Dasein : Erkennen und Handeln: Heidegger im phänomenologischen Kontext 9783110882827, 9783110138481


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German Pages 356 Year 1993

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Vorwort
Inhalt
Einleitung
Dasein und Sein
Dasein und Erkennen
Dasein und Handeln
Bibliographie
Nachweise
Personenregister
Sachregister
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Dasein : Erkennen und Handeln: Heidegger im phänomenologischen Kontext
 9783110882827, 9783110138481

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Carl Friedrich Gethmann Dasein: Erkennen und Handeln

Philosophie und Wissenschaft Transdisziplinäre Studien Herausgegeben von Carl Friedrich Gethmann Jürgen Mittelstraß in Verbindung mit Dietrich Dörner, Wolfgang Frühwald, Hermann Haken, Jürgen Kocka, Wolf Lepenies, Hubert Markl, Dieter Simon

Band 3

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993

Carl Friedrich Gethmann Dasein: Erkennen und Handeln Heidegger im phänomenologischen Kontext

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Gethmann, Carl Friedrich: Dasein: Erkennen und Handeln : Heidegger im phänomenologisehen Kontext / Carl Friedrich Gethmann. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Philosophie und Wissenschaft ; Bd. 3) ISBN 3-11-013848-4 NE: GT

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderarbeiten: Lüderitz und Bauer, Berlin

Vorwort Die im vorliegenden Band vereinigten Untersuchungen sind im Rahmen einer sich über fast ein Vierteljahrhundert erstrekkenden Beschäftigung des Verfassers mit der Philosophie Heideggers entstanden. Dabei ging es von Anfang an nicht um eine bloß historische Rezeption und Reproduktion des Heideggerschen Denkens, sondern um eine kritische Diskussion von Heideggers Beiträgen zu denjenigen Fragen der Philosophie, die den Verfasser auch sonst beschäftigt haben. Weder ehrfürchtiges Nachempfinden noch rechthaberische Angriffe werden der Aufgabe einer solchen kritischen Diskussion gerecht. Allerdings setzt die nüchtern-distanzierte Beschäftigung mit Heidegger in einem gewissen Sinne die „Historisierung" seines Werkes voraus. Der Verfasser der Arbeiten dieses Bandes gehört der Generation an, die wohl als erste Heidegger eigentlich nicht mehr als Zeitgenossen erlebt hat, sondern seine Werke so las wie die von anderen „Klassikern". Dies hatte unter anderem zur Folge, daß die Einschätzung der Bedeutung Heideggers nicht primär auf der Grundlage des Mitvollzuges der jeweils neuesten Veröffentlichungen erfolgte, sondern daß die Interpretation der Heideggerschen Philosophie ihren Ausgang von seinem Hauptwerk Sein und Zeit und den Schriften im Umkreis dieses Werkes nahm, und die späteren Entwicklungen Heideggers von Sein und Zeit her betrachtet wurden. Der verhältnismäßig lange Entstehungszeitraum der Beiträge dieses Bandes läßt eine Verlagerung der Schwerpunkte und Einstellungen erwarten, und eine solche ist ganz offenkundig vorhanden. Dies hat zweifellos mit einem Wandel der Schwerpunkte und Einstellungen des Verfassers, mehr aber noch mit der rapiden und radikalen Verbesserung unserer

VI

Vorwort

Kenntnisse von der Entwicklung der Philosophie Heideggers in den letzten Jahrzehnten zu tun. Als der Verfasser seine Arbeiten an seinem Buch Verstehen und Auslegung begann (1968) war aus dem Zeitraum zwischen Heideggers Habilitationsschrift (1916) und dem Jahr der Veröffentlichung von Sein und Zeit kaum ein Text Heideggers veröffentlicht. Von Heideggers Vorlesungen aus der frühen Freiburger und der Marburger Zeit war, abgesehen von spärlichen Mitteilungen unmittelbarer Zeitzeugen und bevorzugter Handschriftenbesitzer, nichts bekannt. Heute verfügen wir fast lückenlos über eine „Ausgabe letzter Hand" von diesen Vorlesungen und den (wenigen) Veröffentlichungen aus diesem Zeitraum. Während das Buch Verstehen und Auslegung hinsichtlich der Entwicklungsgeschichte auf bloße Vermutungen angewiesen war, 1 können wir heute eine Entwicklungsgeschichte der Entstehung der Philosophie von Sein und Zeit mit weitgehender hermeneutisch-philologischer Abstützung nachvollziehen, so daß eine entwicklungsgeschichtlich geklärte Gesamtdarstellung der Philosophie Heideggers erst heute (mit gewissen Einschränkungen) möglich ist. 2 Entwicklungsgeschichte interessiert den Philosophen (im Unterschied zum Literaturwissenschaftler) jedoch nicht als Wirkungs-, sondern als „Gründegeschichte". 3 Im Sinne der genetischen Rekonstruktion von Heideggers Argumentationen beziehen die Untersuchungen des vorliegenden Bandes die Vorlesungstexte im Zuge ihres Erscheinens sukzessive in die Interpretationen ein. Neben der Veränderung der Interpretationsgrundlagen spiegeln die Arbeiten aber auch einen systematischen Interessenwandel des Autors wider. Während zunächst transzendentalphilosophische und subjekttheoretische Fragestellungen im 1

Vgl. ζ. B. C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, 358, Anm. 261.

2

Eine solche Gesamtdarstellung ist einer vom Verfasser geplanten Monographie vorbehalten. Vgl. zu dieser Unterscheidung mit Bezug auf die Theorie der Wissenschaftsgeschichte J. Mittelstraß: ,Prolegomena zu einer konstruktiven Theorie der Wissenschaftsgeschichte'.

3

Vorwort

VII

Vordergrund der Untersuchungen stehen, gewinnen zunehmend Probleme der lebensweltlichen Fundierung invarianter, (logischer, praktischer und poietischer) Geltungsansprüche an Bedeutung. Allerdings ist diese Problemverlagerung durch ein einheitliches Interesse getragen; sachlich geht es um das philosophische Programm, die Konstitution wissenschaftlicher und philosophischer Geltungsansprüche ausgehend von lebensweltlich schon immer anerkannten Orientierungen des Redens, Handelns und Herstellens zu rekonstruieren. Das Projekt lebensweltlicher Fundierung vermeidet die hypertrophen und letztlich zirkulären Ansprüche traditioneller und moderner Letztbegründungskonzeptionen, ohne in hermeneutisch-historistische oder soziologistische Resignationslösungen zu verfallen. 4 Ein solcher Frageansatz, der sich aus der (historisch weitgehend fiktiven) phänomenologischen Diskussionslage zwischen Heidegger und Husserl ergibt, führt nahezu zwangsläufig in die Nähe der Philosophie des Erlanger Konstruktivismus, die historisch aus dieser Diskussionslage entstanden ist. 5 So spielt denn die kritische Diskussion zwischen den phänomenologischen Ansätzen Husserls und Heideggers und ihr Verhältnis zur Konstruktiven Wissenschaftstheorie die Rolle eines basso continuo in den vorliegenden Arbeiten. Dabei zeigt schon die zeitlich erste Arbeit dieses Bandes, 6 daß hier keineswegs ein Heideggerianer zum Konstruktivisten geworden ist (was freilich auch kein intellektueller Frevel gewesen wäre), sondern die Philosophie Heideggers von vornherein mit einem bestimmten philosophischen Anliegen betrachtet worden ist; im Gegenzug bietet eine genaue Interpretation der Philosophie Heideggers auch

4 5 6

Vgl. C. F. Gethmann: ,Letztbegründung vs. lebensweltliche Fundierung'. Vgl. C. F. Gethmann: Phänomenologie, Lebensphilosophie und Konstruktive Wissenschaftstheorie'. ,Die Möglichkeit der Seinsfrage', 51—69; vgl. auch C. F. Gethmann: ,Logische Propädeutik als Fundamentalphilosophie'.

Vorwort

VIII

Anhaltspunkte, um die Kritik der konstruktiven Sprachphilosophie an der „Ontologie" zurückzuweisen. Der Aufbau des Bandes folgt zunächst systematischen Gesichtspunkten. Nach einer einleitenden Übersichtsdarstellung gliedert sich der Band in Untersuchungen zur Subjekttheorie, zur Erkenntnisphilosophie und zur Ethik bzw. Handlungstheorie. Mit Blick auf Heideggers Philosophie bedarf es keiner weiteren Ausführungen darüber, daß durch diese Disziplinentitel keine scharfen Demarkationslinien, sondern eher heuristische Akzentsetzungen angezeigt werden. Ferner soll keine systematische Vollständigkeit hinsichtlich der von Heidegger behandelten und beeinflußten philosophischen Themen beansprucht werden; wichtige Bereiche wie die Religionsphilosophie und die philosophische Ästhetik werden nicht behandelt. 7 Der Aufbau folgt jedoch auch (abgesehen vom Einleitungsbeitrag) in etwa der chronologischen Folge der Bearbeitung der einzelnen Fragen. Neben den schon erwähnten Entwicklungen ist dabei eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von Fragen der theoretischen zu solchen der praktischen Philosophie festzustellen, was sicherlich einer Tendenz der allgemeinen philosophischen Diskussion der letzten zwei Jahrzehnte entspricht. Die Beiträge wurden für diese Veröffentlichung stilistisch leicht überarbeitet (vgl. auch die Nachweise der Veröffentlichungen am Ende des Bandes). Das Zitationssystem wurde vereinheitlicht. Die zitierte Literatur ist in einer Bibliographie für den gesamten Band zusammengefaßt. Heideggers Schriften werden mit Abkürzungen zitiert, die in der Bibliographie der Schriften Heideggers (alphabetisch nach Abkürzungen geordnet) aufgeschlüsselt sind. Die Literatur wird durchweg mit Kurztiteln zitiert, die das Auffinden der vollständigen Angaben in der Bibliographie erleichtern sollen. im März 1993 7

C. F. G.

Vgl. dazu A. Gethmann— Siefert: Das Verhältnis von Philosophie und Theologie-, dies.: .Heidegger und Hölderlin', ,Heideggers Bestimmung des Kunstwerks', .Verführerische Poesie'.

Inhalt

Einleitung

1

Heidegger und die Phänomenologie

3

Dasein und Sein 49 Die Möglichkeit der Seinsfrage in einer operativen Sprachtheorie 51 Das Sein des Daseins als Sorge und die Subjektivität des Subjekts 70 Dasein und Erkennen

113

Zum Wahrheitsbegriff 115 Die Wahrheitskonzeption in den Marburger Vorlesungen 137 Der existenziale Begriff der Wissenschaft 169 Das Realitätsproblem: ein Skandal der Philosophie? 207 Dasein und Handeln

245

Philosophie als Vollzug und als Begriff 247 Die Konzeption des Handelns in Sein und Zeit Bibliographie 323 Nachweise 333 Personenregister 335 Sachregister 338

281

Einleitung

Heidegger und die Phänomenologie Martin Heidegger gehört zu den bedeutendsten und einflußreichsten Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Philosophische Strömungen und Programme wie Phänomenologie, Lebensphilosophie, Existenzphilosophie (Existentialismus), Hermeneutische Philosophie, Sprachphilosophie, Konstruktive Wissenschaftstheorie und Neuscholastik sind von seinen Denkansätzen mehr oder weniger weitgehend beeinflußt. Seine Gedanken haben auf die sogenannten Geisteswissenschaften im weiteren Sinn zum Teil sehr weitgehenden Einfluß gehabt, in einigen Fällen sogar zu neuen wissenschaftlichen Paradigmen geführt; zu nennen sind Psychiatrie („Daseinsanalyse": V. E. v. Gebsattel, L. Binswanger), Psychologie (F. J. J. Buytendijk), Pädagogik (Th. Ballauff), Literaturwissenschaft (E. Staiger), evangelische und katholische Theologie (R. Bultmann, P. Tillich, K. Rahner), allgemeine Sprachwissenschaft (J. Lohmann). Allein die außergewöhnliche Rezeption Heideggers in Philosophie und Fachwissenschaften rechtfertigt — trotz des geringen, historische Urteile relativierenden Zeitabstandes — die Zurechnung Heideggers unter die „Klassiker" der Philosophie. Martin Heidegger wurde am 26. September 1889 in Meßkirch (Baden) geboren und studierte von 1909 bis 1913 Philosophie und katholische Theologie in Freiburg i. Br. Mit der Dissertation Die Lehre vom Urteil im Psychologismus (FS 1 — 129) wurde er 1913 in Philosophie promoviert. Die Dissertation steht auf der Basis neuthomistischer und neukantianischer Kritik an psychologistischen Positionen der Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts (die ihrerseits auf die epistemologischen Konzeptionen des englischen Empirismus zurückgehen). Gutachter im Promotions verfahren waren der

4

Einleitung

Neuscholastiker Α. Schneider und H. Rickert, ein führender Vertreter des südwestdeutschen Neukantianismus, dessen Arbeiten Heidegger zunächst stark beeinflußten. Neben der Lektüre von F. Brentanos Dissertation über Aristoteles' Metaphysik und dem Ontologie-Lehrbuch seines theologischen Lehrers C. Braig — beide Werke studierte Heidegger nach eigenem Bekunden schon vor Beginn seines Studiums — lenkte vor allem Rickert Heideggers Interesse auf ontologische Fragestellungen. In Heideggers Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (FS 131 — 153) wird zum ersten Mal die Phänomenologie Husserls, und zwar in der Fassung der Logischen Untersuchungen, als leitender philosophischer Problemzusammenhang deutlich. Weder Dissertation noch Habilitation fallen jedoch aus dem Rahmen der damals üblichen akademischen Forschungsarbeiten. Viel mehr als durch seine Veröffentlichungen muß Heidegger, wie aus den bekanntgewordenen Äußerungen seiner Hörer hervorgeht, von Anfang an durch seine Lehrtätigkeit (ab 1915/16) einen großen Eindruck gemacht haben. Eine entscheidende Ursache für die Faszination, die er auf seine Hörer ausübte, dürfte „ein gewisser rebellischer Gestus" 1 gewesen sein. Seine von seinen Lehrveranstaltungen ausgehende Ausstrahlung war sicherlich primär dafür maßgebend, daß Heidegger 1923 außerordentlicher Professor in Marburg, einem Zentrum neukantianischer Philosophie, wurde. 1927 wurde er Nachfolger Husserls als ordentlicher Professor in Freiburg i. Br., eine Position, die er bis zum Ende seiner akademischen Tätigkeit behielt. 1930 und 1933 lehnte Heidegger Berufungen nach Berlin ab. 1927 erschien Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit, durch das er mit einem Schlage zur führenden philosophischen Gestalt der Zeit wurde. Sein und Zeit war für die wissenschaftliche Öffentlichkeit ein revolutionäres Buch, zu dem von der Dissertation und Habilitation kaum Verbindungen herzustel1

W. Franzen: Martin Heidegger,

25.

Heidegger und die Phänomenologie

5

len waren, und das nach einer zehnjährigen Veröffentlichungspause für diejenigen, die Heidegger nicht aus seinen Vorlesungen kannten, wie ein Blitzschlag gewirkt hat. Aus heutiger Sicht, vor allem seitdem eine Reihe der großen Vorlesungen Heideggers aus den zwanziger Jahren gedruckt vorliegen, ist es möglich, Momente einer kontinuierlichen Denkentwicklung in den Jahren bis zur Veröffentlichung von Sein und Zeit zu rekonstruieren. Dabei spielen inhaltlich zunächst eingehende AristotelesForschungen eine Rolle, die Heidegger zu einer genaueren Ausarbeitung seines philosophischen Zentralthemas, der Frage nach dem „Sinn von Sein" geführt haben. Andererseits hat Heidegger sich in der Linie christlicher Denker (Paulus, Augustinus, Luther, Kierkegaard) mit der Problematik der konkreten Existenz des Menschen, die in den Theorie-Konstruktionen der Idealisten und Neukantianer untergegangen zu sein schien, auseinandergesetzt. Eine wichtige Rolle spielte ferner Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften. Diese Ansätze (zwischen denen bis dahin niemand enge Zusammenhänge gesehen hatte) wurden eingebunden in Heideggers eingehende Rezeption und Kritik der Phänomenologie Husserls und Schelers. Für die meisten Zeitgenossen (einschließlich Husserl selbst) galt Heidegger in den zwanziger Jahren als Mitglied der „phänomenologischen Bewegung" mit Sonderinteressen in den Bereichen von Religionsphilosophie und Metaphysik. Neben einigen anderen sind vor allem diese Traditionslinien — Aristotelismus, Lebensphilosophie, Phänomenologie — in einer philosophisch ohne Zweifel originellen und bedeutenden systematischen Neukonzipierung in Sein und Zeit eingeflossen; es ist daher auch nicht überraschend, daß von Anfang an mehrere Interpretationsrichtungen des Heideggerschen Werkes in Konkurrenz zueinander auftraten, vor allem eine metaphysische, eine lebensphilosophisch-existentialistische, eine hermeneutische und eine phänomenologische. Die Vorlesungstexte aus der Erarbeitungsphase von Sein und Zeit, also etwa aus den Jahren 1923 bis 1927, die große Teile des veröffentlichten Textbestandes von Sein und Zeit in

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Einleitung

deutlicherem Zusammenhang mit der zeitgenössischen Philosophie entwickeln, als dies in Sein und Zeit selbst der Fall ist, 2 erlauben jedoch seit einigen Jahren, Heideggers Versuch einer immanenten Kritik und Reformulierung des phänomenologischen Programms eindeutig als Schlüssel zum Verständnis von Sein und Zeit anzusehen. Schon bald nach 1930 wandte sich Heidegger in einer „Kehre" seines Werkes, die zugleich eine Wendung der abendländischen Philosophie bedeuten sollte, und deren Bedeutung von den Interpreten bis heute weitgehend kontrovers beurteilt wird, von der breiten Tradition der abendländischen Philosophie kritisch ab. Spätestens mit Piaton stelle sich die Philosophie (als „Metaphysik") — so kritisierte Heidegger jetzt — in den Dienst des menschlichen Verfügenwollens über Natur, Geschichte und den Menschen selbst. Die aktuellen Krisenerscheinungen abendländischer Zivilisation, der Nihilismus, der „Tod Gottes", die technische Inbesitznahme aller Lebensbedingungen, sind nach Heideggers Interpretation Folgen dieser schicksalhaften Deutung des Sinnes von Sein als „verfügbarer Gegenwart". 3 Hinweise für das die Metaphysik überwindende „wesentliche Denken" seien daher nicht von den Philosophen der großen europäischen Tradition, sondern eher von deren radikalen Kritikern, wie Nietzsche, oder den Dichtern, wie Hölderlin, zu erwarten. Umfangreiche Reflexionen zu Dicht- und Kunstwerken treten folglich in Heideggers Schrifttum gegenüber methodischer philosophischer Arbeit, wie sie in Sein und Zeit betrieben wird, in den Vordergrund. Für viele Kritiker hat sich Heidegger durch ein kurzes öffentliches Engagement für den Nationalsozialismus auch philosophisch verdächtig gemacht. Seit den fünfziger Jahren ist im In- und Ausland diskutiert worden, ob dieses Engagement 1933/34 mehr auf einen persönlichen Irrtum des Individuums 2 3

Vgl. besonders die Prolegomena %ur Geschichte des Zeitbegriffs (GA20). Vgl. ζ. B. WW, PH, H, EM, ED, VA, G, US, Ni, Nil, TK, HE.

Heidegger und die Phänomenologie

7

Heidegger zurückzuführen ist oder in irgendeinem sachlichen Zusammenhang (und wenn ja, in welchem) mit den Inhalten seiner Philosophie steht. Tatsache ist, daß Heidegger im April 1933 zum Rektor der Freiburger Universität gewählt wurde und am 1. Mai in die NSDAP eintrat; in den folgenden Monaten setzte er sich in öffentlichen Reden massiv für das politische Programm der Nationalsozialisten ein, wandte sich jedoch andererseits ζ. B. gegen den Boykott jüdischer Kollegen. Als die Machthaber die Entbindung politisch nicht genehmer Professoren von ihren Pflichten verlangten, wehrte sich Heidegger und trat vor Ablauf seiner Amtszeit zurück. Von da an läßt sich ein ablehnendes Verhältnis zur NS-Ideologie aus seinen Schriften und Vorlesungstexten entnehmen. Die französischen Besatzungsmächte haben nach 1945 die Parteinahme Heideggers für den Nationalsozialismus 1933/34 immerhin für so gravierend gehalten, daß sie zeitweise ein Lehrverbot (bis 1951) aussprachen. In den fünfziger Jahren war Heideggers Philosophie in Deutschland das für die Philosophen zentrale Thema. Seine Vorlesungen, Vorträge sowie zahlreiche Veröffentlichungen aus unterschiedlichen Phasen seines Denkens unterstützten diese philosophische Sonderstellung. Nach seiner Emeritierung (1952) hielt Heidegger weiter Vorlesungen und Seminare in privaten Zirkeln, die von seinen Freunden und Schülern organisiert wurden. Diese unvergleichliche Resonanz Heideggers beschränkte sich aber im wesentlichen auf die Bundesrepublik und (in abgeschwächter Form) auf die westeuropäischen romanischen Länder. In der angelsächsisch orientierten Philosophie dominierte in dieser Zeit die Analytische Philosophie, die seit Beginn der sechziger Jahre auch in Deutschland — in einer Art Gegenbewegung — die akademische Aufmerksamkeit für die Philosophie Heideggers deutlich zurückdrängte. Heidegger starb am 26. Mai 1976 in Freiburg i. Br.

8

Einleitung

1. Programm und Aufbau der Fundamentalontologie Dem Verständnis von Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit stehen eine Reihe von Hindernissen im Weg. Das auffälligste scheint in der Tatsache begründet, daß der veröffentlichte Text ein Fragment ist und der unveröffentlichte Teil bisher nicht zur Verfügung steht. Nach dem ursprünglichen Plan Heideggers sollte das Werk aus zwei Hälften zu je drei Abschnitten bestehen. Veröffentlicht wurden jedoch nur die ersten beiden Abschnitte der ersten Hälfte. Die zweite Hälfte sollte die wesentlichen Stationen des Zeitverständnisses der abendländischen Philosophie beinhalten (Kant, Descartes, Aristoteles); aus zahlreichen Äußerungen Heideggers, vor allem auch aus den inzwischen veröffentlichten Vorlesungsmanuskripten4 können wir die zentralen Aussagen der zweiten Hälfte von Sein und Zeit rekonstruieren. Eine wichtigere Lücke bleibt somit der dritte Abschnitt der ersten Hälfte, der die Überschrift „Zeit und Sein" tragen sollte.5 Die Marburger Vorlesung ,Die Grundprobleme der Phänomenologie' aus dem Sommersemester 1927 ist der Einleitung zufolge einer „neuen Ausarbeitung" dieses Abschnitts von Sein und Zeit gewidmet. 6 Obwohl die Vorlesung in vielen, besonders in historischen Einzelfragen über den Text von Sein und Zeit hinausgeht, bringt sie doch nicht sehr viel Neues von grundlegender Bedeutung. Immerhin entwickelt sie die Fragestellung der ersten beiden Abschnitte bis zum systematisch zentralen Begriff der „ontologischen Differenz"7, auf den noch einzugehen ist. Aus dieser Textlage darf man schließen, daß der fragmentarische Charakter von Sein und Zeit nicht derart ist, daß der vorhandene Text als unfertig und insoweit auch als unverbindlich einzustufen ist. Vielmehr ist der veröffentlichte Text die weitgehende Ausarbeitung des Heideggerschen 4 5 6 7

Vgl. ζ. B. Die Grundprobleme der Phänomenologie Die Disposition findet sich SZ 39 f. Vgl. GA24 1, Anm. 1. Vgl. GA24 322 ff.

(GA24).

Heidegger und die Phänomenologie

9

Konzepts, dessen Ergänzungen uns anderweitig zu wichtigen Teilen ebenfalls zur Verfügung stehen. Schließlich muß man auch akzeptieren, daß Heidegger (jedenfalls seinerzeit) den Text in dieser Gestalt für veröffentlichungsreif und aus sich verständlich, wenn auch für ergänzungsbedürftig hielt. Eine viel größere Schwierigkeit für das Verständnis von Sein und Zeit liegt in der Thematik des Buches selbst. Dabei kann es hinsichtlich der Themenstellung keine Zweifel geben: Als sein einziges zentrales philosophisches Problem stellt Heidegger die „Frage nach dem Sinn von Sein" heraus; es ist — wie Heidegger selbst häufig formuliert — im Rahmen des hergebrachten Disziplinenkanons der Philosophie die Frage der Ontologie. 8 Nicht nur dem philosophischen Laien bereitet es aber erhebliche Verständnisprobleme, herauszufinden, was Heidegger mit der „Frage nach dem Sinn von Sein" eigentlich meint. Die Einleitung von Sein und Zeit bietet nicht sehr viel Hilfe. Die §§ 1 bis 5 erwecken den Eindruck, als sei die Sinnhaftigkeit einer Untersuchung des „Sinnes von Sein" bereits geklärt. Was man vermißt, ist eine Art Propädeutik zu dieser spezifisch ontologischen Fragestellung, die erläutert, was es mit der Frage nach dem „Sinn von Sein" auf sich haben soll. Denn vor der materiellen Frage nach dem Sinn von Sein steht für den Leser die formale Frage, was mit dieser Fragestellung überhaupt gemeint ist. Auch Heidegger kennt diese formale Fragestellung: Er stellt fest, daß die Vielheit der Seinsweisen „eine Vorverständigung" über das erfordert, „was wir denn eigentlich mit diesem Ausdruck ,Sein' meinen" (SZ 11). Eine Klärung dieser Frage ist dem Text jedoch kaum zu entnehmen. Die mangelnde Berücksichtigung der formalen Frage nach dem Sinn von Sein führt leicht zu dem Mißverständnis, daß die Bedeutung der Seinsfrage durch eine der bekannten Cytologien der philosophischen Tradition bereits gegeben sei. Obwohl die historischen Bezüge des § 1 von Sein und Zeit kri8 Vgl. SZ11.

10

Einleitung

tisch-negativer Art sind, erwecken sie doch den Eindruck, als sei der Sinn dieser Frage aus der Tradition der Ontologie bzw. Metaphysik zu entnehmen. Heideggers Kritik an den traditionellen Ontologien, unter dem Titel „Destruktion" sogar mit dem Gewicht eines eigenen Methodenelements versehen, zeigt jedoch, daß man auf eine historische Verständnisstütze, die sich am Begriff „Ontologie" orientiert, verzichten muß. In autobiographischen und selbstinterpretierenden Hinweisen hat Heidegger mehrfach betont, daß sein Weg zur Seinsfrage den ersten Anstoß durch F. Brentanos Schrift Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles erfahren hat.9 Von den verschiedenen Einteilungen des Seienden, die sich bei Aristoteles finden, hält Brentano diejenige für grundlegend, die das Seiende gemäß den bekannten Kategorien unterscheidet. Brentano versucht nun, Aristoteles gegen einen Vorwurf in Schutz zu nehmen, den mit verschiedener Akzentsetzung Kant, Hegel und Trendelenburg erhoben haben, daß nämlich die Aristotelische Kategorientafel rein rhapsodisch sei, weil ihr ein Prinzip der Deduktion fehle. In der Tat kann Aristoteles eine solche Deduktion nicht vornehmen, weil er dazu einen univoken Begriff als höchstes Genus benötigen würde. „Sein" ist jedoch — wie Aristoteles feststellt — ein analoger Begriff. Mit diesem Hinweis auf den analogen Charakter des Seinsbegriffs setzt sich Brentano vom neuzeitlichen Aristotelismus ab, der mit Blick auf die erwünschte Deduzierbarkeit der Kategorien einen univoken Seinsbegriff unterstellte. Gegen dieses Konzept des neuzeitlichen Aristotelismus (einschließlich der rationalistischen Schulmetaphysik) wendet sich ebenso Heidegger im § 1 von Sein und Zeit, wenn er gegen das Proportionalitätsgesetz für Inhalt und Umfang der Begriffe, demgemäß der allgemeinste Begriff auch der leerste ist, eintritt. Ein solcher leerer Begriff kann nach Heidegger nicht die Grundlage eines Kategoriensystems bilden, welches den zen9

Vgl. SD 81 f.

Heidegger und die Phänomenologie

11

tralen Gegenstand der allgemeinen Ontologie ausmacht. Die Frage nach dem Sinn von Sein ist also zunächst die Frage nach der Einheit der vielen Seinsweisen, die die Ontologie unterscheidet. Gesucht ist dabei eine Einheit, aus der sich Gründe für die Unterscheidungen ergeben, also eine Grundlage des Unterscheidens, die dieses der Beliebigkeit entzieht. Heideggers Bemühungen um die Entwicklung einer auf einem geklärten „Sinn von Sein" beruhenden Ontologie stehen durchaus in einem Diskussions^usammenhang mit der zeitgenössischen Philosophie. Vor allem sein Lehrer Rickert und dessen Schüler Lask haben sich bereits mit der Ausarbeitung einer Ontologie befaßt, die auf einer transzendentalen, den kritischen Einwänden Kants gegen die rationalistische Metaphysik Rechnung tragenden Analyse beruht. Heidegger besteht daher auch darauf, daß die Ontologie eine „transzendentale" Wissenschaft ist (K 85, 116 und passim; GA24 23 u. a.). Die bekannte Definition der transzendentalen Erkenntnis bei Kant reformuliert Heidegger entsprechend so: „Transzendentale Erkenntnis untersucht also nicht das Seiende selbst, sondern die Möglichkeit des vorgängigen Seinsverständnisses, d. h. zugleich: die Seinsverfassung des Seienden. Sie betrifft das Uberschreiten (Transzendenz) der reinen Vernunft zum Seienden, so daß sich diesem jetzt allererst als möglichem Gegenstand Erfahrung anmessen kann." (K 24 f.) Im Zusammenhang transzendentalphilosophischer Problemstellung ist der Sinn von Sein formal gesehen also die apriorische Bedingung der Möglichkeit von Seiendem und der Vollziehbarkeit von Seiendem. „Sinn von Sein" ist gewissermaßen der Nachfolgebegriff der apriorischen Synthesis Kants. Die genauere Charakterisierung der ontologischen Fragestellung erfolgt bei Heidegger neben den Bezugnahmen auf Kant und den Neukantianismus vor allem unter Berufung auf die Phänomenologie Husserls. Die für die historische Ausbildung der Seinsfrage Heideggers wichtige Durchleuchtung des Zusammenhangs von Kategorien- und Bedeutungslehre ist nach Heideggers eigenen Angaben unter dem Einfluß von Husserls Logischen Untersuchungen zustandegekommen. Hei-

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Einleitung

deggers Kant-Rezeption steht daher weithin unter dem Gesichtspunkt einer phänomenologischen Betrachtung; so bemerkt er im Kantbuch, daß die Synthesis a priori „Ausdruck der ursprünglichsten phänomenologischen Erkenntnis der innersten einheitlichen Struktur der Transzendenz" sei (K 111 f.). Die formale Klärung der Frage nach dem „Sinn von Sein" hat also in letzter Instanz im Zusammenhang mit der transzendental-phänomenologischen Fragestellung zu erfolgen. Erst von daher ergibt sich eine Erklärung dafür, wieso sich das methodische Problembewußtsein der Heideggerschen Philosophie in Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Methode Husserls entfaltet. Heideggers Interpretation der Logischen Untersuchungen als Verbindung von kategorialontologischer (Kategorienlehre) und phänomenologischer (Bedeutungslehre), d. h. zusammenfassend transzendentaler (Wahrheitslehre) Fragestellung entspricht völlig Husserls eigenem Verständnis von diesem Werk. Heidegger konnte daher für die sowohl aus dem Neukantianismus als auch aus der scholastischen Metaphysik seiner Zeit sich ergebende Aufgabenstellung einer Vermittlung von ontologischer Thematik und transzendentalphilosophischer Kritik auf Husserl zurückgreifen. Entsprechend betont Heidegger im autobiographischen Rückblick, daß die gegenseitige Fortbestimmung beider Fragestellungen (ontologischer und transzendentalphilosophischer) schließlich auf den Weg der Seinsfrage geführt habe (SD 87). Dies bedeutet wiederum nicht, daß die von Heidegger angezielte Konzeption der Ontologie mit der Husserlschen übereinstimmt. Husserl unterscheidet in den Logischen Untersuchungen die Begriffe „Wahrheit" und „Sein" dergestalt, daß Wahrheit auf die Seite der Bedeutungsakte, Sein demgegenüber auf die Seite der Korrelate dieser Akte gehört. Die Betrachtung intentionaler Akte als Seiender ist genau der Fehler des Psychologismus. Husserls Bestimmung der ontologischen Problematik ist also von der Auseinandersetzung zwischen Psychologismus und Logizismus um das Geltungsproblem bestimmt, während Heidegger später betont, daß das Eigent-

Heidegger und die Phänomenologie

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liehe der Phänomenologie darin liege, weder Psychologie noch Logik — sondern eben Ontologie — zu sein. Demgemäß soll die Fragestellung der Ontologie der Unterscheidung zwischen Akten und ihren Korrelaten noch vorausliegen, denn aus der Bestimmung des „Sinnes von Sein" soll auch diese Unterscheidung noch geprüft werden. Für Heidegger ist die ontologische Fragestellung Husserls daher eine abgeleitete und sekundäre. Somit bietet sich in der phänomenologischen Ontologie Husserls für Heideggers Fragestellung zwar ein entscheidender Ansatz, insofern in ihr versucht wird, Kategorien- und Bedeutungsproblem zu einer einheitlichen transzendentalen Fragestellung zu verbinden. Diese Fragestellung ist jedoch auch bei Husserl noch — in der Sicht Heideggers — voraussetzungshaft. Heidegger verlangt daher eine Zurückverlagerung der Fragestellung vor die Unterscheidung von konstituierendem Subjekt und konstituiertem Gegenstand. Während für Husserl Ontologie die transzendentale Wissenschaft von den universalen eidetischen Strukturen des Konstituierten ist, soll sie nach Heidegger transzendentale Wissenschaft von der Einheit von Konstituiertem und Konstituierendem im Vollzuge der Konstitution des Seienden („Entwerfen") sein. Die Ontologie Heideggers steht also zunächst durchaus im Dienst der phänomenologischen Aufgabe, die naive Selbstverständlichkeit der Weltgewißheit durch konstitutive Analyse verständlich zu machen. Der Begriff der „Konstitution" wird jedoch durch Heidegger entscheidend neu interpretiert, und zwar dahingehend, daß nicht das Subjekt, sondern der „Sinn von Sein" formal die Funktion des universalen phänomenologischen constituens übernimmt. Damit ergibt sich für Heidegger die Frage, wie dieser „Sinn von Sein" denn methodisch zu erreichen ist. Da mit dem „Sinn von Sein" nicht irgendein auch noch so ausgezeichneter Gegenstand angezielt ist, sondern diejenige Einheit, von der her unsere Unterscheidungen von Seiendem zu verstehen sind, bedarf es einer eigenen methodischen Sicherung der Rekonstruktion dieses „Sinnes von Sein". Die Aufgabe dieser

14

Einleitung

methodischen Vorbereitung der ontologischen Fragestellung stellt Heidegger einer eigenen Disziplin, der Fundamentalontologie. Generell muß das Fundament der Ontologie dort gelegt werden, wo die Frage nach dem „Sinn von Sein" auftaucht, nämlich im menschlichen Dasein. Heidegger erklärt daher zu Beginn von Sein und Zeit programmatisch, daß die Fundamentalontologie in der Analytik des Daseins gesucht werden müsse (SZ 13). Sein und Zeit ist die Ausarbeitung dieser Fundamentalontologie. Obwohl diese Ausarbeitung nicht mehr — wie eingangs dargestellt — bis zu der angezielten Ontologie führt, verfügen wir doch mit dem veröffentlichten Text von Sein und Zeit über diejenigen Analysen, die gerade dem originellen Frageansatz Heideggers entspringen. Für die Interpretation von Sein und Zeit ist daher entscheidend, daß man bei den zahlreichen Einzelanalysen, beispielsweise zu den Phänomenen Angst und Sorge, nicht vergißt, daß sie im Zusammenhang einer methodisch-propädeutischen Vorbereitung zur Beantwortung einer einzigen philosophischen Frage stehen, der Frage nach dem „Sinn von Sein". Die Bedeutung der Einzelanalysen wird nur dann richtig interpretiert, wenn man ihre transzendental-methodische Funktion in Betracht zieht. Vor allem muß man der Versuchung widerstehen, die zum Teil ausführlichen Analysen als Stücke einer philosophischen Anthropologie (dies wäre nach Heidegger lediglich eine regionale Ontologie unter anderen) anzusehen. Der methodische Gang, den Heidegger in Sein und Zeit vollzieht, folgt aufgrund der besonderen Thematik einem ganz spezifischen Schema. Heidegger beginnt mit einer Analyse des „alltäglichen In-der-Welt-seins". Mit diesem Anfang setzt er sich bereits gegen Husserls Konzeption des Anfangs beim transzendentalen Ich ab. Nach Heidegger kann die Philosophie nicht beanspruchen, eines ersten Anfanges derart mächtig zu sein, daß sich aus ihm die Beantwortung der philosophischen Fragen durch die Befolgung einfacher methodischer Regeln ergibt. Vielmehr erfolgt der methodische Fortgang in einer Art Spiralbewegung. Die Analyse des alltäglichen In-

Heidegger und die Phänomenologie

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der-Welt-seins erlaubt eine erste, noch vorläufige Bestimmung des Sinnes von Sein; genauer: Zunächst erreichen wir den Sinn des menschlichen Daseins, den Heidegger als „Sorge" bestimmt. Im Lichte des bis dahin geklärten „Sinnes von Sein" ist es möglich, grundlegendere Strukturen des Inder-Welt-seins, das „eigentliche In-der-Welt-sein", zu ermitteln. Als diese Struktur stellt Heidegger das im Gewissen gegenwärtige „Sein zum Tode" heraus. Auch diese Bestimmung dient — trotz ihrer existentialistischen Anklänge — nur dazu, den „Sinn von Sein" zu präzisieren; als solcher wird von Heidegger die „Zeitlichkeit" bestimmt. In einem weiteren Schritt kann im Horizont der Zeitlichkeit dann das „zeitliche In-derWelt-sein" auf seine Strukturen hin befragt werden. Der nächste Schritt wäre dann die Bestimmung des Sinnes von Sein überhaupt gewesen, und damit wäre die Grundlage der Ontologie geschaffen. Gerade dieser letzte Schritt wird von Heidegger im bisher bekannten Textbestand von Sein und Zeit nicht mehr vollzogen. Der Aufbau der Fundamentalontologie (die somit gemäß ihrer methodischen Aufgabe als vollständig angesehen werden kann) folgt also folgendem Schema: Vollzug des Daseins

Sinn von Sein

alltägliches In-der-Welt-sein

Sorge

eigentliches In-der-Welt-sein (vorlaufende Entschlossenheit) zeitliches In-der-Welt-sein

Zeitlichkeit

(Sinn von Sein überhaupt)

Daß dies keine nachträgliche Konstruktion der Fundamentalontologie ist, sondern daß Sein und Zeit einem solchen Plan folgt, ist den zentralen Methodenparagraphen des Werkes zu entnehmen.10 Er wird auch durch die Vorlesungsmanuskripte 10

SZ §§ 28, 39, 45, 46, 61, 63, 83.

16

Einleitung

Heideggers bestätigt. Dort heißt es ζ. B. mit Blick auf den Begriff des „In-der-Welt-seins": „Und wenn man nur eine ganz geringe Ahnung v o n Methodik hat, dann könnte man dem entnehmen, daß offenbar diese Grundverfassung für eine Metaphysik des Daseins zentral ist, also ständig wiederkehrt und im Fortgang der Interpretation immer ursprünglicher, und das heißt: immer zentraler als Problem ans Licht kommt. Daher wird versucht, nach der ersten Kennzeichnung der Grundverfassung zunächst ihre Strukturmomente zu gliedern und sie dabei, wiederum aus Zusammenhängen, die am ehesten einen Zugang ermöglichen, wieder im Ganzen näherzubringen" (GA26 214).

2. Aporien der phänomenologischen Methode Eine ins einzelne gehende Interpretation und Würdigung der weitläufigen Untersuchungen der Fundamentalontologie kann hier selbstverständlich nicht durchgeführt werden. Stattdessen soll versucht werden, an einem zentralen und für die Fragestellung Heideggers aufschlußreichen Beispiel zu zeigen, wie Heidegger durch Kritik und Reformulierung der Phönomenologie eine Klärung der Frage nach dem „Sinn von Sein" zu erreichen sucht. Dies geschieht in der Hoffnung, daß auf diese Weise über die formale Bestimmung der Frage nach dem „Sinn von Sein" hinaus auch paradigmatisch etwas zur Klärung der materialen Frage beigetragen werden kann. Um die Argumentation Heideggers im Detail verständlich zu machen, ist es notwendig, die Fragestellung der Phänomenologie Husserls in groben Zügen zu skizzieren. Im Vordergrund steht dabei die Fassung der Husserlschen Philosophie, die dieser selbst eine Zeitlang für die am meisten vollendete hielt, nämlich die Fassung der Cartesianischen Meditationen. Die Ausarbeitung dieser zuerst im Jahre 1931 auf französisch erschienenen Schrift fällt etwa in die Zeit, in der Heidegger in ständiger Auseinandersetzung mit der Phänomenologie am Text von Sein und Zeit arbeitete. Husserls Vorarbeiten dazu dürften zu den Manuskripten gehören, für deren „freieste

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Überlassung" Heidegger sich in Sein und Zeit bedankt (SZ 38, Anm. 1). Das Problem einer phänomenologischen Erkenntniskritik kann in folgender Ausgangsfrage gesehen werden: Wie kann es angesichts der Tatsache, daß alles Erkennen das Erkennen faktisch existierender Individuen ist (also von kontingenten Umständen der sozialen, psychischen, physischen usw. Welt abhängig, „bloß subjektiv" ist), Erkenntnisinhalte von allgemeiner Verbindlichkeit, also solche, die „transsubjektiv", „intersubjektiv" oder — wie wir auch sagen — „objektiv" sind, geben? Es ist dies die phänomenologische Lesart der alle neuzeitliche theoretische Philosophie leitenden Frage: Wie ist Wissenschaft möglich? Um Mißverständnisse dieser Frage zu vermeiden, empfiehlt es sich, die bildungssprachlich vieldeutigen Termini „objektiv"/„subjektiv" zu vermeiden, wozu K. Held einen glücklichen Vorschlag gemacht hat.11 Nach Husserls Analyse in den Logischen Untersuchungen zeigt sich die Situationsgebundenheit des Erkennens sprachlich vor allem in den „wesentlich okkasionellen Ausdrücken" 12 . Verallgemeinernd spricht Held von der Okkasionalität des menschlichen Erkennens. Die phänomenologische Ausgangsfrage lautet dann präziser: Wie kann es angesichts der Okkasionalität eines jeden Erkenntnisaktes Erkenntnisinhalte von allgemeiner Verbindlichkeit geben? Diese Frage ist nicht zu verwechseln mit einer anderen, die Descartes aufgeworfen hat und mit der sich Rationalisten und Empiristen der neuzeitlichen Philosophie auseinandersetzen: Wie kommt das Subjekt zum Objekt (im Sinne von Außenwelt)? Für die phänomenologische Erkenntnistheorie ist Erkennen (wie jeder Bewußtseinsakt) wesentlich „intentional", d. h. auf ein anderes seiner selbst gerichtet. Dem transzendentalphilosophischen Satz vom Bewußtsein (nichts ist seiend außer in der Gegebenheitsweise des Bewußtseins) entspricht phänomenologisch der Satz der Intentionalität (nichts ist im 11 12

Vgl. K. Held: ,Das Problem der Intersubjektivität'. E. Husserl: Logische Untersuchungen II/l, Kap. 1, § 26.

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Bewußtsein gegeben, es sei denn, es ist seiend). Das Problem ist dann genauer, die Tatsache zu erklären, daß angesichts der Gebundenheit eines jeden Gegebenen an ein „bloß subjektives" Bewußtsein einige Gegebenheitsweisen für jedes Bewußtsein gelten können. Anders formuliert: Wie ist es möglich, daß Objektivität eine Gegebenheitsweise ist? Die Transzendenz, auf die die phänomenologische Transzendentalphilosophie bezogen ist, ist nicht die Transzendenz des Subjekts zu seinem Objekt, nicht die Transzendenz der Subjektüberschreitung (Descartes), sondern die Transzendenz der „Okkasionalitätsüberschreitung" 13 . Zum konkreten Verständnis dieser Problemstellung braucht man sich bloß daran zu erinnern, daß die Husserl zuerst bewegende philosophische Problemstellung die Sicherung der objektiven Geltung logischer und arithmetischer Formen gegen den Psychologismus war. Festzuhalten ist, daß „objektiv" nicht Gegenbegriff zu „subjektiv" im Sinne von „mit dem Menschen verbunden", sondern zu „bloß subjektiv" im Sinne von „okkasionell" ist. An die Stelle des Begriffes der Objektivität soll daher im folgenden der Begriff der Transokkasionalität treten. Mit dieser Verdeutlichung des Begriffes der Objektivität als Transokkasionalität ist auch geklärt, daß Objektivität nicht durch Verlassen oder Auslöschen der subjektiven Vollzüge des Gegebenen erreichbar ist. Um es mit Husserls immer wieder herangezogenem Beispiel zu sagen: Von einem räumlichen Gegenstand haben wir viele Gegebenheitsweisen, etwa dadurch, daß wir um ihn herumgehen; real existierender Gegenstand ist er jedoch dadurch, daß er dem jeweiligen (okkasionellen) Perzipieren transzendent ist. Dem jeweiligen Perzipieren transzendent — nicht aber jedem Perzipieren transzendent. Ein Gegenstand, der jedem Perzipieren transzendent wäre, wäre gerade nicht realer Gegenstand. Ein solcher Gegenstand existiert dadurch „objektiv", daß er als identischer in der Mannigfaltigkeit der „bloß subjektiven" Vollzüge

13

K . Held: ,Das Problem der InterSubjektivität', 4.

Heidegger und die Phänomenologie

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immer wieder als der eine gegeben ist. Das Wesen (eidos) ist phänomenologisch gerade dasjenige, was bleibt, wenn das Bewußtsein der Beliebigkeit von Gegebenheitsabwandlungen (eidetische Variation) untersucht wird. Dieses „Wie" objektiver Gegebenheit ist selbstverständlich nicht uniform, ist bei historischen „Fakten" anders als bei Objekten physikalischer Erkenntnis. Die verschiedenen Weisen von Objektivität erlauben „Regionen von Gegenständen" zu unterscheiden, somit regionale Ontologien zu entwickeln, auf deren Basis schließlich eine allgemeine Ontologie errichtet werden kann, die es mit dem „Gegenstand überhaupt" zu tun hat. Damit ist auch deutlich, daß bereits für Husserl transzendental-phänomenologische Methode und ontologische Thematik nicht in einem Widerspruch stehen. Der Begriff der „Transokkasionalität" bedarf noch einer Erläuterung. Gemeint ist eine Transokkasionalität gegenüber den „bloß subjektiven" Vollzügen von Gegebenheitsweisen, und das besagt keineswegs bloß Transokkasionalität gegenüber meinen jeweiligen Vollzügen. Denn dies würde ja bedeuten, daß ich nur eine „Objektivität für mich" erreicht hätte, eine Invarianz gegenüber der Varianz meines fließenden Bewußtseinslebens. Mit Objektivität, besonders wissenschaftlicher, ist jedoch eine Allgemeinheit angezielt, die auch die Okkasionalität der Individualität überschreitet, also eine intersubjektive Transokkasionalität. Auch dieser Begriff der „InterSubjektivität" ist noch erläuterungsbedürftig. Objektiv gelten soll etwas nicht nur gerade für uns jetzt, ζ. B. für mich und dich, sondern für jedermann. Angezielt ist also nicht eine ausgezeichnete, wieder: okkasionelle Intersubjektivität, sondern Intersubjektivität im Modus der Beliebigkeit (Indifferenz). Damit soll das Anfangsthema der transzendentalen Phänomenologie, die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, als hinreichend präzisiert gelten; die Frage lautet: Wie ist Objektivität im Sinne indifferenter intersubjektiver Transokkasionalität möglich? Die philosophisch-kritische Bearbeitung dieses Problems verlangt, daß die in unseren subjektiven Vollzügen vorge-

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nommenen Unterstellungen hinsichtlich ihrer transokkasionellen Geltung nicht ungeprüft hingenommen und als Grundlage für die Klärung weiterer Geltungsansprüche anerkannt werden. Solche Geltungsansprüche der „natürlichen Einstellung' sind vom Philosophen „einzuklammern". Das besagt nicht, daß von der Intentionalität subjektiver Vollzüge abgesehen werden sollte oder auch nur könnte, wohl aber muß von den in natürlicher Einstellung oft gegebenen Objektivitätsansprüchen abgesehen werden. Anders gesagt: Daß ich mich gerade jetzt auf etwas beziehe, ist unbestreitbar; daß dieses Etwas jedoch den Charakter der Objektivität sowohl in bezug auf mein als auch jedermanns Bewußtseinsleben hat, darf nicht unterstellt werden. Schaltet man alle Geltungsansprüche der natürlichen Einstellung aus {phänomenologische Reduktion), wird man entdekken, daß schließlich ein Residuum bleibt, dessen Gegebenheitsweise einfach nicht eingeklammert werden kann. Dies gilt schließlich und endlich nur für den gerade jetzt philosophierenden (die phänomenologische Reduktion vollziehenden) Phänomenologen selbst. Denn jeder intentionale Objektivitätsanspruch, ζ. B. auch bezüglich meiner eigenen „objektiven" Existenz und auch bezüglich meiner existierenden Mitsubjekte muß aus methodischen Gründen eingeklammert werden. Nennt man das Universum des in natürlicher Einstellung als objektiv Unterstellten mit Husserl (in einer gewissen Vereinfachung) „Welt", dann gilt: Die Objektivität der Welt ist methodisch einzuklammern einschließlich meiner mundanen Person und meiner vermeintlichen Mitsubjekte. Gehören nun die Mitsubjekte und gehört somit auch die Mitsubjektivität im Modus der Beliebigkeit, die für den Begriff der „Transokkasionalität" charakteristisch ist, zur eingeklammerten „Welt", dann kommt offensichtlich der Konstitution dieser indifferenten Intersubjektivität im Rahmen der Phänomenologie ein zentraler methodischer Rang zu. Entsprechend hat Husserl sich in den Cartesianischen Meditationen und vielen weiteren Manuskripten eingehend mit dem Problem der Konstitution der Intersubjektivität befaßt.

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Heideggers Konzeption der Fundamentalontologie, wie sie in Sein und Zeit ausgeführt ist, muß auf dem Hintergrund dieser Husserlschen Konzeption des phänomenologischen Programms und Heideggers Kritik an ihr gesehen werden. Heidegger läßt keinen Zweifel daran, daß die von ihm angezielte Ontologie mit den Mitteln der Phänomenologie erreicht werden soll. In § 7 von Sein und Zeit wird dargestellt, daß die Methode der Ontologie die Phänomenologie sein soll. Entsprechend heißt es in den Vorlesungsmanuskripten: „Die Methode der Ontologie ist aber als Methode nichts anderes als die Schrittfolge im Zugang zum Sein als solchem und die Ausarbeitung seiner Strukturen. Wir nennen diese Methode der Ontologie die Phänomenologie. Genauer gesprochen, phänomenologische Forschung ist die ausdrückliche Bemühung um die Methode der Ontologie." (GA24 466 f.)

Für das Verhältnis von Ontologie und Phänomenologie gibt Heidegger also eine scheinbar einleuchtende und einfache Bestimmung: Seine Philosophie soll thematisch Ontologie und methodisch Phänomenologie sein. Mit dieser Bestimmung konnte Husserl — so scheint es — ganz einverstanden sein, denn er selbst hat immer wieder unterstrichen, daß die Phänomenologie eine bloße Methode sei, die je nach Sachgebiet Anwendung und Bestimmung erfahren müsse. In Heideggers Verhältnisbestimmung von Ontologie und Phänomenologie ist jedoch eine massive Kritik an Husserls Konzeption der Phänomenologie impliziert. Kontinuität und Kritik gegenüber Husserls Idee der Phänomenologie sind besonders ausführlich in Heideggers Vorlesung ,Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs' (GA20) ausgearbeitet. Hier findet man auch die ausführlichste Darstellung der Phänomenologie durch Heidegger und eine deutliche Einbeschreibung seiner eigenen Fragestellung in den für ihn reformulierungsbedürftigen phänomenologischen Rahmen. Allgemein verlangt Heidegger hier, wie auch in Sein und Zeit, eine „radikale Besinnung" in der phänomenologischen Forschung. In den §§ 11 — 13 unternimmt er den Versuch, durch eine „immanente Kritik der phänomenologischen Forschung" gerade die

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Frage nach dem „Sinn von Sein" als das entscheidende Versäumnis der Husserlschen Phänomenologie aufzuweisen. Im Zusammenhang mit dieser von Heidegger geführten Diskussion ist zunächst zu beachten, wie unprätentiös Heidegger die Seinsfrage versteht. Das Verfahren der Einklammerung verteidigt Heidegger gegen naheliegende Mißverständnisse so: „Diese phänomenologische Ausschaltung der transzendenten Thesis hat einzig nur die Funktion, das Seiende hinsichtlich seines Seins präsent zu machen. Der Ausdruck Ausschaltung ist deshalb immer mißverständlich, sofern man meint, in der Ausschaltung der Daseinsthesis und durch sie hätte die phänomenologische Betrachtung es gerade nicht mehr mit dem Seienden zu tun; umgekehrt: gerade extrem und einzig handelt es sich nur um die Bestimmung des Seins des Seienden selbst" (GA20 136).

Heidegger deutet nun Husserls Untersuchungen als Ausgrenzung eines besonderen „thematischen Feldes der Phänomenologie" (wodurch bereits eine gewisse Relativierung der Husserlschen Konzeption in bezug auf die „Idee der Phänomenologie" erfolgt). Dieses besondere thematische Feld, die besondere Region, die Husserl herausgestellt habe, sei die Sphäre der Intentionalität, das reine Bewußtsein. Heideggers kritische Frage lautet nun: „Ist in dieser Herausarbeitung des thematischen Feldes der Phänomenologie, welches die Intentionalität ist, ist darin die Frage nach dem Sein dieser Region, nach dem Sein des Bewußtseins gestellt, bzw. was heißt hier überhaupt Sein, wenn gesagt wird, die Sphäre des Bewußtseins sei eine Sphäre und Region absoluten Seins?" (GA20 140).

Heidegger verallgemeinert: „Ist innerhalb der Phänomenologie überhaupt der methodische Boden gewonnen, um diese Frage nach dem Sinn von Sein, die jeder phänomenologischen Überlegung vorauszugehen hat und in ihr unausgesprochen liegt, zu stellen?" (ebd.). 14

Heideggers Kritik läuft also darauf hinaus, daß die Entwicklung der Phänomenologie durch Husserl gerade das Stel14

Textkorrektur gemäß Empfehlung der Herausgeberin P. Jaeger (briefliche Mitteilung).

Heidegger und die Phänomenologie

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len dieser zufolge Heidegger entscheidenden Frage nach dem „Sinn von Sein" verhindere. Genauer sei es gerade die „phänomenologische Reduktion", die verhindere, daß nach dem „Sein des Intentionalen" gefragt werden kann (vgl. GA20 150). Es liegt auf der Hand, daß man für das Verständnis der Frage nach dem „Sinn von Sein" viel gewonnen hat, wenn man diese Kritik Heideggers an der phänomenologischen Reduktion rekonstruieren kann. Einen ersten Hinweis gibt Heidegger selbst, indem er daran erinnert, daß durch die phänomenologische Reduktion bereits ein „Fundamentalunterschied" zwischen zwei Bereichen des Seienden formuliert ist, nämlich zwischen dem Bewußtsein und dem „transzendenten" Seienden. Heidegger fügt hinzu: „[...] den Fundamentalunterschied innerhalb des Seienden zu fixieren, das heißt, im Grunde die Seinsfrage zu beantworten" (GA20 157). Dies bestätigt, daß mit dem „Sinn von Sein" formal der Grund fundamentaler Unterscheidungen des Seienden gesucht ist. Man fragt sich jedoch sofort, ob diese Zweifel nicht nur Ausdruck einer gewissen Problematisierungssucht sind. Heidegger scheint diese Bedenken zu ahnen, wenn er den einschlägigen Paragraphen durch die rhetorische Frage einleitet: „Aber wozu dieses Fragen nach dem Sein?" (ebd.). Welchen Anlaß gibt es überhaupt, nach einem Grund der Unterscheidung zwischen Bewußtsein und transzendentem Sein zu suchen, einer Unterscheidung, die doch so plausibel und naheliegend scheint. Daß Husserls Konzeption der phänomenologischen Reduktion in der Tat erhebliche Probleme aufwirft, läßt sich am Problem der InterSubjektivität, auf dessen zentrale Stellung bereits hingewiesen wurde, beispielhaft zeigen. Die Probleme der Husserlschen Konstitutionstheorie der Intersubjektivität im einzelnen können dabei übergangen werden. 15 Es ergibt sich nämlich eine einfache methodische Aporie in der Hus-

15

Vgl. dazu K . Held: ,Das Problem der Intersubjektivität' B. Waldenfels: Das Zwischenreich des Dialogs.

sowie

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serischen Konzeption. Der Zielbegriff der Objektivität im Sinne von Transokkasionalität impliziert, daß in der natürlichen Einstellung aufklärungsbedürftige Geltungsansprüche für jedermann liegen. Wie können aber solche Geltungsansprüche geprüft werden, wenn die Existenz von Mitsubjekten, in bezug auf die Geltungsansprüche erhoben werden, eingeklammert ist? Husserl scheint sich dieses Problems selbst bewußt gewesen zu sein. Er bringt es gerade gegenüber Descartes kritisch ins Spiel. Das cartesianische Motiv, das Husserl für richtig hält, liegt darin, daß Transzendentalphilosophie von einem Anfang ausgehen muß, welcher als methodisches Residuum nichts von dem enthält, was von ihm her erst phänomenologisch gezeigt werden soll. Aber ein Anfang und sonst nichts ist kein Anfang, weil man nicht von ihm wegkommt. Man braucht zusätzlich das, was Husserl eine „leitende Zweckidee einer absoluten Begründung der Wissenschaft" nennt16; nämlich eine Idee der Wissenschaft „Philosophie" und der durch die philosophische Arbeit in ihrer Möglichkeit aufzuklärenden Einzelwissenschaften. Diese leitende Zweckidee — so kritisiert Husserl — habe Descartes unkritisch der Geometrie entnommen; als anfangende Phänomenologen dürfen wir jedoch kein faktisches Wissenschaftsideal in Geltung setzen. Damit stellt sich aber eine entscheidende Frage, die geeignet ist, Husserls Gedanken der phänomenologischen Reduktion zu unterminieren. Wie gelangen wir zur leitenden Zweckidee der Wissenschaft, nämlich Objektivität im Sinne intersubjektiver Transokkasionalität, wenn die Existenz anderer Subjekte für mich als anfangenden Phänomenologen eingeklammert ist? Wenn „objektiv" heißt: geltend für beliebigen Jedermann, die Existenz von jedermann aus methodischen Gründen aber eingeklammert ist, woher stammt dann die leitende Zweckidee der Wissenschaftlichkeit? Husserl bietet zunächst folgende Lösung an: Am Zweck der Wissenschaftlichkeit muß festgehalten werden (er darf 16

Vgl. E. Husserl: Cartesianische

Meditationen,

48.

Heidegger und die Phänomenologie

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nicht eingeklammert sein); wir nehmen die Idee natürlich von den faktisch existierenden Wissenschaften, aber — wie Husserl präzisiert — als „vorläufige Präsumption". Schon R. Ingarden 17 hat bemerkt, daß in dieser Konzeption der vorläufigen Präsumption ein Verstoß gegen das Postulat der phänomenologischen Reduktion liegt. Die gesamte Untersuchung ist nämlich durch eine vorläufige Präsumption geleitet, die diese dann endgültig als begründet bestätigt. Man sieht, daß dieses Problem auch dann bestünde, wenn es gelänge, zu einer stimmigen Konstitutionstheorie der Intersubjektivität zu gelangen. Husserls systemsprengender Ausweg in der Ära^r-Schrift besteht darin, die Zweckbestimmung der Wissenschaft als in der inneren Tendenz der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte liegend herauszustellen. Damit bleibt der Zweck des Unternehmens auch da sinnvoll formulierbar, wo die Existenz anderer Subjekte eingeklammert ist. Allerdings muß man sich fragen, ob es noch einleuchtend ist, wenn eine in ihrer Geltung durchaus diskussionsbedürftige und in ihren Voraussetzungen sehr komplexe historische Theorie jene Gewißheit verschaffen soll, die die Annahme der Existenz anderer Subjekte nicht bieten kann. Das Beispiel der „leitenden Zweckidee der Wissenschaft" macht deutlich, daß es in der Tat hinreichend Anlaß gibt, an der Durchführbarkeit des Husserlschen Programms zu zweifeln, und daß Heidegger richtig sieht, daß diesbezügliche Probleme auf die Konzeption der „phänomenologischen Reduktion" zurückgeführt werden können. Der Zielbegriff des phänomenologischen Programms, nämlich „Objektivität" im Sinne von Transokkasionalität, und die methodische Konzeption der phänomenologischen Reduktion sind nicht ohne weiteres vereinbar. Das Beispiel der leitenden Zweckidee der Wissenschaft zeigt, daß durch die phänomenologische Reduktion methodische Größen eingeklammert werden, die

17

Vgl. in: E. Husserl: Cartesianische Meditationen, 205 — 218.

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Einleitung

nicht eingeklammert werden können. Derartige Beispiele bieten hinreichend Anlaß, die Konzipierung des methodischen Residuums (transzendentales Ich) und des korrelativen Begriffs der Welt insgesamt in Frage zu stellen. Heideggers Kritik ist nun zunächst dahingehend zu interpretieren, daß sich eine derartige Infragestellung — um es kurz zu formulieren — der Unterscheidung Ich und Welt bei Husserl nicht findet. Wie schon bemerkt, betrifft die Frage nach dem „Sinn von Sein" eine ratio disiunctionis, von der her grundlegende Unterscheidungen gerechtfertigt werden können. Damit ist deutlich, warum Heidegger seine Infragestellung der Unterscheidung von Ich und Welt bzw. der zu dieser Unterscheidung führenden methodischen Konstruktion der phänomenologischen Reduktion in der begrifflichen Fassung vorbringt, in Husserls Phänomenologie sei die Frage nach dem „Sinn von Sein" versäumt. Ferner ist auch verständlich, warum Heidegger behauptet, „daß die Seinsfrage keine beliebige, nur mögliche Frage, sondern die dringlichste Frage gerade im eigensten Sinne der Phänomenologie selbst ist" (GA20 158). Daß die Frage nach dem „Sinn von Sein", deren „Versäumnis" Heidegger Husserl vorwirft, die grundlegende Unterscheidung von Ich und Welt betrifft, beinhaltet, genau gesehen, ein Doppeltes: Heidegger stellt einerseits die von Husserl vorgenommene Gleichsetzung der transzendenten Welt mit dem methodischen Begriff des Konstituierten und somit methodisch Einzuklammernden in Frage (Husserls 1. Gleichset^ung)·, dem entspricht, daß Heidegger auf der anderen Seite auch Kritik an der Gleichsetzung des transzendentalen Ich mit dem methodischen Begriff des Konstituierenden und somit nicht einklammerbaren (weltlosen) Residuums übt (Husserls 2. Gleichset^ung). Das Programm von Sein und Zeit, nämlich durch die Ausarbeitung einer Fundamentalontologie eine Revision der phänomenologischen Forschung vorzunehmen (SZ § 7), ist also sowohl als Kritik am phänomenologischen Begriff des „Ich" als auch am phänomenologischen Begriff der „Welt" zu verstehen. Dabei ist zu beachten, daß Heidegger zwar ein und dieselbe Unterscheidung durch die Frage

Heidegger und die Phänomenologie

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nach dem „Sinn von Sein" destruiert, daß seine Kritik an den beiden Husserlschen Gleichsetzungen aber eine jeweils spezifische ist.

3. Die Welt als konstituierende Lebenswelt und konstituierte Sonderwelt Heideggers ausgedehnte Untersuchungen zum „In-der-Weltsein" in Sein und Zeit haben vor allem die Aufgabe, den Nachweis zu führen, daß das menschliche Subjekt nicht durch eine „transzendentale Reduktion" von seinen Weltbezügen getrennt werden kann. Eine besondere Rolle spielt dabei Heideggers These, daß die theoretischen Akte (das „Erkennen") keine Sonderstellung in der Totalität intentionaler Bezüge haben. Auch das Erkennen ist ein „fundierter Modus" des „In-der-Welt-seins", und dies gilt unabhängig von der Tatsache, daß die Philosophie ein theoretisches Unternehmen ist. Indem Heidegger die Sonderstellung der theoretischen Akte negiert, stellt er zugleich die Möglichkeit der von Husserl vom Phänomenologen geforderten „rein theoretischen Einstellung" in Frage. Nach Husserl können die intentionalen Akte in der Reflexion zu immanenten Gegenständen thematisiert und als solche untersucht werden. Gegenüber diesen Akten befindet sich das Phänomenologie treibende Subjekt in der Rolle eines rein theoretischen und interesselosen Zuschauers. Die phänomenologische Reduktion unterstellt somit, daß das reflektierende Ich seine intentionalen Vollzüge gewissermaßen von sich abspalten kann, um sie dann zu betrachten. Diese Sphäre des reinen Bewußtseins ist es, die — in Heideggers Lesart — die von Husserl konstruierte Region ausmacht, und deren Möglichkeit Heidegger bestreitet. 18 Die reine Inblicknahme intentionaler Akte ist nach Heidegger eine unausgewiesene Konstruktion. Sie ist zudem überflüssig, 18

Vgl. G A 2 0 § § 11, 12.

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weil das Dasein in seinen Akten immer schon sich selbst — wenn auch unthematisch — versteht und auslegt. Diese Überlegungen zeigen, warum Heidegger den Gedanken, der mit dem Begriff der „Intentionalität" formuliert ist, ablehnt. Heidegger wendet sich nicht gegen die Analyse, daß jeder Vollzug ein Vollzug von etwas ist, sondern er wendet sich gegen die Konzeption, Intentionalität als eine Leistung zu verstehen, die theoretisch thematisiert werden kann. Aus dieser Kritik Heideggers ergibt sich notwendig die Differenzierung zwischen dem Husserlschen und dem Heideggerschen Begriff der „tf7*?//". Nimmt man Welt im allgemeinen Sinn als Horizont alles Seienden, dann ist Welt bei Husserl methodisch der Boden, auf welchem sich die Konstitution als Sonderungsleistung abspielt. Welt ist sozusagen der universale Bereich des phänomenologisch Reduzierbaren. Demgegenüber spricht Heidegger von der Welt als einem unreduzierbaren und immer schon gültigen Horizont einzelner Vollzugsweisen von Seiendem. Welt steht also bei Husserl von vornherein auf der Seite des Konstituierten und in seiner Konstitution Aufklärungsbedürftigen; das transzendentale Subjekt als Konstituierendes muß entsprechend im strengen Sinne außerweltlich sein. Demgegenüber formuliert Heidegger: „ ,Welt' ist ontologisch keine Bestimmung des Seienden, das wesenhaft das Dasein nicht ist, sondern ein Charakter des Daseins selbst." (SZ 64)

Die These von der unreduzierbaren Welt besagt jedoch andererseits nicht, daß eine konstitutive Aufklärung von Sonderwelten als Themen der regionalen Ontologien unmöglich oder überflüssig sei. Vielmehr läuft Heideggers Kritik an Husserls Idee der phänomenologischen Reduktion auf eine Differenzierung im Begriff der „Welt" hinaus. Das Konstituierte, in seiner Konstitution Aufzuklärende und somit methodisch Einzuklammernde, ist nicht die Welt schlechthin, sondern ist der der Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Gegenstands zugrundeliegende besondere Objektivitätsmodus (Heidegger: „Vorhandenheit"). Entsprechend ist das konstituie-

Heidegger und die Phänomenologie

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rende Ich nicht weltlos, sondern das „transzendentale Ego" ist ununterscheidbar das konkrete mundane Subjekt, das inder-Welt-seiende Dasein. Von Welt in diesem Sinn kann nicht mehr methodisch abgesehen werden. Man wird der Grundkonzeption von Phänomenologie, die Heidegger im Rahmen der Fundamentalontologie entwickelt, nur gerecht, wenn man unterscheidet zwischen der Welt als constitutum (Bereich wissenschaftlicher, ausdifferenzierter Sonderwelten) und der Welt als constituens (dasjenige, worin Menschen immer schon leben). Heideggers Hinweis gegenüber Husserl, das Subjekt sei selbst ein Seiendes (s. u. § 4), ist in seiner Nicht-Trivialität nur zu verstehen, wenn man ihn im Zusammenhang mit der Aporie der phänomenologischen Reduktion sieht. Die darin liegende Argumentation hat die Form einer reductio ad absurdum: Wenn alles Seiende (da in seiner Objektivitätsweise erst noch aufzuklären) eingeklammert werden muß, das Subjekt aber (weil seine Weltbezüge unreduzierbar sind) auch ein Seiendes ist, dann gibt es nichts mehr, was nicht eingeklammert wäre. Es sei denn, man wählt den Ausweg, den Heidegger in einem Brief an Husserl vom 22. 10. 1927 formuliert: „Die transzendentale Konstitution ist eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst. [...] Das Konstituierende ist nicht Nichts, also etwas und seiend — obzwar nicht im Sinne des Positiven. Die Frage nach der Seinsart des Konstituierenden selbst ist nicht zu umgehen". 1 9

Heideggers Kritik besagt allgemeiner: Die Demarkationslinie zwischen den methodisch zu differenzierenden Bereichen des Konstituierenden und Konstituierten (zwischen dem Einzuklammernden und dem Residuum) kann nicht auch genau diejenige zwischen transzendenter Welt und weltlosem Subjekt sein. Das Subjekt ist so wesentlich „In-Welt" und „mit anderen", daß gerade dieses totale mundane Subjekt als das (im methodischen Sinn) Konstituierende angesehen werden muß.

19

In: E. Husserl: Phänomenologische Psychologie, 601 f.

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Einleitung Husserl: Welt

Ich constituens Dasein in:

Welt

constitutum

„Sonderwelten"

Heidegger:

Die Folge dieser substantiellen Änderung der Abgrenzung zwischen dem methodisch Konstituierenden und Konstituierten kann in Wiederaufnahme des eingeführten Beispiels der Intersubjektivität verdeutlicht werden. Für Heidegger stellt sich die Husserlsche Problematik der Konstitution der InterSubjektivität als konstitutionstheoretisches Scheinproblem dar (SZ § 26). Das lebensweltliche, methodisch erste In-derWelt-seiende ist nicht jenes Ich, auf das die phänomenologische Reduktion zurückführt, sondern gerade die indifferente Intersubjektivität, deren Konstitution Husserl sucht. Diese indifferente Intersubjektivität nennt Heidegger in der Linie der konnotierend-unterminologischen Art seiner Begriffsbildung „Man". Während Husserl, indem er auch die mitexistierenden Subjekte noch der phänomenologischen Reduktion unterzieht, die anderen Menschen ebenfalls — in Heideggerscher Sicht — als Sonderwelt ansieht, in Heideggers Terminologie: ihnen den Seinscharakter der „Vorhandenheit" zuspricht, stellt Heidegger in seiner Konzeption des „Man" heraus, daß die indifferente Intersubjektivität des „Jemand beliebiges" gerade die alltägliche Form der Subjektivität ist. In der für Heidegger typischen Diktion lautet das: „ ,Die Anderen' besagt nicht soviel wie: der ganze Rest der übrigen außer mir, aus dem sich das Ich heraushebt, die Anderen sind vielmehr die, von denen man selbst sich zumeist nicht unterscheidet, unter denen man auch ist. Dieses Auch-da-sein mit ihnen hat nicht den ontologischen Charakter eines ,Mit'-Vorhandenseins innerhalb einer Welt" (SZ 118).

Ist die alltäglich-erste Subjektivität gerade die methodisch gesuchte indifferente Intersubjektivität (und nicht das philosophisch ausdifferen2ierte „Ich"), dann erübrigt sich die Konstitution der Mitsubjekte im Sinne einer inter subjektiven Sonderwelt.

Heidegger und die Phänomenologie

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Damit ist auch — abschließend — die als paradigmatisch herausgestellte Schwierigkeit im Zusammenhang mit der Be-

gründung der „leitenden Zweckidee

der Wissenschaft" prinzi-

piell erledigt. Auch hier ist es nach Heidegger ein Scheinproblem, eine solche Zweckidee noch konstituieren zu wollen. (Das Problem Husserls erledigt sich schon dadurch, daß die Mitsubjekte, denen gegenüber Geltungsansprüche erhoben werden können, bereits eine Weise des In-der-Welt-seins sind.) Ebenso findet das konkrete Subjekt in seiner Lebenswelt die leitende Zweckidee der Wissenschaftlichkeit (d. h. transokkasioneller Geltungsansprüche) vor. Es ist gerade ein methodischer Fehler, das Subjekt von derartigen historisch vorgegebenen kulturellen Zwecksetzungen — die sich (so können wir phantasieren) auch hätten anders einstellen können — abzuschneiden. Vielmehr greift die im Sinne Heideggers reformulierte Phänomenologie gerade diejenigen inhaltlichen Voraussetzungen auf, durch die sich das mundane Subjekt historisch-sozial bestimmt sieht, um die konstitutive Genese dieser Fakten aus der Lebenswelt aufzuklären. Die Thematik — nicht ihre phänomenologische Aufklärung — ist der Philosophie historisch aufgegeben und nicht noch einmal transzendental-phänomenologisch konstituiert. Heideggers Kritik an der methodischen Idee der phänomenologischen Reduktion und — damit verbunden — an Husserls Demarkation zwischen Ich und Welt führt damit zu einem Wandel im Gedanken der phänomenologischen Konstitution. Während Husserl die Aufgabe stellte, die Genese eines gegebenen Objektivitätsmodus in der Totalität des Bewußtseinslebens nachzuzeichnen, lautet die Heideggersche Aufgabe nun, eine Genese der Ausgrenzung und Verselbständigung eines bestimmten Seinsmodus (ζ. B. der wissenschaftlichen Vorhandenheit) aus der Totalität einer historisch-faktischen Welt vorzuführen.

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Einleitung

4. Das Ich als In-der-Welt-seiendes Die bisherige Interpretation von Heideggers Kritik an der Konzeption der phänomenologischen Reduktion bezog sich allein auf Husserls 1. Gleichsetzung, dergemäß die Welt das Konstituierte ist. Heidegger kritisiert jedoch auch die 2. Gleichsetzung, dergemäß das Ich das Konstituierende, Konstitution Leistende ist. Demgegenüber ist es ein durchgängiger Gedanke Heideggers, den er durch die Begriffe „Sorge" und „Zeitlichkeit" ausdrückt, daß das Subjekt zwar Welt entwirft, aber als solches Entwerfendes sich etwas anderem verdankt, das weder entwerfendes Subjekt noch konstituierte (entworfene) Welt ist. So kommt er zu der Formulierung, daß der Mensch „geworfener Entwurf" sei, und somit das Ich genaugenommen nicht mehr als „subiectum" im Sinne der neuzeitlichen Philosophie angesprochen werden kann. Es ist vor allem dieser Argumentationsstrang Heideggers gegen Husserl (und durch ihn die große Tradition der neuzeitlichen Subjekttheorie), den Heidegger in seinen späteren Schriften weiterverfolgt, und der dementsprechend in der Heidegger-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg eine dominierende Rolle gespielt hat. Auch hier müssen die zentralen Aussagen Heideggers über Sorge und Zeitlichkeit im Zusammenhang mit der transzendental-phänomenologischen Konzeption des Ich verstanden werden. Wie eingangs dargestellt, dient die phänomenologische Explikation des In-der-Welt-seins nur der methodischen Vorbereitung der Frage nach dem „Sinn von Sein". Auch diese Frage kann nicht direkt beantwortet werden, sondern muß auf dem Weg über die Frage nach dem Sein des Daseins erreicht werden. Mit dem Begriff der „Sorge" formuliert Heidegger nun eine erste Seinsthese: Der Seinssinn des menschlichen Daseins ist Sorge. I nur dem Laien, sondern mann" merkwürdig klingenden These deutlich zu machen, muß auf den methodischen Einsatzpunkt dieser These und

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auf die Eigenheit Heideggerscher Terminologiebildung etwas genauer eingegangen werden. Die Analyse des In-der-Welt-seins, die hier nicht dargestellt werden kann, führt — wie nicht anders zu erwarten — zur Herausstellung einer Vielzahl relevanter Phänomene. Die Frage nach dem „Sinn von Sein" zielt jedoch gerade auf die Einheit, die die Rechtfertigung von Unterscheidungen erlaubt. Entsprechend muß angesichts der Phänomenvielheit des In-der-Welt-seins eine Einheit rekonstruiert werden. Heidegger fragt folglich nach der „ursprünglichen Ganzheit des Strukturganzen des Daseins" (SZ 180). Als fundamentales Strukturmoment der verschiedenen Daseinsvollzüge stellt Heidegger nun heraus, daß es dem Dasein in diesen Vollzügen jeweils um etwas geht. Umgangssprachlich nennen wir die fundamentale Einstellung des „es geht um ..." auch „Sorge". Heidegger wählt nun diesen umgangssprachlichen Ausdruck in bewußter Absetzung gegen eingebürgerte fachphilosophische Terminologie, um die herausgestellte Grundstruktur des „es geht um ..." auszudrücken. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß sich der Mensch ständig Sorgen macht, sondern mit dem Ausdruck Sorge soll das „Sein des Daseins" erfaßt sein. „Der Ausdruck , Sorge' meint ein existenzial-ontologisches Grundphänomen" (SZ 196). Die These vom Sein des Daseins als Sorge zeigt zugleich, daß Heidegger den Ausdruck „Sein" meistens ziemlich unprätentiös verwendet, nämlich im Sinne einer Struktureinheit in einer Mannigfaltigkeit. Die am Begriff der „Sorge" angedeutete Art der Terminologiebildung hat den Vorteil, fachphilosophisch eingebürgerten Begriffen völlig auszuweichen; daß damit auch erhebliche Nachteile in Kauf genommen werden, liegt auf der Hand. Der Adressat der Sorgethese ist — wie angedeutet — Husserl mit seiner Lehre vom transzendentalen Ich. Diese Auseinandersetzung Heideggers mit Husserl hat einen literarisch faßbaren Höhepunkt in den Diskussionen um die Entwürfe der Encyclopaedia-Britannica-Artikels im Jahre 192720, also 20

Veröffentlicht in: E. Husserl: Phänomenologische Psychologie, 237—301.

Einleitung

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im Erscheinungsjahr von Sein und Zeit. Husserl scheint in diesen Entwürfen eine weitgehende Annäherung an Heidegger vorzunehmen, indem er die transzendentale Phänomenologie als universale Ontologie bestimmt, die auch die Frage nach dem „Sein der transzendentalen Subjektivität selbst"21 einbezieht. Gerade hier werden jedoch die Unterschiede deutlich. Die transzendentale Ontologie ist für Husserl die Grunddisziplin für alle positiven Wissenschaften, die durch sie letztbegründet in der transzendentalen Subjektivität wurzeln. Die Ontologie ist also die apriorische Wissenschaft vom Gesetzten (Konstituierten) im Begründungsrückgang auf das Setzende (Konstituierende). Sie bezieht sich jedoch nicht mehr auf das Sein der transzendentalen (konstituierenden) Subjektivität selbst. „Sein" ist für Husserl gleich „positiv Gesetztsein"; die Seinsfrage fragt also nach dem Sein des positiv Seienden. Sie ist damit der „Scheidung zwischen Positivität und Transzendentalität" nachgeordnet als Frage nach der Positivität des Positiven. Die Frage nach dem Sein der setzenden Subjektivität dagegen ist für Husserl auf Grund der gesamten Fragestellung entschieden; es ist das „erweisbare Wesen" der Subjektivität, „transzendental in sich und für sich konstituierte zu sein"22. Die subjekttheoretischen Probleme der Phänomenologie hat Husserl besonders deutlich in den Cartesianiscben Meditationen zusammengefaßt. Aus dem Grundsatz der transzendentalen Phänomenologie: „Gegenstände sind für mich, und sind für mich, was sie sind, nur als Gegenstände wirklichen und möglichen Bewußtseins" ergibt sich als korrelativer Grundsatz der Subjekttheorie: „[...] daß das transzendentale ego [...] nur ist, was es ist, in Bezug auf intentionale Gegenständlichkeiten"23. Entsprechend diesen beiden Polen müssen zwei Arten transzendentaler Konstitution unterschieden werden: einmal die Konstitution des Gegenstandes als eines mit sich 21 22 23

Ebd. 297. Ebd. E. Husserl: Cartesianische

Meditationen,

99.

Heidegger und die Phänomenologie

35

identischen; diese Art der phänomenologischen Konstitution hatte Husserl von den Logischen Untersuchungen an im Blick. Zum anderen aber muß von einer Konstitution des mit sich selbst in allen Erlebnissen identischen Ich gesprochen werden: „Das ego selbst ist für sich selbst seiendes in kontinuierlicher Evidenz, also sich in sich selbst als seiend kontinuierlich konstituierendes",24 Diese Konzeption führt sofort zu erheblichen Schwierigkeiten. Wenn das transzendentale Subjekt sowohl konstituierend als auch konstituiert ist, muß zur Vermeidung eines unendlichen Regresses ein rein konstituierendes Ich vor aller Konstituiertheit gedacht werden können. Dieses Ich wäre frei von aller Bestimmtheit, ein „leerer Identitätspol"25, wie es das neukantianische transzendentale Subjekt ist. Husserl lehnt diese Vermutung ab, denn ein völlig unbestimmtes Subjekt müßte nach seiner Konzeption überhaupt inexistent sein, da ihm keine Gegebenheitsweise entspräche. Zur Lösung des Problems wird die Lehre von den habituellen Eigenheiten entwickelt, die die jeweils schon die Konstitution bestimmende Bestimmtheit des transzendentalen Ego darstellen sollen. Daß damit eine Scheinlösung angeboten wird, hat schon Ingarden zu dieser Konzeption bemerkt.26 Man muß nämlich fragen, was denn das konstituierende (transzendentale) Ich vor der Erwerbung der Habitualitäten ist. Alle dem transzendentalen Ich zugesprochenen Attribute, also auch die Habitualitäten, unterliegen wie überhaupt alle immanenten Gegebenheiten der phänomenologischen Reduktion. Damit ergibt sich die Alternative, daß es entweder überhaupt keine phänomenologische Begründung mehr gibt, weil der unendliche Regreß von Konstituierendem und Konstituiertem nicht vermieden wird, oder aber das transzendentale Ich ist ein leerer Identitätspol, was zu Folge hat, daß es kein transzendentales Ich und damit ebenfalls keine phänomenologische Konstitu24 25 26

Ebd. 100. Ebd. Vgl. in: E. Husserl: Cartesianische

Meditationen,

205—218.

36

Einleitung

tion gibt. Heideggers Kritik zielt darauf ab, daß der Begriff der Selbstkonstitution bei Husserl nicht widerspruchsfrei gedacht werden kann. Die Kritik entzündet sich dabei besonders deutlich an folgender Aussage Husserls: „Evidenterweise ist es [das trans2endentale Ego] in der Tat in seiner reduzierten Eigenheit ausschließlich setzbar, mit all seinen intentionalen Korrelaten und bietet so für mich den fundamentalsten, den ersten Erfahrungsboden für eine transzendentale Forschung".27

Das transzendentale Ego, das ja als philosophisch-phänomenologisch zu erkennendes vorausgesetzt werden muß, wenn nicht die gesamte philosophische Erkenntnis bodenlos sein soll, muß zugleich als setzendes (darin ist es transzendental) als auch als gesetztes (darin ist es erkennbar) betrachtet werden. Gesetzt-sein heißt aber für Husserl: positiv-sein, d. h. der Reduktion unterliegen. Das transzendentale Ego kann sich aber nicht selbst der Reduktion unterziehen. Heidegger merkt daher an: „In welchem Sinne ist dieses Gesetzte, wenn es nicht nichts, vielmehr in gewisser Weise Alles sein soll" 28 ; im Brief an Husserl vom 22. 10. 1927 heißt es: „Welches ist der Charakter der Setzung, in der das absolute ego Gesetztes ist? Inwiefern liegt hier keine Positivität (Gesetztheit) vor?" 29 Husserls Korrektur von „ausschließlich setzbar" in „in sich abgeschlossenes Erfahrungsfeld" kann die Frage nicht umgehen: Wie kann das transzendentale Ego als alle Erfahrung setzender Pol selbst Gegenstand von Erfahrung sein? Wenn die Subjektivität des Subjekts Setzung ist, kann nicht mehr erklärt werden, wieso es ein Wissen um diese Subjektivität geben kann. Heidegger sieht also, daß der Angelpunkt des Problems dort zu suchen ist, wo Husserl unbedenklich ausführt, das transzendentale Ego konstituiere sich als seiend. Seiend sein heißt für Husserl: konstituiert sein. Wenn das Subjekt als kon27 28 29

E. Husserl: Phänomenologische Psychologie, 275. Zitiert wird die ursprüngliche Fassung; vgl. die textkritischen Anmerkungen, ebd. 604. Vgl. ebd. 604. Ebd. 602.

Heidegger und die Phänomenologie

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stituierendes aber in dem Sinne seiend ist, wie alle nicht-subjektiven Gegenstände seiend sind, führt das zu einem Widerspruch. Also muß das Subjekt in einem anderen Sinne seiend sein. Damit stellt sich die Frage: Von woher soll bestimmt werden, was seiend ist? Erst wenn das Subjekt auch als Seiendes gesehen wird und damit die Unterscheidung von Konstituierendem und Konstituiertem als fundamentale Seinsdifferenz erscheint, wird der Seinsbegriff überhaupt problematisch. Die Frage nach dem „Sinn von Sein" hat von Husserl her gesehen in der Aporie ihr Fundament, daß das Subjekt als alles Seiende Konstituierendes auch seiend ist. Nur auf dem Boden der phänomenologischen Subjektproblematik ist daher einsehbar, wie sich die lebensphilosophische Anthropologie, die in der Aussage zusammengefaßt werden kann: das Subjekt ist seiend, und die Aristotelische Ontologie (was ist das Seiende als Seiendes?) bei Heidegger zu einer einheitlichen Problematik zusammenfinden. Die Seinsfrage bricht in dem Moment auf, da Konstituiertes und Konstituierendes als Seiende erscheinen. Was macht angesichts dieser Seinsdifferenz eigentlich das Sein des Seienden aus? Die Behauptung Heideggers, bei Husserl werde die Subjektivität des Subjekts gar nicht bedacht (vgl. SZ 229), erscheint zunächst unverständlich, wenn man Husserls weitläufige Untersuchungen zur Subjektivität im Blick hat. Husserl war denn auch der Meinung, daß Heideggers Vorwurf unberechtigt sei. Heidegger meinte jedoch nicht, Husserl habe die Subjektivität nicht bedacht, sondern er habe sie wegen einer unangemessenen ontologischen Unterstellung nicht als solche bedacht, d. h. er habe die Subjektivität des Subjekts nicht bedacht, weil er sie auf der Basis der These vom Sein als Gesetztsein gar nicht denken konnte. Die Frage nach dem Sein der Subjektivität wird bei Husserl nicht mehr aufgeworfen, weil Sein immer schon als Positivität des Positiven ausgelegt ist. Dagegen führt Heidegger aus: „Damit aber ist nicht gesagt, das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt nichts Seiendes — sondern es entspringt gerade das Problem·, welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich ,Welt' konsti-

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Einleitung

tuiert? Das ist das zentrale Problem von ,Sein und Zeit' — d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins".30

Diese Frage kann Heidegger stellen, weil Sein für ihn nicht seiender, somit auch nicht daseinsmäßig seiender Horizont ist. Daher ist das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen. Die Konstitutions„leistung" liegt im apriorischen Immer-schon-ausgelegt-sein des Seienden durch das Daseins (als Sorge) im Horizont des Seins. Das Sein des Seienden hat dabei nicht den Charakter des Gesetzt-seins (Heidegger vermeidet es daher, in seinen Schriften von „Konstitution" zu sprechen), sondern der Unverfügbarkeit. Als den eigentlichen und ursprünglichen Sinn der Sorge und ontologische Bedingung ihrer Möglichkeit stellt Heidegger die Zeitliehkeit heraus. Zeitlichkeit als Struktur ist wieder zu unterscheiden von dem in ihr wurzelnden vulgären Zeitverständnis. Weil die Zeitlichkeit die ursprüngliche Einheit des In-der-Welt-seins als Sorge ist, liefert sie den letzten Interpretationshorizont, aus welchem die Mannigfaltigkeit der Strukturganzheit des Daseins voll verständlich wird. Daher geht Heidegger noch einmal die wichtigsten Stationen der bis hierher durchgeführten Fundamentalontologie durch. In dieser erneuten Untersuchung bestätigt sich, daß die Fundamentalontologie mit der Freilegung der Zeitlichkeit als apriorischer Einheit der Sorgestruktur des In-der-Welt-seins an ihr Ziel gelangt ist, denn ihre Ausarbeitung hatte ja die Aufgabe, den Horizont der ursprünglichen Seinsauslegung zu thematisieren. In der Zeitlichkeit „gründet das für das Sein des Daseins konstitutive Seinsverständnis. Der Entwurf eines Sinnes von Sein überhaupt kann sich im Horizont der Zeit vollziehen" (SZ 235). Bei aller formalen Ähnlichkeit in der Zeitauffassung bei Husserl und Heidegger sind auch hier die grundlegenden Unterschiede aufschlußreich. Die phänomenologische Methode 30

Im Brief an Husserl vom 22. Oktober 1925. Siehe ebd. 601.

Heidegger und die Phänomenologie

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führt bei Husserl nicht nur auf das transzendentale Ich zurück, sondern erlaubt im zweiten Durchgang eine eidetische Intuition in die allgemeinen Wesenformen. Insofern sind alle eidetischen Forschungen streng genommen „nichts anderes als Enthüllungen des universalen Eidos transzendentales ego überhaupt" 31 . Das hier entstehende Problem von Identität und Pluralität löst Husserl mit Hilfe des Formbegriffes. Die Unendlichkeit der Formen kann nicht beliebig kompossibel sein, sondern ist an eine eigene Wesensgesetzlichkeit der Koexistenz und Sukzession gebunden. Dadurch bekommt der Zusammenhang der Wesensformen den Charakter eines in sich geordneten Universums, dessen Bewegungsform („Strömen") nach den Gesetzen einer universalen Genesis untersucht werden kann. Die Genesis dieses eidetischen Universums läßt sich als reine Zeitlichkeit oder reine Geschichte fassen: „Das ego konstituiert sich für sich selbst sozusagen in der Einheit einer Geschichte" 32 . Der Zusammenhang macht deutlich, daß die Zeit als Form des Bewußtseins sich ganz von der methodischen Funktion der Subjektivität her bestimmt. Sie muß daher bei Husserl als höchster Ausdruck des absoluten In-sich-stehens des transzendentalen Subjekts zu verstehen sein. Da dieser Begriff der Subjektivität bei Heidegger gerade kritisiert wird, muß die Zeit als Wesensform der Subjektivität von der Sorge her gedacht werden, also Index des ontologischen Außer-sich-seins der Subjektivität sein. Die Entwicklung von Heideggers Denken, besonders aber die wirkmächtige Weiterführung von Heideggers Kritik an der 2. Husserlschen Gleichsetzung in der Hermeneutischen Philosophie (bei H.-G. Gadamer 33 ) legen scheinbar nahe, daß aus Heideggers Kritik an bestimmten Aporien der Phänomenologie die Preisgabe des kritischen Anspruchs folgt, an dem nach Husserl die Phänomenologie ausgerichtet ist. Heideg31 32 33

E. Husserl: Cartesianische Meditationen, 105 f. Ebd. 109 f. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode.

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gers Kritik an Husserls 2. Gleichsetzung läßt sich nämlich zu folgender Überlegung weiterführen: Weil der Mensch gar nicht das Konstitution leistende Subjekt ist, sondern nur — weltentwerfend — jene Konstitution vollzieht, die sich einem Anderen, Unverfügbaren verdankt, kann er dieses Entwurfsgeschehen in seinen geschichtsbildenden, epochalen Abfolgen bloß noch hinnehmen. Die einzige Aufgabe der Philosophie bleibt dann, den Menschen anhand der Auslegung ausgezeichneter Indizien, an denen die epochalen Konstellationen deutlich werden (Kunst, Dichtung, Mythos), über seine Situation ins Bild zu setzen. Die Tatsache der Unverfügbarkeit des Entwurfsgeschehens von Welt hat Heidegger in seinen späteren Schriften mit dem Terminus „Geschick des Seins" ausgedrückt; die epochebildenden Abfolgen der „Schickungen" des Seins machen die „Seinsgeschichte" aus. Es liegt auf der Hand, daß diese Konzeption mit dem kritisch-aufklärerischen Anspruch der Phänomenologie Husserls nicht mehr vereinbar ist. Mit dem „Geschick des Seins" ist — in die anfangs eingeführte Terminologie rückübersetzt — eine letzte, nicht mehr aufhebbare Okkasionalität ausgesagt. Die Aufgabe der Philosophie, Transokkasionalität zu konstituieren bzw. in ihrer Konstitution nachzuvollziehen, wäre somit aufzugeben. Dem entspricht, daß Heidegger in der Tat diagnostiziert, die Philosophie sei am Ende ihrer Geschichte angelangt, und an ihrer Statt ein radikaleres, „wesentliches Denken" fordert. Obwohl also die Position Heideggers, die er nach der „Kehre" entwickelt hat, nur denkbar ist im Zusammenhang mit seiner Kritik und Reformulierung der Phänomenologie im Rahmen der Fundamentalontologie, ergibt sich am Ende eine Position, die hinter das methodisch-kritische Niveau der Phänomenologie zurückfällt. Die hier möglichen Einwände lassen sich zu der Frage zusammenfassen, mit welchem Recht das „wesentliche Denken" den Anspruch auf allgemeine Sinnorientierung erhebt.

Heidegger und die Phänomenologie

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5. Lebensweltliche Begründung der Wissenschaften Die Beurteilung der Philosophie Heideggers steht gegenwärtig weithin unter dem Eindruck der die Philosophie selbst aufhebenden These Heideggers von der Seinsgeschichte. Erstens ist jedoch diese These nur verständlich im Zusammenhang des methodischen Niveaus, das mit der Fundamentalontologie erarbeitet wurde. Zweitens ist die Fortsetzung des Weges von der kritischen Reformulierung der Phänomenologie im Rahmen der Fundamentalontologie zum „wesentlichen Denken" nicht zwingend. Dies bedeutet im Rahmen der hier vorgenommenen Interpretation: Man kann Heideggers Kritik an Husserls 1. Gleichsetzung nachvollziehen, ohne seiner Kritik an der 2. Gleichsetzung und ihren systematischen Ergebnissen zu folgen. Anders ausgedrückt: Will man nicht aus Heideggers Kritik an den Aporien der Phänomenologie den Schluß ziehen, daß nur noch der hermeneutische Weg gangbar ist, bleibt der Versuch offen, an der Idee einer methodisch nachvollziehbaren phänomenologischen Konstitutionsanalyse festzuhalten, zugleich aber die von Heidegger erarbeitete Differenzierung im Begriff der „Welt" mit der daran hängenden Vermeidung von Scheinproblemen (ζ. B. dem Problem der Konstitution von Intersubjektivität) zu berücksichtigen. Für die Bewertung der Philosophie Heideggers entspricht diesem philosophischen Ansatz die (dieser Darstellung zugrundeliegende) Einschätzung, daß die als Fundamentalontologie durchgeführte phänomenologische Philosophie Heideggers, wie sie in den Schriften im Umkreis von Sein und Zeit ausgearbeitet worden ist, als die bedeutsam bleibende Leistung dieses Denkers anzusehen sei. Das angedeutete philosophische Programm scheint auf eine Position hinauszulaufen, wie Husserl sie in der Krisis als Antwort auf Heideggers Kritik an der Phänomenologie versucht hat. In der Tat hat der von Husserl dort eingeführte Begriff der „Lebenswelt" die Funktion, denjenigen Boden konkreter zu formulieren, auf dem die von der Philosophie kritisch zu prüfenden Geltungsansprüche überhaupt nur denkbar sind. Entsprechend kriti-

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siert Husserl seinen früheren „cartesianischen Weg", da er den Nachteil habe, zu einem Anfang zu führen, für dessen Explikation wegen der phänomenologischen Reduktion die Mittel fehlen.34 Die Lebenswelt hat die Funktion eines universalen apriorischen Horizonts, der nicht hintergehbar ist. Aus ihr sind die „Sonderwelten" durch philosophische Rekonstruktion aufzuklären. Damit ist einem entscheidenden Anliegen Heideggers entsprochen (im folgenden wird daher am Terminus „Lebenswelt" festgehalten). Die Aufnahme der Heideggerschen Kritik durch Husserl beschränkt sich jedoch auf die Reformulierung des Begriffes der „Intentionalität", erstreckt sich dagegen nicht auf die subjekttheoretischen und konstitutionstheoretischen Konsequenzen, die Heidegger damit verbindet. Dies zeigt sich wieder an dem in dieser Darstellung gewählten Beispiel: An der Aufgabe der Begründung der Konstitution einer Welt einschließlich der Mitsubjekte als die Welt konstituierende transzendentale Inter Subjektivität und einschließlich der eigenen mundanen Existenz hält Husserl fest. Dies zeigt, daß Husserls neuer Ansatz in der KrisisSchrift, der den Heideggerschen Einwänden an der 1. Gleichsetzung nachkommt, noch nicht radikal genug ist. Damit ergibt sich allerdings die Frage, wie denn anders als in der ^mw-Schrift expliziert eine lebensweltliche Begründung von Sonderwelten gedacht werden kann. Zu den Sonderwelten gehören auch die den Wissenschaften zugrundeliegenden Gegenstandsregionen; daher soll dieser Frage abschließend am Beispiel der lebensweltlichen Begründung der Wissenschaften nachgegangen werden. Heidegger entwickelt Ansätze für eine derartige Konzeption, die allerdings in der Rezeption so gut wie gar nicht beachtet worden sind, bereits in Sein und Zeit unter dem Titel eines ,Existenzialen Begriffs der Wissenschaft' (SZ § 69 b). An dieser Stelle sind Gedanken zusammengefaßt, die jetzt ausführlicher in dem Vorlesungsmanuskript über Kants Kritik

34

Vgl. E. Husserl: Die Krisis, § 43.

Heidegger und die Phänomenologie

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der reinen Vernunft aus dem Wintersemester 1927/28, also aus unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Erscheinungstermin von Sein und Zeit, studiert werden können (GA25 17 — 39). Die Pointe des existentiellen Begriffs der Wissenschaft hängt unmittelbar mit Heideggers Kritik an der phänomenologischen Reduktion zusammen: Ist das transzendentale constituens selbst ein Seiendes, dann kann es nicht ein total anders gegenüber dem constitutum sein. Das wissenschaftliche Erkennen muß somit selbst als eine Weise menschlicher Existenz verstanden werden können. Dies bedeutet, daß das „theoretische Entdecken" der Wissenschaften als eine besondere Weise des Inder· Welt-seins ausgegrenzt werden muß. Heidegger formuliert die Aufgabe einer derartigen Ausgrenzung unter dem Stichwort der „ Vergegenständlichung". Auf der Seite des Konstituierenden muß für das Verstehen der wissenschaftlichen Vergegenständlichung ein lebensweltlicher Ansatz gefunden werden, der die besondere Charakteristik wissenschaftlicher Gegenständlichkeit zu verstehen erlaubt. Grundsätzlich wird bei Heidegger der Umgang mit dem innerweltlich Seienden als ein alltägliches Besorgen des „Zeugs" beschrieben. Mit dem Ausdruck „Zeug" bezieht Heidegger sich auf den elementaren handwerklichen und sprachlichen Umgang mit Dingen, wobei verbal auf Ausdrücke wie Fahrzeug, Nähzeug, Schreibzeug, Werkzeug usw.35 angespielt wird. In der Totalität derartigen Umgangs mit den alltäglichen Dingen treten als besondere Phänomene des Umgangs (neben anderen) „Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit" von derartigem Zeug auf (SZ § 16). Der gewöhnliche technische und rhetorische Umgang mit dem „Zeug" läßt zunächst keine besonderen Dinge aus dem pragmatischen Handlungszusammenhang hervortreten. Wie kommt es dann zu Phänomenen wie Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit besonderer Dinge? Wie kommt es, daß die undifferenzierte „Zuhandenheit" des „Zeugs" zuwei-

35

Vgl. GA25 21.

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Einleitung

len zu einer ausdrücklichen und ausgesonderten „Vorhandenheit" hervortritt? Heidegger beschreibt diesen Vorgang so: „Die Struktur des Seins von Zuhandenem als Zeug ist durch die Verweisungen bestimmt. Das eigentümliche und selbstverständliche ,An-sich' der nächsten ,Dinge' begegnet in dem sie gebrauchenden und dabei nicht ausdrücklich beachtenden Besorgen, das auf Unbrauchbares stoßen kann. Ein Zeug ist unverwendbar — darin liegt: die konstitutive Verweisung des Um-zu auf ein Dazu ist gestört. Die Verweisungen selbst sind nicht betrachtet, sondern ,da' in dem besorgenden Sichstellen unter sie. In einer Störung der Verweisung — in der Unverwendbarkeit für ... wird aber die Verweisung ausdrücklich" (SZ 74).

Anders formuliert: Es sind Störungen lebensweltlicher elementarer technischer Kooperation, die das Aussondern und Hervortreten, die ausdrückliche Differenzierung von Gegenständen, ermöglichen und herbeiführen. Durch diese „Vergegenständlichung" lebensweltlicher Gebrauchsdinge entstehen die den Wissenschaften zugrundeliegenden Regionen von Seiendem. Es ist deutlich, daß Heidegger sich hier auf die Idee der „regionalen Ontologien" im Sinne Husserls bezieht. 36 Die Ausbildung spezifischer Gegenstandsregionen, die den unterschiedlichen Wissenschaften auf Basis der Vergegenständlichung zugrunde liegen, nennt Heidegger „Thematisierung". Die Thematisierung ist eine Art Abschneiden des Seienden von seinen lebensweltlich ursprünglichen Bezügen. Erst in einer solchen Isolation wird das ausdrücklich thematische „Hinsehen" als die typische theoretische Einstellung der Wissenschaften möglich. Heidegger spricht von einem „Umschlag des umsichtigen Besorgens von Zuhandenem zur Erforschung des innerweltlich vorfindlichen Vorhandenen" (SZ 357). Dieser Umschlag besteht in der „Privation", einer Ausgrenzung bestimmter Bezüge eines Seienden aus der Totalität dieser Bezüge. Seine Vorstellung von der Begründung einer Wissenschaft in einer spezifischen regionalen Ontologie 36

Vgl. GA25 36.

Heidegger und die Phänomenologie

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durch Thematisierung hat Heidegger durch Hinweise auf eine Reihe von Wissenschaften verdeutlicht und für die Physik, die Geschichtswissenschaften 37 und die Theologie 38 ausführlicher behandelt. Für die neuzeitliche Physik soll die Thematisierung im folgenden gemäß Heidegger zusammenfassend erläutert werden. 39 Heidegger bezeichnet selbst die „mathematische Physik" als das „klassische Beispiel" für den Gedanken der „ontologischen Genesis" einer Wissenschaft aus dem lebensweltlichen Umgang mit „Zeug" (SZ 362). Der zentrale Begriff für die Thematisierung der der Physik zugrundeliegenden Gegenstandsregion ist der der Mathematisierung; damit ist nicht die Tatsache angesprochen, daß die Physik sich mathematischer Darstellungsmittel bedient (warum das möglich ist, ist selbst erklärungsbedürftig), sondern daß durch eine spezifische Thematisierung Gegenstände derart von ihren lebensweltlichen Bezügen isoliert und untereinander nivelliert werden, daß sie als gleichartige zählbar werden. Die Zählbarkeit ist also Resultat einer Konstruktion, eines Entwurfs. Entsprechend spricht Heidegger von einem „mathematischen Entwurf der Natur selbst" (SZ 362). Der Umschlag aus dem lebensweltlichen Umgang zum physikalischen Wissen ist also eine komplizierte Konstitution einer Gegenstandsregion, deren wichtigste Schritte durch die Stadien der Vergegenständlichung, Thematisierung und Mathematisierung charakterisiert werden. Nimmt man diese Schritte zusammen, dann „entsteht" (im Sinne der methodischen Rekonstruktion der „ontologischen Genese") die Physik aus elementaren lebensweltlichen technischen Störungen, zu deren Bewältigung die hervortretenden Dinge als gleichartige „entworfen" werden.

37 38 39

Vgl. z.B. SZ§§ 7 2 - 7 7 . Vgl. PhTh. Neben SZ §§ 16, 17, 69 b sind hier die Schrift Die Frage nach dem Ding (D) und die phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft' (insb. GA25 29 ff.) besonders einschlägig.

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Einleitung

Die typische Gestalt der neuzeitlichen Physik (gegenüber der antiken) wird nach Heidegger erst auf Basis des mathematischen Gegenstandsentwurfs verständlich. In einer Interpretation von Galileis Fallversuch und Newtons Bewegungslehre hat Heidegger diesen Zusammenhang genauer expliziert (D 49 — 83). Danach ist der mathematische Gegenstandsentwurf gerade derjenige, durch den die Dinge so gesetzt werden, wie wir sie technisch verwenden wollen. Für Heidegger ist also die lebensweltlich-technische Basis der bleibende methodische Anknüpfungspunkt, um die Physik phänomenologisch zu begründen. Nur weil sich in den physikalischen Grundsätzen bereits ein vorwissenschaftliches Wissen um Dinge und ein mathematischer Entwurf realisiert, ist es möglich, physikalische Theorien auf solchen Grundsätzen (Axiomen) zu errichten. Die empirisch-experimentelle Erfahrung ist erst durch den mathematischen Entwurf ermöglicht, wobei die in der physikalischen Messung durchgeführte Erfassung des Gegenstands unmittelbar auf die lebensweltliche Grundlage des mathematischen Entwurfs zurückverweist: „Weil der Entwurf seinem Sinne nach eine Gleichmäßigkeit aller Körper nach Raum und Zeit und Bewegungsbeziehungen ansetzt, ermöglicht und fordert er zugleich als wesentliche Bestimmungsart der Dinge das durchgängig gleiche Maß,· d. h. die zahlenmäßige Messung." (D 72)

Große Teile der Heideggerschen Fundamentalontologie, auf deren methodische Funktion hingewiesen wurde, stehen im Dienste der lebensweltlichen Begründung wissenschaftlicher Geltungsansprüche. Es kann kein Zweifel sein, daß die durch die Fundamentalontologie vorbereitete Ontologie im Bereich der Wissenschaftsbegründung eine zentrale Aufgabe haben sollte. Über den Zusammenhang von lebensweltlicher Wissenschaftsbegründung, Fundamentalontologie und Ontologie schreibt Heidegger: „Die Begründung der Selbstbegründung der Wissenschaften vom Seienden vollzieht sich in den regionalen Ontotogien. Die Ontologie also vollzieht allererst die Grundlegung einer ontischen Wissenschaft. Grundlegung einer Wis-

Heidegger und die Phänomenologie

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senschaft von Seiendem heißt: Begründung und Ausbildung der ihr zugrunde liegenden Ontologie. Diese Ontologien gründen ihrerseits in der Fundamentalontologie, die das Zentrum der Philosophie ausmacht." (GA25 39)

Philosophiegeschichtlich ist das Programm der Fundamentalontologie als Versuch zu werten, die phänomenologische Theorie der Konstitution von „Objektivität" (im Sinne von „Transokkasionalität") von den Schwierigkeiten zu befreien, mit denen sie durch Husserls Konzeption (paradigmatisch in den Cartesianischen Meditationen) belastet war, und die Philosophie methodisch auf die Basis lebensweltlich schon immer anerkannter Orientierungen des Handelns und Redens zu stellen. Im Gegensatz zur Lebensphilosophie (Dilthey) geht es dabei aber nicht (wie vor allem die frühen Interpreten Heideggers geglaubt haben) um die Relativierung philosophischer Geltungsbegründung auf lebensweltliche Selbstverständlichkeiten, sondern um die Ausgrenzung situationsinvarianter Strukturen des menschlichen Weltvollzuges. Wissenschaftliche Objektivität in diesem Sinne ist Ergebnis einer „ontologischen Genesis" aus dem lebensweltlich-praktischen Umgang mit „Zeug". Im Rahmen der Fundamentalontologie Heideggers ist somit eine Konzeption philosophischer Wissenschaftstheorie vorgezeichnet, die versucht, die Begründbarkeit wissenschaftlicher Geltungsansprüche als Problem radikaler Begründung inmitten einer uns schon immer vertrauten Welt zu entwickeln. In der Rezeption der Philosophie Heideggers ist die philosophische Tragweite von Heideggers Kritik an Husserls 1. Gleichsetzung und seiner programmatischen Umformulierung der Phänomenologie zunächst nicht erkannt worden. In den fünfziger Jahren herrschte die Tendenz vor, in der Linie von Heideggers Kritik an Husserls 2. Gleichsetzung und der Ausformulierung dieser Kritik in Heideggers Spätschriften, philosophische Begründungs- und Rechtfertigungsbemühungen als Ausdruck der Herrschaft menschlichen Machtstrebens (Metaphysik) zu verstehen. Erst in den sechziger Jahren haben W. Kamiah und P. Lorenzen ein wissenschaftstheore-

48

Einleitung

tisches Programm formuliert, das im Sinne der Heideggerschen Fundamentalontologie von der Aufgabe ausgeht, situationsinvariante („transokkasionelle") Geltungsansprüche theoretischer und praktischer Art als Hochstilisierungen dessen zu verstehen, was man redend und handelnd immer schon tut. 40

40

Vgl. W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische

Propädeutik.

Dasein und Sein

Die Möglichkeit der Seinsfrage in einer operativen Sprachtheorie Die sprachphilosophischen Richtungen, die die Diskussion der Gegenwartsphilosophie weitgehend bestimmen, kommen mindestens darin überein, daß sie die ontologische Frage nach dem Sein für unmöglich halten. Während in der analytischen Philosophie vor allem die angebliche Unmöglichkeit synthetischer Urteile a priori den Grund für die Ablehnung der Seinsfrage bildet 1 , ist es in der Sprachphilosophie hermeneutischer Prägung in erster Linie die unhintergehbare Geschichtlichkeit, die die Seinsfrage unmöglich erscheinen läßt 2 . Daß diese Sprachtheorien keineswegs die einzig möglichen philosophischen Standpunkte reflektieren, zeigt der von P. Lorenzen u. a. entwickelte Operationalismus, wie er vor allem in der von W. Kamiah und P. Lorenzen verfaßten Logischen Propädeutik ausgeführt wird. 3 Hier wird sowohl einerseits die transzendentale Fragestellung für möglich gehalten 4 ,

1 2 3

4

Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei W. Stegmüller: HauptStrömungen, Band I, 346 ff. Vgl. E. Coreth: ,Hermeneutik und Metaphysik'. W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik (im folgenden zitiert durch bloße A n g a b e n der Seitenzahl). — Philosophische Einzelfragen dieses Standpunktes werden in dem v o n H . - G . G a d a m e r herausgegebenen Sammelband Das Problem der Sprache behandelt v o n K. Lorenz: ,Die Ethik der Logik'; J. Mittelstraß: ,Die Prädikation und die Wiederkehr des Gleichen'; W. Kamiah: s p r a c h l i c h e Handlungsschemata'. Vgl. ferner die Aufsatzsammlung v o n P. Lorenzen: Methodisches Denken. „Die Sprache ist, mit Kant zu reden, .Bedingung der Möglichkeit' jeglicher Wissenschaft und Philosophie. Sofern die Kantische Vernunftkritik als Untersuchung der Möglichkeit jeglicher Erkenntnis ,Transzendentalphilosophie' hieß, ließe sich also sagen, daß die Sprachkritik das E r b e der Kantischen Transzendentalphilosophie anzutreten h a t "

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Dasein und Sein

als auch andererseits die These von der Unhintergehbarkeit geschichtlicher Sprachen abgelehnt. 5 Dennoch stößt auch hier die Seinsfrage auf Ablehnung. Die Auseinandersetzung der Logischen Propädeutik mit der Ontologie soll hier vor allem diskutiert werden. 6 Das Buch geht von der „Stagnation" und „Verworrenheit" (11) in der heutigen Philosophie aus und fordert „die Disziplin des Denkens und Redens, die uns endlich ermöglichen würde, unsere hoffnungslos gegeneinander aufgefahrenen Standpunkte und Meinungen abzubauen und, in aller Ruhe sozusagen, miteinander, in vernünftigem Gespräch, einen neuen Anfang zu machen" (ebd.). Diese Aufgabe soll die Logische Propädeutik bewältigen, die sich so zunächst als „Lehre von den Bausteinen und den Regeln jedes vernünftigen Redens" (13) versteht. Während die moderne Logik sich bisher fast ausschließlich mit der Ausarbeitung der Schlußverfahren beschäftigte, soll hier zu dem genannten Zweck die „Lehre vom Begriff und vom Urteil in ihrer heutigen Gestalt" (6) vorgetragen werden. Zugleich aber soll damit eine Grundlegung von Philosophie und Wissenschaften „a primis fundamentis" (ebd.) geschehen, die in Form der „Sprachkritik" (17) vorzugehen hat. Das erste Kapitel („Die elementare Prädikation", 23—44) führt die Begriffe „Prädikator", „Prädikation", „Aussage",

5 6

(15). Daher kann der Kantische Begriff des a priori (die Problematik synthetischer Sätze a priori) als die „Klammer" gelten, „die das ganze Buch zusammenhält" (7); denn die Logische Propädeutik ist selbst „eine apriorische, d. h. nicht-empirische Wissenschaft" (6). Zu diesem Anspruch der Logischen Propädeutik vgl. C. F. Gethmann: ,Logische Propädeutik als Fundamentalphilosophie?'. Vgl. zu dieser Frage v. a. K. Lorenz/J. Mittelstraßi ,Die Hintergehbarkeit der Sprache'. Dazu ist hier noch besonders zu berücksichtigen: W. Kamiah: .Aristoteles' Wissenschaft'. Dieser Aufsatz ist in der Logischen Propädeutik als Untersuchung angekündigt, „die in der einfachst möglichen Weise an einem Beispiel demonstrieren soll, wie sich das Werkzeug dieser Logik für die Interpretation eines bedeutsamen überlieferten Textes verwenden läßt" (5; vgl. 42; ebenso die Vorbemerkung dieses Aufsatzes).

Die Möglichkeit der Seinsfrage

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„Eigenname" und „mehrstelliger Prädikator" ein. Eine Prädikation ist danach eine sprachliche Handlung, in welcher den Gegenständen Wörter der verschiedenen grammatischen Wortarten (Prädikatoren) zugesprochen oder abgesprochen werden. Insofern die Prädikation als „wahr" oder „falsch" beurteilt werden kann, stellt sie eine Aussage dar. Während ein Prädikator mehrere Gegenstände benennt, bezieht sich der Eigenname auf genau einen Gegenstand. Mehrstellige Prädikatoren sind solche, die eine Relation zwischen mehreren Gegenständen anzeigen. Diese „Bausteine" erlauben bereits die Form der elementaren Aussage zu bestimmen: Dies ist (nicht) ...; oder: Χ ε Ρ (Xe'P). Die weitere Explikation dieser einfachen Feststellungen erfordert bereits folgenreiche philosophische, besonders sprachphilosophische Entscheidungen, die im zweiten Kapitel („Welt, Sprache, Rede", 45 — 69) eingeschaltet werden. Danach stellt sich die Logische Propädeutik nicht die Aufgabe, die Strukturen einer an-sich existierenden Welt und demgegenüber das subjektive Sprechen über diese zu untersuchen. Die Strukturen der Welt fallen vielmehr mit den Strukturen der Sprache zusammen. Der hier gemeinte sprachliche Grundakt als fundamentale Potenz des Menschen ist von der aktuellen Rede zu unterscheiden, eine Einteilung, die zusammen mit weiteren Differenzierungen in Anlehnung an die heutige Linguistik erfolgt. Die Wiederholbarkeit der Rede weist auf sprachliche „Handlungsschemata" hin, die mit den übrigen Handlungsschemata menschlichen Handelns in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Der letzte Paragraph dieses Kapitels weist die Kontextabhängigkeit der Prädikatoren in der Umgangssprache nach, dergegenüber die wissenschaftliche Sprache in normierten Sprechweisen bestimmte Prädikatoren für stets dieselbe Verwendung vorsieht. „Erste Bausteine der wissenschaftlichen Aussage" will das dritte Kapitel (70 — 115) erarbeiten. Als solche werden u. a. eingeführt: der Terminus als Prädikator der wissenschaftlichen Sprache, konträrer, kontradiktorischer und polar-konträrer Gegensatz, die Definition als abgeschlossene Zusam-

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mensetzung von Prädikatorenregeln, die Unterscheidung von Lautgestalt, Bedeutung und Begriff (d. i die normierte Verwendung als Terminus unter Absehung von der Lautgestalt). Einen breiten Raum nimmt die Diskussion des Bedeutungsbegriffes ein. Kamiah definiert: „Die Bedeutung eines Wortes ist dasjenige, was das Wort auf Grund von (expliziter oder impliziter) Vereinbarung zu verstehen gibt" (86). Gegen jede realistische Vergegenständlichung der Bedeutung wird in der Frage der „Existenzweise" der operative Standpunkt vertreten. „Auszugehen ist [...] stets von der aktuellen Zeigehandlung, mit der eine Person [...] einer oder mehreren anderen Personen etwas zu verstehen gibt, etwas ,anzeigt'" (96). In diesen Situationen gibt es zwar Bedeutungen, die invariant in bezug auf gewisse Zeichen sind, aber sie sind nicht überhaupt unabhängig von Handlungen und gehen diesen daher nicht als abstrakte Gegenstände voraus. Als weitere wichtige Elemente der wissenschaftlichen Sprache werden eingeführt: Abstraktoren („Zeichen, die anzeigen, daß Aussagen in einer bestimmten Weise verstanden werden sollen" (101), ζ. B. „Beg r i f f , „Klasse", „Sachverhalt"), der Unterschied von Eigenname und Kennzeichnung sowie Indikatoren (Orts- und Zeitadverbien, Personal- und Demonstrativpronomina usw.). Mit der Frage der Verifizierung und dem Begriff der Wahrheit überhaupt beschäftigt sich das vierte Kapitel („Wahrheit und Wirklichkeit", 116 — 144 bzw. 149), wobei zunächst für die Termini „wahr" und „falsch" Prädikatorenregeln aufgestellt werden. Die Verifizierung einer Aussage (Elementaraussage) geschieht interpersonal (durch „Homologie"; 120): „Wenn auch jeder andere, der mit mir dieselbe Sprache spricht, der sachkundig und vernünftig ist, einem Gegenstand nach geeigneter Nachprüfung den Prädikator ,P' (oder einen synonymen Prädikator) zusprechen würde, dann habe auch ich das Recht zu sagen ,dies ist P' (dann kommt der Prädikator ,P' diesem Gegenstand zu). Und wenn diese Bedingung erfüllt ist, dann darf ich ferner sagen: ,die Aussage ,dies ist P' ist wahr' (dann kommt der Prädikator ,wahr' dieser Aussage zu) oder auch: ,die Behauptung ,dies ist P' ist berechtigt'" (118f.).

Diese Festlegung gestattet es, die Abstraktoren „Sachverhalt", „Tatsache" und „Wirklichkeit" zu bestimmen. „Machen

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wir über Aussagen wiederum Aussagen, die invariant sind hinsichtlich des etwa wechselnden Wortverlaufs der besprochenen Aussagen, so machen wir Aussagen über Sachverhalte, wir sprechen von Sachverhalten" (131). Nur auf wahre Aussagen bezieht sich demgegenüber der Abstraktor „Tatsache", der mit „wirklicher Sachverhalt" synonym ist. Im fünften Kapitel („Die logischen Partikeln und der generelle Satz", 150—179) werden Junktoren und Quantoren zunächst an Hand der Wahrheitstafeln (Junktoren) und dann dialogisch-operativ entwickelt. Ein Paragraph beschäftigt sich mit den quantifizierenden Aussagen in den Wissenschaften, die teilweise generell sein, d. h. sich auch auf die Zukunft beziehen sollen, wobei sie sich allerdings von unzulässigen ontologischen Aussagen über unendliche Gegenstandsbereiche unterscheiden. Das Unendliche wird dabei als potentiell Unendliches verstanden „im Sinne jener menschlichen Möglichkeit, zu jeder Zahl eine größere zu bilden und so auch die Zahl von Gegenständen in gewissen Fällen noch zu vergrößern" (170). Ein Exkurs befaßt sich mit der Rolle der rein darstellenden, situationsunabhängigen Aussage im Gesamtzusammenhang der Sprache (179 — 188). Das von P. Lorenzen verfaßte sechste Kapitel über „nichtempirische Wahrheit" (189 — 234) setzt sich zunächst mit dem empiristischen Dogma auseinander, es gebe nur empirische Wahrheit. Als Beispiel für nicht-empirische Wahrheit werden mit Hilfe der Wahrheitstafeln der Junktorenlogik die klassischen Tautologien vorgeführt. Deren Voraussetzung der Wertdefinitheit aller Aussagen führt jedoch innerhalb der Quantorenlogik, namentlich bei unendlichen Variabilitätsbereichen, zu unlösbaren Schwierigkeiten, woraus sich die Aufgabe ergibt, eine Logik zu entwickeln, die sich nicht nur auf wertdefinitive Aussagen beschränkt. Diese Aufgabe soll mit Hilfe der schon aus anderen Veröffentlichungen Lorenzens bekannten Dialogtableaus 7 erfüllt werden. Für diese werden 7

Vgl. u. a. P. Lorenzen: Metamathematik, ders.: Formale Logik, 160 — 176. Die von P. Lorenzen vertretene konstruktive Sprachauffas-

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die allgemeine und die spezielle Spielregel sowie die Gewinnregel eingeführt; dem Einwand ihrer Willkürlichkeit versucht der Verfasser mit folgender Bemerkung zu begegnen: „Die zu treffende Regelung (positivistisch würde wohl sofort von .Konventionen' gesprochen werden) soll vernünftig sein, d. h. sie soll sich dem mit uns um eine Regelung Bemühten selbst empfehlen. Wir könnten auch sagen, die Regelung soll sachgemäß sein. Die Sache wäre aber dann unser dialogischer Umgang mit Behauptungen. Sich um diese Sache zu bemühen, kann nur heißen, sich an genügend vielen Beispielen in dialogische Situationen hineinzudenken" (199 f.).

Die Spielregeln scheinen also die Rolle von apriorischen Regeln des wissenschaftlichen Dialogs zu bekommen, woraus sich eine wesentlich strengere Begründung der dialogischen Verfahrensweise ergeben könnte, als Lorenzen sie bisher vorgelegt hat; in dieser Hinsicht finden sich hier allerdings nur Andeutungen. Das Ergebnis der dialogischen Begründung (Dialogdefinitheit statt Wertdefinitheit) ist, daß die klassische Logik ein Spezialfall der effektiven Logik ist, der durch die allgemeine Zulassung der T N D entsteht: „Von der dialogischen Logik aus gesehen ist also die tautologische Wahrheit nur ein Spezialfall der logischen Wahrheit, der durch Vorgabe des sog. tertium non datur, d. h. von klassischen Hypothesen, entsteht" (208 f.).

Die letzten Paragraphen des Kapitels geben auf der Grundlage der gesamten vorherigen Ausführungen und in Anlehnung an Kant eine sehr interessante Einteilung der Wahrheitsarten in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Ablehnung der Ontologie durch die Logische Propädeutik richtet sich besonders gegen die Seinsfrage und die Transzendentalienlehre; sie ist zugleich teils implizit, teils explizit eine Auseinandersetzung mit Heidegger (vgl. 12, 24, 96, 108, 128, 146, 148, 149, 186 ff.), dessen Aussagen daher zu diesem

sung hat sich vor allem aus seinen Untersuchungen zum Begründungsproblem der Logik ergeben; vgl. auch die Einführung in die operative Logik. Dazu s. a. V. Richter: Untersuchungen s^ur operativen Logik..

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Thema mit ins Feld geführt werden sollen8. An Heideggers Rede vom Sein kritisiert Kamiah einmal die historische Bezugnahme, nach der „wieder" die Frage nach dem Sinn von Sein zu stellen sei. „Diese Erneuerungsforderung soll hier geprüft werden, und dazu gilt es, zunächst klarzustellen, welches denn das Anliegen der antiken Seinsdenker eigentlich war [...] und dann zu fragen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise wir dieses Anliegen wirklich wiederaufnehmen sollten."9

Hinter dieser historischen Kritik steht jedoch die systematische Kritik am Seinsbegriff selbst, die die Aufnahme der ontologischen Fragestellung unmöglich erscheinen läßt. Hier ist jedoch zu fragen, ob diese Kritik nicht den Heideggerschen Seinsbegriff trifft und damit auch nicht seine historische Bezugnahme. Kamiah geht davon aus, daß schon bei Parmenides, „wie dann ähnlich bei Piaton und bei Aristoteles [...] Ontologie die Lehre von einem erhabenen, allem anderen überlegenen Seienden [ist]."10 Aus diesem Grund ist die Ontologie „,erste' im Sinne der vornehmsten, der höchstrangigen Wissenschaft."11 Damit entspringt die Ontologie bei Aristoteles in erster Linie einem religiösen Beweggrund: „In Abhebung von der Veränderlichkeit', von der zeitlichen Hinfälligkeit der irdischen, den Sinnen zugänglichen Dinge, insbesondere von der Sterblichkeit des Menschen, wird auf .Ewigkeit' des Göttlichen verwiesen. In Abhebung ferner von unserer menschlichen Bedürftigkeit und Abhängigkeit erscheint Gott in seiner schlechthinnigen Selbständigkeit', Unbedürftigkeit, Unabhängigkeit." 12 8

9 10 11 12

Die Polemiken gegen Heidegger sind gerade deswegen manchmal verwunderlich, weil v. a. mit Sein und Zeit häufiger Ähnlichkeiten festzustellen sind, die sicher nicht auf Zufall beruhen. Ζ. B. ist die Bestimmung des Weltbegriffs und seine Kennzeichnung als „Vertrautheit" (vgl. SZ 46, 51, 60) wohl nicht unabhängig von Heideggers Bestimmung des In-Seins erfolgt (vgl. SZ 54, 86, 188 f.). W. Kamiah: .Aristoteles' Wissenschaft', 270 f. Ebd. 271. Ebd. 273. Ebd. 278.

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Die Frage nach dem Sein hat damit einen religiösen Ursprung. Nun ist es einerseits die „theologische Seite dieser Seinslehre, [...] die sie uns am ehesten zugänglich macht" 13 , andererseits können wir dieses theologische Motiv des Aristoteles nicht mehr nachvollziehen: „Haben wir die religiöse Bedeutung der antiken Ontologie kritisch verstanden, dann müssen wir auch zugestehen: Zwar ist Aristoteles' erste Philosophie Ontologie. Aber gerade als solche ist sie einer Erneuerung nicht fähig, gerade auch als solche gehört sie der Geschichte an." 14

Ohne den religiösen Hintergrund ist die Frage nach dem öv y öv nach Kamiah nämlich sinnlos, da „Aussagen über den ,Gegenstand als Gegenstand' über nichtssagende Tautologien auf keine Weise hinausführen" (42), denn es sind immer schon per definitionem Gegenstände, von denen „Gegenstand" prädiziert wird. Darüber hinaus meint die Formel vom öv ή öv „das Seiende im Ganzen, was bedeuten soll: das Seiende allgemein, alles Seiende." 15 Solche Aussagen können aber wegen der potentiellen Unendlichkeit von Seienden keine Gültigkeit haben. Daher folgt, „daß es eine Ontologie als allgemeine Lehre vom ,Seienden als Seienden' nicht geben kann" (45). Hiermit interpretiert Kamiah den Ausdruck öv f j öv anders als Heidegger; der Unterschied liegt dabei in einem anderen Verständnis des „Als".

13 14

Ebd.; vgl. ebd. 294. Ebd. 297. Aristoteles gibt in seinen Schriften im wesentlichen drei Bestimmungen der Aufgabe der Metaphysik. Einmal ist sie Wissenschaft vom Übersinnlichen (ζ. B. Phys A 9 [192a 3 4 - 3 6 ] , Β 2 [194 b 1 4 - 1 5 ] ; Met Ε 1 [1026 a 10ff.], Μ 9 [1086 a 21]; sodann ist sie Prinzipienlehre (ζ. B. Met Α , Β, Κ 1—2) — auf diese Bedeutung geht Kamiah nicht weiter ein; schließlich ist sie Wissenschaft v o m öv ή öv (ζ. B. Met Γ, Κ 3, 7). Kamiah vertritt nun den Standpunkt, die (wohl auch zeitlich) erste Bestimmung der Metaphysik als Theologik sei für Aristoteles schlechthin grundlegend. Diese These ist jedoch keineswegs evident und bedürfte eines ausführlichen Nachweises.

15

W. Kamiah: ,Aristoteles' Wissenschaft*, 280; vgl. ebd. 288.

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Die Analyse des Als erfolgt in Sein und Zeit im Zusammenhang der Interpretation des Verstehens. 16 Dieser Begriff wird aus rein methodischen Gründen entwickelt, denn eine Besinnung auf das philosophische Erkennen selbst (im Seinsverständnis fundiert) ist Aufgabe jeder philosophischen Methodenreflexion. Heidegger weist daher darauf hin, daß mit einer Aufhellung des Verstehens „zugleich die methodische Durchsichtigkeit des verstehend-auslegenden Verfahrens der Seinsinterpretation gewährleistet ist" (SZ 230).17 Die methodische Sicht stellt eine Einschränkung hinsichtlich der Vollständigkeit der Untersuchung dar: „Dieses Entwerfen (Verstehen) wird nun in der existenzialen Analytik zunächst nur in dem Umkreis sichtbar gemacht, den ihr Einsatz eröffnet" (K 212). Das bedeutet, daß das Verstehen rein existenzial interpretiert wird als das „Sein des Existierenden", keinesfalls „im Sinne einer möglichen Erkenntnisart unter anderen" (SZ 143). Die Untersuchung der Ais-Struktur erfolgt also in Hinsicht auf

16

17

Die Anwendung der Untersuchung zur Ais-Struktur auf die Seinsfrage geschieht im veröffentlichten Teil von Sein und Zeit nicht ausdrücklich. Es kann jedoch kein Zweifel sein, daß Heidegger diese nur zum Zwecke der Auseinandersetzung mit der bisherigen Metaphysik ausgearbeitet hat. Dafür spricht vor allem der § 33, wo die ursprünglich hermeneutische Bedeutung des „Als" dem vollen Verständnis von λόγος als άπόφανσις zugeordnet wird (vgl. SZ § 7 B), während die neuzeitliche Urteilstheorie nur noch das apophantische Als kennt. In dieser Entwicklung zeigt sich zugleich die Wandlung des Seinsverständnisses, die allerdings schon bei Aristoteles angelegt ist; die letzten beiden Abschnitte des § 3 3 (SZ 159 f.) bringen den Zusammenhang von Logos verständnis und Seinsbegriff ausdrücklich zur Sprache. Der Hinweis SZ 160 auf den dritten (unveröffentlichten) Teil von Sein und Zeit legt die Vermutung nahe, daß dort mit der Aufklärung dieses Zusammenhangs eine ausdrückliche Anwendung der Analyse des Als auf die Seinsfrage erfolgen sollte. Vgl. den gleich auszuführenden Satz aus SZ 230. Weitere Anhaltspunkte finden sich in Heideggers Aufsatz über .Hegels Begriff der Erfahrung' (H 1 0 5 - 1 9 2 ; insb. 160ff., 166, 174). Damit spielt Heidegger auch auf die methodische Einführung des Begriffs „Hermeneutik" (SZ 37 f.) an.

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die Grundlegung der Ontologie, nicht primär aus Interesse für die geisteswissenschaftliche Hermeneutik. Die methodisch entscheidende „Ausbildung" (SZ 148) des Verstehens ist die Auslegung, sie ist neben Zirkelhaftigkeit und Sinn v. a. durch die Ais-Struktur als „apriorische existenziale Verfassung des Verstehens" (SZ 149) konstituiert. Heidegger führt diesen Begriff mit folgender Begründung aus dem Seinsbegriff der Zuhandenheit ein: „Alles Zubereiten, Zurechtlegen, Instandsetzen, Verbessern, Ergänzen vollzieht sich in der Weise, daß umsichtig Zuhandenes in seinem Um-zu auseinandergelegt und gemäß der sichtig gewordenen Auseinandergelegtheit besorgt wird. Das umsichtig auf sein Um-zu Auseinandergelegte als solches, das ausdrücklich Verstandene, hat die Struktur des Etwas als Etwas. A u f die umsichtige Frage, was dieses bestimmte Zuhandene sei, lautet die umsichtig auslegende Antwort: es ist zum ... Die Angabe des Wozu ist nicht einfach die Nennung von etwas, sondern das Genannte ist verstanden als das, als welches das in Frage stehende zu nehmen ist" (SZ 148 f.).

Die Ais-Struktur kennzeichnet, daß es „mit dem innerweltlichen Begegnenden als solchem [...] je schon eine im Weltverstehen erschlossene Bewandtnis [hat], die durch die Auslegung herausgelegt wird" (SZ 150). Etwas als etwas auslegen heißt damit: den apriorischen Horizont freilegen, in dem sich unsere Bezogenheit zu etwas, unser Handeln mit etwas, mit einem Wort: unser Verstehen (im existenzialen Sinne) vollzieht. Diese ursprüngliche Bedeutung des Als nennt Heidegger das hermeneutische Als im Unterschied zum apophantischen Als. 1 8 Bei letzterem ist das Worüber zum puren Vorhandensein nivelliert, an dem sich Eigenschaften aufzeigen lassen. Das Etwas als Etwas wird zu einem Ding, von dem ein „So-und-so-vorhandensein" (SZ 158) ausgesagt ist. Bei der Frage nach dem öv f j öv kommt nun alles darauf an, das Als im hermeneutischen Sinne zu verstehen: Es geht um die Frage nach der in der Auslegung des Seienden schon immer unthematisch mitgesetzten Bewandtnis, aus welcher die Auslegung entspringt. Nach dem Seienden als Seienden zu 18

Vgl. SZ 158.

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fragen heißt im ursprünglichen Sinne des hermeneutischen Als: den apriorischen Horizont freilegen, aus dem das auslegende Verstehen als Existenzial des Daseinsvollzuges entspringt. Sein ist apriorischer Vollzugshorizont; der Seinsbegriff ist damit im Sinne der Verfasser der Logischen Propädeutik durchaus „operativ" definiert. Versteht man die Formel vom Seienden als Seienden demgegenüber im Sinne des apophantischen Als, bedeutet sie: Gesucht ist am Gegenstand als dem Objekt der theoretischen Aussage eine Eigenschaft, die jeden Gegenstand konstituiert; gesucht ist eine allgemeine Eigenschaft des Seienden. Die Unterscheidung von hermeneutischem und apophantischem Als bei Heidegger ist also von dem methodischen Anliegen getragen, die Seinsfrage in die transzendentale, nach dem Vollzugsapriori forschende Denkbewegung zurückzubringen: Mit dem Seienden als Seienden ist nicht eine allgemeine, immer prädizierbare Eigenschaft am Seienden gemeint (Seiendheit), sondern der apriorische Verständnishorizont des menschlichen Seinsvollzuges und damit des Prädizierens überhaupt (Sein).19 Kamiah interpretiert jedoch das Als eindeutig im apophantischen Sinne: „ W i r k ö n n e n v o n den einzelnen Bienen und ihren zufalligen individuellen Eigenschaften sprechen, w i r können aber auch v o n diesen Eigenschaften absehen und v o n ,der Biene als solcher' sprechen (dieses W ö r t c h e n q v e r w e n d e t dann auch Aristoteles in seiner Formel ,das Seiende als Seiendes')" (177; vgl. 99). „In der traditionellen Bildungssprache sind die A u s drücke ,als', ,qua' noch heute in entsprechenden Fügungen gebräuchlich: man spricht zum Beispiel v o n ,der D e m o k r a t i e als solcher'. M a n sagt: Das

19

In Heideggers Terminologie könnte man auch sagen: M i t dem hermeneutisch verstandenen A l s ist die Seinsfrage ontologisch, mit dem apophantisch verstandenen ontisch aufgefaßt. Oder: Beim hermeneutisch verstandenen A l s geht die Frage auf ein formales, beim apophantisch verstandenen auf ein materiales A p r i o r i . Das Begriffspaar f o r m a l material, das K . Lorenz/J. Mittelstraß: ,Die Hintergehbarkeit der Sprache', 204, zur Einteilung des A p r i o r i v e r w e n d e n , hat jedoch den Nachteil, daß es relativ verstanden w e r d e n kann; d. h. dieselbe A u s sage kann in bezug auf die eine als formal, in bezug auf die andere als material bestimmt werden.

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Quadrat ,als solches' ist eine geometrische Figur; die Eiche ,qua Eiche' ist ein Baum. Solche Aussagen sind möglich, weil sie lediglich Prädikatorenregeln sprachlich umbilden, deren Geltung wir bereits voraussetzen. Ζ. B. enthält die deutsche Sprache implizit die Regel χε Eiche —• χε Baum." 20 Versteht man die Seinsfrage in diesem Sinne des A l s , so, daß eine P r ä d i k a t o r e n r e g e l f ü r jedes Seiende gesucht w e r d e n soll, dann sind K a m l a h s E i n w ä n d e berechtigt. 2 1 V ö l l i g zurecht w e r d e n dann auch alle Versuche einer o b j e k t i v e n Stuf e n o n t o l o g i e abgelehnt, die aus d e m „ A l l des Seienden" G e genstandsbereiche ausgliedern will (vgl. 75, 7 9 , 144). W i r d unter O n t o l o g i e eine d u r c h P s e u d o p r ä d i k a t o r e n r e g e l n u n d dogmatische S t u f e n m e t a p h y s i k gekennzeichnete Seinsfrage verstanden, e r f o l g t also eine A b l e h n u n g zurecht. Eine solche K r i t i k t r i f f t jedoch nicht eine O n t o l o g i e im Sinne Heideggers, dem es w e d e r u m P r ä d i k a t o r e n f ü r alle Seienden n o c h u m die Seinsstufen geht, s o n d e r n u m eine transzendentale O n t o l o -

20 21

W. Kamiah: ,Aristoteles' Wissenschaft', 286. Daß Kamiah die Aufgabe der Ontologie so versteht, zeigt sich besonders in seiner Stellungnahme gegen jede ontologische Seinsunterscheidung unter dem Hinweis auf die Unmöglichkeit einer vollständigen Induktion: „Derartige Aussagen teilen mit, daß mit den Prädikatoren P, bis Pn eine erschöpfende Einteilung der Welt geleistet sei, was schon allein im Hinblick auf künftige Gegenstände unmöglich ist [...]. Eine universale Ontologie dürfte den Anmaßungen der Vernunft zugehören, gegen die sich mit Recht die Kritik Kants gewendet hat" (171). Nun läßt Kamiah aber für die Wissenschaften die Möglichkeit apriorischer Aussagen für unendliche Gegenstandsbereiche offen (vgl. 169). Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch auf diese Weise ontologische Aussagen transzendental begründet werden können.

22

Vgl. u. a. Ε. Coreth: ,Das fundamentalontologische Problem*. Ders.: ,Heidegger und Kant'. — Es ist also sicher ein Mißverständnis, wenn Kamiah behauptet: „Von Heidegger wird [...] die These vertreten, wir hätten uns nicht nur um die sinnvolle Verwendung des Wortes ,sein' zu kümmern, sondern damit zugleich und darüber hinaus metaphysisch nach ,dem Sein' zu fragen" (,Aristoteles' Wissenschaft', 297). Heidegger geht es nicht um objektive Seinsbereiche, auf die das subjektive Ist-Sagen verweisen würde, sondern das Seinsverständnis als Möglichkeitsbedingung des Ist-Sagens liegt der Zweiheit von Subjekt

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Die Möglichkeit einer solchen Ontologie sollte gerade die Logische Propädeutik als apriorische Wissenschaft ins Auge fassen.23 Nicht die Frage nach einem aposteriorischen Superseienden, wohl aber die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Beziehung von Gegenstand und Prädikation, die in dem Satz: Gegenstand sei alles, „worauf sich eine Prädikation zu beziehen vermag" (43) ausgesprochen ist, ist eine legitime Frage; nämlich: Wie ist die sprachliche Grundoperation der Prädikation möglich? Diese Frage ist darüber hinaus notwendig, weil die Logische Propädeutik gezwungen ist, „Seinsunterscheidungen" zu machen. Eine solche Seinsunterscheidung ist etwa diejenige von Abstraktor und Prädikator, denn in der Aussage: „Dies ist ein Gegenstand" hat das „ist" ja eine andere Funktion als in der Aussage: „Dies ist eine Rose" (vgl. 39 ff.). Weitere Unterscheidungen sind die verschiedenen Abstraktoren wie Sachverhalt und Tatsache. Bei diesen genügt es ja nicht, den Nachweis zu führen, daß es sie gibt, sondern sie müssen aus dem menschlichen Vollzug von Sein (hier: Sprache) a priori gerechtfertigt, in ihrem Geltungsbereich und in ihrer Vollständigkeit ausgewiesen werden. 24 und O b j e k t n o c h voraus. K a m i a h denkt den Begriff der O n t o l o g i e jedoch im Rahmen des Subjekt-Objekt-Gegensatzes als Lehre v o m „ A u f b a u der realen Welt": „ D e n n auch w e n n man einsieht, daß es eine O n t o l o g i e als allgemeine Lehre v o m , Seienden als Seienden' nicht geben kann, so kann man d o c h die Lehre v o n der Sprache nicht schlechthin abtrennen v o n denjenigen Wissenschaften, die das .Seiende' (die ,Wirklichkeit') erforschen" (45). Hier hat es zumindest den Anschein, als w e r d e der transzendental-operative B o d e n verlassen, da die Sprache einer nicht-sprachlichen Wirklichkeit gegenübergestellt wird, mit der sich die Wissenschaften befassen und die O n t o l o g i e sich zu befassen beansprucht. 23

24

Vielleicht ist das jene A r t der O n t o l o g i e , die K a m i a h selbst v o r A u g e n hat, w e n n er seine K r i t i k einschränkt: „ D i e Frage nach der Möglichkeit einer gegenwärtigen O n t o l o g i e ist damit n o c h nicht beantwortet" (,Aristoteles' Wissenschaft', 297). A u c h sonst finden sich Seinsunterscheidungen, die f ü r den A u f b a u der Logischen Propädeutik konstitutiv sind, ζ. B. natura-ars (vgl. 23; v o n daher w i r d die Unterscheidung v o n Umgangs- und Bildungssprache ge-

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Eine ähnliche Interpretation wie für den Seinsbegriff müßte auch für die Transzendentalienlehre vorgebracht werden. Diese stellt sich für Kamiah wie folgt dar: „Nach der scholastischen Lehre von den Transzendentalien, wie sie noch Kant in der Kritik der reinen Vernunft referiert (B 113 ff.), können wir von einem ,ens qua ens' stets sagen, es sei ,unum', ferner .verum', ferner ,bonum'. Hier wird also ,ens' als Prädikator behandelt, und der jederzeit erlaubte Übergang zum Gebrauch eines weiteren Prädikators wie ,gut' oder ,wahr' angegeben. Auf diese Weise entstehen Pseudoprädikatorenregeln." 25

Diese Kritik (wie auch die Kritik am Seinsbegriff) hat für einige scholastische Schulen (vor allem die Leibniz/Wolffsche) Berechtigung. Wie für den Seinsbegriff, muß aber auch für die Transzendentalien eine transzendental-operative Interpretation maßgebend sein.26 Die Transzendentalien geben den apriorischen Horizont an, in welchem sich Geist überhaupt, Erkennen und Wollen (als Grundvollzüge des Geistes) immer schon bewegen.27 Dann ist die Aussage ζ. B. omne ens rechtfertigt); Allgemeines-Einzelding (vgl. 45, 51 u. ö.); Dinge-Vorgänge (vgl. 53 f.; trotz der Versicherung, hier handele es sich nicht um ontologisch allgemeine Unterscheidungen (42 f.)). Angesichts der Notwendigkeit solcher Grunddistinktionen scheint es angemessener, diese in einer expliziten Ontologie zu entwickeln, als sie durch den Hinweis auf die Umgangssprache gleichsam dogmatisch vorzunehmen. In der Logischen Propädeutik werden jedoch nicht nur Seinsunterscheidungen vorausgesetzt, sondern auch ein „Seinsbegriff'; vgl. „Sachverhalte [...] und somit auch Tatsachen ,gibt es' unabhängig von Aussagen, durch die sie dargestellt werden, keineswegs" (136). Der hier intendierte Sinn von „es gibt" hat sogar eine gewisse Nähe zum Heideggerschen Seinsbegriff: „Sein" kann nur sinnvoll unter Bezugnahme auf den Vollzug ausgesagt werden. Bei Heidegger heißt das: „Nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ,gibt es' Sein" (SZ 212; ähnlich SZ 183, 226 f., 230, 365, 380). 25 26 27

W. Kamiah: .Aristoteles Wissenschaft', 286 f., Aristoteles wird von diesem Vorwurf wie auch schon beim ov y ov (ebd. 283) ausgenommen. Vgl. v. a. J. B. Lötz: Metaphysial·, ders.: Ontologia, 69 — 158; E. Coreth: Metaphysik 323 — 399; W. Czapiewski: Das Schöne bei Thomas von Aquin. In dieser Bestimmung der ratio subiectiva, d. h. der Fassung des Voll-

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inquantum ens est verum keine tautologische Pseudoprädikatorenregel, sondern meint: Jedes Seiende steht im apriorischen Lichte der Erkennbarkeit für menschlichen Intellekt, oder — wenn man so will — jedes Seiende ist notwendig möglicher Gegenstand der Prädikation als sprachlicher Grundhandlung; bzw. Gegenstand ist nur dasjenige, dem ein Prädikator zugesprochen werden kann (vgl. 29, 38, 42). Es ist also keineswegs notwendig, zwischen Ontologie und Operationalismus einen Gegensatz zu sehen, d. h. die Ontologie als dogmatische Lehre von an-sich existierenden, hinter der sprachlich vollzogenen Wirklichkeit liegenden Seinsbereichen zu sehen 28 — insbesondere gilt dieser Gegensatz nicht für die Seinsfrage Heideggers. Versteht man das Anliegen der Ontologie in dem hier vertretenen Sinne, läßt sich auch ein Zugang zum Ansatz der Hermeneutik hinsichtlich des Problems der Zirkelhaftigkeit aus der Sicht der Logischen Propädeutik herstellen. Durch das „Vorurteil" vom hermeneutischen Zirkel wird nach Ansicht der Verfasser die Grundlegung der Philosophie unmöglich gemacht: „In der Nachfolge Diltheys und Heideggers war und ist man bei uns in Deutschland der Ansicht, daß jeglicher ,Fundamentalismus' in der Philosophie unmöglich und zu verurteilen sei, daß man nicht allein die ,hermeneutische', sondern die prinzipielle Zirkelhaftigkeit' unseres Denkens ohne jede Einschränkung anzuerkennen habe" (6; vgl. 17). Aber auch die Logische Propädeutik kommt „nicht ganz und gar" (27) ohne Zirkelbewegung aus. Diese ergibt sich aus der differenzierten Annahme des Diltheyschen Satzes, daß die Erkenntnis nicht hinter das Leben zurückgehen kann.

28

zuges als Geist (Intellekt und Wille) liegt die eigentliche Fragwürdigkeit der Transzendentalien. Diesen Begriff von Ontologie scheinen die Verfasser durchweg vorauszusetzen; ζ. B.: „Die Begriffslehre ist keine Lehre vom Seienden, keine Ontologie, die Begriffe werden vielmehr als etwas unserem Handeln Zugehöriges eingeführt: Sie werden nicht ontologisch, sondern operativ definiert" (P. Lorenzen: Methodisches Denken, 36). S. a. Anm. 22.

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„Versteht man hier unter ,Leben' zugleich den Besitz einer natürlichen Sprache, in dem man sich immer schon vorfindet, so erscheint dieser Verzicht notwendig. Man kann aber, ohne hinter das Leben zurückzugehen, doch eine Trennung vornehmen von dem, was man immer schon so dahinspricht, und dem, was man jetzt methodisch und kritisch zu reden beginnen wolle. Man kann also versuchen, die Logik, die man vorfindet, zu verstehen, indem man sie methodisch rekonstruiert: das ist das Programm einer hermeneutischen Logik. Es ist aber zugleich die Sprache der Hermeneutik selbst erst methodisch zu gewinnen: das ist das Programm einer logischen Hermeneutik."29

Damit besteht die Zirkelbewegung darin, daß die Sprache auch schon die methodische Rekonstruktion selbst bedingt. Da aber die bedingende Sprache als Anfang der Zirkelbewegung nicht dasselbe ist wie die logisch rekonstruierte Sprache, liegt im strengen Sinne gar kein Zirkel vor; es wird ja nicht das zu Beweisende vorausgesetzt. Vielmehr geht es darum, den apriorischen Vorentwurf durch methodisch-aposteriorische Vermittlung durchsichtig zu machen: „Denn Vorblick und Vorverständnis geben uns nur die Richtung an, in der wir vorangehen wollen, ohne uns die Mühe abzunehmen, in dieser Richtung a primis fundamentis einen Schritt nach dem anderen zu tun, d. h. ,methodisch' vorzugehen" (70).

Daher steht die Philosophie gar nicht vor der Alternative, die gesamte Wirklichkeit aus einem fundamentum inconcussum abzuleiten oder auf eine Begründung zu verzichten. Der „Zirkel" soll gerade Unableitbarkeit (Unhintergehbarkeit) und Begründung verbinden. Einerseits können wir die Sprache nicht konstruieren, ohne bereits zu sprechen (vgl. 15), andererseits setzen wir die Sprache gerade als noch nicht konstruiert voraus. Daher „wird sich ein solcher Anfang ,inmitten' der Sprache mit dem Versuch, trotz allem ,νοη Grund auf neu zu beginnen, verbinden müssen und verbinden lassen, so daß die Frage nach dem Anfang als Frage nach solchem Sowohl-als-auch neu zu stellen ist" (17). Demgemäß unterliegt die thematisch konstruierte Sprache („Logik") immer der 29

P. Lorenzen: Methodisches

Denken, 41.

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Kritik von selten der Sprache, die als unthematische durchsichtig gemacht werden soll. „Was wir ,immer schon' wissen von der Welt und vom Menschen, indem wir ,immer schon' sprechen, kann also nur dann ohne Gefahr durch dasjenige ergänzt werden, was wir wissenschaftlich,schon wissen', wenn dieser Zirkel vom methodischen Anfang aus immer neu durchlaufen wird in niemals abgeschlossener Selbstkritik des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens (so daß der ,Zirkel' eigentlich eine ,Spirale' ist)" (52).

Mit anderen Worten: Die Zirkelstruktur liegt im transzendentalen Ansatz selbst begründet. Die Sprache als apriorischer Grundvollzug soll in der Frage nach ihren Strukturen durchsichtig gemacht werden (und gerade weil sie a priori ist, ist diese Frage selbst durch diese Strukturen bedingt); die strukturell-rekonstruierte Sprache steht in funktionalem Dienst des „immer schon"-Sprechens. Es wird jedoch damit keineswegs das erfragt, was vorausgesetzt wird. Gefragt ist nach der Sprache, die erkannt ist, indem ihre Möglichkeitsbedingungen erkannt sind und als solche ist sie gerade nicht vorausgesetzt, sonst wäre die Frage schon durch das Wissen überholt. Diese Spannung zwischen transzendentalem Vorentwurf und ontischem Vollzug begründet nun auch bei Heidegger das Methodenelement der Zirkelhaftigkeit. Jedes Verstehen ist danach ermöglicht durch die in der Transzendenz des Inder· Welt-seins geschehende Erschlossenheit von Sein. Alle Auslegung, auch die philosophisch-methodische, bewegt sich daher in einer „Vor-struktur" (SZ 153): „Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben" (SZ 152). Dadurch wird aber nicht ein logischer Fehler legitimiert, durch welchen die Begründung philosophischer Aussagen eigentlich hinfallig wird; auch Heidegger weist darauf hin, daß im strengen Sinne des circulus vitiosus gar kein Zirkel vorliegt. In der Einleitung von Sein und Zeit, wo er sich zum ersten Mal mit dem Zirkeleinwand auseinandersetzt, weist er den Begriff des Zirkels daher zurück (SZ § 2). Dasjenige, was vorausgesetzt wird, ist nicht identisch mit dem, was gefolgert wird. Die Argumentationsbasis

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Dasein und Sein

liegt gar nicht im Bereich der „Konsequenzlogik" (SZ 315), weil sie nicht aus Prämissen einen Schluß zieht, sondern das apriorische Seinsverständnis zu Begriff bringen will. „Ein , Zirkel im Beweis' kann in der Fragestellung nach dem Sinn des Seins überhaupt nicht liegen, weil es in der Beantwortung der Frage nicht um eine ableitende Begründung, sondern um aufweisende Grund-Freilegung geht" (SZ 8). Der Beweisgang hat nicht den Charakter der Deduktion, bei welcher aus einem oder mehreren ontischen Sachverhalten ein anderer gefolgert wird, sondern den einer „Reduktion", bei welcher ontische Sachverhalte auf ihr ontologisches Apriori zurückgeführt werden, welches schon immer in diesen Sachverhalten als Apriori mitgesetzt ist. Das Dasein soll auf seinen Grund hin befragt werden, welcher unthematisch in ihm immer schon verstanden ist. „Nicht ein ,Zirkel im Beweis' liegt in der Frage nach dem Sinn von Sein, wohl aber eine merkwürdige ,Rück- oder Vorbezogenheit' des Gefragten (Sein) auf das Fragen als Seinsmodus eines Seienden" (SZ 8). Die Frage nach dem apriorischen Grund des Daseins könnte sich nicht auf etwas richten, was sich zum Menschen völlig heterogen verhielte. Die Frage nach dem Sein richtet sich auf etwas, das als Grund unbekannt und ontisch fremd ist und daher der disziplinierten Auslegung bedarf, zugleich aber, da es schon immer im Begründen funktioniert, unreflektiert als selbstverständlich mit da ist. Philosophisches Verstehen muß daher notwendig nach etwas fragen, was schon unthematisch verstanden (vollzogen) ist. Nur das ist mit „Zirkel" gemeint, wenn Heidegger dessen Notwendigkeit hervorhebt: „Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit .empfinden', heißt das Verstehen von Grund aus mißverstehen. [...] Die Erfüllung der Grundbedingungen möglichen Auslegens liegt vielmehr darin, dieses nicht zuvor hinsichtlich seiner wesenhaften Vollzugsbedingungen zu verkennen. Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen" (SZ 153).

Formal-methodisch kommen die Verfasser also in Hinblick auf den Zirkelbegriff mit Heidegger überein: Es geht nicht

Die Möglichkeit der Seinsfrage

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um die Ableitung des schon Vorausgesetzten, sondern um die Thematisierung (Rekonstruktion) des unthematisch immer schon Vollzogenen. Bei Heidegger wird jedoch der so verstandene Zirkel als Methodenelement mit Hilfe der Frage nach den Bedingungen des Verstehens selbst gerechtfertigt. Zwar fordert auch Kamiah, daß nach dem „Sowohl-als-auch" (17) des Zirkels noch einmal zu fragen sei, aber diese Frage wird nicht ausgeführt. Es zeigt sich, daß die Verfasser neben schon bestehenden Fundamentalismen lediglich eine weitere, wenn auch vielleicht unverbrauchte (vgl. 17) Möglichkeit stellen, ohne das Problem der Grundlegung selbst mitzureflektieren, um aus ihm die Methodenelemente (wie den Zirkel) und den Sinn von „Methode" selbst zu erhellen. In diesem Sinne kann die Philosophie Heideggers in Sein und Zeit durchaus das höhere Reflexionsniveau für sich beanspruchen. Die Logische Propädeutik will als neue „Fundamentalphilosophie" (15) eine Grundlegung der gesamten Philosophie leisten. Am Beispiel der Ontologie und des transzendental-hermeneutischen Zirkels zeigt sich aber, daß die hier vorgeschlagenen sprachlichen Regelungen nicht alle legitimen philosophischen Fragen (deren Legitimität sich vom Ansatz der Logischen Propädeutik her aufweisen läßt) treffen. Methodisch bedeutet das: Die Sprachregelungen werden zwar nicht dogmatisch vorgestellt, sondern im Rahmen einer transzendentalen Selbstbegründung der Philosophie entwickelt; aber der Beweis ihrer apriorischen Geltung (bzw. die Abgrenzung ihres Geltungsbereiches) erfolgt in der Regel nicht. Die Logische Propädeutik in der vorliegenden Fassung kann daher eine umfassende Grundlegung der Philosophie nicht leisten; sie verweist vielmehr auf einen universalen Komplex der Begründung, der bei Heidegger „Fundamentalontologie" heißt. Dennoch gehört zu jeder Grundlegung der Philosophie eine Logische Propädeutik; der damit genannten Aufgabe einer Disziplinierung des philosophischen Redens versuchen die Verfasser mit sehr präzisen Vorschlägen nachzukommen, worin ihr unbestreitbares Verdienst liegt.

Das Sein des Daseins als Sorge und die Subjektivität des Subjekts 1. Der methodische Einsatzpunkt des Sorgebegriffs Beweggrund und Ziel der Philosophie Heideggers in allen seinen Schriften ist die Frage nach dem Sinn von Sein, d. h. nach dem umgreifenden Horizont, worin sich menschlicher Daseinsvollzug schon immer bewegt und woraus er sich schon immer versteht. Eine Heideggerinterpretation, die diesen von Heidegger oft angemahnten Sachverhalt übergeht, kann ein adäquates Verständnis von vornherein nicht für sich beanspruchen. Zugleich ist zu beachten, daß diese Frage bei Heidegger methodisch-transzendental entfaltet wird, wenn man unter transzendentaler Methode zunächst formal den Versuch verstehen will, die Daseinsfrage des Menschen in seiner Welt (als Frage nach dem Grund und den Strukturen der Wirklichkeit, die er selbst in der Welt ist) zu stellen, indem — aufbauend auf der Einsicht, daß jede Wirklichkeit nur als vollzogene zugänglich ist — diese als Frage nach dem Apriori des Daseinsvollzuges in der Ganzheit oder eines einzelnen Vollzuges verstanden wird. 1 Demgemäß richtet sich die Frage nach dem Sein zunächst auf den Seins Vollzug („Seins Verständnis") des Daseins: „Die ausdrückliche und durchsichtige Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins" (SZ 7). M. a. W. die Ontologie setzt

1

Diese (weitere) Bestimmung von „transzendentaler Erkenntnis" gegenüber der Kantischen, wonach sie die apriorischen Möglichkeitsbedingungen des Bewußtseins von Gegenständen betrifft, ergibt sich aus der geschichtlichen Entwicklung der Kantischen Fragestellung. Vgl. als polare Anfangs- und Endstationen dieser Entwicklung Kants Definition in der Kritik der reinen Vernunft, Β 25, und Heideggers interpretierende Umschreibung dieses Satzes in Κ 24 f.

Das Sein des Daseins als Sorge

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sich aus methodischer Konsequenz eine Fundamentalontologie als existenziale Analytik des Daseins voraus. Ansatz der transzendentalen Methodenbewegung und aposteriorischer Ausgangsvollzug der Fundamentalontologie ist das In-derWelt-sein als ganzheitliche Verfassung der Pluralität menschlicher Vollzüge und Bezüge. Transzendentalphilosophie im Sinne Heideggers ist damit die ontologiebildende Frage nach dem Sein, insofern dieses sich in der zeitlich fundierten, ekstatisch-horizontalen Transzendenz des In-der-Welt-seins als ihr Grund (Apriori) offenbart und im Begründeten (Aposteriori) verbirgt. 2 Die Frage nach dem Sein als Frage nach dem Seinsvollzug des Daseins richtet sich an das In-der-Welt-sein als „eine ursprünglich und ständig ganze Struktur" (SZ 180). In den §§ 12—38 von Sein und Zeit wird diese Struktur „als Ganzes und, immer auf diesem Grunde, in ihren konstitutiven Momenten phänomenal verdeutlicht" (ebd.). Die Analyse des Inder-Welt-seins hat aber eine „phänomenale Vielfältigkeit der Verfassung des Strukturganzen" (ebd.) vor Augen gebracht. Danach ist das In-der-Welt-sein ein „Sich-vorweg-schon-seinin-der-Welt als Sein-bei-innerweltlich-begegnendem-Seienden im Mit-sein-mit-anderen" 3 . Die sprachliche Unmöglichkeit solcher Formulierungen des In-der-Welt-seins zeigt schon die Forderung an, die umfassende und für einen methodischen Zugang kaum noch geeignete Pluralität des integralen In-derWelt-seins durch einen „einheitlichen phänomenologischen 2

3

Der Zusammenhang zwischen Heidegger und der Transzendentalphilosophie wird in der Heidegger-Literatur durchweg vermerkt. Vgl. bes. L. Landgrebe: Der Weg der Phänomenologie-, ders.: Phänomenologie und Geschichte; K.-O. Apel: Dasein und Erkennen-, ders.: Die Idee der Sprache, bes. 52 ff.; M. Brelage: Studien %ur Trans^endentalphilosophie, bes. 31 ff., 188 ff.; E. Coreth: ,Das fundamentalontologische Problem'; ders.: .Heidegger und Kant'; W. Schulz: ,Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers'. Es fehlt jedoch bisher eine durchgängige systematische Interpretation der Philosophie Heideggers unter dem Gesichtspunkt der transzendentalen Methode. O. Pöggeler: Der Denkweg, 58 (nach SZ 192).

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Dasein und Sein

Blick auf das Ganze" (SZ 180) zusammenzufassen. Um eine „Sprengung und Aufsplitterung des einheitlichen Phänomens" (SZ 131) zu verhüten, muß dieses für die methodische Untersuchung „in gewisser Weise vereinfacht" (SZ 182) verstanden werden. Der nächste methodische Schritt nach der Herausstellung des In-der-Welt-seins und dessen Analyse wird daher durch die Frage umschrieben: „Wie ist existenzialontologisch die Ganzheit des aufgezeigten Strukturganzen zu bestimmen?" (SZ 181). Dieser methodische Schritt hat aber eine noch tiefere Begründung. Die Frage nach der Einheit des In-der-Welt-seins hat zusammenzufallen mit der aufgegebenen Explikation des Seins des seinsverstehenden Seienden. „Seinsverständnis läßt sich als wesenhaftes Seinsmoment des Daseins jedoch nur dann radikal aufklären, wenn das Seiende, zu dessen Sein es gehört, an ihm selbst hinsichtlich seines Seins ursprünglich interpretiert ist" (SZ 231). Die Frage nach dem Sein des Daseins ist durch die transzendentale Struktur der Seinsfrage gegeben. Zu diesem Zwecke ist zunächst das In-der-Welt-sein als die umfassende alltägliche Grundart des Daseins herausgestellt worden. In einem zweiten Schritt, den Heidegger ausdrücklich als durch die Methode gefordert ansieht 4 , ist nun die „Hebung des Seins dieses Seienden" (SZ 17), d. i. die Herausstellung des Einheitsgrundes des In-der-Welt-seins zum Thema zu machen. Die Durchführung der transzendentalen Seinsfrage geschieht also in zwei Schritten: „Die existenziale Analytik des Daseins hat in ihrem vorbereitenden Stadium die Grundverfassung dieses Seienden, das In-der-Welt-sein, zum leitenden Thema. Ihr nächstes Ziel ist die phänomenale Hebung der einheitlichen ursprünglichen Struktur des Seins des Daseins, daraus sich seine Möglichkeiten und Weisen ,zu sein' ontologisch bestimmen" (SZ 130).

Dieser zweite methodische Schritt steht jedoch vor einer Reihe von Schwierigkeiten. Heidegger formuliert sie in den Fragen: 4

Vgl. SZ 303.

Das Sein des Daseins als Sorge

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„Kann es gelingen, dieses Strukturganze der Alltäglichkeit des Daseins in seiner Ganzheit zu fassen? Läßt sich das Sein des Daseins einheitlich so herausheben, daß aus ihm die wesenhafte Gleichursprünglichkeit der aufgezeigten Strukturen verständlich wird in eins mit den zugehörigen existenzialen Modifikationsmöglichkeiten? Gibt es einen Weg, dieses Sein phänomenal auf dem Boden des jetzigen Ansatzes der existenzialen Analytik zu gewinnen?" (SZ 181).

Heidegger wirft hier für die entscheidende Fortführung seiner vom Ziel der Seinsfrage geleiteten Frage nach dem Sein des Daseins das Problem des „Weges" auf, der es erlaubt, den bisher analysierten Totalvollzug des In-der-Welt-seins in seiner Einheit zu begreifen. Diese „Ganzheit des Strukturganzen" (ebd.) ist nicht durch „Zusammenbauen" (ebd.) der analysierten Elemente des Inder-Welt-seins zu erreichen, „denn dieses bedürfte eines Bauplans" (ebd.). Heidegger gibt die methodische Anweisung: „Zugänglich wird uns das Sein des Daseins, das ontologisch das Strukturganze als solches trägt, in einem vollen Durchblick durch dieses Ganze auf ein ursprünglich einheitliches Phänomen, das im Ganzen schon liegt, so daß es jedes Strukturmoment in seiner strukturalen Möglichkeit ontologisch fundiert" (ebd.).

Der methodische Sinn dieser so umschriebenen Aufgabe ist grundverschieden von „der Frage nach dem Sein eines Vorhandenen" (ebd.). Die Frage nach dem Sein des Daseins wird vielmehr entfaltet als Frage nach der strukturalen Möglichkeitsbedingung als einheitlichem Phänomen des Strukturganzen des In-der-Welt-seins. Damit hat dieser zentrale methodische Schritt der Frage nach dem Sein des Daseins, selbst durch den transzendentalen Ansatz der Seinsfrage gefordert, ebenfalls transzendental-philosophischen Charakter. Der Mensch als Dasein ist das Seiende, „dem es in seinem Sein um dieses selbst geht" (SZ 191). Heidegger untersucht im folgenden unter Zuhilfenahme der Analysen des In-derWelt-seins das „es geht um ...". Damit ist das „Sich-vorwegsein" (SZ 192) als das „Ganze der Daseinsverfassung" (ebd.) umschrieben. Unter Einbeziehung von Verfallenheit und Geworfenheit ergibt sich für das Sein des Daseins: „Sich-vor-

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Dasein und Sein

weg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)" (ebd.). 5 Für diese einheitliche Struktur wird mit folgenden Sätzen der Terminus „Sorge" eingeführt: „Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein ontologisch-existenzial gebraucht wird. Ausgeschlossen bleibt aus der Bedeutung jede ontisch gemeinte Seinstendenz wie Besorgnis, bzw. Sorglosigkeit" (ebd.). Weitere ontische Auslegungen der Sorge als „Wollen" (SZ 194), „Wünschen" (SZ 195), „Hang" (ebd.) oder „Drang" (ebd.) weist Heidegger in den folgenden Ausführungen zurück. „Die Sorge ist ontologisch ,früher' als die genannten Phänomene" (SZ 194). „Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit existenzial-apriorisch ,vor' jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen ,Verhaltung' und ,Lage' des Daseins" (SZ 193).6 Die Sorge ist das einheitliche „Sein des Daseins" 7 , das eine Pluralität von Strukturelementen in sich faßt. „Der Ausdruck , Sorge' meint ein existenzial-ontologisches Grundphänomen, das gleichwohl in seiner Struktur nicht einfach ist" (SZ 196). Heidegger fährt fort: „Die ontologisch elementare Ganzheit der Sorgestruktur kann nicht auf ein ontisches .Urlement' zurückgeführt werden, so gewiß das Sein nicht aus Seiendem ,erklärt' werden kann. Am Ende wird sich zeigen, daß die Idee von Sein überhaupt ebensowenig ,einfach' ist wie das Sein des Daseins" (ebd.).

Die Frage nach dem Sein ist durch Vermittlung der transzendentalen Methodenstruktur zuerst Frage nach dem Sein des Daseins. Dieses wurde als Sorge bestimmt. Die Seinsganzheit der Sorge soll, wie hier gesagt wird, Konsequenzen 5 6

7

So auch SZ 249, 317. Auf die Kurzformel des „Sich-vorweg-seins" bezieht sich Heidegger u. a. SZ 220, 228, 243, 251. Der Ausdruck „Strukturganzes" findet sich noch SZ 236. Weitere Bezeichnungen sind „Seinsverfassung" (SZ 228, 230), „Grundverfassung" (SZ 231, 236, 246, 249, 259), „voller Strukturbestand" (SZ 316), „Seinsganzheit" (SZ 323), „Verfassungsganzheit" (SZ 374) u. a. Diese Bezeichnung findet sich sowohl in der Überschrift des sechsten Kapitels des ersten Abschnitts als auch in derjenigen des § 41. Weiter vgl. SZ 196, 277 f., 284, 286, 322, 325, 364, 382, 412 u. a.

Das Sein des Daseins als Sorge

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für den Seinsbegriff überhaupt haben. Das heißt, daß eine Klärung dessen, was Heidegger mit „Sein" angehen will, mit einer erneuten Nachzeichnung der Methodenbewegung von Sein und Zeit beginnen muß: Was Sein ist, enthüllt sich im Seinsvollzug des Daseins; dieser ist als Sorge beschrieben; was Sorge ist, erhellt aus ihrer methodischen Rolle8; also hat die Frage nach dem Sein bei der Untersuchung der Methode einzusetzen. Diesen Zusammenhang betont Heidegger auch am Ende der Untersuchungen zur Sorgestruktur: „Gefunden haben wir die Grundverfassung des thematischen Seienden, das In-der-Welt-sein, dessen wesenhafte Strukturen in der Erschlossenheit zentrieren. Die Ganzheit dieses Strukturganzen enthüllte sich als Sorge. In ihr liegt das Sein des Daseins beschlossen. [...] Gesucht wird die Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt und vordem die Möglichkeit einer radikalen Ausarbeitung dieser Grundfrage aller Ontologie. Die Freilegung des Horizontes aber, in dem so etwas wie Sein überhaupt zunächst verständlich wird, kommt gleich der Aufklärung der Möglichkeit des Seinsverständnisses überhaupt, das selbst zur Verfassung des Seienden gehört, das wir Dasein nennen" (SZ 231).

Weil das Seinsverständnis in der Sorge gründet, das Sein sich nur auf dem Wege über das Seinsverständnis erschließt, spricht Heidegger von der „Abhängigkeit des Seins [...] von der Sorge" (SZ 212).

2. „Sorge" als transzendental-ontologischer Begriff Dieser methodische Schritt der Interpretation der Ganzheit des In-der-Welt-seins als Sorge bedarf daher einer genaueren Untersuchung. Heidegger selbst bringt eine knappe Reflexion auf diesen Schritt im Anschluß an die Auslegung der CuraFabel im § 42. Mit dem Titel Sorge soll nicht mehr und nicht weniger gemeint sein als das „Sich-vorweg-sein — im-schonsein-in ... — als Sein-bei ..." (SZ 196). Das Wort Sorge ver8

Vgl. „Die Analytik des Daseins, die bis zum Phänomen der Sorge vordringt, soll die fundamentalontologische Problematik, die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, vorbereiten" (SZ 183).

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Dasein und Sein

wenden wir aber in der Alltagssprache im Sinne von „Besorgnis", „Bekümmernis", „Hingabe" usw. Am Übergang vom ontischen zum ontologischen Sorgebegriff läßt sich der Sinn solchen Vorgehens und der Sinn ontologischer Terminologie überhaupt ablesen. Der ontologische Begriff hat gegenüber dem ontischen einen höheren Allgemeinheitscharakter. Wie ist dieser zu verstehen? „Die existenzial-ontologische Interpretation ist der ontischen Auslegung gegenüber nicht etwa nur eine theoretisch-ontische Verallgemeinerung. Das würde lediglich besagen: ontisch sind alle Verhaltungen des Menschen .sorgenvoll' und geführt durch eine ,Hingabe' an etwas" (SZ 199).

Die Konstruktion des Sorgebegriffs in ontischer Allgemeinheit würde also bedeuten: Wir sind nicht nur hin und wieder besorgt um etwas, sondern immer. Die hier angestrebte „Verallgemeinerung" ist jedoch eine „apriorisch-ontologische" (ebd.). „Sie meint nicht ständig auftretende ontische Eigenschaften, sondern eine je schon zugrunde liegende Seins Verfassung" (ebd.). Die Apriorität der Sorge leuchtet sofort ein, wenn man bedenkt, daß sie sich aus der Frage nach der bedingenden Ganzheit des transzendentalen Grundvollzuges des In-der-Welt-seins ergeben hat. Heidegger spricht folgerichtig von der „transzendentalen ,Allgemeinheit'" (ebd.) des Phänomens der Sorge, „durch die der Boden vorgegeben wird, auf dem sich jede ontisch-weltanschauliche Daseinsauslegung bewegt, mag sie das Dasein als ,Lebenssorge' und Not oder gegenteilig verstehen" (SZ 199 f.). Der Ontologie geht es um apriorische Strukturen. 9 Der Unterschied 9

Weil „die Philosophie das ,Apriori' und nicht .empirische Tatsachen' als solche zum Thema hat" (SZ 229), haben ihre Untersuchungen notwendig „formal-anzeigenden" Charakter (Vgl. SZ 43, 53, 114, 116, 117, 231, 248, 313, 315). Bei der Analytik des Daseins wird daher nicht gefragt, „wozu sich das Dasein faktisch entschließt", sondern „woher überhaupt die Möglichkeiten geschöpft werden können, auf die sich das Dasein faktisch entwirft" (SZ 383; vgl. SZ16f.). Daher ist „der ,Apriorismus' [...] die Methode jeder wissenschaftlichen Philosophie,

Das Sein des Daseins als Sorge

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zwischen d e m ontischen u n d o n t o l o g i s c h e n B e g r i f f liegt also darin, daß der ontische B e g r i f f einen aposteriorischen V o l l zug, der o n t o l o g i s c h e B e g r i f f eine apriorische V o l l z u g s s t r u k t u r meint. D i e S o r g e im apriorischen Sinn ist als „transzendentale G r u n d v e r f a s s u n g " ( K 2 1 5 ) ein „ o n t o l o g i s c h e r S t r u k t u r b e g r i f f ' ( S Z 57). J e d e r V o r w u r f , Heidegger interpretiere das Dasein im Sinne eines nihilistischen o d e r tragisch-heroistischen Existenzideals, v e r s t e h t die S o r g e (wie die A n g s t ) rein ontisch und nicht als m e t h o d i s c h - o n t o l o g i s c h e n S t r u k t u r b e g r i f f . D e s w e g e n „ m i ß l i n g t auch der V e r s u c h , das Phän o m e n der S o r g e in seiner w e s e n h a f t unzerreißbaren G a n z heit auf b e s o n d e r e A k t e o d e r Triebe [...] zurückzuleiten" ( S Z 1 9 3 f.). 1 0 D e r im Dienste der transzendentalen M e t h o d e

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die sich selbst versteht" (SZ 50, Anm. 1). Ontologie ist „Aprioriforschung" (ebd.). Dennoch liegt hier ein entscheidender Unterschied zum Begriff der Ontologie bei Husserl, auf den weiter unten eingegangen wird. Dieses „ontische MißVerständnis" findet sich v. a. bei L. Binswanger: Grundformen und Erkenntnis, wenn er der Sorge die Liebe zur Seite stellt (vgl. vor allem 60—160). Eine solche Polarisierung würde ja bedeuten, daß das Dasein ontologisch zwei Grundverfassungen habe, was sinnlos ist, sofern die Rede von einer ontologischen Grundverfassung überhaupt einen Sinn haben soll. Auch die Liebe hat die Struktur des „es geht um ..." und ist daher Strukturmoment der Sorge. Andererseits besteht natürlich die Möglichkeit, aufgrund der perspektivischen Bestimmung des menschlichen Grundvollzuges diesen ontologisch als „Liebe" zu fassen. Im Vorwort der dritten Auflage gesteht Binswanger dann auch zu, daß er in bezug auf Heidegger „einem, wenn auch produktiven, Mißverständnis anthropologischer Art anheimgefallen sei" (a.a.O. 12; vgl. 13, 17). — Die gleichen Einwände sind gegen O. F. Bollnow vorzubringen, der meint, mit Angst und Sorge seien nur die „gedrückten Stimmungen" (O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, 76; vgl. 77, 82, 123 u. a.) des Menschen getroffen, die einer Ergänzung durch die gehobenen Stimmungen bedürften; die Sorge müsse ursprünglicher von der Hoffnung her interpretiert werden (vgl. O. F. Bollnow: Neue Geborgenheit, 114). Demgegenüber hat O. Pöggeler: ,Das Wesen der Stimmungen' mit Recht darauf hingewiesen, daß Bollnow „die Formalität und weltanschauliche Neutralität" (a. a. O. 282) der Heideggerschen Ontologie verfehlt habe (vgl. a. a. O. 274); die Möglichkeit einer ontologischen Fragestellung lehnt Bollnow aber

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Dasein und Sein

stehende strukturale S o r g e b e g r i f f unterscheidet sich v o m o n tischen B e g r i f f d u r c h seine ontische „ , L e e r e ' u n d A l l g e m e i n h e i t ' " ( S Z 2 0 0 ) . 1 1 A l s S t r u k t u r b e g r i f f b e k o m m t er aber eine „eigene o n t o l o g i s c h e Bestimmtheit u n d Fülle" (ebd.). W i e geschieht jedoch methodisch dieser Ü b e r g a n g v o m ontischen z u m o n t o l o g i s c h e n B e g r i f f ; w i e geschieht ü b e r h a u p t metaphysische B e g r i f f s b i l d u n g ? Heidegger erläutert den B e g r i f f „ S o r g e " anfangs im ontischen Sinne: „Der Titel ,Besorgen' hat zunächst seine vorwissenschaftliche Bedeutung und kann besagen: etwas ausführen, erledigen, ,ins Reine bringen'. Der Ausdruck kann auch meinen: sich etwas besorgen im Sinne von ,sich etwas verschaffen'. Ferner gebrauchen wir den Ausdruck auch noch in einer charakteristischen Wendung: ich besorge, daß das Unternehmen mißlingt. ,Besorgen' meint hier so etwas wie befürchten" (SZ 57). 12 überhaupt ab (ζ. B. in Das Wesen der Stimmungen, 70). Vgl. auch H.-G. Gadamers Bemerkung: „Gegenüber solchen kurzschlüssigen Polemiken dürfte sich Heideggers Versuch mit Recht auf seine transzendentale Absicht berufen, im selben Sinne, wie die Kantische Fragestellung transzendental war" (H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 249). Die einzige legitime Kritik vom Sein des Daseins als Sorge gibt Heidegger selbst an: „Wenn danach eine Kritik an der transzendentalen Interpretation der ,Sorge' als der transzendentalen Einheit der Endlichkeit einsetzen will — und wer wollte ihre Möglichkeit und Notwendigkeit leugnen? — dann gilt es allererst zu zeigen, daß die Transzendenz des Daseins und somit das Seinsverständnis nicht die innerste Endlichkeit des Menschen ist, sodann, daß die Begründung der Metaphysik überhaupt nicht diesen innersten Bezug zur Endlichkeit des Daseins hat, und schließlich, daß die Grundfrage der Grundlegung der Metaphysik nicht in dem Problem der inneren Möglichkeit des Seinsverständnisses beschlossen liegt" (K 214). Allerdings muß zugegeben werden, daß Heidegger an dem ontologisch-anthropologischen Mißverständnis der Sorge nicht schuldlos ist. Er selbst betont nämlich, daß die „notwendige Durchsichtigkeit" der Sorgestruktur sich erst aus einer Klärung der „methodischen Möglichkeiten, Erfordernisse und Grenzen" (SZ 303) der Fundamentalontologie ergebe. Eine solche methodologische Klärung findet sich aber in Sein und Zeit nur fragmentarisch. 11 12

Vgl. SZ 248: „Formalität und Leere". Der Unterschied der privativen Modi (vgl. SZ 149) von Besorgen und Fürsorge, je nachdem, ob das Existenzial des Bei-Seins oder des Mit-

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D e m g e g e n ü b e r w i r d der A u s d r u c k „ B e s o r g e n " als „ o n t o logischer Terminus (Existenzial) g e b r a u c h t als Bezeichnung des Seins eines m ö g l i c h e n In-der-Welt-seins" (ebd.). D a d u r c h w i r d er „ o n t o l o g i s c h e r S t r u k t u r b e g r i f f ' (ebd.); der Sinn v o n „Mühsal", „Trübsal", „ L e b e n s s o r g e " w i r d aus d e m B e g r i f f h e r a u s g e n o m m e n . D a m i t bleibt in i h m lediglich die f o r m a l e S t r u k t u r des „es geht u m . . . " ( S Z 1 9 1 ) erhalten, die Heidegger näherhin als „ S i c h - v o r w e g - s e i n " ( S Z 1 9 2 ) interpretiert. D i e verschiedenen Weisen des Sprechens v o n „ S o r g e " w e r den sozusagen zur D e c k u n g gebracht u n d auf ihre gemeinsame S t r u k t u r hin durchleuchtet; dabei w i r d v o n der V e r schiedenheit dessen, w o r u m es geht, u n d den damit v e r b u n denen psychischen S t i m m u n g e n abstrahiert. Hier findet also eine Formalisierung des ontischen S o r g e b e g r i f f e s statt. 1 3 D i e f o r m a l e B e d e u t u n g der S o r g e ist das „ S i c h - v o r w e g - s c h o n sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich b e g e g n e n d e m

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Seins gemeint ist, spielt lediglich auf der Ebene des uneigentlichen Inder-Welt-seins zur ontischen Vorklärung des Sorgebegriffs eine Rolle, ist also an dieser Stelle der methodischen Erörterung nicht mehr von Belang. Daher spricht Heidegger von einer „formal existenzialen Ganzheit" (SZ 192). Bei der Konstitution anderer ontologischer Begriffe werden ähnliche Ausdrücke verwendet: Ζ. B. entsteht die Idee des ontologischen Schuldigseins dadurch, daß der ontische Schuldbegriff formalisiert" (SZ 283) wird (d. h., „daß die auf das besorgende Mitsein mit Anderen bezogenen vulgären Schuldphänomene ausfallen. Die Idee der Schuld muß [...] auch abgelöst werden von dem Bezug auf ein Sollen und Gesetz, wogegen sich verfehlend jemand Schuld auf sich lädt" (ebd.)). — Die Begriffe „Privation" und „Mangel" sind ontologisch nur brauchbar, wenn sie „hinreichend formal" (SZ 286) gefaßt werden. — Der ontologische Sinn des „Sein-bei" wird erhellt auf dem „Weg der Abhebung gegen ein ontologisch wesenhaft anderes — d. h. kategoriales Seinsverständnis, das wir sprachlich mit denselben Mitteln ausdrücken" (SZ 55). — Das methodische Problem des Verhältnisses von Sorge als anthropologischem Einzelvollzug neben anderen und als formalisierten transzendentalem Grundvollzug entspricht der Frage nach dem Verhältnis von empirischem und transzendentalem Bewußtsein in der klassischen Transzendentalphilosophie, worauf noch näher einzugehen ist.

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Seienden)" (ebd.); Heidegger sagt nun keineswegs: das ist die Sorge, sondern vorsichtiger: „Dieses Sein erfüllt die Bedeutung des Titels Sorge, der rein ontologisch-existenzial gebraucht wird" (SZ 192). Die Formalität des Sorgebegriffs als „Sich-vorweg-sein" erfährt in Kant und das Problem der Metaphysik, entsprechend der dort durchgeführten Radikalisierung des fundamentalontologischen Problems, eine Verschärfung. Diese ist möglich, weil die Auslegung der Sorge in Sein und Zeit zu dem Ergebnis geführt hat, daß sich das „es geht um ..." auf das in allem Seienden bedingend und sinngebend liegende Sein bezieht, das „Sich-vorweg" auf die zukommende Offenbarung des Seins in der zeitlichen Ekstase der Zukunft. In der Formalstruktur der Sorge liegt damit die „transzendentale Bedürftigkeit" (K213), das wartende Hinausstehen auf das Sein. In dieser Bedürftigkeit der Transzendenz, d. h. der Angewiesenheit auf die Offenbarkeit von Sein im Horizont der Zeit liegt die ursprüngliche Endlichkeit des Daseins. Die Sorge ist daher „Einheit in der transzendentalen Urstruktur der Endlichkeit des Daseins" (K 213), „Einheit der transzendentalen Struktur der innersten Bedürftigkeit" (ebd.), „strukturale Einheit der in sich endlichen Transzendenz des Daseins" (ebd.), „transzendentale Einheit der Endlichkeit" (K 214). Mit der Ausarbeitung der Sorge geht es Heidegger einzig um die Herausstellung der Verwiesenheit des Menschen auf Sein und der dadurch gegebenen Bestimmung seines Wesens: „Auf die Herausarbeitung aber der Einheit in der transzendentalen Urstruktur der Endlichkeit des Daseins im Menschen zielt der bei der Analyse der Alltäglichkeit einsetzende Gang der existenzialen Ontologie und nur hierauf. [...] Nimmt man nun aber den Ausdruck ,Sorge' — entgegen und trotz der noch ausdrücklich gegebenen Anweisung, daß es sich nicht um eine ontische Charakteristik des Menschen handelt — im Sinne einer weltanschaulich-ethischen Einschätzung des .menschlichen Lebens' statt als Bezeichnung für die strukturale Einheit der in sich endlichen Transzendenz des Daseins, dann gerät alles in Verwirrung. Von der die Analytik des Daseins einzig leitenden Problematik wird dann überhaupt nichts sichtbar" (K 213).

Darin wird die Funktion des Begriffes der Sorge deutlich: Heidegger formalisiert den ontischen Sorgebegriff zum „es

Das Sein des Daseins als Sorge

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geht um ..." bzw. Sich-vorweg-sein und damit als Bedürftigkeit bzw. Endlichkeit. Die strukturale Einheit des In-derWelt-seins als Sorge ist die transzendentale Endlichkeit, die in der leeren Verwiesenheit auf Sein liegt. Damit trifft sich die Interpretation des Menschen als Sorge — dem zentralen Thema der Fundamentalontologie — mit dem, was in den späteren Schriften als das ekstatische Wesen des Menschen ständig betont wird. Die Einleitung zu Was ist Metaphysik macht diesen Zusammenhang ausdrücklich: „Das ekstatische Wesen des Daseins ist von der Sorge her gedacht, so wie umgekehrt die Sorge nur in ihrem ekstatischen Wesen zureichend erfahren wird" (WME 15). In diesem Hinausstehen ereignet sich erst das Geschick, dem der Mensch als „Hirt des Seins" zu entsprechen hat. Nach dem ,Humanismusbrief denkt Sein und Zeit allein auf diese geschickhafte und schicksalbestimmende Ek-stasis hinaus, „wenn die ekstatische Existenz als ,die Sorge' erfahren ist".14 Warum aber faßt Heidegger diesen Sachverhalt mit dem ontisch befremdlichen Sorgebegriff zusammen15 und spricht nicht einfach von Endlichkeit? Hier ist daran zu erinnern, daß ontologisches Fragen für Heidegger in einem unmittelbaren Existenzbezug steht, weil die Frage nach dem Sein nicht nur als theoretische Frage, sondern als Möglichkeit der Existenz selbst verstanden wird: „Nur wenn das philosophisch-forschende Fragen selbst als Seinsmöglichkeit des je existierenden Daseins existenziell ergriffen ist, besteht die Möglichkeit einer Erschließung der Existenzialität der Existenz und damit die Möglichkeit der Inangriffnahme einer zureichend fundierten ontologischen Problematik überhaupt" (SZ 13 f.).

Der Ontologie geht es nicht nur um Herausstellung eines formalen Apriori, sondern um das Apriori, das das Aposteriori der ontischen Gesamtsituation des menschlichen In-der14 15

PH 61, 100. Siehe auch EM 22. Zur „Fremdheit" der ontologischen Frage für das ontische Daseinsverständnis vgl. SZ 15 f., 43, 182, 197.

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Welt-seins verstehen lassen soll.16 Alle Ontologie ist ontischexistenziell verwurzelt 17 und steht im Dienste des existenziellen Selbst- und Seinsverständnisses.18 Die ontologische Begriffsbildung steht damit in der Spannung von Konkretem und Abstraktem, Apriori und Aposteriori, vulgärem und phänomenologischem Phänomenbegriff. Einerseits haben wir nur unsere ontische Sprache zur Verfügung, die für eine Darstellung des Begründenden in Richtung des Apriori umgedeutet wird, andererseits muß diese neue Begrifflichkeit immer noch ihre ontische Bedeutung aufrufen, wenn mit ihr etwas erklärt sein soll.19 Von daher kann die ontologische Schwierigkeit ermessen werden, die im Begriff der Sorge liegt und die Heidegger in der knappen Bemerkung umreißt: „Die ontologische Interpretation des Daseins hat die vorontologische Selbstauslegung dieses Seienden als ,Sorge' auf den existentiellen Begriff 16 17 18

19

Vgl.: „Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als solches und im Ganzen für das Begreifen zurückzuerhalten (WM 38). Vgl. SZ 13. Der Vorwurf eines „nur" ontischen Verständnisses, den Heidegger häufiger gegenüber anderen Auslegungen erhebt, ist rein methodisch zu verstehen: Durch die Zurückführung eines ontischen Sachverhaltes auf einen anderen ist ontologisch nichts erklärt (vgl. SZ 6). Zum Verhältnis von ontisch-existenziell zu ontologisch-existenzial vgl. SZ 12 f., 295, 302 f., 312, 316. - Zu dem hier angeführten Argument für den Vorzug des Begriffs „Sorge" vor dem der „Endlichkeit" kommt das Anliegen, den Menschen rein mit daseinsmäßigen „Kategorien" (Existenzialien) zu interpretieren; der klassische Begriff der Endlichkeit ist jedoch zu stark am räumlichen Ende des materiell Seienden orientiert. Um die existenzielle Fundierung der ontologischen Aussage von der Sorge als Sein des Daseins zu gewährleisten, wird ihr die Untersuchung der Angst als „verstehender Befindlichkeit" vorausgeschickt; diese hat allein diesen methodischen Sinn (vgl. Κ 215). — Die im zentralen Begriff der Sorge exemplarisch aufgewiesene Grundspannung jeder echten ontologischen Begrifflichkeit wird von Heidegger häufig diskutiert. Vgl. ζ. B. „Bewandtnis" SZ § 18; „Gewissen" SZ § 59; „Tod" SZ 255; „Vorlaufen" und „Entschlossenheit" SZ302f.; „Ich" SZ 322.

Das Sein des Daseins als Sorge

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der S o r g e gebracht" ( S Z 2 0 0 ) . 2 0 S o ergibt sich aus der rein f o r m a l e n u n d strukturalen F u n k t i o n der S o r g e zugleich ihre Relativität. Z w a r betont Heidegger i m m e r wieder, daß die S o r g e als S t r u k t u r b e g r i f f kein Existenzideal umschreibt. Es ist jedoch deutlich g e w o r d e n , daß der z u g r u n d e l i e g e n d e o n tische B e g r i f f der S o r g e keinesfalls belanglos f ü r den o n t o logischen B e g r i f f ist. D e m o n t o l o g i s c h e n B e g r i f f der S o r g e liegt also tatsächlich eine A u f f a s s u n g v o n eigentlicher Existenzerfahrung z u g r u n d e . 2 1 Weil die S o r g e als apriorischer B e g r i f f auf einer aposteriorischen E r f a h r u n g basiert und diese w i e d e r u m verstehen lassen soll, bedarf sie n o t w e n d i g der K r i tik v o n selten jener. W e i l das A p r i o r i dasjenige eines A p o s t e riori ist, w i r d nicht das A p o s t e r i o r i am A p r i o r i gemessen, sondern dieses an jenem. D a h e r b e t o n t Heidegger, daß am W o r t „ S o r g e " „gar nichts" ( K 2 1 3 ) liegt. Es ist also durchaus d e n k b a r und legitim, einen anderen ontischen V o l l z u g als den

20 21

Die vorontologische Selbstauslegung ist vorher durch eine Interpretation der Cura-Fabel demonstriert worden. „Aber liegt der durchgeführten ontologischen Interpretation der Existenz des Daseins nicht eine bestimmte ontische Auffassung von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal des Daseins zugrunde? Das ist in der Tat so. Dieses Faktum darf nicht nur nicht geleugnet und gezwungenermaßen zugestanden, es muß in seiner positiven Notwendigkeit aus dem thematischen Gegenstand der Untersuchung begriffen werden" (SZ 310). Heideggers Aussagen sind also keineswegs in dem Sinne formal, daß man ihn auf die ontisch-empirische Basis daseinsanalytischer Aussagen hinweisen müßte (So mehrfach O. F. Bollnow: ζ. B. Das Wesen der Stimmungen, 28, 82; Neue Geborgenheit, 114). Vielmehr geht es hier gerade um den methodischen Versuch, apriorische Aussagen über den Menschen zu machen, die dennoch eine ontische Basis haben. Sieht man die Möglichkeiten anthropologischer Aussagen lediglich auf ontisch-deskriptiver Ebene, muß man (hier ist Bollnow ganz konsequent) auf eine verbindliche Darstellung des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses verzichten. Heidegger versucht, die existenzielle Anschaulichkeit des lebensphilosophischen Existenzialismus mit der formalen Geltung des neukantianischen Apriorismus zu verbinden, d. h. genauer: den überkommenen Hiat von transzendentaler und empirischer Subjektivität zu unterlaufen (s. dazu weiter unten); gerade die Aussage von der Sorge soll diese Aufgabe leisten.

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Dasein und Sein

der Sorge in den einheitlichen Grundvollzug des Menschen ontologisch zu verwandeln, wodurch immer auch eine gewisse (allerdings nicht schlechthinnige, wenn nicht die Aussagekraft der Ontologie aufgehoben werden soll) Pluralität verschiedener Ontologien gegeben ist. Aus der Struktur eines metaphysischen Begriffes ergibt sich, daß ein solcher Ansatz „nie als der einzig mögliche beansprucht werden kann" (ebd.). Zusammenfassend läßt sich feststellen: Der menschliche Totalvollzug wird von Heidegger als In-der-Welt-sein umschrieben. Die fundamentalontologische Analyse differenziert diesen in verschiedene Vollzugsdimensionen des Menschen. Die transzendentale Seinsfrage verlangt aber nach einem ganzheitlichen Begreifen des In-der-Welt-seins in seiner Differenziertheit. Diese Ganzheit wird von Heidegger als Sorge bestimmt. Die allein aufgrund methodischer Erfordernisse vorgenommene Bestimmung der Sorgestruktur wirft ein Licht auf die Frage: Welcher Begrifflichkeit bedient sich Heidegger in seinem transzendentalen Begründungsverfahren und wie wird diese gewonnen? Ausgangspunkt der existenzialen Analytik ist die existenzielle Erfahrung der Menschen (für den Begriff der Sorge ist das die Angst). Für die Ontologie gibt es nur den Weg, „ontische Möglichkeiten (Weisen des Seinkönnens) zugrundezulegen und diese auf ihre ontologische Möglichkeit hin zu entwerfen" (SZ312). 22 Um apriorische Strukturen begrifflich zu fassen, steht der Ontologie nur die ontische Sprache zur Verfügung. Die ontischen Begriffe werden in der Perspektive des Begründens so umgewandelt, daß in dieser Umwandlung der Ausgangssinn ständig aufgerufen bleiben muß, zugleich aber in Richtung des bedeuteten Grundes symbolisch und metaphorisch funktioniert. Der ontische Vollzug soll so auf eine Apriorität im Vollzuge zurückgeführt werden, daß einerseits die Bedingung aufleuchtet, diese aber als Bedingung des ontischen Vollzuges sichtbar wird. Der Gebrauch metaphysischer Begriffe ist immer ein perspektivi-

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Formuliert als rhetorische Frage.

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scher Gebrauch der Alltagssprache. Metaphysische Begriffe sind in dem doppelten Sinne verweisend, daß sie einerseits eine eigene Terminologie im transzendentalen Begründungszusammenhang bilden, die auf die Apriorität der Wirklichkeit hindeutet, andererseits auf den begründeten Ausgangspunkt hinweisen, der verwandelt (formalisiert) anwesend bleibt.

3. Die Zeitlichkeit als Sinn der Sorge Aus den Darlegungen zur Sorgestruktur mag deutlich geworden sein, wie sich die Konzeption dieses Begriffes aus der methodischen Struktur der Heideggerschen Transzendentalphilosophie ergibt. Das bedeutet: Durch die Bestimmung des Seins des Daseins als Sorge soll der Weg bereitet werden, an dessen Ende die Explikation der Seinsfrage steht. Heidegger betont daher am Ende des § 43 von Kant und das Problem der Metaphysik, der überschrieben ist: „Der Einsatz und Gang der Fundamentalontologie", daß die „Herausarbeitung der Sorge als der transzendentalen Grundverfassung des Daseins [...] nur das erste Stadium der Fundamentalontologie [ist]. Für den weiteren Gang zum Ziel muß sich gerade die bestimmende Führung von Seiten der Seinsfrage in wachsender Unerbittlichkeit auswirken" (K 215).

Auch am Ende des sechsten Kapitels vom ersten Abschnitt von Sein und Zeit („Die Sorge als Sein des Daseins") erinnert Heidegger an die Aufgabe der Sorge und vergleicht das Ergebnis dieser Darlegung mit den Anforderungen, die zur Feststellung der Sorge geführt haben: „Wenn mit der Sorge die ursprüngliche Seinsverfassung des Daseins gewonnen sein soll, dann muß auf diesem Grunde auch das in der Sorge liegende Seinsverständnis zu Begriff gebracht, das heißt der Sinn von Sein umgrenzt werden können. Aber ist mit dem Phänomen der Sorge die ursprünglichste existenzial-ontologische Verfassung des Daseins erschlossen? Gibt die im Phänomen der Sorge liegende Strukturmannigfaltigkeit die ursprünglichste Ganzheit des Seins des faktischen Daseins? Hat die bisherige Untersuchung überhaupt das Dasein ah Ganges in den Blick bekommen?" (SZ 230).

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Dasein und Sein

Die erneute Frage nach der Ganzheit nimmt Heidegger noch einmal zum Anlaß der Methodenüberlegungen. So wird die Frage nach der Ursprünglichkeit der Interpretation des Daseins als Sorge als solche fraglich: „An welchem Richtmaß soll die existenziale Analytik des Daseins auf ihre Ursprünglichkeit bzw. Nichtursprünglichkeit abgeschätzt werden? Was besagt denn überhaupt Ursprünglichkeit einer ontologischen Interpretation?" (SZ 231). Zur Lösung des Problems beruft sich Heidegger auf seine Analyse des Verstehens, wonach die „hermeneutische Situation" (SZ 232) sich aus Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff konstituiert. Die Frage des Vorgriffs, d. h. der Festlegung der „dem auszulegenden Seienden zugehörigen Begrifflichkeit" (SZ 150) hält Heidegger für geklärt, denn durch die Fassung ontischer Erfahrungen wie Angst und Sorge als Existenzialien ist gewährleistet, daß das Dasein nicht mit Kategorien interpretiert wird, denen es sich „gemäß seiner Seinsart widersetzt" (ebd.). Unter Vorhabe versteht Heidegger das noch unbestimmte und unthematische Verständnis des zu interpretierenden Seienden am Anfang einer reflektierten Untersuchung. Diese Untersuchung ist geleitet durch die Vorsicht, die „Hinsicht, die das fixiert, im Hinblick worauf das Verstandene ausgelegt werden soll" (SZ 150). Diese Vorsicht der fundamentalontologischen Untersuchungen hatte sich bisher von der durchschnittlichen Alltäglichkeit leiten lassen. Damit wurde jedoch das eigentliche Seinkönnen der Existenz ausgeschaltet. Daher kann die bis dort durchgeführte Analyse des Daseins „den Anspruch auf Ursprünglichkeit nicht erheben. In der Vorhabe stand immer nur das uneigentliche Sein des Daseins und dieses als ungan^es" (SZ 233). Die Frage nach der Ganzheit der Strukturmannigfaltigkeit muß daher mit der Vorsicht der Eigentlichkeit noch einmal wiederholt werden. Bevor Heidegger zu diesem Zwecke den existenzialen Begriff des Todes untersucht und die Bezeugung der Eigentlichkeit im Gewissen heraushebt, reflektiert er im § 46 wieder auf die Möglichkeit dieses entscheidenden Methodenschrittes auf dem Hintergrund der bisher erreichten Ergebnisse. Danach scheint aus der Sorge als „Sichvorweg" eine „ständige Un-

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abgeschlossenheit" (SZ 236) zu folgen. Das Dasein, nach dessen Ganzheit gefragt ist, scheint einer solchen Frage selbst entgegenzustehen.23 Es zeigt sich jedoch, daß mit diesem Einwand voreilig das Dasein wieder als Vorhandenes angesetzt wurde, das „sich ständig ein Noch-nicht-vorhandenes vorwegschiebt" (SZ 237).24 Demgegenüber gilt es, das Woraufhin des Daseins (Tod) im existenzialen Sinne zugänglich zu machen. Der Tod, der das eigentliche Dasein als Sein zum Tode bestimmt, ist nicht etwas, was noch bevorsteht, sondern „ist als Ende des Daseins im Sein dieses Seienden zu einem Ende" (SZ 259). Der Tod konstituiert immer schon den daseinsmäßigen Seinsvollzug, weswegen er nicht einer existenzialen Ganzheit widerspricht, sondern gerade ein wichtiges Element dieser Ganzheit ist: „Der Tod als Ende des Daseins ist die eigenste, unbezügliche, gewisse und als solche unbestimmte, unüberholbare Möglichkeit des Daseins" (SZ 258 f.). Die eigentliche Bezeugung, d. i. der ständige Aufruf aus der Verlorenheit an das Man, sich zur „Freiheit zum Tode" (SZ 266) zu entschließen, ist das Gewissen. „Das Dasein [in seiner Eigentlichkeit] ruft im Gewissen sich selbst [als immer schon verfallenes]" (SZ 275). Die existenziale Untersuchung von Tod und Gewissen zur Bestimmung der Ganzheit des Daseins als Sorge hat rein methodische Absicht.25 Daher trägt der § 61, welcher eine erneute Besinnung auf den beabsichtigten methodischen Schritt

23

24 25

„Der Grund der Unmöglichkeit, Dasein als seiendes Ganzes ontisch zu erfahren und demzufolge in seinem Ganzsein ontologisch zu bestimmen, liegt nicht in einer Unvollkommenheit des Erkenntnisvermögens. Das Hemmnis steht auf selten des Seins dieses Seienden" (SZ 236). Zu beobachten ist hier wieder der Übergang von der ontischen Erfahrung zum ontologischen Sachverhalt („demzufolge"). Formuliert als rhetorische Frage. Die methodische Absicht wird hier häufiger betont, um daran zu erinnern, daß Heidegger seine Analysen im Hinblick auf die anthropologischen Aussagen über den Menschen selbst für fragmentarisch hält (vgl. ζ. B. SZ 17) und sie nur insoweit entwickelt, wie es für die Entfaltung der Seinsfrage notwendig ist.

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vollzieht, die Überschrift: „Vorzeichnung des methodischen Schrittes von der Umgrenzung des eigentlichen daseinsmäßigen Ganzseins zur phänomenalen Freilegung der Zeitlichkeit" (SZ 301). Dieser methodische Schritt wird zunächst vorbereitet durch die einheitliche Interpretation von Tod (Vorlaufen) und Gewissen (Entschlossenheit) in der vorlaufenden Entschlossenheit. Mit dieser Zusammenfassung ist es möglich, „die Interpretation des ontologischen Sinnes der Sorge [...] auf dem Grund der vollen und ständigen phänomenologischen Vergegenwärtigung der bislang herausgestellten existenzialen Verfassung des Daseins zu vollziehen" (SZ 303). Einer weiteren „methodischen Besinnung" (SZ 310) dient der § 63. Er ist überschrieben: „Die für eine Interpretation des Seinssinnes der Sorge gewonnene hermeneutische Situation und der methodische Charakter der existenzialen Analytik überhaupt" (ebd.). Um den durch die notwendige Breite der Untersuchungen leicht in Vergessenheit geratenen „methodischen Charakter" der Fundamentalontologie noch einmal zu demonstrieren, wiederholt Heidegger den durchlaufenen Weg und setzt sich mit möglichen Einwänden zur Methode auseinander. Der Paragraph führt zu dem Ergebnis: „Die ursprünglichste, grundlegende existenziale Wahrheit, der die fundamentalontologische Problematik — die Seinsfrage überhaupt vorbereitend — zustrebt, ist die Erschlossenheit des Seinssinnes der Sorge. Für die Freilegung dieses Sinnes bedarf es der ungeschmälerten Bereithaltung des vollen Strukturbestandes der Sorge" (SZ 316).

Was aber ist mit „Sinn der Sorge" gemeint? Im § 65 stellt sich Heidegger diese Frage unter Einbeziehung der vorher 26 durchgeführten Analyse des Sinnbegriffs. „Danach ist Sinn das, worin sich die Verstehbarkeit von etwas hält, ohne daß es selbst ausdrücklich und thematisch in den Blick kommt" (SZ 324). Die Frage nach dem Sinn kommt der Freilegung des Woraufhin des unthematischen Entwurfs gleich. „Diese Freilegung verlangt methodisch, dem einer Auslegung zu26

Bes. SZ § 32.

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grundeliegenden, meist unausdrücklichen Entwurf so nachzugehen, daß das im Entwerfen Entworfene hinsichtlich seines Woraufhin erschlossen und faßbar wird" (ebd.). In der Frage nach dem Sinn der Sorge liegt damit die Aufgabe, den leitenden Entwurf der ursprünglichen Ganzheit der Sorge als ihre einheitliche Bedingung der Möglichkeit sichtbar zu machen. So begegnen wir in dem (nach Herausstellung des Inder-Welt-seins und der Sorge) dritten großen Schritt der fundamentalontologischen Durchführung wieder ihrer trans^endentalpbilosophischen Struktur. Die Sorge als ursprüngliche Ganzheit der Strukturmannigfaltigkeit des In-der-Welt-seins wird auf die Bedingungen der Möglichkeit des Ganzseins hin befragt: „Das Entworfene ist das Sein des Daseins und zwar erschlossen in dem, was es als eigentliches Ganzseinkönnen konstituiert. Das Woraufhin dieses Entworfenen, des erschlossenen, so konstituierten Seins, ist das, was diese Konstitution des Seins als Sorge selbst ermöglicht. Mit der Frage nach dem Sinn der Sorge ist gefragt: was ermöglicht die Ganzheit des gegliederten Strukturganzen der Sorge in der Einheit ihrer ausgefalteten Gliederung(ebd.).

Dieser transzendental konzipierte Einzelschritt steht jedoch im Dienste der methodischen Vorbereitung der Seinsfrage. Im Grunde bedeutet „Sinn" nämlich „das Woraufhin des primären Entwurfs des Verstehens von Sein. [...] Wenn wir sagen: Seiendes ,hat Sinn', dann bedeutet das, es ist in seinem Sein zugänglich geworden, das allererst, auf sein Woraufhin entworfen, eigentlich' ,Sinn hat'" (ebd.). Damit ist wieder auf den schon hervorgekehrten Sachverhalt verwiesen, daß die Frage nach dem Sein des Daseins als Sorge — jetzt durch die Untersuchung der Eigentlichkeit als vorlaufender Entschlossenheit in vollem Umfang durchführbar — als dem für die Ausarbeitung der Seinsfrage paradigmatischen Seienden, der transzendentalen Methode der Fundamentalontologie entspringt und auf sie hinweist. Als den eigentlichen und ursprünglichen Sinn der Sorge und als ontologische Bedingung ihrer Möglichkeit legt Heidegger die Zeitlichkeit frei. „Die ursprüngliche Einheit der Sor-

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gestruktur liegt in der Zeitlichkeit" (SZ 327). 27 Zeitlichkeit als existenziale Struktur ist wieder zu unterscheiden vom in ihr wurzelnden vulgären Zeitverständnis. Heidegger setzt bei diesem an und kommt auf dem Wege der Formalisierung zu ihrer existenzialen Bestimmung: „Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart zeigen die phänomenalen Charaktere des ,Auf-sich-zu', des ,Zurück a u f , des ,Begegnenlassens von'. Die Phänomene des zu ..., auf ..., bei ... offenbaren die Zeitlichkeit als das έκστατικόν schlechthin. Zeitlichkeit ist das ursprüngliche ,Außer-sich' an und für sich selbst" (SZ 328 f.).

Weil die Zeitlichkeit die ursprüngliche Einheit des In-derWelt-seins als Sorge ist, liefert sie den letzten Interpretationshorizont, aus welchem die Mannigfaltigkeit der Strukturganzheit des Daseins voll verständlich wird. Daher geht Heidegger noch einmal die wichtigsten Stationen der bis hierher durchgeführten Fundamentalontologie durch, „um die in der vorbereitenden Analyse gewonnenen Phönomene in den phänomenologischen Blick zurückzubringen" (SZ 334). In dieser erneuten Untersuchung bestätigt sich, daß die Fundamentalontologie mit der Freilegung der Zeitlichkeit als apriorischer Einheit der Sorgestruktur des In-der-Welt-seins an ihr Ziel gelangt ist, denn ihre Ausarbeitung hatte ja die Aufgabe, den Horizont der ursprünglichen Seinsauslegung zu thematisieren. Mit der Zeitlichkeit „ist der Boden für die Gewinnung dieser Antwort bereitgestellt" (SZ 17). In der Zeitlichkeit „gründet das für das Sein des Daseins konstitutive Seinsverständnis. Der Entwurf eines Sinnes von Sein überhaupt kann sich im Horizont der Zeit vollziehen" (SZ 235). 28 Die Zeitlichkeit ist also zugleich der ursprüngliche Sinn der Sorge und der Offenbarungsraum des Seins. Der Zusammenhang dieser beiden Komponenten ist wieder nur verständlich auf dem Hintergrund des transzendentalen Methodenansat27 28

So auch SZ 234, 331, 350 f., 364; Κ 215. Vgl. „Alle konkreten Interpretationen, vor allem die der Zeit, sind allein in Richtung auf die Ermöglichung der Seinsfrage auszuwerten" (WG 42, Anm. 1).

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zes: So etwas wie Sein ist nur verständlich auf dem Wege über die Erfassung des seinsverstehenden Seienden. Auch die Zeitlichkeit als letzter Schritt der Fundamentalontologie im Hinblick auf die Seinsfrage hat daher rein methodische und in erster Instanz keinerlei anthropologische Funktion.™ Heidegger weist im Kantbuch nachdrücklich darauf hin: „Wenn die Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit das Ziel der Fundamentalontologie ist, dann muß sie einzig vom Seinsproblem als solchem motiviert sein. Damit aber eröffnet sich erst der fundamentalontologische, d. h. der in ,Sein und Zeit' einzig leitende Sinn der Frage nach der Zeit" (K 216). Aus der Frage nach der ursprünglichen apriorischen Einheit des In-der-Welt-seins als Sorge hat sich die Zeitlichkeit als letzter Offenbarungsraum des Seins ergeben. Sowohl die Einzelanalyse zur Zeitlichkeit als auch der Zusammenhang, in dem diese Analyse steht, verweisen auf die transzendentalphilosophische Struktur der Fundamentalontologie und sind nur durch sie zu verstehen.

4. Das Verhältnis der Frage nach dem Sein des Daseins zur Frage nach dem Sein überhaupt. Die Wiederholung Die Bestimmung des zeitlichen Seins des Daseins als Zielpunkt der Fundamentalontologie baut auf Untersuchungen auf, die sich zu diesem Ziel hin und durch dieses im Hinblick auf die Seinsfrage in methodischer Vorläufigkeit halten. Endgültige Aussagen sind ja erst auf dem Boden eines geklärten Seinsbegriffes möglich. Dieser Seinsbegriff (Sein des Daseins) steht aber erst am Ende von Sein und Zeit·, alle vorherigen Aussagen dienen, wie schon häufiger demonstriert, rein methodischer Vorbereitung dieses Seinsbegriffs. Aus diesem 29

Das gilt allerdings nur eingeschränkt für das Kapitel über die Geschichtlichkeit (SZ §§72—77), das eine „konkretere Ausarbeitung" (SZ 382) der Zeitlichkeit anstrebt.

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Grunde wendet sich der Blick nach Bestimmung des Seins dieses Seienden zurück auf den Weg, der reduktiv zu ihm geführt hat. Heidegger spricht hier von einer notwendigen Wiederholung. 30

Eine solche Wiederholung ist schon nach dem „ersten Stadium" (K 215) der Fundamentalontologie, der Interpretation der transzendentalen Verfassung des In-der-Welt-seins als Sorge notwendig. „Die Analytik des Daseins, die bis zum Phänomen der Sorge vordringt, soll die fundamentalontologische Problematik, die Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt, vorbereiten. Um von dem Gewonnenen aus den Blick ausdrücklich darauf zu lenken, über die Sonderaufgabe einer existenzial-apriorischen Anthropologie hinaus, müssen die Phänomene rückblickend eindringlicher gefaßt werden, die im engsten Zusammenhang mit der leitenden Seinsfrage stehen" (SZ 183).

Weil die Interpretation des Seins des Daseins als Sorge im Hinblick auf die Zeitlichkeit nur „vorbereitend" (SZ 424) ist, kommt die methodische Aufgabe einer Wiederholung jedoch besonders auf dem mit der Zeitlichkeit erreichten Niveau der existenzialen Analytik zum Zuge. Schon in der Einleitung von Sein und Zeit wird sie daher angekündigt: „Die Analyse des Daseins ist [...] nicht nur unvollständig, sondern zunächst auch vorläufig. Sie hebt nur erst das Sein dieses Seienden heraus ohne Interpretation seines Sinnes. Die Freilegung des Horizonts für die ursprünglichste Seinsauslegung soll sie vielmehr vorbereiten. Ist dieser erst gewonnen, dann verlangt die vorbereitende Analytik des Daseins ihre Wiederholung auf der höheren und eigentlich ontologischen Basis" (SZ 17).

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„Wiederholung" im hier gemeinten Sinne ist zunächst zu unterscheiden von der historischen „Erinnerung", die Heidegger (im Zusammenhang mit der Gewesenheit) häufig auch als „Wiederholung" bezeichnet (vgl. SZ 2ff., 26, 385 ff., 391 f., 396 f., Κ 184 f., 216, 218). Dennoch ist diese „Äquivokation" nicht ohne Absicht und Bedeutung, wenn man berücksichtigt, daß in den späteren Schriften Heideggers transzendentales Apriori und geschichtliche αρχή in der Konzeption der Seinsgeschichte zusammenfallen. Da diese an dem hier untersuchten Stand der Frage noch nicht thematisch in den Blick kommen kann, soll diese Problematik hier nicht weiter verfolgt werden.

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Eingehender behandelt Heidegger dieses methodische Element der Wiederholung im § 66, der die Überschrift trägt: „Die Zeitlichkeit des Daseins und die aus ihr entspringenden Aufgaben einer ursprünglicheren Wiederholung der existenzialen Analyse" (SZ 331). Wie oben ausgeführt, folgte die Zeitlichkeit ja direkt aus der eigentlichen Verfassung des Daseins als vorlaufender Entschlossenheit; erst daran anschließend soll im vierten Kapitel des zweiten Abschnittes die These der Zeitlichkeit durch eine Wiederholung der wichtigsten Strukturen des alltäglichen In-der-Welt-seins vollends bestätigt werden. „Die These, der Sinn des Daseins ist die Zeitlichkeit, muß sich am konkreten Bestand der herausgestellten Grundverfassung dieses Seienden bewähren" (ebd.). Dabei verlangt die wiederholende Darstellung dieser alltäglichen Strukturen aus „methodischen Notwendigkeiten" (SZ 332) eine andere Reihenfolge und Akzentsetzung. Heidegger beschränkt sich hier auf den Nachweis der zeitlichen Konstitution der Erschlossenheit (Verstehen, Befindlichkeit, Verfallen, Rede), der Transzendenz, des Besorgens, der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis und der Räumlichkeit. Ist aber mit dieser Wiederholung der alltägliche Daseinsvollzug schon in seiner letzten Ursprünglichkeit interpretiert? Nach den oben zitierten Ausführungen Heideggers aus der Einleitung scheint man diese Frage positiv beantworten zu müssen. Am Ende des § 66 erinnert Heidegger jedoch daran, daß eine letzte Endgültigkeit nur auf dem Boden eines geklärten Seinsbegriffs überhaupt erreicht werden kann. „Die Interpretation der Abwandlungen des Seins alles dessen, von dem wir sagen, es ist, bedarf aber einer zuvor hinreichend erhellten Idee von Sein überhaupt. Solange diese nicht gewonnen ist, bleibt auch die wiederholende zeitliche Analyse des Daseins unvollständig und mit Unklarheiten behaftet [...]. Die existenzial-zeitliche Analyse des Daseins verlangt ihrerseits eine erneute Wiederholung im Rahmen der grundsätzlichen Diskussion des Seinsbegriffes" (SZ 333). 31 31

In die Wiederholungsbewegung will Heidegger nicht nur die methodisch-vorläufigen Darlegungen der Fundamentalontologie, sondern auch diejenigen der Regionalontologien und der positiven Wissenschaften einbezogen wissen (vgl. SZ 51).

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Dasein und Sein

Heideggers Denken bekommt durch dieses ständige Wiederholen eine Bewegung, die sich als Dialektik von Vollzug und Begriff begreifen läßt.32 Durch die transzendentale Methode wird der Seinsbegriff nicht mit einem Mal präsentiert, sondern Hand in Hand mit dem jeweiligen Stand der Untersuchung des Vollzuges entfaltet. Durch den dann formulierten Seinsbegriff wird wieder eine genauere Bestimmung des Vollzuges ermöglicht; am Ubergang vom In-der-Welt-sein zur Sorge und schließlich zur Zeitlichkeit wird diese Methodenbewegung bei Heidegger sehr gut deutlich. Umgekehrt verweist die schrittweise Fortbestimmung des Seinsbegriffes auf die transzendental-philosophische Struktur dieses Denkens. Zugleich wird deutlich, daß der im vorigen Abschnitt für den Begriff der Sorge als Sein des alltäglichen In-der-Welt-seins herausgestellte methodische Schritt vom ontisch-existenziellen Ausgangsvollzug zum ontologischen Apriori und zurück zum Ausgangsvollzug für den Seinsbegriff bei Heidegger konstitutiv ist. Die Ontologie geht vom alltäglichen Vollzug (alltägliches In-der-Welt-sein) aus, bestimmt dessen Sein (Sorge) und wiederholt die Interpretation des Vollzuges auf dem Fundament des Seinsbegriffs (eigentliches In-der-Weltsein: vorlaufende Entschlossenheit). Der durch den vorläufigen Seinsbegriff durchleuchtete Vollzug bietet erneut den Ansatzpunkt für eine vertiefte Fassung des Seinsbegriffs (Zeitlichkeit), von woher wieder der anfängliche Vollzug tiefer begriffen wird (zeitliche Interpretation der Strukturmannigfaltigkeit des In-der-Welt-seins). Von diesem eigentlicheren Verständnis des Vollzuges wäre jetzt das eigentliche Verständnis von Sein zu entwickeln; hier bricht Heidegger die methodische Bewegung jedoch ab und stellt in seinen späteren Schriften sogleich die übernächste (wiederholende) Frage, wie das Dasein (als Ek-sistenz) vom Sein her zu verstehen sei; genau die Bestimmung des Seins selbst wird übersprungen. Aus einer Untersuchung der methodischen Funktion der Sorge 32

Dieser Begriff von Dialektik wird hier übernommen von E. Coreth: Metaphysik, 69, 88.

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wird deutlich, daß der formale Sinn des Heideggerschen Seinsbegriffs nur durch Nachkonstruktion der Methodenbewegung in der Dialektik („Kehre") von Reduktion und Repetition als fehlendes Glied ihrer selbst erfolgen kann. 33 Die Wiederholung ist methodischer Ausdruck der Grundpolarität, die das Spezifikum des transzendentalen Charakters der Heideggerschen Philosophie überhaupt ist: Einerseits kann die Frage nach dem Sein nur durch methodische Vermittlung der Frage nach dem Sein des Daseins ausgeführt werden, andererseits ist die Frage nach dem Sein des Daseins bereits eine (regionale) Seinsfrage, die schon eine Idee von Sein voraussetzt. Daher gilt sowohl, daß „die ausdrückliche und durchsichtige Fragestellung nach dem Sinn von Sein [...] eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins" (SZ 7) verlangt, als auch, daß „die Möglichkeit einer Durchführung der Analytik des Daseins an der vorgängigen Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt" (SZ 13) hängt. Der hier liegende Zirkel wird von Heidegger eigens reflektiert und als methodische Notwendigkeit gerechtfertigt 34 : Wenn das Sein wirklich universal-ontologisches Apriori ist, muß es auch die Frage nach ihm selbst in einer expliziten Ontologie bedingen. Die „aufweisende Grund-Freilegung" (SZ 8) kann nur gelingen, weil es einen Zirkel gibt: wir verstehen den Sinn von

33

34

So wie sich bei der Zeitlichkeit als Sinn des Seins des Daseins der Blick auf die jeweils vor-läufigen Analysen umkehrt, gilt diese Bewegung natürlich auch für den Seinsbegriff überhaupt im Verhältnis zum zeitlichen In-der-Welt-sein. Nachdem das Sein des Daseins als durch Vermittlung der transzendentalen Methode exemplarischer Seinssinn zur Bestimmung des Seins überhaupt geführt hat, kehrt sich der Blick zurück auf das Sein des Daseins (Sorge als Ek-sistenz). Insofern tendiert Sein und Zeit bereits auf eine Kehre hin. So auch O. Pugliese, der die Notwendigkeit hervorhebt, „unter Ausschluß eines äußeren Gesichtspunktes die Kehre als eine ,innere' Möglichkeit des existenzial-vorontologischen Ansatzes dieses Denkens zu erörtern" (O. Pugliese: Vermittlung und Kehre, 47). Vgl. SZ 7 f., 152 f , 314ff., 333 („Wiederholung").

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Dasein und Sein

Sein, indem wir verstehen, daß er in unserem Verstehen immer schon vorausgesetzt ist. Der Zirkel ist so die Form der ontologischen Begründung selbst. So sehr also einerseits zu beachten ist, daß alle konkreten Interpretationen von Sein und Zeit „allein in der Richtung auf die Ermöglichung der Semsfrage auszuwerten" sind (WG 42, Anm. 59), ist andererseits zu berücksichtigen, daß die Seinsfrage nur eine rechtfertigende Bewährung erfahren kann, wenn aus ihr „genealogisch" (vgl. SZ 11) die regionalen Bedeutungen von Sein „konstruiert" werden können — eine Forderung, die Heidegger zwar aufgestellt, allerdings nie genauer erläutert und ausgeführt hat. Obwohl also der methodische Charakter der Fundamentalontologie häufig betont wird 3 5 , wird andererseits auch erklärt, daß die Fundamentalontologie anthropologisch „nicht unwesentliche ,Stücke'" (SZ 17) gibt. Daher kann Heidegger die Fundamentalontologie auch einmal als „erste Stufe der Metaphysik des Daseins" (K 209) und als „existenzial-apriorische Anthropologie" (SZ 183) bezeichnen. Die These von der Sorge als Sein des Daseins ist daher in der Spannung des wechselseitigen, gleichwohl unumkehrbaren Voraussetzungsverhältnisses von Frage nach dem Sein und Frage nach dem Wesen des Menschen zu verstehen. 36 Es fügt sich daher in den Duktus des fundamentalontologischen Denkens, daß die methodische Auslegung des Seins des Daseins als Sorge zugleich im Zusammenhang einer „ontologischen Interpretation der Subjektivität des Subjekts" (vgl. W G 42) zu verstehen ist, d. h. als Lösungsversuch einer Fragestellung, die sich seit Descartes in einer merkwürdig unaufgelösten methodisch-anthropologischen Zweideutigkeit hält. Die These vom Sein des Daseins als Sorge kann daher nur adäquat diskutiert wer-

35 36

Vgl. ζ. B. SZ 11 ff., 183, 194, 310 ff.; Κ 13, 185 ff.; W G 42. Vgl.: „Jede philosophische, d. h. denkende Lehre vom Menschen ist in sich schon Lehre vom Sein des Seienden. Jede Lehre vom Sein ist in sich schon Lehre vom Wesen des Menschen" (WD 73).

Das Sein des Daseins als Sorge

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den, wenn sie auch als Lösungsversuch der sich in transzendental-methodischer Konsequenz ergebenden Aporie des Begriffes der Subjektivität des Subjekts verstanden wird. 37

5. Die Frage nach der Subjektivität des Subjekts in der klassischen Transzendentalphilosophie Die Frage nach der Subjektivität des Subjektes ist spezifisch mit der Problemsituation der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft verbunden. Sie bricht auf, als es dem menschlichen Wissen gelingt, sich der Naturerkenntnis so zu bemächtigen, daß jede dem Wissen heterogene normative Instanz als Entmächtigung des Menschen erscheinen muß (J. Kepler, G. Galilei, I. Newton, F. Bacon). Die auf Grund dieses „mathematischen" Wissensbegriffes 38 notwendige Selbstvergewisserung wird als Aufgabe in klassischer Weise von Descartes formuliert: Weil nur noch die menschliche Gewißheit als Geltungsinstanz aller Erkenntnis akzeptiert werden kann, wird das Ich-Denke 39 die Grundlage (das „ausgezeichnete subjectum" (D 76 ff.)) als „fundamentum inconcussum" 40 alles wissenschaftlichen Wissens. Dem entspricht die Reduktion aller bezweifelbaren Gegenstandserkenntnis. Weil jede Erkenntnis von Gegenständen („Objekten") nur gewiß sein kann, wenn ihre Gewißheit vom intuitiv gewissen IchDenke her „deduziert" wird 41 , entsteht zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstand „eine sie schlechthin scheidende 37

38

39 40 41

Zur Interpretation Heideggers auf dem Hintergrund der Subjektsproblematik vgl. auch W. Schulz: ,Uber den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers'; K. J. Huch: Philosophiegeschicbtliche Voraussetzungen. Zu diesem Begriff des Mathematischen als Entwurf, der die Mathematik als Disziplin überhaupt erst ermöglicht, vgl. Heideggers Die Frage nach dem Ding (D), besonders 49 ff. Meditationes II 3; Discours IV 1 u. a. Meditationes II 1. Vgl. Regulae III.

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Dasein und Sein

Grenze" 42 , die es als notwendig erscheinen läßt, sich vor dem Erkennen über das Erkennen als Werkzeug und Mittel zu verständigen. 43 Descartes hielt eine solche „Erkenntnistheorie" noch für möglich, ohne weiter auf das Wesen des erkennenden Subjekts zu reflektieren, ein Mangel, auf den Heidegger mehrmals hinweist. 44 Die seither für jede Transzendentalphilosophie charakteristische Zurückführung der geltungstheoretischen Problematik auf die subjekttheoretische vollzieht sich eigentlich erst bei Kant, obwohl in gleicher Weise deutlich wird, wie diese von jener motiviert und bestimmt bleibt. Gerade Heidegger hat in seiner Kant-Interpretation darauf hingewiesen, daß die Kantische Grundlegung der Metaphysik bereits die Erkenntnis intendiert, daß „die Begründung der inneren Möglichkeit der Ontologie [...] sich als eine Enthüllung der Transzendenz, d. h. der Subjektivität des menschlichen Subjekts" (K 186) bewerkstelligt, wenn Kant auch „bei der Enthüllung der Subjektivität des Subjekts vor dem von ihm selbst gelegten Grunde zurückweicht" (K 194).45 Descartes' erkenntnistheoretische Frage wird zur Frage nach den Regeln a priori, den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis der Gegenstände und damit zugleich der Gegenstände der Erkenntnis. 46 Die quaestio iuris des Erkennens kann nur in einer Theorie dieser apriorischen, Erkenntnis und Gegenstand erst ermöglichenden Synthesisleistung des Subjekts beantwortet werden, welche Synthesisleistung zugleich das Sein der Subjektivität überhaupt ist. Erst mit Fichte wird allerdings deutlich, daß die so gestellte Frage nach der Subjektivität des Subjekts einen bestimmten Seinsbegriff impliziert und auf Grund dieses Seinsbegriffs in eine unaufhebbare Aporie führt. Die „Tathandlung", die „al42 43 44 45 46

G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes II 67 ff. Vgl. bes. Regulae VIII. Vgl. SZ 22, 24, 46. Vgl. zu Heideggers Kantinterpretation E. Coreth: ,Heidegger und Kant'. Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Β 197.

Das Sein des Daseins als Sorge

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lern Bewußtsein zum Grunde liegt, und es allein möglich macht" 47 , ist die Selbstsetzung des absoluten Subjekts, die im ersten Grundsatz „Ich bin Ich" 48 ausgedrückt wird. Dadurch fallen Sein des seienden Ich und Setzung dieses Seienden in Identität des absoluten Subjekts zusammen, wobei diese Setzung — in Heideggerschen Terminologie — selbstverständlich kein ontisches Produzieren, sondern ein ontologisches Grundgeben ist. 49 „Dasjenige, dessen Sein (Wesen) bloß darin besteht, daß es sich selbst als seiend setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt. So wie es sich setzt, ist es; und so wie es ist, setzt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich schlechthin, und notwendig. Was für sich selbst nicht ist, ist kein Ich." 50 „Sich selbst setzen und Sein sind, vom Ich gebraucht, völlig gleich." 51 Weil das grundsätzliche Sein (Ich bin Ich) Setzung ist, ist Sein eines jeglichen Seienden überhaupt Setzung im Ich: „Alles was ist, ist nur insofern, als es im Ich gesetzt ist, und außer dem Ich ist nichts." 52 Daraus folgt daher für die Kategorie der Realität: „Dasjenige, was durch das bloße Setzen irgendeines Dinges (eines im Ich Gesetzten) gesetzt ist, ist in ihm Realität, ist sein Wesen." 53 Zu dieser auf dem Bewußtseinsargument fußenden Argumentation Fichtes ist zunächst zu bemerken, daß sie grund47 48 49 50 51 52 53

J. G. Fichte: Grundlegung der gesummten Wissenschaftslehre [1794], 255. Ebd. 257. Fichtes Ausdruck „Produzieren" (ζ. B. ebd. 371, 374) darf hier nicht im Sinne eines poietischen Herstellens mißverstanden werden. Ebd. 259. Ebd. 260; ebenso: „Aber das Ich ist, weil es sich setzt und setzt sich, weil es ist. Demnach sind Sich-setzen und Sein Eins und ebendasselbe" (ebd. 293). Vgl. ebd. 261; vgl. „Wenn Α im Ich gesetzt ist, so ist es gesetzt; oder - so ist es" (ebd. 257). Ebd. 261. — Auch für Fichte leitet sich sprachlich und sachlich „Sein" von der Funktion der Kopula her. Das Ist stellt den Ubergang von einer aposteriorischen Bewußtseinsweise auf seine apriorische Bedingung durch Reflexion dar (in dem Beispiel Α ist A): „Ist drückt den Übergang des Ich vom Setzen zur Reflexion über das Gesetzte aus" (ebd. 259).

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Dasein und Sein

sätzlich nicht widerlegt werden kann; auch Heidegger akzeptiert diesen Gedankengang, wenn er nach dem Sein des Seienden vermittels einer Analytik des Daseins fragt. Aber gerade eine solche Analytik des Daseins (als Theorie der Subjektivität des Subjekts) bleibt bei Fichte aus, genauer: wird bei Fichte zunächst unbesehen impliziert. Denn die Aussage, das Sein des Ich sei Setzung durch das Ich, ist keineswegs eine eindeutige Formulierung; es bleibt die Frage, was das Sein des Ich, das Setzung ist, denn als Gesetzes eigentlich ist. Für Fichte stellt sich diese Frage in der frühen Wissenschaftslehre nicht, weil für ihn — im Anschluß an Kant — die Einsicht, daß alle Apriorität eine Apriorität des Subjekts, eine Tathandlung des Subjekts ist (wodurch das Subjekt überhaupt erst Subjekt ist) eine eindeutige und im Grunde unproblematische Einsicht ist. Aber damit ist der eigentlich fragwürdige Punkt angesprochen. Wenn das Sein des Ich durch Setzung des Ich ist, was ist dann eigentlich dieses setzende Ich-Sein und wie kann von ihm gewußt werden? Es ist im Grunde die AisStruktur des Erkennens (hier: der Tathandlung als apriorischem Geschehen), die nicht beachtet wird. Die Frage, die offen bleibt (bzw. voreilig als entschieden betrachtet wird), lautet: Als was ist das Sein des Seienden gesetzt, was ist der Sinn von Sein? Als was wird Sein im Sinne von Ich-Sein gesetzt? 54 Die Fragen zeigen, daß die These vom Sich-Setzen des Ich das Ich dem Wissen von sich selbst nicht vorzustellen vermag; so wird zwar einerseits der Zirkel der Reflexionstheorie der Subjektivität vermieden, andererseits kann jedoch nicht mehr gesagt werden, was das Ich für sich überhaupt ist. 54

Diese Frage kann bei Fichte schon deswegen nicht gestellt werden, weil entsprechend der These vom Sein als Setzung — vgl. den Versuch einer neuen Darstellung — „der Begriff des Seins gar nicht als ein erster und ursprünglicher Begriff angesehen, sondern lediglich als ein abgeleiteter, und zwar durch Gegensatz der Tätigkeit abgeleiteter, also nur als ein negativer Begriff betrachtet wird" (a. a. O. 252). Dabei ist übersehen, daß eine solche („autonomistische") Interpretation von Tätigkeit nur aufgrund einer bestimmten Seinsthese möglich ist, die Heidegger gerade der Kritik unterwerfen will.

Das Sein des Daseins als Sorge

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Es ist dieses Problem, das Fichte zum Überdenken des Ansatzes seiner frühen Wissenschaftslehre zwingt und maßgeblichen Anteil an den immer wieder neuen Versuchen von Systementwürfen der Wissenschaftslehre hat. 55 Die Lösung soll — gemäß dem fragmentarischen Ansatz der Wissenschaftslehre von 1797 — mit Hilfe der Ais-Struktur gewonnen werden: das Ich setzt sich schlechthin als sich setzend. 56 Das Als besagt: das sich setzende Ich legt sich in der Tathandlung des Setzens zugleich als ein solches aus; indem es sich setzt, weiß es darum, und es setzt gerade dieses Wissen. Das Ich als Selbstbewußtsein ist hier zugleich Anschauung (indem es sich setzt, ist es seiner unmittelbar gewiß) und Begriff (es weiß um diesen Sachverhalt). Diese Formel löst zwar das Problem der Begründung des Selbstbewußtseins, aber sie provoziert eine Spaltung des Ich: Indem das Ich um das Setzen seiner selbst weiß, sieht es sich im Moment seiner Genesis und sieht zugleich das unterschiedene Sehen selbst entstehen. Es ist fraglich, wie das gedacht werden kann, ohne daß man einen dem Ich vorausliegenden Grund annimmt, der für die Einheit der differierenden Tätigkeitsmomente entsteht. 57 Damit bleibt die Frage nach der Subjektivität des Subjekts unbeantwortet: Wird gesagt, das Sein werde als gesetztes gesetzt, entsteht das Dilemma, entweder ein Sein vor der Setzung anzunehmen, oder nicht das Wissen um diesen Sachverhalt erklären zu können, weil er ja erst durch die Tathandlung wird. 55 56

57

Vgl. die Darstellung bei D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. „Die Anschauung von welcher hier die Rede ist, ist ein sich Setzen als setzend [...], keineswegs aber etwa ein bloßes Setzen [...]" (J. G. Fichte: Versuch einer neuen Darstellung, 276). In der Tat scheint Fichte hier das „absolute Sein" spätestens von der Darstellung der Wissenschaftslehre (1801) an einführen zu müssen — also schon, um den Begriff des Selbstbewußtseins widerspruchsfrei halten zu können, nicht erst, um Platz für den Gottesgedanken zu gewinnen (Vgl. zur Entwicklung E. Coreth: ,Vom Ich zum absoluten Sein'). Sieht man den entscheidenden Angelpunkt der Philosophie Fichtes im Satz vom Bewußtsein, wird jedoch mit dieser Rede vom „absoluten Sein" eine Konsistenz des Fichteschen Systems zweifelhaft; das Dilemma liegt aber schon im Begriff des Selbstbewußtseins.

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Dasein und Sein

Fichtes ab 1801 bevorzugte metaphorische Formel von der Tätigkeit, der ein Auge eingesetzt ist 58 , scheint diese Schwierigkeit zu vermeiden. Die Einheit der Momente: sich setzendes Ich und sich dabei sehendes Ich ist gewahrt. Ist damit das Ich aber verstehbar, d. h. rekonstruierbar gemacht? 59 Kann die Einheit der Momente des Ich eingesehen werden? Offenkundig liegt in der transzendentalphilosophischen Theorie des Selbstbewußtseins eine unlösbare Aporie: Es muß angenommen werden, daß das Ich eine unmittelbare, tätig-setzende Anschauung seiner ist, wenn überhaupt die Forderung nach dem absoluten Anfang des Wissens einen Sinn haben soll; ferner muß angenommen werden, daß es in diesem tätigen Produzieren ein Wissen um dieses selbst gibt (Begriff). Die Einheit dieser Momente ist jedoch nicht einsichtig. Weder ist deutlich, wie in der Anschauung der Begriff entsteht, noch, wie der Begriff die Anschauung bestimmen kann. Es kann für diese Frage keine Einsicht geben, weil ja diese Einsicht (als Begriff der Einheit von Anschauung und Begriff) das Eingesehene — gemäß dem transzendentalen Grundansatz — selbst erst setzen würde; die Einheit des Ich als absoluter Anfang kann aber nicht durch einen Begriff als etwas vom Anfang Abgeleitetes gesetzt werden. Es kennzeichnet die Situation der Philosophie im Anschluß an Kant und Fichte, daß einerseits die These, Sein sei Setzung der Subjektivität, als notwendig betrachtet wird, daß andererseits die nun erforderliche Theorie der Subjektivität des Subjekts nicht verbindlich aufgestellt werden kann. Aus der Subjektsproblematik, wie sie hier — sehr schematisch — verstanden wurde, lassen sich drei (eng zusammenhängende) Fragen herausstellen: (1) Wie kann die Möglichkeit einer Theorie der Subjektivität eingesehen werden?

58 59

Vgl. J. G. Fichte: Darstellung der Wissenschaftslehre (1801), 168. Vgl. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, 210 ff.

Das Sein des Daseins als Sorge

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(2) Was ist die Existenzweise der im absoluten Ich inbegriffenen apriorischen Strukturen? Welche Art von Erkenntnis bezieht sich auf diese? (3) Wie verhalten sich empirisches und absolutes Ich zueinander? Die Denkbemühungen der Philosophie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die mit Titeln wie Erkenntnistheorie, Psychologie, Psychoanalyse, Anthropologie, Hermeneutik usw. gekennzeichnet werden, sind zuerst als Lösungsversuche dieser Fragen nach der Subjektivität des Subjekts zu verstehen, obwohl sie teilweise — damit den sachlichen Impuls ihrer historischen Entstehung völlig verkennend — wieder in einen vorkritischen Dogmatismus zurückfallen.

6. Die Frage nach der Subjektivität des Subjekts bei Husserl und Heidegger Nachdem Husserl wieder die transzendentale Fragestellung mit Entschiedenheit als methodische Notwendigkeit zu Bewußtsein gebracht hatte, indem er versuchte, die Subjektproblematik aus der Alternative von Psychologismus und Kritizismus (Logizismus) herauszuführen, ist Heideggers Fundamentalontologie in dieser historischen Kontinuität als Versuch zu betrachten, die Frage nach der Subjektivität des Subjekts unter Wahrung des transzendentalphilosophischen Fragerahmens von Grund auf neu zu entwickeln — und das heißt: von einer Destruktion der These vom Sein als Setzung her. Für das Verständnis der These vom Sein des Daseins als Sorge müssen daher folgende Grundmotive der Fundamentalontologie ständig berücksichtigt werden: — Das transzendentale Motiv: Die Frage nach dem Sein muß methodisch mit der Frage nach dem seinsverstehenden Dasein beginnen. Das Dasein als Sorge stellt den methodischen Horizont zur Ermöglichung der Seinsfrage dar.

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Dasein und Sein

— Das ontologische Motiv: Die Frage nach dem Sein des Daseins (Subjektivität des Subjekts) ist eine Seinsfrage. Die These vom Sein des Daseins als Sorge ist (vorläufiges) Resultat einer kritisch-ontologischen Untersuchung. — Das Motiv der Destruktion der Geschichte der Ontologie: Sein kann nicht im idealistischen Sinne Setzung sein. Die These vom Sein des Daseins als Sorge erfüllt in ihrem destruktiven Gehalt eine unmittelbar im Dienste der Seinsfrage stehende Funktion, „denn erst in der Durchführung der Destruktion der ontologischen Überlieferung gewinnt die Seinsfrage ihre wahrhafte Konkretion" (SZ 26). 60 Heideggers zweideutige, Anerkennung wie Ablehnung aussprechende Auseinandersetzung mit Husserl als unmittelbarem Adressaten der destruktiven Aufgabe der Sorgethese ist durch diese Motive bereits begründet: Heidegger übernimmt den grundsätzlichen transzendental-philosophischen Ansatz in seiner „Möglichkeit" (SZ 38), lehnt aber die in ihm implizierte These vom Sein als Setzung ab. Diese Auseinandersetzung Heideggers mit Husserl hat einen literarisch faßbaren Höhepunkt in den Diskussionen um dessen Entwürfe des ,Encyclopaedia-Britannica-Artikels' im Jahre 1927.61 Husserl scheint in diesen Entwürfen eine weitgehende Annäherung an den Heideggerschen Standpunkt vorzunehmen, indem er die transzendentale Phänomenologie als universale Ontologie bestimmt 62 , die auch die Frage nach dem „Sein der transzendentalen Subjektivität selbst" 63 einbezieht. Gerade hier werden jedoch die Unter60

61 62 63

Heideggers alle seine späteren Schriften durchziehende Kritik am Autonomismus des neuzeitlichen Subjektbegriffs, damit die Bereiche Nihilismus — Technik — Tod Gottes usw. im Rahmen der These von der Seinsvergessenheit, sind überhaupt erst auf diesem Hintergrund der fundamentalontologischen Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Metaphysik zu verstehen. Veröffentlicht in E. Husserl: Phänomenologische Psychologie, 237 ff. Vgl. dazu W. Biemel: ,Husserls Encyclopaedia-Britannica-Artikel'. E. Husserl: Phänomenologische Psychologie, 296. Ebd. 297.

Das Sein des Daseins als Sorge

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schiede deutlich. Die transzendentale Ontologie ist für Husserl die apriorische Grunddisziplin für alle positiven Wissenschaften, die durch sie letztbegründet in der transzendentalen Subjektivität wurzeln. 64 „Sein" ist für Husserl gleich „positiv Gesetztsein"; die Seinsfrage fragt also nach dem Sein des positiv Seienden. Sie ist damit der „Scheidung zwischen Positive tat und Transzendentalität" 65 nachgeordnet als Frage nach der Positivität des Positiven. Die Frage nach dem Sein der setzenden Subjektivität dagegen ist für Husserl aufgrund der gesamten Fragestellung entschieden; es ist das „erweisbare Wesen" der Subjektivität, „transzendental in sich und für sich konstituierte zu sein". 66 Dagegen führt Heidegger aus: „Damit ist aber nicht gesagt, das, was den Ort des Transzendentalen ausmacht, sei überhaupt nichts Seiendes — sondern es entspringt gerade das Problem·, welches ist die Seinsart des Seienden, in dem sich ,Welt' konstituiert? Das ist das zentrale Problem von ,Sein und Zeit' — d. h. eine Fundamentalontologie des Daseins."67

Diese Frage kann Heidegger stellen, weil Sein für ihn nicht seiender, daher auch nicht daseinsmäßig seiender Horizont ist. „Universal ist daher das Problem des Seins auf Konstituierendes und Konstituiertes bezogen." 68 So sehr das „es geht um ..." der Sorge den zentralen Gedanken der Intentionalität bei Husserl aufgreift, Heideggers Subjekttheorie also auf dem Boden der Husserlschen entstanden ist, so folgenschwer sind doch die Unterschiede. „Es geht um ..." meint nicht nur und nicht zuerst die ontische Grundstruktur des Bewußtseins, wonach dieses immer Vermeinen 64 65 66

67 68

Vgl. v. a. die Beilage ebd. 519 ff. Ebd. 269. Ebd. 297. — Vgl. E. Husserl: Cartesianische Meditationen, 100. Trotz aller Unterschiede in der Fichteschen und Husserlschen Theorie des Subjekts gilt die für Fichte aufgewiesene Aporie auch für Husserl: Wenn die transzendentale Subjektivität eine für sich konstituierte ist, wie kann es daraus ein phänomenologisches Wissen um diese geben? Brief an Husserl vom 22. Oktober 1927. Veröffentlicht in E. Husserl: Phänomenologische Psychologie, 601 f. Ebd. 602.

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Dasein und Sein

eines Vermeinten ist, sondern die ontologische Einsicht, daß jeder Vollzug ein Vollzug von etwas als etwas im Sinne des hermeneutischen Als ist. 69 Indem die Sorge den methodischen Platz des Bewußtseins übernimmt, mit der Bezogenheit auf Seiendes also auch den Horizont (Interesse, Formalobjekt) dieser Bezogenheit zum Wesen der Subjektivität bestimmt, ist die transzendentale Frage nicht mehr transzendentallogischer oder transzendentalpsychologischer (-ontischer), sondern transzendentalontologischer Natur. Damit werden durch die These von der Sorge die oben angeführten Probleme der klassischen Transzendentalphilosophie als gelöst betrachtet: (1) Wieso kann das Subjekt überhaupt eine Theorie der Subjektivität entwickeln? Diese Frage bleibt sowohl bei Fichte als auch bei Husserl ungeklärt. Das Dasein als Sorge hat Seiendes immer schon als etwas (im Horizont eines Seinsverständnisses) ausgelegt. Es hat damit — das gehört zu seinem Sein — ein zumindest vorontologisches Verständnis von seinem Sein und hat sich zu diesem Sein je schon entschieden (Existenz). „Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtbeit des Daseins" (SZ 12). Ist das Subjekt ein sich selbst Setzendes, ist nicht einzusehen, wieso es dann noch einer Theorie der Subjektivität bedürfte. Ist das Subjekt in seinem Wesen durch Verwiesenheit auf Sein (Endlichkeit, Transzendenz) gekennzeichnet, also dadurch, „daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht" (ebd.), ist es von sich her (transzendental) ontologisch. Erst dadurch kann es wissen, was es als Sorge „selbst" eigentlich ist. 70 (2) Was ist die Existenzweise des Apriori? Diese Frage in bezug auf die Subjektivität des Subjekts bestimmt die Auseinandersetzung zwischen Logizismus und Psychologismus in der nachidealistischen Transzendentalphilosophie. Die These von der Sorge als Sein des Daseins muß als Versuch gewertet 69 70

Vgl. SZ§§ 32, 33, 44 b, 69 b. Vgl. SZ 64.

Das Sein des Daseins als Sorge

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werden, diese Alternative zu sprengen. Die Subjektivität des Subjekts besteht nicht in einem formalen In-Geltung-Setzen von apriorisch-logischen Ideen, aber auch nicht in Weisen des psychisch-genetischen Bewußtseins. Mit der Sorge soll vielmehr das Geltungsproblem gelöst sein, weil aus ihr alle Seinsmodi wie „Realität", „An-sich-sein" usw. begriffen werden können. 71 Dem psychologischen Anliegen ist Rechnung getragen, weil durch den Begriff „Sorge" die Subjektivität des Subjekts eine psychologisch-anthropologische Anschaulichkeit behält, ja sogar zeitlichen Sinn hat, wenn auch nicht in ontisch-genetischer Bedeutung. Nun hatte schon die Husserlsche Phänomenologie versucht, einen Weg der Aprioriforschung zwischen Psychologismus und Logizismus zu gehen. 72 Die Intentionalität als Grundbestimmung des Bewußtseins erlaubt, die geltungstheoretische Problematik durch Reduktion auf die eidetisch-apriorischen Strukturen des transzendentalen Bewußtseins zu lösen. Diese Strukturen sollen (im Gegensatz zu den neukantianischen Ideen) „erfahrbar" sein. „Zu dieser transzendentalen Subjektivität haben wir direkten Zugang durch eine transzendentale Erfahrung." 73 Wie eine solche Erfahrung möglich ist, ohne eine empirisch-psychologische (daher als positiv-transzendente der Reduktion unterliegende) Erfahrung zu sein, kann Husserl nicht einsichtig machen. 74 Die Sorge als Sein des Daseins, dem es immer schon um sein Sein geht, ist eine empirische Erfahrung, die

71 72 73 74

Vgl. SZ §§ 43, 44. Auch Heidegger hat Husserl so verstanden; vgl. SD 83 f. E. Husserl: Phänomenologische Psychologie, 292. Diese Problematik ist von Husserl selbst gesehen worden und ζ. B. in Cartesianische Meditationen unter dem Stichwort der „Selbstkonstitution" des Ich behandelt (vgl. a. a. O. 102). Aber für alle dem transzendentalen Ego zugesprochenen Attribute, ζ. B. die Habitualitäten, gilt, daß sie in der transzendentalen Reduktion eingeklammert werden müssen wie alle immanenten Gegebenheiten (vgl. die Bemerkung R. Ingardens in E. Husserl: Cartesianische Meditationen, 215 — 218). Der Begriff der „Selbstkonstitution" kann im Rahmen des Husserlschen Ansatzes nicht widerspruchsfrei gedacht werden.

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Dasein und Sein

durch Formalisierung den Begriff einer transzendentalen Erfahrung bildet. (3) Dies wird erst voll verständlich, wenn man Heideggers Lösungsversuch des Problems der Zuordnung von empirischer und transzendentaler Subjektivität betrachtet. Für diese Unterscheidung, die bei Husserl durch den methodischen Akt der transzendentalen Reduktion bezeichnet wird, sind zwei Gründe maßgeblich. Einmal bedarf das allgemeingültige Wissen eines Subjektes, in bezug worauf es allgemeingültig ist, auch wenn es von empirischen Subjekten nicht gewußt wird. Zum andern unterliegt die empirische Subjektivität als positive dem Cartesianischen Zweifel. Heidegger merkt daher mit Recht an, daß der Begriff des transzendentalen Ego sich methodisch nicht aus dem Interesse an einer „Ontologie des ganzen Menschen" ergibt, sondern aus der erkenntnistheoretischen Fragestellung entspringt. 75 Da nun aus der Seinsverfassung des Daseins als Sorge als zentraler These der Ontologie des ganzen Menschen resultiert, daß die erkenntnistheoretische Fragestellung aus einer derivativen Auslegung des Sinnes von Sein beruht 76 , kann diese einschließlich der Unterscheidung von faktischer und transzendentaler Subjektivität nicht mehr verbindlich sein. Was in seinem Wesen gerade durch Hinausstehen zu anderem Seienden gekennzeichnet ist (Sorge), kann nicht selbst die Seinsart dieses Seienden haben. „[...] das menschliche Dasein ,ist' so, daß es, obzwar Seiendes, nie lediglich vorhanden ist." 77 Das Problem der Reduktion der empirischen Subjektivität entsteht nicht, weil das empirische Subjekt nicht die Seinsart des positiv-transzendenten Seienden hat. Es ist daher keine geltungstheoretische Naivität, wenn nach Heidegger faktische und transzendentale Subjektivität zusammenfallen: 75 76 77

Brief an Husserl a. a. O. 602. Die erkenntniskritische Aufgabe der Phänomenologie hat Husserl deutlich in seinen Vorlesungen Die Idee der Phänomenologie hervorgehoben. Vgl. bes. SZ §§ 13, 43 a. Anm. v. Heidegger; siehe E. Husserl: Cartesianiscbe Meditationen, 274.

Das Sein des Daseins als Sorge

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„Es gilt zu zeigen, daß die Seinsart des menschlichen Daseins total verschieden ist von der alles anderen Seienden und daß sie als diejenige, die sie ist, gerade in sich die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt. Die transzendentale Konstitution ist eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst. Dieses, der konkrete Mensch ist als solcher — als Seiendes nie eine ,weltlich reale Tatsache', weil der Mensch nie nur vorhanden ist, sondern existiert. Und das ,Wundersame' liegt darin, daß die Existenzverfassung des Daseins die transzendentale Konstitution alles Positiven ermöglicht." 78 D i e transzendentale Subjektivität kann jedoch n u r die faktische sein, w e n n die faktische als transzendentale ausgewiesen w e r d e n kann. Das entscheidende P r o b l e m der p h ä n o m e nologisch-hermeneutischen A p r i o r i f o r s c h u n g lautet daher: Welches M o m e n t der faktischen Subjektivität m u ß betrachtet w e r d e n , damit die Transzendentalität (der „konstituierende E n t w u r f s c h a r a k t e r " ) der faktischen Subjektivität sichtbar w e r d e n kann? Welches E l e m e n t der Faktizität des Transzendentalen schlüsselt die Transzendentalität des Faktischen auf? G e n a u diese Frage bezeichnet Heidegger mit der U b e r s c h r i f t des § 5 v o n Sein und Zeit: „ D i e o n t o l o g i s c h e A n a l y t i k des D a seins als Freilegung des Horizontes f ü r eine Interpretation des Sinnes v o n Sein ü b e r h a u p t " ( S Z 15); anders f o r m u l i e r t : der A s p e k t des Daseins, der betrachtet w e r d e n m u ß , u m Seiendes als Seiendes interpretieren zu k ö n n e n . Dieser faktisch-transzendentale „ A s p e k t " ist die S o r g e (bzw. die Zeitlichkeit als 78

Brief an Husserl, ebd. 601 f. — Wenn gesagt wird, die transzendentale (konstituierende) Subjektivität sei die faktische, dann ist das konkrete Dasein in seinem Wesen gemeint. Es wird also in einer überindividuellen „Neutralität" (WG 38) betrachtet, was immer notwendig ist, wenn überhaupt Aussagen über „den Menschen" gemacht werden sollen. Die Problematik einer hier zugrunde liegenden Seinsunterscheidung zwischen dem Sein des Daseins und individuellen Bestimmungen (wozu nach Heidegger ζ. B. die Geschlechtlichkeit gehört (WG 38)) ist bei ihm nicht weiter reflektiert. Ihre Diskussion dürfte zeigen, daß der Begriff einer „transzendentalen Subjektivität" in einem bestimmten Sinn unverzichtbar ist, wenn es eine intersubjektive Verbindlichkeit philosophischer Aussagen geben soll. Das wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß die Faktizität des Daseins keine empirische, sondern eine apriorische Aussage über den Menschen ist.

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Dasein und Sein

deren Sinn). Das Sein des faktischen Daseins ist die Transzendentalität, d. h. der Ermöglichungsgrund für Transzendenz auf Sein hin. Damit ist der transzendentale Horizont für die Frage nach dem Sein so gekennzeichnet, daß er das Sein der konkreten Subjektivität selbst ist. Die Sorge als Sein des faktischen Daseins bezeichnet zugleich seine Trans^endentalität. So ist auch einsichtig, warum die These von der Sorge auf dem Hintergrund der Frage nach der Subjektivität des Subjekts zu verstehen ist, andererseits aber von Heidegger behauptet wird, er habe „alle Subjektivität des Menschen als Subjekt [...] in ,Sein und Zeit' verlassen" (WW 27)79: Die Sorge als „es geht um ..." enthüllt als Wesen des „Subjekts" gerade seine ek-sistierende Transzendenz. 80 Die transzendentale Urhandlung des Subjekts ist nicht das Sich-als-set%end-Set%en, sondern das Sich-als- Gesetztsein-Set^en.81

7. Ausblick auf die Bedeutung der Heideggerschen These für die Religionsphilosophie Die Kritik an Möglichkeit und Berechtigung religiöser Aussagen ergibt sich für das gegenwärtige wissenschaftliche Bewußtsein meistens aus der Unmöglichkeit der intersubjektiven Verifizierbarkeit solcher Aussagen. Die Forderung nach intersubjektiver Verifizierbarkeit von Aussagen, die in irgendeinem Sinne als verbindlich vorgestellt werden, besagt dabei: Jedes intakte Subjekt muß solche Aussagen erkennen 79 80

81

Vgl. auch Heideggers Stellungnahme zum Vorwurf des Anthropozentrismus, W G 42. Dies ist zu beachten, wenn Sein und Zeit wie bei W. Schulz: ,Über den philosophiegeschichtlichen O r t ' als „ E n d w e r k " der Philosophie der Subjektivität betrachtet wird, weil „das Dasein in seiner Ganzheit aus sich selbst" verstanden ist ( a . a . O . 106). Die Selbst-ständigkeit des Subjekts ist ontologisch durch die Sorge konstituiert (vgl. SZ § 64). Vgl.: „Dasein des geschichtlichen Menschen heißt: Gesetzt-sein als die Bresche, in die die Übergewalt des Seins erscheinend hereinbricht, damit die Bresche selbst am Sein zerbricht" ( E M 124).

Das Sein des Daseins als Sorge

111

können. Das bedeutet nun keineswegs, daß eine bestimmte Zahl von empirischen Subjekten als Kriterium vorgeschrieben ist. Es ist vielmehr durchaus mit der Forderung nach intersubjektiver Verifikation vereinbar, daß wir etwa die Behauptung einer größeren Zahl empirischer Subjekte, sie könne sich gleichzeitig an zwei Örtern befinden, nicht als wissenschaftlich akzeptieren, dagegen die Behauptung einer mathematischen Theorie, die nur von wenigen empirischen Subjekten eingesehen wird, anzunehmen bereit sind. Das zeigt, daß als Kriterium für die Erkennbarkeit ein Begriff vom Wesen des erkennenden Subjekts konstruiert ist (transzendentales Subjekt), der über Geltung von Aussagen unabhängig vom tatsächlichen Erkenntnisakt zu entscheiden in der Lage ist.82 Die im wissenschaftlichen Erkennen liegende Abstraktion der ursprünglichen Welterfahrung ist durch die Absicht motiviert, die (naturale und soziale) Wirklichkeit für das Erkennen so verfügbar zu machen, daß die in ihr liegende Entfremdung, überwunden werden kann. Eine solche Erkenntnis kann nur zugleich verbindlich sein und diesem „emazipatorischen Interesse" (J. Habermas) dienen, wenn sie aus der Selbstgesetzlichkeit des Subjekts entspringt und als eine solche intersubjektiv verifiziert werden kann. Eine Verbindlichkeit, die nicht auf diese Weise verifiziert wird („Offenbarung"), muß auf diesem Hintergrund als anti-emanzipatorisch ausgelegt werden. Der neuzeitliche Begriff der Subjektivität des Subjekts ist in sich schon religionskritisch. Die Religionskritik des 19. Jahrhunderts ist als konsequente Entfaltung dieser Implikation nachzuweisen. Durch Heideggers These von der Sorge ist zunächst die kritische Frage in den Blick gekommen: Was für ein Begriff vom Wesen des Menschen wird vorausgesetzt, wenn gewisse Aussagen a priori für verifizierbar bzw. nicht verifizierbar ge82

Von hierher ist abzusehen, daß das Kriterium der intersubjektiven Verifizierbarkeit und das der Gewißheit eine innere Verwandtschaft aufweisen.

112

Dasein und Sein

halten werden? Sie besagt ferner: Wenn die Subjektivität des Subjekts nicht in der Selbstsetzung, sondern in der transzendentalen Verwiesenheit liegt, ist eine mögliche Offenbarung von sich her dem Wesen des Menschen nicht widersprechend und daher nicht eo ipso entfremdend. 83 Allerdings darf eine solche mögliche Offenbarung nicht ontisch heteronom verstanden werden. Die Selbstheit des Menschen als ontische und logische Erstgegebenheit ist ontologisch durch Verwiesenheit auf Sein konstituiert. Die für eine mögliche Offenbarung notwendig vorausgesetzte Interpretation der Subjektivität des Subjekts als responsorische Aktualität {potentia oboedientialis) hat „ontische Autonomie" und „ontologische Heteronomie" in ihrem gegenseitigen Bedingungs- und Vermittlungsverhältnis zusammenzudenken. Aufgabe einer hier ansetzenden Religionsphilosophie ist es, mit dem Ort einer möglichen Offenbarung im Menschen zugleich deren emanzipatorischen Charakter (auch in seiner gesellschaftlichen Vermitteltheit) zu postulieren. Nur eine Offenbarung, die Freiheit als Bedingung aller Transzendenz akzeptiert 84 , also zugleich als anti-autonomistisch (responsorisch) als auch als anti-heteronomistisch (emanzipatorisch) auszuweisen ist, kann hier eine Chance haben.

83

84

Heideggers Interpretation des Seins des Daseins als Sorge kann so „fundamental-theologisch" relevant werden, wie es beispielsweise K. Rahner: Hörer des Wortes vorgeführt hat. Vgl. WG. Siehe auch C. F. Gethmann: ,Eine Überlegung zum Atheismusproblem'.

Dasein und Erkennen

Zum Wahrheitsbegriff Ε. Tugendhat hat in seiner Untersuchung über den Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger 1 eine philosophische Position herausgestellt, „die mit Heidegger auf die transzendentalphilosophische Voraussetzung einer letzten Begründungsbasis verzichtet und sich dennoch aus Husserls Idee einer universalen kritischen Verantwortlichkeit verstehen würde" (405). Dadurch wird sein Werk zu einer der entscheidenden philosophischen Veröffentlichungen der letzten Jahre. Es zeichnet sich dabei die Möglichkeit einer kritischen Reflexionsphilosophie ab, die von der von K. R. Popper, H. Albert u. a. erhobenen Kritik an der methodischen Vorstellung der Letztbegründung nicht betroffen ist, andererseits aber nicht Gefahr läuft, in die Abgründe eines nicht mehr ausweisbaren Effizienzdenkens zu geraten. 2 Die Basis dieser Position liegt für Tugendhat in der Phänomenologie Husserls. Dieser ist „seit Leibniz der einzige Denker, der die beiden Traditionen des Wahrheitsproblems,

1

2

E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. Seitenzahlen im Text beziehen sich immer auf dieses Werk; vgl. ders.: .Heideggers Idee von Wahrheit'. Vgl. die methodologische Kritik an der Transzendentalphilosophie bei H. Albert: Traktat über kritische Vernunft, bes. Kap. I, die der Argumentation Tugendhats gegenüber dem späten Husserl (vgl. Tugendhat a.a.O. 195) sehr ähnlich ist. Wir lassen hier offen, ob das „Münchhausen-Trilemma" die Idee der transzendentalen Begründung wirklich trifft, denn der Abbruch des deduktiven Begründungsverfahrens soll in der Transzendentalphilosophie gerade nicht willkürlich, sondern seinerseits dadurch begründet sein, daß der absolute Anfang in dem Moment erreicht ist, wo diesem keine „Logik" mehr vorgegeben ist, nach welcher eine nochmalige Begründung gefordert werden könnte.

116

Dasein und Erkennen

die logische und die metaphysische, noch einmal produktiv vereinigt" (5). Ihm kommt daher in der heutigen Situation, die durch das Auseinanderklaffen des Wahrheitsbegriffs der analytischen Philosophie (Tarski) und der Philosophie Heideggers gekennzeichnet ist, die einzig mögliche Vermittlungsposition zu. 3 Die Heideggerkritik Tugendhats läßt sich so zusammenfassen: Heidegger hat den spezifischen Wahrheitsbegriff so ausgeweitet, daß dieser die Funktion einer kritisch-regulativen Idee des Erkennens und Handelns verliert. Dadurch wird die „Idee der kritischen Verantwortlichkeit" (404) schließlich zugunsten einer „vorkritischen Unmittelbarkeit" (405) verlassen, was gleichbedeutend mit der „Selbstaufgabe der Philosophie" (404) ist. Der springende Punkt der Kritik Tugendhats ist hier seine Auffassung vom spezifischen Wahrheitsphänomen, die für seine Auseinandersetzung das ständig zitierte Grundkriterium darstellt. 4 Diesen spezifischen Wahrheitsbegriff bestimmt er folgendermaßen: „Denn wenngleich er [Heidegger] zeigen will, daß es einen weiteren und sogar ursprünglicheren Wahrheitsbegriff gibt, muß sich doch die Rechtmäßigkeit einer Wahrheitsbestimmung zunächst an demjenigen Sinn v o n Wahrheit ausweisen, der der geläufigste und allgemein anerkannte ist. Daß ein Wahrheitsbegriff auf die Aussagewahrheit paßt, ist die Minimalbedingung, die er erfüllen muß, wenn er überhaupt ein Wahrheitsbegriff sein soll" (331).

Hinsichtlich dieser Verfahrensweise der Kritik erhebt sich die grundsätzliche Frage, welche Legitimation die Berufung auf Geläufigkeit und allgemeine Anerkennung hier überhaupt haben kann. Bietet der Husserlsche Wahrheitsbegriff, der der Heideggerkritik von Tugendhat als „formaler Leitfaden" (5) 3

4

Auch an Husserl übt Tugendhat in mehreren wichtigen Punkten Kritik (vgl. bes. 3 6 - 3 8 , 1 1 5 f . , 1 1 8 , 1 2 7 - 1 2 9 ) . Dennoch liefert ihm Husserls Wahrheitslehre die Grundlage, v o n der her Heideggers Wahrheitskonzeption kritisiert wird. Zu Tugendhats Husserl-Interpretation vgl. G. Brand: ,Husserls Lehre'. Vgl. ζ. B. 330, 331, 335, 336, 337, 351, 353, 359, 362, 364, 373, 383, 387, 397, 398, 402, 405.

Zum Wahrheitsbegriff

117

dient, tatsächlich ein adäquates Vorverständnis? Gerade da Heidegger der Meinung ist, ein ursprünglicheres Wahrheitsphänomen gefunden zu haben, kann man nicht die Aussagewahrheit, von der Heidegger ausgeht, zum Kriterium für den behaupteten Ursprung erheben. 5 Auch wenn also zugestanden wird, daß der Wahrheitsbegriff der Aussagewahrheit „Minimalbedingung" für den Erklärungswert einer Wahrheitstheorie ist, muß man bezweifeln, daß damit dieses Wahrheitsphänomen bereits als „spezifisch" betrachtet werden darf, da Heidegger diese Spezifizität gerade bestreitet. So läuft die Diskussion Gefahr, sich von vornherein in der fruchtlosen Form von Behauptung und Gegenbehauptung abzuspielen. Es entstehen zudem Alternativen, die die Interpretation an der Sache vorbeiführen.

1. Heideggers Bestimmung der Aussagewahrheit Die Einwände gegen Tugendhat müssen von seiner Kritik an Heideggers Bestimmung der Aussagewahrheit als Entdekkend-sein ausgehen; aus dieser Kritik ergeben sich die übrigen Vorbehalte Tugendhats gegenüber Heideggers Wahrheitsbegriff „fast deduktiv" (330). Nach Tugendhat liegt der entscheidende Fehler Heideggers darin, daß in der Bestimmung: „Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muß verstanden werden als entdeckend-sein" (SZ 218) stillschweigend der Bezug auf das Seiende, so wie es selbst ist, ausgelassen wird, während Heidegger noch wenige Zeilen vorher diesen Bezug nennt. Während dort noch prinzipiell die Position Husserls vorgebracht wurde, wird hier „der entscheidende Schritt über Husserl hinaus [...] nicht mehr begründet, ja nicht einmal mehr als eigener Schritt kenntlich gemacht" (332). Heideg5

In .Heideggers Idee von Wahrheit' behauptet Tugendhat sogar, auch von Heidegger werde die Aussagewahrheit als die „Primäre" betrachtet (a. a. O. 288). Das ist nur in dem Sinne richtig, als Heidegger die Wahrheitsanalyse mit der Aussagewahrheit beginnt.

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Dasein und Erkennen

gers Bestimmung der Aussagewahrheit führt nach Tugendhat zu der Definition: „Eine Aussage ist wahr, wenn sie das Seiende entdeckt, und sie ist falsch, wenn sie es verdeckt" (333). Damit ist aber der Sinn von Falschheit der Aussage, bei welcher ja auch ein Entdecken des Seienden vorliegt, aber ein Entdecken des Seienden, so wie es selbst nicht ist, verfehlt. Es wird daher überflüssig, von Wahrheit und Falschheit zu reden.6 Diese Kritik ist berechtigt, wenn hier wirklich Heideggers These korrekt wiedergegeben ist. Eine Analyse des § 44 a von Sein und Zeit macht aber deutlich, daß in dem angeführten Satz das „so-wie" nicht etwa ausgelassen ist, weil Heidegger es für überflüssig hielte, sondern weil es für ihn ganz selbstverständlich ist und eine explizite Erwähnung vom Ziel der Argumentation her geschenkt werden kann. Heidegger geht von der herkömmlichen Erklärung der Wahrheit als Übereinstimmung aus. Der in dieser Relation implizierte „Hinblick a u f (SZ 216) ist ungeklärt. Daher muß nach dem „Seinszusammenhang" gefragt werden, der das Relationsgefüge der Übereinstimmung trägt. Die herkömmliche Erklärung erweist sich als ungenügend, weil sie die ontologische Unterscheidung von Realität und Idealität nicht mehr rechtfertigen kann. Daher muß ein Neuansatz für das Wahrheitsproblem versucht werden. Die Ortsbestimmung dieses Neuansatzes (SZ 217, Zeile 10—20) erweist die „Seinsart der Erkenntnis" (ebd.) als den gesuchten Seinszusammenhang. In diesem Zusammenhang wird die Stelle, an welcher sich Erkenntnis als wahre qualifiziert, dadurch ausgemacht, daß diese Erkenntnis den Charakter der „Ausweisung" bzw. „Selbstausweisung" oder „Bewährung" (ebd.) hat. Aus dem nun folgenden Text des § 44 a geht eindeutig hervor, daß das „Entdeckend-sein" der Aussage für Heidegger besagt: Ent6

Tugendhats Kritik weist eine bemerkenswerte Parallele zu der Kritik an Heideggers Wahrheitsbegriff bei W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik, bes. 128, auf. Vgl. C. F. Gethmann: ,Logische Propädeutik als Fundamentalphilosophie?'; siehe dazu auch ders.: ,Die Möglichkeit der Seinsfrage', in diesem Band 51—69.

Zum Wahrheitsbegriff

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decken des Seienden selbst bzw. des Seienden, so wie es selbst ist. Die ganze Ausführung zur Ausweisung als Oft der Wahrheit im Erkenntnisvollzug, die Heidegger an einem Beispiel vorführt (SZ 217, Zeile 21 — 218, Zeile 23), wäre sonst völlig sinnlos. Die Aussagen Heideggers sind hier unmißverständlich: „Das Aussagen ist ein Sein zum seienden Ding selbst. Und was wird durch die Wahrnehmung ausgewiesen? Nichts anderes als daß &s das Seiende selbst ist, das in der Aussage gemeint war. Zur Bewährung kommt, daß das aussagende Sein zum Ausgesagten ein Aufzeigen des Seienden ist, daß es das Seiende, zu dem es ist, entdeckt. Ausgewiesen wird das Entdeckend-sein der Aussage. Dabei bleibt das Erkennen im Ausweisungsvollzug einzig auf das Seiende selbst bezogen. An diesem selbst spielt sich gleichsam die Bewährung ab. Das gemeinte Seiende selbst zeigt sich so, wie es an ihm selbst ist, das heißt, daß es in Selbigkeit so ist, als wie seiend es in der Aussage aufgezeigt, entdeckt wird. [...] Zur Ausweisung steht einzig das Entdecktsein des Seienden selbst, es im Wie seiner Entdecktheit. Diese bewährt sich darin, daß sich das Ausgesagte, das ist das Seiende selbst, als dasselbe zeigt. Bewährung bedeutet: sich geigen des Seienden in Selbigkeit. Die Bewährung vollzieht sich auf dem Grunde eines Sichzeigens des Seienden. Das ist nur so möglich, daß das aussagende und sich bewährende Erkennen seinem ontologischen Sinne nach ein entdeckendes Sein realen Seienden selbst ist" (SZ 218).

Tatsächlich ist damit die Position von Husserl eingenommen (vgl. 332) und Heideggers Anmerkung (SZ 218, Anm. 1) ist als ausdrückliche affirmative Berufung auf Husserl durchaus ernstzunehmen. Für die Konklusion des § 44 a, nämlich daß es zur Aufklärung des Wahrheitsphänomens nicht genügt, das in diesem liegende Beziehungsganze vorauszusetzen, daß vielmehr auf den Seinszusammenhang zurückgefragt werden muß, der die Beziehung (Übereinstimmung) trägt, ist die Feststellung, daß die wahre Aussage das Seiende so entdeckt, wie es selbst ist, eine notwendige Prämisse. Das „so-wie" ist ja gerade die phänomenologisch-deskriptive Darstellung der Relation, die gewöhnlich „Übereinstimmung" heißt und deren Möglichkeitsbedingung als Desiderat weiterer Untersuchung herausgestellt werden soll. Es ist kaum vorstellbar, daß Heidegger die-

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Dasein und Erkennen

sen Gedanken so verstanden wissen will, daß die Konklusion des Gedankens eine ihrer Prämissen, die zu ihm führen soll, negiert. 7 Es ist daher auch Tugendhats Schlußfolgerung nicht zuzustimmen, daß Heidegger den Unterschied „zwischen einem unmittelbaren, gleichsam vordergründigen Gegebensein — Husserls ,bloßer Intention' — und der Sache selbst" (335) nicht berücksichtigt habe. Vielmehr weist Heidegger schon bei seiner Analyse des Phänomenbegriffs auf diesen Unterschied hin (SZ 28 f.). Auf diese Analyse spielt er mehrfach im § 44 an, so, wenn er betont, daß Wahrheit bei Aristoteles „das Seiende im Wie seiner Entdecktheit" (SZ 219) (nicht im Daß seiner Entdecktheit!) meint. Es geht also aus dem Text eindeutig hervor, daß die Aussagewahrheit bzw. -falschheit das Seiende so wie es ist bzw. nicht ist bedeutet. Diese Definition der Aussagewahrheit kann aber keine Lösung sein, sondern ist für Heidegger erst Einstieg in die Problematik, denn die Selbstheit des Seienden ist durch die Ais-Struktur vermittelt. Tugendhat versucht über seine Kritik hinaus Heideggers positiven Beitrag zum Verständnis der Aussagewahrheit herauszustellen. Während bei Husserls Modell der Intentionalität die Schwierigkeit auftaucht, wie ein Akt sein Wahrsein oder Falschsein von einer Gegenständlichkeit beziehen kann, die sich erst im Akt selbst konstituiert, ist der Aussage nach Heidegger im Aufzeigen ein Telos vorgegeben, zu dem Wahrheit und Falschheit als Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung in einem funktionalen Verhältnis stehen. Dieser „potentielle Gewinn" (337), den Tugendhat mit Recht in Heideggers Begriff der Aussagewahrheit sieht, und den er sehr klar in Abhebung von Husserl herausarbeitet (vgl. 337 ff.), muß also gar nicht gegen 7

Auch an Stellen nach SZ 2 1 8 greift Heidegger noch die vollständige Definition auf, ζ. B.: „Auch die ,Allgemeingültigkeit' der Wahrheit ist lediglich darin verwurzelt, daß das Dasein Seiendes an ihm selbst entdecken und freigeben kann. Nur so vermag dieses Seiende an ihm selbst jede mögliche Aussage, das heißt Aufzeigung seiner, zu binden" (SZ 227). Vgl. auch W W 11 f.

Zum Wahrheitsbegriff

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Heidegger eingebracht werden; obwohl Heidegger in Sein und Zeit selbst — wegen der ontologischen Zielsetzung — eine explizite Weiterführung nicht mehr vorgebracht hat. Die Andeutungen vor allem im § 7 b, die Tugendhat einbezieht, weisen aber eine eindeutige Richtung. 2. Aussagewahrheit und transzendentale Wahrheit Warum spricht Heidegger aber in der zusammenfassenden Formulierung (SZ 218) nur vom Entdeckend-sein der Aussage? Wie soeben dargestellt, geht es Heidegger darum, daß die Aussagewahrheit, die durch das „so-wie" („Übereinstimmung") bestimmt ist, auf einer begründenden Wahrheit basiert. Insofern die Aussage entdeckend ist, muß nach der Möglichkeitsbedingung des Entdeckend-seins gefragt werden. Das Entdeckend-sein der Aussage ist also der Ort, an dem nach der ontologischen Bedingung der Möglichkeit der Wahrheit gefragt werden muß. Der Satz „Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muß verstanden werden als entdeckend-sein" (SZ 218) ist daher nicht als vollständige Definition der Aussagewahrheit zu verstehen (diese wurde im Abschnitt vorher gegeben), sondern er soll den springenden Punkt der Argumentation nennen: Die phänomenologische Analyse (Husserl) führt zu der Einsicht, daß die Rede von der „Ubereinstimmung" besagt, das Seiende so auszusagen, wie es selbst ist. Die phänomenologische Analyse reflektiert aber nicht weiter, daß durch diese Bestimmung der Aussage ein „Entdeckungsvermögen" zugesprochen wird; denn wenn die Aussage das Seiende so meint, wie es ist, muß sie als entdeckend-sein verstanden werden. Folglich muß untersucht werden, mit welchem Recht der Aussage ein solches „Vermögen" zugeschrieben wird. Das Entdeckend-sein der Aussage ist es, das zwingt, die Bedingungen der Möglichkeit der Aussagewahrheit zu untersuchen. Gemäß der Fragestellung der Heideggerschen Philosophie muß diese Bedingung eine transzendental-ontologische sein,

122

Dasein und Erkennen

d. h. sie muß im ursprünglichen Seinsverständnis des Menschen beschlossen sein. Die Wahrheitsproblematik des § 44 von Sein und Zeit wird daher einzig und allein im Hinblick auf die Seinsfrage entwickelt. Weil traditionellerweise die Begriffe Sein und Wahrheit „zusammengehen", gilt es, „mit Rücksicht auf die Zuspitzung des Seinsproblems das Wahrheitsproblem ausdrücklich zu umgrenzen und die darin beschlossenen Probleme zu fixieren" (SZ 213). Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Entdecktheit des innerweltlichen Seienden in der Aussage geschieht nun im § 44 b. Wieso kann innerweltliches Seiendes für das Dasein entdeckbar sein und wieso kann Dasein entdeckend sein? Heideggers Antwort: Weil Dasein „wesenhaft seine Erschlossenheit ist" (SZ 221); weil Dasein in der Wahrheit ist. Die Begründung für diese Antwort ist bereits in der Analyse der Weltlichkeit der Welt (§ 18) und der existenzialen Analyse des Da gegeben worden (§ 29). Sie hängt wesentlich mit der Seinsproblematik zusammen. Das Dasein, dem er als Existenz um sein Sein geht, ist Selbsterschlossenheit und zugleich als In-der-Welt-sein Welterschlossenheit. Dasein als Erschlossenheit ist Entwurf, insofern es das Sein des Seienden konstitutiv entwirft. Daher ist dem Dasein ursprünglich alles Seiende gelichtet, insofern es auf das Sein des Seienden bezogen ist. „Mit dem Sein des Daseins und seiner Erschlossenheit ist gleichursprünglich Entdecktheit des innerweltlichen Seienden" (SZ 221). Heidegger spricht mit Recht von einer „Veritas transcendentalis" (SZ 38) in dem doppelten Sinne, daß a priori jedes Seiende erschlossen ist („Universalität"; ebd.), als auch, daß diese Erschlossenheit Bedingung der Möglichkeit für Seiendes überhaupt ist. Mit dieser Rückführung der Aussagewahrheit auf die transzendental-ontologische Wahrheit als ihrer apriorischen Bedingung weitet Heidegger keineswegs den Wahrheitsbegriff bis zur Unkenntlichkeit aus, sondern führt die klassische Lehre von der Wahrheit als transzendentaler (im Sinne der Transzendentalienlehre)8 Seinseigenschaft in die neuzeitliche transzendentale Fragestellung ein. 8

Vgl. bes. Thomas von Aquin: De Veritate. Tugendhat erwähnt diesen

Zum Wahrheitsbegriff

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Tugendhat sieht zwar deutlich, daß die Fragestellung in § 44 b auf die Bedingung der Möglichkeit der Aussagewahrheit zielt (349 ff.). Bei diesem Rückgang wird aber in seiner Sicht gefragt, „was dem zunächst als ,Wahrheit' Vorgegebenen zugrunde liegt, und dies wird dann seinerseits als Wahrheit und als die jeweils ursprünglichere' Wahrheit verstanden. So führt die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit [...] zugleich zu einer Erweiterung des Wahrheitsbegriffs" (349). Hier liegt eine ungerechtfertigte Schlußfolgerung vor. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit kann ja nicht (wenn der Ausdruck „Bedingung der Möglichkeit" überhaupt etwas besagen soll) auf eine „Erweiterung" (329, 330, 345, 349, 350 u. a.) des Begriffes des Bedingten hinauslaufen. Vielmehr muß gefolgert werden: Weil Heidegger sowohl das Bedingte als auch seine Bedingung „Wahrheit" nennt, haben wir es mit zwei äquivoken Wahrheitsbegriffen zu tun, keineswegs mit einer unreflektierten „Zweideutigkeit" (333). In seinem Vortrag ,Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens' (SD 61 — 80) hat Heidegger auf diese Äquivokation hingewiesen, die er jetzt als „nicht sachgemäß und demzufolge irreführend" (SD 77) betrachtet. „Sofern man Wahrheit im überlieferten natürlichen' Sinn als die am Seienden ausgewiesene Ubereinstimmung der Erkenntnis mit dem Seienden versteht, aber auch, sofern die Wahrheit als die Gewißheit des Wissens vom Sein ausgelegt wird, darf die 'Αλήθεια, die Unverborgenheit im Sinne der Lichtung, nicht mit der Wahrheit gleichgesetzt werden. Vielmehr gewährt die 'Αλήθεια, die Unverborgenheit als Lichtung gedacht, erst die Möglichkeit von Wahrheit. Denn die Wahrheit kann selbst ebenso wie Sein und Denken nur im Element der Lichtung das sein, was sie ist. Evidenz, Gewißheit jeder Stufe, jede Art von Verifikation der Veritas, bewegen sich schon mit dieser im Bereich der waltenden Lichtung" (SD 76).

Wahrheitsbegriff nur beiläufig (372, Anm. 3). Die Auffassung von der transzendentalen Wahrheit spielte gerade unter dem Einfluß Heideggers in der Neuscholastik wieder eine wichtige Rolle: vgl. J. B. Lötz: Metaphjsica, 1 8 0 - 1 9 9 ; E. Coreth: Metaphysik, 3 4 2 - 3 6 2 .

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Wenn Tugendhat nun einwendet, „daß hier gar nicht nach der spezifischen Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit gefragt wird, sondern nach der Bedingung der Möglichkeit eines Begegnenkönnens überhaupt" (350), so liegt darin gar keine echte Alternative. Denn die Frage nach der Möglichkeitsbedingung wird von Heidegger gerade so entwickelt: Husserls Bestimmung der Aussagewahrheit setzt voraus, daß es überhaupt ein Begegnenkönnen gibt; was ist also die Bedingung der Möglichkeit dieses Begegnenkönnens? Tugendhat sieht aber in dieser fortschreitenden Argumentation nicht die Charakteristik eines Bedingungsverhältnisses, sondern die fortlaufende ungerechtfertigte „Erweiterung" des „spezifischen" Wahrheitsbegriffes, die bis zur „verbalefn] Gleichsetzung von Erschlossenheit und Wahrheit" (351) führt. Hinsichtlich der von Tugendhat gestellten Frage (335, Anm. 22), ob die Lehre von der Wahrheit als Übereinstimmung ein legitimer, wenn auch abkünftiger Modus der ursprünglichen Wahrheit ist oder eine schlechte Interpretation, muß man daher wohl antworten: Wenn diese Übereinstimmung nicht als Übereinstimmung zweier vorhandener Seiender, nämlich einem realen und einem idealen, angesehen wird, sondern als Relation im Sinne des „so-wie", ist dieser Begriff von Wahrheit die legitime, wenn auch bloß fundierte Bestimmung der Aussagewahrheit. Daß die von der Aussagewahrheit vorausgesetzte ontologische Wahrheit (Seinshorizont) von Tugendhat völlig übersprungen wird, beweist seine Stellungnahme zur Notwendigkeit der Wahrheitsvoraussetzung (SZ §44c). Tugendhat bringt zu Heideggers Satz: „Weil zum Sein des Daseins dieses Sichvoraussetzen gehört, müssen ,wir' auch ,uns', als durch Erschlossenheit bestimmt, voraussetzen" (SZ 228) folgende Kritik vor: „Die Frage, ob wir voraussetzen können, daß es Wahrheit gibt, wird durch die Gleichsetzung von Wahrheit und Erschlossenheit zur Trivialität. [...] In dieser Argumentation zeigt sich so drastisch wie an keiner anderen Stelle von SuZ, wie Heidegger den spezifischen Wahrheitsbegriff auflöst. Die Frage nach der Möglichkeit der Wahrheit — einer ausgezeichneten Er-

Zum Wahrheitsbegriff

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schlossenheit — wird mit dem Hinweis auf das allgemeine Faktum der Erschlossenheit überhaupt beantwortet" (347, Anm. 30).

Tugendhat interpretiert also Heideggers Aussage als Aussage über die Aussagewahrheit, denn nur von dieser kann gesagt werden, sie sei eine „ausgezeichnete Erschlossenheit". Die Frage nach der Wahrheitsvoraussetzung bewegt sich aber in § 44 c schon längst auf der Ebene der ontologischen Wahrheit, die „vorausgesetzt" werden muß, wenn es überhaupt Aussagewahrheit geben soll. Nachdem zu Ende des § 44 b festgestellt wurde, daß die ontologische Wahrheit ein Existenzial, also eine a priori vorausgesetzte (transzendentale) Struktur des daseinsmäßigen Seinsvollzuges ist, stellt sich jetzt die Frage nach dem „Sinn der Wahrheitsvoraussetzung" (SZ 227). Der Ansatz zur Beantwortung liegt in der expliziten Definition dessen, was überhaupt transzendental-ontologische Wahrheit besagt: „Nicht wir setzen die ,Wahrheit' voraus, sondern sie ist es, die ontologisch überhaupt möglich macht, daß wir so sein können, daß wir etwas ,voraussetzen'. Wahrheit ermöglicht erst so etwas wie Voraussetzung" (SZ 227 f.). Die Erschlossenheit des Seienden gründet in der Selbsterschlossenheit (Selbstgelichtetheit) des Daseins; dem Dasein geht es unthematisch immer schon um sein Sein, und dadurch hat es Seins Verständnis. Wahrheit des Seienden (Eröffnetheit des Seins des Seienden) ist ursprünglich die Wahrheit, die die Existenz selbst ist. Die Wahrheitsvoraussetzung ist daher im strengsten Sinne transzendentales Apriori: „Die Wahrheitsvoraussetzung müssen wir ,machen', weil sie mit dem Sein des ,wir' schon ,gemacht' ist" (SZ 228). Indem überhaupt Subjektivität ist, ist der Bereich des Seienden bereits erschlossen, und zwar aufgrund der apriorischen Bekanntheit des Seins von Seiendem. Die transzendentale Wahrheit ist diejenige, die „als Erschlossenheit des Daseins" (ebd.) sein muß. 9

9

Vgl. die Einführung des Begriffs der transzendentalen Wahrheit: „Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von Sein) ist Veritas transcendental" (SZ 38).

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Dasein und Erkennen

Selbstverständlich ist die transzendental-ontologische Wahrheit n u r eine „conditio sine qua n o n " (351; vgl. 376) der Aussagewahrheit; es k o m m t Heidegger nicht darauf an zu zeigen, aus welchen Prinzipien sich die Aussagewahrheit vollständig herleiten läßt, sondern daß die Aussagewahrheit auch durch die ontologische Wahrheit bedingt ist u n d dadurch die Zusammengehörigkeit v o n Sein u n d Wahrheit aufgewiesen ist; gerade darin liegt der hermeneutische Charakter der Heideggerschen P h ä n o m e n o l o g i e begründet, daß das Sein nicht ein universales Deduktionsprinzip ist. Diese Auslegung bestätigt sich n o c h einmal durch die Problematik der Falschheit der Aussage. N a c h Tugendhats Interpretation ist es Heideggers Vorstellung, daß eine Aussage dann falsch ist, w e n n sie verdeckend ist. D e m g e g e n ü b e r kann kein Zweifel sein: Wenn die wahre Aussage eine solche ist, die sich bewährt, d. h. die das Seiende so zeigt, wie es selbst ist, dann ist die falsche Aussage eine solche, die sich nicht bewährt, d. h. die das Seiende nicht so zeigt, wie es selbst ist. Aber nicht diese Frage steht bei Heidegger im Z e n t r u m des Interesses, sondern die nach der Bedingung der Möglichkeit dafür, daß es Falschheit geben kann. Hier betont Heidegger hinsichtlich der Veritas transcendentalis: „Diese Aussage hat ontologischen Sinn. Sie meint nicht, daß das Dasein ontisch immer auch oder auch n u r je ,in alle Wahrheit' eingeführt sei, sondern daß zu seiner existenzialen Verfassung Erschlossenheit seines eigensten Seins g e h ö r t " (SZ 221). Auf der E b e n e der Veritas transcendentalis m u ß daher auch die Falschheit eine Möglichkeitsbedingung haben. Heidegger sieht diese in der Verfallenheit als wesenhafter Tendenz zur Unwahrheit (Verstelltheit, Verborgenheit). Dieses Verdekkend-sein ist nicht die Definition der Aussagefalschheit, sondern ihre transzendental-ontologische Bedingung. „Das Dasein ist, weil wesenhaft verfallend, seiner Seinsverfassung nach in der ,Unwahrheit'. Dieser Titel ist hier ebenso wie der Ausdruck ,Verfallen' ontologisch gebraucht. [...] Zur Fakti^ität des Daseins gehören Verschlossenheit und Verdecktheit. Der volle existenzial-ontologische Sinn des Satzes ,Dasein ist in der Wahrheit' sagt gleichursprünglich mit: ,Dasein ist in der

Zum Wahrheitsbegriff

127

Unwahrheit'. Aber nur sofern Dasein erschlossen ist, ist es auch verschlossen; und sofern mit dem Dasein je schon innerweltliches Seiendes entdeckt ist, ist dergleichen Seiendes als mögliches innerweltlich Begegnendes verdeckt (verborgen) oder verstellt" (SZ 222).

Aussagewahrheit und -falschheit als Entdecktheit des Seienden so wie es selbst ist bzw. nicht ist haben also ihren transzendentalen Ursprung in der transzendentalen Wahrheit, die zugleich eine Verdeckungstendenz in sich hat. Wenn Tugendhat in seinem Aufsatz zusammenfassend urteilt: „Was Heidegger durch seine Argumentation erreicht, ist also nur die Position Husserls, und der entscheidende Schritt über Husserl hinaus wird nicht mehr begründet, ja nicht einmal als eigener Schritt kenntlich gemacht" 10 , so ist dem insofern zuzustimmen, als Heidegger hinsichtlich der Aussagewahrheit prinzipiell die Position von Husserl vertritt. Diese wird als explanandum vorausgesetzt. Die Interpretation des Schrittes über Husserl hinaus ist aber ein MißVerständnis. Der wirklich neue Schritt liegt in der Veritas transcendentalis, und dieser ist ebenso kenntlich gemacht wie begründet. Er ist eine Antwort auf die Frage — wie Heidegger bei seiner Stellungnahme zur Widerlegung des Skeptizismus ausführt —, „worin der ontologische Grund für diesen notwendigen Seinszusammenhang von Aussage und Wahrheit liegt" (SZ 228). Wenn Tugendhat die Heideggersche Theorie von Aussagewahrheit und -falschheit so zusammenfaßt: „Eine Aussage ist wahr, wenn sie das Seiende entdeckt, und sie ist falsch, wenn sie es verdeckt" (333), dann wird hier das explanans mit dem explanandum, die Bedingung mit dem Bedingten konfundiert. 11 Durch seine unkritische Orientierung am

10 11

E. Tugendhat: ,Heideggers Idee von Wahrheit', 289. Wie sich bei Tugendhat diese Ebenen vermischen, belegt auch folgende kritische Bemerkung: „Wenn wir nach der Wahrheit einer Sache fragen, fragen wir weder nach ihrer Offenbarkeit, noch nach ihrer Verborgenheit, sondern danach, wie sie selbst ist, und das ist uns (normalerweise) faktisch verborgen, kann uns aber (normalerweise, wenn auch vielleicht nur teilweise) offenbar werden" (395).

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„spezifischen Wahrheitsbegriff' verfehlt Tugendhat die Absicht Heideggers, nicht die Aussagewahrheit, sondern deren ontologische Bedingung zu bestimmen. 3. Wahrheit des Seins und Geschichtlichkeit der Wahrheit Tugendhats Mißverständnis wurzelt darin, daß er Heideggers Aussagen wie einen Traktat über die Aussagewahrheit interpretiert, während Heideggers knappe Ausführungen einzig den Sinn haben, auf die jede Aussagewahrheit bedingende „Wahrheit des Seins" hinzuweisen. Diese Aufgabenstellung wird mehrfach betont (vgl. SZ 154, 213) und läßt sich auch am Resultat der Überlegungen zum Wahrheitsbegriff ablesen: „Das Sein der Wahrheit steht in ursprünglichem Zusammenhang mit dem Dasein. [...] Sein und Wahrheit ,sind' gleichursprünglich" (SZ 230). Damit ist lediglich expliziert, was im Begriff der Existenz bzw. Sorge als Seinsverständnis bereits mitgesagt ist. Das apriorische Bekanntsein (transzendentale Wahrheit, Offenbarkeit) des Seins ist Bedingung für alle ontischen Wahrheitsphänomene, somit auch die Aussagewahrheit. Das Sein jeder Form von Wahrheit gründet in der Wahrheit des Seins. Von dieser Konklusion her mag deutlich werden, wie eine Interpretation des Heideggerschen Wahrheitsverständnisses an seinen Intentionen vorbeisieht, die die Wahrheitsfrage nicht im Zusammenhang mit der Seinsfrage auseinanderlegt. Gegenüber der Seinsfrage meldet Tugendhat jedoch grundsätzliche Vorbehalte an, wonach bezweifelt werden müsse, „ob, was Heidegger meint, überhaupt noch legitim als ,Sein' bezeichnet werden kann (277, Anm. 13). 12 Aufgrund dieses Vorbehaltes glaubt Tugendhat, die Seinsfrage für die systematische Interpretation ausklammern zu können, ohne zu beachten, daß dadurch der hermeneutische Sinn des Seinsverständnisses als Horizont, in welchem alles Seiende offenbar (wahr) ist, aus dem Blick gerät. 12

Vgl. E. Tugendhat: ,Die sprachanalytische Kritik'.

Zum Wahrheitsbegriff

129

Das Sein als Wahrheit hat hermeneutischen Charakter vor allem in dem Sinn, daß es zwar Horizont der Auslegung, nicht aber Prinzip der Deduktion ist. Als Horizont der Auslegung ist es nur als deren konstitutives Moment ansprechbar und außerhalb dieser Auslegung kann von Sein gar nicht sinnvoll gesprochen werden. Heidegger hebt die hermeneutische Struktur der Wahrheit des Seins in dem Satz heraus: „Wahrheit ,gibt es' nur, sofern und solange Dasein ist" (SZ 226).13 Danach ist das Seiende in seinem Sein dem Dasein nicht offenbar (es ist nicht wahr), wenn es keinen Daseinsvollzug gibt. Die Aussage: Sein ist nur Sein im Vollzug, basiert auf der trivialen Feststellung: Dem Dasein kann nichts offenbar (wahr) sein, was ihm nicht offenbar ist. In der ekstatisch-transzendentalen Offenheit des Menschen ist die Identität von daseinsmäßigem und nichtdaseinsmäßigem Seienden a priori vollzogen; es besteht eine „existen^iale Selbigkeit des Erschließens mit dem Erschlossenen'''' (SZ 188). Die Betonung muß hier auf „existenzial" liegen: Gemeint ist eine ontologische Selbigkeit, die jeder ontischen Differenz begründend und bedingend vorausliegt. Damit ist aber keinesfalls gesagt, daß das Seiende von der Spontanität des ontischen Handelns (Erkennens usw.) abhängig sei. Das Seiende wird im Seinsverständnis überhaupt erst so erschlossen, daß es von der Aussage entdeckt werden kann, denn Seiendes kann immer nur als Seiendes entdeckt werden. Dieser hermeneutische Horizont ist im Seinsverständnis entworfen. Insofern ist das Entdeckte der wahren Aussage durchaus das Seiende, denn dieses wird keineswegs erst durch das Entdecken der Aussage konstituiert, wie Tugendhat interpretiert (342 f.). Die Ais-Struktur der Aussage vom Seienden entsteht nicht erst durch das Aussagen

13

Aussagen dieser Art finden sich in Sein und Zeit häufig: ζ. B. „Sein aber ,ist' nur im Verstehen des Seienden, zu dessen Sein so etwas wie Seinsverständnis gehört" (SZ 183). „Allerdings nur, solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ,gibt es' Sein" (SZ 212). „Sein — nicht Seiendes — ,gibt' es nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein ist" (SZ 230).

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Dasein und Erkennen

(das müßte zu einem schlechten Idealismus führen), sondern ist durch das Seinsvermögen als transzendentale Wahrheit des Seienden ausgemacht. Im gleichen Sinne versucht Heidegger im § 25 von Kant und das Problem der Metaphysik auch die Kantische Unterscheidung von empirischem und transzendentalem Gegenstand, Erscheinung und Ding an sich zu interpretieren. Den transzendentalen Gegenstand nennt Kant X, weil wir nichts von ihm wissen können. „Es ist aber nicht deshalb nicht wißbar, weil dieses X als ein Seiendes ,hinter' einer Schicht von Erscheinungen versteckt liegt, sondern weil es schlechthin kein möglicher Gegenstand eines Wissens, d. h. des Besitzes einer Erkenntnis von Seiendem werden kann" (K 114). Das X ist nicht ein Seiendes, das sich von anderem nur dadurch unterscheidet, daß es unerkennbar ist, sondern „seinem Wesen nach reiner Horizont" (ebd.) von Seiendem. „Das X ist g e genständ überhaupt'. Das bedeutet nicht: ein allgemeines, unbestimmtes gegenstehendes Seiendes. Dieser Ausdruck meint vielmehr das, was im vorhinein den Uberschlag über alle möglichen Gegenstände als gegenstehende ausmacht, den Horizont eines Gegenstehens. Dieser Horizont ist freilich nicht Gegenstand, sondern ein Nichts, wenn Gegenstand so viel bedeutet wie thematisch erfaßtes Seiendes" (K 115). Die Wahrheit, die diesem horizonthaften „Gegenstand" entspricht, heißt „transzendentale Wahrheit", weil sie die ursprünglich gelichtete Transzendenz ist, in der das Sein des Seienden vorgängig, d. h. vor jeder Erfassung von Erscheinungen offenbar wird. Der apriorische Horizont des Seins liegt der Zweiheit von Subjekt und Erscheinung begründend voraus. „Das ein Erfahren Ermöglichende ermöglicht zugleich das Erfahrbare, bzw. Erfahrene als ein solches. Das sagt: Transzendenz macht einem endlichen Wesen das Seiende an ihm selbst zugänglich" (K 111). Von dieser hermeneutisch-apriorischen Funktion der transzendentalen Wahrheit her ist Heideggers Aussage über die Wahrheit der Gesetze Newtons zu interpretieren (SZ 226 f.). Heidegger will verdeutlichen, daß Dasein überhaupt konsti-

Zum Wahrheitsbegriff

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tutiv für Wahrheit ist, weil das Seiende, insofern es durch die Gesetze Newtons überhaupt erst erkannt wird, nicht vorher gewesen sein kann. Der Satz bedeutet nicht, daß das Seiende, das als durch die Gesetze Newtons geregeltes erkannt wird, nicht auch schon vorher gewesen sein kann. Die Wahrheit ist eben nicht nur durch das Dasein, sie ist keine Produktion. Tugendhat ist der Meinung (344 f.), daß Heidegger hier die faktische Aussage und die Aussage in specie (als Handlungsschema) nicht unterscheidet. Dieser Vorwurf ist aber wenig plausibel. Würde Heidegger mit der These lediglich sagen wollen, daß eine faktische Aussage nicht vor ihrem faktischen Vollzug wahr genannt werden kann, wäre die These von nichtssagender Trivialität. Obwohl sich bei Heidegger eine Unterscheidung zwischen konkretem Akt und Aussage in specie nicht findet, wird man sagen dürfen, daß Heidegger überhaupt nur die Aussage in specie behandelt. Die Philosophie betrachtet immer nur das Aussagen in specie als Aussage der „transzendentalen Subjektivität". Auch hier gilt, „daß die Philosophie das ,Apriori' und nicht,empirische Tatsachen' als solche zum Thema hat" (SZ 229). Insoweit akzeptiert Heidegger die Rede vom „idealen Subjekt". Es kommt ihm also gerade darauf an, ontische und ontologische Ebene auseinanderzuhalten, wie sich in den Anführungszeichen des „es gibt" zeigt, die hier wie häufig signalisieren sollen, daß ein Ausdruck in ontologischer und nicht in ontischer Bedeutung zu nehmen ist. Der Satz über die Gesetze Newtons will also keineswegs die Überindividualität der Wahrheit leugnen, sondern lediglich ihre Subjektivität unterstreichen. Seiendes ist durch das entwerfende Dasein konstituiert. Daher ist es dem Entwurf selbst a priori offenbar. Wird nun der transzendental-ontologische Konstitutionsprozeß vom konstituierten Seienden selbst substrahiert, bleibt lediglich ein X, bei dem es sinnlos ist, über Wahrheit und Falschheit zu sprechen. Es könnte ja erst dadurch in den Bereich möglicher Wahrheit oder Falschheit gelangen, daß es konstituiert würde. Wird dadurch nicht aber ein Idealismus der Wahrheit begründet, der jeden gegenständlichen Sinn von Wahrheit auf-

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Dasein und Erkennen

hebt? Tugendhats Kritik läuft auf diesen Punkt hinaus, wenn er einwendet: „Wenn ein Sachverhalt, solange er überhaupt nicht bekannt ist, noch nicht wahr ist, dann wäre es wohl auch konsequent zu sagen, daß er aufhört, wahr zu sein, wenn er gerade von niemandem beachtet wird, und daß seine Wahrheit wächst, von je mehr Menschen er beachtet wird" (344).

Dieser Verdacht kann nur aufkommen, wenn man der Auffassung ist, die Ais-Struktur des Seienden werde durch die Aussage in specie erst konstituiert. Wird dann auch noch das Seiende auf die Aussage in specie bezogen, ist das Seiende reine Produktion — eine tatsächlich unsinnige These. Die Ais-Struktur des Seienden ist aber das Seinsverständnis, das die Entdeckungspotenz der Aussage erst begründet. Gerade am Beispiel der Gesetze Newtons demonstriert Heidegger den Sinn dieser These sehr treffend. Die Gesetze Newtons sind vor Newton noch nicht wahr, weil das Seins Verständnis, das das von den Gesetzen Newtons betroffene Seiende konstituiert (Sein als Regelmäßigkeit) vor Newton noch nicht gegeben war, sondern der mathematische Seinsentwurf erst am Beginn der Neuzeit gültig wird. Heidegger hat in seiner Schrift Die Frage nach dem Ding, die Tugendhat nicht berücksichtigt, den Sinn dieser These genauer erläutert. 14 Nicht Heidegger, sondern Tugendhat verwechselt also ontische mit ontologischer Ebene (vgl. 345). Daß das Seiende ontisch gesehen vom Aussagevollzug unabhängig ist, ist für Heidegger selbstverständlich. 15 Das Sein des Seienden ist aber vom Seinsverständnis abhängig; nun ist das Seinsverständnis auch Bedingung der Entdeckungspotenz der Aussage; also ist die Wahrheit einer Aussage (in specie!) vom Seinsverständnis abhängig. Aus diesem Grunde ist die Frage, ob die Gesetze Newtons vor Newton wahr waren, inadäquat. Sie wurden

14

15

Vgl. bes. D 59—68. Die Richtigkeit der These v o m Einsetzen des mathematischen Seinsverständnisses am Beginn der Neuzeit braucht hier nicht diskutiert zu werden. S. o. Anm. 13.

Zum Wahrheitsbegriff

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„durch Newton" (besser: durch das mit Newton anbrechende mathematische Seinsverständnis) wahr. Das entscheidend Neue der Heideggerschen Wahrheitskonzeption liegt nicht primär darin, daß die „funktional-apophantische Auffassung der Aussage [...] der statisch inten tionalen überlegen [ist]". 16 Diese „Dynamisierung" ergibt sich gar nicht auf der Ebene der Aussagewahrheit, sondern ist ein Phänomen der veritas transcendentalis. Dieses macht es erst möglich, die Aussagewahrheit selbst als prozeßhaft zu begreifen. Die Problematik um die Gesetze Newtons zeigt nämlich, daß der Einsatzpunkt der Frage nach der Geschichtlichkeit der Wahrheit nicht die jeweilige Historizität des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses ist, sondern die Bedingtheit durch das Seins Verständnis. Mit der Geschichtlichkeit der Wahrheit ist primär die ontologische Wahrheit angesprochen. Die Geschichte des Seins kommt damit an den Ort der ursprünglichen Transzendentalität des Denkens, weswegen auch die übliche Auffassung, die Kehre bestünde in der Abkehr von der Transzendentalphilosophie (272 ff., 377 ff.), zu undifferenziert bleibt. „Die Wahrheit ist geschichtlich" heißt: Die Weise, wie uns Seiendes im Horizont der Wahrheit offenbart (wahr) ist, hängt in einer schicksalsbestimmenden Weise von unserem Verständnis von Sein ab. Heidegger sieht daher den Sinn der Rede von der Geschichtlichkeit der Wahrheit darin, „daß das Wesen der Wahrheit nicht das leere ,Generelle' einer ,abstrakten' Allgemeinheit ist, sondern das sich verbergende Einzige der einmaligen Geschichte der Entbergung des , Sinnes' dessen, was wir das Sein nennen und seit langem nur als das Seiende im Ganzen zu bedenken gewohnt sind" (WW 25). Die Problematik bewegt sich nicht auf der Ebene der Aussagewahrheit, weshalb sich die Frage des historischen Relativismus der Aussagewahrheit gar nicht stellt (vgl. 346), sondern auf der Ebene der ontologischen Bedingungen, auf der

16

E. Tugendhat: ,Heideggers Idee von Wahrheit', 293.

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es erst möglich wird, das Verhältnis von historischer Bedingtheit und Geltung sowie die spezifische Wahrheitsform historischer Erkenntnis aufzuklären. Es ist daher nicht überraschend, daß Tugendhat feststellt: „Konkrete Überlegungen, wie das geschichtliche Selbstverständnis sich auf Wahrheit beziehen kann, fehlen [...] bei Heidegger völlig" (358).

4. Die Idee des kritischen Bewußtseins Nach Tugendhat muß aus der Heideggerschen Wahrheitskonzeption eine Preisgabe der Idee des kritischen Bewußtseins folgen, weil sie den Anschein erweckt, „als gehöre die Notwendigkeit der Ausweisung überhaupt nicht wesensmäßig zum Sinn von Wahrheit" (359). Dieser Vorwurf ist insofern nicht berechtigt, als Heidegger durchaus Bewährung bzw. Ausweisung als Konstituens der Aussagewahrheit 17 betrachtet; ferner ist darauf hinzuweisen, daß Heidegger diesen Sachverhalt nicht weiter expliziert hat, weil es ihm nicht um eine Untersuchung der Aussagewahrheit als solcher ging, sondern um den Nachweis des Seinsverständnisses als ontologischer Bedingung der Aussagewahrheit. Dennoch ist Tugendhats Kritik in einem sehr wesentlichen Sinne zuzustimmen. Weil die Philosophie selbst Aussagen macht, die wahr sein sollen, ist — zumal, wenn der Ausweisung ihre Notwendigkeit zugestanden wird — eine Ausweisung der philosophischen Aussagen selbst zu erwarten. Nicht eine Theorie der Ausweisung, wohl aber Ausweisung der vorgetragenen Theorie kann billigerweise gefordert werden. Heidegger hat in Sein und Zeit diese Notwendigkeit durchaus noch gesehen, wenn er beispielsweise am Ende der Überlegungen zum Wahrheitsbegriff eine „wissenschaftstheoretische" Rückbesinnung auf das fordert, „was zum Begriff einer

17

Vgl. SZ 217 f. — Vgl. auch die Betonung der Ausweisung in W G und des Maßes in WW, auf die Tugendhat selbst hinweist (365 ff., 373 ff.).

Zum Wahrheitsbegriff

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Wissenschaft vom Sein als solchem, seinen Möglichkeiten und Abwandlungen gehört" (SZ 230). Zwar wird eine entsprechende methodische Reflexion in Sein und Zeit verstreut und bruchstückhaft mit durchgeführt, aber nicht so, daß die Explikation der Seinsfrage selbst hinreichend kritisch einsichtig würde. Für die Philosophie nach der Kehre gibt es zwar nach unserer Interpretation keinen Grund, die Notwendigkeit der Ausweisung auszuschalten (vgl. 370). Denn wenn auch die Idee des kritischen Bewußtseins selbst nur auf der Basis eines bestimmten (neuzeitlichen) Seinsverständnisses möglich ist, so muß dieses Seinsverständnis doch so akzeptiert werden, daß die These von der Seinsgeschichte selbst ihre kritische Rechtfertigung erfährt. 18 Während also Sein und Zeit noch von der Absicht der Ausweitung gekennzeichnet ist, erwecken Heideggers spätere Schriften durchaus den Eindruck einer „vorkritischen Unmittelbarkeit". So wird zwar eine rationalistische Geschichtskonstruktion vermieden, stattdessen aber der Eindruck einer fatalistischen Geschichtsmystik provoziert. Gerade wenn die These von der Geschichte des Seins weder das eine noch das andere sein, sondern die ontologische Bedingtheit des Menschen voll einsichtig machen soll, muß sie sich selbst gegen-

18

Gegenüber den Einwänden, die O. Pöggeler in seiner Besprechung von Tugendhats Buch erhebt, stimmen wir mit Tugendhat darin überein, daß das eigentlich kritische Potential der Philosophie Heideggers in SZ liegt. Auch wenn es wahr sein sollte, daß Heidegger die Fundamentalontologie später als „Irrweg" (O. Pöggeler: ,Der Wahrheitsbegriff, 382) abgelehnt hat, bleibt die Frage, ob man diesem selbstinterpretierenden Urteil Heideggers folgen soll. Die Bewertung wird auch davon abhängen, inwieweit in Heideggers später Philosophie tatsächlich noch die „spekulative Mitte" (384; vgl. O. Pöggeler:,Heidegger heute', 48) aufgewiesen werden kann, die nach Pöggeler an die Stelle des Gedankens der kritischen Begründung bei Heidegger getreten ist. — Vgl. zur Gesamtproblematik C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung.

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über dem Anspruch des kritischen Bewußtseins ausweisen. Tugendhats Forderung ist insofern voll zuzustimmen, als die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der Idee des kritischen Bewußtseins die Geltung ihres Anspruchs nicht außer Kraft setzt, sondern selbst erst einer kritischen Ausweisung bedarf.

Die Wahrheitskonzeption in den Marburger Vorlesungen Zur Vorgeschichte von Sein und Zeit, § 44

Die Untersuchungen und Überlegungen dieses Beitrags sind auf dem Hintergrund des breiten Interesses zu verstehen, das die philosophische Erörterung des Wahrheitsproblems bei vielen Autoren mit unterschiedlichen Arbeitsansätzen in den letzten Jahren gefunden hat. Die Arbeit an einer „Wahrheitstheorie" ist dabei zum Schlüsselthema der „Theoretischen Philosophie" (Philosophie der Logik, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie) geworden. Dabei spielen auch zunehmend „heterodoxe" Positionen wie der logische Intuitionismus, der Pragmatismus, die Sprechakttheorie, der Konventionalismus und Wittgensteins Sprachspielkonzeption eine entscheidende Rolle. Nur wenige Autoren allerdings messen der phänomenologischen Wahrheitskonzeption Husserls, die er um die Begriffe der „Leer-Intention" und „Erfüllungs-Intention" herum entwickelt hat, und Heideggers kritischer Modifikation dieser Konzeption eine entscheidende Bedeutung zu. Viele Autoren, die an der Diskussion über „Wahrheitstheorie" teilnehmen, insbesondere solche, die in der Traditionslinie von Frege, Tarski, Carnap, Quine, Putnam oder Dummett argumentieren, stellen durch ihr Rezeptionsverhalten implizit in Abrede, daß es überhaupt eine phänomenologische Wahrheitskonzeption gibt, geschweige denn einen Beitrag Heideggers zu ihr.1 Speziell für Heidegger hat Ernst Tugendhats Buch Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger diese Irrelevanzeinschätzung unterstrichen. Tugendhat kommt nämlich zu dem Ergebnis, daß Heidegger (im Unterschied zu Husserl) den 1

Wichtige Ausnahmen sind ζ. B. J. N. Mohanty: .Consciousness and Existence' und D. Follesdal: ,Husserl and Heidegger'.

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spezifischen Wahrheitsbegriff überhaupt verfehlt habe. Tugendhats eigene Fortführung des Wahrheitsthemas in seinen weiteren Schriften nimmt dementsprechend auf Heidegger keinen Bezug mehr. 2 An Tugendhats folgenreicher Heidegger-Interpretation wurde schon früher Kritik geübt. 3 Es gibt jedoch einen handfesten Grund, diese Diskussion erneut aufzunehmen, nämlich die inzwischen erfolgte weitgehende Veränderung der Textlage gegenüber derjenigen, auf die sich Tugendhats wie seiner Kritiker Heidegger-Interpretation bezog. Diese konzentrierte sich noch vor einigen Jahren auf den § 44 von Sein und Zeit, den man im Zusammenhang des Entwurfs und der Durchführung der Fundamentalontologie sowie gelegentlicher Äußerungen in früheren und späteren Schriften zu interpretieren versuchte. Demgegenüber kann die Interpretation des Textes von Sein und Zeit nunmehr auf die inzwischen weitgehend erfolgte Veröffentlichung von Heideggers frühen Freiburger und seinen Marburger Vorlesungen zurückgreifen. In ihnen hat Heidegger das Wahrheitsproblem immer wieder behandelt, besonders ausführlich in zwei Vorlesungen, die in engem zeitlichen Konnex zur textlichen Entstehung und zum Erscheinen von Sein und Zeit stehen: -

WS 1925/26: „Logik. Die Frage nach der Wahrheit" (GA21), in einem Zeitraum gehalten, in dem Heidegger große Teile von Sein und Zeit konzipiert und redigiert hat; SS 1928: „Logik" (GA26), gehalten im letzten Marburger Semester Heideggers.

-

Am Beispiel des Wahrheitsthemas sollen die folgenden Darlegungen auch demonstrieren, daß der Ansatz fruchtbar 2 3

Vgl. die zusammenfassende Wiederholung der Kritik an Heidegger bei E. Tugendhat: Vorlesungen %ur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 104f., Anm. 1. Vgl. C. F. Gethmann: ,Zum Wahrheitsbegriff, in diesem Band 115-136.

Wahrheit in den Marburger Vorlesungen

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ist, die Vorlesungen Heideggers von 1917 bis 1928 im Sinne einer Vor- und Zeitgeschichte von Sein und Zeit zu lesen, d. h. als tastende und suchende Vorbereitung, als philosophiehistorische Aus- und Weiterführung sowie als kritische und diskussionsbezogene Einbettung der Philosophie von Sein und Zeit. Die Interpretation des Verhältnisses der Vorlesungstexte zum Text von Sein und Zeit wird dabei durch folgende hermeneutische Prämissen geleitet: (1) Sein und Zeit ist das Hauptwerk der Philosophie Heideggers, wenigstens für seine Philosophie bis 1929. (2) Trotz mannigfacher Brüche, Neuansätze und Selbstverbesserungen repräsentieren der Text von Sein und Zeit und die Vorlesungen eine philosophische Konzeption. Damit wird der These widersprochen, daß man von einer inkommensurablen Pluralität von Philosophien sprechen müsse; insbesondere bieten die Vorlesungen keine eigenständigen Konzeptionen, die zur Philosophie von Sein und Zeit in Konkurrenz treten könnten.4 (3) Es besteht ein hermeneutisches Gefalle zwischen dem Text von Sein und Zeit und von Vorlesungstexten, einfach deshalb, weil der Autor von Sein und Zeit diesen Text zur Veröffentlichung bestimmte, wobei er auf die Vorlesungen allerdings häufig zurückgriff; deren Veröffentlichung stimmte Heidegger erst im Rahmen einer Ausgabe letzter Hand Jahrzehnte später zu. Nach diesen drei hermeneutischen Prämissen ist der Text von Sein und Zeit das Ergebnis von Denkbemühungen Heideggers über etwa 10 Jahre hinweg. Heidegger selbst deutet an verschiedenen Stellen in Sein und Zeit durch entsprechende 4

Die konträre Position vertritt O. Pöggeler, wobei eine sich an entsprechende Urteile O. Beckers anschließende Abwertung des Textes von Sein und Zeit gegenüber den frühen Vorlesungen maßgebend ist. Vgl. zur Auseinandersetzung mit dem pluralistischen Ansatz C. F. Gethmann: ,Philosophie als Vollzug und als Begriff, in diesem Band 247-253.

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Rückverweise das Verhältnis von Vorlesungen und dem veröffentlichen Text im Sinne einer entsprechenden Kontinuitätsunterstellung. 5 Tugendhats Analyse des Heideggerschen Wahrheitsverständnisses führt ihn zu dem kritischen Ergebnis, daß aufgrund der von Heidegger vertretenen Ausweitung des Wahrheitsbegriffs auf das Entdeckend- und Verdeckend-sein dieser seine kritische (unterscheidende) Funktion verliere; da jede Aussage nach Heidegger entdeckend und verdeckend zugleich sei, werde demzufolge der Wahrheitsbegriff ungeeignet, kognitive Geltungsansprüche, wie sie sich in Behauptungen, Urteilen usw. äußern, als anzunehmen oder abzulehnen zu qualifizieren. Für die folgenden Untersuchungen sei unterstellt, daß Tugendhats Kritik berechtigt wäre, wenn die Heideggersche Position so zu verstehen wäre. Im einzelnen begründet Tugendhat seine Analyse und Kritik durch drei Vorwürfe, auf deren Behandlung sich die folgenden drei Paragraphen beziehen:

5

Vgl. zur Interpretation dieser Stellen im einzelnen C. F. Getmann: .Philosophie als Vollzug und als Begriff, in diesem Band 247—280. — Mit der hier vertretenen hermeneutischen These soll nicht unterstellt werden, daß die Vorlesungen nicht auch für andere philosophiehistorische Fragestellungen von Interesse sind; in diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß eine Reihe der wichtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts Hörer Heideggers in diesen Vorlesungen waren, so daß sie für die Entwicklungsgeschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts von größter Bedeutung sind (vgl. ebd. 256 f.). — Zu den Hörern der für diesen Beitrag besonders wichtigen Vorlesung im WS 1925/26 zählt neben H.-G. Gadamer, G. Krüger, K. Löwith auch W. Kamiah, der hier sein Verständnis der Phänomenologie in Heideggers Brechung aufnahm; nach Kamlahs Wechsel nach Göttingen wurde dieses Verständnis dann noch einmal durch die kritische Aufnahme der Ansätze Husserls und Heideggers in der Göttinger Lebensphilosophie, vor allem bei G. Misch, modifiziert. Vgl. dazu C. F. Gethmann: Phänomenologie, Lebensphilosophie und Konstruktive Wissenschaftstheorie'.

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(1) Tugendhats Rekonstruktion läuft auf die Feststellung hinaus, Heidegger lehne die Unterscheidung von Urteilsgehalt und Urteilsvollzug ab. In der Tat würde die vollständige Ablehnung einer entsprechenden Unterscheidung zu einer Depotenzierung jeder Wahrheitskonzeption führen, weil alle Geltungsansprüche auf die faktische Inanspruchnahme von Geltung reduziert wären. Heidegger wäre lediglich ein weiterer Psychologist, in Husserls Worten: ein „Anthropologist". (2) Mit der These vom Entdeckend-sein der Aussage gebe Heidegger — so Tugendhat — die traditionelle Wahrheitsvorstellung auf mit dem Effekt, daß ein Wahrheitsanspruch (eine Wahrheitsprätention) keiner besonderen Ausweisung mehr bedürfe. (3) Im Zusammenhang damit finde sich bei Heidegger eine Variante des Relativismus, eine Art Relativismus der Offenbarkeit, den Tugendhat exemplarisch in Heideggers Überlegungen zur Geltung der Gesetze Newtons manifestiert sieht.

1. Akt und Gehalt. Heideggers Meta-Kritik des Anti-Psychologismus Heidegger entwickelt im § 44 a von Sein und Zeit seine Wahrheitskonzeption im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem „traditionellen Wahrheitsbegriff'. Dieser ca. 5 Druckseiten umfassende Text ist nicht nur historisch und systematisch äußerst komprimiert, sondern auch in seiner argumentativen Struktur überhaupt nicht transparent. Die abschließend formulierte These vom Wahrsein als Entdeckend-sein steht wie eine dogmatische Definition im Raum und läßt keine klare Verbindung mit den vorherigen Abschnitten erkennen. Die Kritik am ontologischen Konzept der Substanzialität (Wahrheit als Beständigkeit und Anwesenheit) erscheint textlich unentwirrbar verknäuelt mit einer distanzierten Stellungnahme zu Husserls Psychologismus-Kritik. Die

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Definition der Wahrheit als Übereinstimmung wird zunächst kritisiert, dann im Sinne eines „So-Wie" reformuliert, schließlich verschwindet sie in der abschließenden Definition vollständig. Mehrfach ist nicht deutlich, ob Heidegger historische Rückbezüge im Sinne eines Berichts, einer Zurückweisung oder einer kritikbedürftigen Weiterführung vornimmt. Insgesamt ist § 44 a in einem Umfang interpretationsbedürftig, der es nicht als überraschend erscheinen läßt, daß die Literatur zu Heideggers Wahrheitsbegriff äußerst weitgehend divergiert. Inzwischen verfügen wir nach Veröffentlichung von Heideggers Marburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/ 26 über einen ersten geschlossenen Entwurf der Konzeption, die hinter dem Text von Sein und Zeit steht. Die Vorlesung ist für das Wahrheitsthema deshalb besonders attraktiv, weil sich etwa die Hälfte der Paragraphen mit eben diesem Thema befaßt. Näherhin erscheint § 44 a von Sein und Zeit als recht wenig geglückte redaktionelle Zusammenfassung der Argumentationsfolge, wie sie in den §§6 — 10 der Vorlesung entwickelt wird. Auf etwa 94 Druckseiten entfaltet Heidegger hier seine Position aus dem Kontext der zeitgenössischen Diskussion heraus und nimmt dabei begriffliche Klärungen vor, von denen der § 44 von Sein und Zeit mehrfach, ohne entsprechende Erläuterungen, Gebrauch macht. Heideggers argumentative Strategie ist die der Meta-Kritik (Heidegger: „Anti-Kritik"). Heidegger gibt Husserls Kritik am Psychologismus recht, kritisiert aber wiederum an Husserl, für den Anti-Psychologismus einen zu hohen Preis zu zahlen. Daraus kann man schließen, daß Heidegger der Meinung ist, daß man den AntiPsychologismus mit philosophisch schwächeren Prämissen begründen kann. Mehr inhaltlich gesprochen: Husserl habe gegen den Psychologismus zu Recht auf den Unterschied von Urteilsvollzug und -gehalt hingewiesen, er habe jedoch diese methodische Unterscheidung mit einer ontologischen Unterscheidung konfundiert, nämlich derjenigen von idealer und realer Seinssphäre. Husserl habe — so läßt sich Heideggers Kritik zusammenfassen — unbemerkt und darum ungerechtfertigt

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unterstellt, daß der Anti-Psychologismus (die Unterscheidung von Voll%ug\Gehalt) nur als Idealismus (durch die Unterscheidung von real/ ideal) haben sei. Dieser Generaleinwand Heideggers gegen Husserl ist philosophiehistorisch keineswegs aus der Luft gegriffen, er läßt sich vielmehr durchaus in die phänomenologische Debatte einordnen: (a) Heideggers Kritik an Husserl hat auffällige Parallelen mit Husserls tentativer Selbstkritik an den Prämissen seiner Psychologismus-Kritik, wie sie in seinen späteren logischen Schriften, nämlich in Formale und transzendentale Logik, und in den von Ludwig Landgrebe redigierten Texten, die unter dem Titel Erfahrung und Urteil erschienen sind, durchgeführt wird. 6 In diesen logischen Spätschriften problematisiert Husserl ansatzweise und durchaus nicht in letzter Konsequenz die Hauptprämissen der Logischen Untersuchungen, wonach die Logik sich auf das Denken und nicht auf die Sprache beziehe (Mentalismus) und wonach die Logik primär nicht Regeln vorschreibt, sondern Gesetze einer eigenen Seinssphäre beschreibt (Idealismus). Gegen den Mentalismus erwägt Husserl in Formale und transzendentale Logik, ob nicht die Logik primär auf die Sprache zu beziehen sei, wobei dann aber im Interesse der Vermeidung eines neuen Psychologismus zwischen Rede-Vorkommnis und Sprach-Schema zu unterscheiden ist. Gegen seinen Idealismus scheint Husserl dem Ansatz näher zu kommen, auf den Begriff des Ideal-Gesetzes zugunsten des Regel-Begriffs zu verzichten. Für diese grundlegende, wenn auch bloß tendenzielle Wende Husserls in der Philosophie der Logik dürfte allerdings nicht in erster Linie die Heideggersche Husserl-Kritik in den Vorlesungen eine Rolle spielen — von dieser dürfte Husserl kaum Kenntnis genommen haben —, sondern vielmehr Oskar Beckers Untersuchungen zur Philosophie der Logik und Mathematik, die 6

Vgl. genauer: C. F. Gethmann: phänomenologische Logikfundierung und Protologik'.

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nach Beckers eigener Aussage vor allem unter dem Eindruck des Intuitionismus Brouwers und der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers entstanden sind. 7 (b) Heideggers Husserl-Kritik hinsichtlich der Wahrheitskonzeption weist eine klare Parallele mit anderen grundlegenden Themen seiner Husserlkritik auf, beispielsweise mit der Kritik an der Gleichsetzung der methodischen Unterscheidung von Konstituens und Konstitutum mit der Unterscheidung von weltlosem Ich und Welt bei Husserl. 8 Aus diesen Beispielen läßt sich eine Generallinie der Heideggerschen Husserlkritik abstrahieren. Danach hat Husserl jeweils unkritisch eine methodisch gerechtfertigte Unterscheidung mit einer durch die ontologische Tradition gelieferten Unterscheidung identifiziert, dadurch beide Unterscheidungen konfundiert und dadurch wiederum unnötig starke Prämissen präsupponiert. Indem Heidegger diese Vermengung zwischen phänomenologisch-methodisch ausgewiesener Unterscheidung und ontologischer Deutung derselben auflöst (Destruktion), wird das methodische Verfahren der Phänomenologie von unaufgedeckten Präsuppositionen gereinigt und dadurch gemäß seinem Anspruch formal und indifferent gegenüber Konstruktionen und Positionen gehalten. Damit ist auch nachvollziehbar, warum Heidegger beansprucht, die Phänomenologie als 7

O. Becker: Mathematische Existen441 —444 u. ö. — Dieses Werk erschien zuerst im selben Band des von Husserl herausgegebenen Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung, Bd. 8 (1927) wie Sein und Zeit. Diese Gleichzeitigkeit und das intensive Interesse Oskar Beckers für Heideggers philosophische Entwicklung lassen die Vermutung zu, daß die Tendenz der Heideggerschen Kritik durchaus „in der Luft" der phänomenologischen Schuldebatte lag. Auch Ludwig Landgrebes Redaktion der Texte Husserls, die in Erfahrung und Urteil vorliegt, bewegt sich trotz einer auffallig an Heidegger angelehnten Diktion durchaus im Rahmen der von Husserl und in seiner Umgebung geführten Diskussion. Zu Beckers Rezeption des Logischen Intutionismus vgl. genauer C. F. Gethmann: Phänomenologie und logischer Intuitionismus'.

8

Vgl. C. F. Gethmann: ,Heidegger und die Phänomenologie', in diesem Band 3 - 4 8 , bes. §§ 2, 3.

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Methode von substanziellen Restbeständen befreit, somit ihr Fundament tiefer gelegt und ihr Programm in Richtung ihrer eigentlichen Intentionen weiterentwickelt zu haben. Auch der Text der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925 bestätigt, was die Vorlesungen der Marburger Zeit überhaupt belegen: Heidegger stellt sich selbst als Mitarbeiter am Projekt der Phänomenologie dar und entspricht insofern sicher den Erwartungen seiner Marburger Kollegen und Hörer. Dabei hat er jedoch eine „zweite Ausbildung" im Kontrast zu Husserls „erster Ausbildung" der Phänomenologie im Sinn (GA20 §§ 10 ff.). Schon in dieser Vorlesung vom Sommersemester 1925 wird diese neue Ausarbeitung der Phänomenologie immer wieder in Zusammenhang mit der Betonung ihres methodischen Charakters gebracht: „Sonach ist Phänomenologie ein ,methodischer' Titel, sofern er nur als Bezeichnung der Erfahrungs-, Erfassungs- und Bestimmungsart dessen gebraucht wird, was in der Philosophie Thema ist" (GA20 117).

Im Einklang mit dieser allgemeinen Selbstinterpretation Heideggers im Rahmen der Phänomenologie beginnt auch die Darstellung der Wahrheitskonzeption in der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26 mit einer Aufnahme und kritischen Weiterführung des Husserlschen Ansatzes. § 6 der Vorlesung, der die Überschrift trägt „Bezeichnung und Begriff des Psychologismus", beginnt mit einer durchaus sympathetischen historischen Motivation des Husserlschen Projekts der Phänomenologie. Heidegger behandelt die Entstehung der Psychologie in der Philosophie der Neuzeit ausgehend von Descartes' Dualismus, sodann den Psychologismus des 19. Jahrhunderts bei Mill, Lipps, Sigwart, Erdmann. Gegenüber der Dissertation (FS 1 — 129) wird übrigens Mill in das Zentrum der psychologischen Position gerückt, während Wilhelm Wundt im Unterschied zur Dissertation keine Rolle spielt. Im anschließenden § 7 („Husserls Kritik des Psychologismus") stellt Heidegger Husserls zentrale Einwände gegen den Psychologismus dar, nämlich die Verfehlung des Geltungs-

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anspruchs logischer Gesetzmäßigkeiten durch die Verwechslung von Denkregel und Ideal-Gesetz, sowie den Selbstwiderspruch, in den der Psychologismus als Geltungsansprüche erhebende Position gerät. Die kritische Rekonstruktion der Husserlschen Argumentation im § 8 („Die Voraussetzungen dieser Kritik: Ein bestimmter Wahrheitsbegriff als Leitidee") beginnt Heidegger dann allerdings mit einem starken Kritikpunkt: „Die Verfehlung des Psychologismus konnte nur aufgewiesen und als Widersinnigkeit erwiesen werden, sofern Husserl schon im vorhinein festen Fuß gefaßt hatte in der Grundunterscheidung des Seins als Realem und Idealem" (GA21 53 f.).

Mit dieser Feststellung stellt Heidegger Husserls gesamte Argumentation in Frage, da sie ja von einer starken, aber unausgewiesenen ontologischen Prämisse lebt. Husserls Fehler liegt darin, die Unabhängigkeit des Urteilsgehalts vom Urteilsvollzug so gedeutet zu haben wie die Unabhängigkeit des Ideal-Seienden vom Real-Seienden. Dabei expliziert Heidegger den Begriff der „Idealität" durch drei Definitionsmerkmale: die Selbigkeit (Identität) im Unterschied zur Vielheit des Realen, die Beständigkeit (Subsistenz) im Unterschied zur Vergänglichkeit des Realen und die Allgemeinheit (Universalität) gegenüber der Einzelnheit des Realen. 9 Worin liegt Husserls, von Heidegger mit großem rhetorischen Gestus markierter Fehler 10 nun genauer? Er liegt in der Konfundierung zweier jeweils für sich berechtigter Fragen: (i) Wie verhält sich das generisch Allgemeine zum Speziellen und Besonderen? (ii) Wie verhält sich der Urteilsgehalt zum Urteilsvollzug? Auf die Frage (i) antwortet die Tradition seit 9

10

Die spätere Metaphysik-Kritik Heideggers, wonach die Philosophie seit Piaton die Wahrheit nur als Anwesenheit und Verfügbarkeit gedacht habe, ist in der Kritik an Husserls Konfusion der Unterscheidungen bereits vorgezeichnet (vgl. Anm. 11). Vgl. G A 2 1 59 ff. „grundverkehrt", „eine Vieldeutigkeit [...], der er zum Opfer gefallen ist", „fundamentaler Irrtum", „Versehen", „Verwechslung", usw.

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Piaton, daß das generisch Allgemeine relativ zum Besonderen identisch, subsistent und universell ist. In diesem Sinne ist ζ. B. „Farbe" identisch, subsistent und universell gegenüber „diesem Grün". Auf Frage (ii) kann aber nicht parallel geantwortet werden. Der Gehalt des Urteils ist zwar nicht real im Sinne der Realität des Urteilsvollzuges, er kann aber auch nicht im Sinne des generisch Allgemeinen als ideal bezeichnet werden, da er durchaus nicht-identisch, nicht-subsistent und nicht-universell sein kann. Dazu braucht bloß auf die okkasionellen Urteilsgehalte hingewiesen zu werden, die Husserl bereits in den Logischen Untersuchungen aufgefallen waren. Heidegger faßt seine Argumentation so zusammen: „Der Urteilsgehalt ist zwar nichts Reales und insofern ideal; aber er ist nicht ideal im Sinne der Idee, als wäre der Urteilsgehalt das Allgemeine, das γένος, die Gattung zu den Urteilsakten ... Zu sagen: der Urteilsgehalt ist das γένος zu den Akten (zu den möglichen Urteilen), ist genauso widersinnig, wie wenn man sagen wollte: Tisch überhaupt ist das Wesen und die Gattung von ,Teekannen'" ( G A 2 1 61).

Die Unterscheidung von Genus und Spezies betrifft die Art und Weise der Beziehungen, die Prädikatoren in Prädikatorenregelsystemen (in Systemen von Bedeutungspostulaten) untereinander haben können. Bezüglich der Prädikatorenregeln dies ist Biene => dies ist Insekt dies ist Fliege => dies ist Insekt ist „Insekt" Genus und „Biene" bzw. „Fliege" Spezies. Die Unterscheidung von Genus und Spezies bestimmt also die Funktion der Ausdrücke bei der Festlegung ihrer Bedeutungen, sie ist eine semantische Beziehung. Demgegenüber ist die Unterscheidung von Akt und Gehalt eine Beziehung zwischen einem Ereignis und demjenigen Schema, als dessen Realisierung das Ereignis gedeutet wird. Sie entspricht daher der Unterscheidung zwischen dem Vorkommnis einer Handlung und dem Schema, das der Ausführung der Handlung zugrunde liegt. Diese Unterscheidung gilt unterschiedslos für „kognitive" Handlungen wie Urteilen

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und Behaupten wie auch für sonstige Handlungen. Es handelt sich daher um eine Unterscheidung zur Handlungs-Rekonstruktion, also eine pragmatische Beziehung. Indem Husserl die Unterscheidung von Vollzug und Gehalt mit Hilfe der Unterscheidung von Genus und Spezies expliziert, vollzieht er eine „Ontologisierung" der Akt-Rekonstruktion, eine Semantisierung der Pragmatik. Indem Heidegger — im Gegenzug — diese Explikation als Konfusion von Unterscheidungen kritisiert, gibt er der Pragmatik in der Phänomenologie, d. h. ihrem methodischen Charakter, den Primat. Die ontologische Destruktion hat zur Folge, daß „Phänomenologie" primär ein Methodenbegriff ist. Genau dies hält Heidegger zu Beginn des § 7 von Sein und Zeit Husserl entgegen (SZ 27). Den historischen Anstoß für den bei Husserl diagnostizierten Fehler sieht Heidegger im § 9 der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26 („Die Wurzeln dieser Voraussetzung") im durch Lotze etablierten Begriff der „Geltung", durch den der formale „Vorbegriff" der Wahrheit als „Bleiben—Feststehen" präjudiziert worden sei (GA21 66). Lotzes Rezeption der Ideenlehre Piatons ist also der eigentliche Zielpunkt der Heideggerschen Kritik: „So beruht also der Irrtum Husserls, auf einen Schluß gebracht, einfach darin, daß er so vorging: Idee gleich Geltung gleich Sat%. Das ist die erste These. Der Untersatz: Idee gleich Allgemeines gleich Gestalt gleich Gattung. Schluß: Sat·^ gleich Allgemeines, identisch mit Idee, und daraus: Sat^ gleich Gattung !(u den Setzungen" (GA21 73).

In diesem Zusammenhang kritisiert Heidegger besonders eingehend Lotzes Gleichsetzung von Geltung mit Bejahung, Wirklichkeit und Sein. Zwanglos legen sich sofort Querverbindungen zu späteren Aussagen Heideggers nahe: (1) Heideggers Polemik gegen den Begriff der „Geltung" des Urteils in § 33 von Sein und Zeit (SZ 155) redet keineswegs einem Relativismus der Satzwahrheit das Wort. Heidegger bezieht sich hier nicht auf den „Geltungsanspruch" im Sinne der „Wahrheitsprätention", sondern kritisiert die durch Lotzes Analyse des Geltungsbegriffs in die Debatte

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gebrachte — wie Heidegger sich hier ausdrückt — „ontologische Ungeklärtheit". (2) Heideggers Kritik des Primats der Anwesenheit (der Idee), der seit Piaton bestimmend sei, läßt sich unschwer in Lotzes Interpretation der Ideenlehre Piatons festmachen. Heideggers Konzeption einer temporalen Interpretation des Seinsbegriffs in der Absicht, diesen vom Primat des Präsentischen zu lösen, ist daher sehr stark bestimmt durch Lotzes Geltungsbegriff und Husserls Rezeption desselben. (3) Heideggers spätere Deutung dieses Wahrheits- und Seinsverständnisses als eines über dem Abendland lastenden Geschicks ist eine zur geschichtsphilosophischen Generalität hochstilisierte Lotze-Kritik. 11 Gegen Husserls Rückgriff auf Lotzes Geltungsbegriff stellt Heidegger im § 10 der Vorlesung vom Wintersemester 1925/ 26 („Antikritische Fragen ...") die Besinnung auf das Gründungsprogramm der Phänomenologie bei Brentano und, durch Vermittlung Brentanos, auf Aristoteles. Brentanos Einsicht in das Wesen des „Psychischen als Intentionalität" betrachtet diese gerade nicht als eine Beziehung zwischen zwei Seins-Regionen, der realen und der idealen. Vielmehr — so Heidegger — ist das Psychische nach Brentano ein Sich-richten-auf-etwas, und nur als dieses ganze Sich-richten-auf-etwas ist es real. Es entsteht daher nicht das Problem, wie sich etwas Reales auf etwas Nicht-Reales beziehen kann. Die Be'zogenheit auf etwas gehört zur Definition des Aktes und ist nicht ein zusätzlich aufgeworfenes Explanandum. Die Intentiona-

11

Damit wird auch ein bezeichnendes Licht auf die Kontinuität zwischen „frühem" und „spätem" Heidegger (ζ. B. in seiner Schrift über Piatons Lehre von der Wahrheit (PH 5 — 52)) geworfen: Einerseits hat die Kritik an der These vom Sein als Anwesen und die Diagnose der „Seinsvergessenheit" in Husserls Unterscheidung zwischen idealer und realer Sphäre einen legitimen Ort, andererseits zeigt sich darin auch die philosophiehistorische Beschränktheit der generalisierten Kritik an der „Metaphysik".

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lität bezeichnet nicht das Verhältnis zwischen zwei Sphären, sondern eine Beziehung. Da der Akt schon immer auf ein „Gehabtes" bezogen ist, ist nach der primären Weise des Habens zu fragen. Dieses ist nach Husserl die Anschauung, d. h. das Haben des Seienden in seiner Leibhaftigkeit. Nur durch die Anschauung kann die Prätention eines intentionalen Bezuges ihre „Ausweisung" finden. Dieses auf einer Analyse der Intentionalität beruhende Verhältnis von Anschauung und Ausweisung ist der Hintergrund von Heideggers Diktum von der Wahrheit als Entdekkend-sein. Diese These ist nichts anderes als eine Neuformulierung der Husserlschen Lehre von Ausweisung und Bewährung, wie der § 44 a von Sein und Zeit eindeutig hervorhebt. 12 Ebenso unterstreicht auch die Vorlesung die Husserlsche Wahrheitskonzeption in diesem Punkt: „Anschauung gibt die Fülle, im Unterschied zur Leere des bloßen Vorstellens und überhaupt n u r Meinens" (GA21 105). „ I m Ausweisen werden Leervorgestelltes und Angeschautes zur D e c k u n g gebracht" (GA21 107). „Wahrheit ist die Selbigkeit des Gemeinten und Angeschauten" (GA21 109).

Nach § 10 der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26 kann somit kein Zweifel sein, daß sich Heidegger grundsätzlich Husserls Wahrheitskonzeption anschließt, allerdings abzüglich ihrer ontologischen „Erschleichung". Es ist aber Heidegger selbst, der in Husserls Wahrheitskonzeption eine offene Frage sieht, deren Beantwortung er nur durch Rekurs auf Aristoteles für möglich hält, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von der von Husserl explizierten Anschauungswahrheit zur Satzwahrheit. Gerade dadurch anerkennt Hei12

Vgl. SZ 218, Anm. 1, w o Heidegger Husserls Idee der „Ausweisung" herausstellt und die Husserl-Rezeption darin kritisiert, daß sie lediglich den Z u s a m m e n h a n g der phänomenologischen Wahrheitskonzeption mit der Satzlehre Bolzanos beachte. D e m g e g e n ü b e r stellt Heidegger vor allem die VI. Untersuchung v o n Band II/2 der Logischen Untersuchungen, insbesondere die Paragraphen über „Evidenz und Wahrheit", heraus.

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degger Tugendhats Forderung, daß jede Wahrheitskonzeption eine Erklärung der Aussagewahrheit liefern muß. Während jedoch Tugendhat Husserl in diesem Punkte für unverdächtig hält, hat gerade Heidegger darauf aufmerksam gemacht, daß Husserl die Frage nach der Genesis der Aussagewahrheit nicht beantwortet. Gerade Husserl hat — so Heideggers Kritik — das von Tugendhat sogenannte „spezifische Wahrheitsphänomen" nicht zufriedenstellend behandelt. Selbstverständlich hat Husserl geltend gemacht, daß die Satzwahrheit eine gegenüber der Anschauungswahrheit abgeleitete Wahrheit ist. Für Heidegger bleibt jedoch offen, wie dieses Ableitungsverhältnis zu verstehen und was dabei mit „Anschauung" genauer gemeint ist. 2. Dienlichkeit als Ausweis der Erschlossenheit. Heideggers Pragmatismus in der Frage der Wahrheitskriterien In der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26 behandelt Heidegger seine eigene Wahrheitskonzeption — ausgehend von Aristoteles — in den Paragraphen 12 bis 14, einem Textstück von ca. 68 Druckseiten. Inhaltlich entsprechen diesem Text die Paragraphen 44 b und c von Sein und Zeit, einem Textstück von ca. 11 Druckseiten Umfang. Ähnlich wie bei den oben (1.) erwähnten Textverhältnissen ist der Text der Vorlesung nicht nur ausführlicher, sondern auch in seinem inneren Aufbau und in seiner argumentativen Struktur ungleich durchsichtiger als die entsprechenden Textteile von Sein und Zeit. Insbesondere der § 44 c entbehrt jeder klaren Struktur, enthält zudem zahlreiche Wiederholungen zu § 44 a, läßt eine kohärente Wahrheitskonzeption nur erahnen. Heidegger stellt sich am Beginn des § 11 der Vorlesung ausdrücklich die Aufgabe, die Aussagewahrheit, wie sie von Aristoteles expliziert wird, mit der „pragmatischen" Grundstruktur in Zusammenhang zu bringen, welche als „erfüllende" Anschauung gemäß Husserl der Aussage vorausliegen

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soll. Das Projekt, das Heidegger verfolgt, besteht also darin, die Wahrheit/Falschheit der Aussage im Sinne der aristotelischen Urteilslogik in einem Phänomen primärer Anschauung zu fundieren. Den Ansatz dazu findet Heidegger in der aristotelischen Einsicht, daß die logische Struktur der Aussage eine aus einem Verbinden und Trennen hervorgehende Grundstruktur aufweist. Dieses Verbinden und Trennen vereinigt Heidegger unter dem Begriff der „Ais-Struktur". Das Ergebnis von Heideggers Überlegungen besteht darin, daß die Ais-Struktur des Urteils (apophantisches Als) in einer tiefer liegenden Struktur der Auslegung (hermeneutisches Als) fundiert ist. Dieses Lehrstück, das Heidegger im § 12 der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26 entfaltet, ist hier unmittelbar im Zusammenhang mit der Beantwortung der Wahrheitsfrage konzipiert, während dieser Zusammenhang in Sein und Zeit (§ 33) gelöst scheint. Im § 44 b von Sein und Zeit verweist Heidegger jedoch auf den § 33 und macht den Zusammenhang wie folgt deutlich: „Die Aussage und ihre Struktur, das apophantische Als, sind in der Auslegung und deren Struktur, dem hermeneutischen Als, und weiterhin im Verstehen, der Erschlossenheit des Daseins, fundiert. [...] Demnach reichen die Wurzeln der Aussagewahrheit in die Erschlossenheit des Verstehens zurück" (SZ 223).

Der Vergleich zwischen dem § 12 der Vorlesung und den §§ 33 und 44 von Sein und Zeit zeigt, daß die systematische Konzeption in Sein und Zeit unverändert ist: Das Phänomen der Aussagewahrheit ist für Heidegger auf dem Hintergrund des Husserlschen Ansatzes das eigentliche Explanandum. Während Heidegger die allgemeine Vorstellung einer Fundierung der Wahrheit der Aussage in einer Vorstruktur mit Husserl teilt, rekonstruiert er diese Vorstruktur als Auslegung in deutlicher Absetzung zu Husserls Anschauung. Ausgangspunkt für die Bestimmung der Auslegung als Vorstruktur der Aussage ist das Seiende im „Wozu seiner Dienlichkeit" (GA21 144). Der „Gebrauch" des Seienden hat einen Primat vor jeder theoretischen Beziehung. Obwohl auch in Sein und Zeit

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mit dem Begriff des „umsichtigen Umgangs" (SZ 66 ff.) ein deutlicher Instrumentalismus markiert ist, wird dieser in der Vorlesung besonders drastisch hervorgehoben und von Husserls kontemplationistischem Modell des An-Schauens abgegrenzt: „[...] daß ein sogenanntes, schlichtes Da-haben und Erfassen wie: diese Kreide hier, die Tafel, die Tür, strukturmäßig gesehen gar nicht ein direktes Erfassen von etwas ist, daß ich, strukturmäßig genommen, nicht direkt auf das schlicht Genommene zugehe, sondern ich erfasse es so, daß ich es gleichsam im vorhinein schon umgangen habe, ich verstehe es von dem her, wozu es dient" (GA21 146 f.). 13

Wie Husserls Begriff der Anschauung, so soll auch Heideggers Begriff der Auslegung die Antwort auf das Problem der Ausweisung indizieren. Die Ausweisung ist jedoch — so Heideggers Korrektur an Husserl — kein Akt des Schauens, sondern ein Akt des Sich-Verstehens-auf-etwas; die Ausweisung wird nicht am Modell optischer, sondern haptischer Erfahrungskontexte konzipiert. Der Kontext der Bewährung ist nicht mehr der der distanzierten Inblicknahme, sondern die Handlungssicherung im Rahmen geübten Umgangs. Für Heidegger ist daher der Übergang vom fundierenden Modus der Anschauung zum fundierten Modus der Aussagewahrheit umzuinterpretieren als „Umschlag vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken" (SZ 360). Dieser Umschlag ist das entscheidende Moment der „ontologischen Genesis" der Aussage, die Heidegger Husserls „Genealogie der Logik" entgegenstellt. Diese ontologische Genesis verläuft — wie bei Heidegger allgemein — als methodische Bewegung von einem eminenten zu einem defizienten Modus. Der eminente Modus ist der umsichtige Umgang selbst, wobei die Umsicht dasjenige Moment bezeichnet, durch das der Umgang sich selbst hinsichtlich der Zweck-Mittel-Organisation des Lebens transparent ist. Diese primäre Erschlossenheit vor einzelnen kognitiven und non-kognitiven Akten bezeichnet Heidegger als „Verstehen". 13

Vgl. den Paralleltext SZ 149.

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Gegenüber dem Verstehen bezeichnet die „Auslegung" den intentionalen und thematischen Akt der Selbstexplikation. 14 Erst aufgrund der Auslegung gibt es sprachliche Ausdrücklichkeit. Die Auslegung artikuliert die vorprädikativen operativen Evidenzen des umsichtigen Umgangs in Ausdrücklichkeit. Dies ist nur möglich — so argumentiert Heidegger —, wenn diese primären Evidenzen bereits durch eine Ais-Struktur gekennzeichnet sind. Damit setzt Heidegger sich vom Gedanken der Einfachheit und Schlichtheit der primären Anschauung Husserls ab. Die Doppelstruktur des primären Als macht es möglich, daß der Mensch im Umgang mit den Dingen diese als ein „Etwas als zum (Handlungsprädikator)" unterstellt. Gegenüber der Auslegung ist die „Aussage" ein Akt, der dadurch entsteht, daß von der Zweck-Mittel-Einbettung abgesehen wird, welche die Auslegung zum Thema hat. Der defiziente Modus der Aussage gegenüber der Auslegung liegt also in der Abgehobenheit der Aussage vom unmittelbaren situativen Kontext. Auf diese Weise entsteht die Struktur der logischen Elementarsätze; das „apophantische Als" ist im „hermeneutischen Als" genetisch-methodisch fundiert. 15 Tugendhats „Minimalbedingung" jeder Wahrheitskonzeption, daß nämlich der Wahrheitsbegriff auf die Aussagewahrheit „paßt" 16 , ist bei Heidegger offenkundig ohne weiteres erfüllt. Die Frage nach dem fundierenden Modus der Wahrheit/ Falschheit der Aussage kann ja nur sinnvoll gestellt werden, wenn der Wahrheitsbegriff auf die Aussage bezogen werden kann. Wie steht es dann aber mit der definitionsartigen Wen14

15 16

Diese Selbstexplikation ist es, die Heidegger in der Vorlesung vom SS 1923 als „Hermeneutik" bezeichnet, also nicht eine Lehre von der Auslegung, erst recht nicht eine Lehre von der Text-Auslegung (GA63 §§2,3). Zur ontologischen Genesis der Aussage aus der Auslegung vgl. genauer C. F. Gethmann: ,Der existenziale Begriff der Wissenschaft', in diesem Band 1 6 9 - 2 0 6 . E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 331.

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dung vom Entdeckend-sein der Aussage, in welcher scheinbar die Aussagewahrheit verschwunden ist? Nach Tugendhat führt Heideggers Darstellung in Sein und Zeit zu der Festlegung: „Eine Aussage ist wahr, wenn sie das Seiende entdeckt, und sie ist falsch, wenn sie es verdeckt." 17 Durch diese Bestimmung verzichte Heidegger auf die Vorstellung, daß jede Wahrheitsprätention einer Rechtfertigung bedürfe. Somit weiche Heidegger radikal von der traditionellen Wahrheitsidee ab. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Heidegger hält ausdrücklich daran fest, daß die Wahrheitsprätention der Aussage einer „Ausweisung" bedarf: „Obzwar also Kenntnis und Rede etwas mitteilt oder ohne Mitteilung meint, so ist sie doch eigentlich, was sie ist, nur daraus, worin sie ihre Rechtmäßigkeit ausweist und zeigt, daß sie mit Recht sagt, was sie sagt. Mit Recht — wenn sie so sagt, wie die Sache sich verhält. Sofern aber die Sache, wovon ich Kenntnis habe und worüber ich rede, nicht notwendig und ständig unmittelbar anwesend ist, bzw. ich selbst nicht bei der Sache selbst bin, bedarf unsere Kenntnis und Rede in weitem Ausmaß letztlich immer der Ausweisung [...]." (GA21 105).

Allerdings kritisiert Heidegger Husserls Konzeption, wonach die Ausweisung sich durch Anschauung erfüllt. Heidegger hält an der Konzeption der „Ausweisung" fest, er modifiziert jedoch die Idee der primären Anschauung von einem Kontemplationismus der Sinnesorgane hin zu einem Instrumentalismus der Werkwelt. Entsprechend wird das Verhältnis der Adäquation, das bereits Husserl als ein „So-Wie-Verhältnis" dargestellt hat, bei Heidegger interpretiert. In diesem Zusammenhang wird auch im Text von Sein und Zeit deutlich, daß Ausweisung und Entdeckung keineswegs einen Gegensatz darstellen: „Zur Ausweisung steht einzig das Entdeckt-sein des Seienden selbst, es im Wie seiner Entdecktheit. Diese bewährt sich darin, daß sich das Ausgesagte, das ist das Seiende selbst, als dasselbe zeigt. Bewährung bedeutet: sich geigen des Seienden in Selbigkeit" (SZ 218). 17

Ebd. 333.

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Allerdings wird der Zusammenhang von Ausweisung und Entdeckung nur verständlich, wenn man berücksichtigt, daß Heidegger mehr implizit als explizit einen fundamentalen Wechsel des Wahrheitsmodells vollzieht. Dabei wird deutlich, daß der Begriff der „Übereinstimmung" bzw. des „So-Wie-Verhältnisses" in beiden hier relevanten Wahrheitsmodellen eine Rolle spielt und daß diesen Begriffen somit eine tiefe Ambiguität anhaftet. Nach dem „propositionalen Wahrheitsmodell" sind die Prädikatoren „wahr" und „falsch" Attribute von Sätzen, Behauptungen, Urteilen, Aussagen o. ä. Dies bedeutet, daß die Behauptung „p ist wahr" dieselbe Struktur hat wie die Behauptung „dieser Tisch ist rot". Entsprechend ergibt sich auch prinzipiell dieselbe Begründungsverpflichtung. Näherhin liegt die Ubereinstimmung im Falle der wahren Aussage darin, daß die Aussage die Eigenschaft aufweist, mit etwas anderem in Beziehung zu stehen. Die Ubereinstimmung ist dabei strukturell so gedacht, wie man beispielsweise sagt, daß ein Foto mit der unmittelbaren Anschauung eines Menschen „übereinstimmt". Letztlich steht hinter diesem Modell die Vorstellung einer Urbild-Abbild-Beziehung. Demgegenüber wird im „operationalen Wahrheitsmodell" „wahr" bzw. „falsch" dann prädiziert, wenn eine Absicht ihre Realisierung, eine Aufgabe ihre Lösung gefunden hat. Die „Übereinstimmung" bezeichnet ein Passungsverhältnis zwischen einem Plan und seiner Erfüllung. Husserls Wahrheitsbegriff liegt bereits in seiner Grundvorstellung auf dieser Linie. Die Termini „Leerintention" und „Erfüllungsintention" sind hinreichend deutlich: Die Erfüllung ist gewissermaßen der kognitive Erfolg einer in einer leeren Intention eingebauten Erwartung. Indem Heidegger auf diesen operativen Gebrauch Bezug nimmt, verstärkt er einen pragmatischen Grundzug, den Husserl in seiner Wahrheitskonzeption bereits angelegt hat. Indem er darüber hinaus den Mentalismus durch sprachpragmatische Ansätze überwindet und zudem nicht optische, sondern haptische Basishandlungen an den Anfang

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stellt, verschärft er die bei Husserl zu findenden pragmatischen Tendenzen zu einem konsequenten Pragmatismus. Nach dem operationalen Wahrheitsmodell verhält sich die Wahrheit nicht zur Aussage wie die Röte zum Tisch, sondern wie der Schlüssel zum Schloß. Übereinstimmung ist nicht die des Fotos mit dem Original, sondern die des Schlüssels zum Schloß. Ob der Schlüssel mit dem Schloß „übereinstimmt", zeigt sich im Schließen, also in seinem Gebrauch, nicht im Reden über ihn. Für das operationale Wahrheitsmodell ist „Wahrheit" eine Erfolgskategorie. Mit der Auffassung, daß die „Dienlichkeit" das Kriterium der Wahrheit bildet, führt Heidegger somit die in dem Begriffspaar von Intention und Erfüllung liegenden pragmatischen Tendenzen radikal zu Ende. Die Wahrheit erfüllt eine Intention, wie eine Lösung eine Aufgabe erfüllt. Die Verwendung der Prädikatoren „wahr" bzw. „falsch" ist in beiden Wahrheitsmodellen trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten strukturell grundverschieden. Nach dem propositionalen Wahrheitsmodell ist die Aussage selbst ein Rektum der Ubereinstimmungsbeziehung, weshalb das Modell angemessen als „propositional" bezeichnet wird. Nach dem operationalen Wahrheitsmodell besteht die Übereinstimmungsbeziehung zwischen Aufgabe und Lösung, Plan und Erfüllung; somit also zwischen zwei Sachverhalten, wobei ein Rektum Produkt einer Handlung ist (daher „operational"). Die Aussage ist danach selbst nicht ein Rektum in der Übereinstimmungsbeziehung, sondern von dieser abgeleitet. Die Aussage ist nur im abgeleiteten Sinne wahr bzw. falsch, die Wahrheit, die sie ausdrückt, liegt ihr voraus. Somit ist nach dem operationalen Wahrheitsmodell die Aussage dem eigentlichen Wahrheitsgeschehen („daß der Schlüssel paßt") äußerlich, Wahrheit liegt auch vor, wenn sie gar nicht ausgesagt wird. Das hermeneutische Als drückt das vorsprachliche Passen einer Handlung zu einer Handlungsaufgabe aus, also die im Handeln mitgesetzte Unterstellung, daß die Situation eine Aufgabe darstellt, die zu lösen ist. Somit geht es allgemein um

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das Passen der Mittel zu einem unterstellten (selbst nicht thematisierten) Zweck. Das Wahrheitskriterium ist der Handlungserfolg. Demgegenüber drückt das apophantische Als die situationsdistanzierte Feststellung aus, daß es sich mit der Situation, also mit der Lösung der Aufgabe entsprechend verhält: Die Aussage ist wahr, wenn in der zugrundeliegenden Situation die Mittel den Zweck wirklich erfüllen. Auf diese Weise ist ohne weiteres nachvollziehbar, daß Heidegger vom Wahrsein der Aussage spricht, die Ausweisung der Wahrheit aber im Entdeckend-sein relativ zu einem tiefer liegenden Wahrheitsgeschehen sieht. Mit Blick auf Tugendhat ist im einzelnen noch folgendes anzumerken: (a) Tugendhat geht bei allen Überlegungen vom propositionalen Wahrheitsmodell aus. 18 Es wurde bereits herausgestellt, daß Tugendhat damit auch eine schon bei Husserl liegende Grundtendenz verkennt, wenn diese sich auch bei Husserl noch nicht eindeutig Bahn bricht. Heideggers Pragmatismus wird dagegen von Tugendhat völlig verfehlt. Die Ursache dafür liegt darin, daß Tugendhat über seine „Minimalbedingung" hinaus, nach der eine Wahrheitstheorie auch noch eine Theorie der Aussagewahrheit liefern muß, jede Wahrheitstheorie auf das propositionale Wahrheitsmodell verpflichtet. Bemerkenswert ist, daß Tugendhat in einem eigenen Abschnitt den „potentiellen Gewinn" formuliert, den Heidegger aus seinem Ansatz hätte beziehen können. 19 Dieser läge nach Tugendhat in einer Konzeption, gemäß der die Wahrheit der Aussage ihr Entdeckend-sein aufgrund einer Ausweisung ist. Das Entdeckend-sein bezieht sich immer auf das Seiende, so wie es ist. Somit entdeckt nach Heideggers Ausführungen die 18

19

Vgl. schon E. Tugendhat: ,Tarskis semantische Definition der Wahrheit1, ferner ders.: Vorlesungen %ur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 15., 16., 26., 27. Vorlesung; allerdings gehen in Tugendhats Wahrheitskonzeption auch pragmatische Elemente ein — eine systematische Behandlung muß einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben. E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 337 — 345.

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Aussage das Seiende, so wie es ist, genau dann, wenn die Aussage aufgrund eines Verfahrens der Ausweisung gewonnen wurde; die Wahrheit ist der Schlußstein eines Verfahrens der Ausweisung; und dies ist der Fall, wenn die entsprechende Aussage in einen Handlungskontext paßt wie der Schlüssel zum Schloß. 20 Tugendhat gesteht zudem en passant zu, daß man einer solchen Auffassung nahekäme, wenn man den § 33 von Sein und Zeit hinzuzöge. 21 Gerade diese Querverbindung stellt jedoch Heidegger selbst her 22 , wenn auch der textliche Zusammenhang nicht so deutlich ist wie in der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26. Erst wenn man nämlich zur Heideggerschen Wahrheitskonzeption die Ausführungen des § 33 von Sein und Zeit heranzieht, nach denen die Aussage ein defizienter Modus der Auslegung ist, hat man die methodische Genesis von Heideggers Konzeption der Aussagewahrheit erfaßt. (b) Heideggers Begriff der Erschlossenheit liegt die ,Schließ'Metaphorik zugrunde, zu der auch das Bild vom „Passen" des Schlüssels zum Schloß gehört. Mit der Erschlossenheit meint Heidegger eine apriorische Struktur, dergemäß zwischen Mensch und Welt eine apriorische Passung wie zwischen Schlüssel und Schloß besteht. Der Wahrheitsbezug der Aussage kann nur hergestellt oder verfehlt werden auf Basis und im Rahmen dieser apriorischen Passung. Systemmorphologisch spielt die Erschlossenheit dieselbe Rolle wie die Veritas transcendentalis bei Thomas von Aquin. Heidegger bezieht sich daher auch ausdrücklich auf diese Tradition. 23 Heidegger gibt allerdings keine „Theorie" dieser Passung, wie sie in unterschiedlicher Weise ζ. B. durch die Schöpfungsmetaphysik 20

21 22 23

Es ist auffällig, daß Tugendhat in seinen systematischen Arbeiten gerade das „Ausweisungssprachspiel" heranzieht, um den Wahrheitsbegriff zu explizieren; vgl. die Vorlesungen %ur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, 115 f. sowie die in Anm. 18 genannten Vorlesungen. E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 337. Vgl. SZ 223 und ebd., Anm. 2. Vgl. SZ 38. —. Vgl. dazu ausführlicher C. F. Gethmann: ,Zum Wahrheitsbegriff, in diesem Band 121 — 128.

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oder die evolutionäre Erkenntnistheorie angeboten wird, weil eine solche Theorie bereits von einer regionalen Ontologie und somit von einer ausgeführten Fundamentalontologie abhängen würde. (c) Es ist ohne weiteres zuzugestehen, daß der Begriff der Ausweisung bei Husserl keine und bei Heidegger erst eine tendenzielle Bezugnahme auf den Gedanken der intersubjektiven Verbindlichkeit ζ. B. von Behauptungen erkennen läßt. Bekanntlich spielt die Idee des Geltungsausweises im Sinne der Einlösung intersubjektiver Geltungsansprüche bei Husserl noch keine Rolle. 24 Das Evidenzbewußtsein ist im Individuum gegeben, ohne daß schon eine InterSubjektivität konstituiert wäre. Allerdings lassen sich bei Heidegger Ansatzpunkte ausmachen, die es erlauben, der Idee des „Ausweisens" mit der Ablösung von dem Gedanken der Anschauung durch Sinnesorgane und der pragmatischen Einbettung in das Bewährungssystem einer Werkwelt eine intersubjektive Interpretation zu geben. Durch das Verfahren der Ausweisung ist die Wahrheit der Aussage bei Heidegger nämlich bereits auf ein intersubjektives Telos bezogen. Während bei Husserl der Gegenstandsbezug der Aussage auch schon ihre Wahrheitsfähigkeit ausmacht (er erfüllt sich auch im solus ipse), wird die Ausweisung der Wahrheitsprätention bei Heidegger auf den möglichen Nachvollzug durch andere bezogen. Entsprechend unterstreicht Heidegger im § 33 von Sein und Zeit, daß die Bedeutung von „Aussage" als „Mitteilung" in direktem Bezug zur „Aussage" als „Aufzeigung" und „Prädikation" steht: „Sie ist Mitsehenlassen des in der Weise des Bestimmens Aufgezeigten. Das Mitsehenlassen teilt das in seiner Bestimmtheit aufgezeigte Seiende mit dem Anderen" (SZ 155).

Dies ist selbstverständlich noch keine Konsenstheorie der Wahrheit, aber die Nachvollziehbarkeit durch andere ist der 24

In diesem Zusammenhang geht auch Tugendhats Gedanke des „Ausweisungssprachspiels" (vgl. Anm. 20) zu Recht über die phänomenologischen Ansätze hinaus.

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Wahrheit der Aussage nach Heidegger nicht nur äußerlich (wie dies bei Husserls Evidenzkonzeption der Fall ist), sondern ein wesentliches Moment. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Heideggers Intersubjektivitätskonzeption keine Kulturkritik des „Man" ist, welcher man wiederum entgegenhalten könnte, daß sie die qualifizierten zwischenmenschlichen Beziehungen übergehe. Das „Man" bezeichnet die indifferente Intersubjektivität, das nicht weiter qualifizierte Wir, das bei Heidegger an die Stelle des indifferenten Ich der egologischen Transzendentalphilosophie tritt.25 (d) Tugendhat sieht sowohl bei Husserl wie bei Heidegger den Zirkel, daß eine Übereinstimmungsrelation konstatiert werden soll, wobei das eine Relat („Sachverhalt") erst durch das andere („Aussage") konstituiert wird. 26 Tugendhat sieht hier die Probleme des produktiven Idealismus auf die phänomenologische Wahrheitskonzeption zukommen. Auf der Basis der hier vorgelegten Rekonstruktion der Heideggerschen Position ergibt sich dieses Problem nicht. Die Aussage im Sinne des apophantischen Als steht in einer Beziehung zum primären Handlungskontext, der diesem äußerlich ist; die Aussage konstituiert nicht diesen primären Handlungskontext. Im Handlungskontext ist die Situation aber mitkonstituiert durch die Handlung selbst, das heißt, das Wahrheitsgeschehen auf der Ebene des hermeneutischen Als ist nicht eine Beziehung zwischen zwei logisch unabhängigen Relaten. Somit gibt es nach Heidegger auf der Ebene des hermeneutischen Als weder Irrtum noch Falschheit, jedoch gibt es Falschheit selbstverständlich auf der Ebene der Aussage. Damit ist zugleich absehbar, daß das Problem der Möglichkeit von Falschheit für Heidegger an die erste Stelle rückt. 25 26

Vgl. ausführlicher C. F. Gethmann: ,Heidegger und die Phänomenologie', § 3 (besonders 30 f.). E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 343 u. ö.

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3. Die Bedingungen der Möglichkeit der Falschheit. Die Unvollständigkeit von Heideggers Wahrheitskonzeption Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Falschheit ist die Schlußfrage von Heideggers Wahrheitstraktat in der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26. Der einschlägige §13 der Vorlesung trägt die Uberschrift „Die Bedingungen der Möglichkeit des λόγος, falsch zu sein. Die Wahrheitsfrage". Heidegger entwickelt seine Position dabei in engem Bezug zu Aristoteles.27 Die Bedeutung dieses Paragraphen mit Blick auf Sein und Zeit geht schon daraus hervor, daß es für ihn in Sein und Zeit keine klare Textentsprechung gibt. Die nächstliegende Frage, die sich angesichts dieses Paragraphen stellt, liegt auf der Hand: Aus welchem Grunde hat die Erklärung der Falschheit der Aussage einen Vorrang vor der Erklärung der Wahrheit der Aussage? Offenkundig ist für Heidegger die Falschheit das eigentliche Explanandum, so daß sich nach Beantwortung dieser Frage das Problem der Wahrheit der Aussage erledigt. Dazu muß an den pragmatischen Grundzug des Heideggerschen Ansatzes erinnert werden. Der Mensch ist im Rahmen des umsichtigen Umgangs in eine Welt des Gelingens und Mißlingens, der „Dienlichkeit" eingebettet. Vor jeder artikulierten Aussage ist diese Welt bereits als Zweck-Mittel-Konstellation im Umgang durch die Umsicht erschlossen. Die auf dieser Erschlossenheit beruhenden wahren Aussagen ergeben sich als ausdrückliche Artikulationen dessen, worauf wir uns aufgrund der Erschlossenheit sowieso verstehen. Sieht man einmal von der Redehandlung der Lüge ab, dann bleibt aber die Frage, wie überhaupt falsche Aussagen möglich sind. Scheinbar besteht doch zwischen der operativen Erschlossenheit und der Artikulation dieses Sachverhalts eine direkte Verbindung, so daß unvorstellbar ist, warum die ausdrückliche Artikulation dieser mißlingen könnte. 27

Besonders Met Γ, Ε 4 und De Int I.

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Auf diese Frage gibt es zunächst eine triviale Antwort: Daß dem Dasein eine Welt a priori erschlossen ist, bedeutet nicht, daß ihm jede mögliche Konstellation von Welt erschlossen ist. Mit vielem, was denkbar wäre, sind die Menschen im Rahmen der alltäglichen Werkwelt nicht befaßt, vieles erschließt sich erst im Laufe der Zeit. Was uns nicht erschlossen ist, ist uns verschlossen. Aufgrund der Endlichkeit des Menschen ist ihm vieles verschlossen; somit ist für ihn ein Wandel der Erschlossenheit und Verschlossenheit spezifisch. Als Exempel für diesen Wandel wählt Heidegger bewußt den Fall derjenigen kognitiven Größen, die für den Platonismus der Geltung gerade die prominentesten Beispiele für die „Ewigkeit" der Wahrheit sind, nämlich die Naturgesetze und die Gesetze der Logik (SZ 226 f.). Heideggers Diktum, daß die Gesetze Newtons nur solange wahr sind, „als Dasein ist", ergibt sich zwanglos aus dem operativen Wahrheitsmodell. Ist ein Relatum der Wahrheitsbeziehung das menschliche Handeln, dann kann die Beziehung nicht bestehen, ohne daß faktische Menschen sie realisieren. Vor Newton können somit die Gesetze Newtons nicht wahr gewesen sein. Dies schließt übrigens nicht aus, daß das Seiende, über das die Gesetze Newtons reden, nicht so sein könnte, daß die Gesetze Newtons auch schon vor Newton hätten erkannt werden können. Tugendhat betrachtet jedoch Heideggers Aussage bezüglich der Gesetze Newtons als Beleg für einen unverständlichen Relativismus. Durch ihn werde die Wahrheit an das faktische Angenommen-Werden der Wahrheit durch Menschen gebunden. 28 Tatsächlich ist diese Kritik an Heidegger lediglich ein Indiz dafür, daß Tugendhat die tiefgreifende Differenz zwischen dem propositionalen und operationalen Wahrheitsmodell nicht berücksichtigt bzw. nicht auf die Interpretation des Heideggerschen Textes bezogen hat. 29 Dieser Vorwurf kann am besten durch die „Ge28 29

E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 334. Vgl. C. F. Gethmann: ,Zum Wahrheitsbegriff', in diesem Band 1 1 5 - 1 3 6 , §3.

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genprobe" belegt werden, indem nämlich gefragt wird, was derjenige unterstellt, der meint, die Gesetze Newtons seien auch schon vor Newton wahr gewesen. Er unterstellt, daß zwischen Aussage und Sachverhalt eine Relation besteht, unabhängig davon, ob ein Mensch sie vollzieht. Somit gibt es Aussagen, die existieren, ohne daß sie ausgesagt werden. Folglich ist zwischen Aussagevollzug und „Aussage an sich" zu unterscheiden; dieser Unterschied ist in der Geschichte der Philosophie mit verschiedenen Termini charakterisiert worden, wie „Idee", „Geltung", „Aussage in specie". In jedem Falle wird der Wahrheit ein präexistenter Status zugeschrieben, so, wie Heidegger ihn im Zusammenhang mit Lotzes Geltungsbegriff vorfindet. Wahrheit wird — wie oben (1.) dargestellt — als identisch, subsistent und universell, mit Heidegger als „beständige Anwesenheit" verstanden. Im Rahmen eines operationalen Wahrheitsmodells ist Heideggers Diktum von den Gesetzen Newtons dagegen trivial, weil die „Passung", die der Artikulation der Wahrheit in der Aussage zugrunde liegt, an eine aufgabenstellende Umgebung gebunden ist. Eine Lösung ist als solche nicht existent, bevor nicht die Aufgabe gestellt ist. Die Gesetze Newtons sind so wenig vor Newton wahr, wie die Indische Partie eine gute Eröffnung vor Erfindung des Schachspiels war. Dies schließt nicht aus, daß es auch vor der Erfindung der Indischen Partie das Schachspiel gab und daß es auch vor Erfindung des Schachspiels Holz gab, aus dem man Schachfiguren hätte schnitzen können. Zusammenfassend kann man bezüglich des Problems der Gesetze Newtons also sagen, daß sich die dazu möglichen zwei Positionen deduktiv aus dem propositionalen bzw. operationalen Ansatz ergeben. Die Frage fällt somit auf die Diskussion dieser Grundmodelle zurück. Im Rahmen eines operationalen Wahrheitsmodells ist jedenfalls ohne zwingende relativistische Konsequenzen formulierbar, daß die Aussagewahrheit im Zuge des Entdeckungsgeschehens „entsteht". Allerdings ist damit die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Aussagefalschheit, sieht man vom Entstehen

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und Vergehen von Erschlossenheiten ab, nicht beantwortet. Heidegger gibt im § 13 c der Vorlesung vom Wintersemester 1925/26 eine dreifache Antwort, die über den Hinweis bezüglich der Gesetze Newtons weit hinausgeht. Diese Antwort besteht im Aufweis von drei Strukturbedingungen der Falschheit, die abschließend im einzelnen untersucht werden sollen. 1. Strukturbedingung: „Die Tendenz zur Entdeckung von etwas — das vorgängige Meinen und Haben des Worüber" (GA21 187).

Offensichtlich greift Heidegger hier Husserls Gedanken der dem Wahrheitsgeschehen vorausliegenden Leerintention auf. Allerdings gibt Heidegger diesem Gedanken eine affirmative Uminterpretation, die aufgrund eines „switch" des Gedankens der Leere möglich ist. Während Husserl durch die Vorstellung der Leere die Abwesenheit der Erfüllung akzentuiert, stellt Heidegger die Antizipation des Woraufhin der Intention heraus. Ohne ein vorgängiges, vermeintliches Haben des Woraufhin gibt es weder Erfüllung noch Enttäuschung. Vor jeder Falschheit muß somit ein apriorisches Haben, eine vorgängige Wahrheit liegen, die nicht durch ein Mißlingen angefochten sein kann. Dies ist nach Heideggers Interpretation der Grundgedanke der von Aristoteles herausgestellten Synthesis-Struktur. Ihr entspricht Husserls Vermeinen und Heideggers Entdeckend-sein. Bezüglich dieser Veritas transcendentalis gibt es keine Wahrheitsdifferenz. Daraus darf man aber nicht, wie Tugendhat es tut, schließen, Heidegger habe die Wahrheitsdifferenz und damit das spezifische Wahrheitsphänomen aufgegeben. 2. Strukturbedingung: „In diesem entdeckenden Grundverhalten als von ihm durchherrscht und geführt ein Sehenlassen des Worüber vom anderen her, denn nur aufgrund dieser Struktur besteht die Möglichkeit des Ausgebens von etwas als etwas" (GA21 187).

Mit dieser Strukturbedingung der Falschheit stellt Heidegger die Doppelstruktur der Auslegung im Sinne des herme-

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neutischen Als heraus. Das Woraufhin der Leerintention ist nicht selbst Grund der Erfüllung oder Enttäuschung, sondern der Mensch muß eine Auslegungsoption haben und mit dieser an das Seiende herantreten. Heideggers Beispiel ist die Täuschung der Sinne: Wir legen im dunklen Walde etwas als Reh aus, das sich dann als ein besonders geformter Strauch erweist. Besser wäre gewesen, wenn Heidegger anstelle dieses optischen Beispiels ein haptisches gewählt hätte, beispielsweise den Fehlgriff. Im Rahmen des sonst von Heidegger bevorzugten Hammerbeispiels: Ich suche etwas zum Hämmern, greife den solide aussehenden Brocken, aber der zerbricht beim ersten Schlag. 3.

Strukturbedingung:

„Dieses Sehenlassen vom anderen her gründet zugleich in der Möglichkeit des Beisammen von etwas mit etwas" (GA21 187).

Mit dem „Beisammen" wird wiederum der Synthesis-Charakter herausgestellt. Selbst im Verfehlen, also der Enttäuschung der Leerintention, haben wir eine Komplexität von intentionalem Gegenstand und Auslegungsoption. Es gibt somit keine „einfachen" Gegenstände, denn sobald sich unser Interesse auf den Gegenstand richtet, ist die präsupponierte Einfachheit überwunden. Sobald auch nur ein Gegenstand menschliches Interesse findet, ist die Zwiefalt von Gegenstand und interessegeleiteter Auslegungsoption gegeben. In diesem Gedanken liegt die stärkste Begründung für die von Heidegger behauptete Doppelstruktur der der Aussage zugrundeliegenden Auslegung. Diese Doppelstruktur wiederum ist maßgebend dafür, daß Heidegger die Auslegung an die Stelle der Wahrnehmung setzt. Was ist aber der Grund dafür, daß das Vermeinen gelegentlich zur Erfüllung und gelegentlich zur Enttäuschung wird; im Beispiel gesprochen: Wie kommt es, daß das vermeintliche Hammerding zum Hämmern manchmal geeignet, manchmal ungeeignet ist? Die Frage ist wohlgemerkt nicht die, warum manche Gegenstände zu manchen Zwecken un-

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geeignet sind, sondern die, warum wir uns manchmal vergreifen und manchmal nicht. Wie kommt es somit eigentlich zur Möglichkeit der Wahrheitsdifferenz? Heideggers Antwort ist: Die Auslegung kann das anfänglich entdeckte Seiende auch verdecken. In diesem Falle legt die Auslegungsoption das Seiende nicht so aus, wie es ist (GA21 188). Das anfängliche Haben des Seienden gerät nicht zur Entdeckung in Erfüllung, sondern es mißlingt zur Verdeckung in Enttäuschung. Ist damit von Heidegger eine Antwort auf die Frage gegeben, wie es zur Falschheit der Aussage kommen kann? Die Antwort hängt davon ab, wie man grundsätzlich ,Woherkommt-es, daß'-Fragen versteht. Ein reduktives und ein produktives Verständnis sind dabei zu unterscheiden. Reduktiv sind derartige Fragen beantwortet, wenn man die Möglichkeitsbedingungen angegeben hat, die vorhanden sein müssen, damit das Explanandum eintreten kann. In diesen Fällen sind diese Fragen als Fragen nach den notwendigen Bedingungen verstanden. Versteht man diese Fragen jedoch produktiv, dann verlangt man eine rationale Genesis des Explanandum aus den Möglichkeitsbedingungen; mit anderen Worten: Die Fragen sind erst durch Angabe der hinreichenden Bedingungen beantwortet. Im Sinne einer produktiven Auffassung der Frage, woher es kommt, daß Aussagen falsch sein können, ist diese Frage durch Heidegger nicht beantwortet. Heideggers Konzeption ist auf dem Hintergrund dieser Frageauffassung unvollständig. Sie hat daher auch keine Kontur, die es erlaubte, sie mit anderen Konzeptionen, ζ. B. den Konsenstheorien oder Kohärenztheorien in Beziehung zu setzen. Heideggers Abhandlung des Wahrheitsthemas ist somit kein vollständiger Wahrheitstraktat. Allerdings ist zu beachten, daß es weder in Sein und Zeit noch in den Marburger Vorlesungen Heideggers Absicht ist, einen solchen auszuarbeiten. Die Wahrheitsfrage ist für ihn ein Durchgangsthema, um die Seinsfrage zu explizieren. Für diese Aufgabenstellung ist durch die reduktive Beantwortung der ,Woher-kommt-es, daß'-Frage einiges geleistet. Insbeson-

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dere stellt Heidegger heraus, daß das Sein des Seienden als Gegenstand menschlichen Interesses, das heißt als apriorische Entdecktheit komplex im Sinne des hermeneutischen Als ist. Somit wird eine Synthesis antizipiert, die durchaus „anthropozentrisch" bestimmt ist. Dieses Synthesis garantiert jedoch nicht die apophantische Wahrheit, sie ist nur notwendige und nicht hinreichende Bedingung der Aussagewahrheit. Im produktiven Verständnis der ,Woher-kommt-es, daß'Frage hat Heidegger somit die Möglichkeit der Wahrheitsdifferenz bezüglich der Aussage nicht erklärt. Es kann jedoch kein Zweifel sein, daß Heidegger an der Wahrheitsdifferenz festhält, die Notwendigkeit der Ausweisung der Aussagewahrheit durchweg betont und somit am Geschäft der Philosophie, der kritischen Aufklärung, teilnimmt.

Der existenziale Begriff der Wissenschaft Zu Sein und Zeit, § 69 b Heideggers Sein und Zeit ist in seiner philosophischen Grundkonzeption ein mehrdeutiges Werk. Seit dem Erscheinen des Buches konkurrieren wenigstens ein existenzphilosophischer, ein lebensphilosophisch-hermeneutischer, ein metaphysischer und ein (transzendental-)phänomenologischer Interpretationsansatz. Die Ursachen der interpretatorischen Unsicherheiten bezüglich Sein und Zeit (einschließlich der von Heidegger veröffentlichten Schriften im Umkreis dieses Werkes, die im folgenden immer mit eingeschlossen sind), liegen — soweit sie in den Texten Heideggers zu suchen sind — auf der Hand. Hervorzuheben sind die fragmentarische Gestalt des veröffentlichten Textes, die spätere Philosophie Heideggers und die damit verbundenen Verständnisprobleme der „Kehre", die unklaren philosophiehistorischen Einordnungen, die das Werk scheinbar oder wirklich nahelegt, ermöglicht oder verwehrt. Bezüglich der philosophiehistorischen Einordnung haben die Philosophen lange Zeit u. a. mit dem Umstand zu tun gehabt, daß Sein und Zeit in keiner eindeutigen Kontinuität zu den früheren Veröffentlichungen Heideggers steht (gerade deshalb gibt es zahlreiche Deutungsversuche über den Zusammenhang von ζ. B. Habilitationsschrift und Sein und Zeit), obwohl natürlich dem Finden von „Gemeinsamkeiten" bei einigem Training im Bilden generischer Begriffe keine Grenzen gesetzt sind; trotz zahlreicher Versuche haben Heideggers „Frühe Schriften" wenig eindeutige Hinweise für das Verständnis von Sein und Zeit gebracht. Wenigstens bezüglich der letzterwähnten Interpretationsbarriere hat sich in den letzten Jahren eine weitgehende Veränderung der Situation ergeben, nämlich durch die Veröf-

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fentlichungen der Marburger Vorlesungen Heideggers. 1 Für das Verständnis der Philosphie Heideggers im Umkreis von Sein und Zeit (und darüber hinaus) kann ihre Bedeutung wegen ihrer zeitlichen Nähe zu Entstehungszeit und Erscheinungsdatum von Sein und Zeit kaum überschätzt werden, lassen sie doch klar erkennen, wie sich die in Sein und Zeit formulierten philosophischen Einsichten herausgebildet haben und — was unter Interpretationsgesichtspunkten fast noch wichtiger ist — in welchem philosophischen Diskussionstext Heidegger seine denkerische Arbeit selbst gesehen und entwickelt hat. Von den bisher erschienenen Marburger Vorlesungen sind die ,Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs' vom Sommersemester 1925 von besonderer Bedeutung (GA20); die Vorlesung enthält übrigens wenige Passagen zur Zeitproblematik, dafür aber eine ausführliche Diskussion Heideggers mit den zeitgenössischen philosophischen Ansätzen, besonders mit der Phänomenologie. Auf dem Hintergrund einer Kritik des phänomenologischen Ansatzes entwikkelt die Vorlesung bereits entscheidende Stücke von Sein und Zeit (mit signifikanten Differenzen) bis zur Zeitanalyse ausschließlich. Diese ist demgegenüber ausführlich behandelt in der Vorlesung ,Grundprobleme der Phänomenologie' vom Sommersemester 1927, die ihrerseits für Heideggers Verhältnis zur Phänomenologie weniger aufschlußreich ist. Eine eingehende philosophische Bearbeitung der Zusammenhänge der Marburger Vorlesungen mit Sein und Zeit steht noch aus und soll nicht Aufgabe dieses Beitrags sein. Statt dessen soll hier gleich eine generelle These für das Verständnis von Sein und Zeit formuliert werden, wie es sich nach der jüngsten Textlage ergibt.

1

Inzwischen sind auch die frühen Freiburger Vorlesungen in die Gesamtausgabe aufgenommen. Erschienen ist bereits die Vorlesung .Phänomenologische Untersuchungen zu Aristoteles' aus dem WS 1921/22 (GA61). Vgl. C. F. Gethmann: .Philosophie als Vollzug und als Beg r i f f , in diesem Band 2 4 7 - 2 8 0 .

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Mit dem Projekt der Fundamentalontologie strebte Heidegger nicht mehr und nicht weniger an, als eine „zweite Ausbildung" der Phänomenologie, selbstverständlich eine solche, in der die von ihm festgestellten Defizite von Husserls „erster Ausbildung" 2 beseitigt sind. Im Rahmen einer generellen philosophischen Positionsformulierung scheinen keine Zweifel mehr möglich, daß Sein und Zeit als Versuch einer Refor mulierung des phänomenologischen Programms zu lesen ist, und daß die diesbezüglichen Aussagen im § 7 von Sein und Zeit, deren Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten bisher allerdings andere Verständnisansätze ermutigen konnten, für bare Münze zu nehmen sind. Insbesondere findet sich für ein Philosophieverständnis im Sinne der Hermeneutischen Philosophie kein Beleg; der „Heidegger Heidelbergensis" war ein Phantom. 3 Demgegenüber hat eine Minderheit von Interpreten von Sein und Zeit richtig gesehen, die Heidegger in einen phänomenologischen Diskussionszusammenhang gestellt haben und dabei vor allem die spätere, transzendentalphilosophisch akzentuierte Fassung der Phänomenologie Husserls vor Augen hatten. 4 Auffallen muß an den Vorlesungen vor allem, daß 2

3

4

Vgl. die Kapitelüberschrift in Prolegomena. 3. Kap.: „Die erste Ausbildung der phänomenologischen Forschung und die Notwendigkeit einer radikalen Besinnung in ihr selbst und aus ihr selbst heraus" (GA20 123). Das gilt jedenfalls hinsichtlich Sein und Zeit. Nachdem inzwischen eine genauere Einblicknahme in die frühen Freiburger Vorlesungen möglich ist, sprechen textliche und biographische Zeugnisse dafür, daß man die Hermeneutische Philosophie als eigenständige Weiterführung der frühen Konzeptionen Heideggers — sozusagen an Sein und Zeit vorbei — ansehen kann. Vgl. genauer F. Hogemann: .Heideggers Konzeption der Phänomenologie'; C. Jamme: ,Heideggers frühe Begründung der Hermeneutik'. Vgl. ferner C. F. Gethmann:,Philosophie als Vollzug und als Begriff', in diesem Band 247—280. Vgl. besonders (alphabetisch): K.-O. Apel: Dasein und Erkennen-, ders.: Die Idee der Sprache·, ders.: ,Die beiden Phasen der Phänomenologie'; ders.: ,Heideggers philosophische Radikalisierung der .Hermeneutik' '; M. Brelage: Studien %ur Trans^endentalphilosophie\ E. Coreth: .Heidegger und Kant'; A. Diemer: EdmundHusserl; ders.: .Grundzüge Hei-

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Heidegger das Programm der Phänomenologie Husserls im Ansatz affirmativ, ja sogar offensiv vor allem gegen den Neukantianismus vertritt; die philosophische Situation in Marburg liefert dafür natürlich hinreichend historische Erklärung. Heidegger sieht sich durchaus als phänomenologischer Missionar in der philosophischen Diaspora, ohne freilich einen bestimmten Stand der Überzeugung zu dogmatisieren, sondern in der Absicht, die eigene Position kritisch zu revidieren. 1. Heideggers Reformulierung des phänomenologischen Programms Der Begriff der „Reformulierung" beinhaltet bereits, daß Heideggers „zweite Ausarbeitung" des phänomenologischen Ansatzes Kontinuität und Diskontinuität zu Husserls erster Ausarbeitung enthält. Auf der Ebene konkreter phänomenologischer Analyse und Rekonstruktion überwiegt deutlich der Eindruck der Diskontinuität — obwohl dieser Eindruck aufgrund der terminologischen Unterschiede auch hier leicht täuscht. Allerdings dürfte klar sein, daß für Heidegger die Kontinuität primär auf einer sehr fundamentalen Ebene des Philosophieverständnisses liegt. In dieser Hinsicht lösen die Vorlesungstexte, v. a. die ausführliche Darstellung der Phänomenologie in den §§5 — 9 der ,Prolegomena', die allgemeideggerschen Philosophierens'; K. Lorenz/J. Mittelstraß: ,Die Hintergehbarkeit der Sprache'; M. Theunissen: ,Intentionaler Gegenstand und ontologische Differenz'; E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger. — D. Follesdal spricht neuerdings unter Berufung auf eine Randnotiz Husserls zu Sein und Zeit von einer bloßen „Übersetzung" der Husserlschen Philosophie durch Heidegger und bezeichnet Heideggers Konzeption als „basically isomorphic" zu derjenigen Husserls (,Husserl und Heidegger'). Die Sicht mag extrem erscheinen, ihr kommt jedoch mehr Wahrheit zu als der entgegengesetzten, wonach Husserl und Heidegger trotz der Berufung auf den Terminus „Phänomenologie" nichts gemein hätten (so beispielsweise R. Schacht: ,Husserlian and Heideggerian Phenomenology').

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nen Aussagen zur Phänomenologie und zu den in ihr liegenden „Möglichkeiten" ein. Gleichwohl wäre eine Interpretation nach dem Muster: Heidegger liefert eine Neubearbeitung eines Sachproblems nach den Prinzipien einer altbekannten phänomenologischen Methode zu einfach. Husserl selbst scheint sich übrigens die Arbeit seiner Mitarbeiter und Schüler nach diesem Muster vorgestellt zu haben; da Heidegger im Phänomenologiekreis als Phänomenologe mit metaphysischen und religionsphilosophischen Spezialkompetenzen galt, waren persönliche Enttäuschung und sachliches Mißverständnis von Sein und Zeit durch Husserl nahezu zwangsläufig. Es ist demgegenüber unübersehbar, daß Heidegger auch die philosophisch-methodologischen Grundlagen der Phänomenologie kritisiert und revidiert. Ein herausragendes Textzeugnis dafür sind die §§ 11 — 13 der ,Prolegomena' zusammen mit dem § 14 des Hauptteils dieser Vorlesung. Im §11 führt Heidegger eine „immanente Kritik der phänomenologischen Forschung" durch, die sich immerhin gegen einen Grundgedanken der Husserlschen Phänomenologie gerade in ihrer transzendental radikalisierten Fassung richtet, nämlich gegen die Idee des reinen Bewußtseins. Im § 12 gibt Heidegger als Grund für das diagnostizierte Fehlverständnis ein „Versäumnis" Husserls an, nämlich die Frage nach dem „Sein des Intentionalen" nicht gestellt zu haben. Dieses Versäumnis habe das philosophisch wichtigere Versäumnis zur Folge — wie Heidegger im § 13 darstellt —, daß die Frage nach dem „Sinn von Sein selbst" bei Husserl (wie auch bei Dilthey und Scheler) unterblieben sei. Diese Kritik ist nun nicht nur Anlaß, sondern auch Explikationsgrundlage für Heideggers eigenen Zugang, wie im § 14 der ,Prolegomena' unmißverständlich ausgeführt wird: „Die Frage nach dem Sein als solchem ist aber nur zu gewinnen, wenn das Fragen geleitet ist von einem Zu-Ende-fragen, bzw. in den Anfang Hineinfragen, d. h. wenn es bestimmt ist von dem radikal ergriffenen Sinn des phänomenologischen Prinzips — der Sache selbst — Seiendes als Seiendes selbst in seinem Sein sehen lassen" (GA20 186).

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Was Heidegger hier offeriert, ist nicht weniger als eine Propädeutik zur Frage nach dem Sinn von Sein. Das Thema des Seins sei nämlich mit dem „Sinn des phänomenologischen Prinzips" identisch. Das phänomenologische Prinzip sei also durch Husserl in zentralen Zügen richtig gesehen worden, wenn Husserls Zugang auch durch ein fundamentales „Versäumnis" gekennzeichnet sei. Das Verständnis von Husserls Versäumnis — die Frage nach dem „Sein des Intentionalen" nicht gestellt zu haben — ist somit ein Schlüssel zum Verständnis von Heideggers philosophischem Generalthema, der Seinsfrage. Handelt es sich hier jedoch um eine echte Problemreduktion? Dies ließe sich nur bejahen, wenn es offenkundig einfacher wäre zu klären, was Husserl nach Heideggers Untersuchung denn versäumt hat, als dasjenige, wonach mit der Frage nach dem Sinn von Sein gefragt ist. Was Husserl aber versäumt haben soll, liegt keineswegs auf der Hand. In der Tat hat Husserl die Frage nach dem „Sein des Intentionalen" nicht gestellt — er hätte diese Frage eher als merkwürdig empfunden. Dies macht aber noch kein Versäumnis aus; von einem Versäumnis kann man ja nur sprechen, wenn jemand eine Frage nicht stellt, deren Behandlung von ihm billigerweise hätte erwartet werden können und deren Nicht-Behandlung Folgen hat, die auch dem Adressaten des Vorwurfs unlieb sind. Zurecht stützt Heidegger den Versäumnis-Vorwurf daher auf eine „immanente Kritik" (GA20 § 11). In dieser angeblich immanenten Kritik findet jedoch die Rede vom Sein bereits ständig Anwendung, eine Anwendung, die Husserl vermutlich für unverständlich gehalten hätte. Zunächst wäre also zu klären, welche Probleme Heidegger in Husserls Darstellung der Strukturen des reinen Bewußtseins denn vor Augen gehabt hat. Ist diese abschließende Rückübersetzung des Heideggerschen Problems in den Husserlschen Fragezusammenhang aber überhaupt möglich? Oder geht es uns wie dem Benutzer eines philosophischen Lexikons, der den Querverweisen folgt in der Hoffnung, irgendwo einmal abschließend etwas zu verstehen, nach einiger

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Zeit jedoch feststellen muß, daß er da wieder ankommt, wo er angefangen hat? Zugegeben: Heideggers Verfahren, bestimmte Probleme auf jeweils (methodisch) frühere zu reduzieren, hat gelegentlich diesen Zug. Gleichwohl ist Heidegger alles andere als ein philosophischer Eskapist, hat er uns doch weitläufige substantielle Untersuchungen zu den herausgestellten Grundfragen (jedenfalls zu einigen von ihnen) vorgelegt. Allerdings tritt hierbei sofort eine der bekannten zentralen Interpretationshürden zutage: Zwischen diesen substantiellen Untersuchungen (ζ. B. den Analysen zum In-derWelt-sein) und dem Ziel einer Fundierung der Ontologie wird zwar wiederholt ein methodischer Zusammenhang postuliert; worin aber besteht dieser konkret? Diese Frage ist natürlich nur für das jeweils zur Debatte stehende Problem zu beantworten. Von den zahlreichen Fragen, die man hier aufwerfen kann, ist das Problem der ontologischen Fundierung der Wissenschaften keineswegs eines neben anderen. Es ist vielmehr das Zielproblem, oder — anders formuliert — das Problem, an dem sich die durch die Fundamentalontologie ermöglichte Ontologie mittels der regionalen Ontologien zu bewähren hat. Dies ist im § 3 von Sein und Zeit unter dem Stichwort des „ontologischen Vorrangs" der Seinsfrage eindeutig ausgeführt. Entsprechend heißt es in der Vorlesung phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft' programmatisch: „Die Begründung der Selbstbegründung der Wissenschaften vom Seienden vollzieht sich in den regionalen Ontologien. Die Ontologie also vollzieht allererst die Grundlegung einer ontischen Wissenschaft. Grundlegung einer Wissenschaft von Seiendem heißt: Begründung und Ausbildung der ihr zugrunde liegenden Ontologie. Diese Ontologien gründen ihrerseits in der Fundamentalontologie, die das Zentrum der Philosophie ausmacht" (GA25 39). Von daher ist es keineswegs abwegig, in Sein und Zeit einen wissenschaftstheoretischen Traktat zu sehen 5 ; diese Deutung ist aber gegen mögliche Mißverständnisse abzusichern: 5

So nachdrücklich H. Seigfried in ,Descriptive Phenomenology and

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(a) Der Begriff Wissenschaftstheorie" darf nicht im engen Sinn des Logischen Empirismus und der Analytischen Philosophie verstanden werden. Gegen dieses Verständnis der Wissenschaftstheorie wendet sich Heidegger ausdrücklich mit seiner Unterscheidung zwischen einem logischen und einem existenzialen Begriff der Wissenschaft. Der logische Begriff der Wissenschaft betrachtet die Wissenschaften als einen — wie Heidegger formuliert — „Begründungszusammenhang wahrer, das ist gültiger Sätze" (SZ 357). Heidegger lehnt diese Betrachtungsweise nicht ab, sondern rekonstruiert sie als unvollständig und abgeleitet (vgl. SZ 11). Der existenziale Begriff der Wissenschaften hat es demgegenüber mit der Konstitution des wissenschaftlichen Gegenstandes und der entsprechenden wissenschaftlichen Methode zu tun. Übrigens deutet Heidegger programmatisch an, daß eine „vollzureichende existenziale Interpretation der Wissenschaft" auch das Verhältnis von Seinsfrage und Wahrheit, d. h. hier wissenschaftlicher Satzwahrheit („logischer" Wahrheit) zu klären hätte — ein Problem, das in den bisher bekannten Texten offen bleibt. Für die Diskussionslage der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie bleibt jedoch als Anregung festzuhalten, daß für Heidegger das logische und das existenziale Wissenschaftsverständnis keine wissenschaftsphilosophischen Alternativen sind, sondern in einem systematischen Fundierungsverhältnis zueinander stehen. Constructivism* und ,Heidegger's longest Day'. Seigfried widerspricht der Behauptung von W. J. Richardson, der unter Anspielung auf den Tag der Invasion der Alliierten behauptet hatte: „In the longest day he ever lived, Heidegger could never be called a philosopher of science" (W. J. Richardson: ,Heidegger's Critique of Science', 511). In mehr entwicklungsgeschichtlicher Perspektive hat sich auch Th. Kisiel gegen diese Behauptung gewandt und drei Phasen der Entwicklung der Heideggerschen Wissenschaftsphilosophie unterschieden: eine logisch-epistemologische (bis ca. 1916), eine existenzial-ontologische (ca. 1925 — 1929) und eine seinsgeschichtliche (Th. Kisiel: „On the Dimensions'). Aufgrund der neuesten Textlage wird man für die Zeit von ca. 1919 bis 1925 noch eine hermeneutisch-lebensphilosophische Phase einfügen müssen.

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(b) Die Rede von Sein und Zeit als wissenschaftstheoretischem Traktat darf nicht in der trivialisierenden Lesart verstanden werden, die Darstellungen der Fundamentalontologie hätten Auswirkungen auf die Wissenschaftstheorie (welche philosophischen Gedanken hätten dies nicht). Die These ist stärker: Das Fundierungsproblem der Wissenschaften ist das Problem, auf dessen Lösung die Fundamentalontologie gerichtet ist; nicht eine allgemeine Sinntheorie, eine Theorie der Lebenswelt, eine natürliche Gotteslehre, eine Philosophie der Geschichte, sondern eine Theorie der Wissenschaftsfundierung leitet methodisch den Auflau der Fundamentalontologie. Die Wissenschaften und ihre ontologischen Grundlagen sind daher für Heidegger nicht nur ein didaktisches Exempel, sondern der entscheidende „Probierstein". Die Einzelanalysen von Sein und Zeit, die von dieser Zwecksetzung oft weit entfernt zu sein scheinen, sind von Heidegger strikt auf das Ziel einer Ontologie hinkomponiert worden. Belege dafür sind v. a. die zahlreichen Methodenparagraphen und die stereotype Wiederholung des Hinweises auf den „methodischen" Charakter der Untersuchung, den Heidegger umso mehr betont, je „existentialistischer" sich die daseins-analytische Diktion anhört. 6 (c) Die Fundamentalontologie ist nur mittelbar auf die Wissenschaften bezogen, unmittelbar dagegen auf die Ontologie, d. h. für Heidegger: Philosophie. Dabei bleibt dieses Fundierungsprogramm der Philosophie der Idee der „Philosophie als strenger Wissenschaft" verpflichtet. Die Fundamentalontologie ist primär die Methodologie der Philosophie (universale Ontologie), die ihrerseits die Grundlagen der Wissenschafte« in Gestalt der regionalen Ontologien liefert. Gegen diese Deutung von Sein und Zeit liegt allerdings der Einwand nahe, sie beschränke die Fundamentalontologie — im Rahmen üblicher Unterscheidungen gesprochen — auf die theoretische Philosophie. Tatsächlich gilt, daß die Fundamentalontologie hier das theoretische Ubergewicht der Phäno6

Vgl. C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung.

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menologie Husserls weiterführt — die phänomenologische Wissenschaftstheorie einschließlich Heidegger ist durch einen „Theoretizismus" geprägt. Sieht man von diesem Einwand — der genauerer Ausführung bedürfte — ab, dann läßt sich durchaus sagen, daß die Fundamentalontologie in dem Sinn Wissenschaftstheorie ist, wie alle theoretische Philosophie der Neuzeit von Descartes bis Husserl Wissenschaftstheorie war. Diese allgemeine Einordnung darf freilich nicht übersehen lassen, daß Husserls phänomenologische Fassung des Problems der Fundierung des wissenschaftlichen Wissens neu war; Heidegger selbst spricht von „fundamentalen Entdeckungen" Husserls. (GA20 34 ff.) Die Innovativität der Phänomenologie besteht dabei nicht substantiell in der Behandlung neuer Themen, ζ. B. dem Thema der Intentionalität (das ja keineswegs neu war), sondern in der Art der Fragestellung. Genauer: Husserl gelang es, bezüglich des Problems der „Objektivität der Gegenstände" zwei Fragen klar zu unterscheiden: die Frage nach der subjektunabhängigen Existenz einer Außenwelt von Gegenständen und die Frage nach der Konstitution trans-okkasioneller Gegebenheitsweisen des Bewußtseins. Diese zweite — phänomenologische — Frage war es, die Husserl als das wissenschaftsphilosophische Kernproblem ansah und in mehrfachen Anläufen der Neukonzipierung des phänomenologischen Programms (von der korrelationsanalytischen über die konstitutionstheoretische und transzendentalphilosophische bis zur lebensweltlich-genetischen Fassung der Phänomenologie 7 ) zu bearbeiten suchte. Diese Frage muß daher auch als interpretatorischer terminus a quo genommen werden, wenn man die Bedeutung von Heideggers Reformulierung des phänomenologischen Programms und die Grundideen seiner „zweiten Ausarbeitung" zu bestimmen sucht. 8 7

8

Vgl. die Darstellung von K . Held: .Edmund Husserl'. Der Begriff der „Transokkasionalität" wird übernommen von K . Held: ,Das Problem der Intersubjektivität'. Es ist bemerkenswert, daß auch D. Follesdal: ,Husserl and Heidegger'

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Heideggers Kritik an Husserls „Versäumnis" zielt zunächst auf eine von Husserl verwendete, aber nicht ontologisch gerechtfertigte „Seinsunterscheidung", nämlich der von Konstitution leistendem Ich auf der einen und der Welt konstituierter Gegenstände auf der anderen Seite, genauer: Heidegger kritisiert, daß diese Unterscheidung bei Husserl ohne weiteres begrifflich mit der methodologischen Unterscheidung von Konstituens und Konstitutum parallelisiert wird. Demgegenüber macht Heidegger durch seine Analyse des In-derWelt-seins und die in diese Darstellungen eingelagerte Kritik an Husserl deutlich, daß das Dasein so wesentlich in Welt und mit anderen existiert, daß es als in-der-Welt-seiender konkreter Mensch das transzendentale Konstituierende (besser: der Ort der Konstitution) ist. Die Welt, in der das Dasein zu sein hat, gehört also methodisch auf die Seite des Konstituierenden; demgegenüber ist das in seiner ontologischen Konstitution Aufzuklärende die Sonderwelt, v. a. die Region wissenschaftlich thematisierter Gegenstände. Somit läßt sich also durchaus genau sagen, was für Heidegger bewahrenswertes Prinzip der Phänomenologie ist und bezüglich welcher Frage seine „zweite Ausarbeitung" radikal neu beginnt: Zu bewahren ist für Heidegger der Gedanke einer konstitutiven Aufklärung der transokkasionellen Geltungsansprüche, für welche (das gilt für Husserl wie für Heidegger) die Wissenschaften das vorrangige Paradigma liefern. Unkritisch war Husserl jedoch nach Heidegger, indem er der neuzeitlichen Philosophie darin folgte, daß die Leistung der Konstitution einem weltlosen Ich als Leistenden und das Produkt der Leistung dem (bei Husserl freilich sehr differenziert analysierten) mundanen Gegenstandsbereich zugeordnet wurde. Man sieht ab, daß Heideggers Phänomenologiekritik an sehr fundamentale Positionen Husserls rührt, daß sein Bestehen auf dem Prinzip der Phänomenologie jedoch nicht nur inhaltsleeres Bekenntden Gedanken der Konstitution („Entwurf") als gemeinsames Fundament von Husserlscher und Heideggerscher Phänomenologie bestimmt.

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nis ist. Die Identifikation bezieht sich auf den methodologischen Grundsatz der Phänomenologie; und hier ist Heideggers wiederholte Feststellung, Phänomenologie bezeichne eine Methode, aber keine philosophischen Inhalte, durchaus nachvollziehbar. Wenn für Husserl wie für Heidegger die Aufklärung transokkasioneller Geltungsansprüche eine zentrale Aufgabe der Philosophie war, müssen sich die angedeuteten Differenzen, die Heidegger unter dem Stichwort des „Versäumnisses der Frage nach dem Sein des Intentionalen" anzielt, auch in einem anderen Zugang zum Fundierungsproblem der Wissenschaft wiederfinden lassen. Folglich läßt diese Differenz auch eine Präzisierung der Bedeutung der Frage nach dem „Sein des Intentionalen" und damit auf die Seinsfrage im allgemeinen zu.

2. Die ontologische Genesis der Wissenschaften Vor dem skizzierten Hintergrund darf die wissenschaftstheoretische Programmatik, die Heidegger in § 69 b unter dem Titel eines „existenzialen Begriffs der Wissenschaft" entwickelt, keineswegs als philosophischer Exkurs gelesen werden. Sein und Zeit enthält zwar einen philosophischen Exkurs, nämlich das Kapitel über „Zeitlichkeit und Geschichte"; demnach ist die Interpretation der Geschichtlichkeit des Daseins lediglich eine „konkretere Ausarbeitung" (SZ 382) der Zeitlichkeitsthese. Demgegenüber steht der § 69 b an einer für die Fundamentalontologie entscheidenden Stelle. Heidegger macht mit unübersehbarer Deutlichkeit darauf aufmerksam, daß seine Aussagen zum existenzialen Begriff der Wissenschaft aus diesem Zusammenhang heraus zu verstehen seien: Seine Ausführungen zur Genese des theoretischen Entdeckens stünden „im Zuge der existen^ial-ontologischen Analysen" (SZ 356) und seien unter den durch die „Stufe der Betrachtung" (SZ 357) bestimmten Beschränkungen zu verstehen. Um diesen Zusammenhang zu präzisieren, muß man sich den methodischen Gang der Fundamentalontologie vor

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Augen halten, den man als Dialektik von Reduktion und Repetition9 beschreiben kann. Ausgehend vom alltäglichen Selbstvollzug des Daseins wird eine apriorische Struktur reduktiv herausgearbeitet, die Heidegger „Sorge" nennt (die ,Prolegomena' bestätigen übrigens die Deutung, daß mit „Sorge" der existenzial-ontologische Nachfolgebegriff der „Intentionalität" formuliert ist10); sodann werden die Phänomene des In-der-Welt-seins im Lichte der Grundverfassung des Daseins als „Sorge" neu („eigentlich") interpretiert („eigentliches Inder-Welt-sein"). Die dadurch mögliche „Wiederholung" erlaubt eine Verbesserung der Bestimmung des Seins des Daseins, nämlich als Zeitlichkeit. Diese verlangt nun eine erneute Wiederholung, nämlich die zeitliche Interpretation des In-der-Welt-seins; den methodischen Sinn dieser Wiederholung der existenzialen Analyse erörtert Heidegger im § 66 von Sein und Zeit. Demnach geht es darum, die Ergebnisse der Analyse des alltäglichen und des eigentlichen In-der-Weltseins auf neuesten ontologischen Kenntnisstand zu bringen. Dieses Programm wird im 4. Kapitel des Zweiten Teils (§§ 67 — 71) ausgeführt. Entsprechend verweisen die meisten Paragraphen in den Anmerkungen auf die prä-temporalen Analysen zurück. Auch die Entstehung des „theoretischen Verhaltens" aus dem „umsichtigen Besorgen" ist entsprechend auf frühere Untersuchungen zu beziehen. Zwar fehlt hier ein textlicher Querverweis durch eine Anmerkung. Was ist es jedoch, das nach Heideggers Ausführungen im § 69 b zeitlich interpretiert werden muß, um die Zeitlichkeit der Genesis des wissenschaftlichen Erkennens herauszustellen? Nach der eindeutigen Aussage des Textes „wird der Aufweis der existenzialen Genesis der Wissenschaft bei der Charakteristik der Umsicht einsetzen müssen" (SZ 358). Mit „Umsicht" bezeichnet Heidegger im Rahmen der Weltanalyse das kognitive Moment des praktischen Besorgens der Umwelt (vgl. SZ 69).

9 10

C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, 3.3.5.; vgl. in diesem Band das Schema auf S. 15. Vgl. § 31 f. der Prolegomena (GA20 406 ff.).

182

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Die Bezugsparagraphen im prä-temporalen Teil der Fundamentalonotologie sind damit eindeutig die §§ 15 — 17, deren ontologische Zentralbegriffe „Zuhandenheit" und „Vorhandenheit" sind. Die gesamte Weltanalyse besteht, kurz gesagt, in einer phänomenologischen Erklärung der Ausdifferenzierung der Vorhandenheit aus der primären Zuhandenheit. Dieser Vorgang wird im § 69 b mehrfach (bereits in der Uberschrift) als „Modifikation" bzw. „Umschlag" beschrieben. Der Entstehung des theoretischen Entdeckens als kognitiver Modus der Wissenschaften aus dem umsichtigen Besorgen entspricht die Modifikation der Zuhandenheit in die Vorhandenheit. Dieser Einsicht des prä-temporalen Teils der Fundamentalontologie fügt die zeitliche Repetition genau genommen nur noch die These hinzu: Der „zeitliche Sinn" dieser Modifikation ist die „Gegenwärtigung" (SZ 359), eine These, die Husserl schon nahegelegt habe (SZ 363, Anm. 1). Für die Ausrichtung der Weltanalyse auf den existenzialen Begriff der Wissenschaft gibt es nun auch einen eindeutigen Textbeleg: Es ist § 2 a, α der Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, der die existenziale Wissenschaftstheorie unmittelbar mit Hilfe der zentralen Begriffe der Weltanalyse erläutert. Der § 2 dieser Vorlesung, der die Überschrift trägt: „Allgemeine Bedeutung der Grundlegung einer Wissenschaft" ist neben dem Vortrag Phänomenologie und Theologie eine wichtige Stütze für die Interpretation von Sein und Zeit·, im übrigen hat eine seit langem gedruckte Vorlesung, und zwar ebenfalls eine Einleitung zu einer Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, sehr viele Anhaltspunkte zu geben: die zu unrecht wenig beachtete Vorlesung „Grundfragen der Metaphysik" vom Wintersemester 1935/36, die 1962 unter dem Titel Die Frage nach dem Ding erschien. Nunmehr läßt sich der wissenschaftstheoretische Grundbegriff Heideggers, nämlich der der „ontologischen Genesis", in bezug auf Sein und Zeit präzisieren. Eine solche Präzisierung ist notwendig, weil Heideggers eigene Charakterisierung alles andere als klar ist: „Nach der ontologischen Genesis der theore-

Der existenziale Begriff der Wissenschaft

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tischen Verhaltung suchend, fragen wir: welches sind die in der Seinsverfassung des Daseins liegenden, existenzial notwendigen Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß das Dasein in der Weise wissenschaftlicher Forschung existieren kann?" (SZ 357). Die Fragestellung beinhaltet ein Doppeltes: (1) Gefragt wird nach der konstitutiven Genesis, also der „Entstehung", wie sie sich methodisch rekonstruieren läßt. Heidegger wirft also wie Husserl ein konstitutionstheoretisches Problem auf, wenn er nach der Genesis fragt. Gegen die durch die Formulierung vielleicht naheliegenden psychologischen oder historisch-soziologischen Anklänge sichert Heidegger sich ausdrücklich ab. (2) Gemäß seiner Kritik an Husserls „erster Ausarbeitung" der Phänomenologie kann die konstitutive Genesis aber nicht eine solche aus reinen Bewußtseinsweisen sein. Da das transzendental konstituierende Ego gerade das faktische, in-der-Welt-seiende Subjekt ist, besteht die Konstitutionsanalyse in der Analyse von Weisen „zu sein" (Weisen der Existenz). Somit muß das Phänomen Wissenschaft zunächst genetisch auf eine Weise „zu sein" reduziert werden können, nämlich auf das schon erwähnte „theoretische Entdecken", das ontologisch dadurch entsteht, daß die „Umsicht" sich auf Vorhandenes bezieht. Diese These vom „theoretischen Entdecken" ist aber noch keineswegs die konstitutionstheoretische These Heideggers. Vielmehr ist jetzt erst die Frage formulierbar, die der Begriff der „ontologischen Genesis" anzeigt: Wie kann man erklären, daß die lebensweltlich primäre, im Besorgen enthaltene Erkenntnisform der Umsicht in die besondere Erkenntnisform des theoretischen Entdeckens „umschlägt", bzw. — und so wird erst ein „ontologisches" Problem daraus —: wie ist der Umschlag der Zuhandenheit des Seienden in die Vorhandenheit zu erklären? Heideggers Antwort auf diese Frage ist im Prinzip in den §§15 — 17 von Sein und Zeit enthalten. Gleichwohl ist es nicht

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Dasein und Erkennen

einfach, seine Auffassung aus dem reichlich unstrukturierten und materialhaltigen Text dieser Paragraphen herauszupräparieren. Entsprechend der einleitenden Bemerkung zur Textsituation können jetzt v. a. zwei Paralleltexte herangezogen werden: (1) § 23 der Prolegomena %ur Geschichte des Zeitbegriffs, für den die Herausgeberin die Überschrift „Der positive Aufweis der Weltlichkeit der Welt" formuliert hat; im Unterschied zu den §§ 15 — 17 von Sein und Zeit weist er eine klarere Struktur in Orientierung an den Begriffen „Zuhandenheit" und „Vorhandenheit" auf. (2) § 2 der Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. 2.1

Vergegenständlichung

Die Modifikation des vorwissenschaftlich-lebensweltlichen Umgangs mit „Zeug" vom Seinscharakter der Zuhandenheit zur Vorhandenheit bezeichnet Heidegger in der Vorlesung Phänomenologische Interpretation als „Vergegenständlichung', ein Begriff, der sich in Sein und Zeit nicht findet. Programmatisch ist die Überschrift von § 2 a, ß, die lautet: „Die Umstellung des vorwissenschaftlichen Verhaltens zum wissenschaftlichen durch den Grundakt der Vergegenständlichung ..." (SZ 25). Heidegger wendet sich zunächst gegen die Auffassung, daß die Vergegenständlichung durch Kontemplation, d. h. die Enthaltung vom technischen Umgang zugunsten eines bloßen Hinsehens entstehe. Wie im § 69 b von Sein und Zeit setzt Heidegger sich damit von einem Wissenschaftsverständnis ab, das auf der Unterscheidung von Theorie und Praxis beruht (vgl. SZ 357 f.). Wissenschaft ist nicht eine Weise des Absehens von der Praxis, sondern eine andere Praxis. Somit steht (lebensweltliche) Praxis gegen (wissenschaftliche) Praxis, bzw., wie Heidegger zu sagen vorzieht, Einstellung gegen Einstellung, Verhaltung gegen Verhaltung. Damit ist natür-

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185

lieh die Frage der Vergegenständlichung nicht klarer; man beachte jedoch: Heideggers Wissenschaftskritik in Sein und Zeit besteht in der Forderung nach Bestimmung der ontologischen Genesis einer bestimmten Praxis. Wer ist der Gegner dieser Auffassung? Natürlich eine breite kontemplationistische Traditionslinie abendländischer Philosophie. In erster Linie dürfte Heidegger sich jedoch auf Husserl beziehen, dessen These in Heideggerscher Diktion durchaus hätte lauten können: „ [...] das pure Hinsehen auf das Seiende entsteht dadurch, daß sich das Besorgen jeglicher Hantierung enthält" (SZ 357). Als Beleg diene ein später Text von Husserl, der deswegen besonders suggestiv ist, weil Husserl wörtlich den Terminus „theoretische Einstellung" verwendet und ausführt: „Die theoretische Einstellung [...] ist ganz und gar unpraktisch. Sie beruht also auf einer willentlichen Epoche von aller natürlichen und damit auch höherstufigen, der Natürlichkeit dienenden Praxis im Rahmen ihres eigenen Berufslebens."11

Husserl selbst hebt übrigens hervor, daß er damit nur eine Grundauffassung des abendländischen Wissenschaftsverständnisses nennt. Demgegenüber ist Heideggers Wissenschaftsverständnis ausgesprochen „praktizistisch", ja — wie sich zeigen wird — instrumentalistisch. Man sollte übrigens beherzigen, daß Heidegger die Disjunktion von Theorie und Praxis (wie viele andere traditionelle Grundunterscheidungen) für unbrauchbar hält. Zu diesem Zweck macht er nicht nur darauf aufmerksam, daß die „theoretische" Arbeit ihre spezifische Forschungspraxis hat (damit wird zugleich gegen die Unterscheidung von Einsicht in die und Anwendung der wissenschaftlichen Wahrheit angegangen), sondern auch darauf, daß das lebensweltliche Besorgen seine eigene kognitive Dignität besitzt. Die „Umsicht" des alltäglichen Besorgens, die in „Übersicht" und „Überle11

In einem Vortragsmanuskript von 1935: ,Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie', veröffentlicht in E. Husserl: Die Krisis, 328 ff.

186

Dasein und Erkennen

gung" resultieren kann, ist demzufolge im großen und ganzen hinreichend, um den „kognitiven Bedarf des Besorgens zu decken, wie er gewöhnlich bei der Planung und Sicherung des instrumentellen Handelns entsteht. 12

2.2 Störungen der Werkwelt Wenn das Besorgen umsichtig ist und sich sogar eine eigene Form des instrumenteilen Überlegens ausbildet, wird allerdings das Problem einer Erklärung der Vergegenständlichung noch undurchsichtiger. Es scheint nämlich, als gäbe es überhaupt keine Notwendigkeit für die besondere Form des wissenschaftlichen Wissens. In der Tat gibt es in Sein und Zeit keinen Hinweis dafür, daß Heidegger in der Entstehung der Wissenschaft eine existenziale oder auch nur eine anthropologische oder historische Notwendigkeit gesehen hätte. Vielmehr gilt es zu verstehen, wie die Genese der Wissenschaften aus dem umsichtigen Besorgen zu rekonstruieren ist. Um die Vergegenständlichung ontologisch aufzuklären, muß man sich zunächst die Struktur der vorwissenschaftlichen Welt, wie Heidegger sie rekonstruiert, vor Augen halten. Es ist eine Welt, in der Menschen im Rahmen der MittelZweck-Rationalität ihr Leben zu bewältigen haben. Die Rede von „Zeug", „Hantieren" usw. ist in dieser Hinsicht signifikant. Es ist daher ganz treffend, wenn Heidegger in der Vorlesung Prolegomena die „Umwelt des Besorgens" kurz als „Werkwelt" bezeichnet. Ihre Mittel-Zweck-Organisation nennt Heidegger den Charakter des „Um-zu". Im § 69 b heißt es diesbezüglich bei der Erläuterung des Begriffs der „Uberlegung": „Das ihr eigentümliche Schema ist das ,wenn—so': wenn dies oder jenes zum Beispiel hergestellt, in Gebrauch genommen, verhütet werden soll, so

12

Vgl. die Wiederholung der Rekonstruktion der „Umsicht" in § 69 (SZ 359 f.).

Der existenziale Begriff der Wissenschaft

187

bedarf es dieser oder jener Mittel, Wege, Umstände, Gelegenheiten" (SZ 359).

Da nun feststeht, daß die Vergegenständlichung nicht durch ein Verlassen dieser Zweck-Mittel-Sphäre entsteht, kann die Frage nach der ontologischen Genesis wie folgt präzisiert werden: Welche Mittel werden durch die Vergegenständlichung zur Erreichung der Zwecke des umsichtigen Besorgens bereitgestellt? Heidegger gibt die Antwort im § 16 von Sein und Zeit, einem Text, der in den Vorlesungen eine klare Parallele hat (vgl. GA20 254—257). Heideggers Antwort löst dabei seine allgemeine Konstitutionstheorie ein, wonach die Konstitution von die Sonderwelten definierenden „Seinsweisen" existenzial auf Seinsweisen des Menschen zurückzuführen sind. Aus dem lebensweltlichen Besorgen des Zuhandenen muß eine Seinsweise ausgrenzbar sein, die einen besonderen Umgang mit Seiendem verlangt, welcher wiederum die „Vergegenständlichung" fundiert. Es folgt übrigens aus dem Frageansatz methodisch zwangsläufig, daß dieser besondere ontologische Modus ein defizienter (privativer) Modus sein muß; das alltägliche Besorgen ist ja die umfassende Form des Begegnens mit Seiendem. Dieser Sachverhalt ist von Interpreten oft falsch gesehen worden: Das alltägliche Verhalten zu Seiendem ist weder vorläufig noch in dem Sinne unauthentisch, daß es zugunsten einer höherbewerteten Existenzweise aufgegeben werden sollte — jede existentialistisch-asketische Konnotation von Heideggers Äußerungen führt hier zu Fehlinterpretationen. Damit kann die Frage nach der ontologischen Genesis noch einmal präzisiert werden: Welche Vorkommnisse im gewöhnlichen Umgang mit Zeug veranlassen den Menschen, eine privative und defiziente Behandlung der Dinge als Mittel zum Zweck des Besorgens zu wählen? Antwort·. Es sind typische Störungen des kontinuierlichen Umgangs des Menschen mit Zeug. Heidegger unterscheidet ohne Vollständigkeitsanspruch drei Störungstypen (SZ 73 f.):

188

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(1) Ein gewähltes Mittel stellt sich als „unverwendbar" heraus, ein Werkzeug ist beispielsweise „beschädigt" — das Werkzeug „fallt a u f : „Das Auffallen gibt das zuhandene Zeug in einer gewissen Unzuhandenheit. Darin liegt aber: das Unbrauchbare liegt nur da, — es zeigt sich als Zeugding, das so und so aussieht und in seiner Zuhandenheit als so aussehendes ständig auch vorhanden war. Die pure Vorhandenheit meldet sich am Zeug" (SZ 73). (2) Zur Erreichung eines Zwecks steht kein Mittel zur Verfügung, es wird „vermißt": „Das Zuhandene kommt im Bemerken von Unzuhandenem in den Modus der Aufdringlichkeit. [...] Das ratlose Davorstehen entdeckt als defizienter Modus eines Besorgens das Nur-noch-vorhandensein eines Zuhandenen" (ebd.). (3) Ein Seiendes ist nicht nur als Mittel untauglich, sondern es steht sogar im Weg, verhindert oder erschwert die Mittelwahl; „Dieses Unzuhandene stört und macht die Aufsässigkeit des zunächst und zuvor zu Besorgenden sichtbar. Mit dieser Aufsässigkeit kündigt sich in neuer Weise die Vorhandenheit des Zuhandenen an" (SZ 74). An dieser Stelle bezieht Heidegger den Terminus „Störung" lediglich auf die der Aufsässigkeit zugrundeliegende Situation. Die Verwendung des Störungsbegriffs auf alle drei (und eventuell weitere) Phänomene entspricht jedoch durchaus Heideggers Sprachgebrauch, wenn er ζ. B. an etwas späterer Textstelle zusammenfassend formuliert: „In einer Störung der Verweisung — in der Unverwendbarkeit für ... wird aber die Verweisung ausdrücklich" (ebd.). Die ontologische Genesis des wissenschaftlichen Wissens hebt also mit typischen Störungen der Werkwelt an. Das „umsichtige Besorgen" ist gewöhnlich („zunächst" und „zumeist") ein kontinuierlicher Prozeß gelingender kooperationsbezogener Kommunikation und kommunikationsgestützter Kooperation. Gerade in diesem gewöhnlichen Handlungszusammenhang besteht kein Grund, Gegenstände als „vorhandene" aus dem Kontinuum der Werkwelt auszuson-

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189

dem. Erst Störungen der kommunikationsgestützten Kooperation — und zwar instrumenteile Störungen (nicht etwa erst Konflikte um Zwecke) — führen zur Aussonderung von Gegenständen und entsprechenden kognitiven Modi — schließlich zur Konstitutionsgenese der Wissenschaften. Wissenschaften sind gemäß der „existentiellen" Konzeption der Wissenschaft kognitive und operative Störungsbewältigungs(d. h. -vermeidungs- oder -behebungs-) Instrumente; durch diese radikal instrumentalistische These (an Marx, Nietzsche und James oder Dewey darf durchaus gedacht werden) ist vollends verständlich, daß Heidegger das kontemplative Wissenschaftsverständnis rundheraus ablehnt. Folgt man Heidegger, ist das Problem der Zwecklosigkeit (euphemistisch: Zweck-Freiheit) der Wissenschaft jedenfalls kein Thema mehr; einem zweckfreien kognitiven Modus ging ja jede ontologische Genesis ab: er wäre schlechthin defizienter Modus. 13

2.3

Vorhandenheit

„Die Modi der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit haben die Funktion, am Zuhandenen den Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein zu bringen" (SZ 74).

13

Die Verwandtschaft des Heideggerschen Instrumentalismus mit dem amerikanischen Pragmatismus wird in jüngerer Zeit v. a. von R. Rorty herausgestellt — allerdings in der Absicht, die Position des späten Heidegger plausibel zu machen (vgl. R. Rorty: .Heidegger wider die Pragmatisten'.) Ausdrückliche Bezugnahmen Heideggers auf den Pragmatismus sind auffällig selten. H.-G. Gadamer hat allerdings darauf aufmerksam gemacht (mündliche Mitteilung), daß sich E. Lask in seinen letzten Vorlesungen (ca. 1913 — 1915) intensiv mit dem amerikanischen Pragmatismus beschäftigt hat und daß dies Heidegger beeindruckt haben dürfte. In diesem Zusammenhang gewinnt eine Bemerkung Heideggers in der Vorlesung .Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles' Bedeutung, in welcher Heidegger der Relativierung der Erkenntniskategorien auf Lebensweisen durch den Pragmatismus zustimmt, dem Biologismus aber widerspricht (GA61 135).

190

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Für das Verständnis der Vorhandenheit und der durch sie ontologisch ausgezeichneten „theoretischen Einstellung" ist entscheidend, daß es sich nicht um komplementäre Begriffe handelt — wie übrigens auch sonst oft bei den von Heidegger verwendeten Begriffspaaren, -ternaren usw. Die Vorhandenheit des Zeugs ist ein defizienter Modus der umfassenden Zuhandenheit des Zeugs. Die Konstitutionsbeziehung bzw. Fundierungsbeziehung ist dabei die der Aussonderung (Privation, Defizienz). Da das Fundierungsverhältnis zwischen Zuhandenheit und Vorhandenheit das einzig ausgeführte konstitutionstheoretische Paradigma in Sein und Zeit ist, läßt sich dieser Umstand als generelle konstitutionstheoretische These für Heideggers Verständnis der ontologischen Begründung der Wissenschaften angeben. Das Verhältnis des Fundierenden %um Fundierten ist das eines eminenten einem defi^ienten Modus. Fundatum est privatio fundantis. Die Konstitutionsanalyse besteht dann genauer in der Angabe der ausgesonderten Bestimmungen des fundierenden Modus. Bezieht man in diese allgemeine methodische Aussage die Pointe des existenzial-ontologischen Zugangs ein, dann ist die letzte konstitutionstheoretische Aussage im Heideggerschen Sinn immer die Angabe einer Weise „zu sein", die in einem anzugebenden Sinn defizienter Modus einer umfassenden Weise „zu sein" ist. A modo eminenti ad modum deficientem valet illatio-, oder „A potiori fit denominatio" (SZ 329). Sofort fragt man nach der umfassendsten, in keiner Weise defizienten Weise „zu sein"; diese kann nur ein integrer Existenzvollzug vor jeder Besonderung sein: das In-der-Welt-sein. Alle konstitutionstheoretischen Überlegungen führen zu Ausgrenzungen aus dem In-derWelt-sein unter Angaben der die Privation bewirkenden Eigenheiten des In-der-Welt-seins — eine Behauptung, die in ihrer Generalität hier nicht begründet werden kann. 14 14

In C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, 265—274, wird eine „konstitutionstheoretische Modallehre" als methodisches Spezifikum der Heideggerschen Phänomenologie herausgestellt. K. Hartmann spricht im gleichen Sinn von einer ,„logic' of modes" (Κ. Hartmann: ,The Logic of Deficient and Eminent Modes in Heidegger'). Hartmanns Kritik an Heidegger beruht allerdings auf einer Fehlkonzeption des „Man".

Der existenziale Begriff der Wissenschaft

191

Die „Modifikation" bzw. der „Umschlag", von dem Heidegger im § 69 b von Sein und Zeit durchgängig spricht, ist also die durch Störungen herbeigeführte privative Ausgrenzung vorhandener Seiender. In der Vorlesung Prolegomena spricht Heidegger prägnant vom „Verweisungsbruch" (GA20 257). Zu den Folgen dieser Ausgrenzung gibt Heidegger eine Reihe von Kommentaren. So hat die Störung unmittelbar zur Folge, daß der Zeugcharakter des störenden (Un-)Zuhandenen übersehen wird. In diesem Zusammenhang entsteht die prädikative Struktur der Aussage (SZ 361; s. u. § 3). Sie beruht darauf, daß der Gegenstand zu einer „gleichgültigen", Attribute tragenden Substanz nivelliert wird. Das bestimmte Zeug verliert seinen Ort, es wird als singuläres Phänomen entschränkt. Die „Entschränkung" ist gewissermaßen die Kehrseite der durch die Privation gegebenen „Umgrenzung". „Das All des Vorhandenen wird Thema" (SZ 362).

2.4

Thematisierung

Durch die Ausgrenzung der Vorhandenheit und die dadurch charakterisierbare „theoretische Einstellung" ist zwar der Ansatz der ontologischen Genesis der Wissenschaften erörtert, es bleibt jedoch noch die Konstitution der Gegenstandsregion als ontologisches Fundament der spezifischen Wissenschaft zu untersuchen. Die Vergegenständlichung im Sinne der Herausbildung einer ontologischen Region nennt Heidegger unter offenkundiger Bezugnahme auf Husserl 15 „Thematisierung" (SZ 393). Der Begriff, der in Sein und Zeit an vielen Stellen vorkommt, ist am klarsten wiederum in § 69 b charakterisiert. Hier macht Heidegger deutlich, daß nicht bereits die „Vergegenständlichung", sondern erst die besondere Ausgrenzung einer Region („Umgrenzung eines Sachgebiets") die ontologische Grundlage der spezifischen Wissenschaft 15

Vgl. ζ. Β. E. Husserl: Ideen

einer reinen Phänomenologie

I, § 122.

192

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schafft. Deswegen setzt Heidegger auch erst hier den Begriff des „Objekts" an: „Sie [sc. die Thematisierung] zielt auf eine Freigabe des innerweltlich begegnenden Seienden dergestalt, daß es sich einem puren Entdecken ,entgegenwerfen', das heißt Objekt werden kann. Die Thematisierung objektiviert" (SZ 363).

Damit ist deutlich, daß die Thematisierung ein weiterer Schritt der ontologischen Genesis ist. Entsprechend Heideggers existenzialer Konstitutionsidee muß auch dieser Schritt wieder in einer privativen Fundierung bestehen. Für die Fundierung der Thematisierung als Modifikation der Vergegenständlichung gibt Heidegger keine allgemeine Charakteristik; dies könnte seinen Grund darin haben, daß sich eine solche gar nicht finden läßt, sondern die Thematisierung der Gegenstandsregionen in jedem Fall anders erfolgt. Die generelle wissenschaftstheoretische Analyse wäre dann durch die „Vergegenständlichung" erfolgt. Diese Deutung ist allerdings nicht zwangsläufig; man könnte sowohl eine allgemeine Theorie der Thematisierung oder mehrere Theorien für bestimmte Wissenschaftssorten anstreben. Heidegger erläutert die Thematisierung am Beispiel der ontologischen Genesis der „mathematischen Physik", er nennt diesen Fall „das klassische Beispiel für die geschichtliche Entwicklung einer Wissenschaft" (SZ 362). Für dieses Beispiel, das im § 59 b auf einer guten halben Seite behandelt ist, geben die Vorlesungen nunmehr eine sehr ausführliche Explikation. Dabei ist zunächst der § 2 a, y der Phänomenologischen Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft heranzuziehen; gründlicher behandeln die historisch und systematisch aufschlußreichen Untersuchungen in der Vorlesung Die Frage nach dem Ding das Thema. 16 Die für die ontologische Genesis der neuzeitlichen Physik spezifische Form der Thematisierung nennt Heidegger „Mathematisierung'. Dieser Terminus bezieht sich nicht auf die An16

Vgl. bes. D 4 9 - 8 6 .

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193

wendung der Mathematik in der Physik, sondern auf die für die Physik typische kognitive Einstellung (μάθησίς), aufgrund derer übrigens erst verständlich wird, warum die Mathematik ein naturwissenschaftliches Instrument sein kann. Die Mathematisierung besteht in der Deutung der „vorhandenen" Gegenstände aus dem „mathematischen E n t w u r f : „Dieser Entwurf entdeckt vorgängig ein ständig Vorhandenes (Materie) und öffnet den Horizont für den leitenden Hinblick auf seine quantitativ bestimmbaren konstitutiven Momente (Bewegung, Kraft, Ort und Zeit). Erst ,im Licht' einer dergestalt entworfenen Natur kann so etwas wie eine .Tatsache' gefunden und für einen aus dem Entwurf regulativ umgrenzten Versuch angesetzt werden" (SZ 362).

Allerdings ist damit noch nicht gesagt, wie die Vergegenständlichung zur Mathematisierung modifiziert ist. Die Antwort auf diese Frage gibt die Vorlesung Die Frage nach dem Ding mit paradigmatischer Klarheit. 17 Der mathematische Entwurf setzt die „Gleichmäßigkeit aller Körper nach Raum und Zeit und Bewegungsbeziehungen" an; dadurch werden die vorhandenen Dinge für ein gleiches Maß, d. h. Messung zugänglich (D 72). Durch die Gleichmäßigkeit wird die Meßbarkeit, durch die Meßbarkeit die Zählbarkeit der Dinge entworfen — erst dadurch kann die Mathematik die Gegenstände „erreichen"; damit ist durch die Mathematisierung als apriorischem Entwurf der Objekte der Physik erklärt, wieso eine „Formalwissenschaft" auf Naturdinge bezogen werden kann. 1 8 Im Zusammenhang der durchgeführten Interpretation der ontologischen Genesis ist die neuzeitliche Physik im existenzialen Verständnis also die Wissenschaft, die uns aufgrund der Unterstellung der Gleichartigkeit der Gegenstände die Herausbildung eines technisch-mechanisch umsetzbaren Störungsbewältigungswissens ermöglicht; die mathematische 17 18

Vgl. die Zusammenfassung D 71 f. Th. Kisiel weist daraufhin, daß bereits Husserl in einem Manuskript von 1921 (Erste Philosophie II, 249—250) in diesem Sinne vom Mathematischen spricht (Th. Kisiel: ,On the Dimensions', 230 f.).

194

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Physik dient somit einem technischen Erkenntnisinteresse aufgrund der ontologischen Setzung der Gleichartigkeit. Die Errungenschaften des mathematischen Entwurfs, der die Dinge der technischen Beherrschung zugänglich macht, werden um den Preis des Abschneidens des ursprünglichen Zeugganzen von seinen Funktionen („Verweisungen") erreicht. Spätestens hier zeigt sich, daß die im Begriff der „ontologischen Genesis" zusammengefaßte Wissenschaftstheorie Wissenschaftskritik ist. Heidegger kritisiert dabei nicht den mathematischen Entwurf als solchen, sondern die unkritische Übernahme des durch den mathematischen Entwurf als meßbar herausgestellten Körperdings in die neuzeitliche Philosophie, d. h. die durch sie vorgenommene Identifizierung des lebensweltlichen „Zeugs" mit dem „gleichmäßigen" Objekt der mathematischen Naturwissenschaft. 19 Die Wissenschaftsund „Metaphysik"kritik in Heideggers Spätschriften läßt deutlich erkennen, daß sich dieser wissenschaftskritische Ansatz bei Heidegger durchgehalten hat. Man kann sich daher nur schwer vorstellen, daß Heidegger diese Kritik von ihrer Grundlage, der phänomenologischen Theorie der „ontologischen Genesis" abgelöst sehen wollte. 3. Der logische Begriff der Wissenschaft Die Konzeption der Wissenschaft als Begründungszusammenhang wahrer Sätze ist nicht falsch, sondern lediglich fundiert, methodisch sekundär. Dies heißt aber auch, daß die Konzeption der ontologischen Genesis wissenschaftlichen Wissens in einer Fundierung der logischen Konzeption der Wissenschaften zu bewähren ist. Diese Bewährung ist keineswegs bereits dadurch gelungen, daß die ontologische Genesis des theoretischen Entdeckens aufgewiesen wird. Diese gehört nämlich noch zum existenzialen Begriff der Wissenschaft. Heidegger führt daher aus, daß durch seine Idee der „Genesis 19

Vgl. die Descartes-Kritik SZ 95 f.

Der existenziale Begriff der Wissenschaft

195

des theoretischen Verhaltens" der „Umschlag[s] vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken" (SZ 360) verdeutlicht sei. Wie dieser Umschlag selbst zu verstehen sei, solle nun jedoch anhand der „möglichen Modifikationen" (ebd.) einer „elementaren Aussage der umsichtigen Überlegung" versucht werden. Wie auch bei Husserl besteht nach Heidegger die endgültige Aufgabe der phänomenologischen Aufklärung der Wissenschaft in einer phänomenologischen Konzeption der wissenschaftlichen Prädikation. Die Phänomenologie hat dabei die „Genealogie der Logik" zu rekonstruieren, d. h. eine Theorie der vor-prädikativen Erfahrung zu liefern. Heideggers Konzeption der ontologischen Genesis im Zusammenhang mit dem existenzialen Wissenschaftsbegriff ist als sein Gegenstück zu Husserls Konzeption der vorprädikativen Erfahrung anzusehen. Damit zeigt sich auch der Kern der Differenz zwischen der phänomenologischen Aufklärung des Wissens im Sinne Husserls und Heideggers. Während für Husserl die Theorie der vorprädikativen Erfahrung in einer Rekonstruktion invarianter Strukturen der Wahrnehmung besteht, sind es nach Heidegger die operativen Strukturen des seine Welt besorgenden Menschen, die als Ansatz für die Fundierung der wissenschaftlichen Prädikation herangezogen werden müssen. „Wahrnehmung" ist kein Thema dieser Werkwelt, sondern ein Ex-post-Konstrukt einer Philosophie, die sich bereits auf die Einstellung des theoretischen Entdeckens eingelassen hat. Heidegger entwickelt seine Konzeption der ontologischen Genesis der wissenschaftlichen Prädikation in den vielbeachteten §§ 32 und 33 von Sein und Zeit. Freilich wird gerade dieser Textabschnitt häufig als Beleg für Heideggers Zuordnung zur Hermeneutischen Philosophie gelesen. In der Tat beginnen Heideggers Überlegungen mit einer Bemerkung zum Verstehensbegriff. Keineswegs ist damit aber das in der Theorie der Geisteswissenschaften, insbesondere bei Dilthey, dem Erklären gegenübergesetzte, am Paradigma des Textverstehens explizierte „Verstehen" gemeint. Schon im programmatischen Teil von Sein und Zeit distanziert sich Heidegger von

196

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einem Begriff der „Hermeneutik" im Sinne der Methodologie der historischen Geisteswissenschaften (SZ 38). So nimmt denn auch nicht wunder, daß die §§ 32 und 33 zur spezifischen Struktur geisteswissenschaftlichen Erkennens nichts beitragen. Das Exempel von der Schwere des Hammers hat mit der Fundierung des Textauslegens nichts zu tun, sehr viel aber mit der Fundierung der Mechanik, d. h. unserem Umgang mit technischen Gegenständen und dem Reden darüber. Definitive Klarheit über den Argumentationszusammenhang gibt auch hier wieder der § 69 b von Sein und Zeit. In ihm wird die Prädikationsanalyse der §§ 32, 33 in die Konzeption der ontologischen Genesis so eingebaut, daß die Fundierung der spezifisch wissenschaftlichen Prädikation rekonstruiert sein soll. Durch SZ 360, Anm. 1, wird diese Zusammenfügung textlich dokumentiert. Das Hammerbeispiel wird eindeutig auf das Fundierungsproblem der „mathematischen Physik" bezogen (SZ 362), der Satz „der Hammer ist schwer" (im Sinne des apophantischen Als verstanden) wird als „ physikalische' Aussage" (SZ 361) bezeichnet (genauer wäre er als ein Satz zu bezeichnen der Art, wie sie zur Fundierung der Physik benötigt werden). Der Kern des Heideggerschen Lehrstücks über die vorprädikative Erfahrung besteht in der Unterscheidung zwischen dem apophantischen und dem hermeneutischen Als. Seit Aristoteles verwendet die traditionelle Logik die Wendungen mit „als", um die reine, d. h. noch nicht durch ein Urteil oder eine Behauptung in Geltung gesetzte Prädikation, das Zu- und Absprechen, auszudrücken. Allgemein gesagt: Wir haben es hier mit dem Bedeutungsproblem und nicht mit dem Wahrheitsproblem zu tun. Wer die „Biene als Insekt" bezeichnet, legt die Bedeutung des Prädikators „Biene" fest, d. h. er behauptet nicht etwa, daß die Biene ein Insekt sei. Wie auch Husserl 20 unterscheidet Heidegger in der Linie der traditionellen Logik zwischen Prädikation und Urteil.

20

Vgl. ζ. Β. E. Husserl: Erfahrung und Urteil, bes. § 50.

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Die prominenteste Als-Wendung ist die ontologische Themenformel vom öv ή öv, ens qua ens, Seiendem als Seiendem. Heidegger läßt keinen Zweifel, daß die Untersuchung der wissenschaftlichen Prädikation für ihn letztlich deswegen von Interesse ist, weil es ihm um die fundamentalen Begriffe der Ontologie geht (SZ 160). Wie in vielen anderen Fällen auch wird die definitive Klärung dieser spezifisch ontologischen Prädikation auf den dritten Abschnitt des 1. Teils verschoben. Desungeachtet bieten Heideggers Darlegungen einige Aufschlüsse über die Theorie der Prädikation, die ihm vorschwebte. Seine Analysen gewinnen vor allem dann Kontur, wenn man den Gedanken einer ontologischen Genesis der apophantischen Urteilsstruktur im Kontrast zu Husserls Genealogie der Logik liest.21 Die Systematik der §§ 32 und 33 von Sein und Zeit folgt am Leitfaden der drei Begriffe Verstehen, Auslegung, Aussage einem einfachen Konzept. Gemäß dem herausgestellten methodischen Prinzip des Übergangs vom eminenten zum defizienten Modus unterscheidet Heidegger in seiner Genealogie der wissenschaftlichen Prädikation drei Stufen: (1) Verstehen Grundlage jeder logischen und ontologischen Rekonstruktion ist die Selbst-Reflexivität des Menschen, der sich selbst als im Rahmen bestimmter Lebensformen („Seinsweisen") existierend begegnet. Diese Selbstbezüglichkeit ist bei Heidegger — ähnlich wie bei Fichte — kein intentionaler Akt psychischer Reflexion, sondern eine vorgegebene Erschlossenheit und Vertrautheit, die auch angenommen werden muß, wenn sich der Mensch gerade nicht auf sich bezieht. Gleichwohl ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, sich thematisch auf seine Lebensform zu beziehen. Diese Bezugnahme ist ihrerseits eine Seinsweise, nämlich die Auslegung. 21

Neben E. Husserl: Erfahrung und Urteil ist besonders ders.: Formale und transzendentale Logik heranzuziehen.

198 (2)

Dasein und Erkennen Auslegung

Da erst die Auslegung ein intentionaler und thematischer Akt ist, gibt es auch erst hier sprachliche Ausdrücklichkeit. Also kann auch erst hier explizit zwischen einer „logischen" und einer „ontologischen" Explikation unterschieden werden. Die Auslegung artikuliert sich auf Basis vorprädikativer operativer Evidenzen. Ontologisch entspricht ihr die Kategorie der „Zuhandenheit". Daher ist die prototypische Redeform (vgl. SZ 149, Zeile 6) das ,Dies ist zum ... (Handlungsprädikator)'. Die Feststellung „zu schwer" bezüglich des Hammers ist allerdings bereits ein elaborierter Sonderfall (vgl. SZ 157). Dieses Satzbeispiel ist daher auch nicht besonders klärend, weil man zwischen den Sätzen „Der Hammer ist zu schwer" und „Der Hammer ist schwer" keinen prinzipiellen Unterschied wahrzunehmen vermag. Formuliert man die o. a. Satzform in eine Wendung mit „als" um, dann erhalten wir die prädikative Form: „etwas als zum (Handlungsprädikator)". Diese prädikative Form ist es, für die Heidegger den Terminus „hermeneutisches Als" einführt. (3)

Aussage

Eine prädikative Aussage hat die Form: ,Dies ist ein ... (Eigenschaftsprädikator)'. Der Aussage entspricht ontologisch die Kategorie der Vorhandenheit. Zu dieser Ebene gehören die logischen Elementarsätze, wie sie in der Tradition seit Aristoteles als Beispielsätze analysiert werden. Sowohl mit Blick auf den λόγος άποφαντικός der Aristotelischen Logik als auch Husserls Begriff der Apophanik spricht Heidegger von „apophantischen Als". Damit wird bereits wortstrategisch deutlich gemacht, daß die Prädikationstheorie von Aristoteles bis Husserl nach Heideggers Meinung lediglich Phänomene untersucht, die im Sinne der ontologischen Genesis fundiert sind, ohne daß der Fundierungszusammenhang deutlich gemacht worden wäre.

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Allerdings ist auch bei Heidegger nicht ohne weiteres zu erkennen, was denn die Argumente für seine klar formulierte These sind. Insbesondere bleibt zu klären, wie man sich die ontologische Genesis zwischen der hermeneutischen und der apophantischen Prädikationsform vorzustellen hat. Es liegt ja aus der Sicht der traditionellen Logik der Einwand nahe, daß die hermeneutische Prädikationsform nur ein Sonderfall der apophantischen ist, so wie man die Handlungsprädikatoren auch als Teilklasse der Prädikatoren überhaupt betrachten kann. Daß ein Etwas zum Hämmern ist, wäre — so der gedachte Einwand — nur ein Sonderfall der Tatsache, daß etwas überhaupt etwas ist. So ist denn auch für Husserl mit der Wendung „etwas als etwas" die allgemeinste und formalste ontologische Charakterisierung in eine prädikative Satzform umgesetzt. Heideggers Argumentation bezüglich der Genealogie der von ihm unterschiedenen Prädikationsformen beinhaltet in der Tat einen fundamentalen Einspruch gegen Husserls Theorie der vorprädikativen Erfahrung. Die unterste Fundierungsebene der Prädikation liegt für Husserl im einzelnen Wahrnehmungsakt, der von einem singulären Individuum auf ein einzelnes Körperding bezogen wird. Dadurch ist das „schlichte Erfassen" charakterisiert, welches nach Husserl die unterste Stufe der vorprädikativen Erfahrung und damit der Genealogie der Logik darstellt. 22 Diese unterste Fundierungsebene Husserls ist nun nach Heideggers Rekonstruktion ein in mehrfacher Hinsicht abgeleiteter Modus. Genauer: Er entsteht erst durch nachträgliches Identifizieren, Präparieren und Isolieren aus einem Zusammenhang operativer Verflechtung, der „Bewandtnisganzheit". Was für Husserl schlechthin fundierend ist, ist nach der Heideggerschen Konzeption der ontologischen Genesis das als letztes Fundierte. Der von Husserl beschriebene singuläre Wahrnehmungsakt ist nach Heidegger ein nachträgliches Herauslösen eines Aktes aus unse-

22

Vgl. ζ. Β. E. Husserl: Erfahrung

und Urteil, § 22 ff.

200

Dasein und Erkennen

rem umfassenden umsichtigen Umgang mit Dingen („Besorgen"). Das singuläre Körperding ist eine nachträgliche Isolierung im Rahmen einer immer schon vertrauten Bewandtnisganzheit („Welt"). Das singuläre Individuum (Ich) ist eine nachträgliche Ausdifferenzierung aus einer unspezifischen und indifferenten Intersubjektivität („Man"). Woran aber erkennt man nun nach Heidegger, daß die Genealogie — grob gesprochen — gerade umgekehrt verläuft, als Husserl sie beschreibt. Das entscheidende Phänomen, das Husserl nach Heidegger übersehen hat, besteht darin, daß auch die vorprädikative Erfahrung im Sinne Husserls eine Ais-Struktur hat; anders formuliert: Es gibt keine vorprädikative Erfahrung, weil die angeblich der expliziten Prädikation vorausgehende Erfahrung bereits schon Ais-Struktur hat. Husserls schlichtes Erfassen ist also gar nicht schlicht, sondern bereits komplex. E s hat eben bereits die Struktur der Auslegung: „Alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend. Aber macht nicht das Fehlen dieses ,Als' die Schlichtheit eines puren Wahrnehmens von etwas aus? Das Sehen dieser Sicht ist je schon verstehend-auslegend. [...] Daß im schlichten Hinsehen die Ausdrücklichkeit eines Aussagens fehlen kann, berechtigt nicht dazu, diesem schlichten Sehen jede artikulierende Auslegung, mithin die Aisstruktur abzusprechen" ( S Z 149).

Das Wahrnehmen als die vermeintliche Basis der wissenschaftlichen Prädikation ist selbst eine Handlung in einem operativen Kontext. Solche operativen Kontexte sind „Weisen zu sein", „Möglichkeiten", Lebensformen. Sie sind eingelassen in eine primär instrumentalistisch organisierte Welt, eine „Werkwelt". Ist das Wahrnehmen selbst nur das thematische Vollziehen (störungsbezogen) der im unreflektierten umsichtigen Besorgen bereits realisierten Auslegung, dann kommt es für das wirkliche Wahr-Nehmen der Welt immer schon zu spät. Wir leben immer schon in einer ausgelegten, vertrauten Welt, ob wir über diese nun in Form expliziten Zuoder Absprechens prädizieren oder nicht. Relativ zu dieser Welt ist das Wahrnehmen eine unter bestimmten Bedingun-

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201

gen spezifisch interessante Handlung, nämlich die Handlung des intentionalen Nehmens dessen, was bereits in operativer Ursprünglichkeit vollzogen und ausgelegt ist. Damit verschwindet die Sonderrolle, die die Wahrnehmung in der traditionellen Erkenntnistheorie gespielt hat. Die Materialbeschaffung für höhere, spontanere Erkenntnisvermögen ist überflüssig, weil sie pragmatisch, abgesehen von den dargestellten „Störfällen", immer schon geleistet ist. Das Heideggersche In-der-Welt-sein ist das strikte Gegenteil der tabularasa-Vorstellungen der traditionellen Wahrnehmungstheorien einschließlich der Husserlschen. Damit aber verschwindet der Wahrnehmungsbegriff als philosophischer Terminus. An seine Stelle tritt die Auslegung. Es sei wiederholt, daß Heidegger keineswegs bestreitet, daß Wissenschaften als Satzsysteme betrachtet werden können. Wissenschaftliche Aussagen sind aber nach der Konzeption Heideggers durch den Akt der Auslegung im Rahmen einer operativ-instrumentell organisierten Werkwelt fundiert. Es liegt auf der Hand, daß es wissenschaftstheoretisch einen erheblichen Unterschied macht, ob man Aussagen als AusDrücke ζ. B. für Wahrnehmungsprozesse oder aber als fundierte Modi der Auslegung bestimmter Handlungsweisen versteht. Freilich ist uns Heidegger eine detaillierte Ausführung dieser Grundkonzeption insbesondere mit Blick auf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und verschiedene wissenschaftliche Aussagetypen schuldig geblieben.

4. Existenziale Fundierung der Wissenschaften und Konstruktive Wissenschaftstheorie Heideggers existenzialer Begriff von Wissenschaft beinhaltet ein wissenschaftsphilosophisches und methodologisches Programm. Die Programmformulierung läßt zahlreiche Fragen offen. Wichtiger ist jedoch, daß für die Untersuchung der Anwendbarkeit dieses Programms von Heidegger wenig geleistet wurde. Dennoch hat er das Konzept so deutlich ausge-

202

Dasein und Erkennen

arbeitet, daß eine Weiterführung des Heideggerschen Ansatzes möglich ist. Diese Aufgabe ist von den Philosophen, die sich unmittelbar auf die Philosophie Heideggers berufen, kaum wahrgenommen worden. Zu den zahlreichen Gründen, die dafür verantwortlich sein mögen, gehört sicher auch die Wissenschaftskritik in Heideggers Spätschriften. Hier kann jedoch nicht der Frage nachgegangen werden, ob der negativkritische Zug der Spätschriften in bezug auf Wissenschaft und Technik von den Interpreten so deutlich gezeichnet worden wäre, wenn man den affirmativen wisssenschaftsfundierenden Überlegungen Heideggers in Sein und Zeit mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte.23 Wenig zu Bewußtsein gekommen ist daher auch, daß eine derjenigen wissenschaftsphilosophischen Schulen, die die wissenschaftstheoretische Arbeit in engem, aber kritischem Kontakt zur konkreten einzelwissenschaftlichen Forschung vorgetrieben hat, deutlich von Heideggers Reformulierung der phänomenologischen Wissenschaftstheorie abhängig ist: die Konstruktive Wissenschaftstheorie der „Erlanger Schule".24 Durch die Zusammenarbeit des Heidegger-Schülers W. Kamiah mit P. Lorenzen, der u. a. Elemente der Physiktheorie Dinglers, der intuitionistischen Mathematik Brouwers und der Regellogik Gentzens in das Programm mit einbrachte, entstand eine philosophische Konzeption „methodischen Denkens", die Heidegger in der Idee einer Fundierung des wissenschaftlichen Wissens inmitten einer bereits gelingenden kommunikativen und kooperativen Praxis folgte. 25 Vor allem teilt die Konstruktive Wissenschaftstheorie Heideggers Kritik an der Konzeption des „reinen Bewußtseins" und dem damit verbundenen Gedanken der Letztbegrün23 24 25

Vgl. dazu H. Seigfried: .Heideggers Technikkritik'. Die historischen Zusammenhänge sind jetzt dargestellt bei C. F. Gethmann: Phänomenologie, Lebensphilosophie und Konstruktive Wissenschaftstheorie' . Vgl. zum Überblick F. Kambartels Artikel .Erlanger Schule' in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, 185 f.

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203

dung. 26 Fundierung der Wissenschaften kann demnach nur ein sinnvolles Projekt sein, wenn man von einem Grundsatz ausgeht, für den Lorenzen u. a. Heidegger als Zeugen anführt: „Alles Denken ist eine Hochstilisierung dessen, was man im praktischen Leben immer schon tut." 27 Die philosophische Nachzeichnung der lebensweltlichen Konstitution wissenschaftlichen Wissens („Rekonstruktion") erfolgt — in der Diktion der Konstruktiven Wissenschaftstheorie — in „Proto-Disziplinen". Für Physik, Logik, Arithmetik, Ethik und Kulturwissenschaften liegen ausgearbeitete Proto-Theorien vor, die hier nicht im Detail, sondern nur bezüglich der generellen Gesichtspunkte des methodischen Ansatzes betrachtet werden können. (a) Der Konstruktivismus teilt Heideggers Kritik am Begriff des „reinen Bewußtseins" und damit am „Mentalismus" generell. An die Stelle des Bewußtseins tritt in der Fundamentalontologie das In-der-Welt-sein. Allerdings zeigt Sein und Zeit auch, daß ein solcher umfassender Gesamtvollzug des menschlichen Daseins nur mit großem methodischem Aufwand, unter Inkaufnahme von Mehrdeutigkeiten und terminologischen Schwierigkeiten, auf seine Strukturen hin zu interpretieren ist. Die Konstruktive Wissenschaftstheorie geht daher von einem Vollzug aus, der mit Heideggers In-derWelt-sein gemeinsam hat, unauflösbarer Weltvollzug im Mitvollzug mit anderen zu sein: der Sprache. Mehrere Interpreten haben übrigens schon in Sein und Zeit (in unterschiedlichem Maß) einen linguistic turn realisiert gefunden. 28 Unbestreitbar dürfte jedenfalls sein, daß ein Verständnis von Phi26 27 28

Vgl. dazu den Paragraphen: „Das Problem des Anfangs (der ,Fundamentalphilosophie')" in W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik, 15 ff. P. Lorenzen: ,Methodisches Denken', 26. Vgl. K.-O. Apel: Die Idee der Sprache-, ders.: ,Die beiden Phasen der Phänomenologie'; ders.: .Heideggers philosophische Radikalisierung der .Hermeneutik"; K. Lorenz/J. Mittelstraß: .Die Hintergehbarkeit der Sprache'.

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Dasein und Erkennen

losophie, das methodisch mit der Rekonstruktion elementarer transokkasioneller Rede- und Herstellungsbedingungen beginnt, eine zulässige Weiterführung der in Sein und Zeit projektierten „zweiten Ausarbeitung" der Phänomenologie ist. Zu den Folgen dieser Weiterführung gehört, daß die methodische Unterscheidung zwischen Konstituens (Welt) und Konstitutum (Sonderwelt) auf die Differenz zwischen umgangssprachlichem Rede-Können und normierter Wissenschaftssprache („Orthosprache") projiziert werden kann. (b) Die Konstruktive Wissenschaftstheorie teilt mit Heidegger den Instrumentalismus des wissenschaftlichen Wissens. Die Grundbegriffe der Wissenschaften werden durch semantische Normierungen festgelegt, deren Kriterium in der instrumentellen Adäquatheit zu den jeweiligen Zielen der Wissenschaft liegen. So wird die Physik beispielsweise als technikstützendes Wissen zur instrumentellen Naturbeherrschung (nicht als „Lesen im Buch der Natur") aufgebaut 29 , die Logik als Regelinstrument zur Bewältigung bestimmter Kommunikationsprobleme (nicht als Beschreibung „idealer" Sprachstrukturen) angesetzt 30 , die Ethik als soziales Konfliktlösungsinstrument (nicht als Einsicht in Werte) verstanden 31 usw. Die von der Analytischen Wissenschaftstheorie in den Vordergrund gestellten „Formen wissenschaftlicher Systematisierung" (die den Fachwissenschaftler meistens eher befremden) werden als Hilfsmittel zur Herstellung bzw. Bewahrung instrumentellen Wissens rekonstruiert; so sind „Theorien" sprachliche Mittel zur Bevorratung von bewährten „Wahrheiten" (nicht „höhere" Erkenntnisprodukte, die in geheimnisvollen Beziehungen zur „Empirie" stehen). (c) Einer der auffalligsten Unterschiede zwischen Konstruktivismus und jedweder Phänomenologie scheint in den Invektiven der Konstruktivisten gegen die Ontologie und dem dem29 30 31

Vgl. ζ. Β. P. Janich: Zweck und Methode der Physik. Vgl. ζ. B. C. F. Gethmann: Protologik. Vgl. ζ. B. O. Schwemmer: Philosophie der Praxis·, C. F. Gethmann: ,Proto-Ethik'.

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gegenüber vertretenen Präskriptivismus zu liegen. In der Tat hat Kamiah mit Bezug auf Heidegger die „Seinsfrage" als sprachliches Mißverständnis kritisiert. 32 Dabei ist jedoch zu fragen, ob die Vertreter der Konstruktiven Wissenschaftstheorie überhaupt Heideggers Ontologie-Konzeption treffen (und nicht eher ζ. B. die von N. Hartmann). 33 Auf der anderen Seite läßt sich schon bei Husserl eine wenn nicht präskriptivistische so jedenfalls pragmatische Deutung des Konstitutionsbegriffs herausstellen. Der Begriff der „Leistung" deutet an, daß ζ. B. der originär gegebene Gegenstand als Produkt menschlicher (wenn auch nicht arbiträrer) Aktivität verstanden werden kann. Dieses aktive Erzeugen von Erzeugtem wird — weiter — nicht behavioristisch, sondern intentionalistisch gedeutet. Aus Husserls reinen „Bewußtseinshandlungen" werden in Heideggers „zweiter Ausarbeitung" Handlungen konkreter Menschen, deren Grundmuster Heidegger als „Besorgen" charakterisiert, was jedenfalls eine intentionalistische Pragmatik des menschlichen Handelns unterstellt. Über die methodischen Probleme pragmatischer Rekonstruktion äußert Heidegger sich kaum. Wiederum kann man es jedoch als eine naheliegende Weiterführung des fundamentalontologischen Ansatzes betrachten, das „besorgende" Handeln des Menschen durch Angabe derjenigen Regeln zu rekonstruieren, als deren Befolgung das Handeln gedeutet werden kann. „Seinsstrukturen" werden demgemäß als Bedingungen instrumenteilen Handelns, als Schemata konstruktiver Tätigkeit re-konstruiert. „Regeln" entstehen im Rahmen von Lebensweisen (Weisen „zu sein"). 34 (d) Das methodologische Konzept der Konstruktiven Wissenschaftstheorie verlangt für die Fundierung eines wissenschaftlichen Geltungsanspruchs die Reduktion auf Formen le-

32 33 34

Vgl. W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik, 3 9 - 4 4 ; W. Kamiah: .Aristoteles' Wissenschaft'. Vgl. C. F. Gethmann: ,Die Möglichkeit der Seinsfrage', in diesem Band 5 1 - 6 9 . Ahnlich auch D. Follesdal: ,Husserl und Heidegger'.

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bensweltlichen Könnens. Demgegenüber dürfen nicht unkritisch bereits Stücke der Wissenschaften für die Fundierungskritik übernommen werden. Ferner ist ein Geltungsanspruch erst dann fundiert, wenn er schrittweise auf lebensweltliche Anfänge zurückgeführt worden ist. Zirkelfreiheit und Lückenlosigkeit sind somit die methodischen Prinzipien der Konstruktiven Wissenschaftstheorie, die sich sowohl in Husserls wie in Heideggers Ausprägung der Phänomenologie wiederfinden lassen. Phänomenologie und Konstruktive Wissenschaftstheorie stehen damit gemeinsam in Front gegen eine vorherrschende Tendenz Analytischer Wissenschaftstheorie, die als „Wissenschaftstheorie von oben" von den faktischen Wissenschaften ausgeht und diese beschreibt. Gerade Heidegger wendet sich deutlich gegen ein deskriptivistisches Verständnis der Phänomenologie. Polemik gegen die unkritische Übernahme faktischer wissenschaftlicher Ergebnisse durchzieht seine gesamten Untersuchungen. Das Postulat der Zirkelfreiheit kann schließlich auch hinter der Kritik am logischen Begriff der Wissenschaft, genauer in der Feststellung des Fundierungsverhältnisses zwischen existenzialem und logischem Wissenschaftsverständnis gesehen werden: Die Analyse der Wissenschaft als Satzsystem übergeht eben das Problem, wie wissenschaftliche Sätze überhaupt methodisch Zustandekommen. Zusammengefaßt: Heideggers Phänomenologie ist „methodisches Denken".

Das Realitätsproblem: ein Skandal der Philosophie? Überlegungen im Anschluß an Sein und Zeit, § 43 Das Realitätsproblem ist die Leitfrage der Philosophie der Neuzeit, jedenfalls im „theoretischen" Teil der Philosophie. Ausgehend von diesem Problem hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Kanon von zu- und nachgeordneten Fragen ergeben, der in der Disziplin „Erkenntnistheorie" eine schulmäßige Gestalt bekam. 1 In dieser Disziplin ist bei allen Varianzen im einzelnen das Realitätsproblem immer das erste Kapitel gewesen. Indem Heidegger in Sein und Zeit das Realitätsproblem zum Scheinproblem demontiert (wie etwa zur gleichen Zeit mit anderer Begründung auch Carnap2), eliminiert er daher nicht nur eine Frage unter anderen aus dem Fragekanon der Erkenntnistheorie, sondern trifft die Substanz derjenigen Problemexposition, die für die Fremd- und Selbstlegitimation der theoretischen Philosophie des ausgehenden 19. und anfangenden 20. Jahrhunderts noch fraglos die zentrale Rolle spielte. Der Adressat der Attacke ist somit das grundsätzliche Philosophieverständnis der Neuzeit. Aufgrund dieser Tatsache ist man geneigt, Heideggers Verdikt bezüglich des Realitätsproblems in Kontinuität zu setzen mit seinen späteren radikalen Formulierungen, die unter dem Stichwort der „Seinsvergessenheit" die Fundamente der Philosophie seit Piaton zu untergraben beabsichtigen. Eine solche Sicht der Dinge wird jedoch — t(um einen — den Absichten der Darstellung in Sein und Zeit nicht gerecht. Die mit der Analytik des Daseins zu einer „Doppelaufgabe" verbundene „Destruktion" der philosophischen Tradition hat im Unterschied zur späteren Geschichte der Seinsvergessen1 2

Vgl. C. F. Gethmann: Artikel .Erkenntnistheorie'. Vg. R. Carnap: Scheinprobleme.

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heit einen positiven Sinn. Dieser erlaubt es — %um anderen — die thematisch lokale Kritik Heideggers an bestimmten überkommenen Fragestellungen produktiv daraufhin zu überprüfen, wie eine Reformulierung des Problems gewonnen werden könnte, die den Heideggerschen Einwänden standhält. Auf dem Hintergrund dieses Zugangs ergibt sich für die folgenden Überlegungen eine doppelte Untersuchungsaufgabe: Erstens ist die genaue Bedeutung von Heideggers Sinnlosigkeitsverdikt zu eruieren und der positive Ansatz im Rahmen der lebensweit-pragmatischen Grundkonzeption von Sein und Zeit in seinen programmatischen Grundzügen zu bestimmen (1); zweitens sind die dadurch aufgefundenen Linien in Richtung einer Neuformulierung des Realitätsproblems auszuziehen (2). 1. Destruktion und ontologische Genesis des Realitätsproblems In der Einleitung von Sein und Zeit stellt Heidegger als „Doppelaufgabe" für die Ausarbeitung der Seinsfrage die Analytik des Daseins und die Destruktion der Geschichte der Ontologie heraus. Es liegt nahe, an dieser Doppeltheit das Fehlen einer klaren Korrelativität zu kritisieren. Dies liegt daran, daß die „Doppelaufgabe" auch nach Heideggers eigener Explikation parallel zu der Unterscheidung systematisch/historisch zu interpretieren zu sein scheint. Demgemäß wäre trivial, daß eine systematische Behauptung immer auch historische (affirmative oder negative) Kritik werden könnte; somit ginge es um zwei Lesarten ein und derselben Aufgabe, nicht um eine „Doppelaufgabe". Allerdings bestimmt Heidegger die Aufgabe der Destruktion gerade in Absetzung von einer Kritik historischer philosophischer Positionen. Die negative Zielrichtung der Destruktion bezieht sich danach vielmehr auf das „Heute", genauer auf den in der Gegenwart unkritisch mittransportierten „überlieferten Bestand" (vgl. SZ 22). Dieser überlieferte Bestand entfaltet seine Wirksamkeit aber nicht

Das Realitätsproblem

209

bloß und nicht einmal primär in den Schriften der Philosophen. Seine „systematisch" vorrangig interessante Wirksamkeit ist die innerhalb des Seinsverständnisses des Daseins. Die Tradition des Faches „Ontologie" bekommt insofern selbst eine ontologische Dignität, als das Dasein sein Seinsverständnis gemäß den Traditionen ontologischen Verständnisses ungeprüft übernimmt: „Das Dasein hat nicht n u r die Geneigtheit, an seine Welt, in der es ist, zu verfallen und reluzent aus ihr her sich auszulegen, Dasein verfällt in eins damit auch seiner mehr oder minder ausdrücklich ergriffenen Tradition. Diese n i m m t ihm die eigene F ü h r u n g , das Fragen und Wählen ab. Das gilt nicht zuletzt v o n dem Verständnis und seiner Ausbildbarkeit, das im eigensten Sein des Daseins verwurzelt ist, dem ontologischen" (SZ 21).

Dieses „in eins" läßt erst verstehen, in welchem Sinne die Destruktion zur Analytik so hinzutritt, daß von einer Doppelaufgabe gesprochen werden kann. Allerdings gibt Heidegger selbst nur wenige konkrete und gut faßbare Beispiele für diese Sicht der Dinge. Eines dieser Beispiele ist die Behandlung des Realitätsproblems im § 43 von Sein und Zeit. Der Paragraph ist eingefügt in die Explikation des „Seins des Daseins" als einheitlicher Struktur, die Heidegger als „Sorge" bezeichnet.3 Am Ende dieser Explikation fügt Heidegger exkursförmig zwei Paragraphen an, deren vordergründiger Zusammenhang mit der Sorge-Thematik gar nicht ersichtlich ist, nämlich über das Realitäts- und über das Wahrheitsproblem (§§ 43, 44). Für die Plazierung der Realitätspro3

Vgl. C. F. G e t h m a n n : ,Die Wahrheitskonzeption in den Marburger Vorlesungen', in diesem Band 137 — 168. — Die E i n o r d n u n g des Paralleltextes in der Vorlesung Prolegomena %ur Geschichte des Zeitbegriffs (GA20 293 — 306) setzt den Text demgegenüber direkt hinter die Analyse der Weltlichkeit der Welt. Auf die Gliederung v o n Sein und Zeit zurückprojiziert hätte das Realitätsproblem also im Anschluß an § 18 behandelt werden müssen. Allerdings hat die unterschiedliche Plazier u n g n u r wenig Einfluß auf den Inhalt der Heideggerschen A r g u m e n tation. Wie auch in anderen T h e m e n z u s a m m e n h ä n g e n ist der Text der Vorlesung schulmäßiger angelegt und enthält deutlichere und ausführlichere Bezugnahmen auf die zeitgenössische Philosophie.

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blematik an dieser Stelle gibt Heidegger nun eine klare Motivation, die genau der schematischen Verhältnisbestimmung zwischen Analytik und Destruktion entspricht. Die Argumentation läßt sich in zwei Schritte differenzieren: (1) Die Bestimmung des Seins des Daseins (in traditioneller Terminologie: der Subjektivität des Subjekts) erfolgt in der Philosophiegeschichte tendenziell primär in Orientierung an der Interpretation des nicht-menschlichen Seienden. Die Tendenz dazu ist bei Heidegger ein eigenes Existenzial, das Verfallen. Diese strukturelle Tendenz schlägt sich aber nicht nur in der vorwissenschaftlichen, „ontologischen Erfahrung" nieder, sondern manifestiert sich auch im Fach „Ontologie", dem im Rahmen des Fächerkanons der Philosophie eine grundlegende Rolle zukommt. (2) Dabei wird aber auch der Sinn des nicht-menschlichen Seienden verfehlt, indem dieser primär nicht im Sinne der Zuhandenheit, sondern der Vorhandenheit interpretiert wird. Faßbarer Ausdruck dieser doppelten Verfehlung eines genuinen Ansatzes zur Bestimmung der Subjektivität ist die Realitätsproblematik, wie sie durch Descartes 4 für die neuzeitliche Philosophie maßgebend wurde. Im Interesse der analytischen Bestimmung des „Seins des Daseins" ist die Uberlagerung der Fragestellung in der gegenwärtigen Philosophie, so Heidegger, durch eine Destruktion dieser Realitätsproblematik aufzudecken. Beide „Verfehlungen", die Heidegger konstatiert, nämlich die Selbstinterpretation des Subjekts nach Kategorien nichtmenschlichen Seienden und die Interpretation dieses Seienden als Vorhandenheit, haben wiederum zwei Wirkungsebenen, eine strukturell-anthropologische und eine davon abhängige historisch-philosophische. Heidegger entfaltet dementsprechend auch das destruktive Potential auf beiden Ebenen:

4

Die Verbindung zu Descartes ergibt sich durch SZ 201, Anm. 1.

Das Realitätsproblem

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(1) Der Skandal der Philosophie bestehe nicht darin — so korrigiert Heidegger Kant — daß der Beweis der Realität der Außenwelt bislang noch ausstehe, sondern „darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden" (SZ 205). Damit wird nicht etwa die Problematik aus dem Bereich der Demonstration in den Bereich der Intuition verlegt, sondern die Fragestellung wird mit einem nonsense-Verdikt belegt, das seine Rechtfertigung jenseits der traditionellen Divergenzen finden soll. (2) Die Aufstellung und Entlarvung von Scheinproblemen ist nur vordergründig ein professionelles Geschäft der Philosophie. Vielmehr gibt die Philosophie nur der strukturellen Neigung des Menschen Ausdruck, „die ,Außenwelt' zunächst ,erkenntnistheoretisch' in Nichtigkeit zu begraben, um sie dann erst durch Beweise auferstehen zu lassen" (SZ 206). Ein vordergründig als intellektueller Fehler des Erkenntnistheoretikers zu markierendes Phänomen wird somit hintergründig als Verfallenstendenz des menschlichen Daseins gleichsam ontologisiert: „Der Grund dafür liegt im Verfallen des Daseins und der darin motivierten Verlegung des primären Seinsverständnisses auf das Sein als Vorhandenheit" (SZ 206). Aus der destruktiven Diagnose läßt sich zunächst ganz formal der Ansatz gewinnen, den Heidegger befürwortet. Heidegger verlangt erstens, daß die Selbstinterpretation des Subjekts mit genuin menschlichen Kategorien („Existenzialien") zu erfolgen hat, und zweitens, daß das nichtmenschliche Seiende primär als Zuhandenheit und nicht als Vorhandenheit zu verstehen ist. Damit sind in der Tat die beiden zentralen Thesen des ersten Abschnitts der ersten Hälfte von Sein und Zeit formuliert. Nichts anderes drückt Heidegger durch seine Forderung aus, das Realitätsproblem müsse „in die existenziale Analytik des Daseins als ontologisches Problem zurückgenommen werden" (SZ 208). Diese Schlüsse und Aussagen erlauben die Deutung, daß es nach Heidegger ein „ontologisches" Realitätsproblem gibt, es bleibt jedoch zunächst nur

212

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schwer erfindlich, wie diese Fassung des Realitätsproblems inhaltlich zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, daß Heidegger im § 43 b, der die Überschrift trägt „Realität als ontologisches Problem", deutliche Hinweise gibt, die erlauben, den positiven Sinn der Destruktion des Realitätsproblems zu präzisieren. Dabei führt Heidegger eine durchaus differenzierte Kritik der voluntaristischen Problemformulierung bei Dilthey und Scheler aus, wobei er Dilthey zugesteht, „in gewissen Grenzen" (SZ 209) eine phänomenologische Charakteristik der Realität des Realen gegeben zu haben. Das „Positive" der Analysen Diltheys liegt nach Heidegger in zwei Einsichten: (a) Die erste positive Einsicht Diltheys ist indirekt in eine Würdigung Schelers durch Heidegger eingebunden: Scheler betonte nicht nur wie Dilthey, „daß Realität nie primär im Denken und Erfassen gegeben wird" (SZ 210). 5 Die Bedeutung dieser Einsicht Diltheys, die Heidegger positiv aufnimmt, wird allerdings unterschätzt, wenn man sie in der einfachen Lesart nimmt, Dilthey habe das Realitätsproblem von der kognitiven in die voluntative Hälfte des menschlichen Bewußtseins transferiert. Vielmehr vollzieht Dilthey in seiner klassischen Abhandlung ,Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht' von 1890 bezüglich der Problemstellung einen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Standardfragestellung in der Tradition der Philosophie der Neuzeit. Diese Standardfragestellung besteht — schematisch formuliert — darin zu rechtfertigen, aus welchen Gründen das Subjekt sicher sein kann, daß es mit seinen kognitiven Bewußtseinsakten die „Außenwelt" auch wirklich erreicht, und nicht beispielsweise nur selbst projizierte immanente Gebilde. Dilthey bemüht sich in seiner Abhandlung um den Nachweis, daß alle Beweisversuche in diesem Rahmen zu einer petitio principii füh5

Ausführlicher ist die Kritik in GA20 294f., 302 ff.

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ren: Diese Versuche verlaufen nämlich nach dem Schema, daß bestimmte Ordnungsgesichtspunkte, die den Phänomenen eigen sind, wie Ursächlichkeit, Wiederholbarkeit, Gleichförmigkeit, nur zu erklären sind, wenn angenommen wird, daß sie Eigenschaften einer „realen" Außenwelt und nicht bloß immanente Bewußtseinsphänomene sind. Die petitio principii liegt für Dilthey darin — und in diesem Punkte erweist er sich ganz als Kantianer —, daß Kategorien wie Ursächlichkeit, Wiederholbarkeit oder Gleichförmigkeit selbst keine realen Objekte sind, sondern subjektive Ordnungsgesichtspunkte für Objekte. Ob ihnen jedoch wirklich objektive Geltung zukommt, muß bereits vorher bekannt sein, bevor sie als Argumentationsmittel verwendet werden können. Weil dies für jede Rechtfertigung der Form „x kann nur erklärt werden, wenn es eine reale Außenwelt gibt" gilt, kann der richtige Frageansatz nicht darin bestehen, die Annahme einer realen Außenwelt als einlösungsbedürftige Prätention des menschlichen Erkennens (Denkens, Wahrnehmens usw.) zu betrachten. Vielmehr ist die Unterstellung der Realität des Realen eine Bedingung dafür, daß kognitive Bewußtseinsakte überhaupt (einlösbare oder nicht einlösbare) Prätentionen erheben können. Die Realität der Welt ist nach Dilthey somit eine Präsupposition des Erkennens, deren Berechtigung nicht noch einmal durch Erkenntnis problematisiert werden kann. Folgerichtig gelangt Dilthey zu seinem bekannten Satz: „Die fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntnis sind im Leben gegeben und das Denken kann nicht hinter sie greifen". 6 Dieser Satz kann selbstverständlich auch so gelesen werden: Dasjenige, worin sich das menschliche Leben vollzieht, ist bereits die Realität, es ist nicht eine dahinterliegende Wirklichkeitssphäre zu suchen. (b) Der zweite, für Heidegger positive Teil von Diltheys (und Schelers) Uminterpretation des Realitätsproblems liegt in dem Gedanken der Widerstandserfahrung. „Reales wird in

6

W. Dilthey: .Beiträge', 136 (Zusatz).

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Impuls und Wille erfahren. Realität ist Widerstand, genauer Widerständigkeit" (SZ 209). 7 Für das Verständnis dieser Einsicht Diltheys ist wichtig, ihre terminologische Einbettung in die vermögenspsychologische Terminologie im Umkreis von Begriffen wie „Wille", „Trieb" usw. nicht als wesentlichen Bestandteil, sondern nur als Darstellungsmittel anzusehen. Insbesondere ergibt sich der Gedanke der Realität nicht dadurch, daß der Wille in seiner Aktivität durch anderes determiniert oder verursacht ist. Das Verursacht-sein ist keine Erfahrung des Willens, sondern Thema sekundärer Reflexion. Demgegenüber gehört zur primären Erfahrung des strebenden und handelnden Subjekts, daß nicht alles beliebig „geht": Den gewollten Varianzen des Handelns treten ungewollte Invarianzen entgegen. Aufschlußreich sind dabei die Beispiele, an denen Dilthey seine Konzeption erläutert. Eine exemplarische Rolle spielt der Nahrungstrieb des Menschen: Die gefundene Nahrung ist nicht deshalb real, weil ein Beweis existiert, der zeigt, daß unsere Vorstellung durch ein Reales verursacht sein muß, sondern weil sie zu einer Befriedigung des Nahrungstriebes führt. Relativ zum Nahrungstrieb ist der Unterschied zwischen „realer" und beispielsweise „fiktiver" Nahrung keine Sache der Rechtfertigung eines Glaubens an die Realität, sondern selbst Thema unmittelbarer Erfahrung. Was als real erfahren wird, ist nach Dilthey eingebunden in die „Willensmacht des Menschen, welche gleichsam ihre Fangarme ringsumher nach Erfüllung und Befriedigung ausstreckt". 8 Was dem Menschen als „Außenwelt" gilt, ist in dieser Sicht völlig abhängig von der Mittel-Zweck-Struktur, die der Mensch als lebendiges Wesen darstellt und in deren Rahmen er dasjenige erfährt, was ihm entgegentritt: als Erfüllung oder Nicht-Erfüllung seiner Lebensansprüche. Ob ein Sachverhalt Mittel zum Zweck ist oder nicht, erweist sich in seiner Funktionalität. Ob die Funktionalität vorliegt, ist Sache primärer Lebenserfahrung, die nicht von diskursiven oder intuitiven 7 8

Dazu wiederum ausführlicher G A 2 0 302—306. W. Dilthey: .Beiträge', 96.

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Hypothesen und ihrer Beweisbarkeit abhängt. Der Gedanke der Realitätserfahrung im Sinne der Widerstandserlebnisse des Willens stellt also das zweite entscheidende Moment des Paradigmenwechsels bei Dilthey dar, durch welches die Fragestellung in den Rahmen eines Instrumentalismus des Lebens gerückt wird. Heideggers positive Rezeption Diltheys bezieht sich also auf den Status des Problems als Thema einer präsuppositionalen Analyse und als Problem der Zweck-Mittel-Organisation des menschlichen Wollens und Handelns. Heidegger lobt an Dilthey diese pragmatische Umformulierung des Realitätspro-

blems. Allerdings macht Heidegger auch sofort auf die aus seiner Sicht bleibenden Unzulänglichkeiten bei Dilthey und Scheler aufmerksam. Bezüglich beider Einsichten formuliert Heidegger seine Kritik als Zurückbleiben hinter einer „ontologischen Interpretation": Diltheys Satz von der Unhintergehbarkeit des Lebens bleibe in „ontologischer Indifferenz" stehen, seine Bestimmung der Realität als Widerständigkeit bleibe im Rahmen der Bewußtseinsproblematik, ohne daß es zu einer „ontologischen Interpretation des Seins des Bewußtseins" komme (SZ 209). Diese Hinweise sind völlig in Einklang mit der zitierten programmatischen Forderung, das Realitätsproblem müsse in die existenziale Analytik des Daseins „als ontologisches Problem" zurückgenommen werden (SZ 208). Im Kontext von Sein und Zeit darf die Verwendung des Begriffes „Ontologie" durch Heidegger bekanntlich nicht in Zusammenhang mit Verwendungsweisen des Wortes gebracht werden, die „Ontologie" als Lehre von der Realität, besonders der Realität der Außenwelt, deuten, d. h. die Ontologie mit einer realistischen Erkenntnistheorie verknüpfen. In diesem Sinne hat N. Hartmann eine ontologisch orientierte Erkenntnistheorie konzipiert. Von dieser setzt Heidegger sich deutlich ab. 9 N. Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis ist 9

Vgl. SZ 208, Anm. 1; GA20 292 ff. („Ontologie der Wirklichkeit"). -

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aus der Sicht Heideggers zudem ein Rückfall hinter die durch Dilthey (und ihm folgend: Scheler) erreichten Einsichten, gemäß denen die Realitätsfrage in einen präsuppositionellen und instrumentellen Fragekontext gehört. Nach den in der Einleitung zu Sein und Zeit gegebenen Erläuterungen bezieht sich das Adjektiv „ontologisch" nicht auf die Disziplin „Ontologie", sondern auf die besondere Auszeichnung des Menschen, ein (meistens unausdrückliches) Verständnis von seinem Sein zu haben. Heideggers Kritik an Dilthey besagt also zunächst einfach nur, daß die Einsichten von der Unhintergehbarkeit des Lebens und dem Widerstandscharakter der Realität nicht aus der besonderen Bestimmung des Menschen, ein Verständnis seines Seins zu haben, interpretiert worden sind. Was dies für die Einsichten Diltheys bedeutet, erläutert Heidegger ebenfalls im § 43 b, indem er Diltheys Aussagen in den Rahmen der in Sein und Zeit durchgeführten Weltanalyse stellt: „Widerstandserfahrung, das heißt strebensmäßiges Entdekken von Widerständigem, ist ontologisch nur möglich auf dem Grunde der Erschlossenheit von Welt" (SZ 210). Entsprechend ist das in der Widerstandserfahrung wurzelnde Realitätsbewußtsein „selbst eine Weise des In-der-Welt-seins" (SZ 211). Damit ist die Forderung nach einer „Zurücknahme" des Realitätsproblems in die existenziale Analytik im Rahmen der Heideggerschen Konzeption ausgeführt. Allerdings wäre zu erwarten, daß Heidegger nun expliziert, welche Folgen diese Rückverlagerung für das Realitätsproblem hat. Der „reduktiven" Bewegung der Problemverschiebung hätte eine „produktive" Problemerneuerung zu entsprechen. Es handelt sich um eine Methodenbewegung, die Heidegger im Zusammenhang mit einer Revision des Wissenschaftsverständnisses als N. Hartmanns Grundlage einer Metaphysik der Erkenntnis kann überhaupt als die Gegenposition betrachtet werden, die Heidegger primär vor Augen hatte; vgl. C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, 191-195.

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„ontologische Genesis" bezeichnet.10 Bezüglich des Realitätsproblems gibt Heidegger jedoch keine Ausführungen, die als explizite Transformation des Realitätsproblems gewertet werden könnten. Vielmehr beschränkt er sich am Beginn des § 43 b darauf, seine vorher vorgebrachten Analysen des innerweltlichen Seienden zu zitieren (SZ 209, Anm. 1). Damit wird die Bemerkung aus § 43 a präzisiert, die „einer möglichen ontologischen Frage nach der Realität vorausliegenden Untersuchungen" seien „in der vorstehenden existenzialen Analytik durchgeführt" (SZ 202). Will man also Heideggers affirmative Konzeption herausarbeiten, dann bleibt kein anderer Weg, als diesen Rückverweisen nachzugehen, um die „ontologische Genesis" des Realitätsbegriffs aus der Welt des Daseins nachzuvollziehen. Diltheys zwei Marksteine, nämlich die Unhintergehbarkeit des Lebens und dessen Zweck-Mittel-Organisation sind für Heidegger die entscheidenden Ausgangspunkte bei seiner Interpretation des In-der-Welt-sein. Die Eingangsthese Heideggers vom Erkennen als fundiertem (nicht fundierendem) Modus antizipiert bereits die These des § 43, daß die „Welt" nicht mögliche Erkenntnisprätention, sondern notwendige Erkenntnispräsupposition ist. Im Anschluß an den zitierten Rückverweis auf die Weltanalyse bezieht Heidegger diesen Ansatz ausdrücklich auf das Realitätsproblem: „Erkennen ist danach ein fundierter Modus des Zugangs zum Realen" (SZ 202). In diesem Zusammenhang spielen für das Realitätsproblem besonders zwei Lehrstücke eine Rolle: die Lehre vom Primat der Zuhandenheit vor der Yorhandenheit (a) und Heideggers Konzeption der vorprädikativen Erfahrung als „Auslegung" (b).

10

Vgl. C. F. Gethmann: ,Der existenziale Begriff der Wissenschaft', in diesem Band 169—206; — Heideggers Begriff der „ontologischen Genesis" entspricht der der „Konstitution" bei Husserl. Vgl. C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, 191 — 195; D . Follesdal: ,Husserl und Heidegger'.

218

Dasein und Erkennen

(a) Heidegger verweist im § 43 b zweimal (durch Nennung des Paragraphen sowie der einschlägigen Seitenzahl) auf den §16 zurück, der die Uberschrift trägt: „Die am innerweltlich Seienden sich meldende Weltmäßigkeit der Umwelt". Die Aufgabenstellung des Paragraphen ergibt sich folgerichtig aus der „pragmatistischen" Programmatik der Fundamentalontologie, die Heidegger im § 12 in der Wendung vom Erkennen alsfundierten Modus zusammenfaßt. Diese Formulierung ist die negativ-polemische Übernahme von Diltheys Begriff der Nichthintergehbarkeit des Lebens. Im Gegensatz zur Hauptlinie der neuzeitlichen Philosophie, für die die kognitiven Bewußtseinsmodi „fundierende" Funktion für alle kognitiven Erkenntnispräsentationen haben, weist Heidegger diese Sonderrolle des Erkennens zurück: Das Erkennen ist lediglich ein Exempel neben anderen für das In-Sein des Daseins. Neben Dilthey kann Heidegger sich für diese Relativierung der kognitiven Bewußtseinsweisen auch auf die phänomenologische Schule berufen. Bereits Brentano hat für die volitiven und emotiven Bewußtseinsweisen die gleiche Aktstruktur wie für die kognitiven herausgestellt. In der Brentano-Schule hat man sich entsprechend bemüht, der traditionellen Logik des Urteils eine Logik des Wollens, des Sollens, des Fühlens usw. an die Seite zu stellen.11 Bei Husserl kommt es allerdings zu einer gewissen Renaissance des Vorrangs des Kognitiven. Zwar übernimmt Husserl Brentanos Konzeption der Strukturgleichheit aller Akte. Methodisch spielt jedoch der kognitive Modus in dem Maße eine primäre Rolle, als Husserl sich transzendentalphilosophischen Begründungskonzeptionen annähert: Sind auch alle Akte strukturell gleichrangig, kommt doch dem Erkennen des absoluten Ego, das die Struktur des Wollens usw. erkennt, ein Primat zu.12 Im Sinne Diltheys und Brentanos tritt Heidegger diesem neuen Kognitivismus Husserls entgegen, indem das konkrete 11 12

Ζ. Β. E. Mally: Grundgesetze des Sollens. Vgl. ζ. Β. E. Husserl: Ideen einer reinen Phänomenologie,

§ 139.

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Subjekt die trans2endentalen Funktionen übernimmt, die Husserl einem absoluten Ich zugedacht hat. Der primäre Vollzug des einerseits konkreten, andererseits aber die Leistungen der transzendentalen Konstitution in sich vollziehenden Subjektivität ist — positiv formuliert — der „umsichtige Umgang" des Menschen mit den Dingen seiner Umwelt. Durch den Begriff des „umsichtigen Umgangs" wird Diltheys Begriff des Lebens, der primär ein negativer Kampfbegriff gegen die Bewußtseinsphilosophie war, positiv inhaltlich gefüllt und analysiert. Zudem löst sich Heidegger mit dem Begriff des umsichtigen Umgangs von dem Rest-Mentalismus, der Diltheys Begriffen von „Wille" und „Trieb" noch anhaftete. Erst mit Heidegger kann man somit von einem selbständigen philosophischen Begriff des Handelns sprechen, derart, daß das Handeln nicht als bloße „Ausführung" andernorts („im Willen") festgelegter Abläufe erscheint. Daher ist es berechtigt, bei Heidegger zum ersten Mal in der europäischen Philosophie von einem konsequenten Pragmatismus zu sprechen.13 Der mit dem Primat des umsichtigen Umgangs mitgesetzte „ontologische" Begriff ist der der Zuhandenheit. Der umsichtige Umgang präsupponiert, daß ihm das Seiende als „Wozu", als „Dienlichkeit", als „Zeug" erscheint. Das Seiende ist präsent als das, worauf sich das umsichtige Umgehen mit etwas bezieht. Da der umsichtige Umgang nicht ein Vollzug neben anderen ist, sondern den Grundvollzug ausmacht, in den alle anderen Vollzüge als Sondervollzüge eingebettet sind, ist die Zuhandenheit zunächst der universelle ontologische Modus. Gerade deshalb entsteht das Problem, wie man das Auftreten weiterer Einstellungen und entsprechend anderer ontologischer Modi verstehen kann. Heideggers prinzipielle Antwort darauf ist einfach: Andere Modi sind als Defizienzen gegenüber dem umsichtigen Umgang mit zuhandenem Zeug zu in13

Vgl. C. F. Gethmann: ,Die Konzeption des Handelns in Sein und Zeit, in diesem Band 281—321.

220

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terpretieren (vgl. GA20 300). Die „ontologische Genesis" erfolgt daher bei Heidegger durchgängig nach dem Schema: A modo eminenti ad modum deficientem valet illatio.14 Ausgehend von diesem Grundgedanken erscheint nun die Vorhandenheit als defizienter Modus der Zuhandenheit zufolge spezifischer Störungen der instrumenteilen Zusammenhänge innerhalb der Zeug-Welt. Im § 16 wird von Heidegger genauer dargelegt, auf welche Weise solche Störungen gewissermaßen in die Kontinua lebensweltlichen Besorgens einbrechen (als „Auffälligkeit", „Aufdringlichkeit" und „Aufsässigkeit"). Das anläßlich dieser Störungen aus dem Rahmen fallende Seiende nimmt den Charakter der Vorhandenheit an: „In der Auffälligkeit, Aufdringlichkeit und Aufsässigkeit geht das Zuhandene in gewisser Weise seiner Zuhandenheit verlustig" (SZ 74). Im Rahmen dieser „ontologischen Genesis" der Vorhandenheit aus der Zuhandenheit erörtert Heidegger nun unter Aufnahme der herkömmlichen Terminologie, wie der in der Diskussion um die Realität der Außenwelt zentrale ontologische Modus des An-sich-Seins von Gegenständen in den Rahmen der Fundamentalontologie einzubeziehen ist. Heideggers zentrale These liegt darin, daß das Seiende „an sich" betrachtet gerade das Seiende im eminenten Modus der Zuhandenheit ist. Gerade das unthematische Umgehen mit den dienlichen Dingen des Alltags muß den Ansatz bieten für die Frage, wie die Dinge „an sich" betrachtet sind: „Damit im alltäglichen Besorgen der ,Umwelt' das zuhandene Zeug in seinem „An-sich-sein' soll begegnen können, müssen die Verweisungen und Verweisungsganzheiten, darinnen die Umsicht .aufgeht', für diese sowohl wie erst recht für ein unumsichtiges, .thematisches' Erfassen unthematisch bleiben. Das Sich-nicht-melden der Welt ist die Bedingung der Möglichkeit des Nichtheraustretens des Zuhandenen aus seiner Unauffälligkeit. Und

14

Zu dieser konstitutionstheoretischen These Heideggers vgl. genauer C. F. Gethmann: ,Der existenziale Begriff der Wissenschaft', in diesem Band 1 6 9 - 2 0 6 , bes. §2.

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221

darin konstituiert sich die phänomenale Struktur des An-sich-seins dieses Seienden" (SZ 75). 15

Dieser analytischen These entspricht die destruktive des § 43, das die Realität bestimmende An-sich-sein sei in der Tradition seit Descartes immer schon am defizienten, erst durch Störung und Bruch „entstehenden" Modus der Vorhandenheit orientiert gewesen. Ferner sei auch die Subjektivität nach diesem ontologischen Modus interpretiert worden. Entsprechend stelle Kant die Frage nach dem „Dasein der Dinge außer mir" im Sinne des Vorhandenseins. Heidegger faßt seine Kritik an Kant in die knappe Zuordnung, daß Kant „den Terminus ,Dasein' zur Bezeichnung der Seinsart gebraucht, die in der vorliegenden Untersuchung ,Vorhandenheit' genannt wird" (SZ 203). Heideggers Kritik an der traditionellen Fragestellung besteht also genauer darin, daß diese die „Realität" bereits nach einem ontologischen Modus vorentwirft, der sich bei genauerer Analyse als bloß defizienter Modus eines ursprünglicheren An-sich-seins erweist. Somit ist die traditionelle Fragestellung eine bloß abgeleitete, sekundäre Frage. Man sieht allerdings auch, daß Heidegger den von Dilthey zur Geltung gebrachten Instrumentalismus der Lebenswelt hinsichtlich des Realitätsproblems erheblich weiter präzisiert und expliziert. Ferner bekommt das pauschal wirkende Diktum: „ ,Realitätsbewußtsein' ist selbst eine Weise des In-der-Welt-seins" (SZ211) deutliche Konturen. Weder Realität im Sinne des Vorhandenseins noch Realitätsbewußtsein im Sinne des Erkennens sind Grundlagen der Weltbeziehung, vielmehr Sonderformen im Rahmen der umfassenden Welt und des umfassenden In-seins. Der Fehler der Bewältigungsversuche hinsichtlich des Realitätsproblems in der gesamten Philosophie der Neuzeit lag darin, Sonderformen menschlichen Weltverhältnisses mit seiner Grund- und Vollform verwechselt zu haben.

15

Ausführlich dazu GA20 299 f.

222

Dasein und Erkennen

(b) Ähnlich wie mit „Realität" und „Realitätsbewußtsein" zwei Seiten der Problembeziehung benannt sind, ist auch mit Blick auf Heidegger zu fragen, was der These vom An-sichsein des Zuhandenen auf der „subjektiven" Seite korrespondiert. Für den traditionellen konzeptionellen Rahmen stellt sich die Frage nach einer Interpretation menschlicher Rezeptivität vor allem spontanen Denken. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von der vor-prädikativen Erfahrung, deren Realitätsbeziehung zu untersuchen sei. In Heideggers Systematik entspricht dieser Konzeption die Lehre von der Auslegung, wie sie besonders in § 32 von Sein und Zeitx6 entwikkelt wird. Kern dieses Lehrstücks ist Heideggers Unterscheidung zwischen dem hermeneutischen und dem apohantischen Als, die der Unterscheidung zwischen den ontologischen Modi der Zuhandenheit und Vorhandenheit parallel konstruiert ist. Zum Verständnis dieser Konzeption ist daran zu erinnern, daß die traditionelle Logik die dem Urteil vorausgehende und in es eingehende Zu-/Absprechung in die sprachliche Form von Ais-Sätzen („Die Biene als Insekt") faßt, um deutlich zu machen, daß durch die Prädikation noch nicht die im Urteil erhobenen Geltungsansprüche vollzogen werden. Heideggers unmittelbarer Gesprächspartner in dieser Frage ist wiederum Husserl, der im Rahmen seiner wiederholten Ansätze zu einer „Genealogie der Logik" eine verfeinerte Analyse der herkömmlichen Lehre von den „zwei Stämmen der Erkenntnis", nämlich Wahrnehmen und Denken, ausgearbeitet hat. Husserl wiederum betrachtet es in diesem Zusammenhang als seine zentrale Aufgabe, eine Konzeption von Rezeptivität zu entwickeln, die nicht in die Fallstricke der im Laufe der Neuzeit immer wieder auftretenden naturalistischen Erkenntnistheorien gerät. Der nach Husserl besonders aktuelle und im übrigen für die Philosophie des 20. Jahrhunderts beson16

Ein ausführlicherer und in vielen Fragen klarerer Text findet sich in Heideggers Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit (GA21), § 12.

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223

ders folgenreiche Ansatz einer naturalistischen Erkenntnistheorie ist die Position von E. Mach. Heidegger muß mit seiner Konzeption der Auslegung also als Endstation in der Argumentationsfolge von Mach über Husserl zu Heidegger gesehen werden. 17 Für die naturalistische Erkenntnistheorie Machs bestehen die rezeptiven Abläufe in den menschlichen Sinnesorganen aus physikalischen, chemischen usw. Vorgängen, deren Erforschung in der Sphäre der naturwissenschaftlichen Erkenntniseinstellung erfolgt. Gegenüber einer derartigen „Naturalisierung" des Bewußtseins hat Husserl geltend gemacht, daß die Rezeptivität nur dann eine Funktion im Erkenntnisgeschehen übernehmen kann, wenn sie als nicht-reduzierbare subjektive Aktivität gedeutet wird. Von bloß natürlich gedeuteten Vorgängen könnte nämlich nicht gesagt werden, wodurch ihnen Wahrheit/Falschheit zukommt. Insbesondere wäre es sinnlos, Wahrheit anzustreben, weil natürliche Vorgänge nicht vom Menschen auf ein Telos hin ausgerichtet sind. Wenn es aber Bewußtseinszustände gibt, die auf ein subjektives Ziel hin gerichtet werden, dann muß denkbar sein, daß sie sich auf subjektive Veranlassung hin entsprechend „einstellen" lassen können. Dieser Zusammenhang ist der Grund dafür, daß Husserl auch für die unterste Stufe der Erkenntnisbildung, die vorprädikative Erfahrung, bereits eine subjektive Leistung konstatiert. 18 Auch die unterste Stufe der Rezeptivität, das Wahrnehmen, ist nach Husserl bereits eine „ichliche" Aktivität, weil bereits der Reiz nur ein Reiz für das Sinnesorgan ist, wenn eine anfängliche „Ichzuwendung" vorliegt. Im andern Falle würde der Reizauslöser ja gleichsam auf geschlosssene Türen treffen. Die notwendigen Zuwendungen des Ich, die der rezeptiven Tätigkeit vor-

17 18

Vgl. C. F. Gethmann: ,Vom Bewußtsein zum Handeln'. Vgl. bes. E. Husserl: Erfahrung und Urteil. Dieses von R. Landgrebe redigierte Werk spiegelt bereits die Beschäftigung mit Sein und Zeit innerhalb der Phänomenologie wider. Die Frage, wie weit Husserl der Ausarbeitung Landgrebes mit „wirklicher" philosophischer Teilnahme folgte, kann in diesem Zusammenhang offenbleiben.

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ausliegen, faßt Husserl im Begriff des „Interesses" zusammen. Dieser Ausdruck soll auch anzeigen, daß die tendenzielle Zuwendung des Ich nur rezeptiv wirksam ist, wenn ihr eine gewisse Beständigkeit zukommt. So ist auch das Aufmerken auf den Gegenstand und die Anteilnahme an ihm bereits durch eine fundamentale Zeit-Struktur geprägt. Grundsätzlich interpretiert Husserl also die rezeptiven Geschehnisse als nichtwillkürliche Verhaltensweisen des Menschen. Demgegenüber wird das willkürliche, spontane Handeln der Sphäre des Urteilens und Denkens vorbehalten. Obwohl Heidegger sich Husserls Kritik am Naturalismus der Erkenntnis anschließt, kritisiert er sie als nicht radikal genug. Insbesondere greift Heidegger die Unterscheidung von Rezeptivität/Spontaneität (Erfassen/Denken; Wahrnehmen/ Urteilen) an, weil diese sich nicht einer ursprünglichen Analyse, sondern der dualistischen Anthropologie im Anschluß an Descartes verdanke. In einer Analytik des Daseins, die sich von diesen Traditionen freigemacht hat, erscheint demgegenüber das elementare Verhältnis zu den Dingen, der umsichtige Umgang, als das eigentliche Handeln. In dreifacher Hinsicht destruiert Heidegger daher die traditionelle Philosophie der Re%eptivität\ (1) Traditionell ist das rezeptive Subjekt das individuelle, empirische Subjekt. Die transzendentalen Funktionen werden (jedenfalls im Neukantianismus und bei Husserl) erst auf der Ebene des Denkens festgemacht. Demgegenüber ist der umsichtige Umgang zugleich „weltentwerfend", also mit konstitutiver Funktion ausgestattet. (2) Traditionell gilt wenigstens auf der Ebene der Rezeptivität ein methodischer Solipsismus. Erst auf der Ebene des Urteilens, also des Geltungsansprüche-Erhebens und -Einlösens, tritt Intersubjektivität in Erscheinung. Demgegenüber ist der umsichtige Umgang mit den Dingen nach Heidegger immer schon ein intersubjektiver Akt, wenn auch auf elementarer Stufe in der Form eines unqualifizierten Intersubjektivitätsmodus, dem „Man".

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(3) Traditionell bezieht sich die Rezeptivität auf einzelne Körperdinge, während die „Zusammenhänge" Sache des Denkens, besonders der Relationsurteile sind. Demgegenüber befindet sich die elementare Welt nach Heidegger bereits in einem Verweisungszusammenhang, einer Bewandtnisganzheit, die durch die Zweck-Mittel-Organisation der Welt als menschlicher Umwelt bestimmt ist. Das isolierte Einzelding ist eine Ex-post-Abstraktion aus diesem Zusammenhang. Diese Gegenüberstellung macht plausibel, daß eine Unterscheidung zwischen sinnlichem Wahrnehmen und über-sinnlichem Denken für Heidegger keinen Ort hat. Die Rezeptivität ist jedoch nach traditioneller Auffassung diejenige subjektive Sphäre, durch die die Realität gewissermaßen in die Subjektivität einbricht. Demgegenüber expliziert Heidegger das Realitätsbewußtsein im Rahmen der Analytik des Daseins jenseits der Unterscheidung von Rezeptivität der Wahrnehmung und Spontaneität des Denkens. Man kann auch formulieren, daß Heidegger einen völlig neuen, nicht am passiven Hinnehmen, sondern am aktiven „Erfassen" orientierten Begriff der Wahrnehmung anzielt. Heidegger entwickelt diese Konzeption der Wahrnehmung jedoch nicht aus dem Begriff der „Wahrnehmung", sondern dem der „Auslegung". Das Begriffspaar von Wahrnehmung/ Urteil wird durch das Begriffspaar Auslegung/Aussage abgelöst. Im Rahmen der Fundamentalontologie tritt die Theorie der Auslegung die Nachfolge der Theorie der Wahrnehmung an; das Entsprechende gilt für Aussage und Urteil. Die Auslegung ist ein intentionaler und unter Umständen expliziter Akt, durch die die ursprüngliche, im umsichtigen Umgang vollzogene Erschlossenheit der Welt (Verstehen) zu sprachlicher Ausdrücklichkeit gebracht werden kann. In der Auslegung wird das Ausgelegte als das genommen, „wozu es dient". Im Auslegen wird der Gegenstand in seiner Bewandtnis, seinem „Wozu" verstanden. Die Auslegung artikuliert sich auf der Basis operativer Evidenzen, die sich aus Zweck-

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Mittel-Zusammenhängen ergeben. Das Ausgelegte weist daher den ontologischen Modus der Zuhandenheit auf. 19 Ihre prototypische Redeform lautet: ,Dies ist zum ... (Handlungsprädikator)'. 20 So wie die Zuhandenheit das An-sich-Sein des Seienden charakterisiert und somit seine Realität, stellt die Auslegung die Heideggersche Version des „Realitätsbewußtseins" dar. Realitätsbezug hat der Mensch danach primär und umfassend im Rahmen unthematischen, zweckbezogenen Handelns. Dieses Handeln ist unthematisch und somit auch unprädikativ. Gleichwohl weist es eine Doppelstruktur von Etwas und Wozu des Etwas auf. Insofern sieht Heidegger auch auf dieser primären Ebene, im Unterschied zu der breiten Tradition der Philosophie der Rezeptivität, eine Ais-Struktur (hermeneutisches Als). Mit dieser Feststellung wendet sich Heidegger v. a. gegen die noch von Husserl vertretene Auffassung, an der untersten Stelle des Erkenntnisgebäudes stehe ein schlichtes und einfaches Erfassen singulärer Dinge. Gegenüber der Auslegung ist die Aussage ein expliziter Akt, durch den dem Worüber der Aussage Attribute zu-/abgesprochen werden. Dies setzt voraus, daß einzelne Dinge voneinander unterschieden und Attribute aus ihrem primären lebensweltlich-operativen Kontext abgelöst sind. Der Aussage entspricht somit ontologisch der Modus der Vorhandenheit. Ihre Ais-Struktur entspricht der Doppelstruktur, die die Tradition unter dem Begriff der Prädikation immer schon analysiert hat {apophantisches Als). Die prototypische Redeform lautet: ,Dies ist ein ... (Eigenschaftsprädikator)'. Bereits durch die Strategie der Begriffswahl macht Heidegger hier deutlich, daß die Prädikationstheorie und die auf ihr beruhende Urteilstheorie von Aristoteles bis Husserl lediglich Phänomene untersucht, die im Sinne von Heideggers „ontologischer Genesis" bloß fundierte Phänomene sind. 19 20

Vgl. insgesamt GA21 § 12. Vgl. SZ 149.

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227

2. Wahrnehmen als Handeln In Weiterführung v. a. Diltheyscher Einsichten hat Heidegger für eine Behandlung des Realitätsproblems grundlegende Neubestimmungen geliefert, die einer Transformation der Problemstellung in einem völlig anderen Kontext gleichkommen. Hervorzuheben sind insgesamt folgende Einsichten: (1) Menschlicher Realitätsbezug ist keine einlösungsbedürftige Prätention der Erkenntnis, sondern eine erkenntnisfundierende Präsupposition. Die Realität ist daher kein Beweisproblem. (2) Der Realitätsbezug ist über das primäre lebensweltliche Handeln gegeben, den umsichtigen Umgang, auf welchen die kognitiven Vollzüge instrumenteil hingeordnet sind. (3) Das Handeln liegt daher vor jeder Unterscheidung in rezeptives Erfassen und spontanes Denken. Handeln ist rezeptiv und spontan zugleich. Das Handeln legt sich selbst umsichtig (meistens unthematisch) aus als das Womit und das Wozu des Handelns. Ihm ist also eine Doppelstruktur nach Analogie der prädikativen Doppelstruktur eigen. Allerdings hat Heidegger im Rahmen der mit Sein und Zeit (und der Schriften im Umkreis dieses Werkes) erreichten Position seines Denkens keine explizite Neuformulierung des Realitätsproblems auf der Basis der genannten Neubestimmungen geliefert. Sein und Zeit entwickelt einige zentrale Prämissen für eine Reformulierung des Realitätsproblems, und damit der Erkenntnistheorie überhaupt. Die Ausarbeitung einer solchen Erkenntnistheorie im Rahmen des skizzierten Lebenswelt-Pragmatismus geht über die Aufgabenstellung des Werkes hinaus. Im folgenden soll versucht werden, eine denkbare Ausführung des von Heidegger skizzierten Programms in Grundzügen zu charakterisieren.21 Als Paradigma sollen dazu ganz 21

Die folgenden Überlegungen sind beeinflußt von der Prädikationstheorie, die im Konstruktivismus der Erlanger Schule entwickelt

228

Dasein und Erkennen

einfache Schwierigkeiten dienen, wie sie jedermann leicht haben könnte, wenn er etwa versucht, in einem ihm unbekannten Supermarkt etwas Bestimmtes einzukaufen. Jeder hat schon einmal erfahren, welche Schwierigkeiten es sind, die man hat, wenn man im nachhinein feststellt, es sei nicht einfach gewesen, sich im Supermarkt, im Straßenverkehr, im Wald usw. zurechtzufinden, sich zu orientieren. Orientieren, d. h. „sich am Sonnenaufgang ausrichten", somit die Himmelsrichtung justieren, ist, solange es an komplizierten Geräten gebricht, das empfehlenswerte Verfahren, wenn man sich in fremder Gegend zurechtfinden will. Die Orientierung ist deswegen eine geeignete Metapher, um Probleme des Sich-zurechtfindens, allgemein: Erkenntnisprobleme, zu behandeln.

2.1

Unterscheiden

Der Orientierung dienen, wie eine eingehende erkenntnistheoretische Erörterung zeigen könnte, viele Erkenntnis- und Handlungsleistungen des Menschen, Behauptungen, Theorien, Definitionen, Regeln, Normen, aber auch Institutionen, Traditionen, Organisationen. Methodisch primär aber ist die Fähigkeit des Menschen, den Dingen Wörter zu- bzw. abzusprechen, oder anders formuliert, zwischen verschiedenen Sachverhalten zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist jedenfalls (was man im einzelnen zeigen müßte) eine notwendige Bedingung aller höheren und komplizierteren Erkenntnisleistungen. Sich in der Welt orientieren zu können heißt also wenigstens, über die Fähigkeit verfügen, Sachen, Sachverhalte vonwurde. Dies ist keineswegs eine heterogene Zusammenfügung, weil diese Prädikationstheorie wesentlich unter dem Einfluß der Phänomenologie, insbesondere auch Heideggers, steht. Zu den historischen Verbindungen vgl. C. F. Gethmann: .Phänomenologie, Lebensphilosophie und Konstruktive Wissenschaftstheorie'. Neben W. Kamlah/P. Lorenzen: Logische Propädeutik sind besonders die Arbeiten von J. Mittelstraß zur Prädikationstheorie zu nennen: ,Die Prädikation und die Wiederkehr des Gleichen', ,Das normative Fundament'.

Das Realitätsproblem

229

einander zu differenzieren, was gelegentlich einschließt, daß man sie auch miteinander identifizieren kann. Unterscheidungen werden mit Hilfe von Wörtern vollzogen: „dies ist rot"; „dies ist rosa"; „dies ist nicht farblos" usw. Manche Wörter also, wie etwa „rot", „rosa", „farblos", werden Dingen zu Unterscheidungszwecken zu- oder abgesprochen, und solche Wörter sollen „Prädikatoren" heißen. Prädikatoren sind verbale, phonetisch-graphisch wahrnehmbare Instrumente, um die Handlung des Zu- und Absprechens, der „Prädikation", durchzuführen. Die Fähigkeit des Menschen zur Prädikation ist keineswegs eine Fähigkeit, die ihm mit Selbstverständlichkeit gegeben ist, wie besonders deutlich wird, wenn das prädikative Handeln in seinem Funktionieren gestört ist. Zwei Typen solcher Störungen sind dabei zu unterscheiden: (1) Kommunikative Störungen·. Prädikatoren, die ja Instrumente der Orientierung sein sollen, werden im Falle solcher Störungen von anderen Sprachverwendern, auf deren Gemeinsamkeit im Reden und Handeln es ankommt, nicht oder anders verwendet. In solchen Fällen wird uns deutlich, daß wir wünschen, Prädikationen sollten verständlich sein, d. h. sie sollen Kommunikation ermöglichen. (2) Kooperative Störungen·. Prädikatoren, die ja Instrumente der Orientierung sein sollen, verlieren ihre orientierende Funktion so, wie sich die Orientierung nach den Sternen in wolkenreichen Nächten verliert. Und dann wird deutlich: Prädikationen sollten verläßlich sein, d. h., sie sollen Kooperation ermöglichen. Bei Störfallen wird somit erfahrbar, daß Prädikationen den Anforderungen der Verständlichkeit und Verläßlichkeit genügen sollen. Über weite Strecken lebensweltlicher Prädikationstätigkeit können wir allerdings die Erfahrung machen, daß unsere Prädikationen, weil sie einer zum Teil langen und bewährten Unterscheidungstradition folgen, im großen und ganzen gelingen. Hat man aber das Interesse, Störungen von Kommunikation und Kooperation zu beheben oder sogar sol-

230

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che Störungen im vorhinein zu vermeiden, also insgesamt Störungen zu bewältigen, dann stellt sich die Frage, was die Verständlichkeit und Verläßlichkeit menschlichen Unterscheidens gewährleistet. Allgemein ist dies dasjenige, womit wir sachhaltig und zweckmäßig umgehen (res). Das Realitätsproblem läßt sich somit in 1. Näherung so charakterisieren: Das Reale ist das, was die Verständlichkeit und Verläßlichkeit menschlicher Unterscheidungsleistungen gewährleistet. Für die Deutung dieses Phänomens und für die Beantwortung einer entsprechenden, noch sehr vage formulierten Frage, scheint es nur zwei sich ausschließende Antwortstrategien zu geben: Erstens könnte man meinen, es sei eben die „reale Welt", die uns die Unterscheidungen vorgibt. Und da diese Welt allen Menschen gemeinsam ist, sind auch die Unterscheidungen jedermann verständlich; und da sich diese Welt — glücklicherweise — recht stabil verhält, ist sie eben auch Garantie für die Verläßlichkeit des Handelns. Diese Position bezeichnet man üblicherweise als „Realismus". Man kann aber auch — zweitens — folgende Sicht der Dinge haben: Angenommen, wir Menschen, die wir die Unterscheidungen vornehmen, seien es, die der Welt die Unterscheidungen vorgeben. Und da wir das gemeinsam tun, sind uns die Unterscheidungen verständlich; und da wir dies mit der Absicht der Beständigkeit des Handelns tun, sind die Unterscheidungen auch verläßlich. Diese Position nennt man üblicherweise „Idealismus". Nun hat eine lange Argumentationsgeschichte ergeben, daß beide Deutungen so jedenfalls nicht haltbar sind. Aus der Vielzahl der wechselseitigen Argumentationen spielen jeweils zwei eine besondere Rolle 22 : (1) Zwei Argumente gegen den Realismus: Zunächst — er ist prinzipiell unbeweisbar oder, was dasselbe besagt, nur zirkulär beweisbar. Denn ohne bereits eingeführte Unterscheidungen kann man über das angebliche Reale der 22

Vgl. dazu Heideggers Diskussion der Positionen SZ 207 f. und GA20 305 f.

Das Realitätsproblem

231

Welt nichts behaupten. So kann man auch nicht behaupten, das Reale existiere unabhängig vom Bezug zum Menschen. Denn „X wird der Bezug zu Y abgesprochen", ist ein Prädikationsschema, also Produkt einer Unterscheidungsleistung. Ferner: Wenn das Reale die Unterscheidungen erzwingt, wieso sind wir dann in vielen Fällen so frei in der Wahl unserer Unterscheidungssysteme (Varianz). Und was heißt überhaupt „erzwingen"? Was erzwingt denn, daß Wale Säugetiere sind und keine Fische? Lediglich unser zoologisches Unterscheidungssystem, und nichts am Wal. Also sind wir vor die Frage gestellt, woher unser zoologisches Unterscheidungssystem kommt. (2) Zwei Argumente gegen den Idealismus: Einmal ist das sogenannte Privatsprachen-Argument anzuführen. Wenn wir der Welt die Unterscheidungen vorgeben, wieso spricht nicht jeder seine private Sprache? Wie kommt es überhaupt zur Verständlichkeit des Lebensentwurfs und -Vollzugs anderer? Zudem·. Manche Unterscheidungen, so scheint es, „gehen" einfach nicht anders (Invarianz); oder etwas klarer gesagt: Unterscheidungen können geeignet oder ungeeignet sein, je nachdem ζ. B., ob eine Handlungsplanung, die unter Zuhilfenahme einer Unterscheidung ausgeführt wurde, gelingt oder mißlingt. Wer ζ. B. die Unterscheidung zwischen Wollwaschmittel und Vollwaschmittel unterläßt oder etwa die zwischen Waschmittel in großen und kleinen Packungen für geeigneter hält, wird unter Umständen Enttäuschungen relativ zu seinem Handlungsplan erleben. In zweiter Näherung läßt sich bezüglich des Realitätsproblems folgende negative Einsicht festhalten: Verständlichkeit

und Verläßlichkeit menschlicher Unterscheidungsleistungen werden nicht durch eine ohne Be^ug %um Unterscheiden stehende „reale Welt" garantiert, aber auch nicht allein durch den unterscheidenden Menschen.

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Ein interessantes Problem wird das Realitätsproblem also dadurch, daß sowohl der Realismus als auch der Idealismus, also die beiden naheliegenden einfachen Antwortrichtungen, nicht haltbar sind. Dies scheint allerdings in eine logisch merkwürdige Situation zu führen. Es scheint, wir müßten uns einfach für eine der Positionen entscheiden und versuchen, sie durch raffiniertes Absichern gegen alle möglichen Einwände zu verteidigen, und dies ist in der Tat die Ebene, auf der vielfach argumentiert wird. Logisch bleibt aber noch folgender Ausweg: anzunehmen, Idealismus und Realismus sprächen über verschiedene Sachverhalte, so daß ihre beiderseitige Widerlegung nicht besagt, daß keine denkbare Position mehr offenbleibt. Sofern Vertreter der entsprechenden Positionen unterstellen, daß sie über verschiedene Sachverhalte sprechen, soll von einem raffinierten Realismus und einem raffinierten Idealismus gesprochen werden, im anderen Falle von einem naiven Realismus bzw. Idealismus. Es bleibt also logisch der Weg offen, daß naiver Idealismus und Realismus zwar falsch sind, raffinierter Idealismus und Realismus aber dennoch wahr sein können. Der raffinierte Realist sprich über dasjenige, was, jedenfalls in manchen Fällen, Unterscheidungen unbeliebig macht, so daß die Differenz von geeigneter und ungeeigneter Unterscheidung, in diesen Fällen jedenfalls, sinnvoll ist. Es muß angenommen werden, daß es dieses X gibt, und mehr behauptet der raffinierte Realist nicht; das ist seine Raffinesse. Der raffinierte Idealist spricht stattdessen über Prädikationen für dieses X, so daß es Prädikatoren nicht gibt, ohne daß es jemanden gibt, der sie X zuoder abspricht. Der raffinierte Idealist sagt, es muß angenommen werden, daß es jemanden gibt, der X Prädikatoren zuoder abspricht, und mehr behauptet er nicht; das ist seine Raffinesse. Man sieht: Während der raffinierte Realist über die Existenz von X spricht, spricht der raffinierte Idealist über die Existenz eines Sprechers, der über X spricht. Und es ist logisch möglich, daß der raffinierte Realist und raffinierte Idealist zugleich recht haben. Es kann nämlich durchaus sein, daß es gute Gründe gibt, anzunehmen, daß es ein X gibt, und

Das Realitätsproblem

233

daß es jemanden gibt, der X etwas zu- oder abspricht; oder negativ — und dann wird vielleicht die Pointe noch etwas deutlicher —, daß es falsch ist, die Existenz von X zu bestreiten, und zugleich, daß es falsch ist, die Existenz eines Jemand zu bestreiten, der X die Prädikatoren zuspricht oder abspricht. Oder noch anders: Wir können uns die Leistungsfähigkeit menschlichen Unterscheidens, das heißt, seine Eignung für die Lösung von Orientierungsproblemen, nicht klarmachen, wenn wir zum einen nicht annehmen, es existiere ein X, das dem Unterscheiden seine Eignung, wenigstens manchmal, vorgibt, und zum anderen, es lasse sich über X nichts sagen, wenn es nicht jemanden gebe, der über X etwas sagt. Und damit verstehen wir das Realitätsproblem in 3. Näherung: Das, was die Verständlichkeit und Verläßlichkeit menschlicher Unterscheidungsleistungen garantiert, geht diesen Unterscheidungen derart voraus, daß es die Eignung dieser bestimmt, aber nicht so, daß es ohne jemandes Unterscheidungsleistung bestimmbar ist. Betrachten wir diesen Sachverhalt aus der Sicht desjenigen, der die Unterscheidungen leistet, also des Menschen. Indem er unterscheidet, bezieht er sich auf ein Bestimmendes, auf eine bestimmende Größe, ohne zu unterstellen, daß dieses auch abgesehen von seinem Bestimmen existiert. So jedenfalls sieht er die Dinge, wenn er auf dem Standpunkt des raffinierten Realismus und des raffinierten Idealismus nachdenkt. Dieses spezifische Geschehen, das sich in ihm abspielt, soll eine Bezeichnung bekommen, wenn es im Sinne dieser dritten Näherung zum Realitätsproblem gedeutet wird: das Unterscheiden wird verstanden als ein „Wahrnehmen".

2.2 Wahrnehmen Bekanntlich spielen sich im Menschen Geschehnisse sehr unterschiedlicher Art ab, so daß wir sofort gezwungen sind zu überlegen, was für eine Art Geschehen denn das Wahrnehmen eigentlich ist. Um die Frage nicht zu komplex werden zu lassen, sollen drei Sorten von Geschehnissen, die sich im

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Dasein und Erkennen

Menschen oder mit ihm oder um ihn herum abspielen, betrachtet werden. Diese Geschehnisse können einmal durch den Menschen veranlaßt oder nicht veranlaßt sein. Wenn sie nicht veranlaßt sind, dann sollen sie „1Vorgänge" genannt werden. Daß wir gelegentlich stürzen oder auch eine Kreislaufschwäche haben, ist in diesem Sinn ein Vorgang. Wenn das Geschehnis durch den Menschen veranlaßt ist, dann soll ein Tun vorliegen, und dieses Tun kann beabsichtigt oder nicht beabsichtigt sein. Wenn es nicht beabsichtigt ist, dann soll es ,Verhalten" genannt werden. Und so ist zum Beispiel das Verdauen ein Verhalten; es wird durch den Menschen veranlaßt (er könnte das Essen ja auch einstellen), aber dann verläuft es auf eine Weise, die er nicht durch seine Absichten steuern kann. Ist dagegen das Tun beabsichtigt, dann soll vom „Handeln" gesprochen werden. Wir handeln etwa, wenn wir ein Haus bauen oder ein Waschmittel kaufen. Ist das Wahrnehmen nun ein Vorgang, ein Verhalten oder ein Handeln? Gleicht das Wahrnehmen dem Stürzen, dem Verdauen oder dem Bauen? 1. These: Wahrnehmen ist ein Tun und kein Vorgang. Wenn wir etwas wahrnehmen, müssen wir etwas veranlassen, bei uns selbst oder auch anderen, ζ. B. die Augen öffnen, die Ohren spitzen, aber auch den Gaumen verfeinern, den Geschmack kultivieren. Das Wahrgenommene fällt nicht in uns hinein, wie das Licht auf eine photographische Platte. Das Wahrnehmen beinhaltet nämlich bereits ein Auswählen aus einem unendlichen Kontinuum möglicher Empfindungen, und dieses Auswählen ist ein Ingangsetzen, ein Veranlassen, also ein Tun. 2. These: Wahrnehmen ist ein Handeln und kein Verhalten. Um dies zu zeigen, muß man einige elementare Grundunterscheidungen der Deutung menschlichen Handelns heranziehen. Sie stellen Kriterien dar, mit deren Hilfe man erkennen kann, ob etwas ein Handeln oder ein Verhalten ist. Das Handeln beinhaltet — erstens — das Setzen eines Zwecks, also

Das Realitätsproblem

235

eines Sachverhalts, dessen Realisierung man mittels des Handelns anstrebt. Statt „Setzen eines Zwecks" kann man auch vom „Annehmen eines Zwecks" im doppelten Wortsinn des Übernehmens und des mit Vorbehalt Zustimmens sprechen. Die Möglichkeit, daß unter Zwecken gewählt wird, ist beim Handeln, jedenfalls prinzipiell, offen. Demgegenüber kann beim Verhalten kein Zweck gewählt werden. Zweitens·. Zum Handeln gehört die Möglichkeit, Mittel zu wählen, deren Ergreifung kausal oder wenigstens konditional den Zweck herbeiführt. Demgegenüber liegen beim Verhalten die Mittel zur Erreichung des Zwecks fest. Drittens·. Zwischen Mitteln und Zwecken müssen Beziehungen bestehen, die wir durch Kausal- oder Konditionalhypothesen darstellen, oder, wie wie umgangssprachlich treffend sagen: Handlungen müssen und können geplant werden. Wenn wir handeln, nehmen wir an, daß Handlungen zusammen mit anderen eine Kausalität erzeugen oder ausnutzen, derart, daß der Zweck, eventuell mittelbar, entsteht. Ersichtlich ist ein solcher Plan irrtumsgefährdet. Das Haus, das wir bauen, kann nicht Zustandekommen oder einstürzen. Demgegenüber gibt es beim Verhalten keine Planung. Das Verhalten ist weder irrtumsgefahrdet noch verwerfungsgefahrdet. Wohl gibt es beim Verhalten Störungen. Bezogen auf die Rekonstruktion des Wahrnehmens besagen diese drei Gesichtspunkte folgendes: Wer etwas wahrnimmt, nimmt es relativ zu einem gesetzten Zweck wahr. Zum Wahrnehmen gehört eine mit Hilfe von Sinnes- und anderen Werkzeugen, auf die noch einzugehen ist, ausgeführte Handlungsorganisation, die im übrigen zweckvariant ist. Etwas wahrnehmen heißt also nicht einfach, nur etwas erblicken oder sehen, denn nicht jeder, der etwas sieht, nimmt auch das wahr, worum es ihm geht. Ein Geograph, der eine Landschaft durch ein Mikroskop betrachtet, sieht in vielen Fällen etwas, aber er nimmt nicht die Landschaft wahr. Ein Musikkritiker, der ein Orchester von einem schalldichten Raum aus beobachtet, sieht etwas, eventuell hört er auch etwas, aber er nimmt nicht das Orchester wahr. Ferner: Zum Wahrnehmen müssen, wie schon angedeutet, geeignete Mittel gewählt wer-

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Dasein und Erkennen

den, dies folgt bereits aus der Zweckvarianz des Wahrnehmens. Es ist wichtig zu bedenken, daß unsere Sinne, wie wir sagen, unsere „Organe", also Werkzeuge sind. Und schließlich: Das Verhältnis von Mitteln und Zwecken muß beim Wahrnehmen durch Handlungsplanung erst geschaffen werden. Es ereignet sich nicht verläßlich naturwüchsig. Wahrnehmungen ergeben sich nicht als Resultate festliegender Verhaltensabläufe, sondern sie sind fehlbar und verwerfbar. Nur deshalb kann man auch von falschen Wahrnehmungen reden. Zusammenfassend: Wahrnehmungen sind nicht Vorgänge, die wir erleiden, aber auch nicht Verhaltensweisen, die ohne unser Zutun ablaufen, sondern Handlungen, die wir steuern und planen können. Dieser Sprachgebrauch widerspricht allerdings einem sensualistischen Sprachgebrauch für das Wort „Wahrnehmen". Es ist aber darauf aufmerksam zu machen, daß die Umgangssprache auch eine „pragmatische" Verwendungsweise des Wortes „Wahrnehmen" im Sinne einer Handlung kennt. 23 Wir sagen, jemand nehme seine Aufgabe wahr oder seinen Vorteil, und das heißt ja immer etwas anderes als: er sehe eine Aufgabe oder er erblicke einen Vorteil. Die Weiterführung des Realitätsproblems in 4. Näherung geht somit von folgender Einsicht aus: Dasjenige, was die Verständlichkeit und Verläßlichkeit menschlicher Unterscheidungsleistungen garantiert, ist ein Resultat eines spezifischen Handelns des Menschen, des Wahrnehmens. Wenn das Wahrnehmen ein Handeln ist, dann liegt die Idee nahe, das Wahrnehmen so zu planen, zu organisieren, daß wir genau die Informationen erhalten, die wir zu einem bestimmten Zweck brauchen. In diesen Fällen können wir vom „Beobachten" sprechen.24 23

24

Dies hat vor allem H. Krings zum Ausgangspunkt für seine Theorie der Rezeptivität genommen (vgl. H. Krings: Transzendentale Logik, Kap. III). Strukturell ist die hier vertretene Konzeption auch schon von W. Cramer in seiner Explikation des „Erlebens" entwickelt worden (W. Cramer: Grundlegung einer Theorie des Geistes, §§ 34 ff.). Vgl. P. Janich: .Beobachtung und Handlung'.

Das Realitätsproblem

2.3

237

Empfinden

Wenn wir das Wahrnehmen planen und organisieren wollen, dann müssen wir wissen, aus welchen Elementen es besteht und wie diese arrangiert werden können oder müssen, um bestimmten Zwecken zu genügen. Wahrnehmungshandlungen muß man sich also näherhin als eine Weise des Zusammenbauens, des Konstruierens, Konstituierens aus Elementen vorstellen. Nach der traditionellen Erkenntnistheorie sind es die Sinnesorgane, die diese Elemente zur Verfügung stellen. Diese werden somit betrachtet als Werkzeuge, die uns Besitzer dieser Werkzeuge mit Informationen beliefern, aus denen wir uns Realitätsüberzeugungen fabrizieren können. In dieser allgemeinen Formulierung ist die Deutung der Sinnesorgane zunächst unstrittig. Schwierigkeiten entstehen aber sofort, wenn man sich fragt, wie diese Leistungen der Sinnesorgane zu verstehen sind. Zwei Fragen sind zu erörtern: a. Sind die Sinnesorgane hinreichende Lieferanten für die Bildung unserer Realitätsüberzeugung? b. Sind sie notwendige Lieferanten für die Bildung unserer Realitätsüberzeugung? Nennen wir die Tätigkeit der Sinne allgemein das „Empfinden". Dann lautet die Frage: Ist das Empfinden die notwendige und hinreichende Bedingung des Wahrnehmens? Wer diese Frage bejaht, ist ein Sensualist. Bevor wir uns überlegen, warum der Sensualismus nicht haltbar ist, ist es aber nützlich, sich deutlich zu machen, daß auch ein Beweis für den Sensualismus keine Lösung des Realitätsproblems wäre. Denn auch der Sensualist muß sich ja fragen, wie denn dasjenige, was die Empfindungen auslöst, zu verstehen ist: realistisch — dann wären die Auslöser der Empfindungen unabhängig von diesen — oder idealistisch — dann wären die Auslöser der Empfindungen nur durch diese Empfindungen. Beide Varianten sind in der Philosophiegeschichte auch vertreten und diskutiert worden. D. h., auch wenn wir uns das Wahrnehmen sensualistisch vorstellen, leisten wir keinen Beitrag zur Lösung des Realitätsproblems.

238

Dasein und Erkennen

Gleichwohl ist interessant, darüber nachzudenken, ob diese These des Sensualismus überhaupt haltbar ist. Zur ersten Frage: Sind die Empfindungen hinreichende und zuverlässige Bedingungen des Wahrnehmens? Wer immer in dieser Hinsicht seine Enttäuschungen erlebt hat, nämlich mit desorientierenden Empfindungen, hat Anlaß, den Realitätssuggestionen seiner Empfindungen zu mißtrauen. Nicht alles, was wir empfinden, ist auch wahrnehmbar. Bei dieser Gelegenheit kann auch auf die große Menge von Typen von Sinnestäuschungen bis hin zu psychopathischen Phänomenen hingewiesen werden. Interessanter ist die zweite Frage: Sind die Empfindungen wenigstens notwendige Bedingungen des Wahrnehmens? Nicht alles, was wir wahrnehmen, empfinden wir. Die Wolkenkratzer von Chicago, es sei denn, man war zufällig dort, die Aidsviren, das Kupfer auf dem Mond Kallisto, der Neid meines Nachbarn, die Sozialpolitik der Bundesregierung, die Pointe des Märchens vom Rotkäppchen, die Werftenkrise, das Magnetfeld der Erde, die Menge aller Primzahlen, das Gespenst von Dartmoor — alles dies sind reale Größen, die nicht auf die Weise des Empfindens in unsere Wahrnehmungssphäre gelangen. Und somit ergibt sich, daß die Empfindungen weder hinreichende noch notwendige Bedingungen des Wahrnehmens sind. Wichtiger aber für das Realitäts-Thema ist das andere Ergebnis, daß selbst, wenn die Empfindungen hinreichend oder notwendig wären, wir daraus nicht eine Lösung des Realitätsproblems ableiten können. Und deswegen kann der Philosoph die weitere Untersuchung der Empfindungen, ihrer Gesetzmäßigkeiten usw. getrost den Physiologen und Psychologen überlassen. Jedenfalls ist als Grundlage für die Formulierung des Realitätsproblems in 5. Näherung festzuhalten: Dasjenige, was die Verständlichkeit und Verläßlichkeit menschlicher Unterscheidungsleistungen garantiert, ist nicht das Resultat des Empfindens. Folgt daraus, daß die Empfindungen mit unseren Wahrnehmungen nichts zu tun haben? Dies muß man keineswegs behaupten, wenn man allen bisherigen Schlußfolgerungen zustimmt. Denn das Wahrgenommene ist ja ein (wie un-

Das Realitätsproblem

239

terstellt wurde) durch Handeln zusammengesetzter Gegenstand, ein Konstrukt, so wie beispielsweise ein Gebäude ein Konstrukt ist. Zum Zusammensetzen von etwas bedarf es eines Materials. Von diesem Material kann durchaus unterstellt werden, daß es uns teilweise durch die Empfindungen geliefert wird, aber auch durch andere Geschehnisse: das Gedächtnis, die Phantasie, durch Kombination, durch Transfer, durch Planung, sogar durch Fiktion. Denn es ist in der Tat so, daß Dinge real sein können, die noch gar nicht existieren, aber unser Handeln bestimmen. Auch der bloß geplante Supermarkt bewirkt ja, daß die Grundstückspreise in seiner Umgebung „real" steigen. Allgemein genügt es, bezüglich des Empfindungsproblems zu sagen, daß nicht unsere Sinnesorgane es sind, die etwas wahrnehmen, sondern daß wir Menschen manchmal mittels unserer Sinnesorgane, aber auch anderer Instrumente, etwas wahrnehmen. Die pragmatische Deutung des Wahrnehmens führt also nicht zu einer Leugnung der Sinnesorgane und ihrer allerdings problematischen Leistungsfähigkeit, sondern zu einer instrumentellen Deutung dieser Organe. Wenn etwas Mittel zu einem Zweck ist, dann bestimmt der Zweck über die Eignung der Mittel. Aber, der Realisierung des Zwecks werden durch die Wahl der Mittel Grenzen auferlegt. Und soweit das Wahrnehmen auf das Empfinden angewiesen ist, ist es zwar gleichwohl ein Handeln, aber eben kein arbiträres. Handeln ist immer zweckgerichtet, aber nicht (fast nie) willkürlich. Den Zweck-Mittel-Zusammenhang zwischen Empfinden und Wahrnehmen kann man sich pragmatisch am besten klarmachen, wenn man das Empfinden als Teilhandlung des Wahrnehmens auffaßt. Die Rezeption ist eine Teilhandlung der Prädikation, so wie das Kakao-aus-dem-Regal-Nehmen eine Teilhandlung des Einkaufens ist. So wie daher niemand sagen würde, man müsse zunächst den Kakao aus dem Regal nehmen, um hernach einzukaufen, so gilt allerdings auch andererseits, daß man nichts einkaufen kann, was nicht da ist. Die hier vertretene These bezüglich des Verhältnisses von Empfindungen und Wahrnehmungen ist daher auch nicht, daß die

240

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Wahrnehmungshandlungen unbedingt (willkürlich) vollzogen werden, sondern die Bedingtheit ist vielmehr dem Handeln zufolge der Wahl der Mittel auferlegt (und nicht die Folge einer geheimnisvollen „Natur" des Erkenntnisprozesses). Man könnte diese Position einen kulturalistischen Pragmatismus nennen. Demgegenüber ist die Vorstellung, die Sinnesorgane lieferten maschinengleich Daten, die unsere Unterscheidungssysteme zwingend herbeiführten, Ausdruck eines oft unaufgedeckten naturalistischen Psychologismus.

2.4

Einführen

Wenn das Empfinden als hinreichende und notwendige Basis des Wahrnehmens ausscheidet, auch wenn es manchmal an dieser Basis beteiligt ist, bleibt als Frage, wie man sich denn das Wahrnehmen positiv verständlich machen soll, worauf es denn nun wirklich begründet ist? Zur Wiederholung: Zweck des Unterscheidens ist (1) die Verständlichkeit, also muß die Unterscheidungshandlung, das Wahrnehmen, ein soziales Handeln, eine Interaktion sein. Unterscheidungen müssen gemeinsam als Mittel zur Erreichung eines Orientierungszwecks erzeugt werden. Zweck des Unterscheidens ist (2) die Verläßlichkeit. Also muß die gemeinsame Unterscheidungshandlung ein Auf-Dauer-Stellen der Unterscheidung bewirken; auf einige Dauer — wie lange sie gelten soll, kann dahinstehen. Jedenfalls müssen wir dieses Auf-Dauer-Stellen gewährleisten, d. h. genauer, wir müssen gewährleisten, daß wir von nun an in der Lage sind, dasselbe unter gleichen Umständen noch einmal zu tun. Die Handlung, eine solche Situation herzustellen, in welcher gemeinsame Unterscheidungen erzeugt werden, welche wiederum erlauben, dasselbe noch einmal zu tun, heiße „eine Unterscheidung einführen". — Der Ausdruck „einführen" wird hier so verwendet, wie etwa auch umgangssprachlich gesagt wird, daß man einen Gast einführt, eine neue DIN-Norm einführt, ein Thema in die Diskussion einführt. Einführen ist also etwas anderes als ζ. B. lehren.

Das Realitätsproblem

241

Nun nehmen wir in der Regel ja nicht an solchen Einführungssituationen teil, um etwa die Bedeutung von Prädikatoren, d. h. ihre Unterscheidungsleistung, zu verstehen. Aber wir können rekonstruieren, daß uns die ständig iterierte Frage nach der Bedeutung von Prädikatoren auf solche tatsächlichen oder fingierten Unterscheidungseinführungssituationen zurückführt. Denn Bedeutungsklärungen von Wörtern führen uns in der Regel auf andere Wörter zurück. Wenn man das Vorhaben lange genug durchgeführt hat, d. h. wenn der Bestand an gemeinsamen Bedeutungen sehr klein ist, dann sucht man letztlich Situationen auf oder stellt Situationen her, derart, daß gesagt werden kann: „dies da, das ist ein f, ein etwas, wovon ich f sage". Wenn wir uns beispielsweise partout nicht einigen können, wie wir denn paraphrasieren sollen, daß eine Handlung „gerecht" ist, dann müssen wir letztlich eine Situation herstellen, vielleicht auch nur in Gedanken, derart, daß wir nach ihrer Beschreibung sagen können: Wenn dies und das geschieht, dann nenne ich die Handlung so und so gerecht. Damit kommen wir zu einer Charakterisierung des Realitätsproblems in 6. Näherung: Dasjenige, was die Verständlichkeit und Verläßlichkeit menschlicher Unterscheidungsleistungen garantiert, ist letztlich, wenn man also lange genug den Rekurs ausübt, die Teilnahme an EinführungsSituationen, in welchen Unterscheidungen als Mittel gemeinsamen Zwecken eingeführt und auf Dauer gestellt werden. Dies ließe sich auch einfacher sagen, wenn wir vereinbaren, daß wir das Verfügen über Bedeutungen, die letztlich durch Rekurs auf eine gemeinsame Einführungssituation gesichert sind, „eine Sprache beherrschen" nennen. Dann könnte man auch sagen: Dasjenige, was die Verständlichkeit und Verläßlichkeit garantiert, ist das Beherrschen einer Sprache. An dieser Stelle ist zuzugestehen, daß sich die Argumentation trotz mehrfacher Näherung in einer Hinsicht gar nicht von der Stelle zu bewegen scheint, indem nämlich nicht gesagt wird, was denn nun „real" ist. Was erwartet oder unterstellt derjenige, der hofft, daß aufgrund philosophischen Nachdenkens feststellbar ist, was denn nun real ist? Er erwartet, daß definitiv feststeht, was in Einführungssituationen

242

Dasein und Erkennen

als zweckrationale Unterscheidung ermittelt worden ist. Daß dies nicht definitiv festzustellen ist, läßt sich aus folgenden Gründen leicht einsehen: (1) Wir wissen nicht, was denn die jeweiligen Zwecke von Orientierungsüberlegungen sind. Solche Zwecke sind situationsvariant. (2) Bestimmte Mittel sind meistens nicht eindeutig bestimmten Zwecken zugeordnet. Wie auch umgekehrt, Mittel uneindeutig relativ zu Zwecken sind. Vieles kann man auf vielen Wegen erreichen. (3) Bezüglich der Wahl der Mittel können wir uns, wie schon früher erwähnt, irren. Faktische Einführungssituationen geben nur vermeintlich zweckmäßige Unterscheidungen, und die Unterscheidungen sind soweit irrtumsgefährdet. Unterscheidungshandlungen sind also gewöhnlich durch Situationsvarianz, Uneindeutigkeit und Irrtumsgefährdung charakterisiert. Fingieren wir einmal aber einen Zustand, für den gilt: (1) Alle möglichen Teilnehmer an einer Einführungssituation sind sich irreversibel über die Zwecke ihres Handelns einig. Dann kann man von definitiven Zwecken sprechen. (2) Die Teilnehmer haben bezüglich der Wahl der Mittel eindeutige gemeinsame Optimierungskriterien, die zu einer eindeutigen Lösung von Optimierungsproblemen führen. Dann hätten wir definitive Mittel. (3) Die Teilnehmer sind aufgrund ihrer Genialität in zweckrationalen Fragen irrtumsfrei. Dann verfügen sie über eine definitive Zweckrationalität. Diese Vorstellungen erzeugen die Situation einer definitiven Einführung. Damit erhalten wir die Charakterisierung des Realitätsproblems in 7. Näherung: Real, d. h., das, was letztlich die Verständlichkeit und Verläßlichkeit von Entscheidungsleistungen garantiert, ist dasjenige, was Resultat des Wahrnehmens in einer definitiven Einführungssituation ist. Wird damit aber nicht alles Reale in eine Sphäre des bloß Fiktiven verflüchtigt? Das wäre

Das Realitätsproblem

243

in der Tat so, wenn nicht der Fall wäre, daß wir ständig auf Bedingungen einer solchen definitiven Einführungssituation vorgreifen, sie antizipieren müssen. Was sich daher letztlich definitiv als real erweist, weiß zwar niemand. So weiß auch niemand, wie es sich definitiv mit Holzklötzen und Farben bezüglich ihrer Realität verhält. Aufgrund der Antizipationen einer definitiven Einführungssituation kann man jedoch sicher sein (das Beispiel stammt von Dingler), daß es immer so sein wird, daß wir, wenn wir aus einem Holzklotz eine bemalte Puppe herstellen wollen, zuerst aus dem Klotz die Puppe schnitzen und sie danach anmalen müssen — und nicht umgekehrt. Warum das so ist? Das ist eben die Realität.

Dasein und Handeln

Philosophie als Vollzug und als Begriff. Die Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 und ihr Verhältnis zu Sein und Zeit 1. Heideggers frühe Vorlesungen im Zusammenhang einer Vorgeschichte von Sein und Zeit Mit dem Erscheinen der von W. Bröcker und K. BröckerOltmanns herausgegebenen Vorlesung Heideggers vom Wintersemester 1921/22 liegt die erste der frühen Freiburger Vorlesungen im Druck vor. In diesem Beitrag soll die philosophische und philosophiehistorische Bedeutung dieser Vorlesung vor allem mit Blick auf ihr Verhältnis zu Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit untersucht werden. Die Rede vom „Verhältnis" ist allerdings keineswegs eindeutig. Die derzeitige Textlage erlaubt nämlich sehr unterschiedliche hermeneutische Einstellungen bezüglich des Werks Heideggers, selbst wenn man sich auf die Periode bis ca. 1930 beschränkt. Genauer gesagt: Erst nachdem in den letzten Jahren durch Erscheinen einer Reihe von Heideggers Vorlesungen zunehmend Licht in sein philosophisches Arbeiten zwischen Habilitationsschrift und Sein und Zeit kommt, ist es möglich, derartige Differenzierungen vorzunehmen. Solange Sein und Zeit scheinbar monolithisch aus einem „Meer des Schweigens" herausragte, gab es über die Entwicklung des Heideggerschen Denkens lediglich Mutmaßungen. Grob typisierend läßt sich eine pluralistische von einer evolutionistischen Sicht des Heideggerschen Denkens unterscheiden. Eine pluralistische Interpretation hat in letzter Zeit besonders deutlich O. Pöggeler vertreten, indem er selbstkritisch die seinen früheren Interpretationen zugrundeliegende Vorstellung zurückweist, Heideggers Philosophie sei einer zwar plural entfalteten aber doch einheitlichen Grundidee verpflichtet; Heideggers „Denkweg" sei folglich als fort-

248

Dasein und Handeln

schreitende Entwicklung dieser Grundidee zu interpretieren. 1 Pöggeler wendet nunmehr ein, daß diese Sicht zu stark durch Heideggers Selbstinterpretation etwa um 1960 herum geprägt gewesen sei.2 Demgegenüber spricht Pöggeler nunmehr in Übereinstimmung mit Heideggers späterer Selbstinterpretation von einer „Pluralität von Wegen" 3 und unterscheidet für die hier interessierende Phase (ca. 1919 — 1930) zwischen einem scholastischen Aristotelismus, der Phänomenologie des Lebens und der Philosophie von Sein und Zeit. Demgegenüber besteht die evolutionistische Interpretation in der Unterstellung, daß wir es für den hier betrachteten Zeitraum mit der allmählichen Ausarbeitung einer einheitlichen Konzeption zu tun haben, die dann in Sein und Zeit und einigen Schriften im Umkreis definitiv niedergelegt ist. Auch dieser entwicklungsgeschichtliche Ansatz ist jedoch nicht eindeutig, da man der Entwicklung, wie Entwicklungen generell, eine dezendente oder aszendente Interpretation geben kann. Eine besonders markante des^endente Einschätzung der Entwicklung des Heideggerschen Denkens bis zu Sein und Zeit geht auf O. Becker zurück, der in Sein und Zeit nicht mehr den ursprünglichen philosophischen Impuls Heideggers findet, sondern konstatiert, in Sein und Zeit sei der gewonnene Durchbruch „nur in scholastisch geronnener Form" 4 wiederzufinden. Pöggeler erweitert diesen Vorwurf übrigens auch auf spätere Schriften wie beispielsweise Zeit und Sein.5 Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, daß die neuere pluralistische Sicht Pöggelers unter dem Eindruck dieser Deszendenz-Einschätzung von Heideggers Denkentwicklung steht, weil sie Heideggers Selbstdeutung in Sein und Zeit ablehnt, dergemäß Sein und Zeit die Erfüllung eines etwa seit 1919/20

1 2 3 4 5

Im Nachwort zur 2. Auflage von O. Pöggeler: 319-355. A. a. O. 349. A . a . O . 319. In der Wiedergabe O. Pöggelers: a. a. O. 351. A. a. O. 354.

Der

Denkweg,

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249

verfolgten Programms zu sehen ist. Eine solche Kontinuität stellt Pöggeler, wie erwähnt, in Abrede. Die Einschätzung von Sein und Zeit durch O. Becker scheint kein Einzelfall gewesen zu sein. Offenkundig waren die frühen Schüler Heideggers, die ihn, wie alle Quellen bestätigen, als akademischen Lehrer begeistert verehrten, von Sein und Zeit enttäuscht. Dies ist übrigens auch noch Gadamers Heidegger-Aufsätzen anzumerken, in welchen Gadamer immer wieder auf den Eindruck zu sprechen kommt, den Heidegger auf die Hörer der frühen Freiburger und der Marburger Zeit machte: „Ein geradezu dramatisches Auftreten, eine Wucht der Diktion, eine Konzentration, die alle Zuhörer in ihren Bann schlug." 6 Es ist offenkundig ein anderer Heidegger, den die durch das unmittelbare Wort geprägten Hörer erlebten (welche dieses Erlebnis dann ihren Schülern weiter vermittelten) als der Heidegger, den spätere Generationen studieren, wie man Piaton, Kant oder Husserl studiert. Insbesondere schlägt sich diese Differenz in einer unterschiedlichen Einstellung zu Sein und Zeit nieder. Während die frühen Schüler in Sein und Zeit eine Art Aktenvermerk von Gedanken erblickten, zudem mit listigem berufungspolitischem Hintersinn veröffentlicht, die man auf andere Weise ursprünglicher erlebt hatte, neigen wir Nachgeborenen dazu, in Sein und Zeit das Hauptwerk eines Denkers zu sehen, dessen Vorgeschichte nur mühsam und ansatzweise rekonstruiert werden kann. In Übereinstimmung mit O. Becker verfolgt auch Gadamer eine evolutionistische Deutung, wenn er betont, daß er sich die Aufgabe gestellt habe, „die Denkaufgabe sichtbar zu machen, der sich Heidegger gestellt hatte, und zu zeigen, daß insbesondere der Heidegger, der nach Sein und Zeit seine ,Kehre' erfuhr, in Wahrheit auf dem eingeschlagenen Wege weiterging, wenn er hinter die Metaphysik zurückzufragen und in eine unbekannte Zukunft vorauszudenken unternahm." 7 „Es sind Variationen über ein einziges Thema, das 6 7

H.-G. Gadamer: Existenzialismus und Existenzphilosophie', 14. H.-G. Gadamer: .Vorwort', Heideggers Wege, 5.

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sich einem Augenzeugen stellte, wann immer er über das Denken Martin Heideggers Rechenschaft zu geben suchte." 8 Gerade auch bei Gadamers Aufsatzsammlung Heideggers Wege fällt auf, daß sie zwei Schwerpunkte in bezug auf Heideggers Philosophie setzt: Ein Schwerpunkt liegt bei den frühen Vorlesungen (Freiburg 1923, Marburg 1924—28) und dem in diesen durch Gadamer unmittelbar empfangenen Eindruck. Der andere Schwerpunkt liegt bei den späteren Schriften, wobei die „Antrittsvorlesung", der „Humanismusbrief' und der „Kunstwerkaufsatz" besonders eingehend gewürdigt werden. Sein und Zeit ist natürlich immer erwähnt, seine breite Rezeption wird gerühmt, die Philosophie von Sein und Zeit bleibt gleichwohl inhaltlich im Hintergrund, sie scheint auf Gadamer irgendwie befremdlich zu wirken. 9 Für eine as^endente Interpretation von Heideggers Philosophie von ca. 1919 — 1930 spricht zunächst einmal die Tatsache der Veröffentlichung von Sein und Zeit. Auch wenn man karrierestrategische und andere motivationale Faktoren in Rechnung stellt, läßt sich nicht in Abrede stellen, daß Heidegger diesem Werk selbst eine epochemachende philosophische Bedeutung beigemessen hat. Ferner zeigen die nunmehr veröffentlichten Vorlesungen, daß die philosophische Substanz von Sein und Zeit keineswegs Ergebnis eines intellektuellen 8 9

A.a.O. 6. Man vgl. dazu auch die Heidegger-Darstellung in H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 240—250, die sich auffallend wenig auf Sein und Zeit bezieht. Mündlich hat Gadamer anläßlich einer Konferenz in Bochum (16./17. 09. 1985) ausdrücklich bestätigt, daß er in Sein und Zeit immer eine schnelle „Improvisation" aus äußerem Anlaß gesehen habe, in der Heidegger „gegen seine innerste Überzeugung" „noch" den transzendentalen Standpunkt aufrechterhalten habe. — Bemerkenswert ist auch, daß O. Pöggelers Buch Der Denkweg Martin Heideggers, das für die Heidegger-Rezeption der jüngeren Philosophen-Generation von großer Wirkung war, dem Heidegger der frühen Vorlesungen ebensoviel Platz einräumt, wie Sein und Zeit. Im ,Nachwort' zur 2. Auflage bezeichnet Pöggeler Heideggers bei Abfassung noch unveröffentlichtes Manuskript „Beiträge zur Philosophie" als sein „Hauptwerk" (a. a. O. 353).

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Schnellschusses ist, sondern daß sich die in Sein und Zeit dargestellte philosophische Position als Ergebnis von Denkbemühungen über etwa zehn Jahre hinweg darstellt. Für die vorbereitende Rolle der Vorlesungen gibt es bereits in Sein und Zeit einige deutliche Hinweise. Zu Beginn der Weltanalyse am Ende des § 15 merkt Heidegger an: „Der Verf. darf bemerken, daß er die Umweltanalyse und überhaupt die ,Hermeneutik der Faktizität' des Daseins seit dem W. S. 1919/20 wiederholt in seinen Vorlesungen mitgeteilt hat." (SZ 72 Anm. 1).

Diese Anmerkung ist allerdings in mehrfacher Hinsicht historisch aufklärungsbedürftig: (a) Heidegger erwähnt die Vorlesungen „seit dem W. S. 1919/20". Die von Th. Kisiel zusammengestellte Liste der frühen Freiburger Vorlesungen10 enthält noch drei frühere Freiburger Vorlesungen, nämlich die vom Kriegsnotsemester 1919 („Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem"), vom Sommersemester 1919 („Phänomenologie und transzendentale Wertphilosophie") und eine weitere Vorlesung aus dem gleichen Semester („Über das Wesen der Universität und des akademischen Studiums"). Nimmt man nicht einen Erinnerungsirrtum seitens Heideggers an (was nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann), dann beginnt die Vorgeschichte von Sein und Zeit mit der Vorlesung des

Wintersemesters 1919/20 („Grundprobleme der Phänomenologie"). (b) Der durch die Anmerkung erweckte Eindruck, Heidegger habe im Wintersemester 1919/20 eine Vorlesung aus dem Titel „Hermeneutik der Faktizität" gehalten, ist unzutreffend. Dieser Vorlesungstitel gehört vielmehr in das Sommersemester 1923; es handelt sich um die letzte frühe Freiburger Vorlesung, übrigens die erste Vorlesung, die Gadamer bei Heidegger gehört hat. Da man nicht annehmen kann, daß Heidegger sich bei Abfassung dieser Anmerkung (ca. 1926) bezüglich seines gerade drei Jahre zurückliegenden Vorlesungs10

Th. Kisiel: ,Das Entstehen', 95 ff.

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Dasein und Handeln

Programms um volle vier Jahre irrt, ist mit dem Titel „Hermeneutik der Faktizität" nicht die Vorlesung vom Sommersemester 1923 gemeint, sondern Heidegger faßt mit dem Titel „Hermeneutik der Faktizität" die frühen Freiburger Vorlesungen von 1919/20 bis 1923 zusammen. Allerdings ist zu beachten, daß mit dem Titel „Hermeneutik der Faktizität" nur ein Stadium der Vorgeschichte von Sein und Zeit bezeichnet wird. Scheinbar im Widerspruch zu dieser Deutung steht allerdings eine Bemerkung, die Heidegger später in dem Gespräch mit dem Japaner anfügt: „Ich gebrauchte diese Titel [sc. „Hermeneutik" und „hermeneutisch"], soweit ich mich erinnere, zuerst in einer späteren Vorlesung im Sommer 1923. Damals begann ich die ersten Niederschriften zu Sein und Zeit" (US 95).

Diese Erinnerung legt nahe, die Vorgeschichte von Sein und Zeit erst mit dem Sommersemester 1923 beginnen zu lassen. Allerdings spricht Heidegger nicht von der Vorgeschichte, sondern von den ersten Niederschriften. Ferner geht es im Zusammenhang des Gesprächs in erster Linie um den Ausdruck „Hermeneutik" und nicht um Heideggers philosophische Position im Ganzen. Schließlich scheint Heidegger bezüglich seiner Erinnerung in diesem Gespräch unsicher zu sein; es unterlaufen ihm in diesem Zusammenhang auch sonst einige historische Fehler. Jedenfalls erscheint insgesamt die Anmerkung in Sein und Zeit (SZ 72) verläßlich. (c) Heideggers Selbstzitation der Vorlesungen ist uneingeschränkt affirmativ, d. h. Heidegger sieht Sein und Zeit wenigstens teilweise (vor allem was die Weltanalyse angeht) in ungebrochener Kontinuität zu den Vorlesungen. Selbst wenn man berücksichtigt, daß ein Autor allgemein und Heidegger im besonderen dazu neigt, seine CEuvre unter einer Kontinuitätskonstruktion zu formulieren, gibt es in diesem Zusammenhang keinen Grund, Heideggers Rückverweis in Frage zu stellen.

Philosophie als Vollzug und als Begriff

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Auf zwei weitere Rückverweise auf die Zeit der frühen Vorlesungen soll noch eingegangen werden. Im Zusammenhang mit einem kritischen Hinweis auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen verweist Heidegger auf eine „Aussprache" mit Cassirer anläßlich eines Vortrags im Dezember 1923 vor der Hamburgischen Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft (SZ 51, Anm. 1). Der Vortrag habe unter dem Titel „Aufgaben und Wege der phänomenologischen Forschung" gestanden. Heidegger berichtet, daß sich in dieser Aussprache eine Übereinstimmung mit Cassirer hinsichtlich der „Forderung der existenzialen Analytik" gezeigt habe, die in dem Vortrag skizziert worden sei. Dieser Rückverweis bezeugt, daß Heidegger seine philosophische Arbeit von 1923 im Rückblick bereits als Vorgeschichte zu Sein und Zeit interpretierte. — Anläßlich der existenzialen Analyse des Gewissens bemerkt Heidegger: „Die vorstehenden und nachfolgenden Betrachtungen wurden in thesenartiger Form mitgeteilt gelegentlich eines Marburger öffentlichen Vortrags (Juli 1924) über den Begriff der Zeit" (SZ 268, Anm. 1). Auch dieser Rückverweis ist im erläuterten Sinne zu interpretieren. Betrachtet man Heideggers philosophische Arbeit ab ca. 1919 unter dem Gesichtspunkt einer Vorgeschichte von Sein und Zeit, dann ist allerdings zu berücksichtigen, daß die aktuelle Interpretationslage (Herbst 1985) auf äußerst divergierenden Informationsständen beruht. Dies soll im folgenden im Rahmen einer genaueren Periodisierung der Vorlesungen zwischen 1919 und 1930 zusammengefaßt werden: (1) Späte Marburger Vorlesungen ab Sommersemester 1925. Es handelt sich um Vorlesungen in unmittelbarer Nähe zur Textentstehung von Sein und Zeit, die durch erhebliche textliche Ähnlichkeiten zu Sein und Zeit geprägt sind, so daß für große Stücke eine synoptische Betrachtung möglich ist. Unser Kenntnisstand dieser Vorlesungen ist, wenn man die Frage der philologisch-editorischen Zuverlässigkeit einmal außer Betracht läßt, 11 durchaus gut. 11

Man beachte das umfangreiche Korrigenda-Blatt zur Vorlesung vom

254

Dasein und Handeln

Derzeit stehen noch die Vorlesungen vom Sommersemester 1926: „Grundbegriffe der antiken Philosophie" (Gesamtausgabe 22) und vom Wintersemester 1926/27: „Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant" (Gesamtausgabe 23) aus. (2) Frühe Marburger Vorlesungen vom Wintersemester 1923 bis Wintersemester 1924j25. Diese Vorlesungen (Gesamtausgabe 17, 18, 19) liegen bisher nicht vor. Unsere Kenntnis dieser frühen Marburger Vorlesungen ist daher mangelhaft. Inzwischen berichtet F. Rodi über zehn Kasseler Vorträge Heideggers im April 1925.12 Gadamer berichtet in seinem Aufsatz über ,Die Marburger Theologie' von einem Diskussionsvotum Heideggers zu einem Vortrag von Thurneysen. 13 (3) Frühe Freiburger Vorlesungen bis Sommersemester 1923. Wie erläutert, werden diese spätestens ab Wintersemester 1919/20 von Heideggers zur Vorgeschichte von Sein und Zeit gerechnet. Bis zum Erscheinen des Bandes GA61 mit dem sich dieser Beitrag beschäftigt, war auch diese Phase nur mangelhaft dokumentiert. Bekannt und veröffentlicht war bisher die Jaspers-Rezension von 1919/20. Pöggeler hatte schon früher über die Vorlesung aus dem Wintersemester 1920/21: „Einführung in die Phänomenologie der Religion" und vom Sommersemester 1921: „Augustinus und der Neu-Platonismus" berichtet. 14 Da sich von diesen Vorlesungen in Heideggers Nachlaß keine Vorlesungsunterlagen Heideggers befinden sollen, sind diese Vorlesungen im bisherigen Publikationsplan der Gesamtausgabe nicht vorgesehen. Dasselbe gilt auch für die Vorlesung vom Kriegsnotsemester 1919: „Die Idee der Philosophie und das Weltanschauungsproblem", zu der eine

12 13 14

SS 1925 ,Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs', das jetzt der Bibliotheksausgabe von GA61 beigefügt ist. Vgl. F. Rodi: ,Die Bedeutung Diltheys', 1 6 1 - 1 7 7 . H.-G. Gadamer: ,Die Marburger Theologie', 29. O. Pöggeler: Der Denkweg, 36 — 45.

Philosophie als Vollzug und als Begriff

255

Nachschrift besteht.15 Femer gibt es Vorlesungsmanuskripte Heideggers von der Vorlesung Sommersemester 1920: „Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks" 16 und der Vorlesung vom Sommersemester 1923: „Ontologie: Hermeneutik der Faktizität". 17 Von letzterer bestand durch die Berichte Gadamers und Pöggelers auch bereits früher eine gewisse Kenntnis. Angesichts der nunmehr ins Auge gefaßten teilweisen Veröffentlichung der frühen Freiburger Vorlesungen ist ein kritischer Blick auf die Editionspolitik der Gesamtausgabe zu werfen. Wie bereits die jetzige Bandzahlsystematik deutlich macht, war ihre Veröffentlichung zunächst nicht geplant oder doch wenigstens offengelassen. In einem Vorbericht anläßlich des 85. Geburtstages Heideggers kündigt F. W. von Herrmann an, die Anordnung der Schriften innerhalb der vier Abteilungen der Gesamtausgabe solle „nach dem chronologischen Prinzip ihrer Entstehung" erfolgen. 18 In bemerkenswerter Abweichung dazu heißt es einige Abschnitte später: „Ob auch die frühen Freiburger Vorlesungen aus der Privatdozentenzeit Heideggers zwischen 1916 und 1923 als Supplement der zweiten Abteilung herausgegeben werden, bleibt einer späteren Entscheidung vorbehalten."

Sodann wird die Bedeutung der Marburger Vorlesungen mit dem Hinweis hervorgehoben, sie stünden „im Umkreis von Sein und Zeit" und zeigten den Weg auf, „der Heidegger zu Sein und Zeit geführt hat". Daraus muß man schließen, daß dem Herausgeber und vielleicht auch Heidegger selbst bei der ersten Konzipierung der Gesamtausgabe im Widerspruch zu den Bemerkungen in Sein und Zeit selbst nicht präsent war, daß dasselbe uneingeschränkt von den frühen Freiburger Vorlesungen, jedenfalls ab 1919/20, gilt. Im Verlagsprospekt der Gesamtausgabe vom April 1984 heißt es nunmehr: „Am Ende der II. Abteilung werden — gemäß der auf Weisung 15 16 17 18

Vgl. Th. Kisiel: ,Das Entstehen', 96 ff. Vgl. F. Hogemann: ,Heideggers Konzeption der Phänomenologie'. Vgl. Ch. Jamme: ,Heideggers frühe Begründung der Hermeneutik'. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 09. 1974.

256

Dasein und Handeln

Heideggers vom NachlaßVerwalter erst jetzt getroffenen Entscheidung — die frühen Freiburger Vorlesungen aus der Dozentenzeit, soweit sie noch vorhanden sind, veröffentlicht werden." Diese Bemerkung ist von aufschlußreicher Mehrdeutigkeit. Hat Heidegger dem Nachlaßverwalter die Weisung gegeben, die Vorlesungen zu veröffentlichen? Oder: die Vorlesungen „erst jetzt" zu veröffentlichen? Oder: „erst jetzt" zu entscheiden, ob sie veröffentlicht werden sollen? Oder: zu entscheiden, ob sie „erst jetzt" veröffentlicht werden sollen? Die Interpretation der frühen Freiburger Vorlesungen im Kontext einer Vorgeschichte von Sein und Zeit stellt nicht den einzig interessanten hermeneutischen Zugang zu diesen Vorlesungen dar und sie schöpft ihre Bedeutung somit nicht aus. Ein philosophiehistorisch ebenfalls sehr wichtiger Gesichtspunkt geht aus der Tatsache hervor, daß Heidegger durch die frühen Freiburger Vorlesungen auf seine frühen Hörer einen nachhaltigen Einfluß genommen hat, welchen diese in einigen Fällen gewissermaßen an der Phase von Sein und Zeit vorbei zu einer selbständigen Position ausgearbeitet haben, ohne daß dieser Zusammenhang bisher nachvollziehbar gewesen wäre. Hörer dieser Vorlesungen waren u. a. (alphabetisch): O. Bekker, W. Bröcker, H.-G. Gadamer (SS 1923), M. Horkheimer, H. Jonas, F. Kaufmann, K. Löwith, G. Martin, H. Noack, H. Reiner, J. Ritter. 19 Mit Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen haben wir eine der ganz zentralen, bisher unbekannten Quellen der Philosophie des 20. Jahrhunderts vor uns. Am Beispiel H.-G. Gadamers läßt sich dies aufgrund der bestehenden Textlage und der autobiographischen Berichte besonders gut rekonstruieren. In seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode beruft sich Gadamer auf Heideggers Programm einer „Hermeneutik der Faktizität" 20 und präzisiert im Nach19

20

Nach mündlicher Auskunft von H.-G. Gadamer, K. Bröcker-Oltmanns, W. Bröcker, sowie nach B. Casper: ,Martin Heidegger und die Theologische Fakultät', 540. H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode, 240.

Philosophie als Vollzug und als Begriff

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wort zu diesem Werk: „Im Grunde habe ich damit eine Linie weiterverfolgt, die Heidegger schon in seinen frühen Freiburger Jahren eingeschlagen hat ..." 2 1 Gadamer studierte Anfang der 20er Jahre in Marburg u. a. bei Paul Natorp. Dieser war seinerzeit bemüht, Heidegger auf eine Professur nach Marburg zu holen. In diesem Zusammenhang hatte Heidegger Natorp ein 40 Seiten langes Manuskript zur Verfügung gestellt, das eine Einleitung zur Aristoteles-Interpretation darstellte. Dieses Manuskript gab Natorp wiederum Gadamer zu lesen. Dazu Gadamer: „Das war für mich wie das Getroffenwerden von einem elektrischen Schlage". 22 Gadamer ging daraufhin nach Freiburg und hörte Heidegger im Sommersemester 1923 und zwar gerade diese Vorlesung, auf die er sich später immer wieder bezieht. 2. Von den Grundkategorien des Lebens zu den Existenzialien Wie bei fast allen bisher bekannten Vorlesungen kommt Heidegger auch in dieser Vorlesung nicht zu seinem angekündigten Thema, den phänomenologischen Interpretationen zu 21 22

H.-G. Gadamer: .Hermeneutik und Historismus', 511. H.-G. Gadamer: .Martin Heidegger — 85 Jahre', 95; vgl. ders.: .Philosophische Lehrjahre', 22. — Nach Auskunft Gadamers ist dieses Manuskript im Krieg verloren gegangen. Inhaltlich stand es sicher in unmittelbarem Zusammenhang mit Heideggers Vorlesung vom SS 1922: phänomenologische Interpretation zu Aristoteles'. Aus dieser Vorlesung sollte ein Manuskript entstehen, dessen Publikation für 1923 in Husserls Jahrbuch vorgesehen war und dessen Inhalt Gadamer aus einer brieflichen Mitteilung Heideggers zitiert (vgl. O. Pöggeler im .Nachwort' zu Der Denkweg, 311): Es geht um eine Interpretation des 6. Buchs der Nikomachischen Ethik und des 9. Buchs der Metaphysik. Die Vorlesung vom WS 1921/22, die Gegenstand dieses Beitrags ist, stellt wiederum die Einleitung zu diesen Aristoteles-Interpretationen dar. Nachtrag (1991): inzwischen ist das Manuskript von H.-U. Lessing im Nachlaß von J. König aufgefunden worden; vgl. H.-U. Lessing: .Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles'.

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Dasein und Handeln

Aristoteles; 23 vielmehr haben wir es mit systematischen Überlegungen zur Begriffstheorie der Philosophie und zu einigen zentralen Grundkategorien des Lebens zu tun. Heidegger hat gelegentlich Mühe, den Zusammenhang mit dem angekündigten Vorlesungsthema herzustellen (vgl. die Zwischenbetrachtung GA61 110 ff.). Bezüglich der Auffassung der Philosophie und der inhaltlichen Analysen zu den Grundkategorien des Lebens finden sich im Vergleich mit Sein und Zeit ebenso erstaunliche Ubereinstimmungen wie bemerkenswerte Differenzen; damit erweist sich der Text als aufschlußreiche philosophiehistorische Quelle. Insbesondere erleben wir die Genese zentraler Begriffe von Sein und Zeit, die dort zum Kern der von Heidegger elaborierten neuen philosophischen Sprache gehören. So führt die Problematisierung der „Verschwommenheit" des Begriffes des Lebens bereits zu der formelhaften Verwendung des Begriffes des „Daseins": „Leben = Dasein, in und durch Leben ,Sein'" (GA61 85). Der Begriff „Welt" ist schon weitgehend präfiguriert. Das „Sorgen" als „Bezugssinn" hat bereits die Systemstelle der phänomenologischen Intentionalität übernommen. Das Substantiv „Existenz" taucht an zentraler Stelle in der späteren Bedeutung auf (GA61 56), zwischen „existenziell" und „existenzial" wird noch nicht unterschieden. Die Kierkegaardsche Wendung vom Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ist bereits offenkundig leitend. Gleichwohl sind auch weitgehende Divergenzen und Gewichtsverschiebungen zu konstatieren. Die in die Architektonik von Sein und Zeit nicht mehr recht passende „Verfallenheit" (SZ § 38) ist in der Vorlesung als „Ruinanz" die zentrale Bewegungsform des Lebens. „Sorgen" und „Ruinanz" erhalten kategoriale Entfaltungen (Neigung, Abstand und Abstandstilgung, Abriegelung, Leichte, Praestruktion), die in ihrer Plastizität und Prägnanz der in Sein und Zeit vorgeführten existenzialen Analytik vieles voraus haben, in ihrem formalen

23

Dies geschieht vielmehr erst im folgenden SS 1922; vgl. Anm. 22.

Philosophie als Vollzug und als Begriff

259

Zusammenhang allerdings unklar sind, fast arbiträr erscheinen. So ist der Vergleich der Vorlesung mit Sein und Zeit in vielfacher Hinsicht klärend, in mancherlei Zusammenhang (ζ. B. bezüglich der Verfallenheit) vielleicht er-klärend. Gleichwohl würde man den Gewinn, den die Vorlesung für das Verständnis von Sein und Zeit erbringt, nicht recht „ausbeuten", wenn man es bei derartigen quasi-synoptischen Betrachtungen bewenden ließe. In zwei Hinsichten bietet die Vorlesung nämlich Einblicke, die uns die textliche Präsentation der Philosophie von Sein und Zeit verwehrt oder doch wenigstens erschwert: Die Vorlesung liefert uns einmal eine Art „philosophischer Propädeutik", eine Philosophie der Philosophie, und sie reflektiert zum anderen in diesem Rahmen besonders das Problem der Semantik philosophischer Begriffe. Im Rahmen einer Vorgeschichte von Sein und Zeit sind diese Fragen deshalb besonders interessant, weil der von Heidegger erarbeitete Begriff der Philosophie prinzipiell die in Sein und Zeit § 7 C gegebenen Bestimmungen erreicht, die dort durchaus dogmatisch-definitorisch wirken. Insoweit kann man das Reflexionsniveau der Vorlesung als dem Text von Sein und Zeit überlegen betrachten. Insbesondere erörtert Heidegger die Schwierigkeiten, eine Definition von „Philosophie" zu geben, die einerseits mehr sein will als eine bloß konventionelle Bedeutungsfestlegung, die aus methodischen Gründen aber weniger sein muß, als ein Begriff von Philosophie, wie er am Ende einer materiellen Philosophie stehen könnte. Heideggers abschließende Begriffsbestimmung lautet so: „Philosophie ist prinzipiell erkennendes Verhalten %u Seiendem als Sein (Seinssinn), so ^war, daß es im Verhalten undfür es auf dasjeweilige Sein (Seinssinn) des Habens des Verhaltens entscheidend mit ankommt. Philosophie ist .Ontologie', und zwar radikale, und zwar als solche phänomenologische (existenziell, historisch-geistesgeschichtlich) bzw. ontologische Phänomenologie." (GA61 60)

Interessant an dieser Definition ist nicht so sehr dieses Ergebnis, sondern vielmehr die Art und Weise, wie Heidegger es philosophisch erarbeitet. An dieser Stelle ließe sich freilich einwenden, daß Heideggers Überlegungen zum Begriff der

260

Dasein und Handeln

Philosophie und zur Realisierung der Philosophie im Kontext der Universität prinzipiell Einleitung zu einer beliebigen Vorlesungsthematik sein könnte. Indem man nun dieses Problem in das Zentrum der Interpretation der Vorlesung rückt, wird, so könnte man einwenden, die Substanz der Vorlesung, nämlich die Analyse der „Grundkategorien des Lebens", hintangestellt. Diese Grundkategorien sind nicht nur generisch Vorläufer der späteren Existenzialien, sie haben auch in spezie ihre Entsprechung in der existenzialen Analytik. Dieser Einwand geht jedoch von der falschen Annahme aus, Heideggers Überlegungen zum Begriff der „Philosophie" und seine Behandlung der Grundkategorien des Lebens stünden in einem bloß äußerlichen, didaktisch-propädeutischen Zusammenhang. Tatsächlich aber besteht zwischen der Bestimmung des Begriffes „Philosophie" und den „Grundkategorien" eine aufschlußreiche, methodische Beziehung. Heidegger betrachtet nämlich die definitionstheoretischen Überlegungen anläßlich der Probleme, die mit der Definition des Begriffes „Philosophie" verbunden sind, als paradigmatisch für die Begriffe der Philosophie überhaupt. Noch schärfer formuliert: Heidegger exemplifiziert am Begriff „Philosophie" die semantische Analyse philosophischer Begriffe überhaupt, wie er sie insbesondere für diejenigen Begriffe benötigt, die die Grundkategorien des Lebens darstellen. Zu Beginn des III. Teils über „Das faktische Leben" problematisiert Heidegger sofort die Gewinnung der kategorialen Begriffe und konstatiert: „Es gilt demnach für diese Kategorien und den bedeuteten gegenständlichen Zusammenhang ungeschmälert dasselbe, was bei der Explikation der prinzipiellen Definitionsidee (der philosophischen Definition) gesagt wurde, und das nicht etwa nur im Sinne einer Zufälligkeit, als ob schließlich, wenn man(?) weit genug wäre, die Bedeutung ja auf anderem Wege verstanden werden könne, sondern sie [sc. die Kategorien] sind als solche schon gerade durch den ihnen eigenen Zugangscharakter ausnehmend charakterisiert und unvergleichlich." (GA61 79 f.).

Durch diese Bemerkung sind wir berechtigt und aufgefordert, Heideggers Ausführungen zum Definitionsproblem des

Philosophie als Vollzug und als Begriff

261

Terminus „Philosophie" als Stücke einer allgemeinen philosophischen Definitionslehre zu lesen. Dafür spricht auch, daß Heideggers Überlegungen zum Terminus „Philosophie" durchaus allgemeingültig formuliert sind und über weite Strecken hinweg auf das Exempel „Philosophie" gar nicht zu sprechen kommen. Schließlich sind die Ergebnisse dieser Reflexionen für die Grundkategorien des Lebens äußerst aufschlußreich, ja diese Begriffe bleiben ohne die definitionstheoretischen Hintergründe unverstehbar. Im übrigen ist zu bemerken, daß das Problem der Begriffsbildung in der Philosophie Heidegger spätestens seit der Vorlesung Sommersemester 1920: „Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (Theorie der philosophischen Begriffsbildung)" beschäftigt. 24 Heideggers Bemühungen um eine spezifische semantische Theorie philosophischer Begriffe belegen im übrigen eindrucksvoll, daß Heidegger von Anfang an keineswegs die Notwendigkeit einer philosophischen „Disziplin" übersah. Die traditionellen Regeln für Begriff, Urteil, Schluß sind ihm ein völlig vertrautes Instrumentarium. Heidegger macht allerdings geltend, daß die Adäquatheit dieses Instrumentariums für die Philosophie zu problematisieren ist; die Philosophie kann kein Instrument ihrer Arbeit dogmatisch voraussetzen, auch nicht die anscheinend so unschuldig-triviale Logik. Andererseits — und damit entsteht überhaupt erst das Problem — kann die Philosophie die Disziplin des Denkens nicht entbehren, auch, ja gerade dann nicht, wenn sie sich dem Leben in seiner Konkretheit verpflichtet weiß. Eine Philosophie, die auf die Disziplinierung des Denkens verzichtet, führt nach Heideggers Darstellung zur „Schwarmgeisterei" (GA61 35 ff.). In diesem Zusammenhang wendet sich Heidegger vor allem gegen die Argumentation, derzufolge die Philosophie, die dem Leben dienen wolle, selbst eine Form des Er-lebens sein müsse. Diese Argumentation führe zur 24

Vgl. F. Hogemann: ,Heideggers Konzeption der Phänomenologie', 56 f.

262

Dasein und Handeln

„Verwechslung von Schwärmerei für sogenannte ,Tiefe' mit der radikalen methodischen Einsatztendenz der Problematik auf das Prinzipielle" (GA61 36). Eine schwärmende Philosophie aber werde zu einer rein privaten Angelegenheit, die allenfalls noch durch Kunststücke wie schöne Bücher oder schöne Reden die Aufmerksamkeit der Mitwelt verdiene. Gegen diese Tendenz zur Privatheit unterstreicht Heidegger den Intersubjektivitätsanspruch der Philosophie·. „[...] die mitweltliche Kundgabe, die Mitteilung von Philosophie an andere, das Ansinnen, das man mit dieser anzeigenden Vorgabe an andere stellt [...], muß eine Verstehbarkeit haben und eine solche, die sich gerade mitweltlicher Entscheidung in bestimmter Situation vorlegt. Dann muß sie aber, sofern sie auf ein Prinzipielles geht und ist, in der Verstehbarkeit und Erweisbarkeit und in der Weise des Vorgebens selbst entsprechend letztlich radikal und streng sein" (GA61 36).

Somit ist festzuhalten, daß nach Heidegger die Kritik an einer der Philosophie vorgegebenen Disziplinierung, wie sie die traditionelle Logik darstellt, nicht Disziplinlosigkeit, sondern Selbst-Disziplinierung bedeutet, d. h. es geht um die Erarbeitung einer für den epistemischen Sonder status der Philosophie genuinen Form des Kon^ipierens und Argumentieren, von Begriff und Schluß, von Semantik und Logik.25 Diese Sicht der Philosophie und ihrer Disziplin ist nun keineswegs neu; vielmehr entspricht sie genau der Stellung, die Husserl in seinem LogosA u f s a t ^ der Philosophie zwischen Neutralismus einerseits und Weltanschauung andererseits angewiesen hat. Husserls Kritik am Neutralismus korrespondiert Heideggers Kritik an 25

26

In diesem Sinn erläutert Heidegger auch die Husserlsche ProgrammFormulierung von der Philosophie als Wissenschaft (GA61 45 ff.), sowie die Kantische Unterscheidung von Philosophie und Philosophieren (GA61 43 ff.); bezüglich der letztgenannten Unterscheidung hat Heidegger im Unterschied zu Husserl (vgl. E. Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, 8) keine Bedenken, Philosophie als „Verhalten" zu verstehen. Schließlich ist auf zahlreiche affirmative Verwendungen des Begriffs „Methode" bezüglich der Philosophie zu verweisen (ζ. B. GA61 157 ff.). Philosophie als strenge Wissenschaft.

Philosophie als Vollzug und als Begriff

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der „Überschätzung" der Definitionsaufgabe, der Kritik Husserls an der Weltanschauungsphilosophie korrespondiert die Kritik Heideggers an der „Unterschätzung" der Definitionsaufgabe (GA61 1 3 - 4 0 ) . Im folgenden soll dem Hinweis, daß die definitionstheoretischen Reflexionen zum Philosophiebegriff sinngemäß auf die Grundkategorien des Lebens zu applizieren seien, am Beispiel des Begriffs des „Sorgens" nachgegangen werden. Die Einführung des Begriffs des „Sorgens" läßt freilich auf den ersten Blick keine besondere semantische Raffinesse erkennen: „Leben im verbalen Sinne genommen, ist nach seinem Be^ugssinn zu interpretieren als Sorgen-, sorgen für und um etwas, sorgend von etwas leben" (GA61 90). Sagt Heidegger hier nicht, das menschliche Leben sei als ein Sich-Sorgen zu verstehen? Wenn auch mit dem Zusatz, so negativ sei es auch wieder nicht gemeint — solche zurücknehmenden Nachbemerkungen kennen wir ja zur Genüge aus Sein und. Zeit. Betrachtet man Heideggers Bestimmung genauer, dann ist jedoch festzustellen, daß Heidegger sagt: — nicht „Leben", sondern „Leben, im verbalen Sinne genommen"; — nicht „Leben" sei „Sorgen", sondern sei als Sorgen „zu interpretieren"; — nicht sei schlechthin so zu interpretrieren, sondern sei „in seinem Bezugssinn" so zu interpretieren. Diese Feststellungen müssen uns veranlassen, anläßlich der Einführung der Grundkategorie des „Sorgens" und an ihrem Beispiel aus Heideggers generellen Darlegungen zum Definitionsproblem der und in der Philosophie drei zentrale Aspekte genauer zu analysieren: — den Unterschied zwischen Zusprechen/Absprechen versus Behaupten (2.1); — den Unterschied zwischen Zusprechen/Absprechen versus Auslegen (2.2); und — das Problem von Sinn und Bedeutung philosophischer Begriffe (2.3).

264

Dasein und Handeln

2.1 Voll^ugstheorie der Bedeutung Durch den Zusatz „im verbalen Sinne genommen" wird deutlich, daß Heidegger hier keine Prädikation über den Sachverhalt „das Leben", sondern über die Bedeutung des Ausdrucks „Leben" ausspricht. In traditioneller Terminologie heißt das: „Leben" ist nicht in realer, sondern in logischer Supposition verwendet. Oder in moderner, analytischer Normenklatur: „Leben" wird hier nicht gebraucht, sondern erwähnt. Der zitierte Satz über das Sorgen ist eine Bedeutungsfestlegung (Prädikation), keine Behauptung (Konstation). Er ist folglich insbesondere nicht wahr/falsch. Im Rahmen der Heideggerschen Konzeption der Semantik philosophischer Begriffe wird die Bedeutung des Begriffs „Sorgen" so festgelegt, daß sich an diesem Beispiel die Heideggersche Begriffstheorie, jedenfalls für die Sonderstellung der Philosophie, als spezifische Variante eines „semantischen Operationalismus" erweist. Für diese Konzeption legt Heidegger durchaus gewichtige Argumente vor. Sie gehen aus von der Kritik an der klassischen Definitionstheorie, dergemäß die Bedeutung von Prädikatoren durch definitorische Rückführung auf andere Prädikatoren (das genus proximum und die differentia specifica) vollzogen wird (GA61 13 ff.). Heidegger erinnert an die alte philosophische Einsicht, daß dieses Verfahren prädikativer Bedeutungsfestlegung in einen unendlichen Regreß oder in einen Zirkel führt, wenn man nicht schließlich auf eine außersprachliche Evidenz rekurriert. Diese Evidenz ist jedoch, wie Heidegger in der Vorlesung immer wieder betont, keine Evidenz jenseits des Habens einer Realität, sondern die Evidenz gehabter Realität: „Als Gegenstand hat Philosophie, wie jeder Gegenstand, seine Weise des genuinen Gehabtn>erdens\ jedem Gegenstand entspricht eine bestimmte Weise des Zugangs, des Sich-an-ihn-Haltens und des ihn Verlierens" (GA61 18).

Dem Argumentationstyp nach verwendet Heidegger hier den phänomenologischen Satz vom Bewußtsein in einer semantischen und nicht, wie sonst, in einer epistemischen Va-

Philosophie als Vollzug und als Begriff

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riante. Das „Haben" des Gegenstandes ist jedoch nicht das „Bewußt-Haben" Husserls, sondern der umfassende Vollzug des Gegenstandes im Rahmen des „Lebens". Die „richtige" Definition muß nach endlich vielen Schritten auf diesen Lebensvollzug konkret zurückführen. In Anspielung auf die Wittgensteinische „Gebrauchstheorie" der Bedeutung kann man von einer ,yoll%ugstheorie" der Bedeutung sprechen. Sie beinhaltet, daß die Bedeutung eines Ausdrucks kennt, wer letztlich den Vollzug kennt, in dem der Gegenstand gehabt ist, dem der Ausdruck zugesprochen wird. Das Primäre ist also „das Haben des Gegenstands", die „Weise des Zugangs". Das Denotat des Ausdrucks ist keine Sache, sondern eine „Habe" (GA61 19). Demzufolge formuliert Heidegger allgemein: „Die Idee des Bestimmens, die Logik des Gegenstanderfassens, die Begrifflichkeit des Gegenstandes in der jeweiligen definitorischen Bestimmtheit, muß geschöpft sein aus der Weise, wie der Gegenstand ursprünglich zugänglich wird" (GA61 20).

Der Zusammenhang zwischen Bedeutung eines Ausdrucks und Vollzugsweise des Gegenstandes sichert nach Heidegger, daß eine Definition nicht lediglich aus konventioneller Willkür entspringt. Dies wird vor allem unter der terminologisch merkwürdigen Überschrift der „prinzipiellen Definition" (GA61 21 ff.) entwickelt. Nach Heideggers Ausführungen ist ein Prinzip das, „von wo ausgehend etwas in seiner Weise ,ist', das, wovon alles abhängt" (GA61 21). Eine prinzipielle Definition „gibt den Gegenstand als Prinzip" (GA61 23). „Der definitorische Gehalt ist so, daß er Weisung gibt, worauf es beim Haben seiner (des Gegenstandes) ankommt" (GA61 23). Durch die Vollzugstheorie der Bedeutung, insbesondere die Lehre von der prinzipiellen Definition, erweist sich Heidegger zunächst als Phänomenologe. Danach ist die primäre Instanz der Vollzug des Gegenstandes, der Gegenstand als vom Menschen „gehabter". Mit Husserl setzt Heidegger sich dadurch einmal vom semantischen Realismus ab, demzufolge der deskriptive Gehalt der Begriffe eine unabhängige Realität

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Dasein und Handeln

außerhalb des „Habens" repräsentiert. Auf der anderen Seite wird auch der semantische Konventionalismus zurückgewiesen, demgemäß die Zuordnung von Begriffswort und Gegenstand eine Folge arbiträrer Konvention ist. Beide semantischen Positionen unterstellen nämlich die Unabhängigkeit einer begriffslosen Realität; die Phänomenologie geht dagegen von den gehabten (intentionalen) Gegenständen aus. Für die Vollzugstheorie der Bedeutung ist vor allem auch charakteristisch, daß sie keinen Hiatus zwischen dem Feststellen einer Bedeutung und dem Erkennen des Bedeuteten zuläßt. Heidegger stellt folgerichtig fest: „Die Idee der Definition ist nichts anderes als die formale Interpretation des vollen Sinnes von Erkenntnis" (GA61 54). Dieser für jeden semantischen und epistemischen Realismus provozierende Satz dokumentiert eindrucksvoll, daß Heidegger bei seiner Berufung auf die Phänomenologie als Methode keineswegs primär das deskriptiv umfassende Analysieren eines Gegenstandes, sondern durchaus den rationalistisch-idealistischen Grundzug der Phänomenologie vor Augen hat, wenn auch freilich in einer „radikalisierten" Fassung. Diese Radikalisierung bedeutet vor allem, daß Heidegger dem hinter seiner Position stehenden phänomenologischen Satz vom Bewußtsein eine Reformulierung gibt, die auf alle mentalistischen Termini und den mit ihnen transportierten Cartesianismus verzichtet. Es gibt nach Heidegger keinen vernünftigen Sinn, in dem zwischen der Innen- und der Außenseite unserer Beziehung zu Gegenständen unterschieden werden könnte. Bereits in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 versteht Heidegger sich als Vollstrecker einer „zweiten Ausarbeitung der Phänomenologie" (vgl. GA20 bes. 123 ff.). Die Lehre von der prinzipiellen Definition beinhaltet schon in dieser frühen Vorlesung das Bemühen, ein „existentialistisches Mißverständnis" abzuwehren. Der Entschluß zur konkreten Philosophie ist, wie Heidegger mehrfach betont, nicht zu verwechseln mit einer bloßen Deskription der menschlichen Situation unter besonderer Berücksichtigung ihrer mehr

Philosophie als Vollzug und als Begriff

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deprimierenden Seiten. Heidegger ironisiert, wie auch später in Sein und Zeit, ein Verständnis von Philosophie, das sich zur Aufgabe macht, „[...] irgendwo zu forschen, ohne nähere Bestimmung über Aufgabe und Stoff, wenn es nur Stoff und Mannigfaltigkeit ist (substanziell!), und nicht das ,abstrakte logische Z e u g ' " (GA61 28). Interessant ist Heideggers Hinweis darauf, daß gerade dieses „existentialistische" Philosophieverständnis einer unkritischen Faszination der Einzelwissenschaften unterliegt. Mit den Einzelwissenschaften teilt dieses Philosophieverständnis die „Blindheit für das Prinzipielle" (GA61 30). Die Phänomenologie des faktischen Lebens darf nicht mit der Devise „Entschluß zur konkreten Arbeit" verwechselt werden. „Das Konkrete hängt daran, wie der Gegenstand ,im Prinzip' genommen wird" (GA61 28). Bereits in dieser Vorlesung wird damit zum Ausdruck gebracht, was in Sein und Zeit mit der Abwehr des anthropologisch-psychologischen Mißverständnisses der Analytik des Daseins ständig herausgestellt wird. Auch „Sorgen" ist demgemäß ein prinzipieller Begriff, d. h. mit „Sorgen" wird ein Prinzip des Lebens vom Leben prädiziert. Anders formuliert: „Sorgen" ist kein deskriptiver Terminus, sondern ein Strukturbegriff. E r bezeichnet kein Was, sondern ein Woraus, nämlich das, woraus ein Was zu verstehen ist. Zusammenfassend: „Das Konkrete muß als das, wofür es Prinzip ,ist', zugeeignet werden" (GA61 31).

2.2

Identitätsphilosophie

„Leben" ist „als Sorgen zu interpretieren". Nach den herausgestellten Prämissen der Heideggerschen begriffstheoretischen Konzeption kommt es zu der äußerst schwierigen semantischen Idee, dergemäß, in der Terminologie der Vorlesung ausgedrückt, die Grundkategorien des Lebens selbst Lebensvollzüge zu sein haben, in der Terminologie von Sein und Zeit, die Existenzialien selbst Seins weisen sind. Diese semantische Hypothese hat zur Folge, daß die Explikation der

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Dasein und Handeln

Grundkategorien des Lebens eine Explikation von Lebensweisen ist. Auch das Explizieren selbst hat selbstverständlich eine Lebensweise zu sein. Folglich müssen sich drei begriffliche Ebenen unterscheiden lassen: das Leben als Inbegriff einer Pluralität und Totalität von Lebensweisen, eine Lebensweise, die sich auf die Strukturen des Lebens selbst bezieht, sie aus dem Leben herauslegt („Auslegung"), und schließlich solche Lebensweisen, die diese ausgelegten Strukturen selbst sind. Das Leben als Totalität ist durch Kategorien des Lebens strukturiert, die es zufolge der Lebensweise der Auslegung sich selbst transparent macht. Die Konstruktion dieser semantischen Hypothese wird in Sein und Zeit mit Hilfe der Gegenüberstellung von Verstehen und Auslegung dargestellt: „Das Dasein entwirft als Verstehen sein Sein auf Möglichkeiten. Dieses verstehende Sein Möglichkeiten ist selbst durch den Rückschlag dieser als erschlossener in das Dasein ein Seinkönnen. Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung' (SZ 148).

Nur aufgrund dieser mit der Problematik der Selbst-Disziplinierung der Philosophie mitgegebenen semantischen Hypothese kann sachlich einsichtig werden, warum Philosophie „hermeneutisch" sein muß. Die das Philosophieren ausmachenden Operationen sind nicht Akte, die sich gelegentlich ihrem intentionalen Gegenstand zuwenden, sondern sie sind Lebensweisen, deren Spezialität darin liegt, daß sie bestimmte Lebensweisen aus einer Totalität (dem „In-der-Welt-Sein") „herauslegen": d. h. identifizieren, präparieren, artikulieren. Der Ausdruck, der eine solche strukturierende Lebensweise bezeichnet, hat seine Bedeutung allein durch die operative Zuordnung zu dieser Lebensweise. Dies impliziert, daß wir zwischen strukturierenden und strukturierten „Weisen zu sein" unterscheiden müssen. Die existenzialen Begriffe (die Grundkategorien des Lebens) zeichnen Lebensweisen aus, die gegenüber anderen Weisen zu sein den Rang von Prinzipien haben. Sie erhalten somit eine merkwürdige Struktur von Identität und Differenz. Im Beispiel formuliert: „Sorgen" ist

Philosophie als Vollzug und als Begriff

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ein Lebensvollzug, eingebettet in andere Lebensvollzüge, gleichwohl gegenüber anderen Lebensvollzügen von derart prinzipiellem Rang, daß die Totalität des Lebens als „Sorgen" zu verstehen ist. In anderer Terminologie: Die Differenz zwischen Vollzug und Begriff des Vollzuges wird in den Vollzug eingezogen. Auch Begreifen ist ein Vollziehen. „Entscheidend ist also das Sein des Vollzugs [...]" (GA61 60). Ist aber der Begriff eine Weise von Vollzug, dann ist die Definition des Begriffs eine Weise der Habe des Vollzugs. Durch diese Konzeption gelangt Heidegger zu einer Idee von Philosophie, die man als Identitätsphilosophie des Lebens bezeichnen kann. Ihren Grundgedanken faßt Heidegger so zusammen: „ D e r interpretative und der Bewegtheitszusammenhang sind faktisch und eigentlich dasselbe (Bewegtheit ein Erhellungsvollzug, Erhelltheit im Bewegungszusammenhang), verschiedene kategoriale Bestimmungsweisen eines Seienden, dessen Seinssinn als Faktizität sich bestimmt" (GA61 135; H e r v o r h e b u n g v o m Verfasser).

Die Kritik an Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens, wie er sie in den frühen Freiburger Vorlesungen entwickelt, hat somit auch an diesem Grundgedanken einzusetzen. Diese Kritik auszuführen ist hier nicht der Ort. Stattdessen sei auf eine historische Parallele aufmerksam gemacht, nämlich Fichtes Konzeption einer Selbstexplikation des Wissens, wie er sie ζ. B. in der Wissenschaftslehre von 1804 entwikkelt hat. Die Folge dieser Identitätsphilosophie des lebendigen Wissens ist, daß die Differenz zwischen dem Wissen des Philosophen und dem Wissen, daß er thematisch untersucht, eingezogen wird. Dadurch wird Philosophie unmittelbar, aber sie gerät auch in die Gefahr, unvermittelbar zu sein. Genauer gesagt: Der Erkenntnisanspruch der Philosophie läßt sich nur noch appellativ formulieren. Fichtes Mahnungen, das vom Philosophen explizierte Wissen jeweils in sich selbst zu erzeugen, findet in ähnlichen Appellen in Heideggers Vorlesung seine Parallelen. Auch Heidegger fordert emphatisch eine „lebendige" Philosophie, ein echtes unmittelbares Philosophie-

270

Dasein und Handeln

ren. Entsprechend gibt es auch hier schließlich ein Vermittlungsproblem. Dieses thematisiert Heidegger vor allem an den Stellen, an denen er selbst die Frage nach der intersubjektiven Vermittlung entscheidender Grundideen stellt. So verweist er zu Beginn seiner Analyse des faktischen Lebens auf die „Situation der genuinen Urentscheidung", die sich nicht mehr demonstrieren lasse: „Daß sie die Situation ist, das muß jeder gerade selbst verstehen, d. h. dann geht er mit in die unmittelbar anschließende Explikation der Aufgabe der Philosophie" (GA61 79). In einer späteren Zwischenreflexion über die begrifflichen Schwierigkeiten der eigenen Darstellung macht Heidegger geltend, daß die „Bewährungen" seiner Überlegungen nicht aus komplizierten Argumentationen folgen, „sondern bei jedem selbst sind, in und an seinem Leben, wie er's treibt" (GA61 113). Diese Hinweise mögen genügen, um auf eine grundsätzliche Schwierigkeit aufmerksam zu machen: Je stärker das Philosophieren mit dem faktischen Lebensvollzug verschmilzt, um so mehr verliert es seinen intersubjektiven Geltungsanspruch, um so privater und somit irrelevanter werden die Aussagen der Philosophie. In diesem Zusammenhang ist auf eine Besonderheit der Heideggerschen Definitionslehre einzugehen, die sich durch den Grundgedanken einer Identitätsphilosophie des Lebens ergibt. Es handelt sich um den Begriff der „formalen Anzeige" eines Begriffs (GA61 32—35). Dieses Lehrstück bildet den Hintergrund für den gelegentlichen Hinweis in Sein und Zeit, die existenzialen Begriffe trügen lediglich einen formalanzeigenden Charakter. In Sein und Zeit wird nirgends erläutert, was mit dieser Bemerkung gemeint ist. Zunächst ist auch die „prinzipielle Definition" die Definition eines Begriffs. Sie ist jedoch prinzipiell, weil sie sich auf einen konkreten Lebensvollzug bezieht, der das „Woraus" der Bedeutung des Begriffs ist. Der Begriff ist, zufolge des Identitätsgedankens, zwar selbst Vollzug, jedoch nicht der Vollzug, den er begreift. Diesen zu begreifenden Vollzug „zeigt" die Definition lediglich „an". Diese Differenz zwischen anzeigendem Begriff und angezeigtem Vollzug bedeutet, „daß die Konkretion nicht

Philosophie als Vollzug und als Begriff

271

ohne weiteres zu haben ist" (GA61 32). Damit ergibt sich aus dem Gedanken des formal anzeigenden Charakters, daß die Identitätskonzeption zwar den Begriff in den Vollzug einzieht, daß der Begriff jedoch, jedenfalls in seiner Definition, nicht die Differenz zwischen Anzeigendem und Angezeigtem nivelliert. Andernfalls gäbe es auch keinen Grund, warum Philosophie überhaupt begrifflich sein sollte. Damit wäre Philosophie als intellektuelles Unternehmen aufgehoben. Dies ist der Grund, warum Heidegger auf dem Unterschied zwischen dem Begriff und dem durch ihn angezeigten Vollzug besteht: „Als anzeigende ist die Definition als eine solche zugleich charakterisiert, die den zu bestimmenden Gegenstand gerade nicht voll und eigentlich gibt, sondern nur anzeigt, als echt anzeigend aber gerade prinzipiell vorgibt" (GA61 32).

Das Anzeigen ist, insofern es nicht die Konkretion selbst ist, gehaltlich leer, formal. Nur weil er formal ist, kann der Begriff eine Konkretion anzeigen; sonst wäre er die Konkretion selbst und könnte sie nicht anzeigen. Anzeigen kann nur etwas, was zum Angezeigten in Differenz steht. Daher findet Heidegger schließlich zu der paradoxen Formulierung: „Das leer Gehaltliche in seiner Sinnstruktur ist zugleich das, was die Vollzugsrichtung gibt" (GA61 33). Das philosophische Auslegen ist somit kein Beschreiben einer Konkretheit. Es ist vielmehr auf das Anzeigende bezogen, insofern es nicht die Konkretheit ist. Phänomenologische Philosophie dient zwar der Beschreibung, aber sie ist keine Beschreibung. Dies ist nun der Grund, warum man nicht sagen kann, das Leben sei Sorgen; hiergegen könnte eingewendet werden, dies stimme gar nicht generell. Vielmehr kann lediglich gesagt werden, das Leben sei als Sorgen zu interpretieren, auszulegen. Der Begriff „Sorgen" zeigt formal an, welcher Vollzug Prinzip des Lebens ist, d. h. dasjenige, woraus das Leben zu verstehen ist, auch wenn es sich gelegentlich nicht sorgt. Begriffe dieser Art sind es, die Heidegger als Kategorien bezeichnet. Die Kategorie ist „etwas, was [...] das Phänomen als Interpretat zum Verstehen bringt [...] Kategorie ist interpretierend [...]" (GA61 86).

272

Dasein und Handeln 2.3

Lebenswelt-Pragmatismus

Leben ist nach „seinem Bezugssinn" als Sorgen zu interpretieren. Mit dem Terminus „Bezugssinn" greift Heidegger auf seine elementare sinntheoretische Konzeption zurück, die auf der Unterscheidung von Bezugssinn, Vollzugssinn und Gehaltssinn beruht (GA61 52 f.). Der Bezugssinn eines Ausdrucks bezieht sich auf das Sich-Verhalten als Verhalten zu etwas. Der Vollzugssinn ist die Weise des Sich-Verhaltens zu etwas; er enthält den „Zeitigungssinn", d. h. die Weise der Vergegenwärtigung in sich. Gelegentlich verwendet Heidegger die Ausdrücke „Vollzugssinn" und „Zeitigungssinn" synonym. Der Gehaltssinn schließlich ist das, wozu sich das Verhalten verhält. Die Unterscheidung von Vollzugssinn und Gehaltssinn entspricht der Husserlschen Unterscheidung von Noesis und Noema. Der Bezugssinn ist also das sinntheoretisch Neue, auf das Heidegger aufmerksam machen will. Interessant ist übrigens Heideggers Bemerkung, wonach das „Phänomen" den vollen Sinn, d. h. das Ensemble von Bezugssinn, Vollzugssinn und Gehaltssinn darstellt (GA61 53). Für das Beispiel des Begriffs des „Sorgens" bedeutet die dreifache Unterscheidung, daß das Sich-Verhalten zu etwas generell die „Form" des Sorgens hat. Dagegen ist das Sorgen weder der Vollzugssinn noch der Gehaltssinn des Lebens. Mit „Sorgen" ist nicht der volle Sinn von „Leben" angezeigt. Der Begriff des „Sorgens" stellt nicht die Phänomenalität des Lebens dar. Er zeichnet vielmehr nur das Sich-Verhalten, das Handeln auf. Daher läßt sich sagen, daß „Sorgen" der Heideggersche Nachfolgebegriff für „Intentionalität" ist. Allerdings gilt nach dem Grundsatz der Identitätsphilosophie des Lebens, daß die Intentionalität nicht die bloße Form des SichVerhaltens ist, sondern darüber hinaus selbst eine Lebensweise sein muß. Das „Sorgen für und um etwas" (GA61 90) ist diese Lebensweise. Mit seinen sinntheoretischen Unterscheidungen, denen er allerdings nur sehr knappen Raum widmet, bricht Heidegger mit einem dominanten Zug der abendländischen bedeutungs-

Philosophie als Vollzug und als Begriff

273

theoretischen Tradition, dem Mentalismus der Bedeutung. Nach dieser Tradition hat die „Bedeutung" eine mentale Existenz zwischen realem Wort und realem Gegenstand und stellt als dieses „ens rationis" das rationale Denotat des Begriffs dar. Diese Konzeption, die durch Brentano erst so recht wieder modern geworden war, bestimmte Husserls Logische Untersuchungen ebenso wie Freges sprachphilosophische Arbeiten. Dagegen sind nach Heidegger Bedeutungen nichts im Bewußtsein; somit erübrigt sich auch, Phänomenologie als Bewußtseinsanalyse zu konzipieren. Insbesondere bedarf es nicht des „Geistes" als Deponie für Bedeutungen und Vorstellungen. Uber Brentano und Husserl war Heidegger der Mentalismus der Bedeutung selbstverständlich geläufig, er unterstellt ihn noch in seiner Habilitationsschrift gemäß seinem Primärtext ohne Problematisierung. Nunmehr sieht Heidegger den Sinn eines Ausdrucks als eine Verhaltensweise. Diese Konzeption von den Bedeutungen als „habits" hatte vierzig Jahre vorher bereits Peirce formuliert. Die deutsche Philosophie der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts hat jedoch von Peirce und dem Pragmatismus kaum Notiz genommen. In diesem Zusammenhang ist daher erwähnenswert, daß Heidegger an einer Stelle der Vorlesung auf den Pragmatismus zu sprechen kommt (GA61 135). Er grenzt seine Konzeption der Sorge von der Idee ab, das Wesen des Menschen sei durch den Kampf ums Dasein bestimmt und die Anthropologie daher biologisch zu fundieren. Dagegen wendet Heidegger ein, daß man durch einen Rückgang auf „Lebensgegenständlichkeiten" nie zu den Kategorien des Lebens gelangen könne. Der Pragmatismus lasse Sinnbestimmungen und ordnungshafte Gegenstandsbestimmungen unabgehoben. Demgegenüber weist Heidegger die Kritik Husserls an den relativistischen Tendenzen des Pragmatismus ausdrücklich zurück. Der Relativismus steche nur auf dem Hintergrund einer bestimmten Erkenntnistheorie ins Auge. Der pragmatischen Relativierung von Erkenntnisstrukturen auf Lebensweisen ist nach Heidegger prinzipiell zuzustimmen. Kritikbedürftig sei demgegenüber die biolo-

274

Dasein und Handeln

gisch orientierte Analyse des Lebensbegriffs, beispielsweise der Evolutionismus. 27 Aus Heideggers Begriff des „Sinns" ergibt sich, daß der Bezug (die Bedeutung im Sinne Freges) des Ausdrucks die Intentionalität im Vollzuge ist. Dies ist Heideggers nicht-mentalistische Variante des Satzes vom Bewußtsein. Dann aber ist die Unterscheidung von Sinn und Bezug gar nicht mehr zu rechtfertigen; Heidegger spricht folgerichtig nur noch vom „Sinn" eines Ausdrucks. Im Rahmen der bedeutungstheoretischen Diskussion kann man Heidegger als extremen Intensionalisten bezeichnen: Der Bezug ist lediglich ein Moment des Sinns, „Bezugssinn". Bezüglich der Theorie philosophischer Begriffe gelangen wir damit noch einmal zu der schon angeführten Merkwürdigkeit, daß die Kategorien uns als Lebensweisen bestens bekannt sind, daß sie aber als Strukturbegriffe, als Prinzipien, fremd wirken. Heidegger interpretiert diesen Sachverhalt so, daß sich das Leben bezüglich seines einfachen Seins bekannt und geläufig, daß es sich aber bezüglich seiner Strukturen selbst undurchsichtig ist. In diesem Zusammenhang verwendet Heidegger die von Gadamer häufiger zitierte Formel von der „Diesigkeit des Lebens" (GA61 88). Das heißt, daß dem

27

Z u Husserl vgl. dessen Philosophie als strenge Wissenschaft, 15. Auf die enge Verwandtschaft zwischen Heidegger und Peirce macht auch K . Oehler in seiner ,Einleitung' zu Peirce's Schrift Über die Klarheit unserer Gedanken aufmerksam (a. a. O . 18—23). — H . - G . G a d a m e r vermutet, daß Heideggers Kenntnisse des Pragmatismus v o n E. Lask stammen, der sich in den letzten 2 Jahren seines Lebens in seinen Vorlesungen intensiv mit dem Pragmatismus beschäftigt hat (und damit auch G . Lukäcs beeinflußte) (mündliche Mitteilung). — D e r erste, der einen engen Z u s a m m e n h a n g zwischen Heideggers Kritik am Cartesianismus, dem Mentalismus der Bedeutung und Heideggers eigener Terminologiebildung gesehen hat, war G . Ryle in seiner f r ü h e n Rezension von Sein und Zeit. Ryle hat in seinem Buch The Concept of Mind dann selbst eine radikale Kritik am Bewußtseinsbegriff vorgelegt, die neben Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen f ü r die analytische Kritik am Mentalismus bestimmend wurde.

Philosophie als Vollzug und als Begriff

275

Leben seine eigene Durchsichtigkeit erst noch (durch Philosophieren) abgerungen werden muß. „Kategorien kommen nur zum Verstehen, sofern das faktische Leben selbst zur Interpretation gezwungen wird" (GA61 87). Damit haben wir nach Heidegger die „existenzielle Genesis der Reflexion" (GA61 87) aufgedeckt. Der enge Zusammenhang mit dem in Sein und Zeit zu methodischem Rang erhobenen Begriff der „Gewaltsamkeit" ist offenkundig. 28 Philosophieren ist nur möglich und nötig, wenn das Leben einerseits sich selbst nicht-transparent, diesig, opak ist (Opazität), andererseits aber nicht sich selbst anonym, prinzipiell von sich selbst abgewandt, sondern selbstbezogen, reflektiert ist (Reluzenz). Opazität und Reluzenz sind Bedingungen der Möglichkeit und Notwendigkeit des Philosophierens; sie bestimmen die „Bewegung des Lebens in der begegnishaften Richtung auf sich selbst [...]" (GA61 119). Die Undurchsichtigkeit des Lebens, seine „Diesigkeit", soll durch die Kategorien fortschreitend in Selbstaneignung des Lebens überführt werden. Die Kategorien stehen dem Leben nicht als ein begrifflich-analytisches Instrumentarium gegenüber („Gitterwerke", (GA61 88), sondern „sie sind in ursprünglicher Weise im Leben selbst am Leben" (GA61 88; vgl. 99). Diese begriffstheoretischen Zusammenhänge ermöglichen auch einen Zugang zum Problem des Verhältnisses von Umgangssprache und philosophischer Terminologie gemäß Heideggers Konzeption, die sich auch in seiner Terminologiebildung niederschlägt. Nach den Berichten über Heideggers Vorlesungen lag seine Faszination nicht zuletzt in der Wahl einer philosophischen Sprache, die nicht auf die Begriffe der philosophischen Fachterminologie zurückgriff, sondern Prädikatoren der Umgangssprache terminologisierte. Hier ist von den Vorlesungen zu Sein und Zeit eine fortschreitende Tendenz festzustellen, so wenn ζ. B. aus der „Reluzenz" die „Selbstgelich-

28

Vgl. C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, 270—273.

276

Dasein und Handeln

tetheit" wird. Allerdings ist kritisch zu bemerken, daß durch diese Art der Terminologiebildung die Philosophie keineswegs „lebensnäher" im Sinne von gemeinverständlicher wird. Im Beispiel: Was „Intentionalität" bedeutet ist ungleich leichter zu erklären, als was „Sorge" bedeutet. Der Grund dafür liegt darin, daß, wer als Philosoph „Sorge" terminologisch verwendet, den Hörer/Leser zwingt, sich mit %wei Bedeutungen auseinanderzusetzen. Heideggers begriffstheoretische Überlegungen zeigen, daß er dies explizit will. So schreibt er über die Bedeutung der philosophischen Termini in einem zusammenfassenden Paragraphen anläßlich des Begriffs des Vollzugs (GA61 124 ff.): „Hier und bei anderen Bedeutungsfixierungen ist leicht sichtbar, daß Phönomenerfahrung und bestimmte phänomenologisch motivierte Explikationstendenzen der Phänomene selbst das Bedeutungsgebende für die terminologisch fixierten sprachlichen Ausdrücke sind, in der Weise, daß den in der spezifisch nivellierten Rede des faktischen Lebens gebrauchten Bedeutungen aus der Explikation ein bestimmter Sinn zuspringt" (GA61 126).

Heideggers Absicht ist im Zusammenhang mit den bisherigen Überlegungen deutlich. Die begriffliche Explikation des Vollzugs soll nicht in Differenz zum Vollzug treten, sondern Vollzugsmoment sein; oder, um Heideggers eigene Worte zu wiederholen, die Kategorien sind „im Leben selbst am Leben". Folglich gilt für die Bedeutung der philosophischen Begriffe eine unaufhebbare semantische Ambivalenz. Einerseits — zufolge der Reluzenz — müssen die Prädikatoren, die das Leben begreifen, immer schon da sein, sofern das Leben sich immer schon auf sich bezieht; andererseits — zufolge der Opazität — müssen die Bedeutungen, die die Prädikatoren umgangssprachlich haben, aufgrund der philosophischen Explikation revidiert, präzisiert und formalisiert werden. Durch diese Ambivalenz ist deutlich, welche Fehler man vermeiden muß, wenn man eine Terminologie „lebendiger" Philosophie konstruiert. Wissen wir damit auch — so ist kritisch zu fragen — wie man eine philosophische Terminologie tatsächlich aufstellt? Diese Frage ist, jedenfalls soweit die hier zu behandelnde Vorlesung betroffen ist, zu verneinen. Die

Philosophie als Vollzug und als Begriff

277

Frage bleibt offen, ob Heideggers semantischem Programm überhaupt gefolgt werden kann, oder ob es als ein singulärer und gescheiterter Versuch zu betrachten ist.

3. Zusammenfassung Die am Beispiel des Begriffs des „Sorgens" vorgeführte besondere semantische Struktur der Grundkategorien des Lebens ist zunächst in der Explikation der Existenzialien in Sein und Zeit ohne weiteres wiederzufinden, ja die Vorlesung ist durch ihre relativ ausführliche Reflexion auf das Definitionsproblem in der Philosophie eine wichtige Interpretationshilfe für die existenzialen Begriffe. Die Tatsache, daß in Sein und Zeit der Terminus „Kategorie" den nicht-daseinsmäßigen Seienden vorbehalten bleibt, während die strukturbildenden Seinsweisen des Daseins „Existenzialien" heißen, ist zunächst nur von terminologischer Bedeutung. Gleichwohl ist in Sein und Zeit insofern ein Bedeutungsüberschuß festzustellen, als der Zusammenhang der Existenzialien hier eine ausgeprägte Ordnung erfährt, wobei Heidegger deren phänomenale „Gleichursprünglichkeit" unterstreicht. Die Gleichursprünglichkeit bedeutet insbesondere, daß zwischen den Begriffen keine deduktive Systematik im Sinne des Neukantianismus und des klassischen Idealismus besteht. Gleichwohl entwikkelt Heidegger in Sein und Zeit im Unterschied zu den frühen Vorlesungen ein ausgeprägt systematisches Konzept. Dies soll noch einmal am Beispiel des Begriffes „Sorge" demonstriert werden. 29 Die Einführung des Terminus „Sorge" im § 41 von Sein und Zeit ist zunächst eine explizite Selbstkritik gegenüber dem 29

Eine umfassende Interpretation der methodischen Stellung der „Sorge" in Sein und Zeit kann hier nicht ausgeführt werden; vgl. dazu C. F. Gethmann: ,Das Sein des Daseins als Sorge', in diesem Band 70-112.

278

Dasein und Handeln

Text der Vorlesung vom Wintersemester 1921/22. Danach ist Sorge nicht als „prinzipielles Definiens" für Leben aufzufassen. Demgegenüber wird „Sorge" eingeführt für einen komplexen strukturellen Sachverhalt, den Heidegger in den bekannten Bindestrich-Formulierungen zusammenfaßt. Für eine Vollzugstheorie der Bedeutung ist wesentlich, daß das Denotatum logisch und epistemisch vor dem Denotans ist. „Sorge" ist nun aber nicht einfach ein zusammenfassender Ausdruck für diese deskriptiv-strukturelle Komplexität, sondern er bezeichnet die Ganzheit einer Strukturmannigfaltigkeit. Für den Vergleich der Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 mit Sein und Zeit ist nun zunächst auffällig, daß die Strukturmannigfaltigkeit in der Vorlesung fehlt. Die strukturelle Ausdifferenzierung des Begriffes „Leben" in Sein und Zeit ist allerdings im Wege der Ergänzung zu kompensieren und stellt kein grundsätzliches philosophisches Problem dar. Der Gesichtspunkt der Ganzheit ist jedoch in Sein und Zeit gegenüber der Vorlesung ein Novum. Er impliziert, daß die Existenzialien — im Unterschied zu den Grundkategorien des Lebens — eine Strukturmannigfaltigkeit bilden, und das heißt zugleich, sie haben eine Einheit in der Vielheit, eine Struktur gegenüber dem Strukturierten. Die methodische Dynamik von Sein und Zeit liegt in der wiederholten Frage nach der strukturellen Einheit in der deskriptiven Vielheit begründet. 30 Heidegger spitzt diesen Gedanken jedoch noch zu, indem er die Frage nach dem Sein des Daseins mit dem Gedanken der Einheit in der Vielheit verbindet. Die Frage nach dem Sein des Seienden, dessen Spezialität darin liegt, Seinsverständnis zu haben (vulgo: des Menschen), ist mit der Frage nach der Einheit der Strukturmannigfaltigkeit identisch. Die Sorge ist das „Sein des Daseins". Die Entwicklung von der Sorge als Bezugssinn von „Leben" zur Sorge als „Sein des Daseins" deutet sich bereits in 30

Zur methodischen Bedeutung der ,Wiederholung" vgl. C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, 257—259.

Philosophie als Vollzug und als Begriff

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den Marburger Vorlesungen an. So heißt es im Sommersemester 1925, die Sorge stelle die „Urstruktur", (GA20 406), „Grundstruktur" (GA20 420) des Daseins dar. Schließlich heißt es bereits dort: „Die Sorge ist der Terminus für das Sein des Daseins schlechthin" (GA20 406).31 Nach Kants Methodenlehre ist die Zusammenfassung der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee ein „System", die „Architektonik" die Kunst, Systeme zu erstellen.32 Unter Aufnahme der Kantischen Terminologie läßt sich der Unterschied zwischen dem Sorgebegriff in der Vorlesung Wintersemester 1921/22 und Sein und Zeit dahingehend zuspitzen, daß „Sorge" in der Vorlesung noch ein Moment einer Rhapsodie ist, während „Sorge" in Sein und Zeit Moment eines Systems darstellt. Den Abschluß und die schärfste Fassung gibt Heidegger diesem architektonischen Programm in Kant und das Problem der Metaphysik, in dessen Einleitung die Aufgabenstellung der Fundamentalontologie mit der Interpretation der Kritik der reinen Vernunft als „einer Grundlegung der Metaphysik" (K 13) unter deutlicher Aufnahme der Bau-Metaphorik der transzendentalen Methodenlehre erläutert wird: „Grundlegung der Metaphysik als Entwerfen des Bauplans ist aber wiederum kein leeres Herstellen eines Systems und seiner Fächer, sondern die architektonische Umgrenzung und Auszeichnung der inneren Möglichkeit der Metaphysik, d. h. die konkrete Bestimmung ihres Wesens" (K 14).

Sein und Zeit ist keineswegs eine bloß publikationspolitisch zu verstehende „Improvisation" (H.-G. Gadamer), sondern ein systematischer Neuentwurf, in den Heidegger die in seinen Vorlesungen erarbeiteten phänomenologischen Analysen unter Modifikationen einfügt. Dabei zeigt sich, daß die existenziale Analytik ihrem Gehalt nach in den Vorlesungen weitgehend entwickelt ist. Man kann durchaus die Position ver-

31 32

Vgl. ferner GA21 § 17. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Β 860.

280

Dasein und Handeln

treten, daß die Vorlesungen hinsichtlich Anschaulichkeit und Deutlichkeit dem Text von Sein und Zeit in vielen Fällen überlegen sind. In den Vorlesungen gelingt es Heidegger jedoch erst tendenziell, seine Analysen zu einen architektonischen Zusammenhang zu bringen, wie er in Sein und Zeit systematisch entwickelt ist.33

33

Die hier explizierte entwicklungsgeschichtliche Sicht auf das Verhältnis von Heideggers frühen Vorlesungen und Sein und Zeit legt sich schon von einer systematischen Interpretation von Sein und Zeit her nahe. Der Verf. sieht seine diesbezüglichen Vermutungen bestätigt, die ausschließlich auf der Basis des Textes von Sein und Zeit formuliert worden waren (C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, bes. 358, Anm. 261).

Die Konzeption des Handelns in

Sein und Zeit Angesichts der langen, schon seit Ende des Zweiten Weltkrieges geführten Diskussion um Heideggers politisches Engagement im Zusammenhang mit der Übernahme des Rektoramtes an der Universität Freiburg ist es schon erstaunlich, daß eine handfeste historische Aufklärung der damaligen Vorgänge erst seit wenigen Jahren betrieben wird. Es sind FachHistoriker und nicht Philosophen, denen wir die inzwischen wohl unabweisbare Einsicht verdanken, daß Heidegger 1933 nicht, wie lange von vielen angenommen, im Zuge einer im Rahmen akademischer Üblichkeiten erfolgenden Wahl zum Universitätsrektor in einen politischen Kontext hineinstolperte, dem er als fernen Dingen zugewandter Philosoph nicht gewachsen war. 1 Schon die Annahme des bloßen Hineinstolperns stand allerdings für eine Reihe von Kritikern seit den fünfziger Jahren in einem Unglaubwürdigkeit indizierenden Widerspruch zu den Ansprüchen Heideggers, der entscheidende Deuter der Situation des Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts einschließlich seiner politischen Situation zu sein. Inzwischen wird jedoch deutlich, daß Heideggers Übernahme des Rektoramts mit taktischem Kalkül erfolgte, mit dem Ziel einer organisatorisch breit angelegten Umstrukturierung der Universitäten Deutschlands im Sinne des Führerprinzips und der Antriebe der völkischen Bewegung. Nicht das „Hineinstolpern", sondern eine gezielte Macht1

Hierzu sind vor allem die Studien von H. Ott aufschlußreich: .Martin Heidegger als Rektor der Universität Freiburg 1933/34'; ferner (damit nicht identisch): ,Martin Heidegger als Rektor der Universität Freiburg i. Br. 1933/34', Teil I und II.

282

Dasein und Handeln

„ergreifung" ist die richtige operative Metapher zur Beschreibung der Vorgänge. Freilich ist auch die enge Handlungsverflechtung mit den nationalsozialistischen Agenturen (unser Wissen um die Einzelheiten ist hierbei noch durchaus fragmentarisch) kein Beweis dafür, daß Heidegger Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie war, und es ist ihm wohl auch nicht besonders gut gelungen, diesen Eindruck wenigstens faktisch gegenüber Partei und Staat zu erwecken. Vielmehr spricht alles für die Deutung, daß Heidegger von der wahnwitzigen Idee geleitet war, er könne die nationalsozialistische Bewegung für seine Ziele instrumentalisieren, indem er sich unter Einsatz seiner philosophischen Autorität als geistiger Mentor, als „Führer des Führers" unentbehrlich machen würde. 2 Will man von politischer Naivität sprechen, dann liegt sie sicher in diesen Vorstellungen, die einerseits wegen Heideggers völliger Unerfahrenheit im politischen Geschäft und eines völligen Fehlens von politischer „Hausmacht", andererseits aber vor allem wegen der Tatsache, daß andere mit viel günstigeren Ausgangspositionen schon längst die Hände nach den Hebeln der kulturellen Gleichschaltung ausgestreckt hatten, zum Scheitern verurteilt waren. Im Zuge der historischen und philosophiehistorischen Forschung muß nicht nur Heideggers Rolle bei der Rektoratsübernahme neu bewertet werden, sondern auch sein Motiv zur Beendigung des Rektorats und sein Verhalten danach, welches keineswegs als eine, wenn auch noch so subtile Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu deuten ist. 3 Viel eher hat Heideggers Abwendung vom politischen Geschäft und seine unbezweifelbare Distanz zu den Machtträgern etwas mit der Enttäuschung über das Erlahmen des Sozialrevolutionären Elans der „Bewegung" im Anschluß an die Etablierung der Macht und die im Röhm-Putsch kulminierenden inneren Fraktionskämpfe der Partei zu tun. Vor al2 3

Vgl. dazu O. Pöggeler: ,Den Führer führen?'; B. Martin: .Heidegger und die Reform'. Vgl. dazu H. Ott: ,Martin Heidegger und der Nationalsozialismus'.

Die Konzeption des Handelns

283

lern aber mußte Heidegger wohl einsehen, daß er mit der von ihm betriebenen Umstellung der Universität auf das Führerprinzips keineswegs deren Unabhängigkeit gegenüber Staat und Partei stärken konnte, sondern — im Gegenteil — objektiv der Strategie der Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Lebensverhältnisse für den Teil der Universität die Hand geliehen hatte. 4 Diese Einsicht führte ihn aber keineswegs zu einer grundsätzlichen Kritik der Grundlagen des nationalsozialistischen Verständnisses von Staat und Gesellschaft 5 , wie wir es bei einer Reihe anderer Wissenschaftler, die zunächst mit der „Revolution" sympathisierten, finden; aus Heideggers Umkreis ist zum Beispiel auf Erik Wolf hinzuweisen. 6 Die Anläufe und Anfänge von Heideggers politischem Engagement liegen noch im dunkeln, sie dürften jedoch bis in das Ende der zwanziger Jahre zurückgehen. Sollte sich diese Vermutung bestätigen, wird mit einiger Sicherheit erneut die Frage aufgeworfen werden, ob die Philosophie Heideggers in Sein und Zeit und im Umkreis dieses Werkes (bis ca. 1929) faschistoides, dem Nationalsozialismus affines Gedankengut enthält. Bekanntlich kommt jede Suche nach Ähnlichkeiten zum positiven Ergebnis, wenn man nur hinreichend viele transitive Schritte zuläßt (tatsächlich sollte man daher „... ist ähnlich mit ..." nicht transitiv verwenden). Demgegenüber wird hier auch nach den neueren historischen Einsichten an der Meinung festgehalten, die schon in der früheren Debatte von vielen vertreten worden ist, daß es nämlich zwischen der Philosophie von Sein und Zeit und den spezifischen Elementen der nationalsozialistischen Ideologie wie Faschismus, nationalem Kollektivismus, Antiliberalismus, nationalem Imperia-

4 5

6

Vgl. B. Martins Schlußfolgerung a. a. O. 69 ff. Die Ambivalenz von Heideggers Einstellung zum Nationalsozialismus (Bewegung vs. Bürokratie) wird besonders deutlich von M. Müller in seinem Gespräch mit B. Martin und G. Schramm herausgestellt. Der Kontrast zwischen Heidegger und Wolf ist in A. Hollerbach: ,1m Schatten des Jahres 1933' dokumentiert und analysiert worden.

284

Dasein und Handeln

lismus, Rassismus, besonders Antisemitismus usw. keine Affinitäten gibt. Sieht man demgemäß in Sein und Zeit keinen positiven Beleg für nationalsozialistisches Gedankengut, hat doch die negative Variante der Fragestellung durch den neuen historischen Wissensstand an Bedeutung gewonnen, nämlich die Frage, wieso die Philosophie von Sein und Zeit offenkundig weder für Heidegger noch für eine Reihe seiner ihm nahestehenden Kollegen und Schüler ein kritisches Potential gegen den Faschismus bereitzustellen schien. Die Bedeutung dieser Frage hat zugenommen, weil es noch ein Unterschied ist, ob bestimmte philosophische Einsichten jemanden vor einem „Hineinstolpern" bewahren (hier spielen non-kognitive Motive unter Umständen eine starke Rolle) oder ob jemand sich über längere Zeit hinweg im Rahmen geplanten und durchdachten Handelns für eine bestimmte politische Position instrumentalisieren läßt und auch nach voller Erkenntnis dieser Sachlage nicht zu einer durchgreifenden intellektuellen Distanz zu dieser Position findet. Während man die positive Variante des Problems noch unter Hinweis auf die bei Philosophen und Wissenschaftlern auch sonst anzutreffende, mehr oder weniger ausgeprägte Divergenz zwischen Werk und Person erledigen kann, ist diese Trennung jedenfalls für einen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts für die negative Variante nicht plausibel. Es ist schwer vorstellbar, daß der Philosophie von Sein und Zeit, in welcher kognitiven Modifikation auch immer, Prinzipien politischer Philosophie inhärent sind, denen der Mensch Heidegger — neben anderen — eben nicht gerecht geworden wäre. Wer nicht von einem vollständig kontingenten Verhältnis von Werk und Person ausgeht, wird Heideggers politisches Handeln (einschließlich Unterlassen) für ein starkes Indiz für die Abwesenheit eines kritischen Potentials in seiner Philosophie halten. Allerdings ist dieser Indizienschluß durchaus von starken Prämissen abhängig, zum Beispiel derjenigen, daß ein Philosoph des 20. Jahrhunderts auf dem Hintergrund der neuzeitlichen Philosophie nicht anders kann, als

Die Konzeption des Handelns

285

seine Überlegungen auch auf die Konsequenzen im Bereich der praktischen und politischen Philosophie hin zu bedenken. Natürlich ist vorstellbar, daß es Philosophen gibt, die derart auf subtile Fragen der theoretischen Philosophie konzentriert sind, daß das Verfolgen ihrer Überlegungen in den Bereich der praktischen Philosophie und erst recht ihres persönlichen Handelns hinein völlig außerhalb ihres Aufmerksamkeitsbereichs liegt. Für die Philosophie von Sein und Zeit trifft aber eine solche Annahme keineswegs zu, und deshalb ist es berechtigt, die angeführte Prämisse für den Autor von Sein und Zeit zu akzeptieren. Die Philosophie von Sein und Zeit ist die im deutschsprachigen Bereich früheste Konzeption eines konsequenten Pragmatismus. Für die Beurteilung des kritisch-politischen Defizits der Philosophie von Sein und Zeit ist dies deshalb wichtig, weil damit keine unbillige Erwartung an ein wissenschaftliches Werk gerichtet wird, das es eigentlich mit ganz anderen Dingen zu tun hat. Von der philosophischen Stoßrichtung der Philosophie von Sein und Zeit her ist es aber nicht nur billig, eine Stellungnahme zur praktischen Philosophie zu erwarten, sie wird dort auch geliefert, wenn auch nicht in der durch die Geschichte der jüngeren praktischen Philosophie gewohnten Fassung. Sein und Zeit entwickelt nicht nur (1. ) das ontologische Problem auf pragmatischer Grundlage, es zieht auch (2.) die Folgerungen aus diesem Projekt in Richtung praktischer Philosophie.

1. Wissen und Handeln 1.1 Der Primat des umsichtigen

Umgangs

Die schlagartige Wirkung, die das Erscheinen von Sein und Zeit für die philosophische Fachwelt hatte, kann man sich nur erklären, wenn man einerseits den radikalen Neuansatz dieser Philosophie in Rechnung stellt, andererseits aber auch berücksichtigt, daß damit lediglich in Vollform vollzogen wurde, was tendenziell schon in der Luft der philosophischen

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Dasein und Handeln

Diskussion der zwanziger Jahre lag: die Ablösung der Bewußtseinsphilosophie zugunsten eines Pragmatismus der Lebenswelt. Mit „Pragmatismus"1 ist dabei eine philosophische Konzeption angesprochen, für die die Sphäre des Handelns nicht ein abgeleitetes Phänomen darstellt, gewissermaßen als bloße Aufführung eines andernorts geschriebenen Drehbuchs, sondern umgekehrt die Handlungssphäre das methodische Fundament für die Begründung anderer Sphären darstellt. Für die Philosophie der Neuzeit ist die fundierende Sphäre das Bewußtsein. Indem Heidegger in Sein und Zeit alle Bewußtseinsphänomene als abgeleitete Handlungsphänomene deutet und dies für traditionell leitende Themen wie das Urteil und die wissenschaftliche Theoriebildung exemplarisch ausführt, kehrt er also einerseits den bis dahin üblichen Aufbau der Philosophie von Grund auf um, radikalisiert damit jedoch andererseits lediglich Ansätze, die in der zeitgenössischen Philosophie schon vielfach wahrnehmbar sind. Sowohl im Rahmen des Neukantianismus als auch der Phänomenologie, unter anderem angeregt durch Lebensphilosophie, Grundlagenprobleme der Kulturwissenschaften und die neu entstehende Anthropologie, zeigen sich in der deutschen Philosophie der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts deutliche Tendenzen des Ubergangs „vom Bewußtsein zum Handeln". 8 Heidegger ist allerdings der erste, der sich mit der These vom Primat des In-der-Welt-seins grundsätzlich von der Idee eines fundierenden Bewußtseins verabschiedet. Dies ist auch die besondere Pointe des Begriffs des „In-der-Welt-seins"; nicht, daß der Mensch in einer alltäglichen Umgebung lebt, 7

8

Der Terminus „Pragmatismus" ist wohl zuerst in K.-O. Apel: .Wittgenstein und Heidegger' (1962) in bezug auf Heidegger verwendet worden („impliziter Pragmatismus" (a. a. O. 267 ff.)); vgl. ferner (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): R. Rorty: ,Heidegger wider die Pragmatisten', v. a. 5.; K. Oehler:,Einleitung', 18 f.; C. F. Gethmann: ,Vom Bewußtsein zum Handeln'. — Die Verwendung des Terminus „Pragmatismus" legt Heidegger selbst (SZ 68) nahe. C. F. Gethmann: ,Vom Bewußtsein zum Handeln'.

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sondern daß diese Tatsache der für die Fundierungsarbeit der Philosophie, somit methodisch erste Sachverhalt ist, macht Heidegger gegen die sich am Cartesianismus orientierende Philosophie der Neuzeit geltend. Nachdem daher der erste SachParagraph (bis dahin ist der Text methodisch und programmatisch) von Sein und Zeit, nämlich § 12, den Begriff des „Inder· Welt-seins" expliziert, macht der Titel des folgenden § 13 sofort die immanente Polemik deutlich: „Die Exemplifizierung des In-Seins an einem fundierten Modus. Das Welterkennen". Für einen traditionellen Bewußtseinsphilosophen, beispielsweise Husserl, liegt schon in dieser Überschrift eine mehrfache Irritation. Das Erkennen, jedenfalls ein bestimmter kognitiver Modus, nämlich die Selbsterfahrung des transzendentalen Ego, war für die Bewußtseinsphilosophie das Fundierende schlechthin. Nach Heidegger ist nun das Erkennen ein bloß fundierter Modus, zudem nicht einmal ein ausgezeichneter, sondern anscheinend ein beliebig gegriffener. Ferner ist es ein „defizienter Modus", also einer, dem, gemessen am eminenten Modus des „In-der-Welt-seins", einiges an Qualität abgeht: „Damit Erkennen als betrachtendes Bestimmen des Vorhandenen möglich sei, bedarf es vorgängig einer Defi^ien^ des besorgenden Zu-tun-habens mit der Welt" (SZ 61).

Zentralbegriff des pragmatischen Programms Heideggers ist der (in der Literatur auffallend wenig gewürdigte) Begriff des „Umgangs". Während Begriffe wie „Welt" und „In-derWelt-sein" eher der philosophischen Kommentar-Sprache angehören, ist „Umgang" von Heidegger terminologisch eingeführt; so heißt es am Beginn der Welt-Analyse: „Der phänomenologische Aufweis des Seins des nächstbegegnenden Seienden bewerkstelligt sich am Leitfaden des alltäglichen In-der-Weltseins, das wir auch den Umgang in der Welt und mit dem innerweltlichen Seienden nennen" (SZ 66 f.).

Und um den naheliegenden mentalistischen Einwand, Umgang bedürfe doch der Leitung durch das Erkennen, abzufangen, fügt er hinzu:

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„Die nächste Art des Umganges ist, wie gezeigt wurde, aber nicht das nur noch vernehmende Erkennen, sondern das hantierende, gebrauchende Besorgen, das seine eigene ,Erkenntnis' hat" (ebd.).

Heideggers weitere Analysen führen aus, daß der Umgang mit den Dingen, die Sphäre des Handelns in Mittel-ZweckZusammenhängen, das grundlegende und umfassende Fundament darstellt. Dies bedeutet nicht, daß dieses „Umgehen mit" gewissermaßen blind erfolgt, vielmehr wird das Handeln im Rahmen der Mittel-Zweck-Organisation durch ein kognitives Moment geleitet, welches Heidegger Umsicht nennt: „Der gebrauchend-hantierende Umgang ist aber nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren führt und ihm seine spezifische Sicherheit verleiht. Der Umgang mit Zeug unterstellt sich der Verweisungsmannigfaltigkeit des ,Um-zu'. Die Sicht eines solchen Sichfügens ist die Umsicht" (SZ 69).

Es liegt nahe, daß Heidegger seine Konzeption vom fundierenden umsichtigen Umgang von der herkömmlichen Theorie-Praxis-Unterscheidung abgrenzen muß. 9 Dabei kommt es selbstverständlich nicht auf die Wortwahl an, sondern auf die sich historisch aufdrängenden Konnotationen, durch die die Kategorie des Handelns, mit Hilfe der Termini von „Theorie" und „Praxis" expliziert, in mentalistischen Sog gerät. Dies ist auch der Grund, warum Heidegger selbst den Terminus „Handeln" nur sehr zurückhaltend verwendet und statt dessen philosophische Neu-Wörter wie „Zu-tun-habenmit", „Umgang mit" usw. vorzieht. So heißt es im Zusammenhang mit der Explikation der „Entschlossenheit", daß der Terminus „Handeln" absichtlich vermieden werde, weil er leicht im Sinne von Aktivität im Unterschied zu Passivität und als Praxis im Unterschied zu Theorie gedeutet werde (SZ 300).10 Alle Stellen, an denen Heidegger sich gegen die 9 10

Vgl. SZ 59, 69, 193, 300, 316. Tatsächlich ist dieses „Vermeiden" nicht konsequent durchgehalten (vgl. SZ 288, 294 f., 310, 326), aber an den meisten Stellen wird ein Vorbehalt gegen die traditionellen handlungstheoretischen Kategorien angedeutet (die Textpassagen gehören insgesamt in den Kontext der

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Unterscheidung von Theorie und Praxis wendet, stimmen dabei im Tenor überein11: (1) Heidegger sieht selbstverständlich eine Differenz von Erkennen und Handeln, Wissen und Können. Diese primäre lebensweltliche Differenz ist durch die Unterscheidung von Umgang und Umsicht begrifflich gefaßt. „Umgang" und „Umsicht" sind jedoch nicht bloß neue Wörter für „Erkennen" im Sinne von Theorie und „Handeln" im Sinne von Praxis. Die Umsicht ist im Unterschied zum Erkennen nicht an der Wahrheit, sondern an der Zweckhaftigkeit, also an Kategorien des Erfolgs orientiert. Die Umsicht ist ferner ein sich selbst nicht thematisierender Vollzug, während nach traditioneller Auffassung dem Erkennen eine Reflexivität auf sich selbst eigen ist. Entsprechend nimmt der Umgang nicht (auch nicht unausdrücklich) an einer irgendwie verstandenen „Erkenntnis der Realität" Maß, sondern der Umgang hat sich nach Erfolgsgesichtspunkten mit seinen Gegenständen („Zeug") schon eingerichtet. Das leitende Paradigma für dieses Verhältnis von Umgang und Umsicht ist das Tun des Handwerkers; die primäre Welt eine Werk-weit (vgl. SZ 70 f.).12

11 12

„Entschlossenheit"; siehe dazu den Abschnitt 2.3). — Im übrigen bedient sich Heidegger auch in seiner Terminologie durchaus solcher Termini, die auf der „Hand"-Metaphorik (im Unterschied zur traditionellen Auge-Metaphorik) beruhen, und dies unterstreicht den pragmatischen Grundzug seiner Konzeption (Zuhandenheit—Vorhandenheit, Verweisung, Bedeutsamkeit, Entwurf, Auslegung, Übernehmen, Überliefern, Wiederholung und anderes mehr). Siehe Anm. 9. Demgegenüber identifiziert G. Prauss: Erkennen und Handeln Heideggers „Umsicht" mit „Erkenntnis" im Sinne des Als-wahr-Erkennens (Behauptens) und den „Umgang" mit dem „Handeln", das auf Erkenntnisleitung angewiesen ist. Von daher ergibt sich dann auch, daß die Wendung Heideggers, wonach auch die Umsicht eine Weise des Umgangs (Erkennen eine Weise des Handelns) sei, als bloß metaphorisch (vgl. a. a. O. 83) angesehen wird. Heidegger konzipiert jedoch

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Heidegger wendet sich somit gegen die Vorstellung, es gäbe primär einen bloßen Umgang, dem die Umsicht abgehe, wie umgekehrt eine Umsicht, die nicht in einen Umgang eingebettet sei. Demgegenüber bezeichnet „Theorie" „unumsichtiges Nur-hinsehen", bloße Praxis sichtloses Handeln (SZ 69). Theorie und Praxis in diesem Sinn sind sekundäre Abstraktionen aus Vollzügen, die primär nur ineinander verschränkt vorkommen. 13 Insbesondere weist Heidegger die fundierungstheoretische Konzeption zurück, wonach die Sphäre der „Praxis" lediglich die Aufführung eines in der „Theorie" erfaßten prä-existenten Drehbuchs ist, wie es die traditionell leitende platonistische Handlungskonzeption darstellt. Vielmehr ist umgekehrt die Sphäre des lebensweltlichen umsichtigen Umgangs das methodische Fundament aller intentionalen Sonderformen, zu denen auch Theorie und Praxis gehören. In dem griechischen Wortgebrauch, wonach die Pragmata die Dinge bezeichnen, mit denen es die Praxis zu tun hat, sieht Heidegger seine Konzeption vorgeprägt. Aus der Tatsache, daß Heidegger in diesem Zusammenhang Praxis auch mit „besorgender Umgang" übersetzt, folgt, daß die Ablehnung der Theorie-PraxisNomenklatur eine bestimmte, vulgär-platonistische Deutung des Begriffspaares vor Augen hat (SZ 68). Ohne Frage ist Husserls phänomenologische Konzeption der Erkenntnis für Heidegger das Musterbeispiel für die von

mit dem Umgang eine Form des Handelns, die noch nicht durch Erkennen im Vollsinne präfiguriert ist, während die Umsicht noch nicht handlungsdistanzierte Erwägung ist. Der primäre Umgang hat ein kognitives Moment, das aber keine Bedingung (das heißt logisch früher als der Umgang), sondern nur ein Merkmal (logisch gleichzeitig) ist. Entsprechend kann Heideggers Begriff des Zeugs auch nicht mit der Unterscheidung zwischen dem „Ergreifen von Seiendem" vs. dem „Seienden selbst" (vgl. ebd. 72) entgegengetreten werden. Diese Begründung gibt Heidegger auch in seinen späten Schriften für die Kritik an dem Begriffspaar Theorie/Praxis (vgl. PH 111, Nil 358).

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ihm abgelehnte Deutung des Verhältnisses von Theorie und Praxis.14 (4) Die Bemerkungen gegen die Ethik (zum Beispiel SZ 316) sind auf dem Hintergrund der mentalistisch-platonistischen Konzeption zu verstehen, wonach die praktische Philosophie der theoretisch vollständigen Konzeption des Subjekts gewissermaßen als Korrolar hinzugefügt wird. Die Ablehnung der Ethik im Rahmen dieser besonderen Deutung von Theorie/Praxis ist nicht mit einem Mangel an Aufmerksamkeit für die Phänomene des Präskriptiven im menschlichen Handeln zu verwechseln. Für die pragmatische Konzeption des Handelns ist die Handlungssphäre die methodische Basis für die Fundierung der besonderen kognitiven und operativen Modi, mit denen sich die Philosophie gewöhnlich beschäftigt. Im Zusammenhang der ethischen und politischen Implikationen von Heideggers Konzeption interessieren dabei besonders die „praktischen" Phänomene der Verbindlichkeit und Verpflichtung. Zuvor soll jedoch die „theoretische" Seite der generellen Fundierungsthese am Beispiel der (rein kognitiven) Aussage (traditionell: Urteil) und der wissenschaftlichen Aussage exemplifiziert werden.

1.2 Auslegung und Aussage

Der Wahrheitsanspruch des Urteils ist für die von Heidegger bekämpfte platonistische Tradition die wichtigste Instanz, um die Autonomie der „Theorie" gegenüber der in der ZweckMittel-Organisation eingebundenen „Praxis" zu begründen. Auf den wahren Urteilen beruht dann das wissenschaftliche Wissen als Vollform von „Theorie". Es ist daher für Heidegger ein naheliegendes Anliegen, im Sinne eines konsequenten 14

Zum historischen Hintergrund siehe genauer C. F. Gethmann: ,Vom Bewußtsein zum Handeln', § 2.

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Pragmatismus das Urteil als einen genetisch zu erklärenden Sonderfall des umsichtigen Umgangs zu explizieren. Heidegger spricht beispielsweise von einem „Umschlag vom umsichtigen Besorgen zum theoretischen Entdecken" (SZ 360). Dabei ist die von Heidegger direkt angegriffene Gegenposition Husserls Idee einer „Genealogie der Logik", durch die Husserl eine Theorie der vorprädikativen Erfahrung als Grundlage der Urteilstheorie aufgebaut hat. In Auseinandersetzung mit Husserl entwickelt Heidegger seine Konzeption einer ontologischen Genesis der Prädikation in den Paragraphen 32 und 33 von Sein und Zeit. Der Kern dieses Lehrstücks besteht in der Unterscheidung zwischen dem apophantischen und dem hermeneutischen Als. Seit Aristoteles verwendet die traditionelle Logik die Wendungen mit „als", um die reine, das heißt noch nicht durch ein Urteil mit Wahrheitsanspruch versehene Prädikation, das Zu- und Absprechen, auszudrücken. Nach dieser Vorstellung geht dem Wahrheit beanspruchenden Urteil die bedeutungsverleihende Prädikation voraus. Wer die „Biene als Insekt" bezeichnet, legt dadurch die Bedeutung des Prädikators „Biene" fest. Die „ontologische Genesis" verläuft — wie bei Heidegger allgemein — dergestalt, daß ausgehend von einem eminenten Modus andere Modi als defizient dargetan werden. Der eminente Modus ist hier das „In-der-Welt-sein", das heißt der umsichtige Umgang mit den Dingen. Die Umsicht bezeichnet dasjenige Merkmal des Umgangs, durch das der Umgang sich selbst nicht opak, sondern hinsichtlich der Zweck-Mittel-Organisation transparent ist. Diese primäre Erschlossenheit und Vertrautheit des Menschen mit den Dingen bezeichnet Heidegger als Verstehen". Dieses Verstehen ist im Unterschied zur traditionellen „Selbsterkenntnis" (Reflexion) kein Akt mit dem Spezifikum, auf sich selbst gerichtet zu sein. Auch die Selbsterkenntnis würde ja mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten. Die Umsicht demgegenüber garantiert lediglich, daß der Umgang im Hinblick auf den Erfolg geschieht. Beiläufig sei erwähnt, daß dieser Begriff des Verstehens keinen spezifischen Bezug zu geisteswissenschaftlichen Erkenntnis-

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weisen hat, wie sie von Dilthey am Paradigma des Textverstehens expliziert werden. Heideggers Beispiele, wie etwa der Umgang mit dem Hammer, gehören eher in den Grundlegungsbereich der physikalischen Mechanik als der textverstehenden Geisteswissenschaften. Gegenüber dem Verstehen bezeichnet die „Auslegung' einen intentionalen und thematischen Akt der Selbstbeziehung. „Das Entwerfen des Verstehens hat die eigene Möglichkeit, sich auszubilden. Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung. In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu" (SZ 148).

Erst aufgrund der Auslegung gibt es sprachliche Ausdrücklichkeit. Die Auslegung artikuliert die vorprädikativen operativen Evidenzen (Umsicht) ausdrücklich. Ihre prototypische Redeform (vgl. SZ 149, Zeile 6) ist: ,Dies ist zum ... (Handlungsprädikator)'. Mit der Auslegung bleiben wir also in der Sphäre des primären Umgangs; sie legt diesen lediglich durch sprachliche Artikulation aus, ohne ihn zu verlassen. Das Defiziente der Auslegung gegenüber dem Verstehen liegt darin, daß derjenige, der im eingeführten Sinne „auslegt", von dem, worüber die Auslegung spricht, abgelenkt ist. Wer, auf den Hammer weisend, sagt: „Dies ist zum Hämmern", hämmert nicht, sondern redet. Für die prädikative Form der Auslegung führt Heidegger den Terminus „hermeneutisches Als" ein; durch die Redeform „Etwas als zum (Handlungsprädikator)" wird eine Weise des Umgangs ausdrücklich vollzogen. Die Auslegung ist Heideggers Ersatzbegriff für die traditionelle Rolle der Wahrnehmung. 15 15

Dieser Sachverhalt wird bei G. Prauss völlig verkannt (vgl. Erkennen und Handeln, 32). Prauss übersieht, daß die Textstellen, auf die er sich bezieht (SZ 149 und 359) nicht Heideggers eigene Position, sondern Husserls (von Heidegger abgelehnte) Gegenposition darstellen: Es ist gerade Heideggers Kritik an Husserl, daß das angebliche (!) schlichte Sehen schon prädikativ komplex ist; zwar noch nicht im Sinne der Aussage, aber eben der Auslegung.

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Gegenüber der Auslegung ist die „Aussage" der Akt, durch den wiederum von der Zweck-Mittel-Einbindung der Auslegung abgesehen wird. Die Defizienz der Aussage liegt also in ihrer Abgehobenheit vom unmittelbaren Kontext des Umgangs. Eine prädikative Aussage hat daher die Form: ,Dies ist ein ... (Eigenschaftsprädikator)'. Dies ist die Form der logischen Elementarsätze, wie sie in der logischen Tradition seit Aristoteles als Beispielsätze analysiert werden. Sowohl mit Blick auf den λόγος άποφαντικός der Aristotelischen Logik als auch Husserls Begriff der Apophantik spricht Heidegger vom „apophantischen Als". Damit wird durch die Wortwahl bereits suggeriert, daß die traditionelle Theorie der prädikativen Aussage ein lediglich fundiertes Phänomen untersucht. Die These vom Erkennen als fundiertem Modus, die oben als signifikant für den Pragmatismus Heideggers angegeben wurde, ist dadurch am Beispiel der prädikativen Aussage konkretisiert. Selbstverständlich ist in dieser Darstellung der defizienten Modi der Auslegung und Aussage aus dem eminenten Modus des umsichtigen Umgangs noch kein Argument dafür zu erkennen, daß die gegenläufige Auffassung unzutreffend ist. Aus Sicht der üblichen Darstellung der prädikativen Aussage ist die Redeform der Auslegung nur ein Sonderfall der Redeform der Aussage. Es brauchen ja lediglich die Handlungsprädikatoren als eine Teilklasse der Prädikatoren überhaupt angesehen zu werden. Daß ein Etwas zum Hämmern ist — so der gedachte Einwand —, ist nur ein Sonderfall der Tatsache, daß etwas ein Hammer ist, und dies ist wieder ein Sonderfall der Tatsache, daß etwas überhaupt etwas ist. So ist denn auch für Husserl mit der Wendung „etwas als etwas" die allgemeinste ontologische Charakterisierung in eine Redeform übersetzt; mit dem „etwas als etwas" beschäftigt sich die allgemeine Ontologie. Die Genesis von Auslegung und Aussage aus dem umsichtigen Umgang macht deutlich, wie Heideggers pragmatistische Bestimmung des Verhältnisses von Handeln und Wissen

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zu verstehen ist. Es handelt sich um eine methodische These. Durch sie soll nicht bestritten werden, daß es vorkommt oder sogar empfehlenswert ist, das Handeln nach Maßstäben auszurichten, die ihrerseits Produkte eines wie immer verstandenen Erkennens sind. Vielmehr geht es darum, deutlich zu machen, daß das Erkennen eine Modifikation des Handelns ist. Damit ist nicht auf die philosophisch unerhebliche Trivialität angespielt, daß „erkennen" ein Tuwort ist. Es geht vielmehr darum, daß das Erkennen (hier wiederum in der Sonderform der Aussage) methodisch als defizienter Modus eines primären, umfassenden Handelns zu verstehen ist. Die Aussage ist derjenige operative Sonderfall, bei dem das Handeln sich selbst unterbricht, auf sein Werkzeug hinweist (Auslegung) und von der Zweck-Mittel-Einbindung absieht (Aussage). Das Argument dafür, die Dinge so zu sehen, liegt darin, daß alle Prädikation letztlich, das heißt dann, wenn der Verständigungsprozeß hinreichend weit problematisiert wird, auf das einfache Vormachen zurückkommen muß. Die vorprädikative Erfahrung rekurriert nicht letztlich auf durch Sinneswerkzeuge hergestellte innere Erlebnisse (Wahrnehmungen), weil dadurch lediglich eine Privatsprache bzw. Privaterkenntnisse erzeugt würden. Soll das Erkennen mit Anspruch auf intersubjektive Geltung ausgestattet sein, müssen wir vielmehr letztlich als methodische Basis das gemeinsame Handeln in unserer primär instrumentell organisierten Welt aufsuchen. Aufgrund der Tatsache, daß wir immer schon in einer uns vertrauten Welt leben, erweist sich die traditionelle Konzeption der Wahrnehmung als überflüssig, weil die durch sie geleistete Materialbeschaffung für die höheren Erkenntnisvermögen pragmatisch immer schon vollzogen ist. Das Handeln funktioniert über weite Strecken störungsfrei, auch wenn es die Sondermodi des Erkennens nicht aus sich ausdifferenziert hat.

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1.3 Die Genesis des wissenschaftlichen Erkennens Heidegger legt in Sein und Zeit keine umfassende Erkenntnistheorie im Sinne einer daseinsanalytischen Rekonstruktion aller oder auch nur der wichtigsten Erkenntnismodi vor. Allerdings setzt er sich neben der Aussage noch eingehend mit der wissenschaftlichen Erkenntnis auseinander, weil diese mit ihrem besonderen Wahrheitsanspruch als Gegenexempel gegen den Pragmatismus besonders naheliegt. Die entsprechende Konzeption entwickelt Heidegger in § 69 b von Sein und Zeit unter dem Titel eines „existenzialen Begriffs der Wissenschaft". 16 Entsprechend der pragmatischen Grundkonzeption geht es darum zu erklären, wie die lebensweltlich primäre Erkenntnisform der Umsicht in die besondere Erkenntnisform der „Theorie" im Sinne wissenschaftlicher Erkenntnis „umschlägt": „Wir untersuchen nur den Umschlag des umsichtigen Besorgens von Zuhandenem zur Erforschung des innerweltlich vorfindlichen Vorhandenen [...]" (SZ 357). In diesem Zusammenhang distanziert sich Heidegger wiederum von einer Interpretation des Verhältnisses von Handeln und Wissenschaft nach dem Schema von Theorie und Praxis: „Es liegt nahe, den Umschlag v o m praktisch' umsichtigen Hantieren, Gebrauchen und dergleichen zum theoretischen' Erforschen in folgender Weise zu charakterisieren: Das pure Hinsehen auf das Seiende entsteht dadurch, daß sich das Besorgen jeglicher Hantierung enthält. Das Entscheidende der ,Entstehung' des theoretischen Verhaltens läge dann im Verschwinden der Praxis. Gerade wenn man als primäre und vorherrschende Seinsart des faktischen Daseins das .praktische' Besorgen ansetzt, wird die .Theorie' ihre ontologische Möglichkeit dem Fehlen der Praxis, das heißt einer Privation verdanken. Allein das Aussetzen einer spezifischen Hantierung im besorgenden Umgang läßt die sie leitende Umsicht nicht einfach als einen Rest zurück. [...] Sich enthalten v o m Zeuggebrauch ist so wenig schon .Theorie', daß die verweilende, .betrachtende' Umsicht ganz dem besorgten, zuhandenen Zeug verhaftet bleibt" (SZ 357 f.).

16

Siehe dazu genauer C. Ε Gethmann: .Der existenziale Begriff der Wissenschaft', in diesem Band 169—206.

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Heidegger expliziert im § 69 b zunächst die primäre Umsicht und wiederholt sodann die ontologische Genesis der Aussage. Aber auch durch die Aussage wird noch nicht der ausgesagte Gegenstand zum Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis. Die „Vergegenständlichung" durch die Aussage muß in einem weiteren Schritt, der „Thematisierung', analysiert werden. Das wissenschaftliche Objekt ist Ergebnis der Thematisierung. „Die Thematisierung objektiviert" (SZ 363). Entscheidend ist die Frage, wodurch es überhaupt zur Thematisierung kommt. Aufgrund der Umsicht des alltäglichen Umgangs, die sich weiter in „Übersicht" und „Überlegung" explizieren läßt, ist der kognitive Bedarf des Umgangs, wie er gewöhnlich bei der Planung und Sicherung instrumentellen Handelns entsteht, im großen und ganzen gedeckt. Es scheint für den Schritt der Thematisierung und damit für die Entstehung der Wissenschaft keine Notwendigkeit zu bestehen. In der Tat gibt es in Sein und Zeit keinen Hinweis dafür, daß Heidegger in der ontologischen Genesis der Wissenschaften ein Indiz für eine anthropologische oder historische Notwendigkeit der Entstehung der Wissenschaften sehen würde. Vielmehr handelt es sich um eine Rekonstruktion der Möglichkeit der Wissenschaften, nachdem sie einmal existieren. Die Frage nach der „Möglichkeit" der Wissenschaft hat also genauer folgenden Sinn: Der Umgang des Menschen mit den Dingen ist im großen und ganzen durch Umsicht geleitet und dadurch erfolgreich. Welche Vorkommnisse sind es, die innerhalb dieser Sphäre des gewöhnlichen Umgangs den Menschen veranlassen könnten, eine privative und defiziente Behandlung der Dinge außerhalb der Mittel-Zweck-Organisation in Erwägung zu ziehen? Heideggers Antwort darauf lautet, daß es die typischen Störungen unseres kontinuierlichen umsichtigen Umgangs mit den Dingen sind, die bestimmte Gegenstände aus ihrem Kontext herauslösen und als Themata der Thematisierung isolieren. Solche Störungen treten auf, wenn sich gewählte Mittel als unverwendbar herausstellen, beispielsweise aufgrund einer Beschädigung. Ferner können wir bestimmte Mittel vermissen, weil sie nicht zur Verfügung

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stehen oder als solche nicht erkannt werden. Schließlich stehen uns auch Mittel im Wege und verhindern oder erschweren dadurch die Mittelwahl. Diese Störungen analysiert Heidegger mit den Termini des „Auffallens", der „Aufdringlichkeit" und der „Aufsässigkeit" (SZ 73 ff.). Die ontologische Genesis des wissenschaftlichen Wissens setzt also bei den typischen Störungen der Werkwelt an. Erst Störungen der kommunikationsgestützten Kooperation führen zur Aussonderung von Gegenständen im Sinne von „Objekten". Wissenschaften sind gemäß dieser Konzeption kognitive und operative Störfallbewältigungsinstrumente. Die Thematisierung besteht entsprechend Heideggers allgemeiner Fundierungsidee wiederum in der Angabe eines defizienten Modus. Das „Objekt" ist dasjenige innerweltliche Seiende, das zum Zwecke der Störungsbewältigung aus seinen ursprünglichen operativen Bezügen herauspräpariert wird. Die Umsicht wird dadurch zum „puren Entdecken", das Seiende wird vergegenwärtigt („ausgezeichnete Gegenwärtigung"; SZ 363). Für das Verständnis dieser pragmatischen Idee der Fundierung wissenschaftlichen Wissens ist entscheidend, daß das wissenschaftliche Wissen noch nicht durch die Vergegenständlichung der Auslegung entsteht. 17 Es bedarf vielmehr einer Fortführung des methodischen Verfahrens der „ontologischen Genesis" als eines schrittweisen Überganges vom eminenten zum defizienten Modus. Mit Hilfe dieser Fundierungskonzeption versucht Heidegger den Nachweis, daß die 17

Dies ist an keiner Stelle Heideggers Meinung, so daß es auch keine „Selbstkritik" in dieser Frage bedarf, wie Prauss (Erkennen und Handeln, 15) konstatiert. Die Vergegenständlichung aufgrund der Aussage ist lediglich Bedingung der ontologischen Genesis der Wissenschaft, wird aber nicht mit dieser gleichgesetzt. Das heißt, das Absehen vom unmittelbaren Umgang ist Bedingung für die wissenschaftliche Thematisierung, hinzukommen muß aber eine spezifische Form von Störung und ein Interesse an Störungsbewältigung. So ist das Herausisolieren eines Punktkörpers als Gegenstand der Mechanik aus Störungen unseres lebensweltlichen Umgangs mit bewegten Körpern zu erklären.

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Sphäre des Handelns auch gegenüber dem wissenschaftlichen Erkennen methodisch primär ist. Methodisch primär kann daher das Handeln nicht als „Anwendung" von auf ganz andere Weise theoretisch Erkanntem gedeutet werden. Daher hat eine so verstandene Theorie vom Handeln auch keine Maßstäbe zu setzen. An dieser Stelle ist die erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Tragweite des Heideggerschen Lebenswelt-Pragmatismus nicht zu diskutieren. Es genügt, deutlich zu machen, daß bezüglich der normativen Anleitung des Handelns die platonistische Deutung nicht in Betracht kommt: Das Handeln kann nicht seine Anleitung aus theoretischen Einsichten gewinnen, die ihre Begründung aus anderen Quellen beziehen als aus dem Handeln selbst. Dieser theoretische Pragmatismus legt für die praktischen Fragen eine methodische Autonomie des Handelns nahe, weil es so scheint, daß alle denkbaren Instanzen für eine Anleitung des Handelns bereits defiziente Modi des Handelns selbst sind. Heideggers Konzipierung des Pragmatismus legt einen radikalen Autonomismus des Handelns nahe.

2. Handeln und Verbindlichkeit Für eine pragmatische Konzeption des Aufbaus der Philosophie ist die Sphäre des Handelns methodische Basis für die Rekonstruktion aller anderen menschlichen Vollzugs- und Wissensformen. Von daher ist verständlich, wieso es nach Heidegger keine „praktische Philosophie" als philosophisches Fach neben der theoretischen Philosophie geben kann. Philosophie ist von Grund auf schon praktisch in dem Sinne, daß das Handeln und seine Elemente die methodisch ersten philosophischen Kategorien darstellen. Eher ist sinnvoll, von einer besonderen theoretischen Philosophie zu sprechen, im Sinne einer Philosophie von den Grundlagen der Wissenschaften, welche die regionalen Ontologien und die generelle Ontologie bilden (vgl. SZ 11). Für die Explikation der prä-

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skriptiven Momente des Handelns, der ihm (eventuell bloß vermeintlich) auferlegten Verbindlichkeiten, kann daher keine Theorie in Betracht kommen, aufgrund deren das Handeln seine Maßgaben von Stationen außerhalb des Handelns empfängt. Weder eine invariante „Natur" des Menschen noch die ihn umgebende „Realität", noch ihn einbindende „Systeme", noch ein höherer „Gesetzgeber" kommen als maßgebende Instanzen in Betracht, es sei denn, sie lassen sich als Momente oder Modifikationen des Handelns selbst explizieren. Der „Autonomismus" 18 ist daher mit dem Pragmatismus methodisch mitgesetzt; anders formuliert: Der Handlungsbegriff ist für den Pragmatisten so zu rekonstruieren, daß die Verbindlichkeit und Verpflichtung ein Element des Handelns selbst ist — andernfalls ist Handeln begrifflich „willkürliches Handeln". Heideggers Rekonstruktion des methodisch primären umsichtigen Umgangs ist durch diese allgemeine methodologische Situation gekennzeichnet. Daher ist zu untersuchen, wie Heidegger das Phänomen der Verbindlichkeit des Handelns mit den Mitteln der fundamentalontologischen Daseinsanalyse rekonstruiert.

2.1 Das Um willen des Handelns Dem Thema der dem Handeln innewohnenden, es anleitenden Verbindlichkeit ist das zweite Kapitel des zweiten Abschnitts (der ersten Hälfte von Sein und Zeit; §§ 54—60) gewidmet. Gerade dieses Kapitel ist wegen seiner konzeptionellen Undurchsichtigkeit sowie seiner terminologischen Besonderheiten Anlaß für äußerst divergierende Interpretationen und Fundgrube für den Beleg disparater Positionen gewesen. Dafür ist in erster Linie Heideggers Begriff des „eigentlichen Seinkönnens" verantwortlich. Das Begriffspaar 18

Der Begriff ist hier methodisch verwendet; Heidegger lehnt dagegen den Autonomismus wie auch den Heteronomismus der Subjektivität ab (vgl. unten § 2.1).

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„Eigentlichkeit\Uneigentlichkeit" ist nämlich nicht im Sinne der Charakterisierung von Lebensformen und deren Bewertung zu verstehen, hat also keinen asketischen Sinn, sondern bezeichnet zwei methodische Stufen in der Explikation der Subjektivität, der Analytik des Daseins. 19 Mit dem „eigentlichen Seinkönnen" ist somit auch keineswegs die Vorstellung verbunden, Heidegger wolle zu einer Änderung der Lebenseinstellung auffordern. Hintergrund der methodischen Konzeption Heideggers bildet die Vorstellung der Hauptlinie neuzeitlicher Philosophie bis zu Husserl, die methodisch primäre Instanz für den Aufbau der Philosophie sei das sich selbstmächtig ergreifende Subjekt, derart, daß alle weiteren philosophischen Einsichten auf dem Wege einer Selbstexplikation der Bedingungen dieser Selbstbezogenheit erreicht werden können. Demgegenüber macht Heidegger geltend, daß der konkrete Mensch „zunächst und zumeist" über diese Selbstbezüglichkeit gar nicht verfügt. Erst in besonderen und ungewöhnlichen Grenzsituationen, das heißt also methodisch: Unter sekundären, ausgegrenzten Umständen, geschieht diese ausdrückliche Selbstergreifung des Menschen; die an der Konzeption des transzendentalen Ego orientierten Philosophen begehen somit den Fehler, einen methodisch abkünftigen Sonderzustand als das methodisch Primäre anzusehen. Diesen Sonder^ustand, in dem der Mensch sich selbst „zu eigen" ist, nennt Heidegger „Eigentlichkeit", den subjekttheoretischen Normalzustand entsprechend „Uneigentlichkeit". Bereits beim vorgreifenden Uberblick über seine analytischen Absichten fordert Heidegger dazu auf, das Begriffspaar „Eigen tlichkeit/Uneigentlichkeit" „im strengen Wortsinne terminologisch" zu verwenden. Danach drückt die Uneigent-

19

Für eine vollständige Begründung dieses Interpretationsansatzes wäre der gesamte methodische Aufbau von Sein und Zeit zu rekonstruieren; vgl. dazu C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, zur Eigentlichkeit besonders 266—269. — Die Interpretation im Sinne eines Existenzideals ist vor allem durch Sartres Begriff der authenticite insinuiert worden.

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lichkeit keineswegs einen „niedrigeren" Seinsgrad aus. „Die Uneigentlichkeit kann vielmehr das Dasein nach seiner vollsten Konkretion bestimmen [ . . . ] " (SZ 43). Damit zeigt sich, daß ein asketisch-appellativer Unterton im Begriff der Eigentlichkeit geradezu widersinnig wäre: Dementsprechend würde Heidegger nämlich dazu auffordern, der Mensch solle versuchen, permanent im Zustand der transzendentalen Selbstreflexion zu verharren, also in einer Bezugnahme auf sich selbst, wie sie im Spektrum der Lebenserfahrung vorzüglich für die Konfrontation mit dem Tod oder bei moralischen Extremerfahrungen typisch ist. Nicht die „Eigentlichkeit", sondern gerade die „Uneigentlichkeit" stellt vielmehr die besondere philosophische Pointe Heideggers dar. Der Mensch in seiner Alltäglichkeit soll nach Heideggers subjekttheoretischer Konzeption der Anfang des methodischen Aufbaus der Fundamentalonotologie sein, während die von ihm kritisierte Philosophie demgegenüber immer sogleich auf das in seiner „Eigentlichkeit" betrachtete Dasein zugeht. Der subjekttheoretische Hintergrund ist es daher, an den Heidegger am Beginn des § 54 erinnert; dabei bezieht er sich auf § 25 („Der Ansatz der existenzialen Frage nach dem Wer des Daseins") und § 27 („Das alltägliche Selbstsein und das Man"), wo er programmatisch seine Abkehr vom Begriff der Subjektivität (im Sinne einer Selbstgegebenheit des Ich im Bewußtsein) begründet. Die alltägliche Erfahrung, der umsichtige Umgang, ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß der Mensch sich nicht thematisch auf sich als ausgegrenztes „ I c h " bezieht, sondern im Miteinander mit anderen seinen Geschäften selbstvergessen nachgeht („Man"). Es entspricht der Fundierungskonzeption Heideggers, daß das „eigentliche Selbstsein", als die Sondersituation, in der sich der Mensch isoliert erfährt und erfaßt, nur ein defizienter Modus des alltäglichen, konkreten Daseins ist. Damit ist einer asketischen Deutung definitiv der Weg verbaut; das eigentliche Seinkönnen ist methodisch ein defizienter Modus des eminenten Modus des uneigentlichen Daseins:

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„Das eigentliche Selbstsein beruht nicht auf einem vom Man abgelösten Ausnahmezustand des Subjekts, sondern ist eine existentielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existen^ials. Die Selbigkeit des eigentlich existierenden Selbst ist aber dann ontologisch durch eine Kluft getrennt von der Identität des in der Erlebnismannigfaltigkeit sich durchhaltenden Ich" (SZ 130).

Die volle Konkretheit des alltäglichen Lebens ist als solche kein philosophisches Problem und Thema. Die Philosophie hat auch kein Interesse an einer deskriptiv vollständigen Erfassung menschlicher Lebenswelt. Auch Heidegger betrachtet die Analyse von Uneigentlichkeit, Alltäglichkeit usw. nur als methodischen Einstieg, um die Grundstruktur des uneigentlichen Daseins herauszustellen. Diese in sich differenzierte Struktur bezeichnet Heidegger als „Sorge". „Sorge" ist der subjekttheoretische Gegenbegriff zu „Bewußtsein" bzw. „Intentionalität". Für Heideggers Konzeption des Handelns ist die philosophische Charakterisierung des Handlungssubjekts in Abgrenzung zur herkömmlichen Subjektphilosophie natürlich folgenreich. 20 Diese betrachtet das Subjekt als den Grund, der alle Gegenständlichkeit einschließlich sich selbst als den Grund dieser Gegenständlichkeit „setzt", das heißt, in seinen Merkmalen deskriptiv und operativ bestimmt. Entsprechend ist das Handeln eine diesem sich setzenden Grund entspringende, spontane Aktualität. Zu der so gedeuteten neuzeitlichen Subjektphilosophie, als deren Höhepunkt die Philosophie Kants angesehen werden kann und in deren Tradition Heidegger auch noch Husserl sieht, bezieht Heidegger nun nicht einfach die Gegenposition. Allerdings lesen sich manche Passagen von Heideggers Schriften nach 1930, vor allem Wendungen wie die vom „Geheiß des Seins", als stelle Heidegger dem Autonomismus der Neuzeit einen vor-neuzeitlichen Heteronomismus gegenüber. Dies ist jedenfalls

20

Dies kann hier nur in Thesenform dargestellt werden; vgl. C. F. Gethmann: ,Das Sein des Daseins als Sorge', in diesem Band 70—112, sowie C. F. Gethmann: Verstehen und Auslegung, 127 — 156.

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nicht Heideggers in Sein und Zeit mit der Konzeption der Sorge entwickelte subjekttheoretische Position. Diese besteht nicht in einem Dementi des Sich-Setzens des Subjekts, sondern in einer Uminterpretation des Sich-Setzens in der Weise der Ergänzung. Demnach ist der Mensch als „Sich-als-Gesetztsein-setzend" zu interpretieren. 21 Diese Doppelstruktur von Selbstbezüglichkeit und Fremdbezüglichkeit versucht Heidegger immer wieder deutlich zu machen. So bezeichnet Heidegger die Existenz (das Sein, zu dem sich das Dasein selbst verhält) als der Fakti^ität unterworfen (daß sich das Dasein zu sich selbst verhält, ist diesem Selbstverhältnis entzogen). Entsprechend sind Sätze wie „Das Dasein existiert faktisch" (SZ 181) als Versuche zu lesen, die scheinbar paradoxe Komplexität in eine prägnante Kurzfassung zu bringen. Parallel zu interpretieren ist die Bezeichnung für die Konstitutionsleistungen des Subjekts als Entwurf (Verstehen). Daß das Dasein entwirft, liegt auf der Linie des autonomen Subjekts; das Dasein ist jedoch nicht schlechthin autonom, weil es als entwerfendes durch Geworfenheit charakterisiert ist. „Die Geworfenheit aber ist die Seinsart eines Seienden, das je seine Möglichkeiten selbst ist, so zwar, daß es sich in und aus ihnen versteht (auf sie sich entwirft)" (SZ 181). Das Doppelverhältnis von Existenz und Faktizität, Entwurf und Geworfenheit als Grundmuster des alltäglichen Inder· Welt-seins muß beachtet werden, wenn man Heideggers Konzeption des Handelns zu präzisieren versucht. Weder eine autonome noch eine heterogene Handlungskonzeption wird dieser Grundstruktur gerecht. Vielmehr ist das Handeln als eine spontane Aktivität eines Menschen gedacht, der nicht souverän über sich verfügt, sondern sich als Handelnder in einer Situation vorfindet. Der Mensch ist das Wesen, das sich die Zwecke des Handelns vornimmt und die (vermeintlichen) 21

Mit dieser Terminologie ist an Schelling erinnert; auf diese Affinität hat schon W. Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idealismus aufmerksam gemacht. Vgl. ders.: .Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers'.

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Mittel ihrer Realisierung wählt, der aber selbst als Handelnder nicht die Realisierung eines seiner Zwecke ist, sondern sich vorfindet. Das Phänomen des „Sich-Sorgens um etwas" veranschaulicht diese Doppelstruktur recht gut: Sich-Sorgen um etwas ist eine Handlung des Menschen, für die es aber keinen Bedarf gäbe, wenn der Mensch nicht auf etwas angewiesen wäre, über das er nicht verfügt. Es ist daher durchaus nachvollziehbar, daß Heidegger im Zuge seiner Begriffsstrategie, die auf der „Formalisierung" alltäglicher Phänomene beruht, die Grundstruktur des Menschen abstrakt als „Sorge" bezeichnet. Für die Frage nach dem Ort der Verbindlichkeit des Handelns ist die Selbstbezüglichkeit des Menschen, seine Existenzialität, entscheidend. An einer Reihe von Stellen expliziert Heidegger sie nämlich nicht nur als Moment, gemäß welchem es dem Dasein um es selbst geht, sondern stärker als das Moment, durch welches das Dasein „je umwillen seiner selbst" (SZ 181) lebt.22 Mit der Selbstbezüglichkeit des Daseins als Umwillen des Handelns bewegt sich Heidegger in einem pragmatischen Schema, das vor allem Kant mit der Charakterisierung des Menschen als „Zweck an sich selbst" zur Grundlegung der praktischen Philosophie herangezogen hat.23 Heidegger ist wie Kant handlungstheoretischer Intentionalist. Das entsprechende Lehrstück bei Heidegger ist der § 18 von Sein und Zeit („Bewandtnis und Bedeutsamkeit; die Weltlichkeit der Welt"). Die „Bewandtnis", die es mit einer Sache hat, ist der Zweck, den wir der Sache (meistens unthematisch) geben. Heidegger erläutert dieses „Wozu" der Dinge an handfesten Beispielen wie dem Hammer, der wiederum dazu da ist, einen Wetterschutz zu bauen, usw. Schließlich stellt sich die (schon von Aristoteles im Zusammenhang der Kategorien von Zweck und Mittel erörterte) Frage, wo^u denn die ganze Kette 22 23

Ebenso SZ 123, 191, 236, 327, 334, 359, 364, 365, 414. I. Kant, Grundlegung, 49 ff.

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von Zweck-Mittel, die „Bewandtnisganzheit" da ist. An dieser Stelle führt Heidegger den Begriff des „Umwillen" so ein: „Die Bewandtnisganzheit selbst aber geht letztlich auf ein Wozu zurück, bei dem es keine Bewandtnis mehr hat [...]. Dieses primäre Wozu ist kein Dazu als mögliches Wobei einer Bewandtnis. Das primäre ,Wozu' ist ein Worum-willen. Das ,Umwillen' betrifft aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht" (SZ 84).

Es kann kein Zweifel sein, daß der Gedanke des Umwillen des Daseins in strenger Parallele zu Kants Zweck an sich selbst konzipiert ist. Ein Beleg findet sich im § 17 von Heideggers Vorlesung aus dem Wintersemester 1925/26, der überschrieben ist „Sorge als Sein des Daseins ...". Der Text dieses Paragraphen ist eine vorbereitende Fassung der späteren §§ 39 und 41 von Sein und Zeit. In der Vorlesung bemerkt Heidegger zu der Wendung, dem Dasein gehe es um sein Sein, daß man diese Feststellung „in Richtung auf ein primäres Seinsverständnis" interpretieren müsse (GA21 220). Dieses habe Kant mit seiner Bestimmung des Menschen als „Zweck an sich selbst" im Auge gehabt. Diese Bestimmung sei schließlich Grundlage des kategorischen Imperativs geworden. Zwar kritisiert Heidegger auch schon an dieser Stelle, daß Kant mit den überlieferten Kategorien von Zweck und Mittel arbeite; diese Kritik ist in § 64 von Sein und Zeit genauer ausgeführt, wo Heidegger darstellt, daß die Bestimmungen der Subjektivität als „Selbst" und als „Beständigkeit" bei Kant an Charakteristika nicht-menschlicher Dinge orientiert seien. Das Selbst-sein sei vielmehr als Moment der Sorge zu interpretieren. Diese Kritik bedeutet aber nicht, daß Heidegger die Idee, daß die Selbst-bezüglichkeit zugleich das letzte und verbindliche Umwillen des Handelns sei, zurückweist. Vielmehr ist das Umwillen die Bindung des letzten Zwecks des Handelns an den Handelnden selbst, somit zugleich der Ursprung des Handelns als auch seiner Verbindlichkeit, des Sollens; das Sollen ist letztlich die Verpflichtung des Handelnden auf sich selbst.24 24

Vgl. auch Heideggers Interpretation von Gesetz und Achtung bei

Die Konzeption des Handelns

2.2 Die Aufforderung

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des Gewissens

Wenn der Ursprung des Sollens die Selbstverpflichtung des Handelnden in seinem Handeln auf sich selbst ist (Umwillen), dann ist nach dem Ort zu fragen, an welchem diese Selbstverpflichtung sich realisiert. Im Handeln muß der Handelnde neben seiner Beziehung auf Zwecke und Mittel des Handelns auch ein Moment der Selbstbeziehung aufweisen. Diese hat aber nicht deskriptiven Sinn, gemäß welchem der Handelnde „bemerkt", daß er es ist, der handelt, sondern präskriptiven Sinn, so daß der Handelnde „aufmerkt" auf das, was er sich im Handeln vorschreibt. Diesen Ort bezeichnet Heidegger, einer langen Tradition folgend, als „Gewissen". Das Gewissen ist diejenige Einsichts-Instanz, durch die der Handelnde sich selbst als sich auf sich verpflichtend wahrnimmt. Für die angemessene Interpretation der Heideggerschen Gewissensanalyse in Sein und Zeit im Zusammenhang mit den präskriptiven Elementen der Handlungskonzeption ist besonders wichtig, den methodischen Einsatzort dieser Analyse im Rahmen der Gesamt-Architektonik des Werkes zu beachten. Insbesondere kommt es darauf an, trotz einer gewissen von Wortwahl und Stil ausgehenden Suggestion nicht in ein asketisch-existenzialistisches Verständnis des Textes abzugleiten. 25 Für eine existenzialistische Interpretation scheint be-

25

Kant (K § 30), wo das „Umwillen" mit dem Ursprung des „Sollens" zusammengebracht wird: „[...] inwiefern in der Achtung das Gesetz sowohl wie das handelnde Selbst nicht gegenständlich erfaßt, aber gerade in einer ursprünglicheren, ungegenständlichen und unthematischen Weise das Sollen und Handeln offenbar sind und das unreflektierte, handelnde Selbst-sein bilden" (K 146). — Heideggers Begriff des Umwillens und der Kantische Hintergrund dieser Konzeption belegen, daß G. Prauss Sach- und Textlage verfehlt, wenn er Heidegger als „Materialisten" bezeichnet, weil er „Subjektivität als ungebrochene Naturwüchsigkeit" denke (Prauss, Erkennen und Handeln, 110). Wie SZ 268, Anm. 1, ausweist, geht die Gewissensanalyse wenigstens bis in das Jahr 1914 zurück; grundsätzlich gilt, daß die älteren Textbestände von Sein und Zeit „existenzialistischer" klingen als die jüngeren, die von Heidegger bereits streng der transzendental-methodi-

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sonders die Einführung des Gewissensbegriffes im § 54 von Sein und Zeit („Das Problem der Bezeugung einer eigentlichen existenziellen Möglichkeit") zu sprechen. In diesem Zusammenhang wird nach einer Instanz gefragt, durch die das in der Alltäglichkeit „verlorene" Dasein („Verlorenheit in das Man"; SZ 268) die Möglichkeit bekommt, sich selbst zu finden. Dieser Weg wird von Heidegger als „existenzielle Modifikation des Man-selbst zum eigentlichen Selbstsein" (SZ 268) beschrieben. Die Ausführungen legen daher die Deutung nahe, der Mensch sei durch seine gewöhnliche Beschäftigung mit Mitmenschen und Umwelt „verloren" und bedürfe einer ihn daraus befreienden Kraft. Demgegenüber wurde schon darauf hingewiesen, daß mit den Begriffen „Uneigentlichkeit" und „Eigentlichkeit" keine Lebensformen charakterisiert werden mit dem appellativen Unterton, man solle die uneigentliche Lebensform zugunsten der eigentlichen verlassen. Vielmehr ist die „uneigentliche" Form menschlicher Existenz für Heidegger die gewöhnliche, die die Subjektivitätsphilosophen immer übersehen haben. Deren Fehler lag gerade darin, die nur in Sondersituationen entstehende thematische Beschäftigung des Menschen mit sich selbst als Anfang des philosophischen Fundierungsgeschäfts zu betrachten. Allerdings stellt Heidegger nicht in Abrede, daß es diese Sondersituationen tatsächlich als existenzielle Modi gelegentlich gibt. Es sind insbesondere Situationen, in denen der Mensch mit dem eigenen Tod konfrontiert wird; diese Erfahrung vereinzelt ihn zum individuellen, von den anderen abgegrenzten Ich. Gefragt ist nun nach der Rekonstruktion derjenigen Erfahrung, durch die der Mensch so vor sich selbst gebracht wird, daß er sich als isoliertes und individuelles Ich erfährt. Heidegger sagt nun keineswegs, diese Erfahrung sei das Gewis-

schen Architektonik von Sein und Zeit unterworfen wurden. Dies zeigt sich deutlich bei einem Vergleich zwischen Texten der Vorlesungen und Sein und Zeit, in denen der gleiche Begriff betroffen ist. Für das Beispiel der „Sorge" vgl. C. F. Gethmann: .Philosophie als Vollzug und als Begriff, in diesem Band 247—280.

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sen. Vielmehr distanziert er sich von der üblichen Auffassung von „Gewissen": „Was in der folgenden Interpretation als solche Bezeugung in Anspruch genommen wird, ist der alltäglichen Selbstauslegung des Daseins bekannt als Stimme des Gewissens. [...] Die folgende Analyse stellt das Gewissen in die thematische Vorhabe einer rein existenzialen Untersuchung mit fundamental-ontologischer Absicht" (SZ 268).

Daß die Analyse des Gewissens im Rahmen einer Explikation des eigentlichen Seinkönnens erfolgt, bedeutet für den methodischen Aufbau, daß die Phänomene moralischer Verbindlichkeit Phänomene eines menschlichen Sonder^ustands sind, während der Mensch im alltäglichen Normalzustand gewissermaßen ohne Moral ist (vgl. SZ 288). Das bedeutet, daß der alltägliche umsichtige Umgang mit Menschen und Dingen über weite Strecken nicht nur poietisch, sondern auch praktisch störungsfrei verläuft, so daß es einer Besinnung auf das Gesollte nicht bedarf. Was gesollt ist, wird „zunächst und zumeist" auch getan. Das Auftreten von Störungen, beispielsweise von Konflikten der menschlichen Interaktion, beendet allerdings den Normalzustand. Die ontologische Genesis des Ge-wissens ist derjenigen des Wissens ganz parallel: Auch die Moral ist ein Störfallbewältigungs-Phänomen. Damit bleibt allerdings immer noch die Frage, wie die Verbindlichkeit des Handelns im Zusammenhang mit der Bezeugung des eigentlichen Sein-könnens „entsteht", das heißt methodisch rekonstruierbar ist. Zunächst ist eindeutig, daß Heidegger (der Tradition des Wortgebrauchs folgend) mit „Gewissen" keine informative, sondern eine appellative Funktion des menschlichen Selbstverständnisses anspricht. Dies drückt er dadurch aus, daß er die Erschließungsfunktion des Gewissens als „ R u f , näherhin als „ A n r u f und „ A u f r u f (SZ 269) bestimmt. Dem Ruf entspricht ein spezifisches Hören, das „Anrufverstehen". Rufen und Hören können wir uns nur als Modi menschlicher Rede vorstellen; dieser Ansatz soll nach Heideggers Überlegungen die Gewissensanalyse davor bewahren, mit einer psychologischen Interpretation im Sinne

310

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einer Reduktion auf Seelenvermögen, Verstand, Wille oder Gefühl verwechselt zu werden. Der Ansatz der Interpretation der Gewissensphänomene als Rede-Modi rückt den Ansatz Heideggers in die Nähe einer sprechakt-theoretischen Konzeption. 26 Der performative Modus des Rufs ist jedenfalls ein regulativer und kein konstativer: Der Ruf ist kein „ Z u r u f , sondern ein „Aufruf (vgl. SZ 273). Dem Aufruf des Sprechers entspricht das Anruf-Verstehen des Hörers. Mit „Gewissen" wird nun der Sonderfall bezeichnet, daß Sprecher und Hörer identisch sind: „Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst" (SZ 275). Insoweit ist das Verhältnis von Aufruf und Verstehen des Aufrufs eine Explikation des traditionellen Selbstbewußtseins mit den Mitteln kommunikativer Performatoren. Gemäß der Heideggerschen Korrektur an der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie, dergemäß das Sich-Setzen seinerseits gesetzt, der Entwurf geworfen ist, ist der Mensch als Rufender jedoch nicht der Souverän und in diesem Sinne nicht der „Autor" des Rufens: „Der Ruf kommt aus mir und doch über mich" (ebd.). Die Rekonstruktion des Gewissens erfolgt somit in strenger Applikation der Struktur der Sorge als Grundstruktur der Subjektivität. Uber die mit der Explikation der „Sorge" angegebene Struktur hinaus erlaubt jedoch die Analyse des GewissensRufes, begrifflich zwischen dem Menschen als Autor (nichtautonomistisch verstanden) und als Adressat des Rufes zu unterscheiden. In diesem responsorischen Verhältnis zwischen den Momenten der Subjektivität wurzelt nun nach Heidegger die „Moralität", d. h. die dem Handeln immanente Verpflichtung auf den Anruf des Menschen. Zum rechten Verständnis dieses Ansatzes ist darauf hinzuweisen, daß Heidegger mit diesem Verhältnis zwischen dem rufenden und dem angeru26

Die Grundidee der illokutionären Handlung ist im § 34 formuliert; dort steht die Kritik an der traditionellen Reduktion der Redefunktion auf die in „Aussagen" vorgenommene Mitteilung im Vordergrund. Neben performativen Modi wie warnen, zusprechen, absprechen, wünschen, befehlen findet sich „auffordern" (SZ 161, Zeile 37).

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fenen Menschen keine Beschreibung tatsächlich erfahrbarer, zum Beispiel psychischer Phänomene beansprucht, sondern daß es sich hier um eine Rekonstruktion von Elementen einer Erfahrung handelt, die „real" nur als eine erlebt wird. So ist das Zwiegespräch schon von Piaton als metaphorische Rekonstruktionsbasis herangezogen worden, um die Struktur des Selbstbewußtseins zu erhellen. Daß in diesem Zwiegespräch nicht nur Mitteilungen, sondern auch Aufforderungen eine Korrespondenz haben, ist ebenfalls ein Gedanke, für den Heidegger auf eine lange Tradition zurückgreifen konnte. Nicht zuletzt bei Kant wird das moralische Handeln als ein Sich-Richten nach Imperativen interpretiert, die das Subjekt an sich selbst adressiert. Erweitert man die metaphorische Basis um juridische Kategorien, erscheint das Ich als Gesetzgeber, der sich die Gesetze selbst auferlegt.27 Grundsätzlich hält sich Heideggers Rekonstruktion des Ursprungs der Moralität in der traditionellen Linie präskriptivistischer Ethikfundierungen. Im Zusammenhang mit der Rekonstruktion des subjektiven Selbstverhältnisses als eines Verhältnisses zwischen dem aufrufenden und dem Aufruf-verstehenden Menschen wird somit auch die fundamentale moralische Kategorie in Sein und Zeit verständlich, die Schuld. Allerdings ist zunächst — gemäß Heidegger — ein alltägliches, moralistisches Verständnis abzuwehren; namentlich hat die Kategorie der Schuld nichts mit einer säkularisierten Erbsündenlehre zu tun, etwa in dem Sinne, daß der Mensch, wenn immer er handelt, sich zwangsläufig schuldig machen müsse. Gegenüber den umgangssprachlichen Bedeutungen, die mit dem Wort „Schuld" verbunden sind, will Heidegger den Schuldbegriff „formalisieren" (vgl. SZ 283), so daß die moralische und juridische Schuld erst von diesem Begriff her explizierbar wird. Dieser formale Sinn setzt sich zusammen einmal aus dem in allen Verwendungsweisen von Schuld enthaltenen Aspekt des Fehlens

27

Zum Beispiel I. Kant: Grundlegung, 54.

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relativ zu einer erwartbaren Vollständigkeit und anderen dem Moment des Grund-Seins für ein Ereignis. „Die formal existenziale Idee des ,schuldig' bestimmen wir daher also: Grundsein für ein durch ein Nicht bestimmtes Sein [...]" (SZ 283). Die „Deduktion" der so verstandenen Schuld erfolgt bei Heidegger nun auf der Basis der angegebenen Doppelstruktur der Subjektivität als geworfenem Entwurf. Sie führt schließlich bis zur Fundierung der Moralität (SZ 284, Zeile 10, bis SZ 286, Zeile 28). Der Grundgedanke ist dabei, daß der Mensch zwar der Grund seines Handelns ist (und damit, in einer der beiden formalen Hinsichten von „Schuld", an seinen Handlungen schuld ist), andererseits aber nicht des Grundes mächtig ist, so daß ihm das souveräne Setzen des Grundes prinzipiell abgeht (er sich also die Selbst-Begründung schuldig bleibt, wobei die andere Hinsicht des formalen Schuldbegriffs zum Tragen kommt). Somit zeichnet den Menschen strukturell, vor jeder singulären Handlung, „Schuld" aus: Er ist einerseits Urheber seiner Handlungen, er ist aber andererseits nicht Urheber seiner selbst: „Das Dasein ist als solches schuldig" (SZ 285). Diese ontologische strukturelle Schuld ist Bedingung dafür, daß der Mensch in seinen einzelnen Handlungen „Schuld" auf sich laden kann: „Seiendes, dessen Sein Sorge ist, kann sich nicht nur mit faktischer Schuld beladen, sondern ist im Grunde seines Seins schuldig, welches Schuldigsein allererst die ontologische Bedingung dafür gibt, daß das Dasein faktisch existierend schuldig werden kann. Dieses wesenhafte Schuldigsein ist gleichursprünglich die existenziale Bedingung der Möglichkeit für das .moralisch' Gute und Böse, das heißt für die Moralität überhaupt und deren faktisch mögliche Ausformungen" (SZ 286).

Die These von der „ontologischen" Schuld als Bedingung der Möglichkeit der moralischen läßt sich auf dem Hintergrund von Heideggers Prämissen leicht nachvollziehen. Unterstellt sei, daß ein Wesen sich derart in einer Beziehung zu sich selbst verhält, wie sich ein Anrufender zu einem den Anruf Verstehenden verhält. Dafür, daß der Adressat des Rufs sich gegenüber dem Autor des Rufs verfehlen kann, muß ein

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Doppeltes gegeben sein: einmal müssen die Handlungen des Adressaten diesem zurechenbar sein; er muß „schuld" sein an dem, was er tut. Wesen, denen ihre Verhaltensweisen lediglich widerfahren, tragen daher auch keine Schuld. Zum anderen darf der Autor nicht in dem Sinne Grund seiner selbst sein, daß er über sich vollständig verfügt. Ein derartiges Wesen würde sich selbst vollständig korrespondieren; es wäre auch moralisch ens perfectissimum. Somit ist in der Tat gezeigt, daß nur ein Wesen, das zugleich Grund und Begründetes, zugleich Entwurf und Geworfenheit ist, sich selbst etwas schuldet und sich daher, bei Verfehlung gegenüber dieser Schuld, moralisch schuldig machen kann. Moralität ist ein spezifisches Phänomen für ein Wesen, dem seine Handlungen als Grund zurechenbar sind, das aber andererseits nicht Grund seiner selbst ist. Insoweit ist die Deduktion der Moralität aus der Schuld und dieser aus der fundamentalen Doppelstruktur der Subjektivität als gelungen zu betrachten.28 2.3 Entschlossenheit und Freiheit Mit seiner Konzeption des Schuldigseins antwortet Heidegger auf die Frage, wie ein Subjekt des Handelns gedacht werden muß, damit eine moralische Verpflichtung des Handelns möglich ist. Somit ist die Frage beantwortet, wodurch es eine Verbindlichkeit für das Handeln gibt. Demgegenüber bleibt die Aufgabe, zu erklären, woher das Handeln die maßgebende Verbindlichkeit bezieht. Es ist nicht zu übersehen, daß Heidegger die Beantwortung dieser Frage in der Weiterführung der Gewissensanalyse nicht nur beiseite schiebt, sondern be28

Die Argumentation ist natürlich nicht spezifisch mit dem Begriff der „Schuld" verbunden, sie läßt sich mit Begriffen wie „Pflicht", „Verbindlichkeit", „Verantwortung" ganz parallel entwickeln. Es kann hier weder verfolgt werden, welche historischen Vorbilder Heidegger für seine Strategie hat, noch soll der konzeptionelle und argumentative Duktus im Detail einer Kritik unterzogen werden.

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wußt der Beliebigkeit überläßt (vgl. SZ 282). Seine Philosophie erweist sich als Exempel für einen bestimmten Typ transzendentaler Philosophie, die sich mit dem Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit begnügt (Reduktion) und von diesen Bedingungen her nicht mehr den Weg zurück zur Bedingtheit der Wirklichkeit (Konstruktion) findet. Dadurch wird schließlich das Handeln als Ursprung der Verbindlichkeit nur noch an sich selbst verwiesen. Charakteristisch für diesen Sachverhalt ist Heideggers Explikation des Begriffs der „Entschlossenheit". Das grundlegende Phänomen der Selbstbezogenheit des Menschen, welches zur Fundierung einer Ethik herangezogen werden könnte, ist, wie erläutert, der Ruf. Der Ruf läßt sich als Verhältnis eines Autors zu einem Adressaten des Rufs interpretieren; dieses Verhältnis ist für den Fall des „auffordernden" Rufes die Basis für Präskriptivität im allgemeinen Sinn. Nicht alle Formen von Präskriptionen sind jedoch moralisch relevant und daher Ansatzpunkte für eine Ethik; es genügt dazu, auf bloß technische oder konventionelle Normen zu verweisen. Für die Ethik muß als spezifisches Moment hinzukommen, daß sich die Präskription auf den Anspruch des anderen Menschen bezieht, so als Adressat des Rufs angesehen zu werden, wie das Selbst sich selbst anruft. Nach der traditionellen Vorstellung entstehen moralische Phänomene dann, wenn die Verpflichtung des Subjekts auf sich zugleich die anderen Subjekte miteinbezieht; das intra-subjektive Handeln erweist sich dementsprechend bei genauerer Explikation als trans-subjektiv. Diese Transzendenz ist jedoch nach Heideggers Explikation kein wesentliches Element des Moralischen. Vielmehr ist Moralität durch den intra-subjektiven Bezug bereits fundiert: „Rufverstehend läßt das Dasein das eigenste Selbst aus seinem gewählten Seinkönnen in sich handeln. Nur so kann es verantwortlich sein" (SZ 288). Moralität ist danach bereits durch das Binnenverhältnis des Menschen, wie es durch das Worumwillen ausgedrückt ist, hinreichend konstituiert. Die Selbstbeziehung, die das Dasein sich schuldet, verpflichtet es, sich selbst zu wählen. Es ist vor jeder einzelnen

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Wahl-Handlung, auch vor jeder Handlung zum Zwecke der Selbstbestätigung, darauf verpflichtet, sich für sich selbst zu entschließen. Folgerichtig ist die Entschlossenheit zu sich selbst das wesentliche Merkmal des Schuldigseins. Allerdings wäre es zu einfach, Heidegger schlechthin wegen der Gehaltlosigkeit der Entschlossenheit zu kritisieren, weil der Begriff des Gehalts hier zweideutig ist. Systematisch kann die Entschlossenheit nicht eine inhaltlich bestimmte Entschlossenheit zu etwas sein. Eine entsprechende Forderung wäre so wenig konsequent, wie wenn man gegen Kants Pflichtbegriff vorbringen würde, Pflicht müsse Verpflichtung zu etwas Bestimmtem sein. Die Entschlossenheit soll ja gerade diejenige Struktur bezeichnen, die vorausgesetzt sein muß, damit ein jeweiliger Entschluß zu etwas als möglicherweise durch Verbindlichkeiten geprägt verstanden werden kann. Heidegger weist daher auch die Kritik Schelers am „Formalismus", die er als gegen sich selbst gerichtet variiert, zurück (SZ 294). Die Bestimmtheit erfährt die Entschlossenheit allein durch den Selbstbezug — der Gehalt der Entschlossenheit, ihr Wozu ist der entschlossene Mensch selbst: „Zur Entschlossenheit gehört notwendig die Unbestimmtheit, die jedes faktisch-geworfene Seinkönnen des Daseins charakterisiert. Ihrer selbst sicher ist die Entschlossenheit nur als Entschluß. Aber die existentielle, jeweils erst im Entschluß sich bestimmende Unbestimmtheit der Entschlossenheit hat gleichwohl ihre existentielle Bestimmtheit" (SZ 298).

Die Entschlossenheit wird von Heidegger zu Recht als gehaltlos im Sinne materialer Werte oder Zwecke des Handelns konzipiert. Der existenziale Gehalt, den Heidegger angibt, nämlich der zufolge des Worumwillen bestehende Selbstbezug, ist zweifellos eine notwendige Bedingung der Moralität. Darüber hinaus wird sie von Heidegger jedoch als hinreichende existenziale Bestimmtheit für die Fundierung der Moralität angegeben. Das Problem ist Heidegger natürlich durch die Ethikfundierung Kants, der er (wie gezeigt) in der grundsätzlichen Konzeption nahesteht, durchaus bekannt. Der entscheidende Differenzpunkt liegt darin, daß die Entschlossen-

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heit bei Heidegger als „Ort" der Moralität hinreichend bestimmt sein soll und daß der Bezug zum anderen Selbst erst auf Basis der Entschlossenheit erfolgt, so wie die Fundierung inhaltlich bestimmter Entschlüsse. Die Inter Subjektivität erscheint methodisch als besondere moralische Inhaltlichkeit, nicht — wie bei Kant — als deren Bedingung: „Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ,sein' zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen. Das entschlossene Dasein kann zum ,Gewissen' der Anderen werden. Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander [...]" (SZ 298).

In der Konfrontation mit Kant erscheint die Entschlossenheit nicht nur existenziell, sondern auch existenzial als gehaltlos. Die Fundierung moralischer Phänomene erfolgt im Rahmen eines methodischen Solipsismus. Diese Position ist allerdings nicht nur im Vergleich mit der Ethikfundierung Kants problematisch, sie ist auch aus Gründen der Kohärenz der existenzialen Analyse zu kritisieren. Naheliegend wäre gewesen, wenn Heidegger auf der Basis der Begriffe des Worumwillens und der Schuld zu einer existenzialen Variante des kategorischen Imperativs gelangt wäre. Diese Überlegung ergibt sich auf der Grundlage der Prämisse, daß das Mitsein nicht nur eine existenzielle Lebensform, sondern ein Existenzial ist (SZ § 26). Stärker noch: Das Umwillen des Selbstbezugs ist auf den anderen Menschen gerichtet: „Als Mitsein ,ist' daher das Dasein wesenhaft umwillen Anderer" (SZ 123). Daraus hätte ohne weiteres geschlossen werden können, daß das Selbst, um das es dem Menschen geht, nicht das jemeinige Selbst ist, sondern das Selbst überhaupt. Dazu kommt, daß die Existenzialien nach Heideggers ausdrücklichem methodologischen Verständnis nicht in einer methodischen Hierarchie stehen, sondern „gleichursprünglich" sind. Somit wäre zwingend gewesen, die Entschlossenheit gleichursprünglich auf das eigene und andere Selbst zu beziehen. Der Mensch wäre demzufolge als das Wesen zu bestimmen, dem es in seinem Selbst um sich und die anderen geht. Mit diesem Zugang wäre einerseits die

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Sphäre des Handelns nicht verlassen worden, andererseits hätte die Entschlossenheit einen formal-existenzialen Gehalt bekommen, welcher seinerseits als Kriterium der Moralität einsetzbar gewesen wäre.29 Die Konsequenzen des methodischen Solipsismus der Ethikfundierung für die Konzipierung der Philosophie des Politischen lassen sich unter anderem an Heideggers Bestimmung des Begriffs der Freiheit demonstrieren. Der Begriff der Freiheit wird in Sein und Zeit aus der Entschlossenheit entwickelt: „Aus dem Worumwillen des selbstgewählten Seinkönnens gibt sich das entschlossene Dasein frei für seine Welt" (SZ 298). Aus dem Zusammenhang ist klar, daß dieses Freisetzen für ... ohne wesentliche Bezugnahme auf andere Freiheit möglich ist. Heidegger formuliert für seine Freiheitskonzeption im Zusammenhang mit der Analyse der Angst selbst die Position eines „existenzialen ,Solipsismus'" (SZ 188), und dies ist nun durchaus folgerichtig. Es ist nicht ein Solipsismus, der den Menschen von seiner Einbettung in die Umwelt und Mitwelt abschneidet; wohl aber ist der Mensch so auf sich zurückgeworfen, daß er seine Freiheit erfährt unabhängig von dem, was anderen widerfährt. Mit der Freiheit wird kein Wechselverhältnis zwischen Menschen, etwa im Sinne wechselseitiger Anerkennung, verbunden. Die radikalen Konsequenzen dieses Ansatzes sind vor allem in der Schrift Vom Wesen des Grundes gezogen. Hier erscheint die Freiheit als „Grund des Grundes" (WG 53), das heißt, sie begründet die Beziehung, die den Menschen als Grund ausmacht. Damit wird der Mensch nicht verabsolutiert, insofern der Grund ein begründeter bleibt; das Schema vom gewor-

29

Die hier entwickelte Kritik trifft sich grundsätzlich mit derjenigen von H. Fahrenbach: Existen^philosophie und Ethik, 124—131. Dagegen sieht B. Sitter: Dasein und Ethik., 153 — 173 den Mangel zwar ebenfalls in einer unvollständigen Analyse des Mitseins, behandelt wegen seiner asketischen Interpretation der Begriffe „Uneigentlichkeit"/„Eigentlichkeit" diesen Sachverhalt jedoch eher im Sinne eines reparablen Defekts (siehe die nächste Anmerkung).

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fenen Entwurf wird beibehalten (vgl. WG 54). Die Freiheit wird aber nicht durch den Gedanken der Verbindlichkeit und Verpflichtung gebunden, vielmehr ist umgekehrt die Freiheit die Bedingung dafür, daß es überhaupt Verbindlichkeit gibt: „In diesem transzendierenden Sichentgegenhalten des Umwillen geschieht das Dasein im Menschen, so daß er im Wesen seiner Existenz auf sich verpflichtet, d. h. ein freies Selbst sein kann. Hierin enthüllt sich aber Freiheit zugleich als die Ermöglichung von Bindung und Verbindlichkeit überhaupt" (WG43f.).

Wenn die Freiheit Bedingung der Möglichkeit der Verbindlichkeit ist, dann kann nicht das Umgekehrte gelten und somit auch kein wechselseitiges BedingungsVerhältnis. Die aus Entschlossenheit und Freiheit gesetzte Verbindlichkeit ist zwar nicht beliebig: Sie bleibt an ihre Bedingung, die Entschlossenheit des Selbst zu sich, gebunden. Relativ zu den jeweils anderen Menschen ist die Freiheit jedoch nicht bestimmt. Somit ist die einzige Funktion der Freiheit, in ihrer Ausübung als Wahl die Selbstbestätigung und Selbstumgrenzung des jeweils einzelnen zu ermöglichen.30

3. Schlußbemerkung Historisch führt die Explikation des Freiheitsbegriffs in Vom Wesen des Grundes und Vom Wesen der Wahrheit in die Nähe der

Vorgänge von 1933/34.31 Die Untersuchung von Heideggers 30

31

Vgl. auch WW 14—17. — Β. Sitter widerspricht dem DezisionismusVorwurf gegen Heidegger aufgrund der Überlegung, die Grundlage der Verbindlichkeit sei die „Einsicht in die Verpflichtung zur Wahrung der Freiheit" (B. Sitter: ,Zur Möglichkeit dezisionistischer Auslegung', 531). Wenn dies die Freiheit des anderen Selbst einschließt, so gibt es bei Heidegger keinen Beleg für diesen Ansatz; es handelt sich vielmehr um eine Korrektur Heideggers. Vom Wesen des Grundes erscheint 1929 in der Husserl-Festschrift. Vom Wesen der Wahrheit geht auf öffentliche Vorträge im Herbst und Winter 1930 in Bremen, Marburg, Freiburg i. Br. und im Sommer 1932 in Dresden zurück. Beide Texte liegen, wie angedeutet, in der Linie der

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Konzeption des Handelns führt allerdings zunächst zu dem Ergebnis, daß sich in Sein und Zeit und den Schriften im zeitlichen Umkreis keine Theorie des moralischen Handelns im Sinne einer Konzeption intersubjektiver Verbindlichkeit und Verpflichtung ausmachen läßt. Somit ergibt sich auch α fortiori keine Theorie des politischen Handelns. Dieses Ergebnis darf aber nicht zu einer einfachen Fehlanzeige trivialisiert werden. Es ist keineswegs so, als sei der philosophische Entwurf von Sein und Zeit thematisch so abseitig, daß entsprechende Erwartungen nicht gehegt werden dürften. Im Gegenteil: Der universelle Fundierungsanspruch hinsichtlich der gesamten Philosophie und das explizite Aufgreifen der Frage der Fundierung der Moralität stellen eine Art intellektuellen Versprechens dar. Durch den theoretischen Pragmatismus, der Reduktion aller kognitiven Elemente auf die Sphäre des Handelns, wird eine gezielte Erwartung geweckt. Das Handeln tritt methodisch an den Anfang der Philosophie; unreflektiertes Sich-Orientieren am Üblichen, Fremdbestimmungen unterschiedlicher Herkunft, werden von Heidegger kritisch analysiert. Gleichwohl steht am Ende ein zwar theoriebegründendes Handeln, das aber bewußt praktisch orientierungslos konzipiert ist.32

32

Überlegungen von Sein und Zeit. Soweit bisher bekannt, gibt es zwischen diesen Aufsätzen und den ersten Fassungen des Kunstwerk-Aufsatzes (1935) keine philosophischen (sondern nur „politische") Schriften Heideggers. Damit rückt die Handlungskonzeption von Sein und Zeit zeitlich viel dichter an die Ereignisse von 1933/34 heran, als es das Erscheinungsdatum von Sein und Zeit (1927) zunächst nahelegt. Eine genaue Untersuchung des Verhältnisses von Wahrheitsbegriff und Freiheitsbegriff in den Schriften nach Sein und Zeit und im Ubergang zur Kehre findet sich bei E. Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 3 8 2 - 3 8 7 . Insbesondere mußte den philosophisch Gebildeten der im ganzen an Kant angelehnte Duktus irritieren, weil schließlich, anders als bei Kant, ein intersubjektiv ausgerichtetes Verständnis von Moralität nicht erreicht wird. Der Freiburger Strafrechtstheoretiker E. Wolf, der schon aus seiner Fachperspektive heraus an der Begründungsfrage der Ethik besonders interessiert war, notierte daher mit Verwunderung

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Dasein und Handeln

Mit Blick auf die politische Philosophie ist besonders folgenreich, daß Heidegger nicht nur keine Grundlage für eine Theorie der politischen Institutionen vorgelegt hat, sondern daß es für eine solche keinen Ansatz gibt. Eine philosophisch fundierte Institutionslehre könnte sich ja nur in Weiterentwicklung der moralischen Beziehungen zwischen Subjekten (sozusagen in Entfaltung der Kleingruppen-Perspektive) ergeben. Nun spielt die Bezugnahme auf das andere Selbst für die Konstitution der Moralität bei Heidegger keine wesentliche Rolle. Die „Anderen" sind kontingente Gehalte des aufgrund der Entschlossenheit möglichen Entschlusses. Dieser Entschluß kann ohne Schaden für die Entschlossenheit auch unterbleiben: Ein Entschluß zum moralischen Einzelgängertum ist nach der Konzeption von Sein und Zeit nicht zu beanstanden. Dies hat zur Folge, daß Institutionen nur unter dem Aspekt der Beliebigkeit betrachtet werden können. Nimmt man Heideggers Charakterisierung des Begriffs der Öffentlichkeit im Rahmen der Analyse der Durchschnittlichkeit (SZ § 37) — entgegen den ausdrücklichen Anweisungen Heideggers, aber doch aufgrund einer gewissen Suggestivität des Textes — als Teile einer Kulturkritik, dann konnte das Fehlen eines positiven Institutionenbegriffs durchaus von den Zeitgenossen Heideggers als Anstoß zur Verachtung politischer Institutionen gelesen werden. 33 Grundsätzlich hat Heideggers philosophische Konzeption des Handelns keine politischen und politiktheoretischen Affinitäten. Die Philosophie von Sein und Zeit kann sich daher prinzipiell mit jeder politi-

33

Heideggers unklare Antwort auf seine Frage nach dem Primat der praktischen Philosophie (zitiert bei A. Hollerbach: ,1m Schatten des Jahres 1933', 37 f.). Diese Notiz Wolfs ist ein guter Beleg dafür, daß die normative Indifferenz der Heideggerschen Überlegungen von Zeitgenossen durchaus zur politischen Desorientierung führen konnte. Auf diesen Aspekt macht besonders G. Schmidt: .Heideggers philosophische Politik' aufmerksam.

Die Konzeption des Handelns

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sehen Theorie verbinden lassen.34 Mit Blick auf die Geschichte der praktischen Philosophie der Neuzeit, insbesondere der Tradition, die von Kant ausgehend bis ins zwanzigste Jahrhundert reicht, ist es jedoch schwerwiegend, daß sich aus der Handlungskonzeption von Sein und Zeit kein möglicher Zugang zu den philosophischen Grundlagen republikanischdemokratischen Politikverständnisses ergibt. 35 Heideggers Philosophie konnte daher kein Deich sein, um zu verhindern, daß die Errungenschaften demokratischen Denkens durch die Sturmflut eines obskuren Nationalismus weggespült wurden.

34

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H. Marcuse hat bekanntlich aus der Philosophie von Sein und Zeit Anregungen aufgenommen, die ihn zu einem Reformulierungsversuch des Marxismus führen. J. Habermas nennt Marcuse gelegentlich einen „Heideggermarxisten" (J. Habermas: ,Zur philosophischen Diskussion', 330, Anm. 1 — dort auch die Textbelege). Max Müller spricht rückblickend bezüglich Heideggers persönlicher Auffassung von einer „ antidemokratischen' Einstellung" (M. Müller: .Gespräch', 20).

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Nachweise 1. .Heidegger und die Phänomenologie', erschienen unter dem Titel,Martin Heidegger' in: Norbert Hoerster [Hrsg.]: Klassiker des philosophischen Denkens. Band 2. München 51992, 2 7 4 - 3 1 6 . 2. ,Die Möglichkeit der Seinsfrage in einer operativen Sprachtheorie', erschienen unter dem Titel ,Die Möglichkeit der Seinsfrage in einer operativen Sprachtheorie. Zu W. Kamiah—P. Lorenzen: Logische Propädeutik* in: Zeitschrift für Katholische Theologie 91 (1969) 5 5 4 - 5 6 6 . 3. ,Das Sein des Daseins als Sorge und die Subjektivität des Subjekts', erschienen unter dem Titel .Heideggers These vom Sein des Daseins als Sorge und die Frage nach der Subjektivität des Subjekts' in: Zeitschrift für Katholische Theologie 92 (1970) 4 2 5 - 4 5 3 . 4. ,Zum Wahrheitsbegriff, erschienen unter dem Titel ,Zu Heideggers Wahrheitsbegriff in: Kant-Studien 65 (1974) 1 8 6 - 2 0 0 . 5. ,Die Wahrheitskonzeption in den Marburger Vorlesungen', erschienen unter dem Titel .Heideggers Wahrheitskonzeption in seinen Marburger Vorlesungen. Zur Vorgeschichte von Sein und Zeit (§ 44)' in: Forum für Philosophie Bad Homburg [Hrsg.]: Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten. Frankfurt a. M. 1989, 1 0 1 - 1 3 0 . 6. .Der existenziale Begriff der Wissenschaft. Zu Sein und Zeit, § 69 b', erschienen in: C. F. Gethmann [Hrsg.]: Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie. Bonn 1991,181 —208. Der Aufsatz geht zurück auf einen Vortrag anläßlich der 16. Heidegger Conference an der Loyola University of Chicago (1982). Einleitung und § 1 sind auf japanisch erschienen in der Zeitschrift Riso 1 (1085) 9 0 - 9 9 . 7. ,Das Realitätsproblem: ein Skandal der Philosophie?', erschienen unter dem Titel ,Das Realitätsproblem: Ein Skandal der Philosophie? Überlegungen im Anschluß an § 43 von Sein und Zeit' in: A. Gethmann-Siefert [Hrsg.]: Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1988, 4 5 - 7 9 . 8. ,Philosophie als Vollzug und als Begriff, erschienen unter dem Titel .Philosophie als Vollzug und als Begriff. Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/22 und ihr Verhältnis zu Sein und Zeit in: Dilthej-Jahrhuch 4 (1986/87) 27 - 53. Der

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Nachweise

Aufsatz geht zurück auf einen Vortrag anläßlich eines Symposions „Faktizität und Geschichtlichkeit" in Bochum (1985). 9. ,Die Konzeption des Handelns in Sein und Zeit', erschienen unter dem Titel,Heideggers Konzeption des Handelns in Sein und Zeit' in: A. Gethmann-Siefert/O. Pöggeler [Hrsg.]: Heidegger und die praktische Philosophie. Frankfurt a. M. 1988, 140-176.

Personenregister Albert, Η. 115 Apel, K.-O. 71, 171, 203, 286 Aristoteles 5, 8, 10, 37, 57 f., 59, 64, 120, 149 ff., 162, 165, 196, 198, 226, 292, 294, 305 Augustinus 5 Bacon, F. 97 Ballauff, Th. 3 Becker, O. 139, 143,144, 248 f., 256 Biemel, W. 104 Bins wanger, L. 3, 77 Bollnow, O. F. 77, 83 Bolzano, Β. 150 Braig, C. 4 Brand, G. 116 Brelage, M. 71, 171 Brentano, F. 4, 10, 149, 218, 273 Bröcker, W. 247, 256 Bröcker-Oltmanns, K. 247, 256 Brouwer, L. E. J. 144, 202 Bultmann, R. 3 Buytendijk, F. J. J. 3 Carnap, R. 137, 207 Casper, Β. 256 Cassirer, Ε. 253 Coreth, Ε. 51, 62, 64, 71, 94, 98, 101, 123, 171 Cramer, W. 236 Czapiewski, W. 64

Descartes, R. 8, 18, 24, 96 ff., 145, 178, 210,221,224 Dewey, J. 189 Diemer, A. 171 Dilthey, W. 5, 47, 65, 173, 195, 212-221, 226f., 293 Dingler, H. 202, 243 Dummett, M. 137 Erdmann, J. E. 145 Fahrenbach, H. 317 Fichte, J. G. 98-102,105,106,197, 269 Fellesdal, D. 137,172,178,205, 217 Franzen, W. 4 Frege, G. 137, 273 f. Gadamer, H.-G. 39, 51, 78, 140, 189,249 f., 254 f., 256,257,274, 279 Galilei, G. 46, 97 Gebsattel, V. E. v. 3 Gentzen, G. 202 Gethmann-Siefert, Α. VIII Habermas, J. 111, 321 Hartmann, K. 190 Hartmann, N. 205, 215 f. Hegel, G. W. F. 10, 98 Held, K. 17, 18, 23, 178 Henrich, D. 101, 102

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Personenregister

Herrmann, F. W. ν. 255 Hölderlin, F. 6 Hogemann, F. 171, 255, 261 Hollerbach, A. 283, 320 Horkheimer, M. 256 Huch, K. J. 97 Husserl, Ε. VII, 5, 1 1 - 1 4 , 1 6 - 4 7 , 77, 1 0 3 - 1 0 9 , 1 1 5 - 1 2 7 , 137, 140, 141, 1 4 2 - 1 6 1 , 165, 171, 172, 173 f., 178-185, 191, 193, 194-201, 205, 217-219, 2 2 2 - 2 2 4 , 226, 249, 262, 265, 273 f., 287, 290, 292, 293, 294, 303 Ingarden, R. 25, 35, 107 Jaeger, P. 14, 22 James, W. 189 Jamme, Ch. 171, 255 Janich, P. 204, 236 Jonas, H. 256 Kambartel, F. 202 Kamiah, W. 47 f., 51, 52, 54, 57 f., 61 ff., 69, 118, 140, 202, 203, 205, 228 Kant, I. 8, 10, 11, 12, 51, 56, 62, 64, 70, 98 f., 100, 102, 130, 211, 221, 249, 279, 303, 305 ff., 311, 315 f., 319, 321 Kaufmann, F. 256 Kepler, J. 97 Kierkegaard, S. 5 Kisiel, Th. 176, 193, 251, 255 König, J. 257 Krings, H. 236 Krüger, G. 140 Landgrebe, L. 71, 143, 144, 223 Lask, E. 11, 189, 274 Leibniz, G.W. 115 Lessing, H.-U. 257 Lipps, Th. 145

Löwith, K. 140, 256 Lohmann, J. 3 Lorenz, K. 51, 52, 61, 172, 203 Lorenzen, P. 47 f., 51, 55 f., 65, 66, 118, 202 f., 205, 228 Lötz, J. B. 64, 123 Lotze, R. H. 148 f., 164 Lukäcs, G. 274 Luther, M. 5 Mach, E. 223 Mally, E. 218 Marcuse, H. 321 Martin, B. 283 Martin, G. 256 Marx, K. 189 Mill, J. S. 145 Misch, G. 140 Mittelstraß, J. VI 51, 52, 61, 172, 203, 228 Mohanty, J. N. 137 Müller, M. 283, 321 Natorp, P. 257 Newton, I. 46, 97 Nietzsche, F. 6, 189 Noack, H. 256 Oehler, K. 274, 286 Ott, H. 281, 282 Parmenides 57 Paulus 5 Peirce, C. S. 273 f. Piaton 6, 57, 146, 147 ff., 207, 249, 311 Pöggeler, O. 71, 77, 135, 139, 247 ff., 250, 254 f., 257, 282 Popper, K. R. 115 Prauss, G. 289, 293, 298, 307 Pugliese, O. 95 Putnam, Η. 137

Personenregister Quine, W. V. O. 137 Rahner, K. 3, 112 Reiner, H. 256 Richardson, W. J. 176 Richter, V. 56 Rickert, H. 4, 11 Ritter, J. 256 Rodi, F. 254 Rorty, R. 189, 286 Ryle, G. 274 Sartre, J. P. 301 Schacht, R. 172 Scheler, M. 5, 173, 212, 215 f., 315 Schelling, F. W. 304 Schmidt, G. 320 Schneider, A. 4 Schramm, G. 283 Schulz, W. 71, 97, 110, 304 Schwemmer, O. 204

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Seigfried, H. 175, 202 Sigwart, Ch. 145 Sitter, B. 317, 318 Staiger, E. 3 Stegmüller, W. 51 Tarski, A. 116, 137 Theunissen, M. 172 Thomas von Aquin 122, 159 Thurneysen, E. 254 Tillich, P. 3 Trendelenburg, F. A. 10 Tugendhat, E. 115-136, 137f., 140 f., 151, 154 f., 158-161, 163, 165, 172, 319 Waldenfels, B. 23 Wittgenstein, L. 265, 274 Wolf, E. 283, 319, 320 Wundt, W. 145

Sachregister Αλήθεια 123 öv η δν 58, 60, 64 Abstraktor 54 f., 63 Achtung 306 f. Adäquation 155 Akt 120, 141, 149 f., 218 Allgemeines, genetisches 146 f. Allgemeinheit 146 —, transzendentale 76 Alltäglichkeit 73 Als, Ais-Struktur 58 ff., 61 f., 101, 120, 129, 132, 152, 154, 200, 292 —, apophantisches 59, 60 f., 152, 154, 158, 161, 196, 198, 222, 226, 292, 294 —, hermeneutisches 59, 60 f., 106, 152, 154, 157, 161, 165 f., 168, 196, 198, 222, 226, 292 f. Analyse, phänomenologische 121 Analytik, existenziale 71, 84, 88, 92 f., 260, 279 Anfang 66 f., 102 Angst 14, 77, 82, 84, 86, 317 Anruf 309 Anschauen, Anschauung 150—153 Anschauungs Wahrheit 150 An-sich-sein 107, 220 ff., 226 Anthropologie 14, 92, 103 Anti-Psychologismus 141 ff. Anwesen, Anwesenheit 146, 149, 164

Anzeigen, Anzeige 270 f. Apriori 71, 83, 106 —, formales 81 —, transzendentales 125 Apriorität, Apriorismus 76, 84 f. Aristotelismus 5 Aufdringlichkeit 43, 188 f., 220, 298 Auffallen, Auffälligkeit 43, 188 f., 220, 298 Aufklärung 59 Aufruf 309 f. Aufsässigkeit 43, 188 f., 220, 298 Außenwelt 178, 2 1 1 - 2 1 5 , 220 Ausgrenzung 191 Auslegen, Auslegung 60, 67, 68, 129,152 f., 154,159,165,197 f., 200 f., 217, 222 f., 225 f., 263, 268, 271, 291, 2 9 3 - 2 9 5 , 298 Aussage 52ff., 61, 1 1 8 - 1 2 2 , 129, 1 5 1 - 1 6 4 , 197 f., 225 f., 291, 294 f., 297 — in specie 131 f. Aussagefalschheit 152,162,164,167 Aussagewahrheit (s. a. Satzwahrheit) 1 1 5 - 1 6 8 Ausweisung 118 f., 134 f., 1 5 0 - 1 6 8 Ausweisungssprachspiel 160 Autonomismus 300, 303 Bedeutung 54, 196, 241, 2 6 4 - 2 6 7 , 272, 274, 278 Bedürftigkeit, transzendentale 80 f.

Sachregister Befindlichkeit 93 Begriff 54 Begriffsbildung (s. a. Terminologie) 261

Begründung 66, 72, 115 —, dialogische 56 —, ontologische 96 Begründungsverfahren, deduktives 115 Behauptung 54 Beobachten 236 Besonderes 146 f. Besorgen 77, 79, 93, 153, 181 f., 186 ff., 195, 200, 205, 220, 292, 296 Beständigkeit 146 Bewährung 118 f., 134, 150, 155 Bewandtnis 82, 305 Bewandtnisganzheit 199 Bewußtsein 105 ff. —, kritisches 134, 136 reines 173 f., 202f., 205 —, Satz vom 266, 274 Bewußtseinsphilosophie 286 f. Bezugssinn 272 Cartesianismus 266, 274, 287 Dasein 14,15, 28, 29, 33, 38, 64, 68, 7 0 - 9 7 , 1 0 5 - 1 1 0 , 120, 122, 125-131, 152, 163, 179, 208 f., 221, 258, 268, 278, 301, 304 f., 316 — s, Faktizität des 126 - s , Sein des 7 2 - 7 5 , 78, 82, 85f., 89, 91, 95, 103 f., 209 f. Daseinsanalyse 3 Definition, Definitionstheorie 53, 2 6 0 - 2 6 6 , 270 f. —, prinzipielle 265, 270 Denken 213, 222, 224 f. —, methodisches 202, 206 Destruktion 144, 208 f. Dezisionismus 318

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Dialektik 94, 95 Dienlichkeit 151 f., 157, 162, 219 Diesigkeit 274 f. Differen2, ontische 129 —, ontologische 8 Ding an sich 130 Ego s. Ich, Subjekt Eigenname 53, 54 Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit 86, 89, 301 ff., 308 Einführen, Einführung 240— 243 —, definitive 242 Einführungssituation 241 f. Einstellung, theoretische 185 Ekstase 80 Elementaraussage 54 Elementarsatz 154, 294 Empfinden, Empfindung 237—240 Endlichkeit 80 ff. Entdecken, Entdeckung, Entdeckend-sein, Entdecktheit 1 1 7 - 1 2 0 , 121 f., 127, 141, 1 5 0 - 1 5 8 , 165, 167 - , theoretisches 183, 195, 292 Entschlossenheit 82, 88 ff., 93 f., 288f., 3 1 3 - 3 2 1 Entstehung 183 Enttäuschung 167 Entwerfen, Entwurf, Entworfenes (s. a. Konstitution, Verstehen) 13, 32, 59, 89, 122, 131, 179, 304, 310 Erfahrung 214 —, vorprädikative 195 f., 200, 222 f., 292, 295 Erfassen 224 - , schlichtes 199 f. —, thematisches 220 Erfüllung, Erfüllungsintention 156, 157, 165, 167 Erkennen, Erkenntnis, Erkennbarkeit 17, 27, 64, 93, 97 f., 100, 103, 111, 116, 118 f., 123, 129,

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Sachregister

213, 217 f., 227, 287, 289 f., 294 f. Erkenntnis, historische 134 —, Metaphysik der 215 —, Naturalismus der 224 —, transzendentale 11, 70 - , wissenschaftliche 296 f., 299 Erkenntnistheorie 17, 98, 103, 137, 201,207,227, 237, 296 —, evolutionäre 160 —, naturalistische 222 f. —, realistische 215 Erklären 195 Erlanger Schule 202, 227 Erleben, Erlebnis 236, 295 Erscheinung 130 Erschließen, Erschlossenheit 67, 75, 93,122,124 ff., 129,152 f., 159, 162 f., 216, 225, 292 Erschlossenheit, ausgezeichnete 125 Ethik 204, 291, 314 Evidenz 123, 160 f., 225 Evolutionismus 274 Existenzial 61, 79, 82, 125, 210 f., 257, 260, 267, 277 f., 316 Existenz, Existierendes, Existenzialität 59, 81, 83, 86, 106, 122, 125, 128, 258, 304, 305 Existenzphilosophie, Existenzialismus 3, 83 Faktizität 304 Falschheit 118, 126, 162, 165 —, Strukturbedingungen der 165 Faschismus s. Nationalsozialismus Form 39 Formalismus 315 Freiheit 112, 313, 317 f. Fundamentalontologie 8, 14 f., 21, 26, 29, 38, 40, 41, 4 6 - 4 8 , 69, 71,78,81,85, 8 8 - 9 7 , 1 0 3 , 1 0 5 , 135, 160, 175-182, 203, 218, 220, 225, 279, 302 Fundamentalphilosophie 69

Fundamentum inconcussum 97 Funktionalität 214 Fürsorge 78 Gebrauch 152 Gegebensein 120 Gegenstand, Gegenständlichkeit 58, 61, 63, 65, 120, 130, 296 —, empirischer 130 —, intentionaler 166 —, transzendentaler 130 Gegenstandsbezug 160 Gegen wärtigung 182 Gehalt 141, 148 Gehaltssinn 272 Geheiß des Seins 303 Geisteswissenschaften 3, 5, 195 f., 293 Geltung 134, 148 f. Genesis, existenziale 181 - , ontologische 180-196, 208, 217, 220, 226, 292, 297 f., 309 Genus 148 Geschichtlichkeit 51, 91, 128, 180 Geschick 149 — des Seins 40 Geschlechtlichkeit 109 Gesetz 306 f. Gewaltsamkeit 275 Gewinnregel 56 Gewissen 82, 87f., 3 0 7 - 3 1 0 , 316 — s, Aufforderung des 307 — s, Stimme des 309 Gewißheit 97, 111, 123 Geworfenheit 73, 304 Gleichförmigkeit 213 Gleichmäßigkeit 193 Gleichursprünglichkeit 277 Grund 71 Grundverfassung 74 Gott 57 Habitualitäten 107 Handeln, Handlung 116, 219, 224, 226, 2 2 7 - 2 4 0 , 2 8 1 - 3 2 3

Sachregister —, moralisches 311 - s , Umwillen des 300, 305 f., 307 Handlung, illokutionäre 310 Handlungsschema 53, 131 Hantieren 186 Hermeneutik (s. a. Philosophie, Hermeneutische) 59, 252 —, logische 66 Hinblick 118 Hoffnung 77 Homologie 54 Ich 2 6 - 3 2 , 35, 82, 9 9 - 1 0 3 , 144, 179,200, 223 f., 302, 311 —, transzendentales (s. a. Subjekt, transzendentales) 26, 35, 39, 108, 301 Ideales 146 Idealismus 143, 2 3 0 - 2 3 2 , 277 Idealität 118, 146 Identität 146 Identitätsphilosophie 267—272 Imperativ, kategorischer 306, 316 In-der-Welt-sein 16, 27, 32 f., 38, 70-97,122,179,181,190,201, 203, 216 f., 221, 268, 286 f., 292 - , alltägliches 14f., 93 f., 181, 304 —, eigentliches 15, 94, 181 - , zeitliches 15, 95, 181 Indikator 54 Induktion, vollständige 62 Institutionen 320 Instrumentalismus 153, 155, 189, 204, 221 Intention, Intentionales, Intentionalität 17, 22, 28, 41, 105, 107, 120,149 f., 157,165,173 f., 178, 180 f., 272, 274, 303 Interesse 224 Intersubjektivität 19, 20, 23, 25, 30, 161, 224, 316 Intuitionismus 137, 144 Junktor 55

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Kategorie 10, 82, 271, 275 f., 277 Kehre 6, 40, 95, 133, 135, 169, 249 Kennzeichnung 54 Können 289 Kognitivismus 218 Konstituieren, Konstitution, Konstituens, Konstitutum (s. a. Entwerfen) 13, 28, 3 2 - 4 0 , 42, 45, 47, 131, 144, 178 f., 183, 187, 204 f., 217, 237 Konstitution, lebensweltliche 203 - , transzendentale 29, 34, 109, 219 Konstruieren 237 Konstruktivismus (s. a. Wissenschaftstheorie, Konstruktive) 203 f., 227 Kontemplation 184 f. Konventionalismus 137 —, semantischer 266 Kritizismus 103 Leben 66, 213, 263 f., 267 f., 271 f., 278 — s, Grundkategorien des 257, 260 f., 268, 278 —s, Instrumentalismus des 215 — s, Unhintergehbarkeit 216 ff. Lebensphilosophie 3, 5, 47 Lebenswelt 27, 41 f. Lebenswelt-Pragmatismus 227, 272, 286, 299 Leerintention 156, 165 f. Leistung 205 Letztbegründung 115, 202 f. Lichtung 123 Liebe 77 linguistic turn 203 Literaturwissenschaft 3 Logik 52, 55, 66, 204, 218 —, effektive 56 —, Genealogie der 292 —, hermeneutische 66 —, klassische 56 Logizismus 12, 103, 106 f.

342

Sachregister

Man 30, 87, 161, 190, 200, 224, 302 f. Mathematik, Mathematisierung 45, 192 ff. Mensch 80 f., 83, 84, 87, 96 f., 108 f., 111 f., 129,135,159,162 f., 179, 197, 216, 278, 301 f., 304f., 312 Mentalismus 143, 203, 219, 272, 274 Metaphysik 6, 1 0 - 1 2 , 47, 58, 78, 82, 98, 104, 149, 194, 249 —, Grundlegung der 78 Methode, Methodik 14 ff., 21, 59, 69, 7 0 - 7 5 , 86 ff., 94, 95, 135, 177, 180, 216, 262 —, phänomenologische 16 ff. - , transzendentale 70, 77, 89, 94, 95 Mittel s. Zweck/Mittel —, definitives 242 Modifikation 182, 191 Möglichkeit 104 Moralität 310-321 Münchhausen-Trilemma 115 Nationalsozialismus 6 f., 281—284, 321 Naturgesetz 163 ff. Neukantianismus 11, 12, 172, 224, 277, 286 Neuscholastik 3, 123 Neutralismus 262 Nihilismus 6, 104 Noesis/Noema 272 Objekt 63, 97, 192, 298 Objektivität 1 7 - 2 0 , 24 f., 47 Offenbarkeit 128 Offenbarung 111 f. Okkasionalität 17 Ontologie 9 - 1 4 , 21, 34, 37, 46, 52, 5 6 - 6 5 , 69, 70, 75ff., 81 f., 84, 94, 98, 104, 108, 175, 177, 197, 204 f., 208 ff., 215 —, existenziale 80

- , regionale 19, 28, 44, 93, 160, 175, 177, 299 —, transzendentale 62, 105 —, universale/generelle/allgemeine 62, 104, 177, 299 Opazität 275 Operationalismus 51, 65 —, semantischer 264 Orientierung 228, 233 Orthosprache 204 Pädagogik 3 Phänomen 120, 272 Phänomenologie 3, 4, 5, 11, 13, 16, 20, 22, 26, 29, 31, 34, 39 f., 41, 107, 115, 126, 145, 148 f., 171, 172 f., 177-180, 183, 190, 195, 204, 206, 228, 266, 271, 273, 286 —, hermeneutische 144 —, ontologische 259 —, transzendentale 34, 104 —, zweite Ausbildung der, zweite Ausarbeitung der 145, 171, 172, 178 f., 204 f., 266 Philosophie 6, 24, 40, 51, 52, 65 f., 69, 70, 76, 97, 102, 116, 131, 134 f., 177, 180, 207, 211, 218, 258-271, 275 f., 286, 291, 299, 301, 303 —, analytische 51, 116 —, Hermeneutische, Hermeneutik (s. a. Hermeneutik) 3, 39, 60 f., 65 f., 103, 171, 195 - , politische 285, 320 - , praktische 285, 291, 299, 321 - , theoretische 137, 177, 207, 299 —, transzendentale 314 Philosophie der Logik 137, 143 Physik 45 f., 204 Prädikation, Prädizieren 52 f., 61, 63, 65, 160, 197, 199 f., 222, 229, 232, 239, 263 f., 295 Prädikationsanalyse 196

Sachregister Prädikationstheorie 197 f., 226, 228 Prädikator 52 f., 54, 63, 65,147, 229 Prädikatorenregel 54, 62, 147 Präskriptivität 314 Präskriptivismus 205 Pragmatik 148, 205 Pragmatismus 137, 151, 157, 158, 189, 219, 2 7 2 - 2 7 7 , 285 f., 2 9 2 - 2 9 5 , 296, 299 f. —, kulturalistischer 240 —, theoretischer 319 Praxis 2 8 8 - 2 9 1 , 296 Privation 190 f., 296 Privatsprache, Privatsprachen-Argument 231, 295 Psychiatrie 3 Psychisches 149 Psychoanalyse 103 Psychologie 3, 103, 145 Psychologismus 12, 103, 106 f., 141-146 —, naturalistischer 240 Quantor, Quantorenlogik 55 Räumlichkeit 93 Reales 146, 231 Realismus 2 3 0 - 2 3 2 —, semantischer 265 Realität 99, 107, 118, 213 f., 217, 221 f., 225 ff. Realitätsbewußtsein 222, 225 f. Realitätsproblem 207—243 Rede 93 Reduktion 68, 95 —, phänomenologische 20, 23— 31, 32, 35, 43 —, transzendentale 27, 107 f. Rekonstruktion 69, 203 f., 205 —, methodische 66 Relativismus 273 Religionsphilosophie 110, 112 Reluzenz 275

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Rezeption, Rezeptivität 223, 224 ff., 236, 239 Ruf 309 f., 314 Sachverhalt 54 f., 63, 164 Satzwahrheit (s. a. Aussagewahrheit) 148, 150 Schickung 40 Schuldigsein, Schuld 79, 311 ff. Seiendes 37, 38, 5 7 - 6 5 , 70, 72, 75, 89,105,109,120,125,127,129, 130 ff., 210, 220 —, innerweltlich 122 - n , Sein des 70, 72, 87, 92, 100, 105, 130, 132, 168, 278 —n, Selbstheit des 120 —n, Sichzeigen des 119 Sein 10, 34, 38, 61, 64, 74f., 80, 91, 94 f., 9 9 - 1 0 2 , 104 f., 122, 125 f., 128 f., 133, 135, 148 f., 211 —, Sinn von, Frage nach dem - , Seinsfrage 9 - 1 5 , 16, 22f., 26, 32, 37, 38, 5 1 - 6 9 , 7 0 - 9 7 , 103 f., 110, 122, 128, 135, 167, 173 f., 175 f., 180, 204 - , Wahrheit des 128 — zum Tode 15, 87 Sein-bei 71, 74 f., 79 Sein-in 57 Seinkönnen, eigentliches 301, 309 Seinsganzheit 74 Seinsgeschichte 40, 41, 92, 133, 135 Seinsverfassung 74 Seinsvergessenheit 149, 207 Seinsverständnis 106, 128 Selbigkeit 146 Selbstauslegung 82 Selbstausweisung 118 Selbstbewußtsein 101, 310 f. —, eigentliches 302 Selbstbezüglichkeit, Selbstbezogenheit 305, 314 Selbsterkenntnis 292

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Sachregister

Selbsterschlossenheit 122, 125 Selbstexplikation 301 Selbstgelichtetheit 125 Selbstinterpretation 211 Selbstkonstitution 36, 107 Selbstsein, eigentliches 303 Selbstsetzung 99, 110, 112 Sensualismus 237 f. Setzen, Setzung 36, 9 9 - 1 0 4 Sich-Setzen 304, 310 Sich-vorweg-sein 71, 73—75, 79 ff. Sinn 60, 88 f., 274 Skeptizismus 127 Solipsismus, methodischer 224, 316 f. Sonderwelt 204 Sorge 14 f., 32, 33, 38 f., 7 0 - 1 1 2 , 128, 181, 209, 258, 263, 267, 271 f., 277 ff., 303, 305 f., 310 Spezielles 146 Spezies 148 Spielregel 56 Sprache 51, 53 ff., 63, 66 f., 203 —, Beherrschen einer 241 Sprachkritik 51, 52 Sprachphilosophie 3, 51, 137 Sprachspielkonzeption 137 Sprachwissenschaft 3 Sprechakttheorie 137 Störung 186-189, 220 f., 229 f., 297 f., 309 —, kommunikative 229 —, kooperative 229 Strukturganzheit 74 Subjekt, Subjektivität 29, 30, 32, 34 - 40,62, 98, 100,102,106 f., 110, l l l f . , 125, 131, 212, 219, 221,225, 300, 301 f., 306, 310 —, absolutes 99 —, ideales 131 —, rezeptives 224 — s, Subjektivität des 36 f., 9 6 - 1 0 7 , 110, l l l f . , 210 Subjektphilosophie, Subjektivitätsphilosophie 303, 310

Subjekttheorie 32, 105 Subjektivität, empirische 108 - , faktische 108f. —, transzendentale, transzendentales Subjekt 28, 34 f., 104, 105, 107 ff., 111, 131 Subsistenz 146 Substanzialität 141 Tathandlung 98, 101 Tatsache 54 f., 63 Tautologie 55, 58 Technik 104, 202 Terminologie, Terminologiebildung (s. a. Begriffsbildung) 33, 85, 275 f., 289, 304 Terminus 53 tertium non datur 56 Thematisierung 44 f., 69, 191-194, 297 f. Theologie 3 Theorie 204, 2 8 8 - 2 9 1 , 296 Tod 82, 86 ff., 302 —e, Freiheit zum 87 Tod Gottes 104 Transokkasionalität 1 8 - 2 0 , 24, 47, 178 Transzendentalien, Transzendentalienlehre 64 Transzendentalphilosophie 24, 51, 71, 79, 85, 98, 106, 115, 133, 161 Transzendenz, Transzendentalität 11,12,18, 71,80, 93, 98,109 f., 112, 130, 133, 314 Trieb 219 Tun 234 Übereinstimmung 118 f., 121, 123 f., 142, 156 Überlegung 185 ff., 297 Übersicht 185, 297 Umgang 2 8 7 - 2 9 1 , 293 - , umsichtiger 153, 200, 219, 224, 285, 292, 294, 300, 302, 309

Sachregister Umschlag 182, 191 Umsicht 162, 181, 183, 227, 2 8 8 - 2 9 1 , 297 Umwelt 220 Unbestimmtheit 315 Uneigentlichkeit s. Eigentlichkeit/ Uneigentlichkeit Unendliches 55 Unhintergehbarkeit 66 Universalität 122, 146 Unmittelbarkeit, vorkritische 116 Unterscheiden, Unterscheidung 2 2 8 - 2 3 1 , 233, 2 4 0 - 2 4 3 Un Verborgenheit 123 Unverfügbarkeit 38 Ursächlichkeit 213 Urteilen, Urteil 152, 224 Urteilsgehalt 141 f., 146 f. Urteilsvollzug 141 f., 146 f. Urteilstheorie 59, 292 Verantwortlichkeit, kritische 116 Verbindlichkeit 299 f. Verdecken, Verdeckung, Verdekkend-sein 126, 167 Verfallen, Verfallenheit 73, 93, 126, 210, 258 Verfassungsganzheit 74 Verfehlen 166 Verfügbarkeit 146 Vergegenständlichung 43, 45, 184-187, 191, 192 Verhalten 234 —, theoretisches 181 Verifizierung, Verifikation, Verifizierbarkeit 54, 111, 123 Veritas transzendentalis (s. a. Wahrheit, transzendentale) 122, 125 ff., 133, 159, 165 Verläßlichkeit 229 ff. Verlorenheit 308 Verpflichtung 300 Verschlossenheit 126 Verständlichkeit 229 ff., 240

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Verstehen 59 f., 66, 68 f., 86, 93, 152 ff., 195, 197, 225, 268, 292 f., 304 Verweisung 188, 194, 220 Verwiesenheit 80 f., 106, 112 —, transzendentale 112 Vollzug 148 Vollzugssinn 272 Vorgang 234 Vorgriff 86 Vorhabe 86 Vorhandenheit, Vorhandenes, Vorhandensein 28, 30, 44, 60, 73, 86, 182 ff., 1 8 8 - 1 9 1 , 198, 210 f., 217, 220 ff., 226, 296 Vorlaufen 82, 88 Vorsicht 86 Wahrheit 54, 55, 115-136, 1 3 7 - 1 6 8 , 176, 204, 209 —, Geschichtlichkeit der 128, 133 —, Kohärenztheorie der 167 —, Konsenstheorie der 160, 167 —, ontologische 124 ff., 133 —, phänomenologische 125 —, transzendentale (s.a. veritas transzendentalis) 121 ff., 125, 127 f., 130 —, transzendental-ontologische 125 f. Wahrheitskriterium 151, 157 f. Wahrheitsmodell, operationales 156 f., 163 f. —, propositionales 156 f., 158, 163 Wahrheitsprätention 148, 155, 160 Wahrheitstafel 55 Wahrheitstheorie 117, 137, 158 Wahrnehmen, Wahrnehmung 119, 195, 200 f., 2 2 2 - 2 2 5 , 227, 2 3 3 - 2 4 0 , 293, 295 Weg 73 Welt, Weltlichkeit 20, 26, 2 7 - 3 2 , 4 0 - 4 2 , 53, 57,63, 70,105,122, 144, 159, 163, 179, 182, 200, 204, 209, 217, 258, 287

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Sachregister

Weltanschauung 262 f. Welterschlossenheit 122 Werkwelt 186, 188, 195, 200, 289, 298 Wesen 19, 99 Widerständigkeit, Widerstandserfahrung 213, 215, 216 Wiederholbarkeit 213 Wiederholen, Wiederholung 9 1 - 9 4 , 181 Wille 219 Wirklichkeit 54, 65, 70, 85,111,148 Wissen 97, 123, 188, 203 f., 285, 289, 294 Wissenschaft, Wissenschaftlichkeit 24f., 31, 4 2 - 4 8 , 51, 55, 62, 63, 93, 97, 1 6 9 - 2 0 6 , 297 f. —, existenzialer Begriff von 176, 180, 182, 296 —, logischer Begriff von 176, 194 Wissenschaftsbegründung, -fundierung 41, 46, 52, 175, 180 Wissenschaftskritik 194 Wissenschaftstheorie 47, 176 f., 194 - , analytische 204, 206 —, existenziale 182

Konstruktive VII, 2 0 1 - 2 0 6 —, phänomenologische 178, 202 Zählbarkeit 193 Zeigehandlung 54 Zeit, Zeitlichkeit 15, 32, 38 f., 85, 88ff., 9 2 - 9 5 , 109, 181 Zeug 43, 47, 184, 186 ff., 190, 194, 219, 289 f. Zirkel, Zirkelhaftigkeit 60, 65, 95 f., 161 —, hermeneutischer 65—69 Zuhandenes, Zuhandenheit 43 f., 60, 182ff., 1 8 7 - 1 9 0 , 198, 200, 210 f., 217, 219 f., 222, 226, 296 Zusprechen/Absprechen (s. a. Prädikation) 263 Zweck/Mittel 235 f., 239, 240, 242, 295, 305 f., 307 Zweck, definitiver 242 Zweck an sich selbst 305 f. Zweckhaftigkeit 289 Zweckrationalität, definitive 242 Zweck-Mittel-Organisation 217, 225 f., 288, 291 f., 297 Zweifel 108