotionale Intensität der Performance bis hin zu Körpergefühlen stark auf den Resonanzraum der Rezipienten übertrug. Einige Momente wurden als extrem privat und persönlich empfunden. Claire Filmon gibt daraufhin zu, das Publikum für Momente vergessen und gleichsam von der Bühne gedrängt zu haben. Schließlich erläutert sie ihre choreografische Methode. Die beiden völlig unterschiedlich anmutenden Improvisationsstücke seien tatsächlich getragen von der gleichen Matrix. Denn hinter den frei improvisierten Bewegungsformen stehe eine kompositorische Struktur, ein einfacher selbstgesetzter Rahmen. Dieser Freiheitsraum sei definiert durch drei tasks – selbstgestellte Variablen: 1. precision – maximale Präzision 2. rapture – Unterbrechung, Durchschneiden 3. snapshot memories – unbewusste innere Bilder, die wie Schnappschüsse an die Oberfläche des Bewusstseins treten.

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Sie beginne jedes Stück mit demselben Startimpuls. Der Wecker bestimmt das Ende der Performance und den Titel: 8 MINUTES 8 SECONDS PRECISELY ist das Programm und die Partitur der Serie.172 2.3.4 Haltungen, künstlerische Strategien und Bezüge Häufige Schlüsselworte, die Claire Filmon zur Beschreibung performativer Haltungen wählt, sind taste173 und pleasure174 – eine Synästhesie von Bewegung und olfaktorisch gustatorischen Eindrücken. Ihr eigenes künstlerisches Tun vergleicht Claire Filmon mit einem Bäcker, der aus verschiedenen Zutaten Brot bäckt, unter der Zugabe von Wissen und Fähigkeiten, Übung und Sensibilität, Leidenschaft, Ehrlichkeit und Hitze. Die Ästhetische Erfahrung, ein köstliches Brot zu essen, gehe über die Funktion der physischen Ernährung hin. Dies überträgt Claire Filmon auf die Kunst. Wie Malerei auf einem weißen Blatt, so beginnen ihre tänzerischen Kompositionen mit einem einfachen Impuls und entwickeln sich in ihrer eigenen Handschrift nach einer selbst-organisierenden, komplexen Dynamik. Nichts kommt aus dem Nichts. Ihren Improvisationen liegen Proben und das Aneignen von Handlungsstrategien zugrunde, der Umgang mit künstlerischen Strategien und inneren Impulsen. Wichtige Werkzeuge sind die Augen und Ohren, der Körper- und Raumsinn, lustvolles kindliches Spiel, die Imagination innerer Bilder. In einem durch Improvisation entgrenzten Tanzzustand ist für Claire Filmon das Verbergen der eigenen Unsicherheit und das Vertrauen in Unbekanntes eine zentrale Haltung. In konzentrierter Offenheit könne sie ohne Angst die Kontrolle aufgeben im Vertrauen darauf, dass etwas Wertvolles entstehen wird.175 Im Geschehenlassen verwebe sich alles miteinander. Trotz der Aufgabe von Kontrolle behält sie jedoch stets die Verantwortung über ihr Tun. Selbst wenn Claire Filmon alleine tanzt, imaginiert sie einen ghost partner, mit dem sie kommuniziert. Auf diese Weise eröffnet sich der Kontaktraum einer improvisatorischen Gruppensituation, z.B. mit anderen Tänzern, Musikern und Lichtkünstlern, wie ein dialogisches Spiel, das auf die jeweiligen Impulse der Mitspieler reagiert. Zentral ist für sie auch der Kontakt zum Rezipienten. Claire Filmon möchte ihn gleichsam einladen in den Raum der eigenen Imagination. Dafür hat sie sich eine Metapher gewählt: einen imaginierten Stuhl auf der Bühne, auf dem der Rezi-

172 Analog hierzu stehen die Partituren der Werke von John Cage und Merce Cunningham. 173 Engl.: Geschmack, schmecken. 174 Engl.: Genuss. 175 »Jump into the void. And after that the support will come.« C.F. 6. Dies lernte sie bei Simone Forti.

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pient im übertragenen Sinne mit Augen und Ohren, Gefühlen und Erinnerungen, Assoziationen und seiner Fantasie mit auf der Bühne sein kann. Eine der Workshop-Teilnehmerinnen, die Künstlerin und Kunstpädagogin Tina Murg, erklärte unmittelbar nach dem Performance-Abend in einer Email, dass sie sich in den Performances in inhaltlichen Aspekten, Wortfetzen und Bewegungen wiedererkannt hätte. 176 Daran zeigt sich, dass Claire Filmon in ihrer künstlerischen Arbeit den entgrenzten Zustand des tanzenden Körpers auf der Grundlage von interrelationaler Vernetzung und empathischer Identifikation erschließt. In der Zusammenarbeit mit Simone Forti und beeinflusst von der amerikanischen Schriftstellerin Natalie Goldberg177 begann Claire Filmon, sich mit Sprache, kreativem Schreiben und SprachImprovisationen zu befassen. Sie selbst nennt diese Praktik »authentic writing«178 – angelehnt an die ecriture automatique179. Dahinter steht die Erforschung des Bewusstseinszustands, der vor einem bewussten, artikulierbaren Gedanken steht. Claire Filmon nennt diesen Zustand pre-thought-state180 – eine Wirklichkeit, die noch vor den Gedanken komme und die sich nicht versprachlichen lasse. Dadurch sei sie auch nicht reflektierbar. Die Quelle der inneren Bilder liegt in diesem vorsprachlichen Zustand, der an die chora, das vorkommunikative Stadium des Unendlichen bei Julia Kristeva oder Sigmund Freuds Konzept des Vorbewussten erinnert.181 Dieses Vorbewusstsein sei ein Moment verdichteter Wirklichkeit, eine intensive Emotion, eine Imagination, die ihre Entsprechung in einem Körperzustand habe. Jegliche Form von Sprache – sei es Verbalsprache, Bewegung, Bilder oder Musik – versuche letztlich, diese Inkarnation von Wirklichkeit mitzuteilen. Doch keine Sprache reiche jemals aus, um angemessen wiederzugeben, was der Geist forme. Sie könne den pre-thought-state nur sinngemäß bzw. interpretierend in verständliche Formen übersetzen. Nur der Sprecher wisse letztlich, ob das, was er sagt, ehrlich zum Ausdruck bringt, was er fühlt. Den Ort dieser vorsprachlichen Vorstellungen nennt

176 Vgl. Anhang 4, T.M.: Email-Feedback von Tina Murg nach der Performance von Claire Filmon am 17.11.2012. 177 Sie verbindet kreatives Schreiben mit dem Zen-Buddhismus. Ziel des Schreibens sei einfach nur das Schreiben. Analog hierzu steht John Cage, wo der zufällige Klang des gegenwärtigen Augenblicks für sich steht. 178 C.F 4. 179 Künstlerische Strategie u. a. des Surrealismus. Sie strebt einen psychischen Automatismus an, durch den man schriftlich oder auf jede andere Weise die Freiheit des Denkens auszudrücken sucht, ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen. 180 Vgl. C.F. 4. 181 Vgl. Kristeva 1978 ; vgl. Derrida 2013.

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Claire Filmon ihren Secret Garden182 – den geheimen Garten, den jeder in sich trage. Dieser reichhaltige Ort enthalte alle bewussten und unbewussten Lebenserfahrungen, Charakter und Wesen, sogar die der Eltern und Großeltern. Es sei die Quelle aus der man lebe – mit ihren Schätzen und Herausforderungen.183 Der Secret Garden sei auch Schlüssel und Materiallager der Kreativität. Alles in diesem Garten sei miteinander verbunden, auch wenn man von vielen Vernetzungen nichts ahne. Nur man selbst habe Zugang zu diesem Ort. Die Komplexität dieses Vorbewussten will sie verstehen und mitteilen. 2.3.5 Resümee Claire Filmon bezweifelt, dass man ohne Geschichten leben kann. Ihre Mutter sagte einmal, dass Kunst die Geschichte der Menschheit sei. 184 Ihre eigene Geschichte erzählt sich in der Bewegung zwischen inneren und äußeren Räumen. Sie ist geprägt von einem magischen, bewegenden Kindheitserlebnis und der daraus erwachsenen Leidenschaft, die sich fortsetzte in Studium und Reisen, Suchen und Finden. Sie ist jedoch besonders geprägt von leidvollen Krisen und zufälligen Wendepunkten. Ihre Lebenserkundungen, die Lebenspuren und das, was sie durch Beobachtung von anderen lernte, legt sie hinein in ihre Arbeit. Bewegung und Tanz sind Claire Filmons künstlerische Sprache. Sie gebraucht den Körper, das Gefäß ihrer Psyche, als Instrument und Kommunikationsmittel. Im Körper verbinden sich Bewegung und Verbalsprache, er vernetzt alle Erfahrungen und ver-körpert gleichsam das Vorbewusstsein des Secret Garden. In ihm schneiden sich Beziehungsachsen: der eigene Körper in Beziehung zu sich selbst, zum Raum mit seiner Zufallsmusik und zu anderen Körpern. Daraus hervor geht eine abstrakte Erzählung, deren Bilder weniger konkrete Geschichten illustrieren, als vielmehr von archaisch Menschlichem erzählen. In der künstlerischen Kommunikation werden diese inneren Bilder übertragen – sei es durch malerischen Tanz, das gesprochene Wort oder Musik. Der Rezipient empfängt sie auf seine subjektive Weise. So wird improvisierter Tanz zum Dialog

182 C.F. 3. 183 Dieses Konzept erinnert an tiefenpsychologische, systemische Vorstellungen des kollektiven Unterbewusstseins, z.B. von C. G. Jung. 184 Vgl. C.F. 7.

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mit den eigenen inneren Bildern, mit einem imaginierten oder realen Tanzpartner sowie mit dem Rezipienten.185 Claire Filmons Komposition in Echtzeit dehnt die Grenze ihres eigenen Secret Garden hinein in einen Kontakt-, Resonanz- und Interpretationsspielraum. Die Resonanz wirft ein Echo auf bestimmte Bereiche, hilft Dinge zu erkennen und zu verstehen, die zur Selbsterkenntnis führen kann auf die Frage »Wer bin ich?«. So wird Kunst zu einem co-kreativen Kommunikationsprozess, zu einer Contact Improvisation in Echtzeit. So entgrenzt sich der Lebensraum des Secret Garden. Die Zahl 8 aus 8 MINUTES 8 SECONDS PRECISELY, das Zeichen der Unendlichkeit, mag auf diese unerschöpfliche Quelle verweisen. Was die Bewegerin Claire Filmon an der Auffassung von Kunst als Vermittlung bzw. Vermittlung als Kunst besonders schätzt, ist der interrelationale Beziehungsaspekt des Teilens und des sich gegenseitig Bewegens. Da jeder eine andere Perspektive auf das Leben habe, könne man sich gegenseitig reflektieren und einander Dinge zeigen, die der andere nicht sieht. Folglich sei die Sprache der Kunst die Sprache der Beziehung und eine essenzielle Nahrung des Menschen. In Claire Filmons künstlerischem Verständnis öffnet sich eine Parallele zu Joseph Beuys. Denn sie ist davon überzeugt, dass in jedem Menschen ein Künstler steckt. Jeder habe etwas zu geben. Entwicklung geschehe dann, wenn man seine Fähigkeiten kenne und einbringe.

185 »When I dance it is like a rainbow between my heart and the heart of the audience.« C.F. 9.

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2.4 E STELLA M ARE

UND

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P ASCALE R UPPEL – ¨ GALLERY

Das vierte Fallbeispiel analysiert die Umlautgallery bzw. ¨gallery, eine kleine Offspace-Galerie als Transitraum. In diesem sozialen Ereignisraum im Dazwischen der Künste fungiert Vermittlung als eigene Kunstform. Ein besonderer Blick fällt dabei auf die Verbindung aus Bildlichkeit (sinnliche Wahrnehmung, Fantasie, sich Welt anzueignen) und Sprachlichkeit (Reflexion von Gedanken, Welt zu beschreiben). Eine der beiden Kuratoren, Estella Mare, und eine der ausstellenden Künstler, Pascale Ruppel, sind die Protagonisten der folgenden Darstellungen. 2.4.1 Estella Mare – Kurzbiografie und Zeichnung Geboren 1979 in München, wuchs Estella Mare in einem Umfeld auf, in dem Kunst allgegenwärtig war. Um sie herum wurde stets etwas geschaffen. Ihr Vater, der Münchner Maler und Schriftsteller Egon Günther186, baute ihr Dinge, malte und schrieb Gedichte, später auch Bücher und Romane – selbst wenn er sein Geld zeitweise als Maurer verdiente. Ihre Mutter stellte künstlerische Puppen für Kinder her, Puppen aus aller Welt, mit denen Estella Mare spielte. Die Kunst übte auf Estella Mare große Anziehung aus und befreite sie zeitweise aus Gefühlen der Isolation. Denn die Kunst erlebte sie als Brücke zum Inneren anderer Menschen und dadurch auch als Spiegel des eigenen Selbst.187 Es gefiel ihr, mit ihren Eltern Ausstellungen zu besuchen. Mit 12 Jahren versuchte sie eine Zeitlang, abstrakt zu malen wie ihr Vater, um ihn damit zu beeindrucken. Aber relativ schnell erschien ihr die Unmittelbarkeit des Zeichnens spannender – die direkte Verbindung vom Kopf zur Hand und dann aufs Papier.188 Sie studierte Literaturwissenschaften, Kunst und Kunstpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und in Frankfurt, lebt und arbeitet in München und Berlin. Ihr Arbeitsprozess ist sehr intuitiv. Sie nimmt Papier, weiß selbst nicht, was entstehen wird und fängt einfach an zu zeichnen.189 Das Werk WO DIE LIEBE HINFÄLLT WÄCHST KEIN GRAS MEHR aus dem Jahr 2012 (Abb. 30) ist eine Zeichnung mit schwarzem Tuschestift auf weißem Papier. Im Format 31 x 22 cm zeigt sie in wenigen dynamisch prägnanten Strichen eine würdevolle Dame in Frontalansicht, die in der linken Bildhälfte breitbeinig auf einem rohen, unbewachsenen Hügel steht. Sie wirkt sehr präsent und entspannt, stark und empfindsam zugleich. Ihre Arme hängen herunter. Die Hände sind jedoch

186 Z.B. Günther, Egon: Watschenbaum. Roman einer Kindheit, Hamburg: Nautilus 2012. 187 Vgl. Anhang 5, E.M. 1. 188 Vgl. E.M. 2. 189 »Ich hab immer das Gefühl das ist wie Treibholz, das in mir umhertreibt. Und manchmal kommt eine Sache an die Oberfläche und manchmal die andere.« E.M. 3.

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bereit, jederzeit zu reagieren. Sie trägt einen breitkrempigen Hut, ein hochgeschlossenes langes Kleid mit Gürtel und Knopfleiste. An den Knöcheln spitzt eine Hose hervor. Mit ihrer Kleidung und ihren spitzen Stiefeln wirkt die Dame nostalgisch, wie aus einer anderen Zeit. Der Kopf ist zur rechten Bildseite ins Halbprofil geneigt. Der Gesichtsausdruck ist nur angedeutet. Er mag gelassen in sich gekehrt wirken, fast abwesend, in eine innere Welt versunken, melancholisch oder erhaben. Die Augen sind geschlossen oder blicken hinab zum rechten unteren Bildrand. Dort liegt am Fuße des Hügels kopfüber ein Vogel mit abgespreizten Flügeln. Er mag abgestürzt sein, vielleicht sogar tot. Von links bläst der Wind ins Bild hinein und weht die Haare der Dame in die rechte Bildhälfte hinüber. Dort prangt auf der Höhe ihres Kopfes in bescheidenen beifälligen Lettern das Satzfragment »wo die liebe hinfällt«. Es gleicht einem schwebenden, die Figur begleitenden Gedankenfetzen. Auf der Höhe des Vogelkopfes, gleichsam als Sockel, auf dem die Dame fest steht, wird das Sprichwort zu Ende geführt: »wächst kein gras mehr«. Das Sprichwort beschreibt die Wucht einer kraftvollen Liebe, die übers Land rollt wie ein Feuerball und sogar das Gras versengt bzw. deren Samen jede Banalität aus dem Erdreich verdrängen. Diese sinngemäße Deutung findet jedoch keine Entsprechung in der Zeichnung, die stattdessen mehrere Brüche aufweist: die Medien Bild und Schrift, die zeitlose Dame in präsenter Nähe und in sich gekehrter Ferne, die kraftvolle Lebendigkeit der Dame und der kranke bzw. tote Vogel, die in sich kontrastive Aussage der Worte (der Samen der Liebe wird nicht primär mit destruktiven Kräften assoziiert), und schließlich das Aufeinandertreffen all dieser Widersprüche. Das dem Sprichwort inhärente Wortspiel190 wird in der Zeichnung interpretierend fortgesetzt. Der abgestürzte Vogel mag eine Allegorie der Liebe sein, die hingefallen und gescheitert ist. Wo er liegt, ist der Boden karg. Er mag symbolisieren: die poetische Leichtigkeit und unbeschwerte Freiheit der Dame sind verletzt. Aber aus der Standhaftigkeit und dem enigmatischen Gesichtsausdruck der Dame geht hervor, dass Hinfallen bereits das wieder Aufstehen in sich trägt. In der ruhigen, vertrauensvollen Milde der Dame wird der Vogel vielleicht erneut zu Kräften kommen und sich wieder emporschwingen in die Lüfte der Liebeskraft. In diesem Werk potenzieren sich Bild und Text gegenseitig, bilden eine untrennbare, transmediale Einheit. Der Text beschreibt nicht das Bild und das Bild illustriert nicht den Text. Die Bedeutung des Werks schwebt im Dazwischen.

190 Hinfallen: ausgestreut werden, hinfallen: stürzen.

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Abbildung 30: wo die liebe hinfällt, wächst kein gras mehr

Quelle: Estella Mare

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Estella Mare gebraucht die Sprachlichkeit von Bildern sowie die Bildlichkeit der Sprache. Inspiration findet sie in Kindheitserinnerungen191 und in der Literatur192, in Märchen, Bibel-Zitaten und Popsongs. In ihren Zeichnungen gibt es das Moment der Ungleichheit und der Brüche mit Identitäten. Das Miteinander von Tier- und Menschengestalten, seltsamen Mensch-Tier-Mischwesen begleitet von Wort- und Satzfetzen, ist gleichsam eine synästhetische Be-Bilderung und Be-Schreibung des Unbewussten. 2.4.2 ¨gallery – ÄNDERM EER Von August 2010 bis zu ihrer Schließung im Herbst 2013 betrieb Estella Mare eine kleine mittellose Galerie in München gegenüber der Schleißheimerstr. 58 – eine ungewöhnliche Galerie an einem ungewöhnlichen Ort. Denn sie befand sich auf etwa 1,50 m Höhe innerhalb eines rostigen Rahmens in einer Mauer. Sie maß lediglich 4,5 x 7,4 x 3,4 cm. Die Mauer war 1,85 m hoch und mit einer Plinthe gedeckt. Dahinter erstreckte sich wohl ein Garten. Zumindest beugte sich ein hoher Baum über die Mauer. Direkt rechts neben dem quadratischen Galerieloch wechselte die altrosa-farbene Tünche des abblätternden Putzes in schmutziges Beige. Ab da war die Mauer mit Schindeln gedeckt. Die Galeriemauer befand sich im öffentlichen Raum – in der Einbahnstraße eines gewöhnlichen Wohngebiets, wo parkende Autos den Gehsteig vor der Galerie einengen, der auch bei Ausstellungseröffnungen ganz normal benutzt wurde. Die Galerie entstand spontan. Estella Mare hatte das Mauerloch entdeckt und nutzte es zum Nachrichtenaustausch mit ihrem Freund.193 Als sie und die Fotografin Francesca Tallone194 einmal vor diesem abseitigen Ort standen, sagten sie: »Eigentlich ist es wie ein kleines Fenster. Und eigentlich ist es doch wie eine kleine Galerie. Warum machen wir nicht einfach eine Ausstellung da drin!«195 Francesca Tallone war fasziniert von den Umlauten der deutschen Sprache, dieser subtilen Veränderung mit großer, spürbarer Reichweite. So wählten sie spontan

191 Vgl. E.M. 4. 192 Unter anderem in der von Maurice Sendak subtil illustrierten Tierfamilie von Randall Jarrell. Ein Entstehungsmythos von einem Jäger, der einsam lebt und eines Tages eine neugierige Meerjungfrau trifft. Eine gegenseitige Anziehung holt sie an Land und in ihrer Unterschiedlichkeit lernen sie voneinander. Dann gründen sie zufällig eine Familie, als sie nach und nach einen Bären, einen Luchs und einen Jungen treffen. Vgl. E.M. 4. 193 Vgl. E.M. 5. 194 Damals noch aus den USA, später aus Kanada. 195 E.M. 5.

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den Namen Umlautgallery, den man nur mit dem Umlaut schreibt – ¨gallery. Zur ersten Ausstellung am 09. August 2010 kamen 11 Leute aus dem engsten Bekanntenkreis und ein zufälliger Gast.196 Folglich bildeten Estella Mare und Francesca Tallone ein Kuratoren-Team. Geboren aus der Alltagsprosa bzw. Alltagspoesie war die ¨gallery nicht nur ein ungewöhnlicher Ort für eine Ausstellung. Auch die Ausstellungen selbst waren ungewöhnlich. Am Abend des 27. September 2012 findet im Rahmen der 19. Ausstellung der ¨gallery die Performance ÄNDERMEER von Pascale Ruppel statt. Ca. 20 Personen aus den Freundes- und Familienkreisen der Kuratoren sowie der Künstlerin stehen auf dem Gehsteig um das Mauerloch herum. Sie unterhalten sich ausgelassen. An alle wird Sekt in Plastikbechern verteilt. Plötzlich beginnt es zu regnen, man rückt unter Schirmen zusammen. Regentropfen prasseln auf die Schirme. Von der Straßenkreuzung schwingt Verkehrslärm herüber. Ein großer pinker Regenschirm hängt auf der Höhe des Lochs über der Mauer. Darunter steht Pascale Ruppel, in pinkes Licht getaucht, mit der rechten Seite an der Wand, offene Haare, türkise Jacke, Rock und ockerfarbener Schal. Ein nicht ganz passgenaues Foto im Mauerloch verwandelt die Galerie geradezu in eine kleine Guckkasten-Bühne. Das Foto zeigt einen leeren Raum. Durch ein großes geöffnetes Fenster links in einer Nische scheint die Sonne und wirft Schatten auf den Holzboden. Rechts davon zeigt es eine kleine weiße Bank. Die Performance beginnt. Pascale Ruppel öffnet ein weißes, zweimal gefaltetes DinA4-Blatt und liest die Überschrift »ÄnderMeer«. Dann folgen für 2,35 Minuten Worte und Sätze, deren syntaktischer wie semantischer Zusammenhang keinen Sinn ergibt. Zunächst liest sie die Nicht-Information nüchtern und sachlich. Doch zunehmend provozieren die Worte nachdenkliche, aufgeregte und betroffene Nuancen, als habe sie eben einen persönlichen Brief erhalten, den sie sich hörbar schweigend durchliest. »Wenn Sie die Vorteile unserer Freundschaft brauchen und wollen mit uns reden heute oder morgen. Marienplatz ist ein 13-Stunden-oder Vorzugsaktien. Ich habe Schmerzen in der Hüfte und Seele in Füssen. Hallo. Piji Heilung, glauben Sie mir, so schnell so viele Stunden wie der Patient nicht die beste laufen, aber es hat sich gelohnt und es war gut, ich bin bereit. All dies ist so klar freundlichen latte, wir nicht gewachsen sind. Dies ist die Luft, die wir atmen, sehr bald, keine Trauer, das heißt, Sie können etwas nicht tun, weil wir können. Es ist wahr, und ich gehe ins Bett, meine schmerzenden auskurrieren.

196 Vgl. E.M. 5.

298 | HOMO C REANS Waren die ersten Tests des Lesens, auch heute noch, nicht in sich selbst, ist aber noch nicht in naher Zukunft plane ich, bald vorwärts zu kommen und senden Sie die Probe, sagte der Hoffnung ist jetzt wichtiger als. Es ist mir wieder. Habe ich nun abgeschlossen und zwei Ohren und kurze Lieferzeiten für Kinder zur gleichen Zeit war die Oper in Stuttgart für vier Tage zu scheißen handhaben und ich wollte nur sagen, dass ich sehr beschäftigt jetzt, weil es da ist. Dies, weil sie dorthin zu gehen und ich habe ihn im Gespräch mit, nicht nur, wenn Sie eine Maus setzen möchten, kontaktieren Sie mich bitte. Es lohnt sich, und ich brauche Ihr Verständnis und für Ihre Hilfe in der Freundschaft im Moment für mich zu leben so überwältigt, ich hoffe, Sie werden nicht wollen, in dem Moment Wieder. Es wird die Luft bald wieder und Energie für uns nach vorne schauen, um zu jeder Ausgabe Hallo hallo, welche Farbe und Kunst. Die erste wäre besser, wenn wir sicher sein können schwer zu passen, aber es ist besser als eine Menge Leute sind enttäuscht von mir, und ich habe einen fairen erforderlichen Umfang, um es zu verwalten, gibt es eine Menge Dinge, glaube ich, und einige Zeit vergangen ist, aber im Moment tut mir leid, aber man kann nicht 197

Ps.: Wenn Sie nicht gerne sehen, wenn es zufällig muss«

Der Rezipient ist hineingenommen in die schauspielerische Situation eines intimen Augenblicks zwischen der Leserin und dem Brief mit verschleiertem Inhalt bzw. dem Absender des Briefes. Er ist für Momente absorbiert von der Spannung, die von der Leserin ausgeht. Seit der ¨gallery-Ausstellung Restrained Whisper von Xenia Fink am 26. Juni 2012 steht links neben dem kleinen Loch mit weißer Kreide in Schönschrift an die Wand geschrieben: »This whisper you are locking me into is worse than silence«198

Der Ort stellt eine Verbindung zwischen diesem Satz und ÄNDERMEER her. Es ist wie ein unhörbares, mitunter beunruhigendes Flüstern. Auf dem Gehweg lösen sich

197 Quelle: Pascale Ruppel. 198 »Dieses Flüstern, in das du mich sperrst, ist schlimmer als Stille«, Übersetzung: Johanna Eder.

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die Grenzen zwischen Bühne, Zuschauerraum und Öffentlichkeit, Alltags-Realität und Fiktion. Pascale Ruppel hat fertig gelesen, faltet das Blatt wieder zweimal, wendet sich dem Loch zu und schiebt eine transparente Folie vor das Foto. Daraufhin dreht sie sich zum Publikum, verneigt sich, erhält Applaus, spricht Dankesworte. Die Anwesenden stehen noch eine Weile plaudernd herum, gucken in das Loch, fotografieren, sinnen ausgelassen der Performance nach, trinken den Sekt aus, bevor sie in ein nahegelegenes Lokal weiterziehen. Zurück bleibt der Alltag des Gehwegs – und die Installation im Wandloch. Auf der Folie vor dem Foto ist Pascale Ruppel zu sehen, die nun im Lichtkegel des geöffneten Fensters steht und sich schweigend konzentriert über einen Brief beugt. Die Überlagerung von Foto und Folie verleiht der Szene eine transzendente Präsenz. Am Rande eines banalen Gehsteigs wird eine kleine Guckkasten-Bühne zum Transitraum. Abbildung 31: ÄnderMeer

Quelle: Pascale Ruppel

2.4.3 Pascale Ruppel – Kurzbiografie und Werkgenese Pascale Ruppel, geboren 1981 in Starnberg, stammt aus einem Elternhaus, in dem viel Wert gelegt wurde auf intellektuelle Auseinandersetzung und musische Förderung. Als Kind schrieb sie Geschichten und wollte Schriftstellerin werden. Mit 10 oder 11 Jahren sah sie in der Schule ein Stück von Shakespeare, dessen Bilderwelt sie sehr beeindruckte. Plötzlich wollte sie Schauspielerin werden. Seitdem hat sie

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diesen Wunsch nie angezweifelt. Die Bildende Kunst kam erst später dazu. Sie studierte Kunstpädagogik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft an der LMU München und absolvierte von 2005-2008 eine Schauspiel-Ausbildung am Schauspielstudio Gmelin. Die spielerische als-ob-Situation des Schau-Spiels, die Bühne als Spiegel des Lebens ermöglicht ihr eine existentielle Selbsterfahrung. Künstlerisches Denken ist für Pascale Ruppel eine Form der Erkenntnis. Im Spaß am Spiel sieht Pascale Ruppel die Bedingung für die Authentizität ihres Tuns. Das Bedürfnis, Geschichten zu erzählen, stille sich in der positive Rückmeldung des Publikums und einem euphorischen Glücksempfinden.199 Die Performance ÄNDERMEER gehört zu einer Werkserie Pascale Ruppels, deren Teile Bezug aufeinander nehmen und deren Genese nun chronologisch aufgeschlüsselt wird. Startpunkt dieses Werkzyklus ist ein universitäres Seminar 200 der LMU im Sommersemester 2011, das sich am interkulturellen EU-Förderprojekt arts & culture reshaping urban life201 beteiligte. Das Seminar bereitete sich inhaltlich-

199 Seit 2010 ist Pascale Ruppel Mitglied des Münchner Theater- und Kunstlabels achtungsetzdich! 2011 hatte sie in Emre Akals Debut-Stück Die Schafspelzratten! eine Regieassistenz. Gemeinsam mit der Künstlerin Carolin Wenzel nahm sie 2012 mit der Performance No Vacancy am Münchner Aaber Award teil. Seitdem tritt sie als Performance-Künstlerin auf. 200 Leitung: Johanna Eder. Teilnehmende der LMU München: 8 Studentinnen aus Deutschland, Dänemark und USA: Juliane Brau, Marianne Larsen, Alexandra Mohr, Abigail Press, Pascale Ruppel, Sabine Schober, Susanne Steinmaßl, Verena Zinser. 201 Vom 02.-10. Juli 2011 begegneten sich ca. 35 Kunststudierende und Künstler aus Dänemark, Deutschland und Italien, der Slowakei, Tschechien und den USA in einem Art Lab201 im säkularisierten Augustinerkloster Sternberk nahe der tschechischen Stadt Olmütz. Das Art Lab diente als Diskussions- und Arbeitsplattform, um danach zu fragen, wie sich Kunst und soziale Realitäten der Stadt räumlich wie inhaltlich befruchten können. Im Vordergrund stand der künstlerische Austausch, sich in verschiedenen kulturellen Kontexten zu erleben, zu inspirieren und urbanen Raum zu gestalten – auch im Hinblick auf die Förderung einer gemeinsamen europäischen Identität. Jeder Teilnehmer verwirklichte ein eigenes künstlerisch-forschendes Projekt zum Thema Living Spaces in verschiedenen künstlerischen Ausdrucksweisen mit einer anschließenden Gemeinschafts-Ausstellung im Kunstverein Olmütz und der Galerie G. Zentrales Thema des Art Labs war der Kontakt. Es kam zu Missverständnissen und Vereinnahmungen. Doch Begegnung und Verständigung hatten größeres Gewicht. Auf der Basis von Respekt und wohlwollender Neugier wurden Unterschiede zu Bereicherungen. Kunst erwies sich als Brücken bauendes Kommunikationsmittel. Das performative Spiel war

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konzeptionell und künstlerisch auf das Art Lab vor. 202 Es wurde zudem begleitet von der Performancekünstlerin und Kunstpädagogin Julia Dick203. Abbildung 32: Yoko Ono, Cut Piece

Quelle: http://imaginepeace.com/archives/2680 (22.04.2016). 21. März 1965, Carnegie Recital Hall, New York. Foto: Minoru Niizuma

dabei von großer Bedeutung. Vgl. Eder, Johanna: arts&culture reshaping urban life – ein Deutsch-Italienisch-Tschechisches Art Lab, in: Lutz-Sterzenbach 2013, S. 279-284. 202 Durch Recherchen zu den Themen Ästhetische Forschung, Feldforschung, Mapping und Street Art. 203 Julia Dick und Katharina Lima sind zusammen das Performance-Duo Katze und Krieg. http://www.katzeundkrieg.de/heimat.html (17.04.2013).

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Im vorbereitenden Zusammenhang eines ersten Performance-Workshops204 in München sah Pascale Ruppel eine historische Aufnahme von Yoko Onos Performance CUT PIECE von 1965 in der New Yorker Carnegie Hall205 (Abb. 32). Yoko Ono hatte das Publikum gebeten, zu ihr auf die Bühne zu kommen und ihr mit einer Schere die Kleider abzuschneiden.206 Vor Ort in Olmütz erlebte Pascale Ruppel das gemeinsame performative Experiment DIE STADT, DIE FREMDE, IST MEIN ZUHAUSE mit Julia Dick und Johanna Eder. Die Künstler bewohnten Olmütz 24 Stunden lang, um gleichsam eine Karte der Interrelationalität anzufertigen. Außer künstlerischem Arbeits- und Dokumentationsmaterial nahmen sie keinerlei Versorgung mit. Dieser Mangel provozierte eine Extremsituation, die eine Auseinandersetzung mit den Themen Fremdheit, Kommunikation, Interaktion, Interdependenz und Beziehung zwangsläufig machte. Dem Experiment lag folgende künstlerische Forschungsfrage zugrunde: Welche Formen von Kommunikation eröffnen sich im Kontext einer fremden Stadt, um Beziehung zu schaffen und Gemeinschaft zu entwickeln, wenn dabei die Verbalsprache versagt, weil die Dialogpartner verschiedene Muttersprachen sprechen? 207 In dieser existenziellen Selbsterfahrung entstand innerhalb von 24 Stunden ein Beziehungsnetz, ein Zuhause in einem Wir-Gefühl, das sich Fremdheit einverleibt und sie dennoch zulässt. In der Performance trafen sich Pascale Ruppels Einflüsse: die Bildende Kunst und das Schauspiel. Künstlerisches Denken und Handeln entgrenzte sich und sie begann nach neuen Wegen zu suchen. Das Arbeitsthema Urbanität und Austausch der Kulturen, das Video von Yoko Ono und die 24-StundenPerformance brachten Pascale Ruppel auf die künstlerische Idee ihrer ersten eige-

204 Zur Thematik der Voraussetzungen in der Begegnung mit Fremdem: Neugierige Offenheit, geduldige Wertschätzung, Begegnung und Kennen-Lernen durch Beobachten und sinnliche Erfahrungen wie Sehen, Hören, Schmecken. Vgl. Eder 2013. 205 1964 in Tokio, Neuaufführung 2003 in Paris. Cut Piece zählt zu ihren markantesten genreübergreifenden Konzeptarbeiten der 1960er Jahre. 206 Sie saß reglos da, während sie Schnitt für Schnitt entblößt wurde, bis sie ihre nackten Brüste bedeckte. Dieses Werk zeigt eine Verbindung zwischen menschlichen Beziehungen und Zerstörung, wobei die Grenze zwischen Opfer und Angreifer verwischt. Vgl. Stiles, Kristine: Uncorrupted Joy: International Art Actions, in: Schimmel 1998, S. 278. 207 Dabei ergaben sich zwei thematische Richtungen: zum Einen eine interpersonale Auseinandersetzung unter den Künstlern, die sich aufeinander einlassen und mit den Gruppen-immanenten Herausforderungen arrangieren mussten, zum Anderen eine Interaktion mit den Ortsansässigen. Die Begegnungen widerspiegelten ein großes Spektrum an menschlichem Miteinander. Die Künstler wurden von fremden Menschen angstvoll abgelehnt, verlacht, ausgetrickst, aber auch aufgenommen und großzügig versorgt.

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nen Performance EXCHANGE LIVING SPACES, die sie auf Video festhielt. Es zeigt Pascale Ruppel in einem der leeren Klosterräume. Wie in einem Bühnenraum sitz sie auf einem alten Stuhl und schneidet sich auf Brust- und Herzhöhe ein großes Stück Stoff aus dem T-Shirt eines Münchner Labels heraus. Das Loch näht sie mit Fundstücken aus Tschechien wieder zu. (Abb. 33)208 Abbildung 33: Exchange Living Spaces

Quelle: Pascale Ruppel

208 Vgl. Anhang 6, P.R. 10/11.

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2012 folgte die Performance AADEEEFINNNNU anlässlich der Finissage der Ausstellung Haubentaucher Frauenschuh von Estella Mare und Marc Rohweder in der Galerie ARTikel3 in München, die filigrane Objekte aus Papier, Zeichnungen und Tintentauchbilder zeigte. Die Performance nahm jedoch keinen konkreten Bezug darauf. AADEEEFINNNNU ist eine dadaistische Rede auf der Grundlage eines autobiografischen Briefes. Dieser steht im Kontext eines privaten Beziehungskonflikts, um eine innere Unordnung aufzuräumen. Zwei weitere Inspirationselemente traten hinzu: die URSONATE209 von Kurt Schwitters und das Buch Kunst aufräumen210 von Ursus Wehrli. Das absurd ordnende Prinzip von Kunst aufräumen übertrug Pascale Ruppel auf die Sprache, räumte jedes Wort des Briefes auf, indem sie es den Buchstaben nach alphabetisch ordnete. Die neu entstandenen Ordnungen ergeben für das deutsche Sprachverständnis keinen Sinn mehr. Sie lösen sich auf in lautmalerischen Un-Sinn. In der vorgetragenen Rede waren die einzelnen Abschnitte in verschiedenen Emotionen moduliert. Sie legten einen Bedeutungsraum offen, der nicht fertig beschrieben ist, der keine konkrete Geschichte erzählt. ÄNDERMEER hat Bezug sowohl zu EXCHANGE LIVING SPACES als auch zu AADEEEFINNNNU. Bei ÄNDERMEER handelt es sich wieder um einen Brief. Diesmal entwarf Pascale Ruppel aus SMSsen und einer Email eine fiktive Antwort des Adressaten von AADEEEFINNNNU. Mit Google-Translator übersetzte sie den Text einige Male ohne Satzzeichen vom Deutschen ins Türkische hin und her. Dabei entstanden deutsche Sätze, die keinen Sinn mehr ergaben. Diesen Brief trug sie als fiktive Antwort vor und entwarf so die Vision einer möglichen Kommunikation. Im lesenden Mädchen auf dem Foto im kleinen Galerieraum der ¨gallery treffen sich weitere Bezüge. Vorlage hierfür ist ein Foto, das den bühnenhaften Raum der ersten Performance EXCHANGE LIVING SPACES im Kloster zu Sternberk zeigt. Tatsächlich stellte Pascale Ruppel dort das Gemälde BRIEFLESERIN AM OFFENEN FENSTER211 von Jan Vermeer van Delft (Abb. 34) im Sinne eines Tableau Vivant nach.212

209 Eine lautmalerische dadaistische Sprechoper, die Kurt Schwitters zwischen 1923 und 1932 in verschiedenen Versionen erarbeitete. 210 Wehrli 2002. 211 1657, Öl auf Leinwand, 83 x 64,5 cm, Gemäldegalerie Alte Meister Dresden. 212 Frz. lebendes Bild. Eine theatrale Kunstform am Schnittpunkt von Malerei und Theater. Schon zu ihrer Schauspielausbildung hatte sie mit dieser Methode gearbeitet, hatte im Museum Bilder nachgestellt, um sich die abgebildeten Emotionen anzueignen. Eine Woche zuvor hatte Prof. Dr. Ernst Rebel das Gemälde in seinem universitären Hauptseminar besprochen. Pascale Ruppel fiel die Ähnlichkeit der Situation hinsichtlich Lichtsituation und geöffnetem Fenster auf. In einer schauspielerischen Situation werden Meisterwerke der Kunst durch theatralisches Nachstellen am eigenen Leib nachempfunden. Eine möglichst große Annäherung an das Vorbild wird durch körperlichen

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Abbildung 34: Jan Vermeer van Delft, Briefleserin am offenen Fenster

1657, Öl auf Leinwand, 83 x 64,5 cm Gemäldegalerie Alte Meister Dresden

Ausdruck, Requisite und Beleuchtung erzielt. Die Protagonisten erstarren in einer Handlung. Dabei wird ein statisches Kunstwerk lebendig. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts kam das Tableau Vivant in Frankreich in Mode und avancierte zur eigenen Kunstgattung. Als kunst- und wertevermittelndes, unterhaltsames Gesellschaftsspiel nahm es Eingang in die bürgerlichen Salons sowie die Theater- und Revuewelt des 19. Jahrhunderts. Im 20. Jahrhundert wurde es von Filmregisseuren und Videokünstlern wiederentdeckt. Vgl. Barck 2008; vgl. Hammerbacher 2010.

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Der Titel ÄNDERMEER widerspiegelt diese Anspielung. Hinzu kommt das räumliche und zeitliche Element der Schichtung von Hinter- und Vordergrund. Für ÄNDERMEER trennte Pascale Ruppel die Figur auf dem Foto mithilfe eines digitalen Bildbearbeitungsprogramms aus dem Hintergrund. Dieser stand in der ¨gallery anfangs für sich, gleich einem leeren Bühnenraum. Dann betrat die Schauspielerin die Bühne und las den Brief. Zuletzt installierte sie die zweite Ebene der Figur, die nach diesem ephemeren Ereignis zurückblieb. Nicht zuletzt der Regen war Teil des Werks. Er wusch gleichsam ab, was hinter der Leserin lag. Sie selbst blickte nach vorne aus dem sonnigen Fenster. Dieses Element mag verweisen auf den Ausgangspunkt dieses Werkzyklus: eine zwischenmenschliche Krise als auch eine grundsätzliche künstlerische Krise. Zuvor hatte Pascale Ruppel Schauspiel und Bildende Kunst getrennt voneinander gesehen. Beide Bereiche waren stagniert. In Olmütz verbanden sich diese zwei Kunstformen plötzlich in einer Wechselwirkung.213 Dies entgrenzte ihre Ausdrucksmöglichkeiten.214 Pascale Ruppel betrieb in ihrem Werkzyklus selbstreflektierende künstlerische Forschung. Durch die Inszenierung ihrer Biografie ermöglichte sie dem Rezipienten scheinbar direkten Zugang zu ihrem Leben und ihrer Psyche. Tatsächlich verschleierte sie ihre Identität jedoch. Ein wichtiger Teil der Werkgenese, die Pascale Ruppel »Gedankenarbeit«215 nennt, war die Kommunikation und das Feedback anderer. Was sie zeigen und was sie verschleiern wollte, entschied sie selbst. Mithilfe einer ganzen Landschaft von Bezugsquellen konstruierte sie Wirklichkeit. Damit thematisierte sie zugleich die komplexe Autorenschaft des kreativen Prozesses: Zwischen dem Brief als kommunikativem Zeichen und dem ins Bedeutungslose abgleitenden Inhalt tut sich ein Spalt auf. Die Kommunikation ist nur fiktiv, verharrt in der Fantasie. Doch gerade in diesem Dilemma des in sich abgeschlossen Seins öffnet sie einen imaginativen Raum, der zum kommunikativen Beziehungsraum werden kann. In der Performance-Situation wird Pascale Ruppel zur Projektionsfläche bzw. zum Spiegel des Rezipienten, der selbst Anteil hat an dieser real-fiktionalen Situation. Denn alle sinnlichen Elemente des öffentlichen Raums werden im Moment der Performance künstlerische Medien. Der Brief als Paratext bündelt die Gesamtaussage des Werks, indem er sie verwirrt. Durch diese Vermischung von Realität und Fiktion vermischen sich Künstler, Kunstfigur und Rezipient. In diesem Dazwischen thematisiert und kartiert dieser Performance-Moment letztlich die konkreten Beziehungen im physischen Raum. Welche neuen Zusammenhänge dabei entstehen kön-

213 Vgl. P.R. 15-17. 214 »so eine Freiheit, einfach das Medium zu wählen, das gerade für meine Arbeit am besten passt.« P.R. 16. 215 P.R. 10.

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nen ist dem Rezipienten überlassen. Jedenfalls verbinden sich in ihnen Kunst und Leben. 2.4.4 Hybrides kuratorisches Konzept der ¨gallery Das interkontinentale Kuratorenteam der ¨gallery – Estella Mare und Francesca Tallone216 – verstand Kuration als eigenen künstlerischen Akt217, eine Möglichkeit die eigene künstlerische Praxis zu öffnen auf Äußerungen, die sie selbst nicht so ausdrücken könnten.218 Die ¨gallery vertrat keine bestimmte künstlerische Richtung. Das Unfertige, Partizipatorische wurde bewusst zugelassen. Die gezeigten Arbeiten durften grenzüberschreitend sein, sollten sich jedoch mit dem Ort und Wesen der ¨gallery auseinandersetzen.219 In der ¨gallery verbanden sich reale sowie virtuelle Welt zu einem Hybrid, in dem der vergängliche künstlerische Ausdruck je eigen-

216 Die tatsächliche Präsenz Francesca Tallones beschränkt sich darauf, ab und zu eine Ausstellung aus der Ferne Kanadas mitzukonzipieren. Doch Estella Mare informiert sie stets über neue Entwicklungen. 217 Estella Mare ist inspiriert vom kuratorischen Ansatz Harald Szeemanns (1933-2005). Der Schweizer Kurator machte als Erster Ausstellungen über Dinge, die man zuvor nicht ausstellen konnte. Er gründete nach der Documenta 5 1972 das Museum der Obsessionen. 218 Vgl. E.M. 8. 219 Eine Auflistung der Ausstellung von August 2010 – Januar 2013: 1. Estella Mare und Francesca Tallone, 2. Ismael Duá – the presence of absence, 3. Ronit Wolf – Mummenschanz, 4. Ivan Paskalev – scrutinizing a tiny luminous interior, 5. 'the hole in the wall gang', 6. Anniversary show August 2011 Francesca Tallone – Myth of the Flat Earth, 7. Aiko Okomato – dot dot, 8. GER Wolf – YOUR AD HERE, 9. Marc Rohweder – Wallflower Study, ¨gallery all souls procession, 10. Eden Veaudry – Everything That Bumps Proceeds Into Depth, 11. Estella Mare – c'era un buco nel muro, 12. Elke Dreier – reservoir, 13. K. – The Monk By The Sea As A Stone, 14. Estella Mare – spring is like a perhaps hand, 15. la môme et d'ac – les noms des chambres, 16. Xenia Fink – Restrained Whisper, 17. Uta Sienel – Break Out – Or Wash It All Away!, 18. Francesca Tallone & Estella Mare – First The Fish Must Be Caught, 19. Pascale Ruppel – ÄnderMeer / OtherMeer, 20. Oktober 2012 – Januar 2013 Unforseen: Lina Faller Missing Summer, Horst Ambacher Love and Voyeurism, Uta Sienel Break Out II, Pascale Ruppel und Anja Neukamm Russian Winter, Kamil Canis Maior, Charlotte Erichsen Landscape I., 21. Victor Burlap – Sunday's Clown, 22. Johanna Gundula Eder – Secret Garden: Homage To The Rites Of Spring. 23. Edith Eder – Nestwärme – ausgeflogen...

Vgl.

http://www.estellamare.eu/curatorial-project-gallery-umlautgallery-

2010-2013/ (23.06.2015).

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ständige Formen fand. Der konkrete Raum der ¨gallery war ein unprätentiöser öffentlicher Raum. Er entstand aus dem urbanen Umherstreunen und der Offenheit für den Zufall – ähnlich den künstlerischen Strategien der Situationistischen Internationale220 – und trug sich über Mundpropaganda und Münchner Kulturpresse221 weiter. Die Kommunikation erfolgte über das soziale Netzwerk Facebook. Estella Mare fungierte als Sprachrohr und schrieb die Texte auf Englisch, die wie ein Werk für sich standen. Die Ausstellung fand letztlich nur im Moment der Vernissage statt, wurde eröffnet und wieder beendet. Die Gefolgschaft der ¨gallery war Teil eines Geschehens, das die unbekannte Geschichte eines reellen, physischen Ortes überlagerte. Das künstlerische Ereignis entstand im performativen Akt der Begegnung.222 Jede Ausstellung war von Zufällen geprägt, z.B. der Witterung und der Straßensituation. Das vergängliche Ereignis wurde fotografisch dokumentiert. Das Exponat verblieb meist in der Galerie und wurde dem Zufall überlassen. Seine Präsenz wurde zudem rückgeführt in die Virtualität von Facebook und nahm dort ein Eigenle-

220 Die Situationistische Internationale (S.I.) war eine 1957 gegründete, links orientierte Gruppe europäischer Künstler und Intellektueller, darunter politische Theoretiker, Architekten und freischaffende Künstler (Guiseppe Pinot Gallizio, Piero Simondo, Elena Verrone, Michele Bernstein, Guy Debord, Asger Jorn, Walter Olmo). Die S.I. beeinflusste den Pariser Mai 1968, die Methoden der Kommunikationsguerilla und die internationale Kunstszene, insbesondere die Popkultur. Mit Guy Debord als Leitfigur zählte sie insgesamt ca. 70 Mitglieder aus ganz Europa. Hauptziele waren die Erfindung neuer Lebensbedingungen in den Städten, eine Revolution hinsichtlich der Abschaffung des Kapitalismus, Rückgewinnung des entfremdeten Lebens, Umgestaltung der Stadtstrukturen und der gesellschaftlichen Normen, hin zu einer Verbindung von Kunst und Leben. Die S.I. verstand die Welt als Labyrinth. Im Dérive (sich treiben lassen) erkundeten sie die Stadt durch zielloses, lustbetontes Umherschweifen unter Verwendung falscher Stadtpläne. Im Détournement (Veruntreuung, Zweckentfremdung) stellten sie zwei unabhängige Ausdrucksformen einander gegenüber oder überlagerten sie. Z.B. Guy Debord, Guide psychogéographique de Paris, 1957. Als Angelpunkt jeder politischen Forderung sahen sie das subjektive Erleben des Einzelnen mit seinen Wünschen und Begierden. Die S.I. löste sich 1972 auf. Vgl. Ohrt 1997. 221 Ein Interview mit Estella Mare erschien 2012 im cult – der Kulturzeitung der Bayerischen Theaterakademie, zudem ein Artikel im Heft des Münchner Zeitforschers HansPeter Söder. Vgl. Mare, Estella in: Söder 2012, S. 48-54. 222 Vgl. E.M. 8/9.

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ben an.223 Man konnte stets zurückkehren an den virtuellen Ort der Ausstellung, Fotos anschauen, begleitende Texte oder Kommentare lesen.224 2.4.5 Resümee Sowohl Estella Mare als auch Pascale Ruppel schöpfen aus ihrer subjektiven ästhetischen Erfahrung. Die Beziehung zur Kindheit und Biografie, zum Körper, zum Raum, zu Bildern und Texten, die Beziehung zu anderen Künstlern und Künsten und nicht zuletzt das lustvolle Spiel sind zentrale Elemente ihrer kreativen Prozesse. Zwischen Estella Mares zeichnerischer künstlerischer Tätigkeit und der ¨gallery besteht eine implizite Verbindung, die sich als künstlerische Strategie herausschälen lässt: das offene Eingehen auf Zufälle, die Kombination von zunächst sperrigen Einzelelementen oder Kontexten, die eigentlich nicht zusammengedacht werden, jedoch plötzlich einen interrelationalen Kontaktraum eröffnen. Was sich auftut, bezieht den Betrachter in seiner Wahrnehmung und entgrenzenden Fantasie mit ein.225 Gerade in der subversiven Aneignung von öffentlichem Raum bewirkt die ¨gallery – ähnlich dem winzigen orthografischen Zeichen in ihrem Titel – eine subtile organische Veränderung. Was zwischen dem Betrachter und dem Kunstwerk entsteht – oder auch zwischen zwei Menschen, die ein Kunstwerk betrachten, dieses gemeinsame Erleben stellt eine Intimität her. Kunst wird zum subjektiv partizipierten Ereignis. So ist die ¨gallery ein Kontakt- und Beziehungsraum. Die Kunst entsteht im Miteinander, das Miteinander wird zur Kunst. Künstler, Kuratoren und Rezipienten haben alle Anteil an diesem Ereignis, an der Umdeutung und Transzendierung eines öffentlichen Raums, an der Vermessung und Landnahme des Fantasieraums, der sich in der Kunst auftut. 226 Gerade in diesem Phänomen der Co-Kreativität transformiert das Ereignis der Kunst ein Stück Wirklichkeit.

223 Vgl. E.M. 10. 224 Die 20. Ausstellung unforseen (Oktober 2012 – Januar 2013) bezog Facebook stark mit ein. Vier Monate lang wurde dazu aufgerufen, eigene Arbeiten zu verwirklichen und die Dokumentation über Facebook zugänglich zu machen. 225 Die Kuratoren drücken diese Entgrenzung folgendermaßen aus: »Instead of feeling limited, we feel, the possibilities for exhibiting in a space that is completely autonomous, that doesn't belong to anybody, are endless.« http://www.estellamare.eu/curatorialproject-gallery-umlautgallery-2010-2013/ (23.06.2015). 226 Estella Mare beschreibt es: »Manchmal hab ich einfach das Gefühl, dadurch dass jemand da jetzt so einen kleinen Akt vollzogen hat, hat dieser Ort plötzlich so einen Zauber.« E.M. 7.

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2.5 K LAUS E RICH D IETL UND S TEPHANIE M ÜLLER – T HE F ABRIC : D O I T T OGETHER Das folgende Fallbeispiel reflektiert eine transmedial entgrenzte, kollaborative Kreativität im urbanen Raum. Das Projekt THE FABRIC227: DO IT TOGETHER 2012 vernetzte internationale künstlerische und wissenschaftliche Positionen – z.B. AntiFolk228, Comic, experimentelle Musik, Flashmob 229, Hörspiel, Kunsttherapie, Malerei, Textilkunst, Urban Art230. Die Initiatoren Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl sind fasziniert vom Phänomen der basisdemokratischen Selbstermächtigung durch DIY231 und DIT232, von der künstlerisch-kreativen Zusammenarbeit in einer Gruppe. Sie pflegen eine Haltung der creative commons233 ohne Konkurrenzdenken. Sie gewannen mit ihren gemeinsam erarbeiteten textilen Collagen den 2. Preis in der Ausstellung Vernetzung 2009 im Haus der Kunst München. Von 2010 bis 2011 hatten sie einen Lehrauftrag an der Wiener Universität für Angewandte Kunst. Gemeinsam geben sie gattungsübergreifende, kunstpädagogische Workshops für Jugendliche und arbeiten mit jungen Flüchtlingen. 2.5.1 Klaus Erich Dietl und Stephanie Müller – Kurzbiografien Der Maler, Comiczeichner, Filmemacher, Kunstpädagoge und -therapeut Klaus Erich Dietl, geboren 1974 in Rosenheim, studierte von 1995 bis 2002 Malerei und Kunstpädagogik an der Akademie der Bildenden Künste München. Er arbeitete als

227 fabric, Engl.: Gewebe, Textil. 228 Ein Musikgenre, das kindliche Naivität und Dilettantismus pflegt. 229 Bezeichnet einen kurzen, scheinbar spontanen Menschenauflauf, der durch abgestimmte Aktionen in den Stadtraum interveniert. 230 Bezeichnet ein globales Phänomen künstlerischer Spuren im öffentlichen Raum. Es entstand aus der Jugend-Subkultur. Ein Künstler nimmt kontextgebundene, unkonventionelle, ästhetische Eingriffe in den Stadtraum vor. Seine anarchische, oft subtil provokante, mitunter auch vandalistische Werkspur richtet sich an ein öffentliches Publikum. Vgl. Eder, Johanna: Helden der Straße – subversive künstlerische Strategien zur Unterwanderung des öffentlichen Raums, in: KOMMANDO AGNES RICHTER Splittergruppe (Hrsg.): The Fabric – Magazine, München 2012, S. 7-8. 231 DIY: Do it yourself, Engl.: Mache es selbst. DIY ist eine Kategorie subversiver Praktiken und steht für eine subkulturelle Strategie der amateurhaften Selbstermächtigung. 232 DIT: Do it together: Engl.: Macht es zusammen. DIT erweitert das Konzept des DIY um die Idee der Kollaboration. Der Begriff wurde geprägt von Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl. 233 Engl.: schöpferisches Gemeingut.

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Kunstlehrer an bayerischen Gymnasien und Fachoberschulen für Gestaltung. Seit 2008 ist er freischaffend künstlerisch und kunstvermittelnd tätig. Künstlerisch beschäftigt ihn besonders die Frage der bildnerischen Kommunikation als prozesshaftes Frage-Antwort-Spiel. Im Collagieren, Samplen und Montieren von visuellem Material sieht er eine Möglichkeit, gegen eindeutige und vorgegebene, manipulative Assoziationsfolgen vorzugehen. Er versteht Kunst dabei als offenes, kommunikatives Projektionsfeld im interrelationalen Dazwischen von Produzenten und Rezipienten, den er selbst in sich trägt.234 Klaus Erich Dietl mag das Provokative. Mit gewisser Selbstironie identifiziert er sich mit dem romantischen Stereotyp des leidenden Boheme-Künstlers, der in idealistischer Genügsamkeit und Andersartigkeit eine gesellschaftliche Spiegelfunktion übernimmt oder die Gesellschaft als Spiegel benutzt. Besondere Inspirationsmodelle sind Joseph Beuys und Christoph Schlingensief.235 Im Jahr 2008 gründete Klaus Erich Dietl das Kollektiv Kommando Agnes Richter236. Mit der künstlerischen Strategie des Knitted Graffiti bzw. GuerillaKnitting237 umstrickt das Kollektiv an neuralgischen Punkten im Stadtraum Skulpturen oder Werbeplakate und hält dies fotografisch fest. Im März 2011 umstrickten sie nachts das umstrittene Bismarck-Denkmal (geschaffen 1931 vom Bildhauer Fritz Behn) am Münchner Isarkai. Dem Kollektiv geht es darum, durch traditionelles Handarbeiten künstlerische Zeichen des Aufstands im öffentlichen Raum zu setzen und soziale Situationen zu schaffen, um auf Zustände aufmerksam zu machen.238

234 Dietl, Klaus Erich: »Kunst ist momentan für mich so eine Art Frage und Antwort Spiel. Und zwar zwischen dem was ich denke, dass ich bin und dem Anderen, der ich glaube sich in mir befindet. Ich schau mir was an und stell mir gleichzeitig vor, wie könnte das ein Anderer verstehen. Dadurch erlebe ich auch einen Anderen in mir.« Anhang 7, S.M./K.E.D.1. 235 Vgl. S.M./K.E.D. 8. 236 Bezieht sich auf die Patientin einer psychiatrischen Anstalt, die den halböffentlichen Raum ihrer Anstaltsjacke bestickte. Vgl. S.M./K.E.D. 18. 237 Subversive Strick-Happenings als Kommunikationsform im soziokulturellen Kontext öffentlichen Raums. 238 Dietl, Klaus Erich: »Stricken als Kommunikationsform, den Marienplatz einzustricken mit hundert Leuten ist auch wie so ne Art Happening. […] Es ist eher das magische Moment, dass man plötzlich einen windigen Grund findet, dass man sich mit den Menschen unterhalten kann. Und gleichzeitig so nen subversiven gemeinsamen Dreh raus hat, nämlich dass der Marienplatz dann gesperrt ist, weil wir uns gerade so gut unterhalten und wir sind jetzt dabei, wie es immer größer und größer wird. Also das finde ich nach wie vor faszinierend.« S.M./K.E.D. 18.

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In Zusammenarbeit mit seiner Partnerin Stephanie Müller organisiert und kuratiert Klaus Erich Dietl Gruppenausstellungen, die sich unter anderem textilen Strategien in der zeitgenössischen Kunst widmen.239 Die DIY-Musikerin, Textilkünstlerin, Sozialwissenschaftlerin und Kunsttherapeutin Stephanie Müller, geboren 1979 in Rosenheim, wuchs in einem kleinen oberbayerischen Dorf auf. Schon früh übte das Andere und Fremde der Kunst eine große Anziehung auf sie aus, was in der Herkunftsfamilie auf fehlendes Verständnis stieß. Auf der Suche nach Entgrenzung, Entwicklung und Erleben zog es sie weniger zu einer bestimmten Kunstgattung, als vielmehr zum prozesshaften sich Ausprobieren, zum künstlerisch forschenden Experimentieren und zur Selbsterfahrung im dilettierenden Musizieren und Nähen.240 Sie stieg in die Do-It-Yourself Szene ein. Die Kategorisierung bzw. den Lebensentwurf des Künstlerseins konnte sie jedoch noch nicht zulassen.241 So studierte sie zunächst Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie an der LMU München und stieg anschließend in ein medienpädagogisches Berufsfeld ein.242 Doch im Wunsch nach struktureller Freiheit tat sie nach einem bewussten Auseinandersetzungsprozess den Schritt ins künstlerische Prekariat.243 Seitdem verknüpft sie mit forschendem Interesse Sozialwissenschaft, Pädagogik, Kunst, Musik und Mode. Sie folgt Fragestellungen, die weiterführen wollen.244 Seit 2004 fertigt sie mit ihrem Label rag*treasure Textilkunst. Seit 2006 bildet sie zusammen mit Laura Theis das Antifolk- und Experimentalduo beißpony.245 Ihre Modekunst zeigte sie u.a. im ZKM Karlsruhe, im Wiener Museumsquartier und bei der Alternative Fashion Week in London und wurde vielfach ausgezeichnet.246

239 Vgl. http://www.rageagainstabschiebung.de/?page_id=686 (07.06.2015); vgl. https://tex tilesunbehagen.wordpress.com/2011/05/25/klaus-erich-dietl/ (07.06.2015). 240 Vgl. S.M./K.E.D. 1/2. 241 Vgl. S.M./K.E.D. 4. 242 2005 bis 2009 Projektorganisation bei der Stiftung Zuhören des Bayerischen Rundfunks und im Referat Medienpädagogik der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien. 243 Vgl. S.M./K.E.D. 6/7. 244 Vgl. S.M./K.E.D. 1-2. 245 Album Brush Your Teeth (2013) erschienen bei Chicks on Speed Records. 246 Beim internationalen Modepreis Baltic Fashion Award 2005, beim Schweizer Recycling Metallic Fashion Award 2008. Beim Oberbayerischen Förderpreis für Angewandte Kunst 2010 gewann sie den ersten Preis. Vgl. http://www.rageagainstabschiebung.de/ ?page_id=686 (07.06.2015); vgl. https://textilesunbehagen.wordpress.com/2011/05/26/ stephanie-muller-ragtreasure/ (07.06.2015).

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Die Reizüberflutung des Urbanen ist für Stephanie Müller Faszination und Inspirationsquelle.247 Sie sucht jedoch weniger das Provokative. Kunst ist für sie Erleben, Immersion und Partizipation248, ein intra- bzw. intersubjektiver Kontakt- und Kommunikationsraum.249 In ihrer prozesshaften collagierenden Arbeitsweise mag sie die Unkontrolliertheit der Improvisation in Echtzeit, richtet sich gerne auf andere aus, reagiert in Situationen direkt, intuitiv und spontan.250 Sie mag es, wenn Kunst in ihrer narrativen Sinnlichkeit, ihren Brüchen und Offenheiten Unbehagen hervorruft und damit in die Gesellschaft eingreift.251 Deshalb liegt ihr besonderer Fokus auf sozialen Kooperationsprozessen, auf komplexen Reiz-ReaktionsSystemen und kreativen Kettenreaktionen. Sie ist ständig auf der Suche nach einem Resonanzraum, von und mit anderen zu lernen.252

247 Vgl. S.M./K.E.D. 16. 248 Lat. Beteiligung, Teilhabe, Teilnahme, Mitwirkung, Mitbestimmung, Mitsprache, Einbeziehung. In der Kunst meint Partizipation die Mitwirkung des Rezipienten an einem Kunstwerk. Es beginnt bereits beim Zuschauen bis hin zum aktiven Einbeziehen des Rezipienten durch Handlungsaufforderungen. 249 Vgl. S.M./K.E.D. 1-2. 250 Vgl. S.M./K.E.D. 5/6. 251 Müller, Stephanie: »Und wenn ich an die Kunst denke, dann ist da so etwas, das ein Unbehagen hervorruft. Was irgendwie tiefer in die Gesellschaft reingreift.« S.M./ K.E.D. 9. 252 Müller, Stephanie »Ich liebe es, auf etwas zu reagieren, wenn etwas da ist und ich habe die Freiheit, daran weiterzuspinnen. […] Wie ein Mapping in verschiedene Richtungen, verschiedene Perspektiven. Deswegen mag ich auch Gruppenprojekte so gerne. Weil ich da das Gefühl habe, da geht etwas weiter für mich. […] So eine Offenheit. Und so ein Experimentieren und dann auch ein Scheitern zwischendurch. Klar ist dann auch mal eine Frustration dabei. Der Ärger, dass es doch nicht klappt oder mir fehlt eine Technik. In meinem Kopf ist oft schon ganz viel da. Aber es ändert sich dann. Manchmal fehlen halt technische Fertigkeiten. Aber das ist dann nicht schlimm, denn dann kommt etwas anderes dabei raus. […] Ich merke auch, wenn ich mit Klaus zusammenarbeite […], dass ich Feedback schon sehr wichtig finde. Verifikation ist das vielleicht auch. Kunst ist für mich nichts alleine. Es ist was Soziales. […] Mich holt das auf den Boden, dieses Andere, dieses Soziale, dieses gemeinsame Arbeiten. […] Ich lerne aus der künstlerischen Auseinandersetzung, mit den anderen und mit mir, lerne auch wieder etwas über mich und mein Denken. Wie ist meine Denkschranke und wie kann ich die sprengen.« S.M./K.E.D. 2-3.

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2.5.2 Kollaboration zwischen Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl: DIY/DIT Seit 2009 kollaborieren Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl. Von 2009-2011 absolvierten sie beide das Aufbaustudium Bildnerisches Gestalten und Therapie bei Prof. Dr. Gertraud Schottenloher an der Akademie der Bildenden Künste München. Diese Ausbildung spielt je eine große Rolle für beide und prägte ihr gattungsübergreifendes, künstlerisches Verständnis von Kunst als kommunikativen Begegnungsraum, als sozialen Prozess. Klaus Erich Dietl befreite sich von konventionellen Denkschemata und Konzepten, öffnete sich dem Spiel und dem Zufall hinein in eine kollaborative Prozesshaftigkeit.253 Stephanie Müller schärfte ihre Achtsamkeit gegenüber Andersartigkeit, Unterschieden und Grenzen anderer. Gemeinsam entwickelten sie den subjekt- bzw. gruppenorientierten Ansatz der Thread-Therapy254. Unter der Beuys’schen Prämisse, dass jeder Mensch ein Künstler sein kann, weil jeder Mensch Ideen hat,255 wollen sie zur Kommunikation anregen, die Angst vor künstlerischem Ausdruck und der Unkontrollierbarkeit des eigenen künstlerischkreativen Prozesses nehmen. Als Kunstpädagogen verstehen die beiden ihre eigene Rolle als Impulsgeber, die einen offenen Rahmen setzen, in dem die Gruppe selbst wirksam werden kann.256 Im Zuge von Gemeinschaftsprojekten257 wuchs ein Netzwerk, aus dem das im Folgenden analysierte Ausstellungshybrid mit über 70 Beiträgen entstand.

253 Vgl. S.M./K.E.D. 12/13. 254 Engl.: Faden-Therapie. 255 Vgl. S.M./K.E.D. 15. 256 Vgl. S.M./K.E.D. 12-14. »Bei uns ist glaub ich viel mehr eine Stärke da, wenn es darum geht, die Leute zu einer Kommunikation anzuregen. Die Leute nicht erst mal vor den Kopf zu stoßen und sie dadurch zum Denken zu bringen, sondern die Leute durch ein echtes Interesse an ihren Anliegen zum Kommunizieren zu bringen, was ja ein ganz anderer Ansatz ist.« S.M./K.E.D. 9. 257 Aufstand der textilen Zeichen (Städtische Galerie Die Färberei, 2009), The Needle and The Damage Done (Farbenladen, 2010), Textiles Unbehagen (Städtische Galerie Die Färberei, Galerie Stephan Stumpf und öffentlicher Raum, 2011), Temporäres Büro für irrelevante Zeichen (KunstwerkStadt, Rathausgalerie, 2011) und die Gruppenausstellung Einen Fehler machen, alle Fehler machen, ordentlich Fehler machen (Kunstarkaden, 2012).

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2.5.3 T HE FABRIC: DO IT T OGETHER Das vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München geförderte THE FABRIC: DO IT TOGETHER fand vom 15.-28. Juni 2012 im Münchner MaximiliansForum 258 statt, einer Fußgängerunterführung an der Kreuzung von Maximiliansstraße und Altstadtring. Dabei handelte es sich um eine unterirdische, hallenartige Passage in direkter Nachbarschaft zu Verkaufsfilialen großer Modelabels einer Münchner High Society-Straße. Die städtische Off-Space-Galerie ist ein lebendiges Forum der subkulturellen Szene, eine Keimzelle für künstlerisch experimentelle Strategien mit einem transdisziplinären Programm, das von Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern, von sozialen und pädagogischen Projekten gestaltet wird. THE FABRIC: DO IT TOGETHER ist ein künstlerisch-experimentelles Laboratorium für die Entwicklung parasitärer Strategien im öffentlichen Raum. Es baut auf die Kollaboration der Beteiligten259. Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl verstehen ihren künstlerischen Beitrag besonders darin, eine Situation zu schaffen und zu koordinieren. Sie tragen als Initiatoren die Verantwortung, kümmern sich um die

258 Dort installierte Joseph Beuys 1976 sein Environment Zeige deine Wunde. 259 abArt, Jennifer Ahl, Max Amling, Carolin Angele, Archiv für Gebrauchs- und Benutztexte, Atatakakatta, Atigula Aziz, Natalie Bayer, Andrea Beck, Jonathan Becker, Maximilian Becker, beißpony, Verena Berghof, Florian A. Betz, Anita Boomgaarden, Friedrich Boomgaarden, Inga Braukmann, Veronica Burnuthian, Marta Caradec, C.I.Y. REPUBLIC, Department of Volxvergnügen, Johanna Gundula Eder mit Studierenden des BA-Studiengangs Kunst/Musik/Theater der LMU, Dr. des. Moritz Ege, Cara Fickentscher, frfr international, Prof. Dr. Elke Gaugele, Myriam Gbur, Thomas Glatz, Goldbrunner + Hrycyk Architekten, Tina Griffith, Elena Haas, Michaela Hepp, Barbara Herold, Stefan J. Hierl, Racheli v. Hofacker, Dorothea Hugle, Institut für Leistungsabfall und Kontemplation, Julia Jäckel, jilojinx Art-Fashion, Katerwerkstatt, Matthias Keiler, Christine Kewitz, King Kong Kunstkabinett, Ricarda Klinkow, Verena Köhler, KOMMANDO AGNES RICHTER, Sabine Kuhn, Martin Krejci, Prof. Dr. Verena Kuni, Kultur- und Spielraum e.V., Labor 45, Naomi Lawrence, Leive Leirs, Leistungsdruck, Stefanie Lerch, Patricia Lincke, Anuschka Linse, Corinna Mattner, Veronika Maurer, Justine Maxelon, Birne Meier, Anna Metz, Modeatelier Fadenlauf, Heidi Mühlschlegel, Christian Frank Müller, NMMR – Neuestes Modebarometer Mittlerer Ring, OhwWhouWhou, Katrin Petroschkat, Zara S. Pfeiffer, rag*treasure, Suse Richter, Julia Riederer, Rohprokk, Florian Schenkel, Dr. phil. Susanne B. Schmitt, Herbert Schneider, Birgit Scholin, Anatol Schuster, Sebastian Schwamm, Simulationen des Selbst, sou°veräna, Anja Spiegler, Rose Stach, Christina Stark, Susanne Steinmaßl, Mirjam Stutzmann, Tina Täsch, Team Weltretter, Laura Theis, Gülcan Turna, Andrea Wagner, Lutz Weinmann, zoo.pks, Fabian Zweck.

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Kommunikation, das Ausstellungsmanagement und die Finanzierung durch öffentliche Gelder und Sponsoren. Sie sind auch Herausgeber des Ausstellungskatalogs260 mit Beiträgen der Beteiligten – darunter DIY-Anleitungen, künstlerische und wissenschaftliche Bild- und Textbeiträge. Das Ausstellungshybrid gestaltet sich aus verschiedenen Elementen: Die AUSSTELLUNG AUF RÄDERN zeigt Textil-, Sound-, Foto- und Videoinstallationen sowie wissenschaftliche Beiträge 261 und lädt die Rezipienten ein, die Exponate auf rollbaren Präsentationsflächen nach eigenen Bedürfnissen neu zu platzieren und dadurch selbständig in die Kuration einzugreifen. Der Laden BEWARE (B-WARE) bietet experimentelle Mode und Accessoires mit Makeln von beteiligten Künstlern und Projekten. Dort ist auch das gemeinschaftliche Buch-Projekt der LMU-Studierenden Du bist ein Maulwurf auf der Suche nach Artgenossen mit unwahrscheinlich wahren Geschichten erhältlich. Bei einer FotoQuickie-Aktion können die Besucher den Schönheitsfehler ihrer Wahl inszenieren. Darüber hinaus zeigt ein Kino Animationen und Kurzfilme. Es gibt Konzerte, Lesungen, ein Live-Hörspiel einer Splittergruppe von KOMMANDO AGNES RICHTER, eine Musikmaschine und zahlreiche Performances – darunter eine Intervention der Studierenden auf der Maximilianstraße und Klaus Erich Dietls Fühlkino a la VALIE EXPORT. An zwei TAGEN DER GESCHLOSSENEN TÜRE (20./27. Juni 2012) wird das Geschehen an die Oberfläche der Stadt verlagert und das unterirdische MaximiliansForum bewusst unzugänglich gemacht. Die Münchner Performancegruppe AbArt, Menschen mit und ohne Behinderung, thematisiert dadurch auf humorvolle Weise das Spannungsfeld zwischen In- und Exklusion. Zara Pfeiffer vom Institut für Soziologie der LMU München bietet einen Spaziergang zur Münchner Frauenbewegung auf dem Themengeschichtspfad. Das reichhaltige Programm der beiden Projektwochen beinhaltet auch DIY- und DIT-Workshops (Musik, Klangkunst, Mode, Video, Fotografie, Performance), die den Besuchern im und um das MaximiliansForum Gelegenheit zum ästhetischen

260 Vgl. KOMMANDO AGNES RICHTER Splittergruppe 2012, S. 7-8. 261 Darunter sind auch acht künstlerische Arbeiten von Studierenden des Instituts für Kunstpädagogik der LMU. Sie entwickelten ästhetisch forschende Sichtweisen auf den Münchner Stadtraum. Andrea Beck: Prunk und Zerfall, Maximilian Becker: Gewebe und Verletzung- Ein Experiment mit Feuer, Inga Braukmann: Lieblingsorte per Schatzsuche, Cara Fickentscher: Massenbegeisterung, Elena Haas: Das Fremde, Michaela Hepp: Rücksichten, Anna Metz: Münchens zurückgelegte Strecken, Christina Stark: Der Zauber romantischer, magischer Orte.

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Forschen und Experimentieren bieten. Der sprichwörtliche »rote Faden« soll in den Stadtraum hineinwachsen. Abbildung 35: Klaus Erich Dietls Fühlkino a la VALIE EXPORT

Quelle: Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl

Ergänzt wird THE FABRIC: DO IT TOGETHER durch den wissenschaftlichen Diskurs eines Symposiums vom 16./17. Juni 2012, bei dem sich Experten in LecturePerformances und Diskussionsforen kritisch mit visuellen Kulturen, Moden und Urbanität auseinandersetzen. Johanna Gundula Eder (Institut für Kunstpädagogik, LMU München) führt in künstlerisch subversive Strategien zur Unterwanderung des öffentlichen Raums ein. Prof. Dr. Elke Gaugele (Akademie der Bildenden Künste Wien) referiert zur Theorie des Diebstahls. Prof. Dr. Verena Kuni (GoetheUniversität Frankfurt am Main) greift in ihrem Beitrag »Ich ist eine Strickmaschine« die Mechanisierung und Automatisierung der Handarbeit auf. Anschließend empfiehlt sie händisches Häkeln als Kontrastprogramm zu gehackten Strickmaschinen. Dabei ist sie Teil der mobilen Thread Therapy-Einheit von Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl.262 Ein abendliches Diskussionsforum mit abschließendem

262 In umgenähten, einst sterilen OP-Kitteln kümmert sich das Trio um mitgebrachte Mängel und Probleme. Stephanie Müller transformiert in Echtzeit die ihr anvertrauten Schwachstellen gleichermaßen sensibel wie sarkastisch in textile Unikate. Dabei entste-

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Antifolk-Konzert von beißpony rundet den Aktionsnachmittag ab. Wissenschaftler und Künstler sprechen gemeinsam mit den Besuchern über das Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Selbstausbeutung, das mit kreativer Arbeit und DIYAktivismus einhergeht. Seinen Ausklang findet THE FABRIC: DO IT TOGETHER am 28. Juni 2012 im Rahmen einer Mode-Performance in Begleitung der Experimental-Band Calling All Monsters. Präsentiert werden gestrickte Sturmhauben von sou°veräna und tragbare Modekunst aus unglamourösem Material wie ausrangierter Kleidung, Bandagen und Kassettenbändern von rag*treasure. Choreografiert wird die Performance von Justine Maxelon und Laura Theis.263 In den Beiträgen verfolgte das Projekt künstlerische Strategien wie Bricolage, Cross-Over, Experiment, Forschen, Improvisation, Interpiktoralität, Montage, Multi-/Transmedialität, Multisensorik, Recycling, Remix, Sampling, Spuren hinterlassen, Vernetzung und den Zufall. Über zwei Wochen stellten die Beteiligten so mit wenig Geld viel auf die Beine. Sie gestalteten ein lebendiges, spontanes, vielseitig schillerndes, poppig buntes Fest, ein kaleidoskopartig verspieltes Spiegelkabinett, einen überbordend invasiven Prozess inhaltlicher Auseinandersetzung. Das Netzwerk von THE FABRIC: DO IT TOGETHER spannte sich noch weiter. Im Anschluss gab es Beteiligte, die gemeinsam eigene DIT-Projekte auf die Beine stellten, darunter Anuschka Linse mit ihrem DIY-Laden-Projekt Huji und Maria Walcher, die in München eine mobile Fahrradnähwerkstätte gebaut hatte und damit dann auf Tour ging. Die Verknüpfungen ragten hinein in die Medienlandschaft.264 Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl beteiligen sich weiter differenziert kritisch an der Diskussion um Mode, ihre Ausschlussmechanismen und DIY, um Selbstausbeutung und kulturindustrielle Vereinnahmung subversiver Strategien.265

hen Jammerlappen To Go und Krankheiten im Kuscheltierformat. Klaus Erich Dietl collagiert währenddessen auf präparierten Heilmittelverordnungen die entsprechenden Texte (aus Diagnostik und Kunst) und fälscht mit seinem Aquarellkasten ein entsprechendes Rezept. 263 Dietl, Klaus Erich und Müller, Stephanie: The Fabric Pressemitteilung, https:// thefabricmunich.files.wordpress.com/2012/03/pressemitteilung_thefabric.pdf

(07.03.

2015). 264 Im Kulturteil der Süddeutschen Zeitung erschien ein halbseitiger Artikel der Journalistin Anna Pietschmann rund um die Thematik. Das Bayerische Fernsehen brachte einen Beitrag in der Sendung Capriccio, ebenso das Münchner Aus- und Fortbildungsradio afk M94.5. 265 In Leipzig sprach Stephanie Müller am 09. September 2014 bei einer Diskussionsrunde zum Thema »DIY – Don't Tell Me What To Do« im Rahmen der Ausstellung Was das Ich von selbst erfährt? (Lernen in Eigenregie) in der Galerie für zeitgenössische Kunst

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2.5.4 Bezüge Welche Bezüge vernetzten sich bei THE FABRIC: DO IT TOGETHER? Ausgangspunkt war die gegenwärtige Mode- und Konsumwelt als Projektionsfläche kapitalistischer Verstrickungen und sozialer Ausschlussmechanismen. Mithilfe von Ästhetischer Forschung266 sollten soziale, ökonomische und politische Dimensionen in Theorie und Praxis kollaborativ erforscht werden. Das aufwendige, komplexe Vernetzungsprojekt entstand auf der Grundlage eines Netzwerks von Künstlern, Wissenschaftlern und DIY-Aktivisten. Die Auswahl der Beiträge erfolgte nach dem Duchamp’schen Kriterium der Indifferenz. Die beiden Initiatoren schafften einen offenen Rahmen, eine Einladung zur Partizipation. Die hohe Motivation und das Engagement aller erzeugten gleichsam ein identifikationstiftendes Kollaborativ267. Dieses kreiste um Fragen nach Freiheit und Autonomie, nach Verstrickungen sowie dem eigenen Verständnis von Subversivität und DIT. Dabei ging es weniger um die Lust, etwas destruktiv zu untergraben, als vielmehr darum, im Miteinander mit anderen Menschen, in der je eigenen Art, durch erlebbare künstlerische Kreativität, in die Gesellschaft einzugreifen, sich Lebensraum anzueignen und mitzugestalten. Auch die Besucher wurden eingeladen, aktiv mitzumachen. Die Mitbeteiligung der Rezipienten war beabsichtigt und mit eingeplant. In der als-ob-Situation des Spiels wurde das co-kreative Netzwerk ein Ort, an dem Normen durch abweichendes Verhalten hinterfragt werden konnten. Stephanie Müller und Klaus Erich Dietl wollten Unkonventionelles erfahrbar machen, gleichsam eine kleine Wunde offenlegen oder erzeugen.268 Explizite Bezüge bestehen zu Marcel Duchamps SIXTEEN MILES OF

Leipzig vom 14. Juni bis zum 05. Oktober 2014. Das Künstlerduo war künstlerisch beteiligt an einer Veranstaltung, die an die Idee von The Fabric: Do It Together anknüpft: die Ausstellung Für Garderobe wird nicht gehaftet im AIL (Angewandte Innovation Laboratory) Wien vom 10. Dezember 2015 bis zum 17. Januar 2016 mit Workshops, Stadtinterventionen und einem Fachsymposium zum Themenfeld »Re-Visioning Fashion Theories: Postcolonial and Critical Transcultural Perspectives« 11./12. Dezember 2015. (in Kooperation mit der Universität für angewandete Kunst und der Akademie der bildenden Künste Wien). Vgl. http://fuergarderobewirdnichtgehaftet.com/2015/11/22/ tagung-re-visioning-fashion-theories-postcolonial-and-critical-transcultural-perspec tives-panel-5/ (01.04.2016). 266 Siehe Kapitel D 3.3.2. 267 Eine Gemeinschaft, die auf dem Prinzip der Kollaboration gründet. Der Begriff Kollaborativ unterscheidet sich vom Begriff des Kollektivs. 268 Vgl. S.M./K.E.D. 25/26.

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STRING, zur DADA-Künstlerin Elsa von Freytag-Loringhoven269, zur Situationistischen Internationale270, zur Urban Art sowie zu Joseph Beuys, der in den Räumen des MaximiliansForums die erste Fassung seiner Rauminstallation ZEIGE DEINE WUNDE aufgebaut hatte. Durch das Kollaborativ entstand ein Prozess, der an die Beuys’sche Idee der Sozialen Plastik erinnern mag. 2.5.5 Resümee Wie lässt sich der kreative Prozess von THE FABRIC: DO IT TOGETHER beschreiben? Das Kollaborativ erkundete mit seinen künstlerischen Beiträgen den Geist des DIT, den Geist der Sharing-Kultur als popkulturelle Selbstermächtigung, als subversive Unterwanderung der Konsumkultur. In einer Haltung leidenschaftlichen Engagements wurde eine Situation geschaffen, in der jeder gleiche Gültigkeit besaß. Dieser Indifferentismus vernetzte Ressourcen und erzeugte eine inspirierende, kollaborative Gemeinschaftserfahrung, eine Dynamik der Interrelationalität von Spiel und Fest. Ein Fest ist der Inbegriff des Selbstzwecks von Kommunikation und Gemeinschaft. Spiel kann hier verstanden werden als lebendige Gemeinschaftskomposition, ein offener Beziehungsprozess als transmediale Kunstform.271 Das Werk erschuf sich im Produzenten wie im Rezipienten durch die Teilhabe am Fest, am Spiel und am co-kreativen Gestaltungsprozess. Ihre Rollen waren nicht mehr klar abgegrenzt, die Grenzen waren aufgebrochen. Der Künstlerbegriff relativierte sich, wurde entlarvt als Konstruktion und Zuschreibung. Welche Rolle spielte dabei der Raum? Über zwei Wochen lang diente die kommerzielle Maximiliansstrasse, ein Umfeld monetärer Interessen und sozialer Ausgrenzung, als Schauplatz. Dieser urbane (Sozial-) Raum fungierte letztlich als künstlerisches Material und Kommunikationsmedium. Er wurde zum Kontaktraum und Begegnungsraum. Als Freiheitsraum führte er Menschen zusammen, setzte soziale Prozesse in Gang, zeigte Grenzen auf und dehnte sie. Er transformierte gleichsam zum Palimpsest, wo Raumaneignung durch kollaborative Mitgestaltung erfolgt. THE FABRIC: DO IT TOGETHER lässt sich zusammenfassen mit folgenden Schlagworten: Subversion, Invasion, Intervention, Interaktion, Partizipation, Inklusion, Kollaboration, Transformation. Die Bedeutung dieser Kunst bleibt offen und unscharf. In ihrer Gesamtheit war sie mehr als die Summe ihrer Teile.

269 Vgl. S.M./K.E.D. 3. Hier besteht eine Verbindung zu Marcel Duchamp in Kapitel C 1.1. 270 Siehe Glossar. Hier besteht eine Parallel zu den Bezügen der ¨gallery (Kapitel C 2.4.). 271 Hier besteht eine Analogie zu Hans-Georg Gadamers Ästhetik von Spiel, Symbol und Fest in seiner Schrift Die Aktualität des Schönen (1977).

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2.6 B ESTANDSAUFNAHME Welche Erkenntnisse liefert der Blick auf die fünf nicht-kanonisierten Positionen transmedialer Gegenwartskunst hinsichtlich der Frage nach Kreativität? Die Fallbeispiele berücksichtigten im Besonderen folgende Schwerpunkte: • • • • •

Zugrunde liegende Rahmenbedingungen und interrelationale Vernetzungen Persönliche Haltungen Künstlerische Strategien Wirkungen Subjektive Erlebnisebenen

In allen Fallbeispielen zeigt sich, dass das Schreiben über transmediale Kunstformen eine Übersetzungsarbeit subjektiver, assoziativer272 Eindrücke, z.B. in Form von inneren Bildern und Erinnerungen, ins Medium der Verbalsprache ist.273 Zu 2.1 Alex Czinke und Julia Fehenberger Im ersten Fallbeispiel schafft eine transmediale Klang-Bild-betrachtende Strategie Zugänge zum Verbindenden zwischen visueller Kunst und Musik. Die Analyse stellt die ästhetische Erfahrung von Musik als einen immersiven Flow dar. Der Genuss dieser ästhetischen Erfahrung wie auch die Förderung durch andere sind gleichsam Schlüsselerlebnisse, welche die Motivation für weitere, intensive Musikerlebnisse stiften. Sowohl bei Alex Czinke als auch bei Julia Fehenberger geschieht künstlerisch-kreatives Denken und Tun in einer humorvollen Lebenshaltung. Die zentrale künstlerische Strategie ist die der narrativ assoziierenden Improvisation. Kunst fungiert hier als Projektionsfläche und Spiegel subjektiver Assoziationen und Sehnsüchte. Als ästhetische Erfahrung hat sie sinnstiftende, resiliente Wirkung, kann Geborgenheit und Trost vermitteln oder Lebenslust bereiten. Künstlertum und Kunstvermittlung sind hier nicht voneinander zu trennen aufgrund der Interrelationalität kreativen Erlebens. Zu 2.2 Robert Lippok und To Rococo Rot Robert Lippok ist gepackt vom physischen Erleben der Musik, vom Verschmelzen mit dem Klang. Ein Schlüsselelement seiner Entwicklung war die freiheitliche Förderung durch das Elternhaus. Er pflegt bewusst eine amateurhafte Experimentierfreude und Haltung der Neugier. Seine kreativen Strategien sind das Sammeln, Sor-

272 Lateinisch associare: vereinigen, verbinden, verknüpfen, vernetzen, steht für bewusste oder unbewusste Verknüpfung von Gedanken. 273 Sie ist ein Charakteristikum des Artistic Research.

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tieren und in-Beziehung-Setzen, das Baukastenprinzip, das collagierende CrossOver. Er benutzt Kommunikation als Arbeitsmaterial und co-kreativen Faktor. Sein künstlerisches Handeln ist Raumgestaltung in der Transmedialität von Analog und Digital. Künstlerische Strategien erweisen sich hier als Knotenpunkt der Künste. Zu 2.3 Claire Filmon Ein prägendes Schlüsselerlebnis für Claire Filmon war eine magische Kunsterfahrung als Kind. In einer vertrauensvollen Haltung des Suchens und Findens schöpft sie aus ihrem eigenen Vor- oder Unterbewusstsein (in der Metapher des »Secret Garden«) sowie aus Begegnungen mit anderen Menschen. Kunst erlebt sie als zwischenmenschliche Kommunikation, die Sprache der performativen Kunst als transmediale Sprache der Beziehung. Zu 2.4 Estella Mare und Pascale Ruppel – ¨gallery Vielfältige Beziehungen und ästhetische Erfahrungen sind auch bei Estella Mare und Pascale Ruppel zentrale Elemente der kreativen Prozesse. In einer Haltung der Offenheit greifen sie Zufälle auf, kombinieren Elemente, die eigentlich nicht zusammengedacht werden. Für Pascale Ruppel hat die schauspielerische Selbsterfahrung eine kompensatorische Wirkung. Beide schaffen am Ort der ¨gallery Kunst als Erfahrung – in der 5. Dimension, der Fantasie. Kunst entsteht im interrelationalen Kontaktraum, das Miteinander wird zur Kunst. Zu 2.5 Klaus Erich Dietl und Stephanie Müller – T HE FABRIC: DO IT T OGETHER Klaus Erich Dietl und Stephanie Müller wollen Grenzen dehnen und Lebensraum mitgestalten. Bei ihnen ist die prozesshafte, soziale Situation des DIT eine transmediale Kunstform. Ihre Haltungen, kreativen Strategien und Wirkungen fassen sich in folgenden Begriffen zusammen. Fest und Spiel, Subversion, Invasion, Intervention, Interaktion, Partizipation, Inklusion, Kollaboration und Transformation. Vernetzung Was haben die fünf Fallbeispiele gemeinsam? Abermals erweist sich Kreativität als komplexes Netzwerkphänomen. Die künstlerischen Strategien sind der Knotenpunkt der Künste. Im künstlerisch-kreativen Prozess fließen Einflüsse zusammen. Es geschieht gleichsam eine Regression in kindliches Empfinden und Denken. Kreative Prozesse können sinnstiftende Impulse auslösen. Der Spielraum der Kreativität erweitert Identität und Leben um die fünfte Dimension und ermöglicht so einen kathartischen Druckausgleich. Eine künstlerisch-kreative Haltung, ausge-

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drückt im Denken und Tun, kann helfen, für die überraschenden Spiel- und Ernstfälle, Sonder- und Wechselfälle des Lebens vorbereitet zu sein.274 Es stellte sich jeweils heraus, dass die künstlerisch-kreativen Prozesse aus einer sensiblen, offenen Grundhaltung heraus entstanden, die in diversen künstlerisch forschende Ansätze mündeten. Dabei wurden viele unterschiedliche Einflüsse in einer hohen intrinsischen Motivation und Selbständigkeit vernetzt. Der Flow der jeweiligen ästhetischen Erfahrungen erzeugte sinnstiftenden Genuss und Ansporn. Die Umsetzung der kreativen Ideen fußte auf der Grundlage komplexer kommunikativer Fähigkeiten. Kreatives Denken und Tun beinhaltete jeweils eine interrelationale Haltung, es ergab sich aus Beziehungen heraus und spiegelte diese wider. Neuorientierung geschah gerade in der Entgrenzung. Kreativität erwies sich als systemische Co-Kreativität. Folgende kreative Dynamiken lassen sich entlang der dargestellten kreativen Prozesse extrahieren. • • • • •

Sensibilität Selbständigkeit Genuss Kommunikation Beziehung

274 Vgl. Korenjak in: Hofmann 2007, S. 90.

3 Interrelationale Ästhetik des HOMO CREANS

Die bisherigen Erkenntnisse sollen nun zu einer Ästhetik des HOMO CREANS verknüpft werden. Diese wird in zwei kommunikativen Beziehungsachsen erschlossen: • Produzent und Kunstwerk • Rezipient und Kunstwerk

3.1 P RODUZENT

UND

K UNSTWERK

Die Beziehungsachse zwischen Produzent und Kunstwerk legt die Betrachtungsweise der Produktionsästhetik nahe. Diese fragt besonderes nach den Ursachen und Strategien der Kunstherstellung.1 Sie beginnt bei den Beziehungen des Produzenten zu seiner Innen- und Außenwelt, Bedürfnissen nach inspirierender Einsamkeit bzw. lebendiger Interrelationalität mit anderen Menschen und der Lebenswelt. Jedes kreative Werk nimmt die ganze Persönlichkeit in Anspruch: weitgespanntes Interesse, Offenheit für neue Erfahrungen, Risikobereitschaft, Flexibilität, ästhetisches Bewusstsein, Ängste, Zweifel, (Selbst-) Vertrauen und Liebe. 3.1.1 Künstlerischer Schaffensprozess entlang des kreativen Prozesses Der künstlerisch-kreative Prozess findet in der Präparation seinen Ausgangspunkt. Alles beginnt mit der Wahrnehmung. Kreatives Denken entspricht dem ästhetischen Denken2. Es verbindet sinnliche Wahrnehmung mit differenzierenden Reflexionen

1 2

Vgl. Semsch, Klaus: »Produktionsästhetik«, in: von Ueding 2005, S. 140-154. Wolfgang Welsch entwarf 1990 ein Konzept der Wissensgenerierung durch ästhetisches Denken. Alles nehme seinen Anfang in der genauen, sensiblen sinnlichen Wahrnehmung. Diese führe zu Assoziationen und ersten gedanklichen Verknüpfungen, um subjektive

326 | HOMO C REANS

zu neuen Erkenntnissen. Denken ist bereits Handeln. Verstehen ist ein schöpferischer Akt. Die Fallbeispiele verdeutlichten, dass künstlerisch-kreatives Denken, Tun und Erleben in der Ästhetischen Erfahrung einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben. Im Augenblick der Erkundung spürt der Protagonist Genuss und Lust, die ihn in Spannung, Überraschung und Staunen versetzt, die Fantasie anregt und das Wahrgenommene mit neuen Assoziationen verknüpft – eine Art positive Krise. Antrieb sind Begehren und Lust, die Entfesselung der Assoziationen und der Mitteilungsdrang. Während der Inkubation ereignen sich transformatorische Prozesse der Veränderung und Zerstörung gewohnter Strukturen. Der Germanist Hanns-Josef Ortheil beschäftigt sich mit den Entstehungsbedingungen künstlerischer Kreativität und schreibt, dass kreative Fantasiebildung im Spiel mit dem autobiographischen Selbst und seinen Erfahrungen zustande komme. 3 Existentielle Grenzerfahrungen der eigenen Subjektivität können jedoch auch bedrohlich und selbstzerstörerisch sein. 4 Bedingungen hierfür sind ein individuell empfundener Schutz- oder Freiheitsraum, die Offenheit für neue Wege, das Wagnis des Perspektivenwechsels, Regression ins Kindliche oder Unbewusste. Dies erfolgt mithilfe künstlerischer Erkenntnispraktiken. Die künstlerische Erkenntnis stellt sich ein in der Ästhetischen Erfahrung der Inspiration, im geheimen Garten der fünften Dimension der Fantasie, wo sich innere und äußere Realität miteinander in Beziehung setzen, wo die Dialektik des Menschen in eine Balance tritt, wo die zuvor angestaute Spannung sich im Flow entlädt. Die Befreiung von diesem Druck erkennt Donald Winnicott (1896-1971)

Bedeutung zu erzeugen. Sie werde reflektiert und in Beziehung gesetzt mit Vorerfahrungen. Schließlich werde aus Wahrnehmung und Erkenntnis ein vorläufiges Urteil gebildet. (Vgl. Welsch 1990, S. 49.) Der gegenwärtigen Ästhetik der Pluralität und Differenz stellt Welsch ihr vermeintliches Gegenteil an die Seite – die Anästhetik. Ein Anästhetikum ist ein Medikament zur Erzeugung einer Anästhesie, dem Zustand der Empfindungslosigkeit zum Zweck einer operativen oder diagnostischen Maßnahme. Anästhetik bezeichnet eine sinnliche betäubte Wirklichkeitserfahrung durch Reizüberflutung und entkörperte Virtualität. Der Begriff bezeichnet zudem die wertfreie Indifferenz, die Abwesenheit von gutem oder schlechtem Geschmack. Er komme aus dem Inneren der Ästhetik und stehe in ihrem Dienst. Beide seien gleichsam die zwei Seiten der Schönheit. Instanz der anästhetischen Subversion sei die Kunst. (Vgl. Welsch 1993, S. 36. Analog dazu sagte Botho Strauß 1989 über Georg Büchner: »Inmitten der Kommunikation bleibt er [der Künstler] zuständig für das Unvermittelte, den Einschlag, den unterbrochenen Kontakt, die Dunkelphase, die Pause. Die Fremdheit.« Strauß 2007, S. 113.). 3

Vgl. Ortheil 2000, S. 227-244.

4

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 212.

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als Übergang in einen intermediären Erfahrungsbereich an der Grenze zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Insbesondere die Künste ermöglichen eine solche Erfahrung.5 Im Arbeitsprozess der Inkarnation materialisiert sich die Ästhetische Erfahrung der Inspiration in einem kohärenten ästhetischen Produkt, bestehend aus einer äußeren Form, einem Inhalt und einem bestimmten Medium. Dieser Organisationsprozess erfordert Ehrgeiz, Fleiß und Ausdauer. In der Verifikation wird das emergente Werk zugänglich und kommunizierbar. Es wird sowohl vom Künstler als auch vom Rezipienten bewertet. 3.1.2 Künstlerische Strategien Die Auseinandersetzung mit Robert Lippok zeigte: ein Knotenpunkt der Künste liegt in den kreativen Erkenntnispraktiken, ausgedrückt in künstlerischen Strategien. Aus den Fallbeispielen lassen sich fünf übergeordnete künstlerische Strategien ermitteln: • • • • •

Forschung Spiel Komposition Zufall Vernetzung

Forschung Der künstlerisch forschende Ansatz der Wegbereiter transmedial entgrenzter Kunst hat eine dekonstruktivistische und gleichzeitig konstruktive interrelationale Grundhaltung. Ein mitunter humorvoll ironisches Bündnis aus poetischer Sinnlichkeit und analytisch intellektueller Reflexion entgrenzte die Kunst in neue Handlungs- und Beziehungsräume hinein und veranschaulichte, dass der Schnittpunkt zwischen Kunst und Wissenschaft in der fünften Dimension der Imagination liegt. Kunst verbindet subjektiv Emotionales mit logisch Rationalem, Bewusstes und Unbewusstes und muss/kann/sollte ebenso erschlossen werden. Ein künstlerisch forschendes Experiment öffnet sich auf Fragestellungen und Forschungsgegenstände hin, die für den Protagonisten subjektiv relevant sind. Künstlerische Forschung (vgl. Artistic Research) nutzt relevante Erkenntnismöglichkeiten und Forschungsmethoden aus den Bereichen der Alltagserfahrung, Kunst und Wissenschaft. Die forschende Strategie des Sammelns erkundet und erforscht Felder und Räume, sichert Spuren, analysiert und ordnet Erlebtes anhand bestimmter Kriterien. Sammeln ist eine Form des

5

Vgl. Winnicott 2012.

328 | HOMO C REANS

Denkens und Lernens.6 Das Inszenieren von Sammlungsprozessen bzw. die Spurensicherung geschieht in der Kartierung. Eine Karte bildet eine subjektive Welterfassung ab, erstellt neue Sinnzusammenhänge und betreibt damit Landnahme.7 Spiel »Das Moment des Zwecklosen, die Freude, die unabhängig davon ist, ob ein Ziel angestrebt und erreicht wird oder nicht [rückt] das Spiel in die Nähe des Schöpferischen und Künstlerischen.« JOHAN HUIZINGA/HOMO LUDENS

Kunst spielt jenseits der Norm.8 Das Spiel schafft eine eigene in sich abgeschlossene, fiktive und gleichzeitig reale symbolische als-ob-Welt. In dieser Welt gibt es verschiedene Spielformen: Improvisation spielt mit dem Automatismus der Intuition. Die spielerischen Variationen von Zitat, Wiederholung oder Serie sind der Strategie der Interpretation zuzuordnen. Der Zeichentheoretiker Rudi Keller unterscheidet drei Verfahren der Interpretation: Erkennen kausaler Zusammenhänge, Erkennen von Ähnlichkeiten, Anwendung regelbasierter Zusammenhänge. 9 Die Interpretation basiert auf dem kreativen Grundprinzip der Intertextualität bzw. Interpiktorialität. Darunter fällt auch das nachahmende bzw. interpretierende Spiel des Tableau Vivant. Komposition Die Komposition konstruiert oder dekonstruiert ein Konzept, schafft oder zerstört Ordnung und entwickelt neue Strukturen. Mithilfe von inneren und äußeren Bildern bzw. Versatzstücken aus seinem baukastenartigen Fundus bringt der Künstler Inhalt, Form und Medium in reflektierten Prozessen und nach einem gewählten Regelwerk auf einen gemeinsamen Nenner. Zufall Als Ursache einer Inspiration wird häufig geäußert: »Ich habe einfach Glück gehabt, zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten am richtigen Ort gewesen zu

6 7

Sontag 1983, S. 126f. Vgl. Heil 2007, vgl. Quint, Rosa: mapping florenz – Ein Projekt zur Stadterkundung, BDK-Mitteilungen 4/2011, S. 23-26.

8

Vgl. van den Berg in: Jansen 2009, S. 219.

9

Vgl. Brandstätter 2008, S. 19.

C K ÜNSTLERISCHE K REATIVITÄT

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sein.«10 Gemeint ist damit ein kontingentes Zufallsereignis. Im Zufall kreuzen sich Ort, Zeit und Umstände. Der Zufall ist der als unergründlich anerkannte Stimulus der Evolution. Dazu zählt auch der Fehler. Er greift plötzlich und unvorhergesehen in Ursache-Wirkungs-Relationen ein und schafft ständig Formen und Begegnungen. Der menschliche Geist ermächtigt sich diesen Zufallsrelationen durch Offenheit, vertrauensvolle Akzeptanz und Sinnzuschreibung. Sinnbildung erfolgt mithilfe von Imagination und ästhetischem Denken. So schafft der Mensch Ordnung und Orientierung und gestaltet daraus die eigene Existenz. Oft ist dies die entscheidende Bedingung für Kreativität. Vernetzung Künstlerische Kreativität vernetzt differenzierte Wahrnehmungsleistungen, Kontexte, Können, Selbst-Reflexion und Entscheidungen11. Vernetzende Neukombination vollzieht sich in künstlerischen Strategien wie Collage, Bricolage, Montage, Hybrid, Cross-Over, Intertextualität, Interpiktoralität, Multi-/Transmedialität, Palimpsest, Multisensorik, Recycling, Remix und Sampling.

3.2 R EZIPIENT

UND

K UNSTWERK »Jedes Werk läßt gleichsam für jeden, der es aufnimmt, einen Spielraum.« HANS-GEORG GADAMER12

Nun kommt der Rezipient ins Spiel. Für diesen Spielraum steht bei Hans-Georg Gadamer das Fest als Inbegriff des Selbstzwecks von Kommunikation und Gemeinschaft.13 Der Rezipient ist gleichsam kommunikativer Mitspieler im kathartischen Spielraum der Kunst. Berthold Brecht bezeichnet Rezeption als »schöne Fähigkeit des Erzeugens«, die aus Zuschauern Mitwirkende, aus Konsumenten Produzenten mache.14 Sinn und Bedeutung eines Kunstwerks werden nach dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser (1926-2007) erst im Vorgang der Rezeption hervorge-

10 Thomä, Dieter: Ethik der Kreativität. Konsequenzen für die akademische Bildung der Zukunft, in: Jansen 2009, S. 233. 11 auswählen, gewichten, verändern, umformen. 12 Gadamer 1977, S. 34. 13 Vgl. Gadamer 1977. 14 Vgl. Brecht, Berthold in: Hecht 1993, S. 297.

330 | HOMO C REANS

bracht.15 Entsprechend legt die Beziehungsachse zwischen Rezipient und Kunstwerk die Betrachtungsweise der Rezeptionsästhetik bzw. Wirkungsästhetik nahe. Diese fragt danach, wie Sinnzuschreibung im Prozess der Rezeption künstlerischer Werke entsteht.16 3.2.1 Rezeption als Kommunikation »Der Sinn eines Werks beruht auf der möglichen Mitarbeit des Betrachters. Wer ohne innere Bilder lebt, ohne Imagination und ohne Sensibilität, die man braucht, um im eigenen Innern Gedanken zu assoziieren, wird gar nichts sehen.« ANTONI TÀPIES17

An den Fallbeispielen wurde offensichtlich: Kommunikation ist Ausdruck zwischenmenschlicher Beziehung. Kunst entsteht aus Beziehung und in Beziehung. Beziehung wird zur Kunst. Sie hängt von der Haltung des Einzelnen zur Welt und zum Leben ab. In der erwartungslosen Offenheit für Begegnung, im Hier und Jetzt des Flow wird Kunst zum Kontakt- und Beziehungsraum, zum interrelationalen Erkenntnisraum, in der pluralen Einheit von Ich und Du. Das Kunstwerk als Repräsentanz und Vergegenwärtigung der ästhetischen Erfahrung wird jedes Mal neu geschaffen, wenn es ästhetisch erfahren wird. Der künstlerische Transformationsprozess als bewusstseinsbildender kreativer Akt setzt sich fort im Rezipienten, der über das Medium des Werks mit dem Werkschaffenden und mit sich selbst in kommunikativen Gedankenaustausch tritt. Kunstproduktion und -rezeption sind demnach Gesprächsformen. Selbst der Künstler steht seinem Werk als Rezipient gegenüber. Ein Gespräch beginnt bereits in der Vorsprachlichkeit und kann bis zum gemeinsamen Flow-Erleben gehen. Es kann sich sogar in der Stille des Schweigens ereignen. Ein Gespräch braucht einen gleichberechtigten Freiheitsraum. Die kontrollierte Lenkung eines Gesprächs gleicht einer Form von ideologischer Manipula-

15 Nach dem rezeptionsästhetischen Kunstbegriff ist »das Kunstwerk kein für alle Menschen identischer Artefakt im Sinne eines Aneignungsobjektes, sondern [es] konstituiert sich auf spezifische Weise in Abhängigkeit vom Rezipienten und den jeweiligen Rezeptionskontexten.« Uhlig 2005, S. 86. 16 Entstanden im Kontext der Literaturtheorie, befasst sich Rezeptionsästhetik heute mit allen Künsten. Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte, in: Warning 1994, S. 228-252. 17 Tàpies 1976.

C K ÜNSTLERISCHE K REATIVITÄT

| 331

tion. Die Auseinandersetzung mit Kunst birgt die Möglichkeit eines Gesprächs in sich, an deren Anfang und Ende ein gemeinsames Werk steht. In der Kunst berühren, bewegen und begleiten sich Menschen gegenseitig. Im geheimen Garten der Fantasie geschieht die fortwährende Entstehung des Werks. Die Beziehung ist die kreative und co-kreative Kraft, die Lebenswirklichkeit gestalten und Lebensraum transzendieren kann. Das Werk ist Projektionsfläche bzw. Spiegel dieser interrelationalen Prozesse. Folglich ist Kunst das Resultat eines interrelationalen Ereignisses zwischen Produzent, Werk und Rezipient. 3.2.2 Co-Autorschaft und Relationale Kunst Kreativität als Betriebssystem des Kunstschaffens verbindet die Künste zu einem transmedialen Kunstbegriff. Transmedial entgrenzte Kunst ist keine neue Kunstgattung, sondern vielmehr ein neues Kunstverständnis, eine Beschreibung des interrelationalen Wesens der Kunst. Es interessiert sich besonders für das Dazwischen der Künste, das Dazwischen von Produzent, Werk und Rezipient. Diese Interaktion und Partizipation entgrenzt den Autorbegriff18 und macht den Rezipienten zum CoAutor. Bereits 1994 schlug Harold McSwain in seinem Buch A Relational Aesthetic eine alternative ästhetische Position zur klassischen Ästhetik vor. Analog zu einer relationalen Metaphysik Harold Olivers entwickelte er Überlegungen zu einer unmittelbaren Ästhetischen Erfahrung.19 Besonders Relational Aesthetics (1998) von Nicolas Bourriaud gilt als Definitionstext eines neuen Kunstphänomens. Er definiert die offene Werkproduktion in Interaktion zwischen Werk und Rezipienten als relational art.20 Ein relationales Kunstwerk schaffe eine soziale Situation, an der Rezipienten gemeinschaftlich partizipieren. Die Bedeutung entstehe kollektiv auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen, die das Werk repräsentiere bzw. erzeuge. Der Ansatz der Nicht-relationalen Ästhetik von Charlie Gere und Michael Corris (2008) bringt ein, dass jeder Diskurs auch Vielfalt, Differenz und Abweichung beinhalte. Er versteht Kunst als ethische Begegnung mit dem Anderen nach der Idee der Gastfreundschaft.21

18 Vgl. Roland Barthes Tod des Autors. 19 Er entwickelte seine Positionen u. a. besonders aus Kant, Whitehead, Sherburne, Heidegger, Gadamer, und Dewey, deren voneinander unabhängige oder auch verbundene Ausführungen er als Wegbereiter einer relationalen Sichtweise darstellt. Vgl. McSwain 1994. 20 »a set of artistic practices which take as their theoretical and practical point of departure the whole of human relations and their social context, rather than an independent and private space.« Bourriaud 1998 bzw. 2010, S.113. 21 Vgl. Gere/Corris 2008.

332 | HOMO C REANS

3.2.3 Resümee: Interrelationale Ästhetik des HOMO C REANS Die hier entwickelte interrelationale Ästhetik des HOMO CREANS basiert auf der kathartischen Ästhetischen Erfahrung. Sie setzt Subjekt und Welt miteinander in wechselseitige Beziehung. Aus dieser Wechselwirkung erwächst eine interdependente, schöpferische Gemeinschaft. Schöpfertum wird geboren aus der Krise, aus dem Spiel, aus dem Zufall und aus der Freiheit bzw. erzeugt Freiheit in einer Interaktion von unbewussten und bewussten Beziehungsprozessen. Der co-kreative Vernetzungs- und Transformationsprozess als systemischer Gestaltungsprozess generiert neues Wissen. Die Transformation betrifft sowohl das Werk als auch den Werkschaffenden. Die Erfahrung der Kreativität ist also ein Lern- und Bildungsprozess, ist subjektive Welt- und Bedeutungsherstellung, Selbstbegegnung und Selbstentgrenzung.22 Das künstlerisch-kreative Werk ist ein narratives transmediales Kommunikationsmittel. Es vermittelt innere Bilder und weltanschauliche Auffassungen. Form, Inhalt und Medium lassen sich dabei nicht trennen. Das emergente Werk ist mehr als die Summe seiner Teile. Es schafft eine eigene Welt. Die Offenheit des Werks ist der Blinde Fleck. Durch diese Wunde kann man in einen kommunikativen Fluss eintreten. Das Werk macht den Schaffenden selbst zum Rezipienten. Auch der Rezeptionsprozess ist ein interrelationaler Schaffensprozess, ein Erkenntnisprozess mit dem Potenzial, Bewusstsein zu verändern. Das Werk ist Spiegel des Produzenten wie auch des Rezipienten. Der Flow des Produzenten kann sich im Rezipienten spiegeln und fortsetzen, im freien Zusammenspiel von sinnlicher Empfindung, Fantasie und Verstand. Die Spiegelung verläuft subversiv. Sie ermöglicht Intervention, Interaktion, Partizipation, Inklusion, Co-Kreation und schließlich Transformation vom Selbst und der Welt. Das macht Kreativität zur evolutorischen Kraft der Kultur.

22 Vgl. Foucault 1971, S. 367ff.

C K ÜNSTLERISCHE K REATIVITÄT

Abbildung 36: Interrelationale Ästhetik des Homo Creans

Quelle: Johanna G. Eder

| 333

D KREATIVITÄTSBILDUNG: KOPF, HERZ UND H AND

Auf dem Hintergrund einer altermodernen Gesellschaft mit ihren heterogenen Weltbildern und Lebensentwürfen ist der Einzelne herausgefordert, sich zu orientieren und sein Handeln mit Sinn zu belegen. Es bedarf der kreativen Grundkompetenz, Struktur in die wachsende Komplexität zu bringen und übergeordnete Zusammenhänge herzustellen, Sachverhalte einzuordnen und kritisch zu diskutieren. Der kreative Imperativ übt Stress auf das individuelle Leben aus. Die Erwartung, kreativ zu sein, ist gekoppelt mit der Bewertung dieser Kreativität. 1 Sie entsteht aber weniger unter dem Druck permanenter Selbstübertrumpfung, sondern in der Vertrautheit mit sich selbst, im Anknüpfen an die eigenen Stärken. 2 Als evolutorische Kraft der Kultur ist sie ein nicht-messbarer, persönlichkeitsbildender Prozess. Hartmut von Hentig merkt an, dass eine Fixierung auf die kognitive Entwicklung die Ausbildung der ganzen Person verhindere. Sie lasse elementare Erfahrungsmöglichkeiten verkümmern, die man im täglichen Leben brauche.3 Carl Peter Buschkühle plädiert für eine Bildung zur Mündigkeit durch eine Reflexionskultur.4 Die Bildung der Persönlichkeit scheint heute besonders wichtig. Das Schöpferische als Wesensmerkmal des Menschen gehört heute zu den zentralen Bildungsinteressen. Deshalb interessiert sich HOMO CREANS in Kapitel D für die Kreativitätsbildung. Es stellt ausgewählte, historische Bildungsansätze dar, skizziert Grundzüge der Kreativitätsförderung, Kreativitätspädagogik und Ästhetischen Bildung, präsentiert Ansätze künstlerischer Kreativitätsbildung mit ihren pädagogischen und methodischen Maximen und verknüpft Kreativitätsbildung mit Kunstpädagogik. Die drei metaphorischen Ebenen von Kopf, Herz und Hand fassen die Ergebnisse zusammen.

1

Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 242.

2

Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 243.

3

Vgl. von Hentig 1998.

4

Vgl. Buschkühle, Carl Peter: Künstlerische Bildung und Multimedialität, in: Brenk/Kurth 2005, S. 41.

1 Kreativitätsbildende Ansätze

Der Bildungsbegriff wird seit jeher kontrovers diskutiert. Schon die frühe Neuzeit kennt einen kreativen Bildungsbegriff in Pico della Mirandolas Leitfaden »Der Mensch ist Bildhauer seiner selbst«1 (1486). Selbstbildung macht sich selbstbestimmt ein Bild von sich und der Welt. Die Idee von Bildung als Beziehungs- und Gestaltungsprozess setzt sich fort. Bildung ist ein lebenslanger, interrelationaler 2, entgrenzender Formungsprozess der menschlichen Persönlichkeit. Er ermöglicht Mündigkeit und Orientierung.

1.1 J OHANN G OTTFRIED H ERDER , J OHANN H EINRICH P ESTALOZZI UND W ILHELM VON H UMBOLDT Johann Gottfried Herder (1744-1803) versteht Bildung als lebenslangen Gestaltungsprozess. »Was ich bin, bin ich geworden«3 Er fordert jeden Menschen dazu auf, aus sich selbst zu machen, »was aus ihm werden kann und soll«4. Das pädagogische Ziel des Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) ist die ganzheitliche Bildung des Menschen zur Selbständigkeit als kooperatives, demokratisches Gemeinschaftswesen. Sein Ansatz vermittelt zwischen der natürlichen Entwicklung des Kindes und den Regeln menschlichen Zusammenlebens. Die natürliche kindliche Entwicklung werde unterstützt durch die Dreiteilung in »Kopf, Herz und Hand«. Diese steht für Intellekt, Sitte und praktische Fähigkeiten. Eine Elementarbildung solle den Menschen dazu befähigen, sich selbst zu helfen. Eine

1 2

Zitiert in: Thomä in: Jansen 2009, S. 226/227. An die wechselseitige Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden gebunden. Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 233.

3

Herder 1778/1994, S. 359, zitiert in: Thomä in: Jansen 2009, S. 231.

4

Herder 1793-1797/1991, S. 164.

338 | HOMO C REANS

solche Bildung beginne im Elternhaus. Eltern sollten ihren Kindern entsprechende Vorbilder sein. In seiner Theorie der Bildung des Menschen (1793)5 spricht Wilhelm von Humboldt (1767-1835) von den Mühen der Selbstwerdung. Der Mensch strebe nach Selbstentgrenzung, nach der Verknüpfung des Ichs mit der Welt. Die offene Entwicklung des Individuums gelinge im Erfahrungsprozess, in freier Wechselwirkung zwischen Individualität und Sozialität.6 »Der Mensch soll alle Verhältnisse, in denen er sich befindet, auf sich einwirken lassen, den Einfluss keines einzigen zurückweisen, aber den Einfluss aller aus sich heraus und nach objektiven Prinzipien bearbeiten. […] Je mehr er sich demselben öffnet, desto mehr neue Saiten werden in ihm angespielt.«7

Hier plädiert Wilhelm von Humboldt für einen interrelationalen, selbstbildenden Prozess. Universitäre Bildung solle sich in einem eigenverantwortlich gestalteten Freiraum mit der Vielfalt des Lebens auseinandersetzen. Voraussetzung hierfür sei die äußere Freiheit von staatlichen Eingriffen wie auch die innere Freiheit. 8

1.2 R ALPH W ALDO E MERSON

UND

F RIEDRICH N IETZSCHE

Ralph Waldo Emerson (1803-1882) versteht wechselseitige soziale Beziehungen, z.B. gegenseitige Anteilnahme und Anerkennung, als konstitutiven Bestandteil individueller Kreativität. Einen Freund in seiner Leistung zu bestätigen, könne jedoch hemmen.9 Die Unvollkommenheit in Beziehungen sei eine notwendige Voraussetzung für Entwicklung.10 Man könne im Nächsten das Fernste finden, im Wirklichen das Mögliche, in der Gegenwart die Zukunft – in der Suche nach dem Andersartigen das Unbekannte in sich selbst und im Anderen.11 »Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig,

5

Er ist ein Zeitgenosse zu Schillers ästhetischen Briefen.

6

Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 226.

7

Humboldt 1984, S. 38f.

8

Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 236/237.

9

Vgl. Emerson 1983, S. 350.

10 Diejenigen, die zurückweisen, »bauen einen Himmel vor uns auf, von dem wir nicht geträumt haben, und […] fordern uns auf, Neues, bislang Unversuchtes zu vollbringen« Emerson 1983, S. 604. 11 Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 241.

D K REATIVITÄTSBILDUNG : K OPF , H ERZ

UND

H AND

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alle Menschen göttlich.«12 Hier wird Ralph Waldo Emerson zitiert von Friedrich Nietzsche (1844-1900). Um Zugang zum Anderen in sich selbst zu finden, bedürfe es eines anderen Menschen. Dahinter steckt der Begriff der Fernstenliebe.13 Auch für Friedrich Nietzsche liegt der Schlüssel der Kreativität in einer aktiv gestaltenden Lebensführung, im Prozess fortwährender Umgestaltung. Seine Ethik der Kreativität öffnet sich auf Bewegung, Ambivalenz, Unabgeschlossenheit, Zukunftsträchtigkeit, menschliche Interaktion und das Ekstatische im Sinne einer Selbstentgrenzung.

1.3 M ARIA M ONTESSORI

UND

K URT H AHN

Für die Reformpädagogin Maria Montessori (1870-1952) gründet jede intellektuelle Tätigkeit auf einer komplexen sinnlichen Wahrnehmung. Das Zusammenwirken der einzelnen Sinne führe zu ganzheitlichen Erlebnissen. Die entsprechende Sensibilität dafür könne durch praktisches Tun eingeübt und gesteigert werden. Maria Montessoris Motto »Hilf mir, es selbst zu tun« ähnelt Johann Heinrich Pestalozzis Ansatz.14 Für Kurt Hahn (1886-1974), den Begründer der Erlebnispädagogik, soll jeder Jugendliche seine persönliche schöpferische Leidenschaft finden. Er will Chancen aufzeigen, unentdeckte Fähigkeiten bei sich selbst zu fördern.15 In den Sieben Salemer Gesetzen formuliert Kurt Hahn sein ganzheitliches Bildungskonzept:16 • • • • • • •

Selbstentdeckung Erleben von Erfolg und Scheitern Selbsthingabe an eine gemeinsame Sache Zeiten der Stille Üben von Fantasie Wetteifer Gefühle der Privilegiertheit ausräumen

12 Nietzsche 1988, Bd. 3, S. 343, vgl. Emerson 1983, S. 242. 13 Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 242. 14 Vgl. Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 184. 15 Kurt Hahns erlebnispädagogischer Ansatz wird zuweilen kritisiert, da die erste KurtHahn-Schule eine neue nationale Führungselite hervorbringen sollte, die sich durch Verantwortungsbewusstsein, Handlungsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit auszeichnet. Vgl. Fischer/Ziegenspeck 2008. S. 227ff. 16 Noch heute bilden diese Gebote die Grundlage der Erziehung in den Internaten Schule Schloss Salem und Gordonstoun sowie in den United World Colleges (UWC).

340 | HOMO C REANS

1.4 K REATIVITÄTSFÖRDERUNG

UND

H EMMNISSE

Jeder Mensch hat kreatives Grundpotenzial vorausgesetzt, er lässt diese natürliche Fähigkeit nicht verkümmern. Doch die kreative Produktivität kann durch zahlreiche Faktoren qualitativ wie quantitativ unterstützt und gefördert werden.17 1.4.1 Kreativitätsförderung Populäre Ratgeber versprechen eine Kreativitätssteigerung durch strukturierte Techniken und konkrete Handlungsanweisungen. So sollen folgende kreative Merkmale trainiert werden: Fluktualität, Flexibilität, Originalität, Sensitivität, Komplexitätspräferenz, Elaboration, Ambiguitätstoleranz.18 Karsten Noack (2008) unterscheidet drei Oberkategorien kreativitätsfördernder Techniken19: Assoziative Techniken, bildliche Techniken und Analogien, systematisches Vorgehen. Assoziative Techniken Zu den assoziativen Techniken gehört das Brainstorming und Brainwriting sowie das Clustering der Ideen in Mindmaps. Ziel ist eine möglichst hohe, vielfältige Anzahl verschiedener Ideen. Simone Ritter (2012) sieht eine Gefahr darin, dass man beim gemeinsamen Brainstorming aufgrund eines unterbewussten Konformitätsdrangs die Ideen anderer imitiere. Dies behindere letztlich die Kreativität und führe nicht zu divergentem Denken. Sie merkt an, dass man deutlich mehr und bessere Ideen bekäme, wenn man zunächst für sich alleine brainstorme und die Ideen erst später in einer Gruppe zusammenfüge. Dies entspricht der Methode des think-pairshare.20 Bildliche Techniken und Analogien Bildliche Techniken arbeiten besonders mit Visualisierungen und dem Phänomen der Bisoziation. Reizworte und bildhafte Vergleiche können analoge (Sprach-) Bilder erzeugen. Ziel ist es hier, originelle und komplexe Ideen zu unterstützen. Systematisches Vorgehen In den Bereich des systematischen Vorgehens fällt die Methode der reverse assumption, bei der man sich das Gegenteil vorstellt. Auch Checklisten und Rollen-

17 Vgl. Funke in: Dresler/Baudson 2008, S. 33. 18 Vgl. Kirchner/Peez: Kreativität in der Schule, in: Kunst und Unterricht, Heft 331/332 2009, S. 17. 19 Vgl. Noack 2008. 20 Vgl. Ritter 2012.

D K REATIVITÄTSBILDUNG : K OPF , H ERZ

UND

H AND

| 341

spiele fallen in diesen Bereich. (z.B. die Osborn-Checkliste21, Walt-DisneyMethode22). Abbildung 37: Walt-Disney-Methode

Quelle: Johanna G. Eder »Auch wenn es entsprechende Trainingsprogramme für die Steigerung von Kreativität gibt, muss dabei bewusst sein, dass diese Techniken jeweils nur einzelne Aspekte eines komplexen Ganzen erfassen können«, mahnen Kirchner/Peez (2009).23

21 Ein Problem wird nach folgenden Gesichtspunkten analysiert: Anders verwenden, anpassen, verändern, vergrößern, verkleinern, umformen/ersetzen, ins Gegenteil verkehren, kombinieren, transformieren. Vgl. Noack 2008, S. 73/74. 22 Vgl. Noack 2008, S. 74-79. 23 Kirchner/Peez 2009, S. 13.

342 | HOMO C REANS

Tatsächlich ist Kreativitätsförderung durch Kreativitätstechniken kritisch zu sehen. Denn Kreativität ist ein Interaktionsprozess zwischen einem Protagonisten und einer kreativitätsförderlichen Lebenswelt. Kreative Leistungen können nicht verordnet werden. Die notwendige Spontaneität kann man nicht methodisieren. Kreativität lässt sich nicht herstellen. Aber deren Verhinderung kann man vermeiden durch das Schaffen guter Rahmenbedingungen. 1.4.2 Hemmende und stützende Faktoren Faktoren, die Fantasie und Kreativität hemmen können, sind allen voran Übersättigung, Versagensangst, Medienverwahrlosung, Alkohol- und Drogenmissbrauch.24 Hemmend ist ein Zuviel an: Reizen, Spielzeug, Ordnung, Routine, Wissen, fertige Lösungen, autoritäre Fremdbestimmung, Vorgaben, Übereifer, Zwang, übermäßiger Zeitdruck, Erwartungsdruck, Instrumentalisierung, Bequemlichkeit, Hilflosigkeit, Abhängigkeit, Pessimismus, Spott und Kritik. Je mehr Kontrolle und Konditionierung von außen erfolgt, desto stärker sind kreativitätsbildende Phänomene wie Dialog im Team, Akzeptanz, Anerkennung vielfältiger individueller Fähigkeiten oder Gleichberechtigung gefährdet. Hemmend ist ein Zuwenig an: Mut, Vertrauen, Selbstwertgefühl, Motivation und Interesse, anerkennender Bestätigung. Neid, Hass und Gewalt zerstören Kreativität. Intrinsisch motivierte Kreativität kann sich allerdings gerade auch unter widrigen Bedingungen entwickeln und ist die resiliente Krisenbewältigungskompetenz des Menschen. Not macht erfinderisch.25 Es gibt vielfältige stützende Faktoren. Neben einer heterogenen, diversitären, komplexen, multisensorisch und kognitiv anregenden Umwelt müssen nötiges Wissen und auch genug Selbständigkeit und intrinsische Motivation vorhanden sein. 26 Ein gewisses Maß an Druck, eine kleine selbstempfundene Not (z.B. eine Entbehrung oder Erwartung), ein Rückzugsort, Rituale und besonders zustimmende Begleitung27 können unterstützend wirken. Eine Atmosphäre der Freiheit und Sicherheit sowie Toleranz und Offenheit für divergente Problemlösungen können ebenso förderlich sein wie eine Anleitung zur Selbstreflexion.28 Denn entscheidend ist die kritische Reflexion der Ideen und Umsetzungen. Ohne Kritik fehlt die Selektion. Das Wechselspiel von kreativem Handeln, Reflektieren und Entscheiden hilft, tolle Ideen von mittelmäßigen zu unterscheiden. Genau das macht sie origineller, sensibler, komplexer und elaborierter. Welche Entwicklungen angestoßen werden, liegt

24 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 185. 25 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 80. 26 Vgl. Funke in: Dresler/Baudson 2008, S. 36. 27 Vgl. von Hentig 1998, S. 72-75. 28 Vgl. Schmidt 1988, S. 37f, in: Kirchner/Peez 2009, S. 18.

D K REATIVITÄTSBILDUNG : K OPF , H ERZ

UND

H AND

| 343

aber letztlich an der intrinsischen Motivation, Selbstregulierung und kreativen Grundhaltung des Protagonisten.29

1.5 K REATIVITÄTSPÄDAGOGIK

UND

BIP

Die Kreativitätspädagogik ist ein experimentelles Teilgebiet der Pädagogik. Sie erforscht Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozesse von Kindern und Jugendlichen, entwickelt Konzepte und praktische Bedingungen, um das individuelle kreative Potenzial von Kindern zu erfassen, ganzheitlich zu entwickeln und in kreative Ideen, Erfahrungen und Ergebnisse umzuwandeln. Bekannte Vertreter sind Hans-Georg und Gerlinde Mehlhorn. Hans-Georg Mehlhorn (1940-2011) kam aus der Intelligenz- und Hochbegabtenforschung. Von 1988 bis 1993 untersuchte er in wissenschaftlichen Modellversuchen die Wirkung pädagogisch initiierter kreativer Tätigkeiten auf die allumfassende Förderung. Daraus entwickelte er das Konzept der privaten, staatlich genehmigten BIP Kreativitätsschulen. Dieses Bildungs- und Erziehungskonzept wird durch ein in sich geschlossenes eigenständiges Bildungssystem realisiert. Es zielt auf die Leistungssteigerung mithilfe der Kreativitätsförderung, durch die Entwicklung des Begabungspotentials, der Intelligenz und der zugehörigen Persönlichkeitsqualitäten. Dafür steht BIP.30 Kreativitätsbildung bedeutet hier, »sich hohen Anforderungen zu stellen, Schwierigkeiten nicht als Hindernisse, sondern mutig als Herausforderungen zu betrachten, und vor allem immer neue Lösungswege zu suchen und zu finden. Verschiedenste Talente werden entdeckt und geschult, was die […] Kinder zu vielseitig interessierten Entdeckern macht, die willensstark und kreativ ihren eigenen Weg beschreiten.«31

Mit Freude am Lernen könnte jedes Kind sein individuelles Leistungspotenzial voll ausschöpfen, sich selbst vertrauen, seine vielseitigen Begabungen entdecken und weiter entwickeln. Kreative Prozesse werden dabei als Problemlösungsprozesse begriffen, deren erfolgreicher Verlauf durch eine hohe, intrinsische Motivation geprägt ist. BIP vertritt die Position, dass hohe kreative Leistungen auf der Einheit von fünf Dimensionen basieren:

29 Vgl. Kirchner, Constanze und Peez, Georg: Kreativität in der Schule, in: K+U Heft 331/332 2009. 30 Vgl. Mehlhorn, Hans-Georg: Pädagogik der Kreativität – Kreativitätspädagogik, in: Dresler/Baudson 2008, S. 64-76. 31 http://www.bip-portal.de/ (03.04.2016).

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Hohes Niveau logischen Denkens Entwickelte sprachliche und fremdsprachliche Kommunikationsfähigkeiten Hohes künstlerisch- ästhetisches Niveau Entwickelte (psycho-)motorische Fähigkeiten Ein hohes emotional-soziales Niveau

Das BIP-Konzept bedient durch die starke Leistungsorientierung tendenziell die Instrumentalisierung von Kreativitätsbildung.

1.6 ÄSTHETISCHE B ILDUNG Bildungsprozesse fußen oft auf ästhetischen Erfahrungen.32 Welche pädagogische Bedeutung hat die ästhetische Erfahrung? Wie werden die für ästhetische Erfahrungen konstitutiven Entgrenzungen des Subjekts bildend wirksam? Auf diesen Fragen gründet der Ansatz der Ästhetischen Bildung. »Ästhetische Bildung wird […] verstanden als reflektierende und in Urteilen sich präsentierende Bildungsform, die […] das in-Beziehung-Setzen von Wahrnehmungen, Erfahrung und Imagination auf der einen und Kunst, Schönheit und die mit ihr verbundenen Zeichen und Symbole auf der anderen Seite betrifft.«33

Dies impliziert die (lebenslange) Allgemeinbildung durch künstlerische und symbolhafte Ausdrucksformen wie Musik, Tanz, Theater und Bildende Kunst. 34 Ästhetische Bildung integriert die pädagogischen Potenziale von individuellen Erfahrungen in den Bereichen Emotionalität, Fantasie, Spiel, Experiment und sinnlicher Wahrnehmung. Deshalb beginnt Ästhetische Bildung bei der Entfaltung der Sinne. Denn körperliche und emotionale Wahrnehmungsprozesse, Denken und Erinnerungen sind Ausgangspunkt aller Selbst- und Welterfahrung. Sie werden über das Bewusstsein reguliert und umgestaltet. Erinnerungen und Vorstellungen werden miteinander verglichen. Aus Vorstellungskraft wird Fantasie. Die Ästhetische Bildung in den frühen Lebensjahren hat einen besonders hohen Stellenwert. Kindliche Entwicklungsprozesse suchen neugierig spielerische, kreative Möglichkeiten, sich in der Welt zu orientieren und auszuprobieren. Hildegard Bockhorst vertritt die These, dass Kinder Spiel und Gestaltung brauchen. Darin erleben sie Rationalität und Irra-

32 Vgl. Dietrich 2013, S. 24-32. 33 Richter 2003, S. 20. 34 Vgl. Reinwand, Vanessa-Isabelle: Künstlerische Bildung – Ästhetische Bildung – Kulturelle Bildung, in: Bockhorst 2012, S. 108-115.

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tionalität, Kreation und Rezeption, Fingieren und Imaginieren. 35 Die Ästhetische Bildung nach Gert Selle fordert einen Fokus auf die Kunst. Aneignungsformen und künstlerische Praxen stehen hier im Mittelpunkt.36 Ästhetische Bildung ist eine Form der Kreativitätsbildung. Sie hat ihren Ausgangspunkt in der Ästhetischen Erfahrung. Lernprozesse sollten so gestaltet sein, dass sie vielfältige sinnliche Erfahrungen ermöglichen. Ziele sind die Bildung der Sinne, der Gefühle, der Vorstellungswelt und Fantasie mit den Mitteln des Spiels und des Gestaltens. Künstlerisches Tun unterstützt diese Bildungsanliegen.

35 Vgl. Bockhorst 2006. 36 Vgl. Peez 2005, S. 23-30.

2 Künstlerische Kreativitätsbildung

Seit der Frühromantik rechtfertigte Friedrich Schillers Ästhetik Kunst als Mittel zur ganzheitlichen Menschenbildung und zum Aufbau der Gesellschaft. Vielfältige utopistische Ansätze und Forderungen nach ästhetischer Umgestaltung des Lebens, nach Durchdringung von Kunst und Leben, entwickelten sich bis hinein ins 20. Jahrhundert. In Ausrichtung an den Menschenbildern, den gesellschaftlichen Entwicklungen und Bildungsansprüchen entstanden verschiedenste Ansätze künstlerischer Kreativitätsbildung.

2.1 W EGBEREITER KÜNSTLERISCHER K REATIVITÄTSBILDUNG Im Folgenden werden drei wegbereitende Ansätze künstlerischer Kreativitätsbildung dargestellt: das Bauhaus, das davon inspirierte Black Mountain College und die Freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung nach Joseph Beuys. Diesen Beispielen liegen jeweils ein entgrenztes Kunstverständnis sowie ein besonderer Schwerpunkt auf Kreativität zugrunde. 2.1.1 Bauhaus »Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau« BAUHAUS MANIFEST 19191

Im Jahr 1919 gründete der Architekt Walter Gropius (1883-1969)2 das Staatliche Bauhaus in Weimar, eine progressiv-interdisziplinäre, staatliche Hochschule für

1 2

Manifest 1919 in: Wick 1994, S. 30/31. Nach 1928 sorgte Walter Gropius durch Vorträge im In- und Ausland für die weltweite Bekanntheit.

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Bau und Gestaltung, entstanden aus der Verschmelzung der Weimarer Kunstakademie und der Kunstgewerbeschule unter Angliederung einer Architekturabteilung.3 Das Bauhaus steht für einen interdisziplinären Netzkörper. Sein Manifest erklärt das entgrenzte Konzept, in dem eine Einheit der Künste und dem Handwerk propagiert wird: »Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine »Kunst von Beruf«. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. [...] Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte.«4

Die am ganzheitlichen Bau ausgerichtete Künstlerausbildung des Bauhauses fußte auf den Idealen der gotischen Bauhütte5 und den am Bau einer ästhetischen Gesellschaft orientierten Gedanken Friedrich Schillers. Es ging um die Gestaltung eines ästhetischen Gesamtkunstwerks im Zusammenwirken aller Kunstgattungen. Dazu nahm das Bauhaus Einflüsse der Arts and Crafts Bewegung und des Jugendstils um 1900 sowie des Expressionismus und des Konstruktivismus auf. Das Bauhaus stand der niederländischen Künstlervereinigung De Stijl nahe. Es löste eine internationale Stilbewegung in Design, Architektur und Städtebau aus, welche die Kunst ins Leben einbinden wollte, sich um Klarheit, Funktionalismus und die Verwendung neuer Materialien bemühte. Das Motto form follows function6 stand gleichsam für die gestalterische Maxime. Der Topos des Baus wurde in zweierlei Hinsicht verfolgt: in der Gestaltung von Lebenswelt durch Architektur und durch die ganzheitliche Menschenbildung. Noch heute gilt das historische Bauhaus als Brutstätte der Avantgar-

3

1924 zog die Schule in das programmatische Bauhaus Gebäude in Dessau um. 1928 übernahm der Architekt Hannes Meyer (1889-1954) die Leitung, die 1930 wiederum an den Architekten Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969) überging. 1932 zog das Bauhaus nach Berlin. 1933 wurden bei einer Polizeiaktion gegen das Bauhaus zahlreiche Studenten durchsucht und inhaftiert. Die Nazis erzwangen schließlich die Selbstauflösung dieser »Brutstätte des Kulturbolschewismus«, die den Forderungen der Gestapo nicht nachkam. Das Bauhaus hatte insgesamt ca. 1250 Schüler, von denen die meisten Architekten oder Designer wurden.

4 5

Gropius, Walter zitiert in: Broer 1997, S.127/128. Im interdisziplinären Werkstattverband sind alle in solidarischer Brüderlichkeit dem einen mystischen Ideal und gemeinsamen Ziel des gotischen Dombaus verschrieben.

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Engl.: Die Form folgt der Funktion. Sinngemäß: die Ästhetik steht im Dienst der Pragmatik.

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de und der Klassischen Moderne und ist ein Synonym für moderne Architektur und Design. Die ganzheitliche Lehre verband künstlerische Ausbildung mit wissenschaftlich-systematischem Unterrichtsstil und basierte auf einer gründlichen, handwerklichen Grundausbildung. Die beiden pädagogischen Schwerpunkte – die intuitive Methodenlosigkeit und die Einheit – kommen in folgenden Zitaten prägnant zum Ausdruck: »Kunst entsteht oberhalb aller Methoden, sie ist an sich nicht lehrbar, wohl aber das Handwerk. Architekten, Maler, Bildhauer sind Handwerker im Ursinn des Wortes, deshalb wird als unerläßliche Grundlage für alles bildnerische Schaffen die gründliche handwerkliche Ausbildung aller Studierenden in Werkstätten und auf Probier- und Werkplätzen gefordert.«7

Der ganzheitliche Gedanke des Bauhauses ist »die Idee der neuen Einheit, die Sammlung der ‚vielen Künste‘, ‚Richtungen‘ und Erscheinungen zu einem unteilbaren Ganzen, das im Menschen selbst verankert ist und erst durch das lebendige Leben Sinn und Bedeutung gewinnt.«8

Eine entgrenzende Einheit sollte erreicht werden durch die Vereinigung aller werkkünstlerischen Disziplinen9 und die Verbindung von Kunst, Handwerk und Technik.10 Dieses Einheitsbestreben setzte sich fort in der Lern- und Arbeitsgemeinschaft sowie der Lebensgemeinschaft von Lehrkörper und Studierenden. Zentrales Schlüsselmoment war die individuelle Förderung und Erhaltung des Schöpferischen, das jedem innewohne und das sich im Typus des Wissenschaftler-Künstlers auspräge. Die Ausbildung gliederte sich in einen Vorkurs, Werkstattarbeit und Arbeit am Bau – je nach Fachrichtung in unterschiedlicher Gewichtung. Das vielfältige Leben am Bauhaus konnten die Studierenden mitgestalten.11

7 8

Grundsätze des Bauhauses, Manifest 1919 in: Wick 1994, S. 30/31. Gropius, Walter: Idee und Aufbau des Bauhaus,1923, in: http://www.kunstzitate.de/bil dendekunst/manifeste/bauhaus_1923.htm (15.04.2013).

9

Bildende Kunst, Musik, Tanz, Theater.

10 »Die alten Kunstschulen müssen wieder in der Werkstatt aufgehen. Die Schule ist die Dienerin der Werkstatt, sie wird eines Tages in ihr aufgehen.« Manifest 1919 in: Wick 1994, S. 30/31. 11 Z.B. Feste, Vorträge, Theater auf der Bauhausbühne, Konzerte, Bauhausbücher, Zeitschriften.

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Im offenen, experimentellen Vorkurs12 standen die schöpferische Individualität der Studienanfänger, ihre intuitive Erlebnisfähigkeit und ihr kognitives Erkennen im Mittelpunkt. Dem Entwicklungsstand entsprechend konnten sie ihre freiheitliche Schaffenskraft erproben. Selbsterfahrung und Sensibilisierung sollten bei der Selbstfindung und Entscheidung für einen bestimmen Studienschwerpunkt helfen. Der Elementarunterricht des Vorkurses bereitete zudem die handwerkliche Grundlage der Ausbildung. Dort wurden bildnerisch-praktische Arbeitsweisen und -mittel, Wahrnehmung und Beobachtung sowie grundsätzliche Gestaltungsprinzipien systematisch vermittelt. Die Studierenden erhielten zudem Unterricht in Kunsttheorie, Mathematik, Physik und Anatomie. Hierbei standen zwei Meister beratend zur Seite. Der Werkmeister oder Meister des Handwerks vermittelte handwerkliche, technische Kenntnisse. Der Formmeister oder Meister der Form vermittelte theoretische Grundlagen und brachte schöpferische Ideen ein. Auf den Vorkurs folgte die Lehrwerkstatt, eine Durchdringung von Werk- und Formlehre, die sich aufteilte in verschiedene künstlerisch-handwerkliche Werkstätten.13 Die Lehrwerkstatt ging über in die Produktivarbeit – z.B. in Zusammenarbeit mit der Industrie. Das aus der Anwendung bezogene Wissen mündete wieder in die Lehrwerkstatt. Der dynamische Lehrkörper des Bauhauses setzte sich zusammen aus avantgardistischen Persönlichkeiten und Individualisten mit ihren verschiedenen Schwerpunkten und Meinungen.14 Nach der Schließung des Bauhauses emigrierten viele von ihnen in die USA und fanden Arbeit im Black Mountain College. Ab 1937 stand das New Bauhaus Chicago unter der Leitung des in die USA emigrierten László Moholy-Nagy.

12 Bis 1923 hatte Johannes Itten die Leitung, ab 1923 Josef Albers und László MoholyNagy. Harmonisierungslehre: Gertrud Grunow. 13 Z.B. Bildhauerei, Bühne, Glasmalerei, Fotografie, Keramikwerkstatt, Metallwerkstatt, Tischlerei, Typografie/Reklame, Wandmalerei, Weberei. 14 Unter den internationalen Lehrern, Meistern und Professoren waren: Ilse Gropius, Walter Gropius, Josef Albers, Johannes Itten (1888-1967) Farbtheorie, leitet den Vorkurs, Wassily Kandinsky (1866-1944) Wandmalerei, freie Malerei, Paul Klee (1879-1940), Oskar Schlemmer (1888-1943) Maler, Graphiker, Bildhauer, Wandgestalter, Ballettschöpfer, Bühnenbildner, Bühnenwerkstatt, Bildhauer-Abteilung, Lyonel Feininger (1871-1956) Maler, Graphische Werkstatt, Lucia Moholy, Laszlo Moholy-Nagy (1895-1946) Experimente mit Licht, Film, Kinetik, Metallwerkstatt, Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969), Wilhelm Wagenfeld (1900-1990) erst Student, dann Metallwerkstatt, Marcel Breuer (1902-1981) erst Student, dann Möbelwerkstatt. Sie verband die Tendenz zur Abstraktion sowie mitunter sozialistisches, esoterisches Gedankengut.

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In der Beziehung zwischen Kunst und Handwerk verfolgte die Bauhauspädagogik einen Ansatz der ästhetischen Sensibilität und des selbständig gestaltenden Tuns im Sinne einer allumfassenden schöpferischen Kompetenz. Aufgrund der Durchdringung der Denkweisen und Lebensbereiche seiner Mitglieder sowie ihrer fehlenden Distanzierungsmöglichkeit muss es jedoch auch dem Ideologieverdacht standhalten.15 2.1.2 Black Mountain College Das Black Mountain College wurde 1933 in Asheville/North Carolina/USA vom Musikwissenschaftler John Andrew Rice (1888-1968) gegründet und bestand bis 1957. Es verfolgte ein transdisziplinäres Curriculum mit offenem Abschluss. Daraus gingen viele einflussreiche Persönlichkeiten und Avantgarde-Künstler hervor.16 Viele Absolventen ergriffen später auch ganz andere Berufe. Künstlerischer Leiter war Josef Albers. Neben Walter Gropius und Marcel Breuer brachte er die kunstpädagogischen Ideen des Bauhauses mit ein. Nach 16 Jahren am College begegnete er Willem de Kooning, es kam zu einem Wechsel und Josef Albers verließ das College. 1944 gründete man die Summer Art School, wo entgrenzende Verfahren der Kunst thematisiert wurden. Dafür holte man Künstler und Kunstkritiker mit enger Verbindung zum Kunstgeschehen in New York.17 Basierend auf John Deweys pädagogischer Konzeption vertrat das Black Mountain College eine liberal arts education, eine progressive, experimentelle, interdisziplinäre Kunstpädagogik basierend auf den septem artes liberales und den Idealen der Aufklärung. Es gründete auf der zentralen Wichtigkeit künstlerischen Ausdrucks in jeglichem Lernprozess, frei von instrumentalisierenden Interessen. Kollegium und Studierende waren demokratisch geleitet. Folgende Disziplinen wurden gelehrt: Bildende Kunst, Theater, Literatur, Musik, Architektur, Geschichte, Physik, Ökonomie. Das Ehepaar Albers lebte mit den Studierenden auf dem Campus. Das allgemeinbildende Curriculum mit natur- und geisteswissenschaftlichen Fächern hinterfragte Gattungsgrenzen. Besonderen Stellenwert hatte die künstlerische und musische Ausbildung. Die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit

15 Vgl. Wick 1994; vgl. Droste 2012; vgl. Friedewald 2009; vgl. Haftmann 2000; vgl. Krieger 2007; vgl. Walther 2005; vgl. Wünsche 1997. 16 Lehrer: Josef und Anni Albers, John Cage, Merce Cunningham, Albert Einstein, Richard Buckminster Fuller, Walter Gropius, Allan Kaprow, Franz Kline, Willem de Kooning, Robert Motherwell; Schüler: John Chamberlain, Cy Twombly, Robert Rauschenberg 17 Vgl. Fischer-Lichte in: Wirth 2002, S. 277-300; vgl. http://education.stateuniversity.com/ pages/2369/Rice-John-1888-1968.html (07.04.2013). Vgl. Busse, Klaus-Peter: Ein College als »hot spot«. Mythos Black Mountain, in: K+U Heft 331/332 2009, S. 62/63.

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Kunst, Musik, Theater, Literatur und Kunsthandwerk sollte auch das Studium der anderen Fächer beeinflussen. Denn man verstand die Künste als zentral für die Selbstentfaltung und die Entwicklung der Kreativität. 2.1.3 Freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung FIU In den 1960er Jahren trug Joseph Beuys’ Erweiterter Kunstbegriff entscheidend zum Paradigmenwechsel in der Kunst bei. Jeder könne sich mit seinen individuellen, kreativen Fähigkeiten einbringen und selbstbestimmt zum Bau am sozialen Organismus beitragen, der Demokratie und Freiheit eröffne. Joseph Beuys suchte zunächst in der Politik nach der Umsetzung seiner sozialen Kunst und ihrer Konkretisierung in der Sozialen Plastik hin zur ästhetischen Gesellschaft. Als Reaktion auf die schwelenden Studentenunruhen gründete er im Juni 1967 die Deutsche Studentenpartei (DSP).18 Im Juni 1971 folgte die Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung, die bis heute existiert. Zudem war Joseph Beuys Mitbegründer der Partei Die Grünen. Die Verwirklichung und Erfüllung seines künstlerischen Konzepts der Sozialen Plastik sah er jedoch besonders im Feld der Bildung, da das Bildungswesen Grundlage allen gesellschaftlichen Fortschritts und Voraussetzung für das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung sei. Am 27. April 1973 rief er in seinem Düsseldorfer Atelier einen Trägerverein für die Freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung FIU (Free International University) ins Leben.19 Die Beuys’sche Kunst- und Kreativitätspädagogik hat eine stark persönlichkeitsbildende, politische und gesellschaftliche Ausrichtung. Ein Vorläufer des Beuys’schen pädagogischen Denkens kann in dem anarchistischen Schriftsteller und Kunstphilosophen Herbert Read (1893-1968) gesehen werden. Dieser setzt Ästhetische Bildung der intellektuellen Bildung gleich. Wenn Joseph Beuys die Ästhetische Bil-

18 Im Gründungsprotokoll heißt es: »Die Notwendigkeit der neuen Partei, deren wesentliches Anliegen die Erziehung aller Menschen zur geistigen Mündigkeit ist, wurde vor allem angesichts der akuten Bedrohung durch die am Materialismus orientierte, ideenlose Politik und der damit verbundenen Stagnation ausdrücklich herausgestellt.« Weitere Ziele waren, »absolute Waffenlosigkeit, ein geeinigtes Europa, die Selbstverwaltung autonomer Glieder wie Recht, Kultur, Wirtschaft, Erarbeitung neuer Gesichtspunkte zur Erziehung, Lehre, Forschung, die Auflösung der Abhängigkeit von Ost und West.« Adriani, Götz et al. 1984, S. 88 f. 19 Gemeinsam mit Klaus Staeck, Georg Meistermann und Willi Bongard. Dieser bestand als gemeinnützig anerkannter, eingetragener Verein bis 1988.

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dung des Menschen fordert, spielt er besonders auf die Nutzbarmachung der individuellen kreativen Liebesfähigkeit an. Zwischenmenschliche Beziehungen und Lebensraum sollen nach dem Gesetz der Menschlichkeit gestaltet werden. Die kreativitätsfördernde Kunst- bzw. Kreativitätspädagogik müsse das ganze Schulsystem durchdringen, sich auf alle Disziplinen hin öffnen, in alle Alters- und Sozialschichten eindringen und eine Rückkoppelung ins Leben herstellen. Das Kreativitätspotential müsse sich in Freiheit entwickeln können. So gebe die Kunst einen Anstoß zur demokratischen Gesellschaftserneuerung. »Es soll nicht Sinn der Schule sein, neue politische oder kulturelle Richtungen zu schaffen, Stile zu entwickeln, industrielle und kommerziell verwendbare Modelle zu liefern; ihr Hauptziel ist die Ermutigung, Entdeckung und Förderung des demokratischen Potentials, dem Ausdruck verliehen werden soll […] Kreativität ist nicht auf jene beschränkt, die eine der herkömmlichen Künste ausüben, und selbst bei diesen ist sie nicht auf die Ausübung ihrer Kunst beschränkt. Es gibt bei allen ein Kreativitätspotential, das durch Konkurrenz und Erfolgsaggression verdeckt wird. Dieses Potential zu entdecken, zu fördern, und zu entwickeln, soll Aufgabe der Schule sein.«20

Genau in diesem Verständnis von Menschenbildung liegt die Grundmotivation des Modellversuchs FIU: ein »Ort des Forschens, Arbeitens und Kommunizierens«21 zu sein, der sich auf der Basis der individuellen, interdisziplinären Kreativitätsbildung kritisch auseinandersetzt mit den Strukturen der Welt, den Wechselwirkungen des Einzelnen mit der Gesellschaft und der die Fragen einer sozialen Zukunft durchdenkt. Hinsichtlich Interdisziplinarität waren dem Lernstoff keine Grenzen gesetzt. Der Lehrplan sah neben reinen Kunstfächern intermediäre bzw. nicht-künstlerische Disziplinen vor, z.B. Erkenntnislehre, soziales Verhalten, Solidarität, Höflichkeit, Kritik der Kritik, Kritik der Kunst, Sinneslehre, Bildlichkeit, Wörtlichkeitslehre, Bühne, Darstellung, Ökologie und Evolutionswissenschaft. Das Konzept der FIU wollte den Menschen hineinführen in seine Fantasie und schließlich in eine selbstständige Entscheidungsfähigkeit und mündiges Menschsein in einer freien Gesellschaft. In der FIU gab es weder einen Numerus clausus, noch eine Altersbegrenzung. Denn zur Entfaltung der eigenen schöpferischen Kräfte brauche es den Verzicht auf Leistungskontrolle durch Zensuren, stattdessen die Kontrolle der Gesellschaft. Die Lehrer waren Angestellte auf Zeit. In einem gleichberechtigten, interre-

20 Beuys, Joseph zitiert in: Stellungnahme, Künstler zu einem Kunstzentrum des Bundes in Bonn, Bonner Kunstverein, 27.3.-22.4. 1979, S. 36 f. 21 Beuys, Joseph: Aufruf zur Alternative, Erstveröffentlichung in: Frankfurter Rundschau, 23.12.1978.

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lationalen Lehrer-Schülerverhältnis solle man gegenseitig voneinander lernen. Jeder sollte dem anderen ein Kunstpädagoge sein.22 Als die Stadt Düsseldorf eine der alten Messehallen in Aussicht stellte, gründete Joseph Beuys im Februar 1974 mit seinem Freund, dem Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (1917-1985), die konkrete FIU. 23 Ihre Umsetzung scheiterte jedoch an der Finanzierung und eine Hochschullehre blieb Hypothese. Joseph Beuys ließ sich durch diesen Rückschlag nicht beirren und kämpfte weiter. 24 Im Internationalen Kulturzentrum Achberg am Bodensee fand jeden Sommer ein Kongress statt, an dem er sich im Rahmen des Instituts für Sozialforschung und Entwicklungslehre mit Vorträgen und Diskussionen beteiligte. Ein besonders programmatischer Schauplatz war das konflikterschütterte Nordirland, wo eine Vielzahl an Workshops, Bürgerinitiativen und Projekten stattfand. Diese Realisierungen der FIU wurden 1977 auf der documenta 6 in Kassel vorgestellt. Seine Ideen, Utopien und Forderungen nach universellen Beziehungen fasste Joseph Beuys in dem umfangreichen Manifest Aufruf zur Alternative zusammen, das er am 23. Dezember 1978 erstmalig in der Frankfurter Rundschau veröffentlichte. Es gilt als Fundament für die gesellschaftsökologischen Positionen der Grünen, die zudem ein Sammelbecken der Beuys’schen Bürgerinitiativen wurden. Bis heute ist Achberg ein Schauplatz der Beuys’schen Anhängerschaft. Die Idee der FIU wurde von verschiedenen Personen und Gruppierungen aufgegriffen und weitergeführt, darunter Beuys’ Meisterschüler Johannes Stüttgen, der FIU-Verlag von Rainer Rappmann, die von Beuys-Schülern initiierten FIUs in Dublin, Amsterdam, Gelsenkirchen, Hamburg und München.25

22 Unter den interessierten, unterstützenden bzw. engagierten Lehrern waren KünstlerKollegen wie Erwin Heerich, Gerhard Richter und Walter Warnbach, Heinrich Böll sowie Rudi Dutschke. 23 Eine Pressekonferenz im Beuys-Raum der Kunstakademie stellt heraus, dass der Förderverein beim Land Nordrhein-Westfahlen eine Million Mark für die FIU beantragt hatte und dass die Stadt Düsseldorf eine alte Lagerhalle kostenlos zur Verfügung stellen wollte, sobald die Finanzierung – u. a. durch Eigenbeteiligung der Hochschulgründer – geklärt sei. Vgl. Stachelhaus 1987, S.124. 24 »Man kommt nicht umhin zu bemerken, daß die stärkste Garantie für eine Verwirklichung jener Schulideen, die manchen als utopisch erscheinen, in der Person von Beuys selber liegt: in seinem optimistischen Willen, Menschenbildung mit gleichem Einsatz zu betreiben wie eine künstlerische Gestaltung.« Georg Jappe zitiert in: Stachelhaus 1987, S. 125. 25 Vgl. Stachelhaus 1987, S. 114-133; vgl. Beuys, Joseph: Aufruf zur Alternative, Erstveröffentlichung in: Frankfurter Rundschau, 23.12.1978; vgl. Harlan 1984, S. 39; vgl. http://fiu-verlag.com/fiu-alt/fiubroschuere.htm, (04.01.2013).

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2.2 K ONKRETE ANSÄTZE KÜNSTLERISCHER K REATIVITÄTSBILDUNG In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konkretisierte sich künstlerische Kreativitätsbildung in zahlreichen, differenzierten Ansätzen. Hier werden im Folgenden nun zwei konkrete Ansätze künstlerischer Kreativitätsbildung dargestellt: das Schauspielstudio Gmelin und die MuKuNa-Werkstatt e.V., die in direkter Verbindung zu den Fallbeispielen von Julia Fehenberger sowie Pascale Ruppel stehen. Analysiert werden sie unter den Gesichtspunkten pädagogischer und methodischer Maxime, die auf den wegbereitenden Errungenschaften aufbauen. 2.2.1 Schauspielstudio Gmelin »Um den Menschen geht das Schauspiel.« DOROTHEA TÜGEL-GMELIN

Das staatlich genehmigte Schauspielstudio Gmelin (1964-2009) verfolgte ein multisensorisches, interdisziplinäres Unterrichtskonzepts mit der Integration anderer Kunstformen.26 Gründerin war Dorothea Tügel-Gmelin (1917-2010), eine Münchner Theaterschauspielerin und Schauspielpädagogin. Ihr wissenschaftlich bisher unerschlossenes, ganzheitlich vernetztes, humanistisches Vermittlungskonzept war der Struktur der Bauhauspädagogik verwandt. In der frühen Kindheit hatte sich ein zentrales Schlüsselerlebnis ereignet, das sie zum Schauspiel führte.27 Sie war in unmittelbarer Nachbarschaft zum Münchner Prinzregententheater aufgewachsen und hatte das Theater dort als ein »Geheimnis«28 erlebt. Diese Welt, die sie sich selber erschaffen konnte, zog sie sehr an. Ein paar Monate vor dem Abitur brach sie die Schule ab und nahm ersten Schauspiel26 Tanz, Musik, Gesang, Bildende Kunst, Literatur. »Es ist überall alles mit drin. Und alles hilft dazu. Alles gehört dahin.« »Da ist überall der Mensch mit drin.« D.T.G. 4. 27 Vgl. D.T.G. 1. 28 Alle Künste vermittelten letztlich dieses Geheimnis. Es habe mit Echtheit und Sinn, Schönheit und Wahrheit zu tun. Ihr Leben stand im Zeichen der Suche nach diesem Geheimnis, der Dynamik zwischen Bühne und Publikum. Selbst mit 92 Jahren verwehrte sie sich noch einer Beschreibung dieses Geheimnisses: »Dann sind die Flügel kaputt. Das ist, wie wenn ich ne Libelle fangen wollte. Und das Schöne an so nem Tier, das ist weg. […] Das Leben selber, das kann man eben nicht einfangen und das kann man nicht beschreiben und das kann man nicht festmachen. Aber man braucht dazu […] Kraft und eine Vorstellung – […] Fantasie.« D.T.G. 3.

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unterricht bei der Kammerschauspielerin Annemarie Holtz. Es folgte die Aufnahme auf die Schauspielschule von Magdalena Freifrau von Perfall. Bereits nach einem Vierteljahr kam ein Intendant aus Hamburg, der sie engagierte. Ihr erstes Engagement erhielt sie 1936 mit 19 Jahren am Landestheater Oldenburg. So lernte sie das Schauspiel vielmehr autodidaktisch durch Erfahrung anstatt systematisch an einer Schule. 1964 gründete sie ihre eigene Schauspielschule in einem kargen Kellerraum in Gräfelfing.29 Das Renommee der Schule startete mit der lobenden Kritik des Schauspielers, Schriftstellers und Theaterkritikers Hugo Hartung (1902-1972) anlässlich des ersten Studio-Abends 1964.30 Im Jahr 1977 zog die Schule nach München in die Widenmayerstraße am Friedensengel, gleichzeitig die Privatwohnung von Dorothea Tügel-Gmelin und ihrer Tochter Christine.31 Pädagogische Maxime Hinsichtlich der pädagogischen Ausrichtung stand der individuelle Mensch im Zentrum. Das Schauspielstudio Gmelin war – ähnlich der Bauhauspädagogik32 – ein familiärer Netzkörper aus individuellen Lehrer- und Schülerpersönlichkeiten. Die Beziehungen gründeten auf gleichberechtigter Interrelationalität. Ein Kollegium aus

29 Anlass war eine Begegnung mit einer jungen Schauspielschülerin auf der Beerdigung ihrer Lehrerin. Zwei Tage später gab Dorothea Tügel-Gmelin in ihrem heimischen Wohnzimmer den ersten Unterricht. Vgl. Tügel-Gmelin, Dorothea (Hrsg.): Eine kleine Schauspielschule. Das Schauspielstudio Gmelin, 2005. (Eine im Jahr 2005 vom Schauspielstudio Gmelin intern produzierte Chronik anlässlich des 40-jährigen Schuljubiläums.) Das erste Studio wurde eingerichtet im düsteren Kellerraum einer Schauspielschülerin, in einem Gräfelfinger Reihenhaus. 30 Hartung, Hugo: Magie im Kellerraum, Kritik von 1964, in: Tügel-Gmelin 2005. 31 1939 heiratete sie den Bildhauer Bernhard Reichsgraf von Bylandt Baron zu Rheydt (1905-1998). Seine Werke sind neben der Beuys-Sammlung zentraler Bestandteil der Sammlung van der Grinten. Vgl. http://www.bylandt-rheydt.de/publikation/aufsatz.html (05.04.2013). 1947 folgte die zweite Ehe mit dem Produktionsleiter Peter Tügel, aus der zwei Kinder hervorgingen. 32 Die Ausbildung war als Ganztagsschule organisiert. Hinsichtlich der Lebensform spielte sich das gesamte Schulleben zwar in einem Teil der Gmelin’schen Privatwohnung ab. Die Studierenden und Lehrkräfte wohnten jedoch separat.

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ca. 14 Lehrkräften33 unterrichtete auf der Grundlage eines ausführlichen Aufnahmeverfahrens34 ca. 20 Schüler in 6 Jahrgängen35. Um das Schulgeld gering zu halten, beteiligten sich die Studierenden an der Haushaltsführung36. Die dreijährige Ausbildung am Schauspielstudio Gmelin vermittelte neben konkreten technischen Aspekten des Schauspiels auch ein weites Feld an Selbsterfahrungsmöglichkeiten. Zu den Unterrichtsfächern gehörten der Grundkurs37, Freie Arbeit38, Lebenslauf39, Sehen40, Stimmbildung/Chor, Einzelsingen, Bewegung und Tanz, Körper-Atmung-Stimme (in Gruppen- und Einzelunterricht, sowie Eigenarbeit), Fechten, Feldenkrais, Tai-Chi, Hörspiel, Spielen I41, Spielen II42, Texterarbeitung, Rollenerarbeitung43, Bühne, Regie und Projektarbeit. Jede Unterrichtsstunde wurde in schriftlichen Stundenprotokollen reflektiert. Der wöchentliche Grundkurs konnte auch von externen Interessierten besucht werden. Jedes Semester stand für die ganze Schule unter einem Hauptthema, zu dem jeder ein

33 Darunter die SchauspielerInnen Christa Pillmann, Judith Al Bakri und Marc Römisch, die Tänzer Andreas Abele und Gunther Henne, der Kunsthistoriker Peter Pinnau, der Sänger Thomas Gropper, der Regisseur Moisej Bazijan, der Sprecher Helmut Becker, Eva Bleicher, Andreas Friedrich und Madeleine Streiber. 34 Teil der Aufnahmekommission waren die Schulleitung, das Lehrerkollegium sowie die Studierendenschaft. 35 A1, A2, B1, B2, C1, C2. 36 Z.B. Reinigung und Instandhaltung der Unterrichtsräume. 37 Grundlegende Schauspielübungen in A1 und A2. 38 In A1 und A2. Auf der Grundlage eines Themas oder einer bestimmten Aufgabenstellung werden Menschen und Tiere im Stadtraum beobachtet und zurück in der Schule so genau wie möglich nachgespielt. Es geht um die Schärfung der Wahrnehmung und Einfühlung. 39 In A1 und A2. Jeder hat eine Stunde Zeit, prägende biografische Szenen aus dem Leben zu spielen. Dabei ging es nicht um eine nostalgische Nacherzählung, sondern um die Erinnerung und Reaktivierung von Emotionen und Gefühlen, nach dem Motto: »die Kindheit in die Tasche stecken«, denn in der Kindheit habe man schon jedes existenzielle Gefühl erlebt. 40 Kunstbetrachtung und Tableau Vivant mit Peter Pinnau in A1 und A2. 41 Schauspielunterricht mit Dorothea Tügel-Gmelin in A1 und A2. Jeder bereitet denselben Text vor, der auf der Bühne genau umgesetzt werden muss. Monolog, Dialog oder Prosatext – mit Vorliebe von Stefan Zweig. Es ist nicht wichtig, dass alle Schüler in einer Unterrichtseinheit drankommen, denn vom genauen Zuschauen lerne man genauso viel. 42 Duorolle in B1 und B2. Jeder hat einen festen Partner mit dem er eine Szene vorbereitet und über ein Semester bearbeitet. 43 Eine komplett allein erarbeitet Rolle wird einmal pro Woche vorgespielt, mit Rückmeldung.

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Referat hielt und das in den jeweiligen Jahrgängen unterschiedlich behandelt wurde. Zum Abschluss des Studiums wurden drei Monologe selbstständig erarbeitet und eine schriftliche Arbeit zu einem selbst gewählten Thema verfasst. Die Lerngemeinschaft war auf Biografiearbeit, Selbständigkeit, Mitverantwortung sowie Lernen durch Lehren aufgebaut44. Methodische Maxime Dorothea Tügel-Gmelins gestalterischer Ansatz arbeitete Mithilfe einer minimalistischen Auswahl an Requisiten, maßgeblich durch die Intensität menschlichen Ausdrucks in Mimik, Gestik und Sprache. Die Vergegenwärtigung von Geschichten allein durch die Schauspielerpersönlichkeit, die Entstehung der Bühne im gegenwärtigen Augenblick, in den Köpfen von Schauspielern und Rezipienten, diese Ästhetik des »Weniger ist mehr« verweist auf das Arme Theater45 von Jerzy Grotowski (1933-1999), das auf der Lehre von Konstantin Sergejewitsch Stanislavski46 (18631938) aufbaut. Beiden Ansätzen stand Dorothea Tügel-Gmelin explizit nahe, ebenso dem Method Acting und dem Improvisationstheater. Sie verwehrte sich jedoch einer bestimmten Vermittlungsmethode.47 Jede methodische Festschreibung sei eine Verkürzung des Kerns des Schauspiels. Diesen trage man bereits in sich und könne ihn nicht erlernen. Vielmehr regte sie ihre Studierenden an, begeistert auf der Suche

44 Die Studierenden unterrichteten sich auch gegenseitig und eigenverantwortlich. 45 Das Arme Theater fußt auf der Verbindung von Leben und Theater, einer Neudefinition der Schauspieler- und Zuschauerrolle und einer Öffnung der Spielorte. Es ist ein aufs Wesentliche konzentriertes Theater ohne Bühnenbild, Kostüme, Schminke und Bühnenbeleuchtung. Der leere Raum wird durch den Schauspieler gestaltet. Durch die Aufhebung einer klaren Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum wird die kommunikative Beziehung zwischen Schauspieler und Zuschauer intensiviert. Jerzy Grotowski entwickelte den Ansatz des Armen Theaters aus der vergleichenden Theateranthropologie heraus, der vom Regisseur und Theaterforscher Eugenio Barba geprägten Erforschung der Schauspielkunst. Sie stützt sich auf die Untersuchung des Schauspielers für den Schauspieler, macht dem Forscher den kreativen Prozess zugänglich und soll die Freiheit des Schauspielers im kreativen Prozess vergrößern. Vgl. Balme 1999, S. 127; vgl. Brauneck 1982. 46 Ein russischer Schauspieler, Regisseur, Theaterreformer und Vertreter des Naturalismus. Der Schauspieler solle parallele Situationen aus dem eigenen Erleben finden, um das nicht Erlebte glaubwürdig zu verkörpern. Das Ich des Schauspielers sei dabei eine Art spielerisches Kind, ein künstlerisches Ich, welches sich unabhängig vom privaten Ich des Schauspielers mithilfe von psychophysischen Handlungen in die verschiedenen Umstände hineinversetzt. Vgl. Brauneck 1982. 47 Vgl. D.T.G. 4.

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zu sein nach der Lebenswelt mit ihren Stimmungen und Klängen. Die ästhetische Erfahrung mit ihrer sensiblen Wahrnehmung und Selbstreflexion sei das Tor zur Vorstellungskraft. Das Arbeiten aus der Vorstellung wiederum sei die Quelle des Schauspiels. »Alles ist Vorstellung. Vorstellung ist alles.« – Mit diesem Satz wurde die Ausbildung eröffnet. Zu Beginn des ersten Semesters gab es drei grundlegende Pflichtlektüren. • Über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist (1777-1811), denn darum

gehe es im Schauspiel • Zen in der Kunst des Bogenschießens von Eugen Herrigel (1884-1955), denn das

sei der Weg eines Schauspielers • Die Kunst des Liebens von Erich Fromm (1900-1980), denn das sei die Einstel-

lung eines Schauspielers Die Schauspielausbildung verstand sich als eine Lebensschule, bei der es zentral um die ganzheitliche Entwicklung des Menschen hin zur spielerischen Freiheit einer reifen, verantwortungsbewussten Persönlichkeit ging. 48 Die Lehrkraft eröffnete mithilfe ihrer Erfahrung und Einfühlung gleichsam einen individuellen Entwicklungsraum. Jeder Schüler prägte die individuell abgestimmte Lehr- und Lernmethode entscheidend mit. Trotz der angestrebten Gleichheit prägte die starke Persönlichkeit der Gründerin die Schule. Ihre Vitalität und Begeisterung sowie ihre ästhetische Sensibilität bildeten gleichsam das Zentrum, ebenso wie ihre Autorität, ihr Perfektionismus und ihre klare Strenge. Im Unterricht entwickelte sie die konkrete Arbeitsmethode in Beziehung und Zusammenarbeit mit den Studierenden, individuell angepasst an deren Bedürfnisse, gefiltert durch ihre eigene Vorstellung, Schauspiel-, Bühnen- und Lebenserfahrung.49

48 Mit Ich-Stärke, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, in Natürlichkeit und Selbstannahme, mit dem Wissen um die eigenen Fähigkeiten, mit einer sensiblen Offenheit für das Leben und für die Schönheit, mit der Fähigkeit, sich in Liebe auf andere einlassen zu können. 49 Hier einige von Dorothea Tügel-Gmelins Lehrsätzen: – »Alles Neue entwickelt sich aus dem Bestehenden.« – »Aktion statt Perfektion.« – »Alles Handeln ist Reaktion auf den Impuls.« – »Es gibt keine Monologe. Alles ist Dialog.« – »Alles auf der Bühne lebt. Ich spiele mein Gefühl.« – »Man kann nichts auf der Bühne sein, was man im Leben nicht ist.«

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Während der dreijährigen Ausbildungszeit nahm die Schule das ganze Leben der Studierenden ein. Der intensive Unterricht, oft auch abends oder am Wochenende, verlangte absolute Hingabe, eine radikale Auseinandersetzung mit sich selbst, den Mitstudierenden und Lehrern. Da die Schulräume Teil der Privatwohnung von Dorothea Tügel-Gmelin waren, vermischte sich Studium und Privatleben. Diese familiäre Dichte ermöglichte intensives Arbeiten. Die fehlende Distanzierungsmöglichkeit führte mitunter auch zu Konflikten. Das Schauspielstudio Gmelin bestand bis ins Jahr 2008 unter der ständigen Leitung der Gründerin. Die Schule machte sich einen Namen. Zahlreiche Absolventen erhielten den Lore Bronner Preis 50. Außerdem gingen eine Reihe bekannter Schauspieler in Theater, Film und Fernsehen, Theatermacher und Synchronsprecher hervor, darunter Thomas Birkmeir51, Marina Busse52, Michael Greiling53 und Juliane Köhler54. Auch spätere Maler, Ärzte, Pädagogen und engagierte Persönlichkeiten wie Susanne Korbmacher-Schulz55 erhielten ihre Ausbildung am Schauspielstudio Gmelin. Trotz der programmatischen Methodenverweigerung lässt sich zusammenfassend ein pädagogischer Ansatz der interdisziplinären, individuellen Persönlichkeitsbildung ausmachen. Der Weg führte über die ästhetische Erfahrung und die Vermittlung von technischem Können. Richtschnur war die zwischenmenschliche, interrelationale Beziehung.

Detaillierte Auskünfte zur Struktur der Ausbildung am Schauspielstudio Gmelin gab eine private Mail von Pascale Ruppel und ihrer Ausbildungskollegin Anja Neukamm vom 09.04.2013. 50 Förderpreis für Darstellende Kunst des Bezirks Oberbayern. Der Preis wird seit 1996 jährlich an talentierte Nachwuchsschauspieler mit Hauptwohnsitz in Oberbayern vergeben. Vgl. http://www.bezirk-oberbayern.de/showobject.phtml?La=1&object=tx|360.395.1 (05.04.2013). 51 Regisseur, Autor, Schauspieler und Intendant in Wien. 52 Professorin für praktische Theaterarbeit, Grundstudium und Szenenstudium an der Folkwang Hochschule Essen. 53 Theater- und Filmschauspieler. 54 Vielfach ausgezeichnete Theater- und Filmschauspielerin, sowie Hörspielsprecherin. 55 Die spätere Sonderschullehrerin gründete den Verein ghettokids Soziale Projekte e.V., der sich u. a. im Münchner Stadtteil Hasenbergl für benachteiligte Kinder und Jugendliche einsetzt. Im Jahr 2002 wurde ihr Engagement im Rahmen des gleichnamigen, vielfach ausgezeichneten deutschen Spielfilms von Christian Wagner der Öffentlichkeit vorgestellt.

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2.2.2 MuKuNa – Werkstatt e.V. Das kollaborative, freie Kunstschulprojekt MuKuNa-Werkstatt e.V. bei München steht am Waldrand in einem großen Garten mit alten Laub- und Obstbäumen. In dem kleinen Haus gibt es einen Werkraum, einen Musikraum mit Instrumenten und einen Materialraum. Die Gründer Julia Fehenberger 56, Verena Nieder57 und Stefan Dittlein58 eröffneten die MuKuNa-Werkstatt e.V. im Jahr 2011.59 Exkurs: Schule der Fantasie Verena Nieder bringt als Kunstpädagogin Erfahrung in der PA/SPIELkultur e.V. und an der Schule der Fantasie Gauting mit. Das Konzept der Schule der Fantasie gibt es seit 1980. Analog zur Jugendmusikschule60 ist sie eine kommunal mitfinanzierte freie Kinderkunstschule zur Persönlichkeitsbildung mithilfe von Fantasie und Kreativität. Sie will den Regelschulunterricht ergänzen, um die starke Betonung des Kognitiven auszugleichen. Der Kunstpädagoge Rudolf Seitz (1934-2001)61 gründete sie im Rahmen empirischer Forschungsstudien zur bildnerisch-ästhetischen Elementarerziehung.62 Ohne Lehrplan und ohne Benotung ermöglicht die Schule der Fantasie ästhetische Prozesse und selbständige schöpferische Verhaltensweisen. Die einzelnen strukturell autonomen Schulen der Fantasie arbeiten meist in den Werkräumen von Grundschulen und bieten wöchentliche, zweiständige Nachmittagskurse für Kinder im Grundschulalter an. Die Kursinhalte entwickeln sich entlang der technischen Fähigkeiten der Kursleiter sowie der Interessen der Kinder. Geschich-

56 Musikerin, Holzbildhauerin, Künstlerin, Kunstpädagogin. 57 Künstlerin, Kunstpädagogin. 58 Schreiner, Musiker. 59 Bisherige Zielgruppe ist die Altersgruppe von 5-12 Jahren, mit Ausnahme von MutterKind-Kursen. Je nach Thema, Material und Werktechnik gibt es Gruppen mit Altersgenossen, oder heterogene Gruppen, in denen die Größeren als Tutoren die Kleineren betreuen. Wenn die MuKuNa-Werkstatt weiter wächst, werden sich ihre Programme ausweiten auf Jugendliche und Erwachsene. 60 Die Städtische Sing- und Musikschule München besteht seit 1830 und ist eine der ältesten und größten Musikschulen Deutschlands. Der Unterricht wird dezentral an 124 Standorten im gesamten Stadtgebiet angeboten. Vgl. http://www.muenchen.de/rathaus/Stadtver waltung/Referat-fuer-Bildung-und-Sport/Sing-und-Musikschule/allg-Infos.html

(08.04.

2013). 61 Von 1982-1988 Präsident der Akademie der Bildenden Künste München. Für sein Engagement in der freien Kinder und Jugendarbeit sowie für die Arbeit mit Erwachsenen und Senioren erhielt er viele Auszeichnungen. 62 Modellprojekt der Stadt München mit Kindergartenkindern. Vgl. Seitz 1997.

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ten oder Kunstbetrachtung eröffnen das Territorium der eigenen Fantasie. Auch das Museum, das Künstleratelier oder die freie Natur sind Lernorte, wobei auf eine kindgerechte, multisensorische Didaktik Wert gelegt wird. Zur Anregung lädt die Schule der Fantasie Experten anderer Künste und Handwerke ein. Die kindlichen Fantasien und Erlebnisse werden dann in werkstatt- und projektorientierter kreativer Selbsterfahrung sowie einem Fundus an (auch selbst gesammeltem) Material 63 in Experimentierfreude und Forschergeist ins Werk gesetzt. Form, Inhalt und Medium als auch die Methode64 sind je nach Bedarf frei wählbar. Die freie Entfaltung der Kreativität braucht ein motivierendes Klima sowie eine anregende Umgebung. Ein Kurs mit 10-15 Kindern wird von zwei Lehrkräften betreut: Künstlern mit pädagogischer Erfahrung oder Pädagogen mit künstlerischer Erfahrung. Diese müssen die kreativen Entwicklungsphasen des Kindes kennen, um Freiraum und Anerkennung gewähren zu können. In wertschätzender, ermutigender Zuwendung fungiert der Erwachsene als gleichwertiger Partner des Kindes, der für den logistischen Rahmen sorgt, der geduldig und humorvoll ist und bei Bedarf unterstützt. Es soll jedoch kein Gefälle entstehen zwischen den Fähigkeiten des Kindes und denen des Erwachsenen. Lernziele sind: Sensibilität, Spontaneität, Assoziationstalent, eigene Ideen und Handlungsstrategien, Humor, Selbstvertrauen, Toleranz gegenüber fremden Kulturen, Teamfähigkeit, Konflikttoleranz, Durchsetzungsvermögen und Kulturverständnis. Kreatives Tun schaffe verantwortungsbewusste, mündige Bürger und sei somit ein wichtiger Beitrag zur demokratischen Zivilgesellschaft.65 Pädagogische Maxime Die MuKuNa-Werkstatt e.V. baut auf den pädagogischen Zielsetzungen der Schule der Fantasie auf und entwickelte sie entscheidend weiter. Sie verbindet die Bereiche Musik, Kunst und Natur im Hinblick auf ästhetische Erfahrung, multisensorisches Lernen und Kreativitätsbildung. Die Pädagogen vereinen jeweils unterschiedliche Expertisen in sich: Bildende Kunst, Musik, Naturpädagogik, Handwerk, Tanz. So vernetzen sich in der Teamarbeit immer mindestens 3-4 Expertisen. In autodidaktischem, selbst-entdeckendem Lernen werden Handlungsmöglichkeiten lustvoll erkundet und Gestaltungsspielraum erweitert. Zur Entwicklung bildnerischen Selbstausdrucks kommt die freie Entfaltung von musikalischen Fähigkeiten und Naturverbundenheit hinzu:

63 Werkstoffe, Naturmaterialien und sogenannte Abfallprodukte. 64 Z.B. Malen, Spielen, Bauen, sowie Darstellen mit Körper, Sprache und Klang. 65 Vgl. Seitz/Haberland 2009.

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»in erster Linie ein selbstverständliches neues Gefühl zu Natur, Kunst und Musik. Ein Selbstverständnis für die eigene Kreativität. Zu Autonomie fähig zu sein. Und auch dazu fähig sein zu wollen. Die Kinder dadurch emotional als Persönlichkeiten zu stärken. Und durch diese kleinen, intensiven Gruppen ihre sozialen Fähigkeiten zu trainieren.«66

Durch individuelle Betreuung und unter Berücksichtigung jeweiliger Entwicklungsbedürfnisse kann das Kind direkt und indirekt gestärkt werden, können Talente aufgedeckt und bestätigt werden. Nicht das Erlernen präziser Techniken steht im Vordergrund, sondern die individuelle Originalität. Freiheitliche Entfaltung braucht geregelte Umgangsformen. Deshalb gilt in der MuKuNa-Werkstatt e.V. Freundlichkeit, Respekt, Wertschätzung und einfühlsames Verständnis im Umgang miteinander, mit Gegenständen und mit der Natur. Diese Sensibilität füreinander stärkt Selbstbewusstsein, Verantwortungsbewusstsein und Gemeinschaftsgefühl. So kann ein Gefühl für Solidarität wachsen. Die Lehrerpersönlichkeit hat hier starken Vorbildcharakter.67 Methodische Maxime In der MuKuNa-Werkstatt e.V. wird erlebt, entdeckt, geforscht, gebaut, gestaltet, musiziert und gespielt. Experimentiert wird mit Farbe, Form, Figur, Klang, Raum, Körper. Die thematischen Inhalte werden grob strukturiert. Entgrenzte künstlerische Kreativitätsbildung bedeutet hier, dass in einem MuKuNa-Kurs Musik-, Kunst- und Naturpädagogik miteinander verwoben sind.68 Zentrales Element der MuKuNaWerkstatt e.V. ist der Garten69 Spielplatz und Freiheitsraum, Ort des Erkundens, des Ausprobierens und der Selbsterfahrung. Neben Bäumen und Sträuchern gibt es ein Insektenhotel, Blumen-, Gemüse- und Kräuterbeete, die gemeinsam bewirtschaftet werden. Jedes Werkstatt-Thema bezieht den Garten mit ein. Material und Inhalte werden der Jahreszeit entsprechend gewählt.70 Der Garten ist ein Symbol dafür, dass Dinge wachsen können, dass man sich um sie kümmern und auch wachsen lassen muss. So ermöglicht er eine sensible, emotionale und kulturelle Beziehung zu

66 J.F. 10. 67 Vgl. http://mukuna-werkstatt.de/konzept/ (08.04.2013). 68 Zum Beispiel werden in einem Rhythmus-Kurs Instrumente mit Elementen aus dem Garten gebaut, verschiedene Instrumente werden kennengelernt. Gemeinsam wird etwas komponiert und in einer Art Band gespielt. Dies wird dann draußen bei einem Fest ums Lagerfeuer tanzend aufgeführt, begleitet von selbst zubereiteten Speisen aus dem Garten. Vgl. J.F. 11. 69 Der Ort als eine Art Riesen-Spielplatz, der sich ständig transformiert »der wachsen darf, kontinuierlich, mit den Kindern, die da sein wollen.« J.F. 9. 70 Vgl. J.F. 9.

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einem Ort, seinen Bedürfnissen und seinen Traditionen. Nicht zuletzt durch die Feuerstelle ist der Garten auch ein Ort des Feierns, der Geschichten, der Gemeinschaft und der Magie. Die MuKuNa-Werkstatt e.V. ist ein sozialer Schauplatz, mit dem sich Kinder liebevoll identifizieren und Landnahme betreiben. Im Vergleich zu anderen kreativitätsbildenden Ansätzen schafft hier gerade die Verwurzelung von Kultur an einem bestimmten Ort Beziehung: Beziehung zum Ort, zur Kultur, zur Natur und zueinander. Die Rückmeldung eines Jungen fasst das Wesen der MuKuNa-Werkstatt e.V. zusammen: »dass das MuKuNa für ihn so was Geheimes ist, wie eine geheime Insel, wie ein fremder Stern, […] dass wir so ein kleiner Planet sind, in dem noch mal neue, andere Regeln für diese Welt draußen gefunden werden können. Oder Sichtweisen auf diese Welt da draußen«71

71 J.F. 13.

3 Kreativitätsbildung und Kunstpädagogik

Einblicke in das Konzept der Schule der Fantasie waren bereits ein Vorgriff in aktuelle Zusammenhänge von Kreativitätsbildung und Kunstpädagogik. Deren Anfänge reichen zurück zur Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts. Damals entstand in den Wellen der Reformpädagogik die Kunsterzieherbewegung, die ihre erste Kunsterziehertagung 1901 in Dresden abhielt. Sie forderte die Ausbildung ästhetisch sensiblen Bewusstseins, der Selbständigkeit und des schöpferischen Tuns. Unter der Prämisse, »durch Kunst zu erziehen, nicht zur Kunst«1, sollte der Zeichenunterricht zum schulischen Hauptfach erhoben werden, um wahrnehmende und schaffende Kräfte sowie die entsprechenden Ausdrucksmittel entwickeln zu können. Das Bildungsziel war nicht die Kunst selbst. Das Wesen der Kunstpädagogik definierte sich vielmehr durch die Kunstvermittlung im Dienst an der ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung. Kunstpädagogik nutzt die Wirkungszusammenhänge von Kunst und Pädagogik, zum Beispiel durch manuelles Üben, praktisches Gestalten und handwerklichsinnliche Erfahrung. Da sich Persönlichkeitsbildung nur schwer messen lässt, hat die Kunstpädagogik aufgrund des Subjektbezugs immer wieder Rechtfertigungsschwierigkeiten gegenüber anderen wissenschaftlichen Disziplinen und gegenüber der zunehmend auf statistische Verifizierung pochenden Bildungspolitik. So formierten sich in der Kunstpädagogik mit der Zeit auch empirische Forschungszweige2, eine stärkere Vernetzung in die anderen Kunstwissenschaften sowie Kooperationen mit akademischen Nachbardisziplinen. Heute kann man die Kunstpädagogik als entgrenztes3, transdisziplinäres Hybridfach beschreiben. Zudem gibt es Ausdifferenzierungen in der Bindung an Institutionen, z.B. Regelschulen, Museen und

1

Zitiert in: Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 106.

2

Meyer/Sabisch 2009.

3

Entgrenzte Kunstpädagogik meint hier, dass sie sich nicht nur auf Bildende Kunst bezieht, sondern andere Kunstformen und entgrenzte Kunstbegriffe als Ausgangspunkte von Bildungsprozessen einbezieht.

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Freizeitpädagogik.4 Im Folgenden werden zwei gegenwärtige kunstpädagogische Ansätze skizziert, die einen impliziten Schwerpunkt auf Kreativitätsbildung legen.

3.1 ÄSTHETISCHE F ORSCHUNG Die Konzeption der Ästhetischen Forschung ist sowohl eine künstlerische Strategie als zugleich ein kunstpädagogisch-kunstdidaktischer Ansatz. Sie ist dem prozessorientierten ästhetischen Lernen nachempfunden. Die Kunstpädagogin Helga Kämpf-Jansen5 (1939-2011) brachte sie mit ihrer Veröffentlichung im Jahr 2001 in den kunstdidaktischen Diskurs ein. Sie beeinflusste das Fach nachhaltig. Ihre Methodik verbindet • Vorwissenschaftliche, an Alltagserfahrungen orientierte Verfahren • Künstlerische Strategien aktueller Kunst • Wissenschaftliche Methoden

Getrennte Lehrbereiche werden vernetzend zusammengeführt. So werden erweiterte Denk-, Handlungs- und Erkenntnisräume ermöglicht. In Theorie und Praxis knüpfen sie an die innovativen Potenziale der beiden sich gegenüberstehenden kunstpädagogischen Ansätze von Gert Selle und Gunter Otto. Zum einen bezieht sich Ästhetische Forschung auf sinnlich emotionale Elemente von kunstnahen, ästhetischen Projekten, wie sie auf Gert Selle zurückgehen. Zum anderen gibt sie den aufklärerisch rationalen Anspruch Ästhetischer Bildung nicht auf, der sich im Begriff Forschung manifestiert und den insbesondere Gunter Otto betonte. Pädagogische Maxime Im Zentrum der Ästhetischen Forschung stehen Selbständigkeit und Biografiebezug; das selbständige, prozessorientierte Lernen durch die Erforschung und künstlerische Bearbeitung von subjektiven bzw. biografischen Erfahrungen. Sowohl Forschungsfrage und Forschungsgegenstand, als auch die Forschungsmethode sind selbstgewählt. Biografiearbeit meint sowohl die dokumentarische Rekonstruktion von Lebensgeschichten und historischen Fragestellungen mit bildnerischen Mitteln, wie auch eine prozesshafte Aufschichtung von ästhetischen Erfahrungen. Dies

4 5

Vgl. Franke 2007. Helga Kämpf-Jansen gestaltete ab 1968 an der Justus Liebig-Universität Gießen die kunstpädagogische Position der Visuellen Kommunikation mit. Bis 1990 war sie Mitherausgeberin der Zeitschrift Kunst + Unterricht.

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schließt ebenso fiktive und fantastische Entwürfe ein und öffnet kunstpädagogische Thematiken auf Gender-Themen hin.6 Methodische Maxime Alles7 kann (selbst-)bildnerisch untersucht und bearbeitet werden. In projekt-, labor- oder werkstattorientierten Forschungs- und Gestaltungsprozessen wählt der Lernende die passende Arbeitsstrategie aus allen zur Verfügung stehenden Verfahren, Handlungsweisen und Erkenntnismöglichkeiten aus den Bereichen Alltagserfahrung, Kunst und Wissenschaft, z.B. Spurensicherung, Kartierung, Sammeln, Archivieren, serielles Arbeiten, Experiment, Verfremdung. Eine Lehrkraft agiert beratend und unterstützend. Die transdisziplinäre Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft ist eine Verbindung verschiedener Kulturen. Somit fördert die Ästhetische Forschung auch die interkulturelle Kompetenz und macht letztlich neue Fachstrukturen erforderlich.8

3.2 K ÜNSTLERISCHE B ILDUNG In Auseinandersetzung mit der transmedial entgrenzten Kunst und der sich darin widerspiegelnden Multisensualität und Multiperspektivität der Welt entwickelte der Kunstpädagoge Carl-Peter Buschkühle den Ansatz der Künstlerischen Bildung durch künstlerische Kunstpädagogik. Ausgangspunkt ist die kunstpädagogische Kunst des Joseph Beuys. Pädagogische Maxime Künstlerische Bildung propagiert das Lernen mit verschiedenen Sinnen und Medien, sowie aus unterschiedlichen Perspektiven, hin zu Bild- und Medienkompetenz und zum selbständigen künstlerischen Denken. Künstlerisches Denken nach Buschkühle hat drei charakteristische Elemente: • - Differenzierte Wahrnehmungsleistungen • - Kontextuelles Denken • - Imagination

6

Vgl. Seydel, Fritz in: Blohm et al. 2005, S. 4.

7

Real gegebene wie fiktiv entworfene Dinge, Objekte, Menschen und Situationen.

8

Vgl. Kämpf-Jansen, Helga: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. In: Blohm 2006; vgl. Kämpf-Jansen 2001; vgl. Kunst+Unterricht 270/ 2003 »Das Unbekannte im Bekannten«; vgl. Pasuchin 2007, S 306.

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Es verlangt offene, subjekt- und phänomenbezogene Lernprozesse, die heterogene Gesichtspunkte miteinander in Beziehung setzen. Künstlerisches Denken führe zu künstlerischem Handeln und künstlerischem Lernen, das im schöpferischen Rhythmus zwischen Selbstbewegung und Selbstverortung Selbstbildung eröffne. Methodische Maxime Vorbild für künstlerisches Lernen ist der Künstler, seine Auseinandersetzung mit Kunst und Welt und seinen Handlungsstrategien, ästhetische Erfahrung in ein Werk zu transformieren. Künstlerisches Lernen nutzt das künstlerische Projekt, das Wahrnehmung, Erkenntnis und Gestaltung in einer themen- und medienorientierten Arbeit verbindet. Das künstlerische Projekt stellt Lernen in den Zusammenhang von Geschichten und verschiedenen Fähigkeiten. Spielerisch mobilisiert es kognitive, emotionale und körperliche Betätigungen und verbindet sich mit der Vorstellungskraft. Sein Aufbau verläuft analog zum kreativen Prozess. Induktion: Analog zur Präparation der Kreativität ermöglichen offene Aufgabenstellungen sowohl eine Balance zwischen Orientierung und Anforderung als auch Freiraum für individuelle Suchbewegungen und Gestaltungen. Experiment: Analog zur Inkubation setzt sich der individuelle Lernende im spielerischen oder forschenden Experiment gestalterisch mit Themen, Materialien und Gegenständen auseinander. Dafür bedarf es Spielräume für individuelle Recherchen. Kontextualität: Analog zur Inspiration und Inkarnation stellt der Lernende Beziehungen zwischen den einzelnen Arbeitsphasen und Medien her und vertieft sowohl inhaltliche als auch gestalterische Zusammenhänge. Dies ermöglicht differenzierte Einsichten, Erfahrungen und Darstellungsmöglichkeiten. In der anschließenden gestalterischen Umsetzung experimenteller thematischer Kontexte ist Multimedialität geradezu erforderlich. Die neuen Medientechnologien erzeugen eine rhizomatisch vernetzte Erweiterung der Welt hinein in virtuelle Dimensionen9. Multimedialität ermögliche die Entwicklung von Multiperspektivität. Im experimentellen Kontext gestalterischer Projektarbeit will künstlerisches Lernen fächerverbindend oder fächerübergreifend und nachhaltig sein. So will es zu einer umfassenden Ausbildung einer selbstbestimmungsfähigen, kreativen Persönlichkeit beitragen. 10 Ein systematischer Reflexionsansatz, wie er der Verifikationsphase entsprechen würde, wird nicht explizit genannt.

9

Z.B. das Internet.

10 Vgl. Buschkühle in: Brenk/Kurth 2005, S. 41-49; vgl. Buschkühle 2013.

4 Resümee: Grundzüge der Kreativitätsbildung

Worum geht es der Kreativitätsbildung also und wie ist sie strukturiert? Der Kreativitätsbildung geht es darum, den individuellen Menschen als verantwortungsbewusstes, kooperatives, demokratisches Gemeinschaftswesen in seinen angeborenen Talenten und Fähigkeiten, seiner Mündigkeit, Selbständigkeit und Selbstbestimmung zu stärken und ihn so in der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. In der Zusammenschau der dargestellten Ansätze zeigt sich Kreativitätsbildung als ein elementarer, lebenslanger, ganzheitlicher, sinnbildender, selbstbildender und selbstentgrenzender, interrelationaler Gestaltungsprozess auf den Ebenen von »Kopf, Herz und Hand«. Die Metapher »Kopf« steht hier für kreatives Denken als lernendes und entgrenzendes Denken. Frei von Furcht, von Gewissheiten, Routine oder perfektem Vorbild schafft es Als-ob-Wirklichkeiten. Notwendige Ausgangspunkte hierfür sind Unvollkommenheiten, eine Krise, das Hinterfragen von Grenzen und der Transfer von Wissen auf andere Denkfelder. Das Ungeplante stellt ein Schlüsselelement der kreativen Wissensgenerierung dar. Zeiten der Stille und das Üben von Fantasie stehen damit in Verbindung. »Herz« meint die Ebene subjektiven Erlebens und dessen inhärente Haltung. Ihr Ausgangspunkt liegt in der ästhetischen Erfahrung. Diese beinhaltet das Aushalten von Unvollkommenheit, von Scheitern und Erfolg in einer Haltung aktiver Hingabe. Diese Haltung birgt auch eine ethische Komponente. Freiheitliche Entfaltung braucht geregelte Umgangsformen. In gleichberechtigten, interrelationalen Beziehungen kann man voneinander lernen. Die dritte Komponente der »Hand« impliziert technisches Können als wichtiges Element kreativen Handelns. Systematisches Vorgehen und die Hilfe zur Selbsthilfe können dabei kreativitätsfördernd sein.

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Abbildung 38: Kreativität mit Kopf, Herz und Hand

Quelle: Johanna G. Eder

Ein kreativitätsbildender Prozess wird durch eine Rahmensetzung in einem heterogenen Umfeld angeregt, durch Leerstellen, sinnliche Erfahrungen, Lernanreize und ein Ergänzungsverhältnis von intrinsischer und extrinsischer Motivation, das sich im Wechselspiel von Struktur und Freiheit, von innerem Antrieb und äußerer Anerkennung entfaltet. Der kreative Prozess ist geprägt durch Beziehung, Vernetzung und Transfer, durch Reflexion der Inspirationsphase und des Flow sowie durch technisches Können. Kreativitätsbildung balanciert ein rechtes Maß an Fördern und Fordern, an Selbstständigkeit, Anerkennung und Aufmerksamkeit für individuelle Entwicklungsstände und Bedürfnisse. Sie will Freude am verantwortungsbewussten Tun wecken und den Einzelnen befähigen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Sie bildet die Sinne, die Gefühle, die Vorstellungswelt und Fantasie mit den Mitteln des Spiels und des Gestaltens. Kreativitätsbildung mit all ihren Facetten1 ist eine herausfordernde Gratwanderung. Die Instrumentalisierung von

1

Selbsterfahrung im Fluss des Kreativen Prozesses, in der Selbstauslotung und Grenzüberschreitung, im Gestalten des eigenen Selbst, den Beziehungen zu anderen Menschen, dem Gestalten von Leben und Welt.

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Kreativität kann die Motivation, den Prozess und das Produkt korrumpieren. Begabungen kann man nicht züchten, sondern nur entdecken und fördern. Dies setzt Spielräume und diversifizierte Bildungsangebote voraus, sodass Talente erprobt und realisiert werden können. Das Nicht-Messbare des kreativen Prozesses, eine kreative Grundhaltung, besitzt großen Eigenwert. Sie stellt eine Ressource und Verantwortung dar, deren institutionelle Pflege in Bildungsstätten gerade hinsichtlich globaler Herausforderungen sorgsam überdacht werden muss. Dies gelingt nur, wenn die Lernenden interessiert, kompetent, flexibel und strukturiert begleitet werden. Dieter Thomä fordert deshalb einen sozialen Bildungsraum, in dem die Vermittlung vorgegebener Kompetenzen mit der Schaffung von Freiräumen kombiniert wird.2 Die künstlerischen Beispiele in Kapitel C zeigten, dass Erlebnisse in der Kindheit die spätere Persönlichkeit und Lebensführung stark beeinflussen können. Kindheit und Jugend sind für die Entwicklung der Persönlichkeit in Ausrichtung auf werteorientiertes, kreatives Denken und Handeln entscheidend. Kreativität wird im Kindesalter erlernt, sie transformiert sich in der Adoleszenz und wird im Erwachsenenalter erhalten. Jedes Kind hat Neugier, Fantasie und Freude an kreativen Tätigkeiten. Im automatischen, intensiv lustvollen Spiel erschafft es sich eine Als-obWirklichkeit, die getragen wird von der Kreativität als Lebenshaltung, nicht als Leistung. Sie ist Bedingung für Lern- und Entwicklungsprozesse. Die Entwicklung dieser zentralen Fähigkeiten hängt stark ab von äußeren Rahmenbedingungen, Schutz, respektvoller Unterstützung und wertschätzender Anerkennung. Denn Kreativität selbst ist ein krisenhafter Prozess. Aus dem sehr frühen, narzisstischen Bedürfnis, gesehen und gespiegelt zu werden, bildet sich das Streben nach Anerkennung, ohne das keine kreative Haltung zustande kommen kann. Sie ist eine wesentliche Triebkraft der kulturellen Entwicklung.3 Bis zur Adoleszenz entwickelt sich die kreative Fähigkeit des Kindes unter guten Bedingungen weitgehend automatisch. Eine begünstigende Unterstützung durch geeignete Rahmenbedingungen ist sinnvoll. In der Adoleszenz, der wichtigen Phase kreativer Entordnung und Neuordnung, verlagert sich die Dynamik des kreativen Prozesses. Die ergebnisorientierte Leistung als Mittel der Selbsterkenntnis und Selbstverortung wird immer wichtiger. Den jugendlichen Willen, die Gesellschaft verantwortungsbewusst und leistungsstark mitzugestalten, gilt es ernst zu nehmen, anzuerkennen und zu ermöglichen – z.B. durch das Aufzeigen von Strukturen und kreativen Handlungsspielräumen. Das Gleichgewicht zwischen vorgegebener Ordnung und Freiheit, Bindung und Unabhängigkeit, Gewohnheit und Spontaneität, Führen und Wachsenlassen ist immer

2

Vgl. Thomä in: Jansen 2009, S. 244.

3

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 77.

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wieder neu zu reflektieren und individuell sensibel abzustimmen, damit sich Emotionen und Kognitionen in engem Austausch mit der Umgebung entwickeln können.4 Erwachsene möchten ihre kreativen Ressourcen erhalten, erweitern und nutzen. Hier wird kreatives Denken und Handeln gefördert durch Abbau von Bewusstseinsschranken und Zulassen der natürlichen Selbstentfaltung des Denkens.5 Kreativitätsbildung ist letztlich Selbstbildung und Weltbildung mithilfe der Kreativität. Der Philosoph Wilhelm Schmid drückt dies in seiner Pädagogik der Lebenskunst so aus: »fabricando fabricamur« 6, im Schaffen sich selbst neu erschaffen. Tabelle 9: Kreativitätsbildung in den verschiedenen Lebensaltern Kindheit

Adoleszenz

Erwachsenenalter

Neugier, Fantasie, Sinnliches Erleben Lustvolles Spiel Spiegelung Kreative Entordnung und Neuordnung zwischen ordnung und Freiheit, Bindung und Unabhängigkeit Intrinsische Leistungsorientierung Reflexionsfähigkeit, Werteorientierung. und Verantwortungsgefühl Entwicklung von Emotionen und Kognitionen Kreative Ressourcen erhalten, erweitern und nutzen Bewusstseinsschranken abbauen. Selbsterfahrung

Quelle: Johanna G. Eder

Entgrenzte künstlerische Kreativitätsbildung besitzt besonderes Potenzial, diese Bildungsanliegen zu unterstützen. Auf der Grundlage eines entgrenzten Kunstverständnisses dient die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit den Künsten der Selbstentfaltung und Entwicklung der Kreativität auf besondere Weise.

4

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 181/182.

5

Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 14.

6

Wilhelm Schmid zitiert in: Brenk/Kurth 2005, S. 44.

E KREATIVITÄTSBILDUNG IM KONTEXT TRANSMEDIALER KUNST

Kunstpädagogik eignet sich im Besonderen dazu, die kreative Grundkompetenz des Menschen zu bilden, da das Künstlerische intra- wie intersubjektives transformatorisches Entwicklungspotenzial hat, identitätsstiftend und kulturkonstituierend sein kann. Kapitel D fragte nach der Kreativitätsbildung und entwickelte erste Gedanken zu einer entgrenzten, künstlerischen Kreativitätsbildung. Das fünfte und letzte Kapitel E fragt nun danach, wie Kunstpädagogik auf diese durch Vernetzungen und Transformationen provozierten Bildungsanforderungen reagieren kann, was sich aus der Analyse transmedialer, künstlerischer Kreativität für kunstpädagogische Kreativitätsbildungsprozesse fruchtbar machen lässt, welches persönlichkeitsbildende Potenzial eine kunstpädagogische Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst birgt und welche Haltung sie erfordert. Im Folgenden leitet Kapitel E Erkenntnisse aus den bisherigen Buchteilen ab und resümiert diese zu einem konkretisierten Ansatz kunstpädagogischer Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst. Dieser fußt auf der interrelationalen Ästhetik und dem Bildungsverständnis des HOMO CREANS und ist auf eine kreative und co-kreative Grundhaltung ausgerichtet, auf entsprechende Denkweisen, Handlungsstrategien und Lebenskompetenzen des HOMO CREANS.1 Das kleine »Stadt-Land-Fluss« Spiel zu Beginn des Buches kam zu der Erkenntnis, dass dem nomadisch durch den krisenhaften Transit der globalen Hyperkultur reisenden, zeitgenössischen Menschen eine kreative Grundhaltung dem Leben gegenüber notwendig, ja sogar zentral ist. Daraus ergibt sich sowohl die Forderung nach

1

Vgl. die vier Oberkategorien der Kompetenzen des 21. Jahrhunderts, entnommen aus dem Status Bericht des Projekts Assessment & Teaching of 21st century skills, einem weltweiten Projekt von über 250 Forschern aus 60 Institutionen. Vgl. http://atc21s.org/in dex.php/about/what-are-21st-century-skills/ (21.04.2013).

374 | HOMO C REANS

Kreativitätsbildung als auch die Frage, wie Kunstpädagogik mit den Herausforderungen gegenwärtiger Vernetzungen und Entgrenzungen umgehen kann. Es ergaben sich folgende subjektive wie intersubjektive Anforderungen an eine kunstpädagogische Kreativitätsbildung: • Der sensible Umgang mit Komplexität, Autonomie und Einmischung wie auch

das Zelebrieren von Vielfalt und Einzigartigkeit • Eine differenzierte Gestaltungskompetenz, welche die eigenen Fähigkeiten kennt,

kritisch nutzt und genießt • Eine Kompetenz zur lebenslangen Identitätsgestaltung, welche mündig mit den Potenzialen, Grenzen und Gefahren der eigenen Kreativität umgeht • Kommunikations-, Bild- und Medienkompetenzen • Reflexionskompetenz, welche von ideologiekritischer Selbständigkeit, Orientierungs- und Beziehungsfähigkeit getragen ist Der Begriff des Kompetenzerwerbs versteht sich hier im Sinne des lebenslangen Lernens. Das Buch lotete daraufhin in vielfältiger Weise künstlerisch und kunstpädagogisch kreativitätsbildende Grundsätze aus. Kapitel A zeichnete erste Skizzen des schöpferischen Menschen. Ausgehend von gegenwärtigen Transformationen fiel der Blick zurück auf ursprüngliche, mythologisch-metaphorische und stereotype Sichtweisen des künstlerischen HOMO CREANS. Kreativität erwies sich darin als die evolutorische Kraft der Kultur. Kapitel B stellte Lern- und Bildungsprozesse, den kreativen Prozess und kreative Persönlichkeitsfacetten differenziert dar. In Kapitel C öffnete sich der Kontext der transmedialen Kunst als ein Spiegel der vernetzten, pluralistischen, altermodernen Welt. Das Experiment der Erschließung transmedialer Kunstformen aus der Warte der Bildenden Kunst geschah hier mithilfe von übergeordneten Kriterien der Kreativität. Auf der Basis der (Selbst-)Ähnlichkeit entstand ein kaleidoskopischer Perspektivenwechsel. Dadurch fand sich ein schneller Zugang zum Verständnis künstlerisch-kreativer Prozesse und künstlerischer Ansätze. Kreativität erwies sich als komplexes Netzwerkphänomen, als Interrelationalität jenseits der begrenzten Disziplinen und ihrer Methoden. Die künstlerischen Strategien wurden zu Knotenpunkten der Künste. Die Vielfalt künstlerischer Ausdrucksformen offenbarte sich als Reichtum. Aus der Darstellung von Wegbereitern der transmedial entgrenzten Kunst wie auch aus den Fallbeispielen lässt sich implizites Wissen der Künstler zum kreativen Prozess ableiten. Künstlerisch-kreative Prozesse entstehen aus einer sensiblen, offenen Grundhaltung, die in künstlerisch-forschende Ansätze mündet. Dabei werden unterschiedliche Einflüsse in einer hohen intrinsischen Motivation und Selbständigkeit vernetzt. Der Flow der jeweiligen ästhetischen Erfahrungen erzeugt sinnstiftenden Genuss und Ansporn. Die Umsetzung der kreativen

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Ideen fußt auf der Grundlage komplexer kommunikativer Fähigkeiten. Kreatives Denken und Tun schließt die gesamte Persönlichkeit mit ein und beinhaltet eine interrelationale Lebenshaltung. Entwicklung ergibt sich aus Bezügen und Beziehungen heraus und spiegelt diese wieder. Hier bestätigt sich der Satz des Erziehungswissenschafters Olaf-Axel Burow: »Kreativität gibt es nur im Plural.«2 Künstlerische Kreativität erweist sich als interrelationaler Resonanzraum, als vernetzende und transformierende Bricolage, als systemischer, co-kreativer Lebens-, Lern- und Entwicklungsprozess bis hin zur kathartischen Krisenbewältigungsstrategie mit resilientem Potenzial. Das kreative Produkt ermöglicht eine Teilhabe am Denken und Fühlen, es führt zu (Selbst-)Erkenntnis, zu Selbst- und Weltgestaltung. Folgende kreative Dynamiken ließen sich entlang der dargestellten kreativen Prozesse extrahieren. Sie eignen sich als Rahmen für kunstpädagogische Kreativitätsbildung Abbildung 39: Fünf kreative Dynamiken

Quelle: Johanna G. Eder

2

Burow 1999, zitiert in: Kirchner, Constanze und Peez, Georg: Kreativität in der Schule, in: K+U Heft 331/332 2009, S. 17.

1 Pädagogische Maxime

Kreativitätsbildende Kunstpädagogik im Zeichen des HOMO CREANS verfolgt das pädagogische Hauptziel der Persönlichkeitsentwicklung durch Ästhetische Bildung1. Bildungsgegenstand der kreativitätsbildenden Kunstpädagogik ist die transmedial entgrenzte Kunst2 als erfahrbares, interrelationales Ereignis. Ihre Pluralität birgt die Chance zur Erweiterung. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Dies zeigt sich am Kunstwerk, das mehr als eine Summe aus Form, Inhalt und Medium ist, und lässt sich auch auf die Gesellschaft übertragen. Eine Auseinandersetzung damit kann Denken und Arbeitsweisen kreativ entgrenzen. Über den gemeinsamen Nenner des kreativen Prozesses können künstlerische Praktiken und kunstwissenschaftliche Disziplinen angesichts transmedial entgrenzter Kunst in einen synergetischen Dialog treten. Dies wird sich auch auf Vermittlungsprozesse bereichernd auswirken. Wie eine Brücke zwischen Kunst und Leben kann die Kunstpädagogik diesen kunstimmanenten Mehrwert vermitteln. Ausgangspunkt und Spielraum ist dabei der undefinierte Transitraum der Imagination im Dazwischen von Subjekt und Welt. Dies ist der Raum der ästhetischen Erfahrung. Kreativitätsbildende Kunstpädagogik will diesen Erfahrungsraum in Form von Wahrnehmungs-, Denk-, Handlungs- und Lernprozessen eröffnen, begleiten und selbständig wachsen lassen. Die zentrale Dynamik solcher Lernprozesse ist der Wechselstrom aus konvergentem und divergentem Denken. Kreatives Denken entspricht dem ästhetischen Denken. Es verbindet sinnliche Wahrnehmung mit differenzierenden Reflexionen zu neuen Erkenntnissen. Diese sind grundlegend für den selbstbestimmten, mündi-

1

Ästhetische Bildung ist gleichzeitig kulturelle und ethische Bildung. Als wahrnehmende und erkundende Zuwendung zur Welt und zum Selbst ist sie nicht auf den Kunstunterricht begrenzbar, sondern durchdringt alle Lebensbereiche. Ästhetische, kulturelle und ethische Selbstbildungsprozesse können jedoch kunstpädagogisch angeregt und gefördert werden; vgl. Peez 2005.

2

Dazu gehören auch lebensweltliche Phänomene der Produktkultur, Massenkultur, Popkultur und Subkultur.

378 | HOMO C REANS

gen Umgang mit den vielfältigen Sinneseindrücken der Welt. Kreatives Denken und Handeln wird gefördert durch das Zulassen der natürlichen Selbstentfaltung des Denkens und durch den Abbau von Denkschranken.3 Die Reflexion ermöglicht einen komplexen kreativen Prozess und rundet ihn in der Verifikation ab. Werden diese kognitiven Dimensionen der Kunst und künstlerischer Handlungsstrategien nicht ausgeschöpft, bleiben kreative Bildungsprozesse jedoch an der Oberfläche von sinnlichem Hedonismus. Eine simple Oberflächenästhetik kann zum Missverständnis oder zu einer Klischeevorstellung von Kunst und Kunstpädagogik führen. Die Reflexionen und Erkenntnisse der Verifikationsphase sind hier notwendige Regulative. Die produktiven wie reflexiven Handlungsweisen des Künstlerischen bergen persönlichkeitsbildende Potenziale. Sie können sinnstiftende Impulse auslösen. Der Spielraum der Kreativität erweitert Identität und Leben um die Dimension der Fantasie und ermöglicht so einen kathartischen Druckausgleich. Eine künstlerischkreative Haltung, ausgedrückt im Denken und Tun, ist eine wichtige Kompetenz und Ressource für Lebensbewältigung.4 Sie kann in einer widersprüchlichen, liminalen Gegenwart für Orientierungs- und Bildungsprozesse besonders fruchtbar werden, wenn die Kunst in ihren komplexen Zusammenhängen erlebt und kognitiv bearbeitet wird. Die grenzenlose, subjektive Vorstellungskraft steht dabei im Mittelpunkt. Deshalb ist Lernen an und mit den Künsten entgrenztes Lernen. In dieser Form können dies ganz besonders die musischen Fächer leisten.5 Ästhetische Erfahrung kann sich dabei sowohl in der ästhetischen Organisation6 als auch in der ästhetischen Reflexion7 ereignen.8 Ästhetische Reflexion betrifft die kritische, reflektierende Wahrnehmung der Umwelt und all ihrer Erscheinungen. Sie prägt die bildende Beziehung des Menschen zur Welt. Schon die Kunstrezeption ist ein kreativer und somit kathartischer Prozess. Ästhetische Organisation

3 Vgl. Allesch in: Hofmann 2007, S. 14. 4 Vgl. Korenjak in: Hofmann 2007, S. 90. 5

Vgl. Buschkühle, Carl Peter: Künstlerische Bildung und Multimedialität, in: Brenk/Kurth 2005, S. 50.

6

Das eigene bildnerisch produktive »Gestalten mit dem Ziel, Bedeutungsinhalte und formale Strukturen in Einklang zu bringen« Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 192.

7

Z.B. Kunstbetrachtung, Reflexion über die sinnliche Qualität, Wirkung, Struktur, Form, und Bedeutung der Kunst, sowie grundsächlicher ästhetischer Alltagserfahrungen, »die das aufmerksame Auge und Ohr des Menschen auf sich lenken, sein Interesse wecken und […] sein Gefallen hervorrufen.« John Dewey in: Peez 2005, S. 20. Ästhetische Reflexion ist die Entschlüsselung ästhetischer Objekte.

8

Dies ist nach Gunter Otto (1927-1999) und Constanze Kirchner der Kern jeglicher Kunstvermittlung, unabhängig von der Bildungsinstitution. Vgl. Peez 2005, S. 19

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meint das individuelle, gestalterische oder künstlerisch-praktische Tun. Es verbindet Emotio und Ratio zu einem Inhalt, zu Form und Medium. Dadurch gibt es inneren Bildern und Fantasien eine äußere Gestalt. Abbildung 40: Zwei Ebenen der Kreativitätsbildung

Quelle: Johanna G. Eder

Das Prinzip der Handlungsorientierung regt nachhaltiges Lernen an.9 Handeln kann sich dabei sowohl auf den praktisch-materiellen Aspekt beziehen wie ebenso auf immaterielles, geistiges Handeln. Angestrebt wird eine hohe Selbständigkeit und ganzheitliche Herangehensweise mit »Kopf, Herz und Hand«. Die Reflexivität und Produktivität ästhetischer Erfahrung realisiert sich im kreativen Prozess. Im Freiraum des ästhetischen Spiels verweisen Produktion und Rezeption wechselseitig aufeinander.10 Entlang des kreativen Prozesses leiteten sich aus den Fallbeispielen fünf kreative Dynamiken ab, aus denen sich fünf konkrete, kunstpädagogische Teilziele entwickeln lassen: Sensibilität, Selbständigkeit, Genussfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und Beziehungsfähigkeit.11 Sie bilden die pädagogischen Maxime einer Kreativitätsbildung im Kontext transmedialer Kunst.

9

Vgl. Wiater 2012, S. 4.

10 Vgl. Semsch 2005, S. 141. 11 In Erweiterung der Zusammenstellung von Eid/Langer/Ruprecht 2002, S. 161-192.

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1.1 S ENSIBILITÄT Zu Beginn eines kreativen Prozesses stellen sich den Protagonisten existentielle Fragen, ausgelöst durch eine Krise, Neugier, Begehren oder eine intensive ästhetische Erfahrung. Dies erfordert die Fähigkeit bzw. Grundhaltung der Sensibilität. Die perzeptuelle Sensibilität dient der differenzierten Wahrnehmung durch die Sinnesorgane des Sehens, Hörens, Schmeckens, Riechens, Berührens, durch die emotionale Wahrnehmung sowie durch kinästhetische Bewegung. Die soziale Sensibilität bezeichnet Empathie und Einfühlungsvermögen. Die geistige Sensibilität hilft zu Analysieren und Interpretieren, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und Lösungsstrategien zu entwickeln. Die virtuelle Sensibilität ist fähig zu Fantasien, Selbsterkenntnis und Vorstellungen über Handlungsmöglichkeiten und deren Folgen. Diese Arten von Sensibilität sind nicht voneinander zu trennen und äußern sich u. a. in Empathie und Fantasie, in Bild- und Mediensensibilität. In der reflexiven wie produktiven Auseinandersetzung mit Kunstwerken entsteht eine intensivere Wahrnehmung, die bei der Strukturierung von Sinneseindrücken helfen kann.12 Eine mündige Kreativität braucht auch Sensibilität für schöpferische und zerstörerische Ambivalenzen, für Instrumentalisierungen und Ideologien, um Verantwortung für Gesellschaft und Welt sowie deren nachhaltige Mitgestaltung übernehmen zu können.

1.2 S ELBSTÄNDIGKEIT Nun braucht es das Wagnis der Entscheidung, spielerisches Erproben, Simulieren und Verwandeln. Zentrale Kompetenz ist hierbei die Selbstständigkeit. Sie bezeichnet die Ich-Stärke des Menschen: Selbstwertgefühl, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, Spontaneität, Spielfähigkeit, REST-Kompetenz13, kritisches Denken und Ordnungsvermögen, intrinsische Motivation, Mut, geduldigen Ehrgeiz und hartnäckiges Interesse, Balance und Stabilität in der Labilität, Selbstbestimmung, Flexibilität, Entscheidungsfähigkeit und Handlungsstrategien. Zur Selbständigkeit gehört die Selbstorganisation von Input und Output, die Fantasiefähigkeit und Transferfähigkeit. Selbständigkeit ist notwendig für die Forscherkompetenz bzw. das lebenslange forschende Lernen.

12 Vgl. Kirchner 1999, S. 260. 13 Random Episodic Silent Thinking. Die Fähigkeit, selbständig geeignete schöpferische Pausen und Ruhephasen zu suchen und zu nutzen.

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1.3 G ENUSSFÄHIGKEIT Im Zentrum des kreativen Prozesses – sowohl im produktiven wie auch rezeptiven Sinn – stehen subjektive Erkenntnismomente, die Vision der Inspiration und die Hingabe an den Flow. Die Lust am spielerischen und künstlerischen Gestalten kann im Flow ein Höchstmaß an rauschhaftem Glücksgefühl erzeugen. Mit diesem Erfahrungsbereich gilt es sowohl genussorientiert als auch besonnen und verantwortungsbewusst umzugehen. Zum Einen fördert das Flow-Erleben eine intensive Wahrnehmung. Es bereitet Genuss, schöpferische Freude, Spiel und Fest, Lebensglück, Kraft und Sinn. Der Flow baut Ängste ab und stärkt Vertrauen. Zum Anderen birgt der Flow jedoch auch intrinsische und extrinsische Problematiken. Im Protagonisten erzeugt er eine emotionale Distanzlosigkeit. Sie kann sich äußern in unkritischer Selbstwahrnehmung, Selbstüberschätzung und Verabsolutierung. Zudem macht unkritische Emotionalität anfälliger für Manipulation und Ideologisierung. Gerade nach dem Abklingen des euphorischen Flows können sich Gefühle von Schwermut und Selbstzweifel einstellen. Ein solcher Kontrast von emotionalen Extremen birgt die Gefahr von Triggern für psychische Labilisierungen und Suchtgefahr. Von außen kann der Flow als Mittel zum Zweck der Leistungsorientierung instrumentalisiert werden – sei es im Sinne einer (Selbst-)Ausbeutung oder einer Steigerung der Innovationskraft. In Verbindung mit der Genussfähigkeit steht also gleichsam eine Kompetenz, die nach dem Abklingen des Flow Gefühl und Verstand, Erkenntnisfähigkeit und Frustrationstoleranz integrativ verwaltet, die kritisch mit den Potenzialen und Problematiken des Flow umgeht und die eine Mündigkeit für ethisches Handeln entwickelt.

1.4 K OMMUNIKATIONSFÄHIGKEIT Kreativität als interrelationale Dynamik findet in einem Kontakt- und Kommunikationsraum statt. Künstlerische Kreativität tauscht sich über Inhalte, Formen und Medialitäten aus, gibt Wissen weiter, teilt Erkenntnisse, Gefühle und Empfindungen. Kommunikationsfähigkeit meint die Fähigkeit des Kontakts und Selbstausdrucks hin zu einer kollaborativen bzw. co-kreativen Gestaltungskompetenz, die sich einer Form von Sprache bedient und sich nur im Kontext eines Dialoges mit Sender- und Empfängerposition vermitteln kann. Deshalb beinhaltet Kommunika-

382 | HOMO C REANS

tionsfähigkeit auch eine kritische Entscheidungsfähigkeit und (Selbst-) Reflexionskompetenz sowie Bildkompetenz14 und Medienkompetenz15.

1.5 B EZIEHUNGSFÄHIGKEIT Die Interrelationalität der Kreativität denkt konvergent und divergent, setzt Dinge spielerisch in Beziehung, erkennt Beziehungen. Deshalb bedarf sie einer sensiblen, verantwortungsbewussten, verbindlichen Beziehung zu sich und seinen Bedürfnissen, zu den Mitmenschen und zur Welt. Jede Entscheidung ist eingebunden ins Beziehungsnetz, also mit Verantwortung verbunden. Eine ethisch verantwortungsbewusste Kreativität braucht soziales und politisches Bewusstsein, Empathie-, Teamund Konfliktfähigkeit, Reflexionskompetenz, interkulturelle Kompetenz, Bescheidenheit, Humor und Selbstdistanzierung, Frustrationstoleranz und Resilienzfähigkeit. Co-Kreativität basiert auf kooperativem Verhalten und Beziehungen auf Augenhöhe.

14 Der mündige Umgang mit Bildkommunikationen, z.B. das Lesen, Ausdeuten und Anwenden von Bildrhetorik. Bildkompetentes, ästhetisches Denken ist grundlegend für den selbstbestimmten, mündigen Umgang mit den vielfältigen Sinneseindrücken der Welt – gerade im Kontext künstlerisch-kreativen Denkens und Handelns. Innerhalb der Kunstpädagogik gibt es bereits einen ausführlichen Diskurs zur Notwendigkeit des Bildkompetenz-Erwerbs, um in der Bilderflut Orientierung zu schaffen. Vgl. Buschkühle, Carl Peter: Künstlerische Bildung und Multimedialität, in: Brenk/Kurth 2005, S. 42/43. 15 Sensibilisierung und kritisches Bewusstsein für die vielschichtigen Qualitäten eines Mediums, selbstbestimmte Wahl.

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Abbildung 41: Die 5 Teilziele der Kreativitätsbildung

Quelle: Johanna G. Eder

In der multimedialen und multiperspektivischen Welt des 21. Jahrhunderts kann transmediale Kunst eine pädagogische Funktion übernehmen. Die fünf Teilziele sowie die bereits dargelegten künstlerischen Strategien bilden die Grundlage einer methodischen Umsetzung kreativitätsbildender Kunstpädagogik im Kontext transmedialer Kunst.

2 Methodische Maxime

Ein kreativer Prozess ist als solcher nicht greifbar und kann auch im Verborgenen ablaufen. Er kann nicht erzwungen oder instrumentalisiert, sondern nur durch bestimmte Rahmenbedingungen unterstützt werden. Dies ist die Aufgabe einer kreativitätsbildenden Kunstpädagogik im Kontext transmedialer Kunst – unabhängig von der pädagogischen Institution. Sie orientiert sich am einzelnen Subjekt, an den fünf Phasen des kreativen Prozesses und geht dabei induktiv von der Transmedialität ästhetischer Erfahrungen aus. Diese können sich in der Rezeption von Kunstwerken ereignen oder sich mithilfe künstlerischer Strategien in Kunstwerke bannen. Sowohl die Ebene der ästhetischen Reflexion als auch der ästhetischen Organisation folgt der transmedialen Methode des Artistic Research auf der Basis der künstlerischen Strategien. Welche Herausforderungen stellen sich Kunstpädagogen im Kontext der Kreativitätsbildung? Sie sollten über kreative Rahmenbedingungen, Persönlichkeitseigenschaften und die Dynamiken des kreativen Prozesses bestens Bescheid wissen. Kunstpädagogen treten im Kontext der Kreativitätsbildung in unterschiedlichen Rollen auf. Sie sind weniger Autoritäten, als vielmehr zurückhaltende Impulsgeber, Entwicklungsbegleiter, Mentoren und Reflexionspartner, die im Umgang mit Komplexität ermutigend Orientierung geben.1 Sensibel und kundig gehen sie auf subjektive Fähigkeiten und Ideen, Wissen und Motivation ein. Als Rahmengeber hören sie zu, stellen offene Fragen, schaffen Ereignis- und Möglichkeitsräume für die Entfaltung individueller Neigungen und Talente. Als wohlwollende Unterstützer lassen sie die Spezifika einer Persönlichkeit zu und sind dabei behilflich, bipolare Extreme in der Balance zu halten. Letztlich geht es um eine Kultur der Achtsamkeit, die kreative Potenziale hervorlockt, entfaltet und erweitert. 2

1

Vgl. Kruse, Peter: Zukunft der Führung: Kompetent, kollektiv oder katastrophal? Vortragscharts in: http://www.forum-gute-fuehrung.de/sites/default/files/Bilder-menu/Zu kunft-Personal-Kruse-2013.pdf (22.09.2014).

2

Vgl. Binning 1990, S. 117.

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In Ableitung aus den Fallbeispielen und entlang des kreativen Prozesses werden nun konkrete Rahmenbedingungen kunstpädagogischer Kreativitätsbildung erörtert und ausdifferenziert: • • • • •

Präparation: Äußerer Rahmen Inkubation: Persönliche Haltungen Inspiration: Subjektives Erleben Inkarnation: Vernetzte Ressourcen Verifikation: Bewertung

2.1 P RÄPARATION – ÄUSSERER R AHMEN Der kreative Prozess beginnt in einer krisenhaften Unvollkommenheit bzw. bei der ästhetischen Erfahrung mit ihren kathartischen Emotionen (z.B. Staunen, Leidenschaft, Faszination, Entsetzen). Kreativität entfaltet sich in der Weiterentwicklung des Erlebten, im dynamischen Gleichgewicht von Kopf, Herz und Hand (Kognition, Emotion, Aktion). Aufgabe der Kunstpädagogen ist es, in Anknüpfung an die Interessen der Protagonisten einen sinnlich, transmedial und emotional anregenden Beziehungsraum zu eröffnen. Das Spektrum des Hybridfachs Kunstpädagogik hilft dabei, Lebenswelt intuitiv und kartierend zu beobachten, Fragen zu stellen, Perspektivenwechsel zu ermöglichen, im Dazwischen der Künste bzw. im Kontaktraum von Kunstrezeption und künstlerischer Produktion zu navigieren und Schnittmengen auszuloten. Um später eine Ausdrucksvielfalt zur Verfügung zu haben, werden die Protagonisten mit den künstlerischen Strategien Forschung, Spiel, Zufall, Komposition und Vernetzung, Techniken und Handwerkszeug vertraut gemacht. Die handwerklich-sinnliche Erfahrung durch Üben und praktisches Gestalten 3 ermöglicht ihnen, Wahrnehmung und Körpergefühl zu sensibilisieren, Neugier und intrinsische Motivation zu entwickeln, Handlungsmöglichkeiten kennenzulernen und technisches Können zu erlangen, eine ästhetische Erfahrung zu machen, kulturelle Horizonte zu erweitern. Maßnahmen zur intrinsischen Motivierung sind das Anknüpfen an die Erfahrungs- und Lebenswelt der Protagonisten, die Förderung von Neugierverhalten, die Differenzierung verschiedener Leistungsniveaus, der Einbezug von affektivem, kognitivem und sozialem Lernen durch positive Erfahrung.4 Ein gewisser Grad an Herausforderung wird als motivierend wahrgenommen und

3

Z.B. in Zeichnen, Malerei, Fotografieren, Werktechniken, Bildbeschreiben, Bildbearbeitung am Computer, Video, Mixed Media, Performance, musikalisches Gestalten, Tanz, freies Spiel, Crossover etc.

4

Vgl. Schröder 2001, S. 250-251.

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verstärkt das Flow-Erleben und das Erfolgserlebnis. Es ist wichtig, sich an verschiedensten sinnlichen Materialien zu erproben. Künstlerisches Material kann alles sein, was man wahrnehmen, sich vorstellen und denken kann. Auch gewisse Entbehrungen können förderlich sein. Der kreative Freiheitsrahmen entsteht im Gleichgewicht von disziplinierenden Strukturen, freien Spielräumen und Experimentierfeldern. Ein Atelier oder ein multisensorisches Werkstattlabor sind geeignete Räume für künstlerisch-kreative Projekte und soziale Kommunikationsprozesse.5 In anregender Atmosphäre des heterogen strukturierten Umfelds entwickeln die Protagonisten eigene Fragestellungen und bearbeiten sie produktiv.6 Ideen sollten modifiziert und weiterentwickelt werden können. Abweichungen sollten honoriert, lästige Beiträge toleriert und Unpassendes ernst genommen werden. Besonders wichtig ist es, dass die Kunstpädagogen die Protagonisten durch die anfängliche Liminalität begleiten, Unsicherheit auffangen, sie in ihren Fähigkeiten bestärken, sie ermutigen, sich persönliche Schwerpunkte zu suchen und sich für eine kreative Grundhaltung zu entscheiden.7

2.2 I NKUBATION – P ERSÖNLICHE H ALTUNGEN Eine kreativitätsbildende Grundhaltung wird dann möglich, wenn man sich dem divergenten Denken öffnet, Ordnungsstrukturen labilisiert und auflöst, um zu einer neuen Form von Kohärenz zu gelangen.8 Dies umfasst nach Robert Sternberg: 1. 2. 3. 4.

5.

5

Wissensaneignung, Selbstverantwortung, hohe intrinsische Motivation, höchste Ansprüche und Selbstdisziplin. Analoges und divergentes Denken, REST, Rituale. Ein gewisses Maß an Nonkonformismus. Selbstvertrauen und Überzeugung vom Wert und der Bedeutung der kreativen Tätigkeit. Unabhängigkeit von der Kritik und Abwertung anderer. Selbstkritik als Regulativ, das den eigenen Prozess überwacht und verbessert. Offenheit für die Unterstützung und Resonanz Anderer, Offenheit für Fernliegendes und Abwegigkeiten.9

»Das Entscheidende ist, daß man einen speziellen, auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittenen Raum hat, der ein Gefühl der (Selbst-)Kontrolle und des Wohlbehagens vermittelt.« Csikszentmihalyi 1997, S. 202ff.

6

Vgl. Kämpf-Jansen 2001, S. 22.

7

Vgl. Brandstätter et al. 2008, S. 9, S. 15/16.

8

Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 185.

9

Vgl. Funke in: Dresler/Baudson 2008, S. 35/36.

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Die Balance zwischen dem divergierenden, spielerischen Experimentieren und der intellektuellen Reflexion ist Voraussetzung für kreative Transformationen. Die Kunst des Spiels und das Spiel der Kunst eröffnen eine Als-ob-Welt, einen Ausnahmezustand, einen Freiraum, in dem Fähigkeiten prototypisch erprobt und erlebt werden können, wo Spielregeln selbst aufs Spiel gesetzt werden. Das Spiel überwindet Angst. Im Vertrauen kindlich naiver Indifferenz ermöglicht es, Dinge wie zum ersten Mal zu erleben. Das Spiel verwendet Zufälle, nutzt Gelegenheiten, lässt Dinge laufen und baut neue Strukturen. Das co-kreative Spiel in der Gruppe verknüpft Gedanken und Aktionen miteinander. Jeder bringt sich ein, erhält Vertrauen, Verantwortung, wertschätzende Resonanz und Selbstbestätigung. Die gemeinsame Sache stärkt die Identität sowie die Gemeinschaft. Das Spiel ist zweckfrei. Sein Selbstwert darf nicht funktionalisiert werden. Es erfordert geeignetes Spielzeug, Offenheit, Witz, Leichtigkeit, Hingabe, das Einhalten von Spielregeln und den Freiraum für die intrinsische, leidenschaftliche Lust am Spontanen. Diese erspielte Persönlichkeitsentwicklung kann sich dann von der Laborsituation des künstlerischen Denkens und Tuns auf das Alltagsleben übertragen. Im besten Fall stecken die Kunstpädagogen einen Spielraum und verhelfen den Protagonisten dazu, selbständige Spieler zu werden.10 Zu einer interrelationalen Lebenshaltung mit kreativem Bewusstsein gehört auch eine ethische Kompetenz, verantwortungsbewusster Gemeinschaftssinn und ein mündiger, reflektierter Umgang mit der eigenen Schöpferkraft. Dies zu fördern ist die Aufgabe von Erziehung und Bildung11. Hierzu kann und muss auch die Kunstpädagogik beitragen.

2.3 I NSPIRATION – S UBJEKTIVES E RLEBEN Schöpferische Pausen dienen der Sammlung, Findung, Verarbeitung und Reflexion. Um ungestört in einen Flow eintreten zu können, benötigen die Protagonisten ein geeignetes Arbeitsklima in Balance zwischen Aktivität und Passivität, genügend Zeit und ästhetische Freiräume, um sich ihrem kreativen Denken und Tun konzentriert und motiviert widmen zu können. Die Begeisterung des Flow kann anstecken. Sich im Flow zu verlieren, kann jedoch zu Kommunikations- und Beziehungsstörungen führen. Fantasiebegabte Persönlichkeiten neigen mitunter zu überschießenden Ideen. Es ist wichtig, den Genuss der Euphorie zuzulassen, ihnen bei der Be-

10 Sturzenhecker/Riemer 2005. 11 Elternhaus, Schule, Ausbildungs- und Freizeitstätten sind dabei die zentralen Sozialisationsinstanzen.

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herrschung ihres kreativen Triebs zu helfen und sie in die Realisation ihrer Ideen hineinzuführen.

2.4 I NKARNATION – V ERNETZTE R ESSOURCEN Im kreativen Prozess vernetzen sich vielfältige Ressourcen zu einem neuen Ganzen. Eine besondere Ressource ist dabei die Interrelationalität. Die Entfaltung von Begabung geschieht im Beziehungsraum. Unsicherheit und emotionale Ablehnung beeinträchtigen die Kreativität. Die Protagonisten sind im krisenhaften, labilisierenden Verlauf des kreativen Prozesses auch Impulsen ausgesetzt, vor der mühsamen Disziplin und den mitunter leidvollen Seiten des kreativen Prozesses zu fliehen – zum Beispiel durch mediale Ablenkungen bis hin zu Suchtentwicklungen. Dies kann aufgefangen und in kreative Ausdauer umgeleitet werden. Künstlerische Strategien helfen bei der Umsetzung. Sowohl Besserwisserei und Instrumentalisierung als auch Über- und Unterforderung verhindern jedoch authentische Erfolgserlebnisse. Die Protagonisten können dann nicht an ihre eigenen Grenzen stoßen und sie erweitern. Durch ein affektives Klima im Beziehungsraum kann kreative Leidenschaft entstehen, die es auch durch dieses Leiden hindurch schafft. Dazu braucht es Vertrauen und Ich-Stärke. Sie kann gefördert werden durch wohlwollende Aufmerksamkeit, ermutigende Begleitung und achtsame Spiegelung. Die Zuwendung durch empathische Bezugspersonen stellt die Stärken in den Vordergrund, thematisiert jedoch auch Schwächen auf ehrliche und konstruktive Weise. Dies gewährt Sicherheit, Geborgenheit und einen emotionalen Spielraum. Die Mühen dürfen den Protagonisten jedoch nicht abgenommen werden. Denn das hieße das Ende ihrer Entwicklungsprozesse.

2.5 V ERIFIKATION – B EWERTUNG Ohne Aufmerksamkeit des Umfelds bleibt Kreativität unerkannt und folgenlos. 12 Erst im evaluierenden Abschluss des kreativen Prozesses erfüllt sich die Befriedigung des Flow. Das affizierende Eintauchen in den Flow braucht ein Auftauchen in der Verifikation. Dies geschieht durch eine ausführliche und kritische (Selbst-) Reflexion des kreativen Prozesses und seines Produkts. Sonst bleibt der kreative Prozess unvollständig, mitunter oberflächlich und schönheitstrunken. Ein kreativitätsbildender Ansatz nutzt den Genuss des Flow als Zugpferd. Die Kompetenz, mit der Distanzlosigkeit des Flow, seiner ideologischen Manipulierbarkeit, seiner subjekti-

12 Vgl. Csikszentmihalyi 1997, S. 19ff.

390 | HOMO C REANS

ven, unkritischen und mitreißenden Kraft wie auch mit den emotionalen Extremen umzugehen, gehört zentral zu den persönlichkeitsstärkenden Elementen der Bildung eines reifen, mündigen, selbständigen und verantwortungsbewussten Umgangs mit Kreativität. Bestätigung und Selbstbefriedigung erhält man zwar schon durch das Ergebnis des eigenen Tuns, mehr noch jedoch durch die Anerkennung von Bezugspersonen. Wenn es um die Bewertung des kreativen Produkts geht, braucht es besondere Achtsamkeit. Diese sollte spezifisch auf die individuelle Leistung zugeschnitten sein. Sie sollte sachlich interessiert, ehrlich und wertschätzend sein, um zur Weiterarbeit zu motivieren.13 In jeder der fünf Stufen stecken krisenhafte Entscheidungspunkte. Aus der Kombination von Beziehungen und Bezügen entsteht Neues. Dies entspricht der Mikround Makrostruktur des kreativen Prozesses. Den Boden bereiten der Sinnesreichtum und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Schlüssel ist das Selbstvertrauen. Ziel ist die Weiterentwicklung, Lebens- und Weltgestaltung. Kreativitätsbildung braucht Zeit. Man kann lediglich einen Rahmen für den Prozess schaffen und ihn achtsam begleiten.

13 Vgl. Holm-Hadulla 2011, S. 79-81.

3 HOMO CREANS als Heterotopie »Wagnis und Sensibilität, Ironie und Spiel, Bereitschaft zu unkonventionellen Lösungen und Konsens – diese Elemente der Kunst – sind nicht Tugenden, die die funktionalisierte Welt erst aushaltbar machen, es sind die Tugenden, ohne die sie nicht funktionieren würde.« HARTMUT VON HENTIG1

Als zentrales Element der Persönlichkeit ist Kreativität in sich ein transmedialer, systemischer Prozess, der Normen, Konventionen und Grenzen jeglicher Art zu entgrenzen vermag. In der transmedial entgrenzten Kunst – einem Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen – läuft Kreativität gleichsam prototypisch ab. 2 Künstler beobachten und erleben die Welt und gewinnen Erkenntnisse aus diesen ästhetischen Erfahrungen. Dann transformieren sie ihre Vorstellungen und Erfahrungen in Werke, die gleichsam Erklärungsmodelle der erlebten Welt sind. Kunst wird zu einem Reflexionsmodell. Sie wird zum Ort, wo Zwischenräume erkundet und entwickelt werden können. Auf dieser Grundlage kann Kunstpädagogik ganz Eigentümliches zur Kreativitätsbildung beitragen: der Umgang mit Materialien und Geräten, die offen assoziative, prozess- und beziehungsorientierte Herangehensweise an Herausforderungen, die Förderung von Fantasie, Imagination und Kreativität, all dies birgt die Möglichkeit einer anderen Sicht auf die Welt. Eine sensible rezeptive wie produktive Kunst- und Kreativitätspädagogik – und damit auch Wertepädagogik – bietet die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen etablierte, normative Formen infrage zu stellen und umzugestalten. Dies ist notwendig für ein gesundes,

1 2

Von Hentig 1998, S.45. Transmedial entgrenzte Kunst ist multiperspektivisch. Sie thematisiert existentielle, kulturelle und politische Probleme, sie betreibt spezifische Formen von Forschung. Sie eröffnet einen universellen Blick auf den Menschen und seine Wirklichkeit. Vgl. Buschkühle in: Brenk/Kurth 2005, S. 49/50.

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selbstbewusstes Leben in einem weiten, frei und mündig gestaltbaren Lebensraum. Auf dieser Grundlage ist Kunst zu verstehen als ein Übungsfeld der Krisen- und Lebensbewältigung. In den Fallbeispielen stellte sich die schöpferische Facette des Menschen, der HOMO CREANS in seiner co-kreativen Interrelationalität als folgende Kette dar: Subversion, Invasion, Intervention, Interaktion, Partizipation, Inklusion, Kooperation, Transformation. Darin ist der HOMO CREANS als Heterotopie zu verstehen. Nach Michel Foucault sind Heterotopien »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«3

Eine Heterotopie ist in der Lage, mehrere widersprüchliche Räume an einem einzigen Ort zu vereinen und zueinander in Beziehung zu setzen. Ein heterotopischer Schutzraum bietet die Möglichkeit, herrschende Normen durch abweichendes Verhalten kritisch zu reflektieren. Dies macht ihn zu einem Illusions- und Kompensationsraum, mit einer eigenen, ihm zugrunde liegenden Zeitstruktur. 4 Die Heterotopie des HOMO CREANS kann hinsichtlich der individuellen Persönlichkeitsentwicklung wie auch der Sozialisierung hin zur mündigen Teilhabe an Gesellschaft und Kultur pädagogisch sein. Dies kann zur Orientierungs- und Beziehungsfähigkeit in einer komplex vernetzten Welt beitragen. Der französische Résistance-Kämpfer, Diplomat und Lyriker Stéphane Hessel (1917-2013) schrieb in seinem Essay Empört euch! (2011): Neues zu schaffen heiße Widerstand zu leisten.5 Es braucht Mut, den Status Quo infrage zu stellen. Es braucht Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Und es braucht den Willen und die Entscheidung, Verantwortung zu übernehmen für das eigene Handeln und für die Zukunft. Denn unsere Wirklichkeit formt sich aus der Summe all unserer Entscheidungen. Es kann uns keiner abnehmen, sich in der Freiheit zu orientieren, in die wir hineingeboren sind, und mündig damit umzugehen. Dies zu lernen ist eine große Aufgabe der Kreativitätsbildung.

3

Foucault, Michel: Andere Räume (1967), in: Barck 1993, S.39.

4

Vgl. Foucault 2005.

5

Vgl. Hessel, Stéphane: Empört euch! Berlin: Ullstein 2011.

4 Landung

Die gegenwärtige, pluralistische Gesellschaft zeichnet sich durch transformatorische, kreative Prozesse aus. Zeitgenössisches Leben erfordert besondere Flexibilität, die Fähigkeit zur Profilbildung, zu ständiger Neuorientierung und Verantwortungsbewusstsein. Den überraschenden Spiel- und Ernst- und Wechselfällen des Lebens gilt es mündig und selbständig zu begegnen. Deshalb ist es wichtig, kreative Kompetenz zu bilden und mit ihr die fünf Lebenskompetenzen (Abb. 41). Kreativität entwickelt sich gemeinsam mit der Persönlichkeit. Das macht sie zur grundsätzlichen Bildungsaufgabe. Wird Kreativitätsbildung jedoch instrumentalisiert, im Sinne einer Zielorientierung an innovativen Spitzenleistungen in Wirtschaft, Forschung und Technik, korrumpiert das die Grundmotivation mit Auswirkungen auf die Persönlichkeit. Natürlich ist es wichtig, im Rahmen der Menschenbildung die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft nicht außer Acht zu lassen. Doch die Anerkennung des einzelnen Menschen und seiner individuellen Persönlichkeit muss zurück in den Mittelpunkt gerückt werden. Eine Reduktion der Kreativität auf den musisch gestalterischen Bereich wird ihr ebenso wenig gerecht, wie eine Überbetonung von kognitiven Fähigkeiten. Trotz hoher Leistungsanforderung sollte sich eine Gesellschaft daran messen lassen, wie sie diejenigen Mitglieder behandelt und einbindet, die von der Norm abweichen. Der künstlerisch-kreative Prozess zeigt auf, dass Kunst ein partizipatorischer Beziehungsraum von Sender und Empfänger ist, im Wechselstrom von Geben und Nehmen. Dieser vernetzende Dialog, der co-kreative Positionstausch als Brücke zwischen Unterschiedlichkeiten, ist eine zentrale demokratische Kompetenz mit der Kraft, Kultur zu gestalten. Kunstpädagogische Kreativitätsbildung sollte diesen Transfer schaffen. Vielleicht kann dieses Buch einen Beitrag leisten, die Kunstpädagogik dahingehend zu stärken und so auf künstlerische und gesellschaftliche Phänomene der Zeit zu reagieren – für die Menschen dieser vernetzten Zeit, im Sinne des Freiheitserhalts. Zugunsten einer den Herausforderungen der Zeit angemessenen Persönlich-

394 | H OMO C REANS keitsbildung ist es deshalb notwendig, dass die künstlerisch-musischen Fächer im Bildungssystem gestärkt werden. Die kartierende Expeditionsreise durch das Beziehungsnetz der Kreativität neigt sich dem Ende zu. Auf der Erkundungsreise des HOMO CREANS ging es um Erschließung und Entgrenzung. Die anfängliche Metapher der Stadt erwies sich als Spiegelbild der Kreativität. Stadterkundung beginnt in der Virtualität einer Karte. Tatsächliche Landnahme braucht Kopf, Herz und Hand oder Beine. Wenn man auf der Grundlage der hiermit entstandenen Stadt-Land-Fluss-Karte zurück an den Anfang der Reise ginge, zu den Weggefährten im Spiegelkabinett der Kunst, ließe sich die Interpretation der Fallbeispiele weiter ausdifferenzieren. Dies sei nun der Kreativität des Lesers überlassen. Die Karte der Kreativität wird an dieser Stelle zusammengefaltet. Dieses Buch möchte eine Art Spiegel sein, der die Möglichkeit gibt, etwas von sich selbst zu sehen und mehr davon sehen zu wollen. Hoffentlich eröffnet dieses Buch einen Beziehungsraum, der vielfältige Sichtweisen zulässt. Dennoch bleibt Kreativität ein blinder Fleck. Das Kaleidoskop der Conditio Humana ist mehr als die Summe seiner Teile. Des »Pudels Kern«1 mag sich entziehen, so viele Antworten die Beforschung der Teilaspekte auch gibt. So bleibt dem Leser eines zu wünschen: »Gute Reise!«

1

Vgl. von Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster Teil, Ditzingen: Reclam 1996.

Nachgesang – WERK your city

Im Rahmen eines Projekts der Ästhetischen Forschung im Sommersemester 2012 am Institut für Kunstpädagogik der LMU München arbeiteten acht Studierende ein Semester lang jeweils an eigenen Ästhetischen Forschungsprojekten, die im Rahmen der Ausstellung THE FABRIC: DO IT TOGETHER vom 15.-28. Juni 2012 im MaximiliansForum gezeigt wurden. Als Begleitveranstaltung richteten sie für die Stadtbevölkerung einen Workshop zur Ästhetischen Forschung aus. Auf diesem Hintergrund entstand folgende Anleitung zur kartierenden Stadterforschung:1 1.

Man nehme eine Forschungsfrage: Wie können die »Netz-WERK-elungen« und »Ge-

2.

Man suche sich ein lokalisierbares Ästhetisches Forschungslabor: Stadt-Land-Fluss-

3.

Man entscheide sich für eine Forschungsmethode: ästhetisch forschend bzw. Feld-

WERK-Schafteleien« deiner Stadt in »Kunst-WERK-haftes« überführt werden? Raumpunkte. forscherisch kartierend (Helga Kämpf-Jansen lässt grüßen). 4.

Man rüste sich aus mit Skizzen- und Tagebüchern, Stiften und Schmierzeug aller Art, selbstgezeichneten Landkarten, Ariadne-Fäden und Grillkohle, Butterbrotpapier und Sammelbeuteln, Foto- und Video-Kameras. Man entsperre die Tore der Fantasie und lasse sie traben wohin sie will… Zu Orten und zu Geschichten, die es so noch nicht gibt.

5.

Man streune ausgiebig herum. Dabei schärfe man seine Sinne aufs Äußerste. Man sehe, höre, schmecke, rieche und fühle wie zum ersten Mal. Man denke um die Ecke. Man emotionalisiere und intellektualisiere sich – ja nach Bedarf.

6.

Man vermenge alle gesammelten Zwischenergebnisse gründlich. Man lasse sich dabei wenig bis viel Zeit.

1

Eder, Johanna: WERK your city – eine ANLEITUNG zur kartierenden Stadterforschung, in: KOMMANDO AGNES RICHTER Splittergruppe 2012, S. 7.

396 | HOMO CREANS 7. Aus den Brodelkesseln der eigenen Imagination werden Formen, Figuren und Fabelhafteleien hervorquellen, deren Existenz und Beschaffenheit äußerst einzigartig, beglückend und mitunter verstörend, jedenfalls aber notwendig sein wird.

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