Poetologie des postsouveränen Subjekts: Die Romane Gila Lustigers im Kontext von Judith Butlers Ethik 9783839445945

Thinking the possible: Negotiations of the subject in the context of limited sovereignty and capacity for action in Judi

203 60 2MB

German Pages 262 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
Siglen
Danksagung
1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte
2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt
3. Charakteristika der Romane Gila Lustigers
4. Abhängigkeit vom Anderen
5. Abhängigkeit von Normen
6. Undurchsichtigkeit des Selbst
7. Zur Poetologie des postsouveränen Subjekts
Literaturverzeichnis
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Poetologie des postsouveränen Subjekts: Die Romane Gila Lustigers im Kontext von Judith Butlers Ethik
 9783839445945

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Sahra Dornick Poetologie des postsouveränen Subjekts

Lettre

Für meine Mutter

Sahra Dornick ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Technischen Universität Berlin. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Feministischen Theorie, der Gegenwartsliteratur und der Hochschul- und Wissenschaftsforschung.

Sahra Dornick

Poetologie des postsouveränen Subjekts Die Romane Gila Lustigers im Kontext von Judith Butlers Ethik

Die Drucklegung des Werkes wurde unterstützt durch den Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort. Zugl.: Berlin, Technische Universität, Diss., 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »Expecting to Fly« – Fred Tomaselli, 2002. Image courtesy of the artist and James Cohan, New York Korrektorat: Eltje Böttcher, Laatzen Satz: Francisco Bragança, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4594-1 PDF-ISBN 978-3-8394-4594-5 https://doi.org/10.14361/9783839445945 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

»Falls die Geisteswissenschaften eine Zukunft als Kulturkritik haben, und die Kulturkritik zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Aufgabe hat, dann ist es zweifellos die Aufgabe, uns zum Menschlichen zurückzuführen, wo wir nicht erwarten, es zu finden: in seiner Fragilität und an den Grenzen seiner Fähigkeit, verständlich zu sein.« Judith Butler

Inhalt Siglen  | 11 Danksagung  | 13 1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte  | 17 1.1 Fragen an eine Poetologie des postsouveränen Subjekts | 20 1.2 Zur ethisch-politischen Bedeutung des Erzählens | 21 1.3 Forschungsstand | 23 1.3.1 Wissenschaftliche Rezeption der Romane Gila Lustigers | 23 1.3.2 Forschungsarbeiten zur deutsch-jüdischen Literatur der zweiten Generation | 25 1.3.3 Ethik als Interpretationshorizont | 28 1.3.4 Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik | 29 1.3.5 Postsouveränes Erzählen | 30 1.3.6 Forschungsdesiderate | 31 1.4 Methodologischer Rahmen und Methode | 32 1.4.1 Feministische und gender-orientierte Erzählforschung  | 34 1.4.2 Grundzüge feministischer Erzähltheorie | 40 1.5 Auf bau der Arbeit  | 41

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt  | 43 2.1 Das Postsouveräne als Deutungsrahmen und Denkfigur | 43 2.1.1 Im Dazwischen: Antigone | 46 2.1.2 ›Unwirkliches‹ Leben: Venus Xtravaganza, Guantanamo Bay | 48 2.1.3 Ausgesetzt-Sein an den Anderen: Moses | 49 2.1.4 Postsouveränität und Poetologie | 50 2.2 Zum Konzept des postsouveränen Subjekts | 53 2.2.1 Zur Konstitution des Subjekts | 53 2.2.2 Subjektivation durch ›Anrufung‹  | 56 2.2.3 Die psychische Dynamik der ›Umwendung‹ | 57 2.3 Zur Handlungsfähigkeit des postsouveränen Subjekts | 58 2.3.1 Realisierung und Resignifikation als Strategien der Kritik | 60

2.3.2 Postsouveränität und Kritik | 62 2.3.3 Kritik als ethische Haltung  | 63 2.4 Verantwortung als Realisierung der Grenzen des ›Ich‹ | 66 2.4.1 Moralische Unverfügbarkeit  | 66 2.4.2 Derealisierungen des ›Ich‹ | 67 2.5 Zur Analyse einer Poetologie des postsouveränen Subjekts | 70

3. Charakteristika der Romane Gila Lustigers  | 75 3.1 Die Bestandsaufnahme (1995) | 75 3.2 Aus einer schönen Welt (1997) | 77 3.3 So sind wir (2005) | 79 3.4 Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück (2008) | 81 3.5 Woran denkst du jetzt (2011) | 83

4. Abhängigkeit vom Anderen Sorgever flechtungen  | 85 4.1 Sorge und Fürsorge  | 86 4.2 Sorge in den Romanen Gila Lustigers | 89 4.2.1 Gefährdete Sorge  | 89 4.2.2 Dekonstruktion von Sorgepraxis | 98 4.2.3 Vom Sorgen nach dem Erleben von Extremsituationen | 104 4.2.4 Freundschaftliche Sorge | 113 4.2.5 Irrationale, interdependente und empfängliche Sorge | 118 4.3 Zwischenfazit | 125

5. Abhängigkeit von Normen Geschlecht  | 127 5.1 Die Macht der Norm | 127 5.1.1 Die ›inneren‹ Wächter_innen | 128 5.1.2 Die Grenzen der Normen: Geschlecht  | 130 5.2 Geschlechternormen in den Romanen Gila Lustigers | 136 5.2.1 Realisierung der normativen Konzeptualisierung von Geschlecht | 137 5.2.2 Überangepasste Idealtypen | 153 5.2.3 Anders ›weiblich‹ sein | 160 5.2.4 Lesbischer Gegenentwurf | 166 5.2.5 Affirmation heteronormativer Geschlechterarrangements | 173 5.3 Zwischenfazit | 178

6. Undurchsichtigkeit des Selbst Enteignetes ›Ich‹  | 181 6.1 Relationale Herkunft: Enteignetes ›Ich‹  | 182 6.1.1 Diskurs und ›Ich‹ | 183 6.1.2 Überschreitungen des ›Ich‹  | 185 6.1.3 Zur ethischen Bedeutung des Moments der Undurchsichtigkeit | 188 6.1.4 Das Moment der Undurchsichtigkeit im Kontext von Erinnerung, Gedächtnis und Trauma | 190 6.2 Enteignetes ›Ich‹ in den Romanen Gila Lustigers | 192 6.2.1 Verfehlte Anerkennung und gewaltvolle Ethik | 193 6.2.2 Ausgesetzt-Sein an den Anderen | 201 6.2.3 Neue Sehweisen | 208 6.2.4 Anerkennung des Anderen | 212 6.2.5 Kritik der politischen Repräsentation | 215 6.3 Zwischenfazit | 223

7. Zur Poetologie des postsouveränen Subjekts  | 227 7.1 Erzählweisen des postsouveränen Subjekts | 227 7.1.1 Postsouveräne Existenz in Gila Lustigers Romanen | 228 7.1.2 Katachrese und Metonymie als rhetorische Mittel der Resignifikation | 230 7.1.3 Hypotypose als rhetorisches Mittel der Realisierung | 231 7.1.4 Fragendes ›Ansehen‹ als Modus der Begegnung mit dem Anderen | 232 7.2 Literarische Realisierung als hypotypotische Subversion | 234 7.2.1 Das ›Erscheinen‹ des postsouveränen Subjekts | 235 7.2.2 Affirmation des Bruchs | 237

Literaturverzeichnis  | 241

Siglen

Werke: Gila Lustiger ASW

Lustiger, Gila. 1997. Aus einer schönen Welt. Berlin: Aufbau Verlag.

BEST

Lustiger, Gila. 1995. Die Bestandsaufnahme. Berlin: Aufbau Verlag.

HGa

Lustiger, Gila. 2008a. Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück. Berlin: Berlin Verlag.

HGb

Lustiger, Gila. 2008b. Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück. Berlin: Bloomsbury Verlag. (Kinderbuchausgabe)

SSW

Lustiger, Gila. 2005. So sind wir. Ein Familienroman. Berlin: Berlin Verlag.

WDDJ

Lustiger, Gila. 2011. Woran denkst du jetzt. Berlin: Bloomsbury Verlag.

Werke: Judith Butler

AS

Butler, Judith. 2012. Am Scheideweg. Judentum und die Kritik am Zionismus. Frankfurt/New York: Campus Verlag.

AV

Butler, Judith. 2001b. Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

FesL

Butler, Judith. 1993. Für ein sorgfältiges Lesen. In: Der Streit um Differenz, hg. von Seyla Benhabib. Frankfurt am Main: Fischer, 122-132.

GL

Butler, Judith. 2005. Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

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Poetologie des postsouveränen Subjekts

Hsp

Butler, Judith. 2006. Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

KeG

Butler, Judith. 2001a. Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

KVBuSP

Butler, Judith. 2014. Körperliche Verletzbarkeit, Bündnisse und Street Politics. In: Exodus. Leben jenseits von Staat und Konsum. West End. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1/2014, 3-24.

KvG

Butler, Judith. 1997. Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

MdE

Butler, Judith, und Athena Athanasiou. 2014. Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen. Zürich/Berlin: diaphanes.

MdG

Butler, Judith. 2009. Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

PdM

Butler, Judith. 2001c. Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

UdG

Butler, Judith. 1991. Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

WiK

Butler, Judith. 2002. Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2), 249-265.

Danksagung

Im Deutschen wie im Englischen liegen die Worte Dank und Gedanke nah beieinander. Paradoxerweise verdanken sich unsere Gedanken immer dem anderen. Erst das Aufsprengen des abgezirkelten ›ich bin ich‹ bringt ein ›Ich‹ in Abgrenzung von einem anderen hervor. Es ist diese Begrenzung, die neue Identifikationen ermöglicht und das ›Ich‹ um das andere erweitert. In diesem Sinne steht der folgende Text in einer Tradition all dessen, was mir auf meinem Weg begegnet ist. In einem zweiten Sinn existiert diese Studie nur aufgrund vieler anderer Menschen, die mein Lesen, Schreiben, Nachdenken angeregt und auch ganz konkret durch ihre eigene Arbeit ermöglicht haben. Zunächst möchte ich mich bei der Landesgraduiertenförderung des Landes Brandenburg für die Gewährung eines Promotionsstipendiums und der Graduate School der Universität Potsdam (PoGS) für ihre finanzielle Unterstützung bei der Erstellung der Dissertation sowie dem VG Wort-Förderungsfonds für die Übernahme der Veröffentlichungskosten bedanken. Darüber hinaus danke ich Judith Butler und Gila Lustiger herzlich, dass sie sich Ende April 2018 die Zeit für ein längeres Gespräch mit Sabine Hark und mir genommen haben, in dem wir unsere Gedanken über das postsouveräne Subjekt, die Voraussetzungen seines poetologischen Erscheinens und sein transformatives Potenzial austauschen konnten.1 Dieser Austausch war für mich sowohl auf- als auch anregend. Führte er doch vor Augen, dass die Figur des postsouveränen Subjekts für ein feministisches Nachdenken über neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders äußerst fruchtbar sein kann, weil sich ›von ihr aus‹, ›um sie herum‹ oder auch ›durch sie hindurch‹ viele angrenzende Fragen und Themengebiete aus ›menschlicher‹ Perspektive neu erschließen lassen. Meinen beiden Betreuer_innen Sabine Hark und Helmut Peitsch gebührt mein Dank aus vielen Gründen. Ich hatte das große Glück, mit ihnen zwei 1 | Ich danke Aline Oloff herzlich für ihre Beharrlichkeit, mit der sie die Idee des Gespräches gegenüber Sabine Hark und mir verfolgt hat. Das Gespräch Welten (anders) imaginieren ist in den feministischen studien erschienen (vgl. Dornick/Hark 2018).

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inspirierende Personen an meiner Seite zu haben, die mich großzügig und wann immer nötig unterstützten, unabhängig davon, wie voll ihre Terminpläne auch waren. Sie haben mir die Möglichkeit eröffnet, in anregenden und wohlwollenden wissenschaftlichen Umfeldern in größtmöglicher Freiheit an meinem Dissertationsprojekt zu arbeiten. Sabines intellektuelle Kreativität, ihr Geschick, unüberwindbare Schwierigkeiten in einem neuen Licht als lösbare Probleme erscheinen zu lassen, sowie ihr Vertrauen in meine Ideen und Fähigkeiten leisteten wertvolle Hilfestellung und waren von mir sehr geschätzter und liebgewonnener Beistand. In Helmut Peitsch fand ich einen Betreuer, der meine Ideen immer begeistert aufnahm und sofort kritisch durchleuchtete. Mit seiner genauen Kenntnis des bundesrepublikanischen Diskurses der literarischen Vergangenheitsbewältigung war er der ideale Partner dafür, mein zunächst eher unartikuliertes Unbehagen an manchen Topoi der Sekundärliteratur zur deutsch-jüdischen Literatur der Zweiten Generation in die richtigen Worte zu fassen. Sein kritischer Scharfsinn und seine sorgsame Arbeitsweise waren mir Vorbild, Messlatte und Ansporn zugleich. Ein großes Dankeschön geht an die Teilnehmer_innen des interdisziplinären Forschungscolloquiums am ZIFG der TU Berlin, vor allem an Käthe von Bose, Judith Coffey, Thomas Gloy, Inka Greusing, Anna Kasten, Mike Laufenberg, Hanna Meißner, Anna-Katharina Meßmer, Aline Oloff, Anja Rozwandowicz und Pat Treusch. Der respektvolle und immer engagierte sowie hilfreiche Austausch hat mir vielfach die Gelegenheit gegeben, die methodologischen Herausforderungen interdisziplinären Arbeitens zu thematisieren und zu diskutieren. Darüber hinaus boten mir die Diskussionen die einzigartige Möglichkeit, mich innerhalb eines Wissenschaftskollektivs zu verorten, das zum Ziel hatte, Bedingungen kritischer Wissenschaft zu reflektieren und Möglichkeiten für eine solche gemeinsam zu etablieren. Ich danke Judith Coffey, Katharina Henke, Christoph Kapp, Hanna Meißner und Thomas Ruhland, die Teile der Dissertation zu verschiedenen Zeiten gelesen und kommentiert haben. Ihre Anmerkungen und Einwände haben mir dabei geholfen, die Fragestellungen zu präzisieren, die Literaturanalysen in einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu stellen und den Punkt, auf den die Arbeit hinstreben soll, in den Fokus zu bekommen. Laines Rumpff danke ich dafür, dass er das Layout für die Dissertationsfassung übernommen hat sowie für sein geduldiges und immer entgegenkommendes Einarbeiten letzter, allerletzter und allerallerletzter Korrekturen. An Daniela Heitzmann ergeht ein herzliches Dankeschön für ihren Rückhalt bei der Vorbereitung auf die Disputation und für Korrekturen an Teilen des Manuskripts für den Verlag. Ein großes Danke auch an alle, die mich während der Arbeit an meiner Dissertation begleitet, mich auf unterschiedlichste Weisen inspiriert, motiviert und unterstützt haben; die an meiner Begeisterung, Leidenschaft und

Danksagung

den Zweifeln teilnahmen, sich für das Thema interessierten oder einfach nur zuhörten. Besonders danke ich Achim, Anna, Anni, Daniela, Hühnchen, Inka, Judith, Katha, Katrin, Laines, Matthias, Meggi, Silvia, Sören und Stefan. Ich danke Heinrich Distler für seine langjährige Freundschaft und die großzügige Partnerschaft, die es mir erlaubt hat, meine Interessen weiträumig und oft einsiedlerisch zu verfolgen. Er hat mit unfehlbarem Blick Texte korrigiert, Vorträge kommentiert, Literaturverzeichnisse überprüft und Datenverluste verhindert. Liebevoll hat er sich der Betreuung unserer Tochter gewidmet, Lieblingsgerichte vorbereitet, den Haushalt organisiert, an Geburtstage, Rückrufe, Rechnungen erinnert und den Kontakt zur Welt aufrechterhalten. Helene, du erhellst mir jeden Tag – danke! Schließlich danke ich Roswitha und Frank Dornick für ihre immerwährende Bereitschaft, mich auf meinem Weg zu unterstützen.

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1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

Freundinnen und Freunde, die einander beistehen, füreinander sorgen. Sich brauchen. Zwei Schwestern, die gemeinsam mit ihrer Mutter den sterbenden Onkel pflegen. Eine Tochter, die ihren Vater ausspioniert, ihn als Anwesenden begehrt und als Abwesenden verzweifelt vermisst. Eine Frau, die sich mit ihrer Rolle als Mutter nur widerstrebend identifizieren kann. Jüdische, homosexuelle, sozialistische, von der Norm abweichende Figuren, die geschlagen, erschossen, vergast, vereinzelt aber auch gerettet werden. Familiengeflechte, Freundschaftsgeflechte, Gesellschaftsgeflechte. Erzählmosaike. Erzählstimmen, die über sich selbst als Schreibende berichten, uns von ihren Erfindungen und Lügen erzählen. Sich erinnern, vergessen, verdrängen. Dialogische Erzählungen, gegenseitige Perspektivierungen und Narrationen, die sich konzentrisch um eine Figur drehen. Gila Lustiger wird am 27. April 1963 in Frankfurt am Main als Tochter des deutsch-jüdischen Historikers Arno Lustiger (1924-2012) geboren. Bereits 1981 verlegte sie ihren Lebensmittelpunkt nach Israel und studierte von 1982 bis 1986 an der Hebräischen Universität in Jerusalem Germanistik und Komparatistik. Seit 1987 lebt Lustiger in Paris. Ihre Romane zeichnen sich durch eine beeindruckende Vielfalt bezüglich ihrer Genrezugehörigkeit, ihrer thematischen Fokussierungen sowie ihrer narrativen Darstellungen aus. Während Lustiger sich in dem Roman Die Bestandsaufnahme (1995) der schwierigen Aufgabe annimmt, die Verfolgung der Juden und anderer Gruppen durch die Nationalsozialisten während der Shoah1 vergangenheitsbezogen zu fiktionali1 | Während im Deutschen die Begriffe ›Holocaust‹, ›Shoah‹ und ›Shoa‹ nahezu synonym verwendet werden, bestehen zwischen ihren ursprünglichen Bedeutungen erhebliche Unterschiede (vgl. Schruff 2000; Oberwalleney 2001). Ich spreche in der folgenden Arbeit von der Shoah, um den nationalsozialistischen Völkermord an den Jüd_innen zu bezeichnen. Dabei beziehe ich mich auf Doron Rabinovicis (1999: 18) Einlassung: »›Holocautomata‹ bedeutet Ganzbrandopfer. Kann es die nationalsozialistische Untat verdeutlichen? Der Massenmord war kein Opfer und kein Martyrium. Märtyrer mögen

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sieren, entführt der Roman Aus einer schönen Welt (1997) in das Leben einer deutschen Hausfrau aus der Mittelschicht. Im autofiktionalen2 Roman So sind wir (2005) geht das Erzähl-Ich Gila auf biografische Spurensuche und erlaubt den Leser_innen einen Einblick in die subjektiven Befindlichkeiten der zweiten Generation deutsch-jüdischer Schriftsteller_innen. Mit dem Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück (2008) legt Lustiger ein Kinderbuch vor, in welchem sich die Handlung um das Glück der Freundschaft dreht. In ihrem Roman Woran denkst du jetzt (2011) wird vom Sterben und der Trauer der Angehörigen erzählt. 2015 erscheint Lustigers erster Kriminalroman Die Schuld der Anderen. In diesem stellt sie die Verflochtenheit menschlicher Beziehungen dar und zeichnet ein aktuelles Gesellschaftsporträt Frankreichs. Zuletzt ist ihr Essay Erschütterung. Über den Terror (2016) erschienen, in welchem sie die islamistisch motivierten Terroranschläge in Paris am 13. November 2015 reflektiert. So unterschiedlich die Ausrichtungen Lustigers Romane auch sind, stets wird vom Zusammenleben mit den Anderen erzählt. Die Verflochtenheit der Figuren stellt eine wesentliche Dimension der Geschichte sowie der Narrationen in den Romanen dar. Die Abhängigkeit der Figuren voneinander und ihre damit verbundene Schwäche und Verletzlichkeit gelangen dabei ebenso in den Blick wie ihre Projektionen, Idealbilder und Schimären. Lustigers Heldinnen und Helden passen in kein Aktantenschema:3 Sie irren und ängstigen sich, sie verzweifeln, sie versagen und sie verletzen. Die begehrten und eventuell erlangten Objekte taugen nicht als Trophäen, sondern vermehren nur die Zweifel am Begehren selbst. Lustigers Romane sind bislang kaum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung geworden, obwohl die Autorin als legitime Vertreterin der deutschjüdischen Literatur diskursiv eingesetzt wird. So taucht etwa ihr Name mit einer gewissen Regelhaftigkeit in wissenschaftlichen Beiträgen zur deutschfreiwillig sterben und für eine Idee. Die Verfolgten wurden auf rationelle Weise umgebracht, ob sie Juden sein wollten oder nicht.« Die Verwendung des Begriffes ›Shoah‹ weist auf die besondere Bedeutung der jüdischen Opfer im Kontext der hier analysierten literarischen Texte hin. Der Mord an anderen Völkergruppen und Verfolgten der Nationalsozialist_innen soll damit nicht demarkiert werden. 2 | Grundlegend werden unter dem Begriff der Autofiktion alle Texte gefasst, in denen autobiografisches Material im Rahmen eines Romans aufgegriffen wird (vgl. Zipfel 2009). 3 | Durch das Aktantenmodell von Algirdas Julien Greimas lässt sich die grundlegende Erzählstruktur schematisch in bestimmte semantische Einheiten gliedern. Insgesamt unterscheidet Greimas zwischen sechs Aktanten, die paarweise zueinander angeordnet sind. Diese Anordnung ist entscheidend für die Handlungsmotivation und -ausrichtung der Akteure (vgl. Greimas 1971; Arnold 2012).

1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

jüdischen Literatur der zweiten Generation auf (vgl. Braese 2008; Lühe/Krohn 2005; Nolden/Malino 2005; Oberwalleney 2001; Schaumann 2008; Körte 2010). Und der 2005 veröffentlichte Familienroman So sind wir gelangt noch im selben Jahr auf die Shortlist des deutschen Buchpreises. Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, die Romane Die Bestandsaufnahme, Aus einer schönen Welt, So sind wir, Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück sowie Woran denkst du jetzt im Zusammenhang mit der Darstellung von Verflochtenheit und Abhängigkeit auf ihre Poetologie im Kontext der Ethik des postsouveränen Subjekts zu untersuchen.4 Damit verfolge ich drei Ziele. Erstens sollen Lustigers literarische Texte einer systematischen literaturwissenschaftlichen Analyse unterzogen und damit der Forschung zur deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur zugänglich gemacht werden. Indem die Romane in einen Zusammenhang mit der Ethik des postsouveränen Subjekts gebracht werden, soll zweitens das literaturwissenschaftliche Potenzial der ethischen Schriften Judith Butlers ausgelotet werden. Drittens habe ich mit dieser Ausrichtung der Arbeit vor, wesentliche Momente des Konzepts des postsouveränen Subjekts zu erfassen und ihre poetologische Relevanz für die Romane Lustigers zu erforschen. Die interdisziplinäre Übersetzungsarbeit, die im Zuge dessen entsteht, soll einen Beitrag dazu leisten, die Trope des postsouveränen Subjekts in ein produktives Zusammenspiel mit literaturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und philosophischen Wissensformationen zu bringen und auf diese Weise epistemisch weiter zu konturieren. Mit der Studie strebe ich insofern keine vollständige Erfassung der Romane Lustigers an, sondern frage vielmehr nach den Umrissen ihrer Poetologie vor dem Hintergrund der Arbeiten Butlers. Angesichts der Heterogenität der Romane Lustigers stellt sich die Frage danach, wie diese in ihrer Unterschiedlichkeit erfasst werden können, ohne sie in reduzierende Begrifflichkeiten und Konzepte zu zwängen. Und noch eine Frage tut sich auf: Wie lässt sich ihr ethisches Potenzial in einer Weise zum Sprechen bringen, welche die Romane nicht in den Dienst einer Theorie, eines bestimmten literaturwissenschaftlichen Interpretationsschemas oder dekontextualisierender Bezugnahmen stellt (vgl. dazu etwa die Kritik von Herrmann 2010)? Theorie und Romane werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit als je spezifische (und komplexe) Wissensgebilde einerseits und Erzählungen vom (postsouveränen) Subjekt andererseits verhandelt, auf die aus »partialer Pers4 | Wenn ich im Folgenden von den Romanen Gila Lustigers spreche, beziehe ich mich auf die literarischen Texte, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit den Untersuchungsgegenstand bilden. Der Roman Die Schuld der Anderen sowie der Essay Erschütterung zählen nicht dazu, weil sich ihr Erscheinen zeitlich mit der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit überschnitten hat.

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Poetologie des postsouveränen Subjekts

pektive« (Haraway 2001: 293) Bezug genommen wird. Von den Schnittstellen ihres Aufeinandertreffens aus sollen die Poetologien der Romane als »Rhetoriken des Wissen[s]« (Moser 2006: 11) vom postsouveränen Subjekt sichtbar gemacht werden. Durch diese Betrachtung soll eine interdisziplinäre Kontextualisierung erzeugt werden, welche es erstens erlaubt, den Blick auf die Poetologie der Romane Lustigers zu richten, und zweitens, die Kontur der Denkfigur des postsouveränen Subjekts durch literaturwissenschaftliche Analysen anzureichern (vgl. Kurbjuhn 2014). Im Folgenden lege ich einleitend fünf Reflexionen vor. Erstens erläutere ich die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit. Zweitens gehe ich auf die ethischpolitische Bedeutung des Erzählens ein. Drittens werfe ich einen Blick auf die literaturwissenschaftlichen Debatten, welche die vorliegende Studie angeregt haben. Viertens umreiße ich den methodologischen Rahmen und die methodischen Ansätze der Untersuchung. Abschließend erläutere ich fünftens den Auf bau der Arbeit.

1.1 F r agen an eine P oe tologie des   postsouver änen  S ubjek ts Lustigers Romane stellen das menschliche Zusammenleben unter verschiedenen gesellschaftlichen Vorzeichen dar. Sie ähneln teils figurativen Experimenten, teils subjektiven Erkundungen. Das Verdeutlichen von psychischen Topologien steht dabei ebenso häufig thematisch im Vordergrund wie das Motiv der gesellschaftlichen Bedingtheit der menschlichen Existenz. Vor allem aber begegnen uns in Lustigers Romanen Figuren, die sich mit der Welt, die sie umgibt, auseinandersetzen und, mit mehr oder weniger Erfolg, Anerkennung für die Formen ihrer Existenz einfordern. Wie aber werden diese Aushandlungen narrativ umgesetzt? Und in welcher Weise werden die Figuren in Lustigers Romanen intelligibel? Wie lassen sich die unterschiedlichen Narrationen, Geschichten und Erzählungen begrifflich fassen? Zur Untersuchung dieser Fragen schlage ich das Konzept des postsouveränen Subjekts vor. Dieses Konzept führt in einer Weise an das Verständnis der Figuren und der Konstellationen ihres narrativen Erscheinens heran, die es erlaubt, ihr Fühlen, Wissen und Handeln ebenso wie ihr Nicht-Fühlen, NichtWissen und Nicht-Handeln in die Interpretation einzubeziehen. Mit der Orientierung am Konzept des postsouveränen Subjekts können einerseits die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Figuren handeln, und andererseits die narrativen Bedingungen, denen die Erzählweisen der Romane unterliegen, in den Blick genommen werden. Zudem werden die figurativen Experimente und subjektiven Erkundungen in den Romanen durch das Konzept des postsouveränen Subjekts als literarische Verhandlungen von Ethik lesbar.

1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

Im Vordergrund der Untersuchung stehen somit zwei zentrale Forschungsfragen. Erstens wird gefragt, welche grundlegenden Momente des Konzepts des postsouveränen Subjekts auf analytischer Ebene erfasst werden können. Darüber hinaus steht die Frage danach im Raum, durch welche sprachlichsymbolischen, narrativen und figurativen Formen der Repräsentation die Denkfigur des postsouveränen Subjekts in die Poetologie der Romane Lustigers eingeschrieben ist. Die Romananalysen sind als Disziplinen überschreitende »Reflexionsbögen« (Ingrisch 2012: 9) zu verstehen, welche die Figur des postsouveränen Subjekts weiter ergänzen und die poetologischen Bedingungen seines literarischen Erscheinens ausleuchten. Mit dieser Frageperspektive soll ein Grundstein zur Erforschung einer Poetologie des postsouveränen Subjekts gelegt werden. Das Konzept des postsouveränen Subjekts bildet den Ausgangspunkt dieser Untersuchung. Es leitet die Romananalysen an, wird aber von der Frage nach einer Poetologie des postsouveränen Subjekts überschritten. Poetologie wird in diesem Zusammenhang als ein Terminus verwendet, welcher der konzeptionellen Verfassung eines Textes einen konstitutiven Eigenwert zumisst, der auch jenseits ihres konkreten literarischen Auftretens besteht. Damit erschöpft sich die Frage nach einer Poetologie des postsouveränen Subjekts nicht mit der Analyse einer bestimmten Werkformation, vielmehr wird sie durch eine solche angereichert und bleibt offen für Erweiterungen. Wie also zeigt sich das Konzept des postsouveränen Subjekts in den Romanen Lustigers? Die Bearbeitung dieser zentralen Forschungsfrage generiert über ihre Beantwortung im Rahmen der Romananalysen eine Reihe weiterer Fragestellungen. Welche Darstellungsformen findet das Moment konstitutiver Abhängigkeit des Subjekts in den Romanen Lustigers? Auf welche Weise wird die Konstitution des Subjekts als Effekt der Macht in den Romanen in den Blick genommen? Wie wird das Moment der Undurchsichtigkeit in den Romanen Lustigers narrativ und inhaltlich umgesetzt? Und schließlich: Lassen die Untersuchungsergebnisse ihre Reformulierung vor dem Hintergrund der Frage nach einer Poetologie des postsouveränen Subjekts zu?

1.2 Z ur e thisch - politischen B edeutung des E rz ählens Erzählen wird in der vorliegenden Arbeit nicht als eine Form der Repräsentation von Erfahrungen und Vorstellungen, sondern als Modus der Konstruktion von Bedeutung und Identität verstanden (vgl. Arnold 2012; Keitel 1996; Latour 2010; Ricoeur 2007). Es stellt in dieser Perspektive einen Akt dar, durch welchen heterogene Erfahrungen und Ereignisse synthetisiert und neu konfiguriert werden. ›Welt‹ wird durch das Erzählen für das ›Ich‹ erst denk- und verstehbar. Aber nicht nur Weltbezug wird über Erzählen hergestellt, auch der

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Selbstbezug des ›Ich‹ auf sich selbst wird zuallererst narrativ realisiert (vgl. KeG; Ricoeur 2007; Schachner 2016). Solchermaßen konstituiert die Gestalt des Erzählens – seine spezifische Struktur, die Form seines Erscheinens, seine Konfiguration – das Verständnis von sich selbst und anderen. Das Erzählen erlaubt es darüber hinaus, den Bereich des Realen durch fiktionale Elemente zu überschreiten, ja das Reale selbst ins Fiktionale zu wenden bzw. dem Fiktionalen mitunter eine unheimliche Realität zu verleihen. Der Bereich dessen, was ist, wird durch das Erzählen um das, was möglich sein könnte, erweitert. Das Mögliche wird zu einem Teil des Erzähl- und Denkbaren. Dabei spielen die Tropen der figurativen Rede eine grundlegende Rolle (vgl. Frye 1963). Die metaphorische Rede gestattet es, die Grenzen bestehender Deutungs- und Wissensbestände zu passieren und Sinnverschiebungen zu initialisieren. Sie macht es ebenso möglich, manifestes Wissen und geteilte Symboliken spielerisch zu durchkreuzen. Erzählen übernimmt dann die Funktion der Konfiguration des Möglichen, aus der sich seine ethisch-politische Bedeutung ergibt (vgl. dazu Barthes 2012; Spivak 2012). Im Erzählen können Selbst-, Fremd- und Weltthematisierungen im Modus des Als-Ob durchgespielt werden. Beziehungen, Gespräche, Handlungsabläufe sind aus dem So-Sein des Zeitlichen herausgelöst und werden der Gestaltung durch Autor_innen, der Reflexion durch eine Erzählstimme, der Rekonfiguration durch Narration zugänglich. Erzählen ist in diesem Sinne als ein performatives Geschehen zu verstehen. Von einem möglichen Außen des Realen aus erlangt das Erzählte Einfluss auf das Bestehende, indem mit ihm Deutungsangebote geschaffen werden, die schließlich real in der Welt vorliegen (vgl. Baudrillard 2016; Eco 1986). Die Fiktion der Erzählung besteht insofern nicht in einem ontologischen Sinn, denn als Geschichte ist sie ebenso real wie beispielsweise ›Geschlecht‹, wenn davon ausgegangen wird, dass es sich beim Geschlecht im Wesentlichen um eine Geschichte über heterogene Merkmale des Körpers, biologische Zuordnungen und soziale Platzierungen handelt (vgl. Voss 1986). Die Fiktion der Geschichte besteht vielmehr in Form ihrer Intelligibilität als Seiendes. In dieser Eigenart leistet Fiktion einen realen Beitrag dazu, den »Vorstellungen und Erfahrungen [der Lesenden] die Dignität der Bedeutung und der sinnkonstituierenden Funktion innerhalb eines Rahmens von Zeitlosigkeit und unmittelbarer Wahrheit [zu geben]« (Petersen 1996: 179; vgl. auch Rancière 2015).

Literarische Texte werden vor diesem Hintergrund als kulturelle Einsätze sichtbar, welche zu einer »Tätigkeit des Interpretierens« im Sinne »einer kritischen Auseinandersetzung mit einem umfassenderen Korpus kultureller Texte« (Bachmann-Medick 1996: 9) (unbedingt) einladen. Dahingehend bringe ich die Romane Lustigers in der vorliegenden Arbeit in einen Zusammenhang

1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

mit der Ethik des postsouveränen Subjekts von Butler und darüber hinaus mit weiteren soziologischen, linguistischen und philosophischen Schriften (vgl. Köppe/Winko 2008). Auf diese Weise soll ein Beitrag dazu geleistet werden, den »Blick auf Möglichkeiten von ›Erfindungsarbeit‹ an den Grenzen des Bestehenden« (Meißner 2015a: 60) zu richten (vgl. Haker 2009; Hark 2017; Meißner 2015b; Nussbaum 1995).

1.3 F orschungsstand In der vorliegenden Untersuchung nehme ich Forschungsstränge aus unterschiedlichen Disziplinen auf. Die Analyse wird aus den literaturwissenschaftlichen Diskussionen zur deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur, aus den Debatten über das (Nicht-)Ethische des Poststrukturalismus und der Postmoderne sowie aus dem Zusammenhang von Narration und Ethik, aus den Überlegungen zur feministischen Epistemologie und insbesondere aus Butlers Schriften gespeist. Im Folgenden erläutere ich einige dieser Voraussetzungen. Auf andere gehe ich näher im Zusammenhang mit meinen Ausführungen zur Ethik des postsouveränen Subjekts ein (vgl. Kapitel 2).

1.3.1 Wissenschaftliche Rezeption der Romane Gila Lustigers Bislang sind Lustigers Romane nur vereinzelt Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden. Die umfangreichste wissenschaftliche Aufnahme hat der Roman So sind wir erlangt. Mona Körte (2008) diskutiert diesen zusammen mit anderen Romanen der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur ausführlich im Rahmen ihres Artikels Die Toten am Tisch. ›Familienromane‹ nach dem Holocaust. In ihren Augen schreibt sich der Roman in eine »›Literatur des kleinen Ich‹« ein, in welcher »das Erzähler-Ich zum Schauplatz der Aporien [wird], die sich in dem Versuch auftun, nach 1945 Familiengeschichte zu erzählen« (Körte 2008: 593). Auf diese Weise entstehe eine Literatur, die sich ausgehend vom Wissen um die Prekarität der eigenen Existenz mit den unfassbaren Erfahrungen der Vorgängergeneration auseinandersetzt. Körte (ebd.: 580) arbeitet heraus, dass So sind wir, wie auch andere untersuchte Texte, »dem Familienroman den Rücken [kehren], noch bevor er wieder zu vollen Ehren gelangt ist, indem […] [sie] die Versehrtheit, das Übriggebliebensein und die vollständige Abwesenheit der Familie zu […] [seinem] Ausgangspunkt […] [machen]«.

Dieser Befund geht in eine ähnliche Richtung wie meine (Dornick 2012: 148) Analyse, dass die Erzählführung in So sind wir

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Poetologie des postsouveränen Subjekts »über den Umweg phantastischer Elemente zu einer immer klareren Verortung der Erzählerin in Bezug auf den Umgang mit ›nicht beherrschbaren‹ Momenten ihrer eigenen Geschichte« beiträgt.

Gegen die von Reinhart Kosellek (2010: 246) konstatierte »Differenz zwischen der Primärerfahrung der wirklich Betroffenen und der hinterher aufzuarbeitenden Sekundärerfahrung der Heutigen« mache ich im Zuge dessen deutlich, dass das Trauma in Lustigers Roman So sind wir und Viola Roggenkamps Roman Familienleben (2004) »als unfassbares und unverständliches negatives Moment den handlungsbefähigenden Verweis zur Frage nach dem Verhältnis von Wirklichem und Möglichem bildet« (Dornick 2012: 150). Ich mache die Romane als »narrative Akte der Handlungsbefähigung« sichtbar und zeige, dass diese »weder defizitäre Familienkommunikationen ab[bilden] noch […] am Versuch der Einholung der Primärerfahrung [scheitern]« (ebd.). Markus Neuschäfer (2013: 291) ordnet den Roman So sind wir als einen Text der »narrativen Selbsttherapie« ein. Die Haltung der Erzählstimme interpretiert er als eine Form der Kritik am »dysfunktionalen Familiensystem« (ebd.: 330). Neuschäfer arbeitet an zahlreichen Romanen der deutschen Gegenwartsliteratur, die er im Kontext der Vergangenheitsbewältigung verortet, eine Selbstbezogenheit der Erzählstimmen sowie die schwierige und immer nur vorläufige Distanz der von ihm sogenannten »Enkelfiguren« (ebd.: 38)5 gegenüber ihren Familien heraus. In Anschluss an Ariane Eichenberg charakterisiert er diese Form des Erzählens als »egozentrisch« (Eichenberg 2009: 66; vgl. Neuschäfer 2013). Helmut Galle (2010) liest So sind wir als einen autobiografischen Text, der einerseits dem Gedenken an Personen vorangegangener Generationen geschuldet ist, andererseits der Selbstverständigung über die eigene Identität im Zusammenhang mit den historischen Geschehnissen dient. Er fokussiert hauptsächlich die Identitätsthematik und wirft die These auf, dass mit dem Roman, wie auch in den autobiografischen Texten von Katrin Himmler, Monika Maron und Uwe Timm, weniger der Bruch mit den Geschehnissen als die Schaffung einer Kontinuität im Vordergrund steht. Die Magisterarbeiten Erinnerungsarbeit der Holocaust-Literatur der zweiten Generation: Am Beispiel von Gila Lustiger, Minka Pradelski und Viola Roggenkamp von Julia Herzberger (2009) und Die Aufarbeitung der Shoah anhand ausgewählter Beispiele der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur von Verena Frauwallner (2014) rezipieren Lustiger vor allem im Hinblick auf ihren Familienroman So

5 | Neuschäfer scheint diesen Terminus unabhängig vom tatsächlichen Verwandtschaftsgrad der Figuren zur Vorgängergeneration für alle Erzählfiguren der zweiten und dritten Generation zu verwenden (vgl. etwa Neuschäfer 2010: 38).

1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

sind wir und konzentrieren sich dabei auf die Rekonstruktion seines Verhältnisses zur deutsch-jüdischen Identität und Erinnerung im Kontext der Shoah. Abgesehen von diesen umfangreicheren Aufnahmen wird in Fachpublikationen meist nur in kurzen Bemerkungen auf Lustigers Romane So sind wir oder Die Bestandsaufnahme eingegangen. So wird der Roman So sind wir in mehreren literaturwissenschaftlichen Texten gestreift. Kirstin Frieden (2014: 70, Herv. i. O.) greift den Roman auf, um die darstellerische und analytische Strategie des Durcharbeitens – »Work in Progress« zu verdeutlichen. Susanne Wirtz (2011) geht in ihrem Aufsatz Jüdische Autoren der Gegenwart. Probleme – Positionen – Themen auf So sind wir im Kontext der Rekonstruktion des Verhältnisses der zweiten Generation zu ihren Eltern ein. Markus Neuschäfer (2010: 220) verleiht in dem Artikel Vom doppelten Fortschreiben der Geschichte. Familiengeheimnisse im Generationenroman seiner These Nachdruck, hinter dem Roman verberge sich der egozentrische Wunsch »nach einer narrativen Selbsttherapie«. Barbara Oberwalleney (2001: 38) greift Lustigers Roman Die Bestandsaufnahme auf, um darzulegen, dass dieser eine Ausnahme im »deutsch-jüdischen Kontext« bilde, weil in ihm die Shoah im Kontext des Nationalsozialismus fiktional-historisch geschildert werde und nicht etwa »gegenwartsbezogen, in dem Sinn, daß der kausale Zusammenhang herausgestellt wird, also etwa welche Bedeutung der Geschichte für die erzählte Gegenwart zukommt«. Der Inhalt des Romans Die Bestandsaufnahme wird zudem in Ariane Humls (2005) Text Ziehende Landschaft[en] – Generationenspezifische Remigration in der Dichtung jüdischer Schriftstellerinnen nach 1945 in einer längeren Passage aufgerufen. In einer Seitenbemerkung geht Hannes Stein (1998) in seinem Beitrag Schm’a Jisruel, kalt is ma in die Fiß. Die neue deutschsprachige jüdische Literatur inhaltlich auf Die Bestandsaufnahme ein. In Lustigers Aufnahme in das Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur werden Handlungen und narrative Konzeptionen der Romane Die Bestandsaufnahme und So sind wir im Zusammenhang mit ihren Bezugnahmen auf die Shoah genauer vorgestellt (vgl. Wiese 2012).

1.3.2 Forschungsarbeiten zur deutsch-jüdischen Literatur der zweiten Generation Die Forschungsarbeiten zur deutsch-jüdischen Literatur der nach der Shoah geborenen Autor_innen haben mittlerweile einen beachtlichen Stand erreicht. Bereits zu Beginn der 2000er Jahre legen Thomas Nolden, Helene Schruff und Barbara Oberwalleney systematische Analysen vor, in denen eine erhebliche Anzahl bedeutender Texte dieser Literatur wissenschaftlich erfasst wird. Thomas Nolden (1995) präsentiert mit Junge jüdische Literatur. Konzentrisches Schreiben in der Gegenwart eine umfangreiche Überblicksstudie, die eine gro-

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ße Auswahl an Texten berücksichtigt. Neben den Romanen einer Reihe von populären Autor_innen greift er mit der Dokumentation zu Sarah Haffners Werken oder den Maus-Comics von Art Spiegelman auch künstlerische Auseinandersetzungen mit der Shoah auf. Mit dem Begriff des ›konzentrischen Schreibens‹ stellt er auf die Form der narrativen Darstellung ab und ordnet die verschiedenen Arbeiten einem neuen ästhetischen Zusammenhang zu. Helene Schruff (2000) untersucht in ihrer Forschungsarbeit Konstruktionsmodi deutsch-jüdischer Identität an ausgewählten Romanen der deutschjüdischen Literatur der zweiten Generation. Ausgehend von einem »deskriptiv-analytischen Ansatz« (ebd.: 11) analysiert sie die Romane als literarische Oberflächen, welche vor allem Störungen oder auch Hemmnisse der Ausprägung von deutsch-jüdischer Identität verhandeln. Gleichzeitig untersucht sie die Querverbindungen, welche die Texte unterhalten, um sich als Aushandlungsflächen deutsch-jüdischer Identität auszuweisen. Neben der Referenz der »Erinnerungen der Eltern« (ebd.: 112) weist Schruff die »Figuren der Mutter und des Vaters« (ebd.: 82), die jüdische »(Opfer-)Gemeinschaft« (ebd.: 81) sowie das Verhältnis zu den Deutschen und zu Israel als Kernpunkte der literarischen Verhandlungen deutsch-jüdischer Literatur der Nachgeborenen aus. Die bereits erwähnte Barbara Oberwalleney (2001) untersucht hingegen eine Vielzahl von deutschen, österreichischen und niederländischen Romanen und Erzählungen deutsch-jüdischer Literatur vorrangig der zweiten und dritten Generation im Hinblick darauf, inwiefern sich in diesen die »Distanz zum nichtjüdischen Leser auch ästhetisch niederschlägt« (ebd.: 25). Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich in den Romanen und Erzählungen das Ziel zeigt, »in kritischer Absicht, verändernd in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzugreifen« (ebd.: 147). Ihrer Ansicht nach »spricht [aus der deutsch-jüdischen Literatur der zweiten und dritten Generation] eine aufklärerische Intention, die die spezifisch deutsch-jüdischen Probleme in den Diskurs holen möchte und bei der (überwiegend) nichtjüdischen Leserschaft ein Bewußtsein für Juden in Deutschland und Österreich schaffen will« (ebd.).

Oberwalleney (2001: 66 [Fußnote 153]) hält Schruffs Bemühungen der Rekonstruktion kontinuierlicher Familiennarrative durch die zweite und dritte Generation deutsch-jüdischer Literatur entgegen, dass in die Texte vielmehr Abgrenzungs- und Distanzierungsbemühungen gegenüber den »elterlichen Lebensmustern« (ebd.) eingeschrieben seien. In ihren Analysen vermeidet sie Übergeneralisierungen, wie sie sich in Helene Schruffs Studie an mehreren Stellen zeigen. Sie weist die Texte der deutsch-jüdischen Literatur der zweiten und dritten Generation als heterogene ästhetische Kompositionen aus, die sich in verschiedenen Spannungsfeldern bewegen.

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Des Weiteren werden in den Beiheften zur Zeitschrift für deutsche Philologie: Deutsch-jüdische Literatur der neunziger Jahre. Die Generation nach der Shoah (Allkemper/Eke 2006) und Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Gilman/Steinecke 2002) verschiedene Aspekte der deutsch-jüdischen Literatur der Nachgeborenen erörtert. Der Beitrag Deutsch-jüdische Literatur heute. Die Generation nach der Shoah von Hartmut Steinecke (2002) gehört wohl zu den virulentesten Forschungstexten der Sekundärliteratur zur deutsch-jüdischen Literatur der Nachgeborenen. Steinecke rekonstruiert die Formierung der deutsch-jüdischen Literatur der zweiten Generation seit den 1980er Jahren als Gegenstand der Forschung und setzt damit gleichzeitig analytische Eckpfeiler der literaturwissenschaftlichen Betrachtung. Er trifft die zentrale Unterscheidung, dass die Vertreter_innen der »nach 1945 geborene[n] Generation […] die Shoah – oder die Flucht ins Exil – nicht selbst erfahren haben, sondern vermittelt, durch Erzählungen von Familienangehörigen oder – wie jeder Angehörige dieser Generation – durch Berichte, Zeitzeugen, historische Quellen, Dokumentationen, Literatur« (Steinecke 2002: 10). 6

Weitere wesentliche Punkte seiner zusammenfassenden Darstellung der deutsch-jüdischen Literatur der nach der Shoah geborenen Autor_innen sind die Vermitteltheit der Shoah in den Texten der Nachgeborenen, ihre problematisierende Auseinandersetzung mit der Kategorie des Jüdischen, das Weiterwirken der traumatischen Erfahrungen sowie deren Effekte auf der Ebene der ästhetischen Gestaltung (vgl. Steinecke 2002). Simultan zu diesen systematisierenden Annäherungen erscheinen immer mehr einzelne Aufsätze zu Romanen der Nachgeborenen in unterschiedlichen Sammelbänden bzw. in vergleichenden Analysen zwischen deutschen und deutsch-jüdischen literarischen Bearbeitungen der Shoah (vgl. Agazzi 2008; Bannasch 2008; Blasberg 2006; Düwell 2006; Ehlers 2000; Körte 2008; Neuschäfer 2010; Wallner 2009). Die Untersuchungen konzentrieren sich weitgehend auf die Betrachtung von Familienromanen. Sie leuchten vor allem den familiären Kontext im Zusammenhang mit deutsch-jüdischen Identitätsprozessen und den Mechanismen und Wirkungen transgenerationeller Traumatradierungen aus (vgl. Dornick 2012; Frieden 2014). In mehreren Analysen

6 | Die Unterscheidung ist zuallererst analytisch zu betrachten. Das gesetzte Datum 1945 suggeriert, dass danach keine vergleichbaren Erfahrungen mehr gemacht werden konnten. Diese These ist jedoch meiner Ansicht nach vor dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte der displaced persons in Deutschland und des Staates Israel bis heute nur bedingt haltbar.

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wird die Herausbildung einer spezifisch kritischen und reflexiven Haltung der literarischen Texte zu Erinnerungsdiskursen konstatiert.

1.3.3 Ethik als Interpretationshorizont Ethik ist in der Sekundärliteratur zur Literatur der zweiten Generation deutschjüdischer Schriftsteller_innen bislang nicht zu einem eigenständigen Analysegegenstand gemacht worden. Eine ethische Relevanz der Texte vor allem im Hinblick auf ihren kritischen und kulturwissenschaftlichen Bezug auf die Geschichte der Shoah, aber auch auf die Gesellschaft der Gegenwart, scheint indes häufig in den literaturwissenschaftlichen Reflexionen auf (vgl. Kapitel 1.3.2). So konstatiert Bettina Bannasch (2008), dass die Literatur der zweiten Generation an geschichtswissenschaftliche Diskurse anknüpft. Sie stellt heraus, dass sie sich darin »grundsätzlich von der Literatur ihrer Altersgenossen [abhebt], die oftmals sehr polemisch ihr dezidiertes Desinteresse an Geschichte formulieren, an der sogenannten ›jüngsten‹ Vergangenheit zumal« (ebd.: 474).

Bannasch macht außerdem darauf aufmerksam, dass sich die zweite Generation deutsch-jüdischer Schriftsteller_innen dadurch auszeichne, dass sie sich in erinnerungspolitische Debatten einmischt und Vergangenheit nicht ausschließlich dokumentieren will. Cornelia Blasberg (2006: 168) macht im Kontext ihrer Analysen zur transgenerationellen Weitergabe der Shoah den Vorschlag, die »performativen Qualitäten« der jüdischen deutschsprachigen Romane der Gegenwart stärker zu gewichten. In ihren Augen kommt in diesen »ein bestimmtes Verhältnis zur Geschichte im Zeichen der Shoah« (ebd.: 168) zum Ausdruck. Die literaturwissenschaftlichen Arbeiten sollten sich deshalb vor allem darauf konzentrieren, »die aktuellen Familienromane […] sofort auf ihre performativen Strategien hin [zu] untersuchen und ihre spezifischen Dispositionen zu Geschichts- und Gegenwartsdeutung sichtbar [zu] machen« (ebd.).

Andere Forscher_innen führen die Reflexivität des literarischen Diskurses hinsichtlich der Partialität und »Rhetorizität« (Butzer 2002: 150) geschichtswissenschaftlichen Wissens und politischer Standpunkte auf die persönliche Betroffenheit der Autor_innen und damit auf die deutsch-jüdische Herkunft zurück (vgl. Eichenberg 2004) oder erklären sie durch die spezifische historische Situation und die gesellschaftliche Position, von welchen aus die Texte verfasst worden sind. So führt Susanne Düwell (2006) die kritische Haltung der Literatur der Nachgeborenen, die sie als »[k]ennzeichnend für die deutsch-

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jüdische Gegenwartsliteratur« (ebd.: 214) insgesamt beschreibt, darauf zurück, dass »die Existenz als deutsch-jüdische(r) Autor/in […] einen kontinuierlichen Reflexionsprozess« auslöse. Andreas Kilcher (2002) schließt an Gilles Deleuze und Félix Guattaris Überlegungen über eine ›kleine Literatur‹ 7 an und weist auf die »Randständigkeit des jüdischen Schreibens gegenüber der deutschen Kultur« (ebd.: 133) und ihre Situation der »Exterritorialität« (ebd.: 131)8 als prägend für die Literatur der zweiten Generation hin. Ähnlich argumentiert Christina von Braun (2013) in ihrer Standortbestimmung der jüdischen Identität in Rekurs auf deren Genealogie. Sie macht deutlich, dass jüdische Religion nicht als unabhängig von dem kulturellen Zusammenhang begriffen werden kann, in dem sie ausgeübt wird.

1.3.4 Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik Seit den 1990er Jahren wird in der Literaturwissenschaft wieder verstärkt danach gefragt, in welcher Weise dem ästhetischen Gefüge literarischer Texte ein ethischer Eigenwert zukommt (vgl. Früchtl 1996; Greiner 1998; Meuter 2007; Joisten 2007; Mieth 2000; Öhlschläger 2009; Zimmermann 2006). Insbesondere die Postmoderne im Gefolge der poststrukturalistischen Theorieentwicklung spielt eine wesentliche Rolle dafür, dass das Verhältnis von Ethik und Ästhetik für die Literatur- und Kulturwissenschaften eine neue Bedeutung gewonnen hat. Wie Thomas Wägenbaur (1998) zeigt, stellt die Wiedereinsetzung des dekonstruierten Subjekts, welches als »ein hybrides Selbst, das mit dem Anderen vermischt ist« (ebd.: 233), vorgestellt wird, ein zentrales Kennzeichen dieser ethischen Reflexionen im Kontext der Postmoderne dar. An die modifizierte Vorstellung des Subjekts schließt sich »das Projekt einer Moral zweiter Ordnung […], einer Moral ohne traditionelles Subjekt und ohne Normativität« an (ebd.). Dass die Frage nach einer Ethik, welche die Grenzen des Subjekts in den Blick nimmt, nach wie vor aktuell ist, zeigt die Einleitung des Bandes Ethical Approaches in Contemporary German-Language Literature and Culture (Jeremiah/Matthes 2013). Dort legen Emily Jeremiah und Frauke Matthes die Notwendigkeit eines ethischen Zugangs zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dar. Sie machen deutlich, dass die Postmoderne nicht »unethical« (ebd.: 2) sei, 7 | Gilles Deleuze und Félix Guattari (1976) beziehen sich hier ausdrücklich auf Kafkas Begriff der ›kleinen Literaturen‹. Sie erklären, dass »[e]ine kleine oder mindere Literatur […] nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient« (ebd.: 24) ist. 8 | Mit dem Begriff der Exterritorialität knüpft Kilcher (2002) sowohl an die theoretischen Betrachtungen einer ›kleinen Literatur‹ von Deleuze und Guattari an als auch an die literaturkritischen Überlegungen Franz Kafkas.

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wie etwa von Barbara Becker-Cantarino (2010)9 vertreten, sondern dass Ethik vielmehr einen zentralen Gegenstand der Postmoderne darstelle. Der Blick auf die Ethik aus der Perspektive des postsouveränen Subjekts eröffnet der Literaturanalyse die Gelegenheit, literarische Texte als »Möglichkeitsräume des Denkens und Handelns« daraufhin zu untersuchen, inwiefern in ihnen »fremde, neue und alternative Deutungs- und Wahrnehmungsoptionen sichtbar« werden (Öhlschläger 2009: 11). Ethik wird in diesem Verständnis als die Stelle begriffen, an der »Literatur mit Theorie, sei sie philosophisch oder literaturwissenschaftlich, konvergiert« (Wägenbaur 1998: 249). Oder wie es Norbert Meuter (2007: 47) anknüpfend an Niklas Luhmanns Sinnbegriff formuliert: Weil »Narrationen […] systematisch Kontingenzerfahrungen« hervorbringen, ist es ihnen möglich, »die Macht des Situativ-Faktischen« zu unterlaufen.

1.3.5 Postsouveränes Erzählen Zunehmend wird in der Literaturwissenschaft über Merkmale postsouveränen und »unsouveränen« (Weitin 2012: 84) Erzählens nachgedacht. In den Analysen wird insbesondere die Weise des Verhältnisses zwischen Erzählstimme und dargestelltem Geschehen in den Blick genommen (vgl. Lickhardt 2012). Als zentrale Charakteristika werden etwa die Integration von »Widersprüche[n] und Inkonsistenze[n]« (ebd.: 10) in die Erzählinstanz sowie die Realisierung der »Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion […] [als] ›Vermöglichung‹ aller Dinge« (Wolf 2012: 52) herausgearbeitet. Bislang greifen trotz des performative turn, in dessen Folge Performativität und Performanz zu zentralen Themen der Literatur- und Kulturwissenschaften wurden (vgl. Martschukat/Patzold 2003), nur wenige Arbeiten auf die Schriften Butlers zurück, um Interpretationsansätze für ethische Aspekte in literarischen Texten zu gewinnen. Eine Ausnahme bilden der von Claudia Öhlschläger und Antonio Roselli verfasste Text Der hypertrophe Text als Ort des Widerstands. Rousseau und Stifter in ethischer Perspektive (2009) und David Martyns Aufsatz Kants Kritik als ethisches Narrativ (2009). Öhlschläger und Roselli gehen der Frage nach, inwiefern die Texte Emile von Jean-Jacques Rousseau und Turmalin von Adalbert Stifter »textinterne[…] Widerstände« (Öhlschläger/ 9 | Barbara Becker-Cantarino (2010: 43) kritisiert die poststrukturalistisch orientierte Geschlechterforschung und insbesondere die Theoretikerin Judith Butler dafür, die »ethische Frage nach der Verantwortung und ungelösten Arbeitsteilung bei der Reproduktion, der Sozialisation und in der care economy [Hervorh. i. O.]« nicht zu bearbeiten und sich in ihrer theoretischen Arbeit an der Figur eines »Intellektuellen ohne Kinder, Alter, Krankheit, Behinderung und ohne soziale Pflichten, der/die in frei schwebender, veränderlicher Assoziation sich selbst (aus)leben kann« (ebd.: 42), zu orientieren.

1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

Roselli 2009: 113) beherbergen. Die Autor_innen beziehen sich auf Butlers Text Kritik der ethischen Gewalt (2002), um von diesem ausgehend die »textinterne Gewaltförmigkeit« (Öhlschläger/Roselli 2009: 114) der literarischen Texte deutlich zu machen und einer Kritik zuzuführen. Ihrer Ansicht nach bietet sich Butlers Auffassung von Ethik dazu besonders an, weil sich aus ihr eine »literaturtheoretische Position« gewinnen lässt, die sich »der konstitutiven Undurchsichtigkeit eines Textes [unterwirft], insofern dessen Oberfläche sich als nicht identisch erweist mit einer Tiefenstruktur, die das Gesagte etwa authentifizieren würde« (ebd.: 114). David Martyn (2009) beschäftigt sich in dem Aufsatz Kants Kritik als ethisches Narrativ mit den drei Kritiken Kants und unterzieht sie ebenfalls ausgehend von Butlers Text Kritik der ethischen Gewalt (2002) einer Analyse. Seiner Ansicht nach steht »Kants Ethik […] für just jene Art subjektiver Souveränität, die Butler mit ihrer Aufwertung fehlerhafter und unvollständiger Narrationspraktiken infrage stellen will« (Martyn 2009: 25).

Er führt dies im Zusammenhang mit einer Textstelle der Kritik der praktischen Vernunft (1788) vor, in der Kant über den Hervorbringungsprozess der Kritik reflektiert, und weist darauf hin, dass für diesen das Moment des Nichtwissens konstitutiv gewesen sei. In Anschluss daran generalisiert er dieses Moment des Nichtwissens für das Schreiben von theoretischen Texten.

1.3.6 Forschungsdesiderate Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Forschungsstränge werden mehrere Forschungslücken deutlich. Zunächst ist festzustellen, dass eine systematische Untersuchung der Romane Lustigers nach wie vor aussteht. Daneben ist bislang unerforscht, inwiefern die Romane Lustigers die Grenzen der sogenannten deutsch-jüdischen Literatur der zweiten Generation überschreiten. In welcher Weise werden in den Romanen Phänomene, Aspekte, Konstellationen behandelt, die jenseits der deutsch-jüdischen Verständigung über Identität und Shoah liegen? Die Klärung dieser Frage ist sowohl relevant für die Erfassung der Romane Lustigers als auch für eine (Neu-)Bestimmung der deutschjüdischen Literatur der Nachgeborenen. Weiter zeigt der Überblick über bisherige Arbeiten zum Forschungsgegenstand, dass die Stelle der ethischen Bedeutung der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur bislang nur unklar umrissen ist. Sie deutet sich aber in Begrifflichkeiten wie ›Reflexivität‹, ›Performativität‹, ›Kritik‹ und auch ›transgenerationelle Traumatradierung‹ an. In ihnen scheint auf, dass die deutschjüdische Gegenwartsliteratur ein Reservoir opponierender Stimmen ist, die

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ihre eigene Sprache einfordern und darüber hinaus ein neues Sprechen in die Welt bringen. Wie lässt sich Vergangenheitsbewältigung aus Perspektive der Opfer des Nationalsozialismus verstehen? Welche Rolle spielen hegemoniale Vorstellungen von Subjekt und Geschlecht bei der Verfertigung von nationalsozialistischen und/oder patriarchalen Gesellschaftsverhältnissen? Und welche Stimmen werden mit ihnen verdrängt; zum Verstummen gebracht? Diese Fragen sind für eine Ethik des Zusammenlebens zentral. Sie nicht zu stellen und die Romane stattdessen allein auf ihre deutsch-jüdische Herkunft zu verweisen, bedeutet, die Möglichkeit zu vergeben, die Stimmen in die Interpretation miteinzubeziehen, die sich ausgehend von den Narrationen an uns richten und uns von den unverständlichen Erfahrungen des Bruchs erzählen. Doch wie können ihre Stimmen hörbar werden? Welche methodologischen und methodischen Ansätze bieten sich dafür an? Wie lässt sich das literarische Sprechen als Kritik und Widerstand zugleich verstehen? Das sind Fragen, die sich ausgehend von einer Ethik, welche die Grenzen des Subjekts in den Blick nimmt, in der Literaturwissenschaft stellen (vgl. Jeremiah/Matthes 2013; Meuter 2007; Öhlschläger 2009; Öhlschläger/Roselli 2009; Wägenbaur 1998). Eine Untersuchung daraufhin, inwiefern die Ethik des postsouveränen Subjekts, wie sie von Butler entworfen wird, bei der Beantwortung dieser Fragen hilfreich sein kann, steht noch aus. Öhlschläger und Rosellis (2009) sowie Martyns (2009) Texte weisen auf Anknüpfungsmöglichkeiten hin; gleichzeitig wird in den Ausarbeitungen auch deutlich, dass es noch weiterer theoretischer Übersetzungsarbeit bedarf, um die theoretischen Konzepte Butlers für die literarischen Texte verfügbar zu machen.

1.4 M e thodologischer R ahmen und M e thode Den methodologischen Rahmen der vorliegenden Untersuchung bilden Arbeiten der feministischen Epistemologie. Eine der wesentlichen Fragen des akademisch gewordenen Feminismus stellt von Anfang an die Entwicklung einer Epistemologie dar, die sich dem Androzentrismus der hegemonialen Wissenschaften widersetzt und dadurch die Schaffung neuen Wissens ermöglicht (vgl. Hark 2005). Die Kritik am universalistischen Subjektkonzept der Aufklärung wird ebenso wesentlich vom Feminismus angetrieben wie Fragen nach der angemessenen Anerkennung von Pluralität. Eng damit verbunden sind methodologische und methodische Reflexionen auf die Praxis einer Kritik, welche die Grenzen ihres Referenzrahmens in den Blick zu nehmen vermag. Insbesondere diese Arbeit des Feminismus an einer neuen, kritischen Epistemologie interessiert mich im Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung nach einer Poetologie des postsouveränen Subjekts.

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Zu der Kritik des Universalen als einem männlich konnotierten Bedeutungszusammenhang kommen ab den 1990er Jahren neue Forschungsdimensionen der feministischen Epistemologie hinzu. Butlers Arbeiten zur Performativität von Geschlecht tragen maßgeblich bei zu einer analytischen Fokussierung auf »die Vergeschlechtlichungsprozesse in jeweils unterschiedlichen Kontexten und in Verschränkung mit anderen, hierarchische Differenzen produzierenden gesellschaftlichen, diskursiven und kulturellen Praxen qua Sexualität, Klasse, ›Rasse‹, Alter oder geopolitischer Positionierung« (Hark 2001a: 10; Herv. i. O.).

Die feministische Theorie erweitert ihr Analyserepertoire zusehends um weitere Kategorien und verbindet sich mit epistemologischen Sichtweisen, die sich kritisch mit Macht und Herrschaft auseinandersetzen, »um soziale Verhältnisse, Institutionen und Diskurse in all ihrer widersprüchlichen Komplexität verstehen zu können« (ebd.: 10f.).

Das Projekt, die verschiedenen Perspektiven in einer paradigmatischen Epistemologie zu verbinden, findet ihren Niederschlag »in einem vielstimmigen und heterogenen Diskurs« (ebd.: 11). Ein gemeinsamer Fluchtpunkt kann am ehesten mit der Anerkennung der Pluralität beschrieben werden, wie Patricia Purtschert (2003: 30) ausführt: »Der Erfolg des Feminismus als politische Bewegung wird weniger am Konsens über seine Inhalte und Ziele messbar als vielmehr daran, ob dissidente Stimmen Eingang finden« (ebd.).

Wie Pluralität angemessen zu denken ist, wie sie vor dem Hintergrund unserer immer schon diskursiv informierten Wahrnehmungs-, Denk- und Deutungsmuster auftauchen, zugelassen und ihr wissenschaftlicher Einlass gewährt werden kann, sind Grundfragen einer feministischen Epistemologie. Diese werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht als verbindliche Leitlinien feministischer Erkenntnisprozesse verstanden, sondern als relevante Ausschnitte paradigmatischer Erhebungen eines in Bewegung befindlichen Forschungsfeldes. Neben den Modi des Erkennens richtet sich eine bedeutsame Frage der feministischen Epistemologie auf das Verhältnis von Erkenntnisgegenstand und Erkenntnismitteln. Diese Frage wird von den Forscher_innen verschieden aufgegriffen und bearbeitet. Als grundlegend hat sich hierbei die Überlegung erwiesen, dass feministische Wissenschaft nicht nur ihren Inhalten nach, sondern auch ihren methodologischen und methodischen Konzepten nach mit

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den Traditionen der Wissenschaft brechen muss und das Prinzip der Reflexivität für alle Forschungsprozesse einsetzen muss (vgl. Knapp 2001). Wesentliches Anliegen der feministischen Epistemologie ist es zudem, die konkrete Realisierung von Weiblichkeit auch unter Einbeziehung widersprüchlicher Aspekte und Divergenzen sowie Widerstandspotenziale zu erfassen (vgl. Fox-Keller 2001). In der vorliegenden Arbeit sind neben der Bedeutung des reflexiven Moments die Ergebnisse der feministischen Epistemologie relevant, dass sich erstens das Weibliche nicht ikonisiert, d.h. universalisiert, idealisiert oder positivistisch erfassen lässt, und dass zweitens ›Frau‹ als eine analytische Kategorie begriffen werden muss, die sich in der Welt über performative Akte der Darstellung von Geschlecht, Sexualität und Begehren in unterschiedlichen Formen realisiert. Durch die feministische Epistemologie werden auch Vorstellungen und Begrifflichkeiten von Objektivität hinsichtlich der Grenzen rationalen Wissens neu bestimmt (vgl. Haraway 2001). Hier steht vor allem der Aspekt der Intelligibilität von Wissen im Vordergrund. In welchen Formen denken wir? Welches Wissen erscheint uns rational und welches nicht? Welches Wissen wird als wissenschaftliches im Feld der Wissenschaft anerkannt und aufgenommen und welches bleibt außerhalb wissenschaftlicher Diskurse? Mit ihren kritischen Interventionen machen die Forscher_innen auf die historischen Erbschaften der Wissensformen ebenso aufmerksam wie auf die ausgeblendeten Ausschlüsse, die auf dichotomen und Unterschiede ›naturalisierenden‹ Denkroutinen beruhen (vgl. ebd.; Hark 2005).10 Für diese Arbeit ist zudem die Neubestimmung von ›Objektivität‹ und ›Wissen‹ wesentlich, welche durch die feministische Theorie vorgenommen wurde. Feministisch gefasste Objektivität setzt immer bereits die partielle Perspektive voraus und Wissen erlangt seine Rationalität nur durch Situierung. Pluralität wird durch Verknüpfung und Konkretion intelligibel. Das bedeutet, dass die heterogene Vielgestaltigkeit der Welt mithilfe verschiedener Verfahren, wie der Schaffung von Resonanzen, Dekodierungen und Übersetzungen, und nicht mithilfe dichotomer Unterscheidungen erfasst werden soll.

1.4.1 Feministische und gender-orientierte Erzählforschung Anknüpfend an diese methodologischen Überlegungen stellt die feministische und gender-orientierte Erzählforschung die methodischen Instrumente für die vorliegende Arbeit bereit. Dieser Ansatz geht auf eine Integration von erzähltheoretischen Forschungen und feministischer Narratologie zurück (vgl. 10 | Die Wirkkraft und Wirkungsweisen dichotomer Denkmodelle veranschaulicht Pierre Bourdieu etwa in seinen Texten Entwurf einer Theorie der Praxis auf der Grundlage der kabylischen Gesellschaft (2009) und Sozialer Sinn (1997).

1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

Nünning/Nünning 2006). Einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der Erzähltheorie und Erzähltextanalyse als interdisziplinäre Methode der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften hat Gérard Genette (2010) mit seinen Analysen zu Marcel Prousts Roman A la recherche du temps perdu (erschienen von 1913-1927) (dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) geleistet. Ziel der Erzähltheorie ist die Schaffung eines methodologischen Rahmens für die systematische Erfassung der »komplexen Strukturen, die das Erzählen einer Geschichte konstituieren« (Nünning/Nünning 2004: 5). Auf Grundlage dieser Ausrichtung ist die Erzähltextanalyse in besonderer Weise für die Analyse der Darstellungsform von literarischen Texten geeignet (vgl. Nieberle/Strowick 2006). Ausgangspunkt einer erzähltheoretischen Sicht auf literarische Texte ist die analytische Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Konzepten der Erzählung. Genette (2010: 11) grenzt sein Konzept der Erzählung erstens von dem der Erzählung als »narrative[r] Aussage, de[m] mündlichen oder schriftlichen Diskurs [discours], der von einem Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen berichtet«, ab. Dieses Konzept stellt vor allem die Funktion des Informierens über reales oder fiktives Geschehen in den Vordergrund der Betrachtung. Zweitens unterscheidet er ein Konzept der Erzählung, das auf die »Abfolge der realen oder fiktiven Ereignisse, die den Gegenstand dieser Rede ausmachen, und ihre unterschiedlichen Beziehungen zueinander [abstellt]« (ebd). In den Blick gerät hier insbesondere der »narrative[…] Inhalt« (ebd.) des Erzähltextes. Drittens weist Genette auf die Betrachtung der Erzählung als »Akt der Narration selber« (ebd.) hin. Auf dieser Ebene kommt in den Blick, dass die Narration konstitutiv für die Erzählung ist, weil sie diese erst ermöglicht: »Ohne narrativen Akt gibt es folglich keine narrative Aussage und mitunter nicht einmal einen narrativen Inhalt.« (Ebd.)

Mit der Erzähltheorie legt Genette einen methodologischen Rahmen für Analysen vor, die auf die Erzählung als narrativen Akt fokussiert sind. Gleichzeitig spielen bei einer solchen Analyse aber auch zwei weitere Ebenen der Erzählung – die Geschichte der Erzählung sowie die spezifische Abfolge der Erzählung – eine Rolle. Der Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses ist auf die Erfassung der Darstellungsform der Erzählung gerichtet. Dabei steht die folgende Frage im Zentrum: »Wie wird es sprachlich dargestellt?« (Brockmeier 1999: 23). Biografische Details der Autor_innen oder historische Bezüge spielen eine untergeordnete Rolle: »Die Analyse des narrativen Diskurses ist für uns also im Wesentlichen die Untersuchung der Beziehungen zwischen Erzählung und Geschichte, zwischen Erzählung und

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Poetologie des postsouveränen Subjekts Narration sowie (sofern beide in den Diskurs der Erzählung eingeschrieben sind) zwischen Geschichte und Narration.« (Genette 2010: 13)

In seiner methodologischen Ausarbeitung Diskurs der Erzählung stellt Genette auf bauend auf diese Grundlegungen fünf Untersuchungsbereiche zur Analyse des narrativen Aktes vor, die ich im Folgenden kurz umreiße. Erstens die »Ordnung« der Erzählung (ebd.: 17), worunter er vor allem Fragen nach der zeitlichen Abfolge fasst: Tauchen Anachronien im narrativen Akt auf, wird eine lineare zeitliche Abfolge implementiert oder finden Vor- bzw. Rückgriffe – Pro- und Analepsen genannt – statt? Im zweiten Untersuchungsbereich finden sich Fragen nach der »Dauer« der Erzählung (ebd.: 53). Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um eine Differenzierung des Problems zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Abweichungen von isochronischen Zeitverhältnissen führen tendenziell zu Raffungen – bspw. »Summary« (ebd.: 59), »Ellipse« (ebd.: 66) – oder Dehnungen – bspw. »Szene« (ebd.: 71) – der Erzählzeit. Drittens wird der Bereich der »Frequenz« (ebd.: 73) in den Blick genommen. In diesen Untersuchungsbereich fällt die Analyse »der Wiederholungsbeziehungen zwischen Erzählung und Diegese« (ebd.). Fragen nach der Form der Wiederholung von Ereignissen stehen im Mittelpunkt: Wie oft wird von einem Ereignis, das einmal oder wiederholt geschehen ist, in der Erzählung berichtet? Und in welcher Weise werden Reihungen konstruiert? Beziehen sich die Reihungen auf innere (Ebene der Figur) oder äußere Anlässe (Ebene der Geschichte)? Im vierten Untersuchungsbereich beschäftigt sich Genette mit Fragen nach den »Modi der Erzählung« (ebd.: 103). Diese lassen sich als Thematisierung der »Regulierung der narrativen Informationen« (ebd.; Herv. i. O.) erfassen: »Die ›Repräsentation‹ oder genauer gesagt die narrative Information hat verschiedene Grade; die Erzählung kann den Leser auf mehr oder weniger direkte Weise mehr oder weniger detailliert informieren und so (um eine geläufige und bequeme räumliche Metapher aufzugreifen, die man aber nicht buchstäblich nehmen sollte) eine mehr oder weniger große Distanz zu dem, was sie erzählt, zu nehmen scheinen; sie kann den Informationsfluss aber auch anders regulieren.« (Ebd.; Herv. i. O.)

Kurz zusammengefasst werden unter der Kategorie Modus Fragen nach dem Informationsstand der Erzählinstanz in Bezug auf die Figuren gestellt. Diese Fragen wurden insbesondere von Franz Karl Stanzel unter dem Stichwort ›point of view‹ aufgegriffen. Hierbei spielen die Einstellungen der Erzählhaltung, welche die jeweiligen Instanzen einnehmen können, eine Rolle. Genette weist auf drei verschiedene Erzählhaltungen hin. Er beschreibt erstens die Nullfokalisierung, für welche signifikant ist, dass die Erzählstimme über mehr Informationen als die Figur(-en) verfügt. Davon grenzt er zweitens die

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interne Fokalisierung ab, welche sich dadurch auszeichnet, dass die Erzählstimme und Figur(-en) über den gleichen Informationsstand verfügen. Die interne Fokalisierung kann fest, variabel und multipel gestaltet sein, was sich darauf auswirkt, ob die Erzählstimme aus Perspektive einer einzelnen Figur (fest) oder aus Perspektive mehrerer Figuren (variabel) erzählt. Multiple innere Fokalisierung liegt vor, wenn ein Ereignis aus der Perspektive mehrerer Figuren geschildert wird. Die dritte mögliche Erzählhaltung, die Genette einführt, ist die externe Fokalisierung. Diese lässt sich dann identifizieren, wenn die Erzählstimme über weniger Informationen als die Figur(-en) verfügt. Im Laufe der Erzählung können die Erzählhaltungen gewechselt werden, sich verändern und weiter- bzw. zurückentwickeln (vgl. Genette 2010). Auch bezüglich des Verhältnisses von Information und Narration trifft Genette eine Unterscheidung. Neben der Paralipse, die eine Narration beschreibt, in der weniger Informationen als nötig gegeben werden, weist er auf die Paralepse als eine Form der Darstellung hin, in der Informationen gegeben werden, die eigentlich weggelassen werden müssten, um die Erzählhaltung kohärent zu konstruieren. Der fünfte Untersuchungsbereich bezieht sich auf die »Stimme« (ebd.: 137) und damit auf die narrative Erzählinstanz. Hier tritt das Problem des ›point of view‹ noch einmal in neuer Weise ein. Denn Genette fasst die Erzählstimmen nicht als Substanzen, die sich in grammatischen Formen äußern, sondern als »narrative[…] Einstellungen (deren grammatische Formen nur eine mechanische Konsequenz sind)« (ebd.: 158). Zur Verdeutlichung erklärt er, dass die Autor_innen »die Geschichte von einer ihrer ›Personen‹ [personnage, i. O.] erzählen lassen [können] oder von einem Erzähler, der selbst in dieser Geschichte nicht vorkommt. Die Anwesenheit von Verben in der ersten Person innerhalb eines narrativen Textes kann also auf zwei sehr verschiedene Situationen hindeuten, die die Grammatik vermengt.« (Ebd.: 158f.)

Genette legt eine Unterscheidungsmatrix vor, welche die unterschiedlichen Erzähleinstellungen verdeutlicht (vgl. Tabelle. 1.1). Tabelle 1.1: Unterscheidungsmatrix: Typologie der Stimme Beziehung

Ebene

 

Extradiegetisch

Intradiegetisch

Heterodiegetisch

Homer

Scheherezade

Homodiegetisch

Gil Blas Marcel

Odysseus

Übernommen aus: Genette 2010: 162

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Genette unterscheidet zwischen Beziehung und Ebene der Stimme im Verhältnis zur Diegese. Mit Diegese bezeichnet er »das Universum, in dem sie [die Geschichte] spielt« (ebd.: 183). Im Wesentlichen werden durch die Typologie der Stimme zwei Fragen geklärt. Erstens in Bezug auf die Beziehung, welche die Stimme einnimmt: Wird die eigene Geschichte erzählt? Und zweitens bezüglich der Ebene der Erzählstimme: Kommen die Erzählenden in der Geschichte als Figuren vor? Je nachdem, wie die Antwort auf diese beiden Fragen ausfällt, ergibt sich ein spezifischer Erzähltyp. Homer erzählt eine (nicht seine eigene) Geschichte (heterodiegetische Beziehung), in welcher er als Figur in der Diegese nicht vorkommt (extradiegetische Ebene). Scheherezade kommt im Gegensatz dazu in Tausendundeine Nacht als Figur vor (intradiegetische Ebene) – sie erzählt jedoch nicht ihre eigene Geschichte (heterodiegetische Beziehung). Odysseus ist wie Scheherezade Teil der Diegese (intradiegetische Ebene); steht aber an einigen Stellen der Odyssee zu dieser in einer homodiegetischen Beziehung, weil er hier seine eigene Geschichte erzählt. Gil Blas und Marcel erzählen beide ihre eigenen Geschichten (homodiegetische Beziehung), kommen aber in den von ihnen entworfenen Diegesen nicht als Figuren vor (extradiegetische Ebene). Für eine poststrukturalistische Interpretation der Erzähltheorie und einer Anwendung der Erzähltextanalyse im Zusammenhang mit Fragen, die sich auf die Erforschung von Epistemen richten, sprechen insbesondere die folgenden zwei Charakteristika. Zum einen ist die Erzähltheorie als Rekonstruktion von Romanen aus partieller – und nicht aus universeller – Perspektive angelegt. Die Erzähltheorie ist als ein offenes System von Unterscheidungen konstruiert. Genette macht deutlich, dass er die Analyse von Prousts Roman in eingeschränkter Weise in den Dienst der Erschließung allgemeiner Regeln aus der Besonderheit dieses Romans gestellt hat: »Es scheint mir unmöglich zu sein, die Recherche einfach als Beispiel zu behandeln, sei es für die Erzählung im Allgemeinen, für die im Roman, für die in autobiographischer Form oder für welche andere Klasse oder Spielart von Erzählung auch immer: Die Spezifität der Proustschen Narration im Ganzen ist irreduzibel, und jede Extrapolation wäre hier ein methodischer Fehler; die Recherche illustriert nur sich selber. Aber andererseits ist diese Spezifität nicht unzerlegbar, und jedes Einzelmerkmal, das die Analyse freilegt, eignet sich zu Vergleichen oder Perspektivierungen.« (Ebd.: 10; Herv. i. O.)

Das Zitat verdeutlicht Genettes Reflexion der Grenzen, aus dem Besonderen oder dem Singulären allgemeine Regeln abzuleiten. Dazu kommt seine Einschränkung, dass es sich bei der Analyse von A la recherche du temps perdu nicht um ein abgeschlossenes Werk handelt – was einen begrenzten theoretischen Anspruch verdeutlicht. Und auch, dass Genette seinem Diskurs der Erzählung (ebd.) eine zweite Abhandlung (Neuer Diskurs der Erzählung; ebd.: 177) folgen

1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

lässt, in welcher er Bedenken und Widersprüche anderer Literaturtheoretiker_ innen diskutiert und die von ihm entworfene Erzähltheorie in Bezugnahme auf diese nachjustiert, macht die Offenheit deutlich, die trotz der strukturalistischen Fundierung in der Erzähltheorie angelegt ist. Zweitens offeriert die Erzähltheorie die Möglichkeit, eine Erzählung als »Akt der Narration« (ebd.: 11) zu betrachten und dabei Fragen von (figuraler) Repräsentation und der Verhandlung der Pluralität von Erfahrung zu verfolgen. Eine Untersuchung von »Dauer« (ebd.: 53) und »Frequenz« (ebd.: 73) im Hinblick auf die Repräsentation weiblicher Erzählperspektiven lässt sich etwa mit dem erzähltheoretischen Ansatz ebenso realisieren wie die Erforschung der Frage, welche Informationen die Erzählstimme gibt, um besondere Lebenslagen darzustellen. Mit der Betrachtung der Erzählung als »Akt der Narration« (ebd.: 11) öffnet sich die Erzähltheorie Gérard Genettes in meinen Augen für eine Korrespondenz mit poststrukturalistischen Konzepten. Zwar schließt Genette an Tzvetan Todorovs zuerst ins Französische übersetzte Unterscheidung zwischen histoire (Was wird erzählt?) und discours (Wie wird etwas erzählt?) an. Was jedoch häufig übersehen wird, ist, dass Genette über diese strukturalistische Unterscheidung hinausgeht, wenn er zum einen die histoire als diskursives Signifikat (énoncé) stillstellt und damit zugleich als Gegenstand der Hermeneutik tilgt und zum anderen eine Verdopplung des Discours-Begriffs in Erzählung (récit) und Narration (narration) vornimmt. Indem er den »Akt der Narration« (ebd.) als eine Analyseebene einführt, ermöglicht es Genette, Erzähltes und Erzähler_innen voneinander zu differenzieren und damit den machtvollen Zusammenhang zwischen beiden Instanzen zu problematisieren.11 Ich teile hierzu den Gedanken Judith Coffeys (2013: 33f.), dass »Erzähltheorie und Diskursanalyse (im Foucault’schen Sinn) […] beide an dem an[setzen], was da ist, also gewissermaßen an der ›Oberfläche‹ (bzw. indem sie die z.B. hermeneutische Produktion von ›Tiefe‹ als spezifische Technologie betrachten), und […] das, was da ist, erst einmal zu beschreiben [versuchen]«.

An dieser Oberfläche wird der Erzählende als eine Stelle deutlich, an der darüber bestimmt wird, in welcher Form die Figuren in der Diegese auftreten. Er ist es, der sich zu den Figuren und sie zueinander positioniert (vgl. LuciusHoehne/Deppermann 2004). Diese Positionierung verstehe ich als eigentliche Leistung des Erzählenden, welche im Akt der Narration als »Gestaltung« (ebd.: 175) rekonstruiert werden kann. 11 | In Antigones Verlangen macht Butler deutlich, inwiefern eine Aussage – in diesem Fall die Ödipus-Trilogie – weniger als hermeneutische Quelle als vielmehr auf Textebene im Hinblick auf ihre performativen Verflechtungen befragt werden muss (vgl. AS).

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Auf die Analyse von fiktiven Erzählungen angewandt bedeutet das, dass es wesentlich für die Analyse der Darstellung ist, danach zu fragen, welche Positionierungen die Erzählinstanz vornimmt und welche Formen von narrativer Identität sie entwirft. Werden etwa »Selbsterfahrungen und -präsentationen« (ebd.: 181) als homogen und statisch repräsentiert oder werden sie flexibel und heterogen dargestellt? Werden Geschlechterrollen durch die Positionierungen der Erzählstimme als ›natürlich‹ verfestigt oder als kulturell konstruiert sichtbar? Hinweise darauf kann eine Analyse geben, die sich auf die Darstellung der narrativ erzeugten Identitätskonstruktion richtet und dabei in den Blick nimmt, wie die Figuren der Erzählung in der Diegese präsentiert werden, wie sie ihre Vergangenheit interpretieren und welche Schlüsse sie aus dieser für ihre Zukunft ziehen.

1.4.2 Grundzüge feministischer Erzähltheorie In der feministischen Narratologie und in der gender-orientierten Erzähltheorie werden epistemologische Fragestellungen und die Analyse von persönlichen und kulturellen Narrativen miteinander verknüpft (vgl. Nünning/ Nünning 2006). Dem Erzählen wird eine »lebensweltliche Relevanz« (ebd.: 23) zugemessen. Insbesondere im Rahmen der Herausbildung von Identität kommt dem erzählerischen Vorgang eine hohe Bedeutung zu, die Vera und Ansgar Nünning (ebd.: 24) in Anschluss an Paul John Eakin als »konstitutiv« bezeichnen. Im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Erzählen und der Konstruktion von Geschlechtsidentität betonen sie, dass Erzählungen nicht etwa nur zur Konstruktion von Identität beitragen, »sondern dass durch Erzählungen jedweder Art – von Medienformaten wie Sitcoms und Seifenopern – auch Geschlechtsidentitäten konstruiert werden« (ebd.: 24; Herv. i. O.).

In der feministischen und der gender-orientierten Erzählforschung treffen die Annahmen der feministischen Epistemologie bezüglich des ausschnitthaften Charakters von Objektivität und der situativen Begrenztheit von Rationalität auf die methodologischen und methodischen Voraussetzungen der Narratologie. Diese kann mit Michel Foucault als eine Methode beschrieben werden, sich der Positivität der narratologischen Konstruktion von Texten und textähnlichen Gebilden so bedingungslos wie möglich zu nähern (vgl. Coffey 2013). Die literarische Form wird in der feministischen Narratologie als semantisiert betrachtet. Ihr kommt eine eigenständige Funktion für die Bedeutung eines Textes zu (vgl. Nünning/Nünning 2006). Erzählformen werden als »textuelle Strategien« aufgefasst, »nämlich geschlechtsspezifischen Erfahrungen durch literarische Form und Sinngebungsstrategien Ausdruck zu verleihen« (ebd.: 33). Insbesondere weil die Narratologie die »Semantisierung literarischer

1. Postsouveräne Subjekte und Figurengeflechte

Formen« (ebd.: 32) zum Gegenstand hat, bietet sie sich dafür an, über das Vehikel der Repräsentation gesellschaftspolitische und ethische Fragen in den Blick zu nehmen: »Gesellschaftspolitische oder ethische Fragen der Gender Studies schlagen sich nämlich nicht nur in den erzählten Inhalten und Themen nieder, sondern auch und gerade in der Art und Weise, wie diese literarisch dargestellt werden, in Fragen der Repräsentation also: Wer spricht bzw. repräsentiert wen? Wer fungiert als sprechendes oder wahrnehmendes Subjekt und wer als wahrgenommenes und sprachloses Objekt? Wie hängen diese Formen der Repräsentation mit den Werten und Normen von Klassen, Gruppen, Gemeinschaften oder Nationen zusammen?« (Ebd.: 32f.)

In diesem Sinne werden die Romane in der vorliegenden Arbeit als Schauplätze der Repräsentation von Vorstellungen über die Konstitution von Subjekten und Formen des menschlichen Zusammenlebens verstanden und als Oberflächen ihrer semantischen Re-Artikulation interpretiert.

1.5 A ufbau der A rbeit Der Überblick über den Forschungsstand macht deutlich, dass die Frage nach der Darstellung von Postsouveränität für aktuelle Debatten um literarische Ethik zentral ist. Dabei zeigt sich, dass eine literarische Ethik auf thematischer und vor allem auf narrativer Ebene des Textes aufgefunden werden kann. Im Fokus der Untersuchung steht daher die Rekonstruktion der Poetologie von Lustigers Romanen, die mit der Frage verbunden ist, ob diese als eine Poetologie des postsouveränen Subjekts bezeichnet werden kann. Ausgangspunkt dieser Fragestellung ist die Identifikation von Möglichkeitsräumen, welche durch die Narration eröffnet werden. Demzufolge gehe ich Hinweisen auf eine Kritik der Wirklichkeit ebenso nach wie Darstellungen, die mit der Glaubwürdigkeit der Erzählstimme bzw. des narrativen Inhalts oder Akts selbst spielen. Der Rekurs auf die spezifischen Aufnahmen von Butlers Ethik in literaturwissenschaftlichen Studien im Konnex von Narration und Ethik zeigt, dass ihre Arbeiten bereits einige fruchtbare Anschlüsse in der Literaturwissenschaft motiviert haben. Gleichwohl ist bislang in der hier verfolgten Perspektive kaum systematisch auf Butlers Texte zugegriffen worden. Das zweite Kapitel dient daher dazu, einen Überblick über Butlers theoretisches Denken und die von ihr bearbeiteten Themengebiete zu geben. Ich gehe den Spuren des Postsouveränen in den einzelnen Texten Butlers nach und mache wesentliche Grundzüge einer Ethik des postsouveränen Subjekts deutlich. Anschließend synthetisiere ich meine Befunde zu den drei analytischen Momenten ›Abhängigkeit vom Anderen‹, ›Abhängigkeit von Normen‹ und ›Undurchsichtigkeit

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des Selbst‹, welche die Untersuchungsperspektiven für meine Romananalysen bilden. Das dritte Kapitel stellt den Auftakt der Literaturanalysen dar und gibt einen Überblick über die Grundzüge der einzelnen Romane. Ich skizziere die inhaltlich-thematischen Umrisse der untersuchten Romane Lustigers und erläutere wesentliche narrative Charakteristika. Die Schwerpunkte des vierten, fünften und sechsten Kapitels bilden die Darstellungen zentraler Ergebnisse der Romananalysen. Ein kurzer emphatischer Verweis nimmt zentrale Verflechtungsmomente zwischen Theorie und Romanen auf und gibt einen Ausblick auf den Fokus der Untersuchung. Im ersten Unterkapitel aller Analysekapitel wird die Untersuchungsperspektive theoretisch kontextualisiert. Daran anschließend folgt ein analytischer Durchgang durch Lustigers Romane. Hierbei leuchte ich aus, in welcher Weise das untersuchte analytische Moment in dem jeweiligen Roman erzählerisch umgesetzt wird. Um die spezifischen Eigenarten jedes Romans berücksichtigen zu können, erfolgt die Präsentation der Ergebnisse zunächst diachron. Der Durchgang durch die Romane geschieht weitgehend in chronologischer Reihenfolge. Allerdings weiche ich an einigen Stellen (im fünften und sechsten Kapitel) von dieser Anordnung graduell ab, etwa, um Besonderheiten eines Romans herausstellen zu können und thematische Spannungsbögen zu entwickeln. Im dritten Abschnitt der Analysekapitel synchronisiere ich die herausgearbeiteten Ergebnisse in einem Zwischenfazit. Dabei gehe ich so vor, dass ich erstens einen Blick auf die Befunde im Kontext der untersuchten Romane werfe und zweitens resümiere, welche poetologische Relevanz den Ergebnissen zukommt. Abschließend führe ich die Resultate der drei Analysekapitel im siebten Kapitel zusammen. Ich beantworte die Frage, inwiefern die Poetologie der Romane Lustigers als eine Poetologie des postsouveränen Subjekts verstanden werden kann und fokussiere die Untersuchungsergebnisse im Hinblick darauf, welche Anstöße sie für aktuelle Forschungsfragen geben.

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt

Im Folgenden setze ich mich mit der Frage auseinander, was Butlers theoretische Schriften auszeichnet, und stelle dar, welchen Beitrag ihre Arbeiten für die Analyse einer Poetologie des postsouveränen Subjekts leisten können. Dazu mache ich einführend das Postsouveräne als einen zentralen Kristallisationspunkt ihrer Arbeiten deutlich und skizziere die Denkfigur des postsouveränen Subjekts. Hierfür gehe ich den Erscheinungsweisen des Postsouveränen in Butlers Texten nach und frage: Welche Gestalten des Postsouveränen kommen vor? Welchem Erkenntnisinteresse folgt der Einsatz postsouveräner Figuren in ihren Texten? Daran anknüpfend verdeutliche ich die Stelle des Subjekts als ein wesentliches Element der Überlegungen Butlers. Wie versteht Butler die Konstitution des Subjekts ausgehend von einer anrufenden Macht? Auf welche Weise entsteht die Psyche und in welchem Verhältnis steht ihre Erzeugung mit den konstitutiven Verlusten eines handlungsfähigen ›Ich‹? Wie lässt sich dieses Subjekt als ein kritisches denken, das sich der normierenden Macht, von der es abhängt, entgegenstellt? Schließlich gehe ich auf das Verhältnis von Kritik und einer ethischen Haltung des Subjekts ein. Ich frage, inwiefern bei Butler die Untersuchung von Kritik in einem Zusammenhang mit der Ermöglichung eines menschlichen Zusammenlebens gesehen werden muss. Im Zuge dieser Schritte konturiere ich die Denkfigur des postsouveränen Subjekts, an welche ich im letzten Abschnitt des Kapitels anknüpfe, um die analytischen Ausgangspunkte für die Betrachtung der Romane Lustigers zu gewinnen.

2.1 D as P ostsouver äne als D eutungsr ahmen und  D enkfigur Judith Butler zählt neben Donna Haraway, Angela Davis und Karen Barad international zu den populärsten Vertreter_innen innerhalb der gegenwärtigen feministischen Theorie. So spricht Hannelore Bublitz (2002: 48) von ihr

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Poetologie des postsouveränen Subjekts

etwa als »eine[m] der ›Superstars‹ der feministischen Theorie«. Die 1956 in Cleveland geborene Philosophin und Linguistin wird als Begründerin des dekonstruktiven Feminismus betrachtet, in dessen Zentrum die Frage danach steht, wie heteronormative Geschlechtervorstellungen gesellschaftlich erzeugt und reproduziert werden. Mit dem im Jahr 1991 auf Deutsch erschienenen Text Das Unbehagen der Geschlechter (i. O. Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity [1990]) erschütterte Butler den Diskursraum der Frauen- und Geschlechterforschung nachhaltig und setzte neue Maßstäbe des theoretischen Nachdenkens über die Erzeugung von Geschlecht im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft. Sie reformuliert in diesem Text die Geschlechterdifferenz als eine historisch kontingente Praxis der geschlechtlichen Codierung der Körper (vgl. UdG). Im Rückblick auf das Erscheinen von Gender Trouble konstatiert Paula-Irene Villa (2003: 11): »Ihr [Judith Butlers] im Deutschen erschienenes Buch ›Das Unbehagen der Geschlechter‹ hat tatsächlich ein gehöriges Unbehagen ausgelöst, sowohl innerhalb der Frauenund Geschlechterforschung und in Teilen der politischen Philosophie als auch in der feministischen Öffentlichkeit.«

Obgleich von einer Vielzahl philosophischer und psychoanalytischer Denker – wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Nietzsche, Louis Althusser, Walter Benjamin sowie Sigmund Freud oder Jacques Lacan – inspiriert, weisen Butlers Texte insbesondere im Hinblick auf den Diskursbegriff eine theoretische Nähe zu den Schriften von Michel Foucault auf (vgl. Meißner 2010). Angelehnt an Foucault (1978: 104), der nicht (mehr)1 nach den juridischen Formen des Ein- und Ausschlusses, also nach dem, »was das Gesetz sagt, was untersagt ist, was nein sagt«, fragt, sondern nach den »Technologieformen« der Macht, sucht Butler in Das Unbehagen der Geschlechter mit der genealogischen Methode nicht nach den Ursprüngen und »inneren Wahrheiten« (UdG: 9) der zwei Geschlechter. Vielmehr richtet sie ihre Analyse auf die »politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorien als Ursprung und Ursache bezeichnet werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfältigen und diffusen Ursprungsorten sind« (UdG: 9; Herv. i. O.).

1 | In einem Gespräch mit Lucette Finas (Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere) macht Foucault deutlich, dass er seine für den Text Die Ordnung des Diskurses (1991 [1970]) paradigmatische Repressionshypothese verwirft und sich in seinen Forschungen nun auf die positiven Mechanismen der Macht konzentriert (vgl. Foucault 1978).

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt

Den Diskurs versteht Butler mit Foucault also als produktiv, in dem Sinne, dass er nicht nur vorhandene Praktiken des Miteinander-Kommunizierens abbildet oder repräsentiert, sondern diese vielmehr erst formiert, gleichsam »in ihre Ausdrucksformen ein[tritt]« (FesL: 129). Demnach lassen sich Diskurse nicht allein als Sprache fassen, sondern können als »Systeme des Denkens und Sprechens, die das, was wir von der Welt wahrnehmen, konstituieren, indem sie die Art und Weise der Wahrnehmung prägen« (Villa 2003: 20), begriffen werden. Diskurse sind mithin das Moment in Foucaults und Butlers Theorien, in welchem Sprache – in Form von Aussagen – und Macht zusammenfallen. Es ist nicht so, dass Sprache ›nur‹ ein Kommunikationsmedium darstellt. Sprache begründet in dieser Anschauung für die Individuen die Möglichkeit, Sinneseindrücke, die bereits durch gesellschaftlich erzeugte Wahrnehmungsmuster organisiert sind, einer nach den Regeln der gesellschaftlich verfassten Denksysteme passenden Formulierung aus dem vorhandenen Aussagenrepertoire zuzuführen (vgl. Foucault 1981). Diesen wissenssoziologischen Annahmen folgend, begreifen Foucault und Butler Kommunikationsakte als gesellschaftlich konstituiert, womit die Mitteilungen immer das Potenzial bergen, (spezifische Formen der) Wirklichkeit intersubjektiv zu bestätigen (vgl. Berger/Luckmann 1967; Luhmann 1987). Foucault (1978: 126) verwehrt der Macht einen ontologischen Status, er verwirft »die Idee, dass es an einem gegebenen Ort oder ausstrahlend von einem gegebenen Punkt irgendetwas geben könnte, das eine Macht ist«.

Er stellt stattdessen die These auf, dass es sich bei der Macht »in Wirklichkeit um Beziehungen [›handelt‹], um ein mehr oder weniger organisiertes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Beziehungen« (ebd.).

In Foucaults Perspektive wird Macht als ein Geflecht sichtbar, das in Abhängigkeit von unterstützenden und/oder widerständigen Konstellationen existiert; gleichzeitig aber auch bestimmte Konstellationen konstituieren oder zerstören kann. Butler entwickelt ausgehend von Foucaults Diskursverständnis eine Reihe von erkenntnistheoretischen und politisch-ethischen Fragestellungen. Sie betrachtet in ihren Schriften unter anderem die Effekte der Macht vor dem Hintergrund der Frage, welcher Ethik des menschlichen Zusammenlebens es bedarf, um ein lebenswertes Leben für alle Menschen zu sichern (vgl. MdG; GL). Dabei spielt das Konzept des postsouveränen Subjekts eine entscheidende Rolle. Das Postsouveräne taucht in Butlers Texten sowohl in figurativer Erscheinung auf als auch als poetologische Rahmung. Im Folgenden stelle ich zu-

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nächst verschiedene Figuren ihrer Texte vor und verdeutliche die Grundzüge ihrer postsouveränen epistemischen Gestalt. Daran anschließend gehe ich auf die poetologischen Reflexionen Butlers ein und mache deutlich, inwiefern in ihnen eine postsouveräne Bezugnahme auf die Praktiken des Schreibens und Lesens von Texten sichtbar wird.

2.1.1 Im Dazwischen: Antigone Am Greif barsten wird das Postsouveräne vielleicht in der Gestalt Antigones, welche Butler in ihrer Analyse des Dramas von Sophokles (5.Jh. v.  Chr.) als eine Figur reformuliert, die das Nicht-Souveräne der Souveränität durch die Bedingungen ihrer Existenz vor Augen führt. Die 442 v. Chr. uraufgeführte Tragödie Antigone ist der letzte Teil der Thebanischen Trilogie von Sophokles, welcher außerdem die Tragödien König Ödipus (434 oder 433 v. Chr.) und Ödipus auf Kolonos (401 v. Chr.) angehören.2 Die Handlung setzt nach dem Tod von Ödipus ein. Polyneikes und Eteokles haben sich gegenseitig im Kampf getötet, wie von ihrem Vater Ödipus prophezeit. Kreon, Bruder des Ödipus und Onkel der vier Geschwister Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene, verbietet jedoch, dass Polyneikes ein Grab erhält, weil dieser sich im Kampf gegen Theben gewendet hatte. Antigone hält sich nicht an dieses Verbot. Sie hat Polyneikes bereits nach der Prophezeiung des Ödipus versprechen müssen, ihn zu begraben, sollte es zu seinem Tod kommen. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als Antigone dabei gefasst wird, wie sie ihren Bruder mit Staub bedeckt und um ihn trauert. Kreon beschließt daraufhin, dass Antigone lebendig in eine Grabkammer eingeschlossen werden soll. Als Antigone diese erreicht, erhängt sie sich, was Haimon, ihren Verlobten und Sohn des Kreon, in große Wut und Trauer stürzt. Haimon stirbt, als er im Kampf gegen den Vater – offenbar absichtlich – in dessen Schwert läuft. Sein Tod führt wiederum zum Selbstmord seiner Mutter Eurydike. Kreon sieht seinen Fehler – zu spät – ein. Im Text Antigones Verlangen: Verwandtschaft auf Leben und Tod (2001, Antigone’s Claim: Kinship Between Life and Death [EA 2000]) geht Butler der Frage nach, auf welche Weisen das Verworfene des Menschlichen produziert, aktualisiert und vor allem auch umkämpft wird. Antigone, die sich gegen das Gesetz ihres Onkels und Königs Kreon stellt, indem sie ihren Bruder Polyneikes bestattet, aktualisiert den Wertekonflikt zwischen der Einhaltung des staatlichen Gesetzes – dem Bestattungsverbot – und dem Befolgen des ›göttlichen‹ Bestattungsgebotes. Butler stellt in ihrer Untersuchung gängige Antigone-Interpretationen infrage, nach denen Antigone als eine Figur zu verstehen sei,

2 | Entstehungs- bzw. Aufführungsdaten der einzelnen Tragödien nach Carl Werner Müller (1996).

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt »die eine vorpolitische Opposition zur Politik zum Ausdruck bringt und dabei Verwandtschaft als diejenige Sphäre repräsentiert, die über die Möglichkeitsbedingungen von Politik bestimmt, ohne je selber Politik zu werden« (AV: 14; Herv. i. O.).

Butler hält dagegen, dass es die antagonistische Deutung von Staat und Verwandtschaft selbst ist, welche die Interpretationen von Antigone motivieren. Zum anderen weist sie auf ihr widersprüchliches und fragmentarisches ›Ich‹ hin und führt vor, dass Antigone mitnichten eine Repräsentantin für ideale Verwandtschaft darstellt. Es wird so deutlich, dass Antigone eher als eine Figur verstanden werden muss, die aufgrund ihrer katachrestischen und damit uneindeutigen und undurchsichtigen Herkunft jede Lesart der ›natürlichen‹ Verwandtschaft erschüttern muss. Denn als Tochter von Iokaste und Ödipus ist sie zugleich Ödipus’ Schwester, da Iokaste auch die Mutter von Ödipus ist. Daneben macht Butler auf die von den Interpretationen überlesene tief empfundene Liebe Antigones zu ihrem Bruder Polyneikes aufmerksam. Sie zeigt die metonymische Verdopplung des Inzests in Ödipus’ Fluch und bemerkt dazu: »Ödipus hat sein eigenes tragisches Geschick, aber Antigones Geschick ist entschieden post-ödipal« (AV: 93).

Indem Butler Antigones Komplexität realisiert und diese in einem postsouveränen Deutungsrahmen ›zu Wort‹ kommen lässt, der Diskontinuitäten, Ambiguität und Fragmentarisches zulässt, kann sichtbar werden, dass Antigone als Kind des Inzests weder innerhalb des strukturalen Verwandtschaftskonzepts noch außerhalb dessen greif bar wird. Sie verfügt aufgrund ihrer Herkunft über eine undurchsichtige Herkunftsposition und existiert in verschiedenen und widersprüchlichen Verwandtschafts- und Begehrensverhältnissen. So ist Ödipus nicht nur Antigones Vater, sondern auch ihr Bruder. Und Antigone liebt Polyneikes, ihren Bruder, der nicht nur Sohn und Bruder ihres Vaters sowie Neffe und Cousin ihres Onkels Kreon ist, sondern auch Feind Thebens, ihrer Heimatstadt. In dieser alle binär gesetzten Normen überschreitenden Begehrensstruktur zeigt sich für Butler das ›Menschliche‹ der Verwandtschaft selbst: »Verwandtschaft ist hier nicht eine Situation, in der sie sich einfach befindet, vielmehr ein Bündel von Praktiken, die auch sie selber ausübt; es handelt sich um Beziehungen, die jeweils durch die Praxis ihrer Wiederholung neu eingesetzt werden.« (AV: 93f.)

Antigone stellt nach Butler allein aufgrund ihrer zutiefst widersprüchlichen Existenz die Universalität der symbolischen Herrschaft infrage. In dem Moment, in welchem sie vor Kreon Rechenschaft über die Bestattung des Poly-

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neikes ablegt, setzt sie sich selbst zu einem verwandtschaftlichen Ordnungssystem in Beziehung. Allerdings wird durch ihre opponierende Bezugnahme nicht nur die Konstruktion des staatlichen Gesetzes infrage gestellt, sondern das struktural organisierte Verwandtschaftssystem gleichermaßen destabilisiert: Nicht trotz Antigones inzestuöser Herkunft, sondern aufgrund dieser repräsentiert die Figur die menschliche Beschaffenheit der Verwandtschaft. Mit Antigone spricht sozusagen die Außengrenze des Menschlichen zu uns und fordert eine Ethik ein, die (auch) ihr die Bedingungen des Überlebens sichert. Butlers epistemologische Setzung, Antigone als ein postsouveränes Subjekt zu deuten, leuchtet Sophokles’ Tragödie hinsichtlich ihrer ethischen Bedeutung für die soziale Konstruktion von Verwandtschaftsprozessen völlig neu aus.

2.1.2 ›Unwirkliches‹ Leben: Venus Xtravaganza, Guantanamo Bay Die Neuinterpretation von Figuren im Kontext des Postsouveränen taucht auch in anderen Schriften Butlers auf. Bereits in Körper von Gewicht (1995, i. O. Bodies that Matter [1993]) erläutert sie anhand der Figur Venus Xtravaganza aus dem dokumentarischen Film Paris is Burning (1991), inwiefern diese nicht als ein Subjekt verstanden werden kann, »das von seinen Identifizierungen Abstand nimmt und in instrumenteller Einstellung entscheidet, ob oder wie jede einzelne davon heute in Anwendung zu bringen ist«, sondern vielmehr als eines, das die »inkohärente und mobilisierende Verzahnung von Identifizierungen« (KvG: 185) sichtbar macht. Venus Xtravaganza ist eine junge Transvestitin und Latina, deren weibliches Erscheinungsbild von ihrem biologischen Geschlechtsorgan gebrochen wird. Mit ihrer leisen, weichen Stimme, ihrer hellen Haut, ihrem schmächtigen Körper und ihrer zurücknehmenden Körperhaltung stellt sie weiße Weiblichkeit ›echt‹ dar. Ihr Wunsch, endlich eine ›richtige‹ Frau zu sein, verweist auf ihre postsouveräne Existenz. Mit Venus Xtravaganza lässt Butler erneut ein Subjekt von der Außenseite des Menschlichen zu uns sprechen. Sie führt Venus Xtravaganza als ein Subjekt vor Augen, das heteronormativ und ethnisch nicht eindeutig verfasst ist. Ihren Tod deutet sie als ein Zeichen für die Macht des Hegemonialen, die performative Überschreitung auszulöschen, die von Venus Xtravaganza im Hinblick auf »soziale Geschlechtsidentität, Sexualität und Rasse« (KvG: 188) ausgegangen ist. In einem ähnlichen Zusammenhang taucht die Figur des Postsouveränen in Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen (2010, i. O. Frames of War. When is Life Grievable? [2009]) auf. Butler thematisiert die Gefangenen von Guantanamo Bay.3 An deren physischer und psychischer Ausgesetztheit 3 | Guantanamo Bay detention camp ist eine US-amerikanische Gefängniseinrichtung, die im Jahr 2002 in der Guantanamo Bay auf Kuba errichtet wurde. Zahlreiche Berichte

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt

wird in ihren Augen erkennbar, inwiefern diese »Möglichkeitsbedingung unseres Begehrens […] zugleich aber die Möglichkeit der Unterwerfung und Grausamkeit« (RdK: 64) erschaffe. Die Gedichte, welche die Gefangenen schreiben, deutet sie als Zeichen des Weiterlebens unter Bedingungen des sozialen Todes, welcher mit einem »unwirklich[en]« (MdG: 45) Leben zusammenfällt: »Sie [die Gedichte] kommen aus einer Szenerie der außerordentlichen Unterdrückung und bleiben zugleich Beweis des hartnäckigen Lebens, verletzlich, überwältigt, eigenes und doch nicht eigenes Leben, enteignet, zornig und hellsichtig.« (RdK: 64)

Durch die Fokussierung auf die Gedichte der Gefangenen kommt deren Unverfügbarkeit über sich selbst, die hier bis ins Extreme – der Ungewissheit über das eigene Überleben – gesteigert ist, in den Blick. Die Gedichte sind in Butlers Lesart Zeugnisse der (derealisierten) Menschlichkeit der Gefangenen, in denen sie von ihrer Angst, Sehnsucht, Liebe und Verzweiflung erzählen. Das Gedicht wird als ein Möglichkeitsraum des ›Ich‹ greif bar, welcher der staatlichen Souveränität widersteht. Das ›Ich‹ der Gefangenen von Guantanamo Bay spricht vermittelt durch die Gedichte wie Antigone und Venus Xtravaganza von der Außengrenze des Menschlichen zu uns. Auch seine Herkunft ist illegitim, seine Handlungsfähigkeit begrenzt und seine Existenz bedroht. Die Trope macht deutlich, dass die Gefangenen von Guantanamo nichts weniger als souverän sind. Fast erscheint die Beschreibung ihres Daseins wie eine Prosopopöie für die Situation des Ausgesetzt-Seins selbst, welche in ihrer Zuspitzung auf die Abhängigkeit vom Anderen als grundlegendes Moment des menschlichen Zusammenlebens hinweist.

2.1.3 Ausgesetzt-Sein an den Anderen: Moses In der Figur Moses begegnet uns die Situation des Ausgesetzt-Seins wieder. In ihrem Text Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (2013, i. O. Parting Ways. Jewishness and the Critique of Zionism [2012]) bezieht sich Butler auf Edward Saids Interpretation der Moses-Figur in Freud und das NichtEuropäische (2004). Daran anschließend macht sie deutlich, dass Moses, als »ein Ägypter« (AS: 41) und »Begründer des jüdischen Volkes« (AS: 41), eine gemischte Herkunft besitzt.4 Als arabischer Jude steht er nach Butlers Ansicht

über die Anwendung von Folter in dem Gefangenenlager führten zu internationaler Kritik und der Forderung, die Einrichtung zu schließen. 4 | Laut dem Alten Testament kann Moses als derjenige gesehen werden, welcher die Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft führte und ihnen die Thora am Berg Sinai übergab.

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für die Relationalität des Jüdischen, womit seine Figur Fragen hinsichtlich der aschkenasischen Zuordnung des Jüdischsein aufwirft. Im Alten Testament wird in der Erzählung in Ex 2,1-10 dargelegt, wie Moses nach seiner Geburt am Ufer des Nil von seiner Mutter in ein Schilfkörbchen gelegt wird. Die Aussetzung ist hier mit dem Gedanken der Rettung verknüpft. Der Herrscher von Ägypten hatte verfügt, dass alle männlichen Nachkommen der Israeliten ertränkt werden sollten. Die Tochter des Pharao findet das Schilfkörbchen und zieht den Jungen auf. In dieser Erzählung kehrt das Motiv der Abhängigkeit vom Anderen in zwei Formen wieder: einmal in der Abhängigkeit des menschlichen Lebens von den Bedingungen für seine Existenz und zweitens in Form der Ausgesetztheit des Subjekts an den Anderen, welcher in der Erzählung um Moses die Gestalt des Feindes annimmt. Butler macht darauf aufmerksam, dass Moses auch als eine Figur verstanden werden muss, die an die Versklavung der Israeliten und deren Auszug aus Ägypten erinnert. Sie stellt die Frage danach, ob sich nicht »vielleicht dennoch auf andere Weise von der je eigenen Geschichte der Vertreibung her die Vertreibung anderer begreifen und bekämpfen« lasse (AS: 42). In Butlers Lesart wird Moses als eine Figur sichtbar, deren Herkunft nicht eindeutig einem ›Ursprung‹ – jüdisch, aschkenasisch, arabisch – zugeordnet werden kann. Seine Existenz ist wiederholt bedroht und zu Beginn seines Lebens vom Mitgefühl seiner Feinde abhängig.

2.1.4 Postsouveränität und Poetologie Das Postsouveräne nimmt in den Schriften Butlers verschiedene Gestalten an. Einmal begegnet es uns in den Narrationen selbst, die nicht selten konzentrisch um ihr Thema kreisen, es hin und wieder vernachlässigen oder scheinbar gänzlich aus den Augen verlieren. Den Schreibstil ihrer theoretischen Texte fasst Butler selbst mit dem Begriff der »Wiederholung« (Butler zit.n. Bublitz 2002: 124): »Ich nehme an, dass die Kohärenz meiner Theorie in der Art und Weise besteht, in der die Fragen sich wiederholen. Sie ist der Kohärenz einer Kurzgeschichte oder Novelle vergleichbar: Man findet dort das wiederkehrende Motiv, das hoffentlich durch die Wiederholung vertieft und komplexer wird.«

Die Abweichungen von einem nüchtern-wissenschaftlichen Schreibstil werden von reflexiven Bemerkungen begleitet und zeichnen Butlers Texte aus. Sie bringen es mit sich, dass den Texten eine kritische Perspektive inhärent ist, die darauf zielt, die Grenzen des Dargelegten zu markieren. Dieser Schreibstil entspricht Butlers Theorieverständnis, demzufolge

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt »Theorie sich, wenn sie einem kritischen Anspruch folgt, an der Grenze zur Lehrmeinung bewegen muss, nicht, um eine kritisierte Theorie völlig aufzulösen, sondern um nachzuvollziehen, wie und auf welche Weise sie konstruiert ist« (ebd. 123f.).

Gleiches gilt auch für die Betrachtung ihrer eigenen theoretischen Überlegungen, die sie in verschiedenen Texten immer wieder aufgreift und neu befragt. In Kritik der ethischen Gewalt (2002, i. O. Giving an Account of Oneself [2005]) konstatiert Butler etwa: »Ich habe diese Strafszene in meinem Buch ›Psyche der Macht‹ vielleicht etwas voreilig als Entstehungsszenario des Subjekts akzeptiert.« (KeG: 24)

Und in ihrem Aufsatz Körperliche Verletzbarkeit, Bündnisse und Street Politics (2014) gibt sie unumwunden zu: »Am Ende dieses Essays wird mir klar, dass ich hier neue Begriffe ohne ausreichende Klärung eingeführt habe.« (KVBuSP: 22)

Die Einleitung zu Am Scheideweg bezieht gar seine eigene Unmöglichkeit mit ein (vgl. AS). Butler referiert explizit auf ihre eigene Schreibform als eine, die den »formalen Grundsätzen« der Philosophie nicht folgt und »an die augenscheinlich durchschaubaren Maßstäbe logischer Strenge und Klarheit nicht heranreicht« (MdG: 380).

Sie legt nahe, dass es auf diese Weise möglich sein könnte, das »›Andere‹ der Philosophie« (MdG: 367) zum Sprechen zu bringen. Schließlich umkreist Butler das Postsouveräne in ihren Texten aus poetologischer Perspektive. In Körper von Gewicht arbeitet sie eine Reihe von Hinweisen auf die Liminalität der ästhetischen Tätigkeit heraus und bringt sie in einen Zusammenhang mit dem politischen Potenzial, das sich daraus ergibt: »Kein Autor oder Text kann eine solche [umfassende/totale] Reflexion der Welt leisten, und diejenigen, die behaupten, solche Bilder zu liefern, sind aufgrund des Anspruchs suspekt. Das Scheitern der mimetischen Funktion hat jedoch seinen eigenen politischen Nutzen, denn das Verfassen von Texten kann ein Weg sein, das neu zu gestalten, was als die Welt gilt.« (KvG: 44)

In der relationalen Verfasstheit und Unabgeschlossenheit des Akts der Darstellung liegt für Butler die Möglichkeit, neue epistemologische Sehweisen auf die betrachteten Sachverhalte zu gewinnen. Gleichermaßen legt sie ein postsouveränes Verständnis der Lesbarkeit des Textes zugrunde. Sie macht deut-

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lich, dass die epistemologische Alterität der im Sachverhalt definierten Welt nicht durch die Darstellung einer Position anerkannt werden kann. Vielmehr benötigt es einen nicht-abschließenden rekonstruierenden Rückblick, der die verschiedenen Positionen, die in Bezug auf die Sachverhalte eingenommen werden können, integriert: »Weil Texte nicht das Ganze ihrer Autoren oder ihrer Welten wiedergeben, gelangen sie als parteiliche Provokationen in ein Feld des Lesens, und sie brauchen nicht nur eine Reihe von vorhergegangenen Texten, um lesbar zu werden, sondern sie geben – im günstigsten Fall – den Anstoß zu einer Anzahl von Aneignungen und Kritiken, die ihre grundlegenden Prämissen infrage stellen.« (KvG: 44)

Als Ergebnis meiner Spurensuche nach dem Postsouveränen in Butlers Texten lässt sich demnach festhalten, dass das Postsouveräne, gekennzeichnet durch reflexive Gesten, als eine bestimmte Poetologie in Erscheinung tritt, welcher ein begrenzter Anspruch auf universale Aussagekraft, philosophische Exaktheit und lineare Darstellung zugrunde liegt. Des Weiteren haben die kursorischen Erkundungen figürlicher Erscheinungen des Postsouveränen in Butlers Texten gezeigt, dass bestimmte Charakteristika eines postsouveränen Verständnisses von Existenz in sie eingeschrieben sind. Antigone, Venus Xtravaganza, die Gefangenen von Guantanamo und Moses: Sie alle stehen für Existenzen, die von anderen abhängen und einer besonderen Gefährdung ausgesetzt sind. Ihre Herkunft ist illegitim und teilweise undurchsichtig. Von ihnen ausgehend entfaltet sich aber, wie Butler zeigt, auch eine bestimmte widerständige Macht. Ihre Uneindeutigkeit und ihre Abhängigkeit wirken der benennenden und festlegenden Gewalt der staatlichen Souveränität entgegen und machen ihren performativen Charakter sichtbar. In dieser Eigenschaft setzt Butler die Figuren dafür ein, den aus dem Erscheinungsbereich des Menschlichen ausgeschlossenen ontologischen Phänomenen Gestalt zu verleihen und damit eine Stimme zu geben. Das Postsouveräne kristallisiert sich dabei als ein spezifischer epistemischer Rahmen heraus, in dem das Subjekt neu erscheint. Er ermöglicht es, Abhängigkeit und Undurchsichtigkeit in Form von Diskontinuitäten, Vermischung, Mehrdeutigkeit, Ambiguität, Ausgesetztheit, Gefährdung und Überschreitung als Formen des Menschlichen anzuerkennen. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Postsouveräne als ein neuer Deutungsrahmen, als eine Möglichkeit der Übersetzung des bis dahin unverständlichen Anderen verstehen. Ich schreibe eine Möglichkeit der Übersetzung, weil das Postsouveräne über den Anderen nicht souverän verfügt. Es begibt sich vielmehr auf die Position des Unverständlichen und richtet sich von dort auf die »epistemologische Begegnung mit der Alterität« (PdM: 181) aus.

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt

2.2 Z um K onzep t des postsouver änen S ubjek ts Das postsouveräne Subjekt oder besser das Konzept des postsouveränen Subjekts wird vor dem Hintergrund der Überlegungen zum Postsouveränen als eine Resignifikation des Subjektverständnisses deutlich. Villa (2003: 44) weist zwar darauf hin, dass Butlers Kritik des »Trugbild[es] der Souveränität« (Hsp: 32) an der Heterogenität der Subjektkonzepte der Moderne vorbeigeht. Gegen diesen Vorwurf lässt sich aber auch einwenden, dass Butler mit der Chiffre der Souveränität eine Denkfigur für ihre Ausarbeitung einer Ontologie des postsouveränen Subjekts gewinnt. Auf diese Weise kann sie der zentralen, ihr Werk bestimmenden Frage nach den Aspekten des ›Ich‹, welche nicht vollständig durch die diskursive Anrufung in der Unterwerfung konstituiert werden können, nachgehen und die Spur »des Unsagbaren, nicht Signifizierbaren« aufnehmen, das sie im sogenannten »konstitutiven Außen« (PdM: 91) lokalisiert. Im Folgenden umreiße ich das Konzept des postsouveränen Subjekts genauer und frage: Wie können wir uns die Konstitution des Subjekts vorstellen? Wie wird das subjektive Verhältnis von Bewusstsein und sozialer Welt erzeugt? Welche Rolle kommt der Macht im Anrufungsprozess zu? Und wie lässt sich diese äußerliche Macht als ein konstitutives Moment bei der Hervorbringung des Subjekts denken? Schließlich: In welcher Weise lassen die Charakteristika des Hervorbringungsprozesses auf eine postsouveräne Konstitution des Subjekts schließen?

2.2.1 Zur Konstitution des Subjekts Bei der Betrachtung der Konstitution des Subjekts ist es sinnvoll, auf einer analytischen Ebene zwischen den zwei Erscheinungsweisen des Subjekts in Butlers theoretischen Texten zu unterscheiden. Zum einen tritt es phänomenologisch in Gestalt des »Lebewesens« (MdG: 27) auf, das in seiner Existenz auf die Fürsorge und Sorge der Anderen angewiesen ist. Damit verbunden ist zugleich eine »leidenschaftliche Bindung an jene, denen es untergeordnet ist« (PdM: 12). Butler macht deutlich, dass es die Unterordnung ist, welche als »fortgesetzte Möglichkeitsbedingung« (PdM: 13) des Subjekts besteht. Fürsorge und Sorge des Anderen sind von Beginn des Lebens an mit der Unterordnung unter die anderen auf psychischer sowie auf körperlicher Ebene verknüpft (vgl. PdM, KeG; vgl. Kapitel 4.1). Die zweite Erscheinungsweise, in der das Subjekt in Butlers Schriften auftaucht, ist die der Intelligibilität. Mit der Frage nach der intelligiblen Form, in der das Subjekt vorliegt, zielt Butler auf die überindividuelle ontologische Erscheinung des Subjekts. In diesem Zusammenhang nimmt sie die epistemischen Rahmen in den Blick, mit denen das Subjekt als menschliches anerkannt wird (vgl. MdG). Auf dieser Ebene beschäftigt sich Butler auch damit,

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die Grenzen des Menschlichen sowie die Formen des Lebens, die von der sich konstituierenden Gestalt des Menschlichen nicht erfasst werden, auszuleuchten (vgl. MdG). Aus den Erläuterungen wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen »Lebewesen« und »Subjekt« auf Ebene des Phänomens ›Mensch‹ nicht aufrechterhalten werden kann. Insofern das Lebewesen als Subjekt intelligibel wird, kann über seine Verfassung vor seiner Subjektivation nur spekuliert werden. Das »Lebewesen« erscheint immer bereits als Subjekt, ob als menschliches oder verworfenes. Dennoch ist es hilfreich, zwischen beiden zu unterscheiden, wenn es darum geht, zu verstehen, in welcher Weise die überindividuelle Form des Subjekts mit den individuellen Möglichkeiten und Grenzen des subjektivierten »Lebewesen[s]« (MdG: 27) verschränkt ist. Die Konstitution des Subjekts wird von Butler in mehreren Texten zum Thema gemacht. Psyche der Macht (2002, i. O. The Psychic Life of Power [1997]) eignet sich für einen systematischeren Nachvollzug der Quellen des Subjektverständnisses bei Butler besonders, weil sie hier verschiedene Theorien des Subjekts kritisch durcharbeitet, die grundlegend für ihre Sichtweise auf den Konstitutionsvorgang sind. In Kritik der ethischen Gewalt (2002, i. O. Giving an Account of Oneself [2005]) stellt sie zwar einige ihrer Gedankengänge aus Psyche der Macht wieder infrage, dabei handelt es sich aber nicht um verwerfende, sondern eher um erweiternde theoretische Bewegungen. Butlers Überlegungen im Zusammenhang mit der Konstitution des Subjekts speisen sich aus einer Reihe philosophischer Quellen, wobei sie sich in Psyche der Macht intensiver mit Anerkennungstheorie sowie der Entstehung der psychischen Phänomene von Schuld und Gewissen auseinandersetzt. Anknüpfend an diese theoretischen Voraussetzungen stellt Butler dar, inwiefern das Individuum von der Macht aus gedacht werden muss, die es als Subjekt erzeugt. Das Subjekt umfasst für Butler keine ontologische Individualität, deren Wesen ergründet werden kann, sondern muss als ein Produkt/Effekt von Diskursen und Normen verstanden werden. Insofern steht das Subjekt für die Preisgabe des Individuums durch den Prozess der gesellschaftlichen Subjektivation. Die Subjektivation bezeichnet einerseits den Vorgang der Subjektwerdung und andererseits die Form, in welcher sich diese vollzieht. So erläutert Butler in Anlehnung an Foucault, dass die Subjektivation »als Form der Macht […] paradox« (PdM: 7) ist. Zum einen hängt das Subjekt von der Macht ab und kann diese Abhängigkeit individuell als »Beherrschtwerden durch eine Macht außerhalb seiner selbst« erleben, zum anderen bringt die Macht das Subjekt aber auch zuallererst hervor, »bildet oder formt« es und verschafft ihm »seine schiere Daseinsbedingung« (PdM: 7; Herv. i. O.). Macht versteht Butler in Anschluss an Foucault als dynamisch und veränderlich:

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt »Macht ist eine Bewegung, eine Verkettung, die sich auf Beweglichkeiten stützt, aber zugleich in bestimmtem Sinne von ihnen abgeleitet ist. Sie ist die von den Beweglichkeiten abgeleitete Verkettung, die sich gegen diese wendet und die Bewegung stillzustellen versucht.« (Hsp: 62)

In ihrem Bemühen, die Bewegung stillzustellen, bleibt die Macht dennoch selbst beweglich, indem sie unermüdlich Verkettungen schafft, welche die Stillstellung bewirken sollen. Die Verkettungen können somit als die produktiven Effekte der Macht gesehen werden (vgl. Foucault 1981). Das Subjekt – selbst ein zentraler produktiver Effekt der Macht – erscheint auf diese Weise als eine Verkettung von normativen Beweglichkeiten auf epistemischer Ebene. Butler denkt im Zusammenhang mit verletzender Sprache darüber nach, inwiefern ein verletzender Name oder die Bezeichnung auf eine »Verstellung« der Macht hinweisen: »Die Macht operiert mittels Verstellung: Sie tritt als etwas anderes als sie selbst in Erscheinung, nämlich als ein Name.« (Hsp: 62; Herv. i. O.)

Simultan wird eine Verschiebung erzeugt, die zunächst einmal zeitlich begründet ist. Die als Name in Erscheinung tretende Macht stellt die Beweglichkeiten für diesen Moment still, sie selbst ist aber weiterhin beweglich und existiert gleichzeitig in weiteren Verkettungen. Aber auch der Name selbst basiert auf Verkettungen, er »trägt in sich die Bewegung einer Geschichte, die er zum Stillstand bringt« (Hsp: 63). Der entscheidende Punkt ist, dass der Name laut Butler eine »Geschichtlichkeit in dem Sinne [besitzt], daß seine Geschichte in den Namen selbst eingezogen ist und seine aktuelle Bedeutung konstituiert« (Hsp: 63; Herv. i. O.).

Denn die »Geschichtlichkeit« ist auf ihre »Sedimentierung und Wiederholung« (Hsp: 63; Herv. i. O.) angewiesen, damit sie ihre Bedeutung für die Namen nicht verliert. Diese wiederholende Praxis der Benennung bezeichnet Butler mit dem Begriff der »performativen Äußerung« (Hsp: 249). Sie erläutert, inwiefern sich in ihr als einer gesellschaftlichen Praxis ein wesentliches Element der Subjektivation zeigt: »Die performative Äußerung ist keine einzelne Handlung eines schon fertigen Subjekts, sondern eine mächtige und hinterhältige Form, in der Subjekte aus zerstreuten sozialen Bereichen in ein gesellschaftliches Leben gerufen werden, in der ihr gesellschaftliches Leben mit einer Vielzahl diffuser und mächtiger Anrufungen inauguriert wird.« (Hsp: 249)

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Poetologie des postsouveränen Subjekts

Doch durch welche psychischen Dynamiken erhält die performative Äußerung ihre Macht? Auf welche Weise gelingt es ihr, Zugang zur intelligiblen Gestalt der Subjekte zu erhalten? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach.

2.2.2 Subjektivation durch ›Anrufung‹ Eng mit der performativen Äußerung ist der Anrufungsvorgang verbunden, durch welchen das Individuum erst zum Subjekt wird. Butlers Überlegungen stützen sich dazu hauptsächlich auf Louis Althussers Ausarbeitungen in dem von Karl Marx’ Schriften inspirierten Text Ideologie und ideologische Staatsapparate (1970). Ausgehend von der Frage danach, wie sich die Reproduktion der Produktionsmittel vollzieht, stößt Althusser hier auf den Zusammenhang von Produktionsmittel und Arbeitskraft. Bei der Beantwortung der Frage, wie Arbeitskraft als Produktionsmittel reproduziert wird, geht er der Bedeutung der ideologischen Staatsapparate wie Schule, Kirche oder Armee bei der »Unterwerfung [des Subjekts] unter die herrschende Ideologie« (Althusser 2010: 43; Herv. i. O.) nach. Für Althusser ist es die Ideologie, welche »die (sie definierende) Funktion hat, konkrete Individuen zu Subjekten zu ›konstitutieren‹« (ebd.: 85; Herv. i. O.). Althusser zufolge »rekrutiert« (ebd.: 88) die Ideologie die Individuen als Subjekte. Sie ist es, welche die Individuen »transformiert […] durch eine ganz genau bestimmte Operation, die wir Anrufung […] nennen« (ebd.: 88; Herv. i. O.). Den abstrakten Vorgang der Subjektkonstitution visualisiert Althusser in einer metaphorischen Darstellung. Ich zitiere diese im Folgenden umfänglich, weil sich in dem hier von ihm entworfenen Vorgang bereits signifikante Merkmale der Anrufungsszene finden, auf die sich Butlers weitere Überlegungen stützen: Die Anrufung durch die Ideologie, welche Butler als Macht fasst, die subjektkonstituierende Wende des Subjekts sowie die Bedeutung der Anerkennung der Macht durch das Subjekt: »Man kann sich diese Anrufung anhand des Typs der banalsten alltäglichen Anrufung vorstellen, wie sie etwa von Polizei wegen oder auch ohne diese Zuspitzung erfolgt: ›He, Sie da!‹ Einmal unterstellt, dass die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, dann dreht sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, dass der ›Anruf‹ genau ihm galt und dass ›es‹ gerade es war, das angerufen wurde‹ (und niemand anderes).« (Ebd.: 88; Herv. i. O.)

Darüber hinaus macht Althusser deutlich, dass die chronologische Struktur der Anrufungsszene eine Hilfskonstruktion darstellt:

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt »In Wirklichkeit treten diese Dinge ohne zeitliche Abfolge auf. Die Existenz der Ideologie und die Anrufung der Individuen als Subjekte sind ein und dieselbe Sache.« (Ebd.: 89)

Trotz dieser Einlassung kritisiert Butler die figürliche Darstellung Althussers als ein »topologisches Dilemma« (PdM: 9). Es verschleiere den Tatbestand, dass das Subjekt durch die Anrufung erst erzeugt wird und daher zu fragen steht, »[w]as oder wer […] hier eine Wende vollzieht, und welches […] der Gegenstand einer solchen Wendung [ist]« (PdM: 9).

2.2.3 Die psychische Dynamik der ›Umwendung‹ Die Frage danach, »[w]as oder wer […] hier eine Wende vollzieht« (PdM: 9), ist zentral für die theoretische Erweiterung, die Butler am Konzept der Subjektivation vornimmt. Sie nähert sich einer Antwort auf diese Frage über Freuds Gedanken zur Melancholie und erläutert, dass die »Melancholie einen Einblick in das Geschehen der Festsetzung und Aufrechterhaltung sozialer Grenzen [bietet], die nicht nur auf Kosten des psychischen Lebens gehen, sondern das psychische Leben in Formen melancholischer Ambivalenz einbinden« (PdM: 157).

Während für Sigmund Freud im Fokus steht, zu ergründen, inwiefern die Melancholie ein Vorgang ist, der bewirkt, dass sich das Ich »›auf sich selbst zurück‹ […] ›wendet‹, […] wenn die Liebe ihr Objekt nicht findet« (PdM: 158), und dabei Aggression und Hass auf sich selbst erzeugt, richtet Butler ihr Interesse auf die psychische Dynamik, die hier durch Freud beschrieben wird. Sie hinterfragt seine Annahme des sich auf sich selbst zurückwendenden ›Ich‹ grundlegend. Ihrer Ansicht nach löst die Verweigerung oder der Verlust des Objekts des Begehrens die Entstehung des ›Ich‹ aus. Das von der Macht angerufene Subjekt erkennt mit seiner Umwendung zu ihr die Bedingung seiner Existenz an. Durch die Aufgabe des begehrten Objekts tritt es in die Sphäre des Intelligiblen ein. Der erlittene Verlust liegt somit jenseits des intelligiblen Bereiches und ist zugleich die Voraussetzung für die Melancholie, die Butler mit Freud als einen »Rückzug aus der Sprache« (PdM: 159) deutet. Der Verlust wird »zur undurchsichtigen Bedingung der Entstehung des Ich, ein Verlust, der es von Anfang an als konstitutiver und anzuerkennender heimsucht« (PdM: 159)

Butler erläutert den Vorgang in einer längeren Passage, die ich im Folgenden zitiere, um deutlich zu machen, dass ›Ich‹ und Objekt erst durch die melan-

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cholische Umwendung erzeugt werden und Innerlichkeit und Äußerlichkeit dabei als Topoi entstehen: »Natürlich nimmt das Ich nicht buchstäblich ein Objekt in sich auf, als wäre es eine Art Unterschlupf noch vor seiner Melancholie. Die psychoanalytischen Diskurse, die von der topographischen Stabilität einer ›inneren Welt‹ und ihrer verschiedenen ›Teile‹ ausgehen, verfehlen den entscheidenden Punkt, nämlich daß die Melancholie genau das ist, was die Psyche verinnerlicht, d.h. den Bezug auf die Psyche durch solche topographischen Tropen erst ermöglicht. Die Wendung vom Objekt zum Ich ist die Bewegung, die zwischen beiden zu unterscheiden erlaubt, die die Teilung, die Trennung oder den Verlust markiert, mit dem die Ichbildung überhaupt erst beginnt. […] Die Wendung bringt somit die Teilung zwischen Ich und Objekt, innerer und äußerer Welt erst hervor, die sie schon vorauszusetzen scheint.« (PdM: 159f.)

Indem in der Melancholie der Verlust nicht anerkannt wird, eröffnet sie die Möglichkeit, die verlorenen Objekte in der Form von psychischen Effekten aufzuheben. Die Psyche lässt sich insofern nicht unabhängig bzw. autonom von der Sphäre des Gesellschaftlichen denken und stellt mitnichten eine spiegelbildliche Entsprechung derselben dar. Sie wird erst durch die melancholische Verinnerlichung erzeugt und ist eher als eine ins ›Ich‹ gewendete Ansammlung von verinnerlichten Verlusten zu fassen, die mit Butler als Spuren der normierenden Macht lesbar werden. Das ›Ich‹ wird in Butlers Lesart in einem Prozess der Enteignung durch Verluste hervorgebracht. Seine Psyche entsteht durch die Wendung des ›Ich‹ auf die Verluste und deren melancholische Wiederaneignung. Dieser Vorgang verweist zum einen auf die konstitutive Abhängigkeit des Subjekts von anderen, welche die Bindung an andere und Objekte bedingt und seinen Verlusten notwendig vorausgeht. Zum anderen offenbart er eine konstitutive Verletzlichkeit des Subjekts, die der Situation des Ausgesetzt-Seins an die Anderen entspringt. Die performative Äußerung übt ihre ›Macht‹ über die Anrufung des Subjekts aus, indem sie normativ an der Gestalt des Subjekts mitwirkt. Das ins soziale Dasein gerufene ›Ich‹ ist von den Normen, welche sein Selbst konstituieren, grundlegend abhängig.

2.3 Z ur H andlungsfähigkeit des   postsouver änen  S ubjek ts Welche Konsequenzen hat die Konstitution des Subjekts als Effekt der Macht für seine Handlungsfähigkeit? Wenn das ›Ich‹ erst durch Subjektivation überhaupt handlungsfähig wird, kann es Weisen der Artikulation von Kritik durch Identifikation mit den gesellschaftlichen Anrufungen entwickeln. Die Hand-

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt

lungsfähigkeit, wie Butler sie versteht, besteht daher stets nur in einer konkreten historischen Situation und ist dabei immer bereits in ein Kräfteverhältnis verstrickt: »Man sollte nicht vergessen, dass die ›Handlungsfähigkeit‹ keine formale Existenz hat bzw. dass dies keine Auswirkungen auf die vorliegende Frage hat. In gewissem Sinne weigert sich das epistemologische Modell, das uns ein vorgegebenes Subjekt oder einen Handlungsträger anbietet, anzuerkennen, dass die Handlungsfähigkeit immer und ausschließlich ein politisches Vorrecht ist.« (FesL: 45; Herv. i. O.)

Ob ein Subjekt handeln kann, hängt bei Butler nicht von seinen individuellen Anlagen oder Charakteristika ab, sondern von den gesellschaftlich-historischen Bedingungen, unter denen es existiert. Ausgehend von dem Dilemma, dass das Subjekt erst durch die Unterwerfung unter die Norm handlungsfähig wird und Entunterwerfung demzufolge nicht durch die Loslösung von der Norm erfolgen kann, setzt sich Butler mit der Konstitution von Normen auseinander. Sie fragt danach, wie es dazu kommt, dass Normen – vormals individuelle kontingente Annahmen über die Ordnung der Welt – so wirkmächtig werden, dass sie die Grenzen des Erlaubten markieren. In Körper von Gewicht konkretisiert sie diesen Prozess: »Woher bezieht allerdings das bereits bestehende Gesetz, dass er [der Richter] zitiert, seine Autorität? Gibt es eine ursprüngliche Autorität, eine Primärquelle, oder liegt es vielmehr in der eigentlichen Praxis des Zitierens, die in ihrer Rückläufigkeit potenziell unendlich ist, daß der Grund der Autorität als ein dauerndes Aufschieben konstituiert wird? Anders gesagt, durch genau das unendliche Aufschieben der Autorität auf eine uneinholbare Vergangenheit wird Autorität selbst konstituiert.« (KvG: 155f.; Herv. i. O.)

Ich habe diese Textstelle so umfänglich zitiert, weil sie verdeutlicht, dass die Macht der Norm entscheidend davon abhängt, dass sie wiederholt zitiert wird. Die Aussage hat nicht qua ihres Inhalts Autorität, sondern gewinnt diese erst durch ihre kontinuierliche Zitation. Butler stellt mit dem Begriff der Performativität auf diese wiederholende Praxis des Zitats von Normen eines regulierenden Regimes ab, durch welche Subjekte hervorgebracht und gleichzeitig illegitime Subjekte verworfen werden. Die Iteration5 ist es also, die in der Lesart Butlers als Urheberin der Autorität verstanden und als Möglichkeit des Widerstands ins Auge gefasst werden muss. Sie ist auf die Einholung der Norm ausgerichtet und erschafft diese 5 | Butler schließt hier an Derrida an, der zuerst 1971 auf die Iterabilität jedes Zeichens aufmerksam gemacht hat. Eine Äußerung muss demnach wiederhol- und zitierbar sein, um performativ zu werden (vgl. Derrida 1976).

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damit zugleich, indem sie sie für die dauerhafte Anwesenheit der Norm in der Zeit birgt. Die Iteration begründet die Vergangenheit der Norm innerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, in welchem ihre Legitimität anerkannt wird. Nur wenn es gelingt, sich die Norm anzueignen, sie zu zerstreuen oder zu reformulieren, dann lässt sich, so Butler, die »Zukunft durch den Bruch mit der Vergangenheit« (Hsp: 248) begründen. Die performative Äußerung kann punktuell zu einer Verbündeten des Widerstands werden, wo sie sich die Macht der Benennung aneignet und die Benennung resignifiziert. Voraussetzung dafür ist eine Kritik, die daran mitwirkt, »zu zeigen, wie Wissen und Macht arbeiten, um eine mehr oder minder systematische Ordnungsweise der Welt mit ihren eigenen ›Bedingungen der Akzeptabilität eines Systems‹ zu konstituieren, aber auch ›den Bruchstellen zu folgen, die ihr Entstehen anzeigen‹. Es muss also nicht nur der merkwürdige Knotenpunkt von Macht und Wissen isoliert und identifiziert werden, der das Feld intelligibler Dinge eröffnet, sondern es muss auch die Art und Weise rekonstruiert werden, in der dieses Feld den Punkt seines Aufbrechens erreicht, die Momente seiner Diskontinuität, die Stellen, an denen es an der Konstitution jener Intelligibilität scheitert, für die es steht.« (WiK: 260)

Kritik – und hierbei knüpft Butler an verschiedene Vordenker_innen an, allen voran Immanuel Kant und Michel Foucault – fragt nach den »Grenzen von Erkenntnisweisen« immer dann, wenn sie »innerhalb des epistemologischen Feldes in eine Krise des epistemologischen Feldes geraten ist« (WiK: 252f.).

2.3.1 Realisierung und Resignifikation als Strategien der Kritik Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Ausführungen wird Kritik als eine »epistemische Aufgabe« (Hark 2009: 32; Herv. i. O.) sichtbar, welche das Unaussprechliche des konstitutiven Außen in den Raum des Intelligiblen einführt. Zwei Strategien, diese »epistemische Aufgabe« anzugehen, kristallisieren sich in Butlers Texten heraus: Realisierung und Resignifikation. Über alle Texte Butlers hinweg scheint die Politik der Realisierung Zielpunkt kritischer Arbeit an der Norm zu sein. Hierin zeigt sich, dass es Butler mit der Verschiebung der Norm nicht darum geht, die Handlungsfähigkeit des Individuums um jeden Preis zu vergrößern, sondern vielmehr darum, den Preis für die Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft auf alle Individuen gleich zu verteilen. Die Politik der Realisierung zielt darauf, diesen Preis gesellschaftlich anerkennbar zu machen. Butlers Vorschlag, die Normen kritisch zu hinterfragen, und ihre Forderung, wenn nötig Widerstand gegen sie zu üben, ist gerahmt von der Überzeugung davon, dass nur auf diese Weise realisiert werden kann, welche Verluste die Subjekte für ihre Existenz in der Gesellschaft erleiden, und auch

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von der Einsicht, dass mit bestimmten Subjektpositionen mehr Gefährdungen für die Existenz ausgehen als mit anderen (vgl. KVBuSP). Die Strategie der Realisierung findet in vielen von Butlers Texten Anwendung. Umreißt sie beispielsweise in Unbehagen der Geschlechter und Körper von Gewicht insbesondere die Subjektpositionen Homosexueller und Inter- und Transpersonen, verdeutlicht sie in Haß spricht. Zur Politik des Performativen (1998, i. O. Excitable Speech. A Politics of the performance [1997]) die Subjektposition, die rassistisch diskriminierten Individuen zuerkannt wird. In Gefährdetes Leben. Politische Essays (2005) und Raster des Krieges (2010) werden die intelligiblen Voraussetzungen für die Schaffung der Subjektposition des ›Feindes‹ ebenso erörtert wie der als ›feindlich‹ verfasste Andere als ›Mensch‹ realisiert. Subversive Resignifikation als Strategie der Kritik ist eine Form der »Handlungsmacht, die an den Rändern der Macht entsteht« (Hsp: 244). Anknüpfend an Bourdieus Ausführungen über die Macht des autorisierten Sprechens führt Butler den Gedanken aus, dass Sprechen auch dann Effekte freisetzen kann, wenn es von einer nicht-autorisierten Position aus geschieht. Dies wird insbesondere daran deutlich, dass wesentliche Festlegungen oder Benennungen der Macht, wie etwa vergeschlechtlichende oder rassifizierende Zuschreibungen »aus verschiedenen zerstreuten Bereichen hervor[gehen], die nicht immer als ›offizieller‹ Diskurs arbeiten« (Hsp: 245). Aus der Möglichkeit, »autoritativ zu sprechen, ohne zum Sprechen autorisiert zu sein«, leitet Butler die Strategie der »subversiven Resignifikation« (Hsp: 246) ab. Denn der Moment, »in dem ein Sprechakt ohne vorgängige Autorität gewinnt, kann einen veränderten Kontext seiner zukünftigen Rezeption antizipieren und setzen« (Hsp: 250). Mit der illegitimen und subversiven Aneignung des Sprechens wird zugleich eine Dekontextualisierung der Aussage herbeigeführt, welche den »›Bruch‹ mit dem alltagssprachlichen Diskurs« (Hsp: 226) begründet. Bereits das Herauslösen der Aussage aus ihrem vormals legitimen Kontext kann zu einem »Akt[…] des Widerstands« (Hsp: 227) gerinnen. Mit der Aussetzung des autoritativen Sprechens wird notwendigerweise eine Katachrese und damit eine Veränderung der Aussage auf der semantischen Ebene bewirkt: »Katachrestische Effekte im politischen Diskurs sind nur möglich, wenn Begriffe, die traditionell in einer bestimmten Weise bezeichnet haben, für andere Zwecke fehlangeeignet werden.« (Hsp: 226)

Resignifikation als Strategie der Kritik setzt an der Notwendigkeit der Iteration zur Aufrechterhaltung des Bestehenden an. Sie eignet sich die legitime Aussage in einem »Akt[…] des Widerstands« (Hsp: 227) an und erzeugt über diese Aneignung eine Überschreitung, Brechung und Dekontextualisierung des Legitimen. Die katachrestische »›Wiedereinschreibung‹« (Hsp: 226) kann schließlich dazu führen, dass ontologische Gewissheiten erschüttert, Be-

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schränkungen revidiert und in neuer Weise reformuliert werden, die die Grenzen des Menschlichen bis dahin bezeichneten.

2.3.2 Postsouveränität und Kritik Wie sich in den Überlegungen zur Handlungsfähigkeit des postsouveränen Subjekts zeigt, geht es bei dem Entwurf einer Ethik, die sich auf ein solches bezieht, nicht um die Überwindung einer humanistischen Weltanschauung im Sinne des Verwerfens oder Durchkreuzens von Humanität. Vielmehr steht in ihrem Fokus die Frage nach den Möglichkeiten von Handlungsfähigkeit an den Grenzen der humanistischen Vorstellungen. Für Butler setzt »die Handlungsmacht gerade dort ein, wo die Souveränität schwindet« (Hsp: 32). Nur, wenn die Beschränkungen und Undurchsichtigkeiten, welche die Subjekte konstituieren, in deren Handlungsentwürfe einbezogen werden, kann es gelingen, dem Diskurs wirkmächtig Spielräume für das Erscheinen des menschlichen Subjekts abzuringen. Butler geht nicht von einem souveränen Subjekt aus, das in ihrer Definition »Macht immer und ausschließlich instrumentell gegen ein anderes [Subjekt] ausübt« (Hsp: 219), sondern von einem postsouveränen Subjekt, dessen Verfasstheit immer schon von Verwerfungen abhängt. Gerade weil die Handlungsmacht des Subjekts ein Effekt der Macht ist, der immer wieder von Neuem performativ realisiert werden muss, ist die Möglichkeit der kritischen Intervention zwar verdeckt, aber nicht verstellt. Kurz: Die Notwendigkeit der Wiederholung bringt gleichzeitig auch die Möglichkeit zur Handlungsmacht hervor. Daher versteht Butler die »Aufgabe der Kritik […] nicht einfach darin, ›gegen‹ das Gesetz zu sprechen, als wäre das Gesetz dem Sprechen äußerlich und Sprechen der privilegierte Ort der Freiheit« (Hsp: 219).

Erinnern wir uns an Antigone zurück, für deren Sprechen Butler herausarbeitet, dass dieses weniger in der Performanz einer Gegenrede als vielmehr einer metonymischen Rede von einem illegitimen Ort des Diskurses aus besteht. Antigones inzestuöse Herkunft verleiht ihrer performativen Bezugnahme auf Verwandtschaft die Handlungsmacht, Kreons strukturale Setzungen in Zweifel zu ziehen. Antigone nimmt diverse Plätze im Verwandtschaftssystem ein, indem sie zugleich Tochter und Schwester des Ödipus als auch die Schwester der miteinander verfeindeten Brüder Polyneikes und Eteokles sowie Kreons zukünftige Schwiegertochter ist. Zwar greift sie Kreons Handlungsmacht nicht offen an, dennoch stellt sie das Ordnungssystem, welches seine Handlungsmacht legitimiert, durch die Überdeterminiertheit ihrer eingenomme-

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nen Positionen infrage. Staat und Verwandtschaft sind in der Tragödie ebenso durchmischt wie die einzelnen verwandtschaftlichen Positionen: »Wenn schließlich der Vater der Bruder ist, was ist dann eigentlich der Unterschied zwischen ihnen und weshalb soll das Verlangen des Ödipus höher stehen als das des Polyneikes?« (AV: 95)

Hier deutet sich eine »Krise des epistemologischen Feldes« (WiK: 253) an, die eine spezifische Situation der Uneindeutigkeit erzeugt und in den Augen Butlers auf der Ebene des Diskurses zu Handlungsfähigkeit führt. Diese Handlungsmacht hat eine entschieden ethische Qualität insoweit, als die Resignifikation der Norm ein Moment der Unentschiedenheit enthält, durch welches eine Erweiterung des Bereiches menschlicher Existenz möglich wird. Antigone wird von Butler als zentrale Figur einer Grenze des Menschlichen verwendet. Sie stellt qua ihrer Existenz die ›natürliche‹ Autorität des Inzesttabus infrage. Antigones Anspruch auf Existenz markiert zum einen die Grenze des Menschlichen, von welcher aus ihr das Recht zu leben abgesprochen wird, zum anderen ist es gerade ihr Anspruch, der die Grenze verschiebt und den Bereich möglichen Lebens ausdehnt. In dieser Hinsicht kann sie als Prosopopöie einer Form der Kritik gelten, die sich nicht gegen den Diskurs stellen kann, weil sie konstitutiv von ihm abhängt. Zugleich ist Antigone gezwungen gegen den Diskurs zu arbeiten – ihn gleichsam umzuarbeiten, weil sie in den von ihm bereitgestellten Anerkennungsformen nicht aufgeht und er sie deshalb in ihrem Überleben bedroht. Butler schlussfolgert aus dieser Konstellation, dass Kritik in dieser Form wirkungsvoll – also handlungsmächtig – sein kann, weil »[d]ie Kraft und die Bedeutung einer Äußerung […] nicht ausschließlich durch frühere Kontexte oder ›Positionen‹ determiniert [sind]; eine Äußerung kann ihre Kraft gerade aus dem Bruch mit dem Kontext gewinnen, den sie ausführt« (Hsp: 227).

2.3.3 Kritik als ethische Haltung Kritik wird von Butler als Praxis beschrieben, die weniger auf ein zu kritisierendes Objekt als vielmehr auf die kritische Analyse seiner epistemologischen Voraussetzungen abzielt. Unter Ausschöpfung der Möglichkeiten, die sich durch die »strukturelle Ungesättigtheit« (Derrida 1976: 126) der Kontexte ergeben, gelingt es dem kritisierenden Subjekt, eine ›eigenständige‹ Variation des Wirklichen zu entwerfen. Foucault (1978) thematisiert diese Möglichkeit in seinem Vortrag Was ist Kritik? als Voraussetzung für eine »Kritik-Aktivität« (Foucault 1992: 9). Mit seinen Überlegungen zu einer »kritischen Haltung als Tugend« (ebd.: 9) bereitet er gleichzeitig seinen später erscheinenden analyti-

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schen Schriften zu den ethischen Konzepten der entunterwerfenden Selbstführung den Weg (vgl. Foucault 1989a; 1989b). Worauf es mir hier ankommt, ist das spezifische Verhältnis von Subjekt und Kritik, welches Foucault entwirft und auf das Butler im Zusammenhang mit ihren Arbeiten an einer Ethik des postsouveränen Subjekts zurückgreift. Foucault nimmt in Der Gebrauch der Lüste (1986, i. O. L’usage des plaisirs [1984]) eine ausführliche Ausarbeitung des Verhältnisses von Moral und Subjekt als Ausgangspunkt einer Theoretisierung widerständiger Lebenskunst vor, wobei er unter ›Moral‹ ganz allgemein das Regulativ der Lüste und unter ›Subjekt‹ einen Effekt der Macht versteht (vgl. Dreyfus/Rabinow 1982). Die Unterscheidung zwischen ›Moralcode‹ und ›Moralverhalten‹ verschafft ihm die Möglichkeit, die unterschiedlichen Bezugnahmen auf Regeln und Normen auf drei verschiedenen Ebenen zu denken. Einmal bestimmt Foucault die »Unterwerfungsweise« als die Ebene, die beschreibt, auf welche Weise »das Individuum sein Verhältnis zur Regel einrichtet und sich für verpflichtet hält, sie ins Werk zu setzen« (Foucault 1989a: 38; Herv. i. O.).

Eine zweite Ebene bezeichnet die »Formen der ethischen Arbeit oder Ausarbeitung – und zwar nicht nur, um sein Verhalten einer gegebenen Regel anzupassen, sondern um zu versuchen, sich selber zum moralischen Subjekt seiner Lebensführung umzuformen« (ebd.; Herv. i. O.).

Da moralische Handlungen immer in einer sie einbettenden Erzählung verankert sind und aus dieser ihre Legitimität in der Einlösung eines kontinuierlichen Selbstentwurfs schöpfen, unterscheidet Foucault schließlich die Ebene der »Teleologie des Moralsubjekts« (ebd.; Herv. i. O.). Wenn die »Bestimmung der ethischen Substanz« als die »Art und Weise, in der das Individuum diesen oder jenen Teil seiner selber als Hauptstoff seines moralischen Verhaltens konstituieren soll,« (ebd.: 37; Herv. i. O.) verstanden wird, dann lässt sich die Reflexion auf eine Ästhetik der Existenz als Beitrag zur Erzeugung kritischer Subjektivität verstehen. Butler schließt daran an und folgert für das Subjekt, dass es »keine Erzeugung seiner selbst (Poiesis) jenseits eines Modus der Subjektwerdung (assujettisement) geben kann, folglich keine Selbsterzeugung jenseits der Normen, welche die möglichen Formen verzeichnen, die ein Subjekt annehmen kann, [gibt]« (KeG: 27; Herv. i. O.).

Wir treffen hier erneut auf den Gedanken, dass das Subjekt auf Grundlage der Anrufung hervorgebracht wird. Butler geht es in Kritik der ethischen Gewalt

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jedoch nicht um die Analyse der psychischen Dynamik dieses Vorgangs, sondern um dessen ethische Konsequenzen, die sich daraus ergeben, dass sich die kritische Praxis nicht auf einer »angeborenen Freiheit der Seele [›gründet‹], sondern […] vielmehr im Schmelztiegel eines bestimmten Austauschs zwischen einer Reihe (schon vorhandener) Regeln oder Vorschriften und einer Stilisierung von Akten geformt [wird], die diese schon vorhandenen Regeln und Vorschriften erweitert und reformuliert« (WiK: 234).

Die Verbindungsstelle zwischen Kritik und Ethik findet sich insofern in der »Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992: 12). Butlers Arbeiten machen darüber hinaus deutlich, dass Regiert-Werden nicht nur bedeutet, dass wir gezwungen werden, in einer bestimmten Weise zu leben, sondern vor allem, »dass uns die Bedingungen vorgeschrieben werden, unter welchen Existenz möglich oder nicht ist« (WiK: 258). Die Kritik muss sich daher die Frage stellen, in welchen Weisen Zusammenleben organisiert werden kann. Butler erkennt diesen Punkt sehr genau und verbindet Ethik, Gesellschaftstheorie und Subjekt in der Frage des Zusammenlebens, wenn sie feststellt: »Die Ethik findet sich nicht nur in die Aufgabe der Gesellschaftstheorie verwickelt, sondern die Gesellschaftstheorie muss, soll sie zu nicht-gewaltsamen Ergebnissen führen, auch einen lebendigen Ort für dieses ›Ich‹ finden.« (KeG: 16)

Mit Butler lässt sich die Kritik als eine besondere Form der Subjektivation verstehen, welche sich auf der Ebene der Äußerung metonymisch vollzieht. Das postsouveräne Sprechen zeichnet sich demnach qua seiner abweichenden Herkunft immer bereits als eine kritische Intervention aus, weil es eine entunterwerfende Gestaltung des Subjekts selbst hervorbringt und von dieser bedingt ist. In diesem Zusammenhang stellt ein sich selbst transformierendes Subjekt, das sich bezogen auf die ethischen Regeln sowie die praktische Ausübung der Kritik als ›kritisches‹ hervorbringt, den wesentlichen Ort der Erzeugung kritischer Handlungsmacht dar (vgl. WiK). Die Frage nach der ›richtigen‹ Lebensführung kann gerade an der Stelle zu einer Quelle des Widerstands gerinnen, an der sie die Tugend als ein Mittel bestimmt, die Grenzen des Selbst kritisch zu realisieren.

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2.4 V er ant wortung als R e alisierung der G renzen   des  ›I ch ‹ Wenn es der Anspruch einer Ethik des postsouveränen Subjekts ist, einen »lebendigen Ort für das ›Ich‹ zu finden« (KeG: 16), dann stellen die Einsicht in die konstitutive Abhängigkeit des Menschen von den Anderen und die Realisierung des Subjekts als Effekt der Macht wesentliche Ausgangspunkte für ihren Entwurf dar. Butler denkt diese Ethik konsequent ausgehend von der Handlungsmacht des postsouveränen Subjekts. Diese wird durch eine Kritik gespeist, welche die sogenannten ›ontologischen‹ Tatbestände als machtvolle diskursive Festlegungen aufdeckt und kritisch auf ihre politischen Einsätze hin befragt. Die ethische Haltung der Kritik beinhaltet es, die epistemologische Beschaffenheit der Normen auf die Effekte zu überprüfen, die ihre Existenz ermöglichen. Wer fällt unter das Menschliche? Wie wird es konstruiert, hergestellt, beglaubigt und schließlich reproduziert? Welche Subjekte werden vom Menschlichen verworfen und was bedeutet das für sie? Verantwortung bedeutet für das postsouveräne Subjekt, »sich die Grenzen des Selbstverständnisses einzugestehen und diese Grenzen nicht nur zur Bedingung des Subjekts zu machen, sondern als Zwangslage der menschlichen Gemeinschaft überhaupt anzunehmen« (KeG: 113).

Im Folgenden soll nach den Momenten gefragt werden, die freigelegt werden, wenn die »Grenzen des Selbstverständnisses« (KeG: 113) als Bedingung für eine Ethik des postsouveränen Subjekts realisiert werden.

2.4.1 Moralische Unverfügbarkeit In Kritik der ethischen Gewalt leuchtet Butler die »Grenzen des Selbstverständnisses« (KeG: 113) als die Bedingungen des Sprechens von sich selbst aus. Davon ausgehend problematisiert sie, dass, wenn das Subjekt immer bereits in Bezug zu den gesellschaftlichen Bedingungen seines Auftretens existiert, es auch »gar keine Geschichte von sich selbst, die nicht zugleich die Geschichte seiner Beziehung – oder seiner Beziehungen – zu bestimmten Normen ist,« (KeG: 15) haben kann. Diese Einsicht, die für Butler notwendigerweise aus den Überlegungen über das Verhältnis von Subjekt und Macht folgt, stellt gleichzeitig das elementare Moment einer jeden moralischen Lebensführung infrage: die Zurechenbarkeit. Weil dem Subjekt aufgrund seiner koextensiven Verstrickungen mit der Macht die Möglichkeit der lückenlosen Rechenschaft von sich selbst verwehrt ist, fragt Butler, unter welchen Bedingungen dieses dann überhaupt noch in Anspruch nehmen kann, ein moralisches Subjekt zu sein:

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt »In mir und an mir ist etwas, von dem ich keine Rechenschaft geben kann. Bedeutet das jedoch, dass mir im moralischen Sinn nicht zuzurechnen ist, wer ich bin und was ich tue?« (KeG: 57)

Da jedes Subjekt immer bereits aufgrund seiner gesellschaftlichen Hervorbringung enteignet ist, bleibt ihm notwendig die (ganze) Geschichte seiner Entstehung undurchsichtig. Für das Subjekt lässt sich gar nicht eindeutig klären, welchen Anteil die umgewendeten diskursiven Elemente an seiner Psyche haben, da Subjekt und Psyche koexistent sind. Individuum und Psyche des Subjekts sind unumkehrbar mit der Gesellschaft verschränkt. Insofern lässt sich weder die Stimme des Gewissens als ›objektive‹ moralische Instanz anrufen, wie schon Nietzsches und Althussers Arbeiten nahelegen, noch kann es eine Ethik geben, die von den Individuen unabhängig existiert. Doch worauf lässt sich eine Ethik dann gründen, wenn nicht auf einem Subjekt, dem moralische Handlungsfähigkeit und Zurechenbarkeit uneingeschränkt zur Verfügung stehen? Butler macht deutlich, dass es in ihren Augen gerade die moralische »Unverfügbarkeit« (KeG: 15) sein könnte, die zum wesentlichen Ausgangspunkt der Lösung moralischer Probleme taugt: »[W]enn das ›Ich‹ nicht mit den moralischen Normen zusammenfällt, die es aushandelt, so heißt das nur, dass es über diese Normen nachdenken muss und dass diese Überlegungen auch zu einer kritischen Einsicht in deren gesellschaftliche Genese und Bedeutung führen werden.« (KeG: 16)

Sie entwirft eine Ethik, die das Menschliche konsequent von den Grenzen der Autonomie und damit von seiner essenziellen Abhängigkeit her denkt sowie der Unwissenheit eine ethische Wertigkeit verleiht. Während der Humanismus danach fragt, was ›Menschlichkeit‹ einschließt – also Toleranz, Gewaltfreiheit oder Gewissensfreiheit – und damit die Werte und Würde des Menschen festzuschreiben versucht, fragt Butler nach den Ausschlüssen, die durch die humanistischen Festlegungen gemacht werden (vgl. Soper 1997).

2.4.2 Derealisierungen des ›Ich‹ Angefangen bei den Ausarbeitungen zur Geschlechterperformativität über ihre Anregungen hinsichtlich der diskursiven Verfasstheit des Körpers, den Analysen zum Verhältnis von Psyche, Macht und Subjekt hin zu den Arbeiten zu einer Ethik des postsouveränen Subjekts begleitet die Schriften Butlers die ständige Schärfung des »Sinn[s] für den Wert des Lebens, allen Lebens« (GL: 14). Aus der Prämisse, dass »das ›Menschliche‹ […] nicht ein für alle Mal erfasst« (MdG: 28) werden kann, wendet Butler das ›Problem‹ der gesellschaftlichen Verfasstheit des Subjekts in den Lösungsansatz. Da die Subjekte immer

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bereits von Normen konstituiert sind, deren Urheberschaft nicht bei ihnen liegt, sieht Butler in der Erkenntnis der Funktionsweise dieses Konstitutionsprozesses einen wesentlichen Schritt auf das Ziel zu, »zwischen den Normen und Konventionen zu unterscheiden, die es den Menschen erlauben, zu atmen, zu begehren, zu lieben und zu leben, und solchen Normen und Konventionen, welche die Lebensbedingungen selbst einengen oder aushöhlen« (MdG: 20).

In Kritik der ethischen Gewalt arbeitet Butler die ethischen Prämissen heraus, die aus der Subjektivation folgen. Zunächst stellt sie den Gedanken dar, dass es die Rechenschaft ist, die von den Subjekten eingefordert wird, welche diese dazu bringt, sich in ein Verhältnis zu den Normen zu setzen. Weil Rechenschaft immer bereits im Hinblick auf einen Anderen, der diese einfordert, abgelegt wird, muss sie dialogisch verstanden werden. Im Gegensatz zu Nietzsche, der die Rechenschaft im Kontext der Strafe problematisiert, macht Butler deutlich, dass noch eine Vielzahl weiterer Motivationen besteht, Rechenschaft zu geben (vgl. KeG). Mit der Dialogizität der Rechenschaft kommen drei Aspekte der moralischen Unverfügbarkeit des ›Ich‹ genauer in den Blick. Erstens handelt es sich um die Erkenntnis, dass wir nie eine lückenlose Rechenschaft ablegen können: »Wenngleich wir gezwungen sind, Rechenschaft von unseren diversen Selbsten zu geben, werden wir sehen, dass die strukturellen Eigenschaften der Rechenschaft verhindern, dass wir dies je vollständig tun können.« (KeG: 31)

Dazu gehört insbesondere, dass sich das ›Ich‹ zu Beginn seines Daseins noch gar nicht auf sich selbst beziehen kann. Seine Selbstbildung findet damit zu einem Zeitpunkt statt, zu dem es dem ›Ich‹ unmöglich ist, sich die Identifizierungen, die es eingeht, und die Handlungen, die es tätigt, als seine Geschichte zuzuschreiben (vgl. Kapitel 6.1). Zweitens impliziert der Gedanke, dass wir Rechenschaft »stets einem – ob eingebildeten oder realen – Anderen gegenüber ab[legen]«, dass »dieser Andere die Anredeszene in eine ethische Beziehung [›verwandelt‹], die ursprünglicher ist, als der reflexive Versuch, sich selbst darzustellen« (KeG: 32).

Dies geht auf die Annahme zurück, dass jeder Situation, die von mehr als einem Individuum gestaltet wird, eine Dimension ethischer Verfasstheit in dem Sinn zugrunde liegt, dass gemeinsam ›auf eine bestimmte Weise‹ gehandelt werden muss. Drittens ist der Rechenschaft ihr ordnender Charakter immanent. Dazu gehört nicht nur, dass bestimmte Ereignisse ausgewählt und andere beiseitegelassen werden – vielmehr ist es so, dass einzelne Geschehnisse,

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt

Eindrücke und Gefühle als ›Ereignisse‹ erst in dem Augenblick hervorgebracht werden können, in dem sie von einer Geschichte aus einen Ereignischarakter zugeschrieben bekommen (vgl. Ahmed 2004; Krasmann 1995). In der Rechenschaft fallen diese drei Aspekte mit der Anerkennungssituation zusammen und bewirken eine undurchsichtige moralische Konstitution des Subjekts: »Die Perspektive, die die Möglichkeit meiner eigenen Perspektive zugleich bedingt und mich von ihr abbringt, lässt sich nicht auf die Perspektive des Anderen reduzieren, da sie auch die Möglichkeit der Anerkennung des Anderen durch mich und meiner Anerkennung durch den Anderen regelt. Wir sind keine in uns abgeschlossenen Dyaden, da unser Austausch durch die Sprache bedingt und vermittelt ist, durch Konventionen, durch Ablagerungen von Normen, die ihrem Wesen nach gesellschaftlicher Art sind und die Perspektive der am Austausch Beteiligten übersteigt.« (KeG: 42)

Die Konstitution ist undurchsichtig, weil die Anerkennung nicht allein durch den einen Anderen – wie bei Hegel durch die dyadische Herr-Knecht-Situation dargestellt – ›gegeben‹ werden kann, denn auch dieser Andere steht in einer Vielzahl von Anerkennungsverhältnissen. Die Macht des Anderen über mich ergibt sich vielmehr aus der Gesellschaftlichkeit der Normen selbst (vgl. KeG: 43). Die Moral kann in diesem Sinn als eine ekstatische, eine entäußerte Moral beschrieben werden. Butler denkt die Moral als eine, die sich durch Umwendung in den Individuen enteignet; eine Moral, die damit über die Bedingungen ihrer eigenen Anerkennung selbst auch nicht verfügt. Die Stelle des Subjekts ist insofern immer die Stelle der Aktualisierung der Moral, welche notwendig doppelt undurchsichtig ist. Es ist einmal nicht kalkulierbar, wie das Individuum sich als Subjekt von der Moral aus konstituieren wird und es ist für das Subjekt selbst nicht lückenlos zu klären, welche Anerkennungsverhältnisse es eingegangen ist. Die Undurchsichtigkeit des Selbst kann als eine Metapher für die moralische Unverfügbarkeit des ›Ich‹ verstanden werden, die aus seiner Verflechtung mit dem Anderen einerseits und den Normen der Macht andererseits resultiert. Als Metapher bezeichnet sie das Areal, das durch den Konstitutionsprozess des Subjekts derealisiert wird. Butler schlägt vor, der Undurchsichtigkeit des Selbst durch Reflexion und Realisierung zu begegnen (vgl. PdM; KeG). Zwar lassen sich die Verstrickungen des ›Ich‹ nicht zweifelsfrei rekonstruieren und gewissermaßen entflechten. Dennoch begründet die Anerkennung der undurchsichtigen Verflechtungen und der mit ihnen indizierten Abhängigkeiten ein Konzept von Verantwortung, das die Grenzen der Rechenschaftslegung als Grenzen der Souveränität des ›Ich‹ einbezieht (vgl. auch Thiem 2008).

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2.5 Z ur A nalyse einer P oe tologie des   postsouver änen  S ubjek ts Die Untersuchung wird von dem Ziel angeleitet, zu erforschen, inwiefern in den Romanen Lustigers eine Poetologie des postsouveränen Subjekts eingesetzt wird. Die bisherigen Annäherungen an das postsouveräne Subjekt zeigen, dass das Postsouveräne in den Schriften Butlers auf verschiedene Weise erscheint. Abweichungen von einem klassisch philosophischen Schreibstil gehen mit reflexiven Einlassungen über die Grenzen des Textes und konzentrischem Kreisen um bearbeitete Themen einher. Darüber hinaus tritt das Postsouveräne in Butlers Texten figurativ auf. Und nicht nur das. Wie deutlich wird, haben die aus verschiedenen Kontexten entnommenen Figuren – Antigone, Venus Xtravaganza, die Insassen Guantanamo Bays und Moses – nicht nur einen hypotypotischen6, sondern auch einen analytischen Wert. Der Bruch mit dem Kontext, den Butler in ihren Texten en passant herbeiführt, wird dafür eingesetzt, einen Blick auf die spezifisch postsouveräne Qualität der Figuren zu gewinnen. Das Postsouveräne wird von ihr als ein spezifischer epistemologischer Rahmen eingesetzt, in dem die Figuren neu erscheinen können. Phänomene wie die Diskontinuierlichkeit der Identität in Bezug auf Geschlecht, Ethnie oder die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wie Familie oder Volk sowie aus ihnen resultierende Uneindeutigkeiten und Gefährdungen werden auf diese Weise als Aspekte der menschlichen Existenz lesbar. Gleichwohl wird deutlich, dass sich das Postsouveräne in den Figuren immer nur konkret und für den Moment ihres widerständigen Auftauchens fassen lässt. Die sich daran anschließenden Erkundungen des butlerschen Subjektverständnisses haben die unauflösliche Verstrickung des Subjekts mit der Macht sichtbar gemacht. Zum einen ist das Subjekt als »Lebewesen« (MdG: 27) abhängig von der Sorge und Fürsorge der Anderen (vgl. PdM: 13). Zum anderen hängt sein Überleben von der Zuordnung zur Kategorie des »menschlichen Lebens« (MdG: 27) ab. Konstitutiv für die Entstehung des ›Ich‹ ist der Verlust, den es durch die Umwendung auf die Anrufung der Macht erleidet. Die Ausprägung seiner Psyche steht immer bereits im Zeichen der Verleugnung dieses Verlustes und der melancholischen Identifizierung mit der Macht. Die intelligible Form, in welcher das Subjekt erscheint, muss daher einerseits in der Form der Unterwerfung des Individuums unter die Macht und andererseits in der Form der Erzeugung eines ›Ich‹ verstanden werden. Butler denkt das Subjekt von seiner Postsouveränität her, und das bedeutet, dass es durch die 6 | Unter einer hypotypotischen Darstellung verstehe ich in Anlehnung an Immanuel Kant eine besonders lebhafte und der Realität sehr nahe kommende Form der Veranschaulichung (vgl. dazu Gasché 2003).

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt

Macht unterworfen und erzeugt ist. Seine moralische Zurechenbarkeit kann aufgrund seiner undurchsichtigen Verstrickung mit den Normen der Macht nur als begrenzt verstanden werden. In Butlers Texten wird zudem deutlich, dass sich die Handlungsmacht des postsouveränen Subjekts darauf beschränkt, die Macht durch Kritik an ihren festlegenden Punkten zu unterlaufen und damit zu zerstreuen. Die Möglichkeit dazu lotet sie zum einen auf der Ebene des metonymischen Sprechens aus und zum anderen in der katachrestischen Hervorbringung eines kritischen ›Ich‹. Aus der analysierten Identifizierung des ›Ich‹ mit den Normen der Macht im Prozess der Anrufung leitet Butler wesentliche Ansprüche an eine Ethik ab, in deren Zentrum die Unverfügbarkeit des ›Ich‹ steht. Zum einen folgt daraus, dass die Haltung der Kritik darin bestehen muss, die epistemologische Beschaffenheit der Normen im Hinblick auf ihre Effekte für die menschliche Existenz in den Blick zu nehmen. Zum anderen gewinnt sie aus ihren Überlegungen den Anspruch, dass sich das postsouveräne Subjekt die Grenzen seines Selbstverständnisses nicht nur eingestehen müsste, sondern darüber hinaus auch in Betracht zu ziehen ist, dass diese Grenzen nicht nur die Bedingungen des Subjekts sind, sondern auch als eine »Zwangslage der menschlichen Gemeinschaft« (KeG: 113) insgesamt angesehen werden müssen. In Anschluss an diese Annäherungen lässt sich bis hierhin schlussfolgern, dass die Abhängigkeit des ›Ich‹ und die Undurchsichtigkeit des Selbst als zwei grundlegende Charakteristika des postsouveränen Subjekts begriffen werden können. Sie stehen in einem Zusammenhang mit der Ausgesetztheit des ›Ich‹ an die Anderen und der fortgesetzten Relationalität seiner Existenz. Diesen Überlegungen folgend identifiziere ich drei analytische Momente, welche für die Ethik des postsouveränen Subjekts bestimmend sind. Erstens kann für das postsouveräne Subjekt eine grundlegende Abhängigkeit vom Anderen festgestellt werden. Ohne die Bindung an andere und damit verbundene Fürsorge kann das menschliche Lebewesen nicht überleben. Das zweite Moment steht mit dem ersten in Verbindung. In das Verständnis des postsouveränen Subjekts ist wesentlich dessen Abhängigkeit von Normen miteingeschlossen. Diese bedingt die Konstitution des postsouveränen Subjekts ebenso wie seine Möglichkeiten, Kritik zu üben. Drittens haben die Untersuchungen die Undurchsichtigkeit des Selbst als ein entscheidendes Moment einer Ethik des postsouveränen Subjekts in den Fokus gerückt. Von ihm ausgehend begründet sich eine ethische Haltung, die den Anderen in seinem »Begehren, im Sein zu verharren« (KeG: 62), anerkennt. Diese drei analytischen Momente bringe ich mit den Romanen Lustigers im Weiteren in einen Zusammenhang. Ich gehe dabei von der Überlegung aus, dass die Aussage literarischer (aber auch lyrischer, dramatischer oder wissenschaftlicher) Texte nicht allein durch ihre Autor_innen bestimmt wird, son-

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dern auch durch die Bezugnahmen, in die sie gestellt werden können. Roland Barthes versteht den Text nicht umsonst als einen »vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen« (Barthes 2000: 190; Herv. i. O.). Literarische Texte können als mehrdeutig und offen verstanden werden, was ihre Analyse gleichzeitig zu einem performativen Prozess des »Überschreiben[s]« (Pewny 2011: 131) gerinnen lässt. Den Gedanken vorausgesetzt, dass es sich bei der postsouveränen Ethik nicht um ein Konzept handelt, das allein auf der inhaltlichen oder thematischen Ebene untersucht werden kann (vgl. Lickhardt 2013), richte ich die Analyse auf die Ebene der Konstitution von Bedeutung innerhalb der Romane aus. Ich untersuche, auf welche Weise die drei Momente Abhängigkeit vom Anderen, Abhängigkeit von Normen und Undurchsichtigkeit des Selbst als epistemologische Rahmen in die Poetologie der Romane Lustigers eingeschrieben sind. Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei der Ethik des postsouveränen Subjekts um ein theoretisches Konzept handelt, das in epistemischer Konkurrenz zu hegemonialen Vorstellungen der Bedingungen der Möglichkeit zu ethischem Verhalten steht. Für die Analyse einer Poetologie des postsouveränen Subjekts ist es deshalb erforderlich, insbesondere nach narrativen Verfahren Ausschau zu halten, die darauf zielen, hegemoniale Bedeutungen zu unterlaufen und zu resignifizieren. Die erzähltheoretische Analysemethode wird deshalb im Rahmen dieser Arbeit für eine poststrukturalistisch informierte Lesart der Romane verfügbar gemacht, die davon ausgeht, »dass narrative Formen keine überzeitlichen Idealtypen darstellen, sondern historisch bedingt sind und sich aus bestimmten sozialen und weltanschaulichen Voraussetzungen ergeben« (Nünning/Nünning 2004: 10).

Es geht mir bei der Analyse- und Interpretationsarbeit also darum, zu untersuchen, wie in den Erzählungen hegemoniale Bedeutungen nicht nur (re-) produziert, sondern auch unterlaufen werden. Ich knüpfe dabei an die Überlegung an, dass eine Untersuchung der »Semantisierung literarischer Formen« (Nünning/Nünning 2006: 32) den Schwerpunkt der Textanalyse darauf legt, »zu analysieren, wie in Erzählungen Bedeutungen produziert werden, wie diese Bedeutungsproduktion maskiert und naturalisiert wird, und welche disziplinierenden und normalisierenden Effekte damit einhergehen« (Coffey 2013: 32).

Erweiternd verfolge ich die Frage, wie die Bedeutungsproduktion in den Romanen Lustigers reflektiert und Aussagen, Tropen und Bedeutungsformationen von Standpunkt einer postsouveränen Ethik aus resignifiziert werden.

2. Annäherungen an das postsouveräne Subjekt

Eine solche Analyse bedarf einer elaborierten Theorie der Erzählung, die mit Genettes Erzähltheorie ohne Frage vorliegt (vgl. Bal 1985). Diese hebt mit ihrem Ansetzen am »Akt der Narration« (Genette 2010: 11) gerade auf die Analyse der Weisen des Verflechtens, Ordnens, Offenbarens und Verschweigens in Erzählungen ab. In dem an der Oberfläche des Diskurses auftauchenden »Akt der Narration« (ebd.: 11) liegt meiner Ansicht nach ein gemeinsamer Referenzpunkt der Romane Lustigers und der widerständigen Strategien der Realisierung und Resignifikation bei Butler. So bestimmt Butler den »Schauplatz der Artikulation« als entscheidend für die Initiierung einer »Bruchstelle« (Hsp: 37) der hegemonialen Erzeugung von Bedeutung. Des Weiteren spielt in Lustigers Romanen die erzählende Instanz eine entscheidende Rolle. Dies drückt sich nicht nur darin aus, dass sich in den Romanen unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit dem Erzählakt und seinen Verflechtungen mit dem Dargestellten, Verarbeiteten und Verschwiegenem zeigen, sondern auch darin, dass das narrativ entworfene Erzählgeflecht nicht selten eine eigene Bedeutungsebene entfaltet und konstitutiv für den verhandelten Gegenstand wird (vgl. dazu auch Klotz 2006).7 Ausgehend von den drei Analyseschwerpunkten Abhängigkeit vom Anderen, Abhängigkeit von Normen und Undurchsichtigkeit des Selbst analysiere ich in den Kapiteln vier, fünf und sechs daher, inwiefern die Poetologie der Romane Lustigers narrativ Schauplätze »der Artikulation« (Hsp: 37) eines postsouveränen Subjekts und seinem Zusammenleben mit anderen hervorbringt. Diesen Analysen geht mit dem folgenden Kapitel ein Überblick über die untersuchten Romane voraus (Kapitel 3).

7 | Der Umstand, dass auf die Performativität des Textes referiert wird, ist für sich genommen jedoch keine besonders neue Erscheinungsweise der Literatur. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts kamen Texte vor, welche »von der Literatur selbst, ihren Autoren und Lesern, vom literarischen Text und literarischen Feld handeln und mit Semiose und Performativität spielen« (Hülk 2005: 9).

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3. Charakteristika der Romane Gila Lustigers

Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die Romane Lustigers, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung analysiert werden. Ich gehe dabei auf grundlegende Charakteristika der Romane ein, zeichne wesentliche Handlungsstränge nach und erläutere die eingesetzten Erzählkonstruktionen.

3.1 D ie B estandsaufnahme (1995) Lustigers erzählerisches Debüt Die Bestandsaufnahme zeichnet in insgesamt 35 Kapiteln verschiedene fiktive Lebensläufe deutscher Staatsangehöriger während der Zeit des Nationalsozialismus nach. Das Hauptgeschehen liegt in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg (1914-1945).1 In dem Roman wird nicht nur die Verfolgung von Personen, die dem Judentum zugeordnet werden, dargestellt, sondern auch der Umgang mit antifaschistischen, homosexuellen und alkoholsüchtigen Personen sowie einer Person mit einer Behinderung, wahrscheinlich Trisomie 21. Gleichzeitig wird der Aufstieg derer in den Blick genommen, die sich an nationalsozialistischen Aktionen beteiligen oder diese etwa durch Denunziation Verfolgter unterstützen. Der Titel des Romans Die Bestandsaufnahme spielt zum einen auf die im Bauwesen übliche Landvermessung an, bei der neben den Gebäuden auch wesentliche Leitungen und das Gelände in einen Bestandsplan maßstabsgetreu aufgenommen werden,2 und erinnert zugleich an Günter Eichs Gedicht Inventur (Eich 1948: 38f.), das für die gesamte deutsche Nachkriegsliteratur paradigmatisch wurde.3 In diesem benennt das lyrische Ich in der typisch 1 | Einzig die Erzählung der Figur Lea reicht bis in die Gegenwart. 2 | Die Metapher der Vermessung nimmt auch Stephen Jay Gould in seiner Untersuchung Der falsch vermessene Mensch auf, in welcher er den biologistischen Verstrickungen der Humanwissenschaften nachgeht (vgl. Gould 1988). 3 | Zu den wohl bekanntesten Texten dieser Gattung zählen die Werke von Wolfgang Borchert, Alfred Andersch und Heinrich Böll.

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schmucklosen Sprache seine Habseligkeiten und leitet darüber einen Identitätsfindungsprozess ein. Wolfgang Weyrauch spricht in seiner Wertung der Kahlschlags- und Trümmerliteratur der Nachkriegsjahre auch von einer »Methode der Bestandsaufnahme.4 In dem Roman kommt ein spezielles Erzählverfahren zum Einsatz, das ich im Folgenden kurz vorstelle. Die Erzähltechnik ähnelt einem Mosaik, das nach und nach zusammengesetzt wird. Die einmal eingeführten Figuren und ihre Schicksale werden im weiteren Fortschreiten der Narration nur noch vereinzelt wieder aufgenommen. Dies ist immer dann der Fall, wenn sie in Verknüpfung mit Figuren stehen, deren Geschichte gerade erzählt wird. Zu Beginn der Handlung deutet noch nichts darauf hin, dass die Schicksale sich teilweise beeinflussen. Nachdem die Leser_innen etwa im ersten Kapitel »Ein romantischer Anfang in acht Bildern« (BEST: 11-19) die Figur Dora kennenlernen und erfahren, wie sie sich auf den Weg nach Berlin macht und dort Reinhard kennenlernt, der ihr schließlich einen Heiratsantrag macht, treffen sie im zweiten Kapitel »Schwarze Chronologie« (BEST: 20-23) unvermittelt auf eine Erzählung über Richard Kahn. In dieser stehen nicht, wie im ersten Kapitel, die Gedanken- und Gefühlswelt der thematisierten Figur im Vordergrund, vielmehr wird aus externer Perspektive von der Verwicklung der Figur Richard Kahn in den Prozess, in dem aus einer Kunstgewerbeschule in München das GestapoHauptquartier wird, erzählt. Berichtet wird hier, wie Kahn – ein Deutscher jüdischer Herkunft, der die Räumlichkeiten 1925 gekauft hatte – im Zuge eines Konkursverfahrens im März 1933 das Gebäude wieder verliert. Darüber hinaus wird die Information gegeben, dass kurze Zeit später das Gestapo-Hauptquartier in das Gebäude einzieht, das vormals Kahn gehört hatte. Im daran anschließenden dritten Kapitel »Das Eiserne Kreuz« (BEST: 2428) tauchen die Leser_innen unvermittelt in die Gedankenwelt Leo Lipmanns ein. Lipmann, ein assimilierter Jude, verkennt die Gefährdung, die von den Nationalsozialist_innen für ihn und seine Familie ausgeht. Er verlässt sich darauf, dass das Eiserne Kreuz, das in seinem Haushalt eine besondere Würdigung erfährt, indem es »auf rotem Samt an der Wohnzimmerwand« hängt und »von der Putzfrau einmal die Woche abgestaubt« (BEST: 24) wird, für seine Zugehörigkeit zur deutschen Nation bürgt. Lipmann vertritt die Ansicht, dass es sich bei dem Judenhass, den er immer stärker wahrnimmt, um einen Irrglauben handelt, den er mittels argumentativer Auseinandersetzung aufdecken könnte. Um den zunehmenden Vorurteilen gegen von Juden abstammenden Deutschen entgegenzutreten, fertigt er eine Vielzahl von Schriften an. In 4 | »Die Kahlschlägler fangen in Sprache, Substanz und Konzeption von vorn an. […] Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie. Wo der Anfang der Existenz ist, ist auch der Anfang der Literatur.« (Weyrauch, zit.n. Hans Werner Richter 1962: 9).

3. Charakteristika der Romane Gila Lustigers

diesem dritten Kapitel deutet sich schließlich erstmals ein Bezug der Figuren aus den unterschiedlichen Erzählungen aufeinander an. Erst im vorletzten Kapitel »Schlußrechnung« (BEST: 325-333) werden jedoch abschließend genauere Informationen über einzelne Figuren – teilweise zu ihren Namen, aber auch über ihre Schicksale nach Gefangennahme, Deportation und Flucht – an die Leser_innen gegeben. Dieses Erzählmuster bringt es mit sich, dass die Figuren häufig aus wechselnden Perspektiven erzählt werden, wodurch es zum Teil erschwert wird, sie wiederzuerkennen. Die Lebensgeschichten der verschiedenen Figuren werden in Die Bestandsaufnahme erst nach und nach narrativ verknüpft. Dabei fällt auf, dass sich die erzählinterne zeitliche Ordnung nicht lückenlos rekonstruieren lässt. Meistenteils scheinen die Ereignisse in den Binnenerzählungen zwar chronologisch aufeinanderzufolgen, es ergeben sich aber immer wieder neue Sichtweisen auf das Erzählte, wodurch teilweise bestimmte Binnenerzählungen weiter in die Vergangenheit oder in die Zukunft gerückt werden.

3.2 A us einer schönen W elt (1997) Der Roman Aus einer schönen Welt handelt von einer offensichtlich gelangweilten und frustrierten Hausfrau der deutschen Mittelschicht und ihren Bemühungen, ihr Familien- und Liebesleben zu verbessern. Auf die Figuren wird sich seitens der Erzählstimme nahezu ausschließlich in Bezug auf ihre familiäre Funktion und gesellschaftliche Stellung bezogen.5 Die Hauptfigur A. wird als Mutter porträtiert, die unter einer unglücklichen Ehe, einem unsportlichen Körper und ihrer eigenen intellektuellen Begrenztheit gleichermaßen zu leiden scheint. Zahlreiche Diäten und Sportprogramme können diesen Zustand ebenso wenig beheben wie eine scheiternde Affäre. Der Titel Aus einer schönen Welt weist eine intertextuelle6 Nähe zu Aldous Huxleys 1932 veröffentlichtem dystopischen Roman Brave New World auf, zu dessen deutscher Übersetzung Schöne neue Welt er sich metonymisch verhält.7 Formal ist der Roman in sechs Teile gegliedert, welche insgesamt 163 Kapitel beinhalten. Die Kapitel sind chronologisch angeordnet. Die Narration folgt einem dokumentarischen Schema, das die Entwicklung der Geschichte vom Anfangs- bis zum Endpunkt darstellt. In diese linear voranschreitende Erzäh5 | Hierin erinnert der Text stark an Elfriede Jelineks Roman Lust (1989). 6 | Ich verstehe hier ›intertextuell‹ als »effektive […] Präsenz eines Textes in einem anderen« (Genette 1993: 10; Herv. i. O.). 7 | Bevor Brave New World 1953 in der deutschen Übersetzung von Herbert E. Herlitschka den Titel Schöne neue Welt erhielt, hieß das Buch in der deutschsprachigen Ausgabe von 1932 Welt – wohin? und Wackere neue Welt in der Ausgabe von 1950.

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lung sind Binnenchronologien integriert, die in einer besonderen zeitlichen Ordnung zur Hauptfigur A. stehen. Beispielsweise werden einige Kapitel lang die Tage der Diät, die A. durchführt, gezählt: »Siebter Tag. A. zieht das Nachthemd aus, stellt sich auf die Waage und schaut ängstlich hinunter …« (ASW: 17)

Andere solcher Binnenchronologien beinhalten die Darstellungen der unterschiedlichen physischen und mentalen Übungen, denen A. sich unterzieht, oder die Beschreibungen von Ausflügen. Jenseits dieser strukturierten Zeitlichkeit der Narration finden sich auch Textstellen, die keinem bestimmten zeitlichen Punkt in der Diegese zugeordnet werden können und anachronistischen Charakter aufweisen. Diese Textsegmente erzeugen zusammen mit der szenischen Struktur, dem gleichzeitigen Erzählen und der individualisierten Personenrede die Unmittelbarkeit der Narration. Kapitel 90 und 91 werden beispielsweise ausschließlich durch solche Segmente gebildet, wobei jedes Kapitel ein spezifisches Format aufweist. Während es in Kapitel 90 heißt: »Manchmal überkommt A. eine heftige, unüberwindbare Gier, die ihre Finger zusammenzucken läßt und im Gaumen pulsiert wie ein zweites Herz. In solchen Momenten möchte sie sich auf alles stürzen, was ihr in die Quere kommt, und könnte fressen, fressen, fressen und wünscht sich stählerne Kauwerkzeuge, die auch die hellblaue Tasse spielend zermalmen würden, in der nun ihr ungesüßter Kräutertee erkaltet«,

wird in Kapitel 91 wie folgt erzählt: »A. steht vor dem Spiegel und sagt: Ich bin mutig. Ich bin frei. Ich habe eine andere Haltung bekommen. Ich entdecke meine Fähigkeiten […] Ich fühle mich wohl, warm und frei.« (ASW: 104)

Mit Voranschreiten der Erzählzeit wird immer deutlicher, dass die zahlreichen physischen und mentalen Übungen, die A. an und mit sich durchführt, dazu dienen, ihre Angepasstheit an die Gesellschaft zu steigern. A. wird als eine Figur dargestellt, die den Normen und Werten der Gesellschaft affirmativ gegenüber eingestellt ist, obwohl sie offensichtlich unter ihnen leidet. Ihr Bemühen, den gesellschaftlichen Idealen nahezukommen, führt zu einem unausgesetzten Scheitern.

3. Charakteristika der Romane Gila Lustigers

3.3 S o sind wir (2005) In dem Roman So sind wir wird die Kindheit der autodiegetischen Erzählerin Gila dargestellt und das Weiterwirken familiärer Erfahrungen in der Gegenwart in den Blick genommen. Insbesondere die Beziehung zum Vater, der während seiner Jugend mehrere Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern verbracht hat, wird als prägend von Gila wahrgenommen. Die erzählerische Aufarbeitung ihrer Kindheit ermöglicht ihr schließlich, grundlegende Einsichten in die Familiendynamiken und ihre eigene Persönlichkeit zu gewinnen. Der Roman besteht aus zwei Teilen, die je vier Kapitel beinhalten. Im ersten Teil werden die Rückwendung Gilas auf ihre Kindheit und das Zusammenleben in der Familie erzählt. Während in den ersten zwei Kapiteln vor allem die Beziehung zu ihrem Vater sowie die Shoah im Vordergrund der Darstellung stehen, kommt es in den anschließenden zwei Kapiteln zu einer ausführlicheren Erläuterung der Beziehungen Gilas zu ihrer Mutter und den Großeltern. In diese familiären Beschreibungen sind zugleich auch Erzählungen über die schwierige Entstehungsgeschichte und aktuelle politische Situation Israels eingelassen. Im zweiten Teil des Romans wird ein Blick auf Gila und die Beziehung zu ihrer Familiengeschichte geworfen, der an die Rückwendungen auf ihre Kindheit anschließt. Auch hier nimmt Gila auf Erinnerungen aus ihrer Kindheit Bezug. Gleichzeitig stehen ihre Ausführungen im zweiten Teil zusätzlich im Kontext einer Nacht, die sie mit ihrer Freundin Dominique verbringt, und unterliegen somit einer linearen chronologischen Ordnung. Der erste Teil der Narration kann so eher als Ausdruck einer inneren Ordnung gelesen werden, die den unterschiedlichen Assoziationen der Figur Gila mit ihrer Kindheit und der Darstellung der Kindheitsperspektive verhaftet ist. Der zweite Teil wird demgegenüber stärker als eine Entwicklungsgeschichte erzählt, an deren Ende Gila zu einer für sie bedeutsamen Einsicht hinsichtlich ihrer Familie kommt. Die Narration des Romans ist durch eine enge Verflechtung der narrativen Instanz mit den erzählten Ereignissen charakterisiert. Die Chronologie der Basiserzählung lässt sich zwar als voranschreitend beschreiben, verläuft jedoch eher konzentrisch als linear. Immer wieder werden Erzählstränge aus vorhergehenden Kapiteln aufgenommen, weitererzählt und abgebrochen. Die Narration ist dementsprechend durch Rückgriffe auf verschiedene Ereignisse und Zeitpunkte bzw. Zeitspannen geprägt, die ihrerseits teilweise Wirkungen in die Jetztzeit entfalten. Genette arbeitet eine solche Form der Narration für Prousts Recherche heraus und stellt fest: »Es sind Zeugnisse für die Intensität der aktuellen Erinnerung, die die Erzählung der Vergangenheit gewissermaßen beglaubigen soll.« (Genette 2010: 41)

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Eine solche ›beglaubigende‹ Erzählkonstruktion trägt seiner Ansicht nach dazu bei, die Erzählstimme in Form einer mimetischen Zusammenführung mit dem dargestellten Ereignis zu verflechten. In So sind wir wird dieses narrative Verfahren in mehreren Szenen an seine Grenzen getrieben, wenn die Erzählstimme Gegenwart und Vergangenheit nicht voneinander trennt, sondern die erinnerten Ereignisse im Duktus kindlicher Personenrede wiedergibt. Die Narration des Romans ist durch eine stete Bezugnahme der Erzählstimme auf die Prozesse des Erinnerns und des Schreibens des Romans geprägt. Nicht nur, dass der eigentlichen Erzählung ein Paratext in kursiver Schrift vorangestellt ist, in welchem die Motivation zum Schreiben des Romans erläutert wird. Darüber hinaus verflechten sich die inhaltlichen Darstellungen nahezu nahtlos mit philosophischen Reflexionen. In mehreren Textstellen setzt sich die Erzählstimme etwa mit den unterschiedlichen Facetten, spezifischen Verfahren und Motiven des Erinnerns auseinander. Prominent beginnt die Narration des Romans mit dem Einsetzen der Metapher des Erinnerungsknotens: »Der erste Erinnerungsknoten löst sich leicht. Er zerfällt, kaum, dass ich ihn berühre. Der erste Knoten ist aus Zeitungspapier.« (SSW: 9)

Daneben flicht die Erzählstimme ethisch-philosophische Betrachtungen ein. Sie kritisiert beispielsweise das Medium Zeitung aus einer ähnlichen Perspektive wie Susan Sontag in Das Leiden Anderer betrachten (2003) die Kriegsberichterstattung: »Die Zeitung, habe ich vor kurzem gedacht, während ich meinen Vater Zeitung lesen sah, zertrampelt Tag für Tag das Gefühl mit ihrer zurückhaltenden, kaltblütigen Ausgeglichenheit. Und gerade da, wo sie Leid am präzisesten beschreibt, zerstört sie rücksichtslos. Die Zeitung, habe ich immer gedacht, ist hoffnungslos falsch, denn sie rettet eine übersättigte, zeitungslesende Gesellschaft vor schneidendem Schmerz, und nur aus einem Grund wird sie gelesen: damit man gemütlich, enthaltsam und vernünftig das menschliche Leid erträgt.« (SSW: 22)

In einer anderen Textstelle findet sich eine Reflexion über eine Ethik des Opfers, die an die Beschreibung des Ausgeliefertseins bei Butler erinnert (vgl. Butler 2013): »Nenn diese Fügung in das Schicksal Schwäche oder nenn es Kraft. Es spielt in der Tat keine Rolle, wie du es nennst. Es bleibt sich gleich. Eigentlich hängt es nur davon ab, wo du stehst und von welchem Standpunkt aus du auf solch einen Menschen blickst und ob du die Idee verdauen kannst, dass es Momente gibt, in denen ein Mensch einem anderen auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert ist. […] Und trotzdem bleibt man every inch a King. Verstehst du das?« (SSW: 172)

3. Charakteristika der Romane Gila Lustigers

Es lassen sich in So sind wir zudem mehrere Erzählsegmente ausmachen, in denen die Erzählstimme auf den Inhalt von Romanen, Sachbüchern, Interviews und Liedern anderer Autor_innen referiert. Nicht selten mündet diese enge Verflochtenheit zwischen dem Prozess der Hervorbringung der Diegese und der Inhaltsebene auf der Ebene der Narration in metadiegetische Brüche, welche sich in einer direkten Bezugnahme der Erzählstimme auf die Leser_innen und somit auf die außerdiegetische Welt äußern.

3.4 H err G rinberg & C o . E ine G eschichte vom  G lück  (2008) Der Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück handelt von einem Freundschaftsgeflecht, das sich mit Fortschreiten der Handlung um die Figur des älteren Herrn Grinberg entwickelt. Zu Beginn der Geschichte lebt er zurückgezogen und nimmt wenig Anteil an den Menschen in seiner Umgebung. Als er Mathilda, ein kleines Mädchen, und ihre Freund_innen kennenlernt, entsteht zwischen ihnen ein freundschaftliches Verhältnis, das sowohl bei ihm als auch bei seinen neugewonnenen Freund_innen Spuren hinterlässt. Die Kinder beginnen, mit Herrn Grinberg ihre Sorgen zu besprechen, breiten ihre Ängste vor ihm aus und bearbeiten mit seiner Hilfe ihre Trauer um verlorene Menschen. Das Freundschaftsgeflecht um Herrn Grinberg gewinnt auf diese Weise im Verlauf des Romans immer stärker Qualitäten von Sorgebeziehungen und kommt einer familiären Verbindung sehr nahe. Der Roman ist in elf Kapitel unterteilt. Die Narration ist chronologisch geordnet. Die Geschichte beginnt zu einem Zeitpunkt, an dem Herr Grinberg noch nicht mit den Kindern bekannt ist. Im Verlauf der Handlung wird die sich entwickelnde Freundschaft zwischen ihm und den Kindern dargestellt, die schließlich auch zu einer Veränderung seines Verhaltens führt. Er entwickelt neue Sichtweisen auf sein Leben und lernt, neue Beziehungen einzugehen. Diese lineare Grundkonstruktion der Narration wird vereinzelt durch Rückgriffe in die Kindheit Herr Grinbergs unterbrochen. Für den Roman ist die Rolle der Paratexte8 charakteristisch. Lustiger veröffentlicht Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück in zwei verschiedenen Ausgaben, eine im Berliner Verlag und eine im Bloomsbury Kinder- und Jugendbuchverlag des Berliner Verlags. Die Erwachsenenausgabe ist dem 8 | Paratexte sind nach Genette »Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten« (Genette 1993: 11).

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deutsch-jüdischen Wissenschaftler Stéphane Mosès gewidmet, der mit seiner Arbeit dazu beigetragen hat, dass in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder an philosophische und literarische Werke jüdischer Autoren, wie Franz Rosenzweig, Walter Benjamin oder Franz Kafka, angeknüpft wurde. Des Weiteren wird die Erwachsenenausgabe von einem Zitat Leo Tolstois eingeleitet: »Wenn der Mensch nur endlich gelernt hätte, nicht so scharf und entscheidend zu urteilen und zu denken und nicht immer Antworten auf Fragen zu geben, die ihm nur darum gegeben sind, damit sie ewig Fragen bleiben.« (HGa: keine Seitenangabe)

Das Zitat entstammt Tolstois früher Erzählung Luzern (1853). In diesem Kontext setzt sich die Erzählstimme mit der ethischen Verfasstheit des Menschen auseinander und verweist darauf, dass die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht immer haargenau getroffen werden kann, weil die Entscheidung zwischen den beiden Zuständen immer auch von der Perspektive abhängt, die eingenommen wird. Neben dieser ethischen Rahmung der Erwachsenenausgabe fällt auf, dass beide Ausgaben des Romans mit weiteren Paratexten ausgestattet sind. Sie beinhalten Eingangszitate und Vorworte. Über die Erwachsenenausgabe hinaus enthält die Kinderbuchausgabe am Ende zwei Seiten, die mit einem besonderen Schriftbild bedruckt ist. Dieses ist einer mit einem Bleistift ausgeführten Kinderschrift nachempfunden und weist einen verblassenden Farbverlauf auf. Während einleitende Zitate und Abstracts vor den Kapiteln in literarischen Veröffentlichungen nicht ungewöhnlich sind, fällt die kapitelweise Ausstattung beider Ausgaben mit Endnotenapparaten als genreuntypisch auf. Die Endnotentexte zwischen Erwachsenen- und Kinderbuchausgabe unterscheiden sich grundlegend voneinander. Die Endnoten sind in derselben Farbe wie Einband, Abstracts und die den Roman illustrierenden Zeichnungen gehalten und nehmen mitunter mehrere Seiten ein. In den Endnotentexten werden sowohl wichtige Informationen über die Figuren und die Diegese gegeben als auch abgeschlossene und von der eigentlichen Geschichte des Romans abgelöste Erzählungen, nach Genette sogenannte Binnenerzählungen, entwickelt. Daneben finden sich in den Endnoten aber auch Kommentare zur Form der Narration oder philosophische Exkurse. Die Erzählstimme nimmt im Vorwort der Kinderbuchausgabe auf den Endnotenapparat des Textes Bezug. Sie erklärt hierzu zweierlei: Erstens seien die Endnoten wesentlich, um den Text zu verstehen, da die Heldin – wie sie von der Erzählstimme genannt wird – »keinen blassen Schimmer« habe und »das Wahre für falsch und das Falsche für wahr« (HGb: 8) halte. Zweitens seien die Endnoten nicht immer wichtig, vielmehr stünden »sie nur winkend da, weil Abschiednehmen schwierig ist« (HGb: 9).

3. Charakteristika der Romane Gila Lustigers

Die einzelnen Kapitel sind in beiden Ausgaben mit sich teilweise wiederholenden Zeichnungen illustriert, welche in unterschiedlichen Bezügen zur Erzählung stehen. Es finden sich hier beispielsweise die Zeichnungen von Kastanien – eine geschlossen, eine aufgebrochen –, eine Maneki-neko,9 ein Kerzenleuchter in der Form eines akkordeonspielenden Mannes und ein Hundekopf mit heraushängender Zunge. Außerdem sind Zeichnungen von Hausschuhen, Knochen und einem Ball, einem Schneemann sowie Gottheiten und Figuren aus dem Kontext des Christentums, Hinduismus und der Wikinger abgebildet. Aufgrund der unregelmäßigen Verteilung lässt sich schließen, dass die Zeichnungen weniger den Inhalt illustrieren, sondern vielmehr, wie die Endnoten, eine eigene Verweisungsebene entfalten. An einigen Stellen des Textes sind über viele Seiten keine grafischen Elemente zu finden, während sie an anderen Textstellen geradezu gehäuft auftreten. Auf diese figurativen Illustrationen und die Frequenz ihres Erscheinens – einmalig, einzeln, mehrmalig, gehäuft – nimmt die Erzählstimme keinen Bezug.

3.5 W or an denkst du je t z t (2011) Der im Jahr 2011 erschienene Roman Woran denkst du jetzt setzt sich mit familiären Bindungen, Trauer und Tod auseinander. Anhand zweier Erzählstimmen, die sich als die Schwestern Lisa und Tanja aufeinander beziehen, werden Empfindungen und Gedanken im Zusammenhang mit dem Sterben ihres Onkels aufgrund einer Krebserkrankung durchgespielt. Dabei wird deutlich, dass der Onkel innerhalb der Familie eine vergleichbar bedeutende Rolle wie die, welche traditionell dem Vater zugeordnet wird, innehatte. Die Narration verzichtet auf eine heterodiegetische Erzählperspektive und wird nur aus den Blickwinkeln der zwei Schwestern hervorgebracht. In das Narrativ sind Rückgriffe auf die Vergangenheit und Vorgriffe auf die Gegenwart der erzählten Zeit montiert. Auf diese Weise rückt die Individualität der je eigenen Bezüge Lisas und Tanjas auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Mittelpunkt der Erzählung. Die psychischen Effekte, welche die unterschiedlichen Beziehungen für die Erzählstimmen entfalten, werden in den Blick der Leser_ innen gebracht. Stärker als äußere Umstände hebt der Roman auf innere Motivationen ab, wie Verleugnetes, Verschwiegenes und Verdrängtes. Vor diesem Familienpanorama werden auch die unterschiedlichen Trauerprozesse der Figuren nachgezeichnet. Es wird deutlich, dass beide Schwestern zwar dieselben Ereignisse in ihrer Kindheit erlebt haben, sich aber auf ganz unterschiedliche

9 | Die Figur der Maneki-neko ist in Deutschland unter der Bezeichnung ›Winkekatze‹ bekannt. In Japan gilt sie als Glücksbringer.

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Weisen an diese erinnern. Jede ordnet die Ereignisse individuell ein und zieht eigene Schlüsse aus dem Erlebten. Der Roman ist in elf Kapitel gegliedert. Alle Kapitel, denen eine ungerade Kapitelnummer zugeordnet werden kann, stellen die Ereignisse aus Lisas Perspektive dar; die Kapitel, denen eine gerade Kapitelnummer entspricht, werden aus der Sicht von Tanja erzählt. Die Kapitel selbst sind nicht nummeriert, sondern tragen je den Namen derjenigen Schwester als Titel, deren Perspektive in ihnen eingenommen wird. Die narrative Form der Erzählung verläuft in zwei zeitlichen Strängen. Die Basiserzählung ist chronologisch geordnet. Sie beginnt mit dem Tod des Onkels und beschreibt die daran anschließende Trauerphase. Ein zweiter zeitlicher Strang entfaltet sich durch die Ebene der Vor- und Rückgriffe der Schwestern, welche die Basiserzählung unterbrechen. In diesem Strang werden die Umstände, die das Sterben des Onkels begleitet haben, aus den je unterschiedlichen Blickrichtungen rekonstruiert. Durch narrative Rückgriffe, nach Genette Analepsen, wird die Zeit der Basiserzählung, die nur wenige Tage umfasst, weitgreifend überschritten. Es finden sich hier Bezugnahmen auf Ereignisse aus der Kindheit der beiden Schwestern und auf Erlebnisse, die sie mit ihren Eltern oder ihrem Onkel teilen.

4. Abhängigkeit vom Anderen Sorgeverflechtungen

Sorge im Nationalsozialismus. Elterliche Sorgebeziehungen. Ein Familiengeflecht, in welchem die Sorgepraktiken Spuren der Traumatisierung enthalten. Freundschaftliches Sorgen und die Sorge um einen Todkranken. Ich übersetze im Folgenden die Untersuchung des Moments der Abhängigkeit vom Anderen in Lustigers Romanen in die Analyse der Darstellung von Sorge- und Carepraktiken. Sorge verstehe ich dabei als eine Praxis, in der sich die Abhängigkeit vom Anderen in verschiedenen Formen zeigt. Nicht nur stellt sie eine Weise dar, der menschlichen Verletzlichkeit, die in der existenziellen Abhängigkeit begründet liegt, zu begegnen. Sorge kreiert gleichzeitig eine spezifische Verflechtung mit dem Anderen, die ihre Spuren im ›Ich‹ hinterlässt. Um diesen verschiedenen Aspekten nachgehen zu können, rahme ich Sorge im folgenden Kapitel in einem weiten Sinne als Gesamtheit sorgender Praxis, die sowohl reproduktive Tätigkeiten als auch Aufgaben der Care-Arbeit mit einschließt (vgl. Winker 2015a/b). Zunächst ist festzustellen, dass Sorge als ein zentrales Moment der Auseinandersetzung um Grundzüge einer feministischen Ethik verstanden werden kann (vgl. Gilligan 1984; Schnabl 2005, dazu auch: Klinger 2013; Spivak 2012; Völker/Amacker 2015). Mit dem Begriff der Reproduktionsarbeit werden seit den 1970er Jahren ausgehend von feministischen und marxistischen Bewegungen und der zweiten Frauenbewegung vor allem die sorgenden Tätigkeiten bezeichnet, die im Bereich der unbezahlten Hausarbeit (meist durch Frauen) ausgeübt werden (vgl. Bock/Duden 1977). Mit Gabriele Winker (2015a: 18) verstehe ich Reproduktionsarbeit nicht nur auf den Aspekt der Reproduktion der Arbeitskraft bezogen, sondern allgemein ausgerichtet auf »das Wohlbefinden unterstützungsbedürftiger Menschen«. Winker bezieht hierbei sowohl Aufgaben im Bereich der »Ernährung, Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen als neuer Generation von Arbeitskräften« als auch »die Versorgung ehemaliger Arbeitskräfte« sowie Praktiken der »Selbstsorge« (ebd.; vgl. dazu auch: Heiden/Jürgens 2013) mit ein.

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Poetologie des postsouveränen Subjekts

Der Begriff der Care-Arbeit ist seit den 1990er Jahren im Aufwind und rückt die Bedingungen bezahlter und unbezahlter Arbeitsbereiche in den Vordergrund, wie etwa die Pflege von Kleinkindern und Kindern und das dazugehörige Berufsbild der Erzieher_innen oder den Bereich der Altenpflege. CareArbeit bezieht sich allgemeiner auf »Leben erhaltene, lebensnotwendige Tätigkeiten, ohne die Gesellschaften nicht existenzfähig wäre und wirtschaftliches Wachstum unmöglich wäre« (Madörin 2006: 283).

In diesem Zusammenhang weist Maren Jochimsen (2003) auf die Asymmetrie und Abhängigkeit hin, welche in Beziehungen zwischen den Personen, die Sorge benötigen und denen, die Sorge geben, besteht. In der vorliegenden Arbeit orientiere ich mich an diesen Definitionen von Sorge und Care und überschreite den durch sie vorgegebenen Rahmen. Sicherlich lassen sich Fürsorgeleistungen, die für andere erbracht werden, nicht von ihrem Verwertungszusammenhang lösen und sollten daher immer auch unter diesem Aspekt diskutiert und thematisiert werden. Mir geht es aber in der folgenden Analyse weniger um die Verflechtung von Sorge und kapitalistischer Gesellschaftsform. Vielmehr soll die Darstellung von Sorge als Moment der konstitutiven Abhängigkeit vom Anderen genauer in den Blick genommen werden. Dabei richte ich die Analyse zum einen auf die inhaltliche Erfassung von Sorge in den Romanen Lustigers, verbunden mit der Frage nach den in den Narrationen dargestellten Sorgepraktiken, aus.1 Zum anderen geht es mir um die Frage danach, wie die Sorgepraktiken in den Narrationen aufgenommen werden, also um die formale, narrative Erfassung von Sorge. Dabei gehe ich so vor, dass ich erstens verdeutliche, welchen Stellenwert die Sorge in den ethischen Überlegungen Butlers einnimmt. Zweitens gehe ich darauf ein, welche Formen von Sorge in den Romanen Lustigers beschrieben werden und was die Weise auszeichnet, in der sie dargestellt werden. Im Anschluss daran lege ich im Zwischenfazit die Ergebnisse dieser Untersuchung dar.

4.1 S orge und F ürsorge Aus ontogenetischer Perspektive erscheint es unmittelbar einsichtig, dass die Entwicklung des Subjekts als menschliches Wesen zu Beginn seines Lebens existenziell von anderen abhängt. Wenn das menschliche Wesen, wie Butler mit Spinoza annimmt, mit einem »Begehren, im Sein zu verharren« (KeG: 62), ausgestattet ist und es als 1 | Ich folge in meiner Unterscheidung zwischen ›Praxis‹ und ›Praktik‹ den Ausführungen von Paul Gebelein (2015).

4. Abhängigkeit vom Anderen »Kind im sozialen und psychischen Sinn weiterleben [soll], dann muss es Abhängigkeit und Bindungen geben; es gibt für das Kind gar keine andere Möglichkeit als zu lieben, wo Liebe und Erfordernisse des Lebens selbst unlösbar miteinander verknüpft sind« (PdM: 13).

Die Ausgesetztheit der eigenen Existenz an die Fürsorge anderer Menschen ist die primäre Erfahrung des Subjekts, die mit der Bindung an den-/diejenigen einhergeht, die diese Fürsorge gewähren. Abhängigkeit und Bindung sind die elementaren Modi der Subjektwerdung und hinterlassen als solche den psychischen Effekt der Macht als »Bindung an Unterordnungen« (PdM: 12). Solchermaßen ist Butlers Einlassung zu verstehen, das Kind wisse nicht, »woran es sich bindet«, aber unabhängig davon müsse es »sich binden, um überhaupt und um als es selbst weiterzuleben« (PdM: 13). Sie thematisiert damit das Phänomen der existenziellen Angewiesenheit des Kindes auf Fürsorge und schildert nicht etwa ein normatives Ideal gelungener Kindheit. Das Kind erlebt eine Situation der unmittelbaren Ausgesetztheit an den Anderen, indem sein Überleben an die Form der Fürsorge derer, die sich seiner annehmen, ausgeliefert ist: »Wir können natürlich sagen, dass diese primäre Szene für manche außergewöhnlich ist, liebevoll und sensibel, ein warmes Beziehungsgewebe, das das Leben in der Kleinkindphase fördert und nährt. Für andere ist sie jedoch eine Szene der Verlassenheit, der Gewalt oder des Hungers, ihre Körper sind dem Nichts, der Brutalität oder dem Nahrungsmangel überantwortet.« (MdG: 45)

Der elementaren unkritischen ›Liebe‹ zu denen, die das ›Ich‹ (mehr oder weniger gut) versorgen, hängt in gewisser Weise der Makel des nicht Gewählten an. Das Subjekt, das sich als autonom versteht, kann es sich nicht »leisten«, seine »in Abhängigkeit ausgebildete Bindung […] vollständig zu ›sehen‹« (PdM: 13). In ihm entsteht eine »Beschämung des Erwachsenen in der Konfrontation mit seinen frühesten Liebesobjekten – Eltern, Kindermädchen, Geschwister usw.« (PdM: 13; vgl. GL).

Die Rekonstruktion dieser »primäre[n] Szene« (MdG: 45) verdeutlicht nicht nur die existenzielle Abhängigkeit, in welcher das Subjekt erstens nur überleben kann und zweitens in psychischer Hinsicht gebildet wird. Sie macht drittens auch den Preis, der mit der Ausprägung der Vorstellung eines autonomen Subjekts verbunden ist, sichtbar: die Derealisierung der konstitutiven und »in Abhängigkeit ausgebildeten Bindung« (PdM: 13). Demgegenüber verfolgt Butler mit der Ethik des postsouveränen Subjekts die »Idee wechselseitiger Abhängigkeit von Leben, die ineinander eingelassen sind« (MdE: 151).

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In dem Text Kritik der ethischen Gewalt arbeitet Butler heraus, dass mit dem ›Ich‹ immer auch »ein Feld primärer Eindrücke und Hilflosigkeit […] bezeugt« (KeG: 95) wird. Ihre Erläuterung macht deutlich, dass die Pflege des bedürftigen Kindes nicht allein eine individuelle Sorgebeziehung darstellt, sondern zugleich gesellschaftliche Praktiken der Sorge reproduziert werden, deren Wirkungen auf das Kind kaum messbar sind: »Nicht nur wurde mein frühkindlicher Körper einfach berührt, bewegt, hergerichtet, sondern all diese Einwirkungen fungierten als ›taktile Zeichen‹, die in meine Konstitution eingingen. Diese Zeichen kommunizieren mit mir in einer Sprache, die nicht auf Vokalisierung zu reduzieren ist. Es sind Zeichen eines Anderen, aber es sind auch Spuren, aus denen schließlich ein ›Ich‹ hervorgeht, das niemals imstande sein wird, diese Zeichen vollständig wiederzufinden oder zu lesen, ein ›Ich‹, für das diese Zeichen zum Teil überwältigend und unlesbar, rätselhaft und prägend bleiben.« (KeG: 95)

In dieser Beschreibung wird die Abhängigkeit des Kindes von den gesellschaftlichen Bedingungen der Fürsorge, die für dieses bereitgestellt werden können, deutlich.2 Der Körper ist der erste Ort, an dem der Andere auf das ›Ich‹ einwirkt und es auf diese Weise ›enteignet‹ (vgl. GL). Mit dem Eindringen des Anderen in die Sphäre des Kindes beginnt ein unumkehrbarer Prozess der Konstitution des ›Ich‹ durch seine Enteignung an die ›Welt‹. In diesem Sinne versteht Butler »weder die Geschlechtsidentität noch die Sexualität [als] ein[en] Besitz« (GL: 41), sondern »vielmehr [als] ein[en] Modus der Enteignung, eine Form des Daseins für andere oder aufgrund einer anderen Person« (GL: 41; Herv. i. O.).

Die Spuren des Anderen sind qua Existenz in das ›Ich‹ eingeschrieben. Die Qualität der »primäre[n] Szene« (MdG: 45) wird für Butler von den gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt, in die das Kind hineingeboren wird, und ist nicht etwa in dieser bereits enthalten, wie es etwa ein biologistischer Entwurf von Mütterlichkeit impliziert: »Wie man mir begegnet und wie ich fortexistiere, hängt grundlegend von den sozialen und politischen Netzwerken ab, in denen dieser Körper lebt, von der Art, wie ich betrachtet und behandelt werde, und davon, wie diese Betrachtung und Behandlung das Leben erleichtert oder ihm seine Lebbarkeit nimmt.« (RdK: 57) 2 | Vgl. dazu auch die grundlegende psychologische Studie von René A. Spitz Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr (1996) sowie John Bowlbys Grundlagenwerk Maternal Care and Mental Health (1952).

4. Abhängigkeit vom Anderen

Es deutet sich hier bereits an, dass diese frühkindliche Abhängigkeit das Subjekt bereits zu Beginn seines Lebens für die gesellschaftlichen Anrufungen ausbeutbar macht. Während es selbst noch nicht in einem ›Ich‹ verfasst ist, treibt es sein Begehren nach Sein dazu, sich konstitutiv an ein gesellschaftliches Beziehungs- und Anrufungsgeflecht zu binden. Diese Bindung leitet den Prozess der Subjektivation auf psychischer Ebene unwiderruflich ein: »Die Subjektivation beutet das Begehren nach Existenz dort aus, wo das Dasein immer von anderswo gewährt wird; sie markiert eine ursprüngliche Verletzlichkeit gegenüber dem Anderen als Preis, der für das Dasein zu zahlen ist.« (PdM: 25)

Ausgehend von der Setzung der Abhängigkeit des ›Ich‹ vom Anderen kommt der Sorge um den Anderen in Butlers Ethik des postsouveränen Subjekts eine bedeutende Rolle zu. Sie ist konstitutiv für das (Über-)Leben des ›Ich‹. Sorge übt einerseits eine existenzielle Funktion aus, indem sie die Versorgung und Pflege des ›Ich‹ zu Beginn seines Lebens, aber auch während Krankheiten und im Alter sicherstellt. Andererseits ist mit der Sorge um den Anderen auch ein enteignender Modus verbunden. Sie legt den Grundstein für die Einbindung des ›Ich‹ in den Prozess seiner Subjektivation. Die Sorge kann damit als eine grundlegende zwischenmenschliche Praxis verstanden werden, welche Sozialität erst ermöglicht.

4.2 S orge in den R omanen G il a L ustigers In den folgenden Analysen arbeite ich heraus, in welchen Weisen Sorge in den Romanen Lustigers thematisiert wird. Ich mache in textnahen Einzelbetrachtungen deutlich, von welchen Sorgepraktiken erzählt wird und welche Charakteristika die narrative Darstellung von Sorge in den Romanen auszeichnet.

4.2.1 Gefährdete Sorge Die histoire des Romans Die Bestandsaufnahme setzt sich aus Erzählungen über Schicksale während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zusammen. Im Vordergrund stehen die Lebenswege von Figuren, die von den Nationalsozialist_innen als ›Juden‹, ›Asoziale‹, ›Kommunisten‹ oder ›Homosexuelle‹ oder insgesamt als abweichend Definierte aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. In dieser diegetischen Konstellation kommt die Sorge um den Anderen in Situationen in den Blick, in denen die Figuren nur eingeschränkt über Möglichkeiten des Sorgens verfügen – Sorge als Praxis also gefährdet ist. Im Roman findet sich eine Reihe von Geschichten, welche die zunehmende Einschränkung von Mitteln des Sorgens bis hin zur Zerstörung

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elterlicher und freundschaftlicher Sorgebeziehungen durch das nationalsozialistische Regime aufzeigen. Dabei arbeitet das Erzählmodell dieser Auflösung von Sorgebeziehungen entgegen, indem es die Abhängigkeit der Einzelnen voneinander mit Fortschreiten der Erzählung narrativ wiederherstellt (vgl. Kapitel 4.1). Der Roman Die Bestandsaufnahme umfasst 35 Kapitel. Alle Kapitel haben an der Handlung Anteil. Zentral ist die Übergangslosigkeit der Kapitel, welche für das Erzählmodell des gesamten Romans signifikant ist. Die Erzählstimme verfügt über wesentlich mehr Informationen als die Leser_innen und hält diese bis zum vorletzten Kapitel – welches eine Reihe von Beziehungen zwischen den Figuren offenlegt – zurück. In Rekurs auf die Landvermessungsmetapher des Titels Die Bestandsaufnahme lassen sich die Kapitel als exemplarische narrative Vermessungspunkte verstehen, die erst in einer Zusammenschau das Bild des untersuchten Geländes entstehen lassen. Trotz der Abgeschlossenheit der Kapitel, in denen die Binnenerzählungen untergebracht sind, stellt sich nach und nach heraus, dass die von den Figuren unternommenen oder auch unterlassenen Handlungen der Figuren teilweise existenziellen Einfluss auf die Schicksale anderer Figuren haben. Über die Erzählung hinweg formiert sich auf diese Weise ein Mosaik sorgetragender bzw. sorgezerstörender Handlungen, welches schließlich das Bild der Vernichtung vieler und die Rettung weniger Figuren zeigt. Häufig lässt sich der Grad der Anwesenheit der Erzählerstimme nicht bestimmen, wenn beispielsweise ganze Kapitel aus Briefen bestehen oder in der Form von Bewusstseinsströmen verfasst sind. Ebenso kann die erzähltheoretisch relevante Frage: ›Wer spricht?‹ an mehreren Stellen nicht eindeutig beantwortet werden, weder im Hinblick auf die erzählende Figur noch auf deren Position innerhalb der Diegese. Auf diese Weise wird in Die Bestandsaufnahme die Struktur der kohärenten Zuschreibung unterlaufen und so das Verhältnis von Erzählerinstanz und Erzählung sowie die Beziehung zwischen Erzählerstimme und dargestellter Welt problematisiert. Es ist dann die Ordnung der Erzählung, welche die Instanz markiert, die Geschichten und Figuren bzw. Erzählperspektiven und Fokalisierungen ausgewählt und arrangiert hat. Diese Form der Darstellung verweist mithin auf die grundlegende Verflochtenheit der Figuren und verdeutlicht gleichermaßen, dass Ursache und Wirkung von Handlungen nicht immer eindeutig zugerechnet werden können.

4.2.1.1 Fehlende Sorge und Entmenschlichung In Die Bestandsaufnahme findet sich eine Vielzahl von Erzählungen darüber, wie Verfolgte des Naziregimes entmenschlicht werden. So tauchen etwa Beschreibungen ›des Juden‹ in einer Wertmetaphorik auf: »Der Marktpreis des Juden war gesunken« (BEST: 192), oder es werden entmenschlichende Schilderungen von Massenerschießungen gegeben. Beispielhaft für diese Form der

4. Abhängigkeit vom Anderen

Narration ist die im Kapitel »Aussage eines Rechnungsführers (Die Briefmarkensammlung)« (BEST: 245-255) dargelegte Erzählung. Gefühllos berichtet die Erzählstimme hier aus der Sicht der Nationalsozialist_innen: »›Ein einwandfreier Judentransport‹, sagte Vogt. Ich nickte, denn er hatte recht. Der Transport bestand nur aus Juden. Er war in konventioneller Weise aufgeteilt, vorne Kinder, danach Frauen mit oder ohne Kleinkinder auf dem Arm, denen Männer jeglichen Alters folgten.« (BEST: 246)

Ohne Bedenken oder Bezeugungen des Mitgefühls wird weiter erzählt, wie die Menschen zur Erschießungsgrube geführt und dann erschossen werden: »Die erste Judengruppe wurde abgeschossen. Die Schüsse wurden salvenartig von zehn SS-Männern abgegeben, die zirka zwanzig Meter hinter der Reihe standen. Die Juden fielen in die Grube. Ein SS-Mann trat vor, prüfte, ob sich in der Grube noch jemand bewegte, und half bei einigen mit einem Kopfschuß nach.« (BEST: 249)

Die technokratische Beschreibung der zu einem automatisierten Vorgang reduzierten Ermordung findet einen vorläufigen Höhepunkt, als ein Mensch aus der Gruppe der zu Erschießenden auf die SS-Männer zusteuert: »Es muß wohl die vierte oder fünfte Gruppe gewesen sein, als ein Mann aus der Reihe rannte, sich das Hemd vom Kopf riß und auf uns zukam. Es war ein älterer Jude. Er blieb vor uns stehen. In einwandfreiem Deutsch, er rollte nur etwas das R, fragte er uns, was wir von ihm wollten. ›Ich bin doch nur ein Uhrmacher‹, sagte der Jude. Er zitterte am ganzen Körper. Vogt machte von ihm ein Photo. ›Jude vor dem Tod‹, sagte er und nahm auch auf, wie der SS-Mann ihn mit dem Knüppel zur Grube schlug. Der Jude fiel kopfüber in die Grube. Vogt fragte, ob er eine Aufnahme machen könne. […] ›Jetzt hab ich ihn auch tot‹, sagte Vogt, als er zurückkam.« (BEST: 250)

Die Darstellung veranschaulicht, wie die Entmenschlichung der als jüdisch deklarierten Personen jede Form des Mitgefühls mit ihnen oder der Sorge um sie tilgt. Die vom Uhrmacher gestellte Frage nach dem Grund für seine Erschießung wird nicht als legitime Frage anerkannt und bleibt unbeantwortet. Es wird deutlich, dass für die SS-Männer unverrückbar feststeht, dass die Menschen aufgrund einer angenommenen oder realen Zugehörigkeit zum Judentum getötet werden müssen. Die nachfolgenden Beschreibungen, in denen die kaltblütige Erschießung der Kinder geschildert wird, bestätigen und verfestigen diese Deutung (vgl. BEST). Darüber hinaus sind Metalepsen und Binnenerzählungen in die Narration eingeflochten, welche Abhandlungen, Gedanken oder Parabeln über die Entwertung menschlichen Lebens beinhalten. So erläutert die Erzählinstanz etwa

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in dem Kapitel: »Die Laus« (BEST: 286-288) die den Juden durch die Nationalsozialist_innen zugeschriebenen Charakteristika und weist damit auf die epistemologische Neuerfindung der ›Juden‹ als entmenschlicht hin. Das Kapitel beginnt mit der Beschreibung der parasitären Beziehung der Laus zum Menschen: »Die Laus ist ein kleines, flügelloses Insekt, das den Menschen befällt und Blut saugt« (BEST: 286). Die Erzählstimme führt mit einer direkten Konsequenz daraus fort: »Sie ist ein Schmarotzer und muß aus diesem Grund ausgerottet werden.« (BEST: 286) Davon ausgehend wird eine Phänomenologie der Laus entworfen, die Einzelheiten über Weisen, sie zu töten, ihre Vermehrung und ihre Gestalt enthält. Schließlich differenziert die Erzählinstanz zwischen »Kleiderlaus«, »Kopflaus« und »Menschenlaus« (BEST: 287) und führt den entmenschlichten Status auf weitere Personengruppen ausgedehnt vor: »Hat die Menschenlaus einen blauen Winkel, ist sie ein Emigrant. Ein Emigrant ist ein Gegner, der versucht hat zu fliehen und dabei erwischt worden ist. Kommt er dann in Begleitung zweier oder mehrerer Polizisten zurück, wird er an einen für blaue und andersfarbige Menschenläuse geschaffenen Ort gebracht. Der Ort heißt KZ oder Schutzhaftlager, weil die Menschenläuse dort vor sich selbst in Schutz genommen werden, was sie meist nicht zu schätzen wissen.« (BEST: 288)

Entmenschlichung wird im Nationalsozialismus in einen negativen Zusammenhang mit Sorge gebracht. So weist Irith Dublon-Knebel (2008: 93) darauf hin, dass die Zerstörung elterlicher Sorgeverhältnisse als ein wesentliches Element der Entmenschlichung von Juden gesehen werden muss: »The damage to Jewish parenthood was one of the junctures in the dehumanization process devised by the Nazis and is an intrinsic part of the history of the Holocaust.«

Diese Praxis hatte verschiedene Auswirkungen auf die überlebenden Eltern und Kinder. Häufig nahmen sich etwa die Eltern selbst als entmenschlicht wahr, weil sie während ihrer Inhaftierung nicht einmal basale Formen der elterlichen Sorge durchführen konnten. Demgegenüber machen die Analysen von Die Bestandsaufnahme, die den Fokus stärker auf die Umsorgten legen, auch sichtbar, dass die elterliche Sorge über den Zeitpunkt ihrer praktischen Durchführung weiterwirkt und im Hinblick darauf als eine vermenschlichende Ressource verstanden werden kann, wie ich im Folgenden darlege.

4.2.1.1.1 Zerstörung familiärer Sorgebeziehungen Das Kapitel »Lea oder wie man das Zweifeln lernt« (BEST: 95-108) handelt davon, wie Lea Lewinters Familie durch die Nationalsozialist_innen vernichtet wird. Es bestehen Bezüge zu anderen Binnenerzählungen in Die Bestandsaufnahme. So handelt es sich bei der Figur Lea Lewinter um die Nichte von

4. Abhängigkeit vom Anderen

Dora (vormals Wellner) und Reinhard Lipmann, deren Kennenlernen Thema des ersten Kapitels des Romans ist. Den Hauptteil der Geschichte macht die Darstellung des gutbürgerlichen und recht harmonischen Familienlebens der Familie aus. Die Mutter sowie das Kindermädchen Erika stellen die Hauptsorgepersonen für Lea dar. Sowohl Lea als auch ihre Mutter werden von der Erzählinstanz intern fokalisiert, sodass Einblicke in ihre Gedankenwelt möglich sind. Dabei werden verschiedene Praktiken der mütterlichen Sorge beschrieben, wie etwa das morgendliche Weckritual: »Gleich würde die Mutter zur Tür hereinkommen und ihr das Lied von den Schlafmützen vorsingen, dann würde sie sie an den Zehen kitzeln.« (BEST: 95)

Auch die liebevolle Sorge um das kranke Kind macht einen Bestandteil der mütterlichen Sorge aus: »Sie [Lea] war gerne krank. Die Mutter brachte ihr kleingeschnittene Apfelscheiben ans Bett und bereitete ihr Lieblingsgericht.« (BEST: 97)

Jäh und unerwartet für Lea wird dieses sorgende Umfeld durch die Deportation der Familie zerstört. Der Tag beginnt zunächst völlig normal: Um die Vorbereitungen für ein gemeinsames Familienfest treffen zu können, bittet die Mutter das Kindermädchen darum, mit Lea einen Ausflug zu unternehmen. Doch als Lea und Erika zurückkehren, sehen sie, wie Leas Mutter, ihr Vater und der neugeborene Bruder durch mehrere Männer in einem schwarzen Wagen abgeführt werden. Zurück bleibt Lea mit dem Kindermädchen. Lea interpretiert ihre Rettung zunächst als ein absichtliches Verlassen-Werden durch die Eltern: »Alle hatten es gewußt. Alle, außer ihr. Ihr Vater, die Mutter und selbst ihr kleiner Bruder würden in dem großen Wagen fahren […]. Sogar Erika hatte es gewußt.« (BEST: 107)

Erst im »Epilog« (BEST: 334-336) des Romans nimmt die Erzählinstanz Leas Geschichte wieder auf. Es wird mitgeteilt, dass Lea mittlerweile – wie auch Erika – in Amerika lebt und zwei Kinder zusammen mit einem amerikanischen Juden hat. Weiter wird deutlich, dass Lea ihre Rettung dem Kindermädchen verdankt, das sie während der Zeit des Nationalsozialismus auf dem Hof ihres Bruders versteckt gehalten hat. Auch wird erzählt, dass es Erika später gelang, Lea zu adoptieren, und sie familiäre Sorgepflichten für Lea übernahm sowie ihr ein Zuhause bot, das die Zugehörigkeit zum Judentum pflegte und achtete. Gleichzeitig weist die Erzählstimme darauf hin, dass Lea noch lange unter dem Gefühl litt, von ihrer Familie verlassen worden zu sein. In diesem Zusammenhang ist von ihrer »Überlebensschuld« (Leys 2011: 86) die Rede. Ruth Leys interpretiert diese als ein

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Poetologie des postsouveränen Subjekts »Verantwortungsgefühl gegenüber den Toten […], das manche Überlebenden dazu veranlassen soll, es als permanente Aufgabe zu betrachten, Zeugnis abzulegen« (Leys 2011: 113, vgl. Lifton 1991 [1968]).

Die Zerstörung der familiären Sorgebeziehung hat sich in Leas Psyche manifestiert. Die Vernichtung ihrer Familie hebt jedoch, wie deutlich wird, die Verbindung, in der sie mit ihr steht, nicht auf. Die Familienangehörigen werden als Verlorene und als zu Bezeugende in ihre Psyche ›gewendet‹: »Sie begriff als fast sechzig jährige Frau, daß sie ihren Eltern noch nicht verziehen hatte, sie verlassen zu haben, und daß ihr Leben von dieser Angst, noch einmal alleingelassen zu werden, bestimmt war. Sie begriff, daß sie sich schuldig fühlte, weil sie als einzige überlebt hatte, und, daß es nicht ihre Schuld war, daß sie lebte.« (BEST: 336)

Darüberhinausgehend wird in der Erzählung dargestellt, wie sich Lea schließlich durch ihre eigene Familie, insbesondere durch die Sorgebeziehung zu ihrem Sohn, mit der »Überlebensschuld« (Leys 2011: 86) arrangiert. Als sie ihrem Sohn zu seinem 18. Geburtstag das Zigarettenetui ihres Vaters schenkt und dieser es eine Woche später verliert, spürt sie, »wie sich eine unerklärliche und befreiende Leichtigkeit in ihr breitmachte, so als hätte sie nach all den Jahren auf stürmischer See endlich den Ballast aus dem schwankenden Boot geworfen, um sich vorm Ertrinken zu retten.« (BEST: 336)

Die von den Nationalsozialist_innen initiierte Zerstörung der familiären Sorgebeziehungen scheitert in Die Bestandsaufnahme an dem Verantwortungsgefühl Leas für ihre verlorenen Familienangehörigen einerseits und an ihrer Fähigkeit, sich anderen sorgevoll zuzuwenden, trotz der Angst, erneut verlassen zu werden.

4.2.1.1.2 Beständigkeit der Sorgebeziehungen Im ersten Kapitel von Die Bestandsaufnahme »Ein romantischer Anfang in acht Bildern« (BEST: 11-19) wird zunächst davon erzählt, wie sich Dora Wellner und Reinhard Lipmann im Berlin der 1920er Jahre kennenlernen. Im fünften Kapitel »Trockene Erde« (BEST: 35-39) wird das erste Mal von ihrer Tochter Vera und ihrem Sohn Hermann berichtet: »Vera Lipmann: ein trotziges Mädchen mit einer hellen, sommersprossigen Haut. Ihr zwei Jahre älterer Bruder Hermann: Klassenerster, friedfertig, Karl-May-Kenner.« (BEST: 36)

Das Kapitel beschreibt einen Aufenthalt in ländlicher Umgebung, bei welchem die Kinder unbedarft einige Abenteuer erleben. Im darauf folgenden sechsten

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Kapitel »Die Geschichte des kleinen Löwy (Eine lose Briefmarke)« (BEST: 4054) taucht Vera als Freundin von Löwy wieder auf. Diesmal spielt die Handlung in städtischer Umgebung. Eine intern fokalisierte, homodiegetische Erzählstimme berichtet: »Will mir sogar noch etwas zum Trinken holen, sehe dann aber, kaum am Fenster, wie Löwy Vera küßt oder Vera den Fettwanst, wer wen küßt, kann ich aus der Entfernung nicht genau erkennen, und das sabbert und labert, als würde er eins von seinen Schokoladecremetörtchen essen, die er sich auf der Straße schnell in den Rachen stopft.« (BEST: 44)

Weiter wird über Vera nichts mehr berichtet, bis im 33. Kapitel »Die Korallenkette« (BEST: 320-324) von ihrem Tod im Konzentrationslager erzählt wird. Die Selektion überlebt sie zunächst, weil sie »als in Frage kommendes und weiterleitungswürdiges Objekt« (BEST: 320) deklariert und damit dem »Bordell« (BEST: 234) des Lagers zugewiesen wird. Schon nach drei Wochen infiziert sie sich dort jedoch mit Typhus. Während ihres Leidens erinnert sie sich an ihre Eltern: »Oft dachte Vera an ihre Mutter, an ihr tiefes Lachen, an die Ferien in den Bergen, an den würzigen Geruch der Erde und an die schweren Hände des Vaters, der ihr vor dem Einschlafen über den Kopf gestrichen hatte. Diese Erinnerungen beruhigten sie.« (BEST: 323)

Als sie schließlich durch eine Giftinjektion getötet werden soll und auf den Metalltisch des Arztes getragen wird, denkt sie »an ihren Vater, der sie als Kind ins Bett getragen hatte, wenn die Müdigkeit sie übermannte. Leise hatte er ihr Lieder vorgesummt und sie in den Schlaf gewiegt« (BEST: 324).

Das Scheitern seiner elterlichen Sorge um sie scheint mit Veras physischen Tod besiegelt. Die Umstände ihres Todes sind nichts weniger als sorgend. Sie sind entmenschlichend und grausam. Die junge Frau, die durch den Aufenthalt im Konzentrationslager lebensgefährlich erkrankt ist, wird nicht etwa gepflegt, sondern in einer sterilen Umgebung hingerichtet: »Sie spürte die kalte Platte des Tisches. Das Licht war gleißend. Vera drehte den Kopf zur Seite und schaute den Arzt an, der in einer Ecke stand und wartete. Dann schloß sie die Augen.« (BEST: 324)

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In dieser Textstelle wird die elterliche Sorge zum einen als gescheitert dargestellt, wenn Vera durch den KZ-Arzt mitleidlos hingerichtet wird. Zum anderen lässt die Erzählung jedoch auch einen Zweifel am Scheitern der Sorge ihrer Eltern aufkommen. Zwar ist Veras Leben und damit der Gegenstand der Sorge verloren, es wird aber deutlich, dass Vera auf die Spuren der elterlichen Sorge zugreifen kann. Die Liebe und Sorge von Mutter und Vater verlassen Vera auf diese Weise, solange sie lebt, nicht. Vera, die im Konzentrationslager hingerichtet wird, findet Trost und Menschlichkeit in der Erinnerung an die Sorgepraxis ihrer Eltern und setzt die zerstörte Elternschaft auf diese Weise virtuell wieder ein.

4.2.1.1.3 Zusammenfassung Die Textanalysen machen deutlich, dass sich Lea und Vera auch noch nach der Trennung von ihren Eltern zu diesen in Beziehung setzen. Die Elternschaft besteht virtuell weiter. Lea, die ihre Eltern überlebt, stellt zunächst eine schuldhafte Verbindung zu diesen her. Sie schreibt sich die Aufgabe zu, weiterhin von ihren Eltern zu zeugen, und kann den physischen Verlust lange nicht verarbeiten. Vera gelingt es hingegen, die vom Vater für sie praktizierte Sorge virtuell zu aktualisieren und sich auf diese Weise in einer grauenvollen und höchst beängstigenden Situation selbst zu beruhigen und zu trösten.

4.2.1.2 Gefährliche Sorgebeziehungen In Die Bestandsaufnahme wird von Sorge auch als einer gefährlichen Praxis erzählt. Zu einer solchen wird sie für die Figuren, die für diejenigen sorgen, die nicht in die nationalsozialistische Ideologie eingeschlossen werden. Im Kapitel »50 Kilo Zahngold« (BEST: 134-167) wird in 13 Unterkapiteln der Lebensweg des jüdischen Zahnarztes Ernst Fuchs dargestellt. Aus intern fokalisierter Erzählperspektive wird berichtet, wie er in Berlin sein Studium der Zahnmedizin beginnt, seine zukünftige Frau Klara kennenlernt und der gemeinsame Sohn David geboren wird. Die Erzählstimme stellt Fuchs als einen einfühlsamen Arzt und liebevollen Ehemann und Vater dar. Sie geht darauf ein, wie er und seine Frau nach ihrer Hochzeit noch intensiver zusammenfinden und die Vertrautheit zwischen ihnen immer weiter wächst. Über die Sorge um seinen Sohn wird berichtet: »Sieben Monate nach unserer Hochzeit kam David zur Welt. Ich erinnere mich an sein erstes Lächeln, das uns eines Morgens überraschte, als ich ihm unbeholfen die Windeln wechselte. Keiner hatte mir gesagt, wie entzückend dieses erste zaghafte und zahnlose Lächeln sein würde.« (BEST: 161)

Es wird deutlich, dass Fuchs die Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland stetig beobachtet. Aus seiner Erzählperspektive wird auf mar-

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kante historische Punkte des Aufstiegs der Nationalsozialist_innen verwiesen, wie etwa auf den »Tag von Potsdam« (BEST: 156) oder auf die Einführung der »Nürnberger Rassengesetze« (BEST: 161). Dennoch nimmt Fuchs diese mit dem Nationalsozialismus verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen lange Zeit nicht ernst. So wird mitgeteilt, dass er das »Gehabe« der Nationalsozialist_innen »lachhaft« (BEST: 156) finde. Erst seine Verhaftung, die mit einer Verurteilung zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe wegen Verstoßes gegen »das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« (BEST: 162) einhergeht, öffnet ihm die Augen für die gefährliche Situation, in der seine Familie schwebt. Fuchs und seine nicht-jüdische deutsche Frau beantragen die Ausreise, doch es ist schon zu spät. Ernst Fuchs wird festgenommen, seine Familie wird von der Gestapo abgeholt; ihr Schicksal bleibt ungewiss. Im letzten Satz der Erzählung verdeutlicht die Erzählstimme, dass Fuchs bewusst ist, dass seine Frau trotz seiner Kategorisierung als Jude weiter zu ihm hielt und deshalb, wie auch ihr Sohn, wahrscheinlich sterben musste. Die Erzählstimme rekapituliert metaleptisch die Situation, in der Fuchs seiner Frau einen Heiratsantrag gemacht hatte. Aus der Sicht von Ernst Fuchs erfahren die Leser_innen: »Und so möchte ich mich denn mit solch einem Augenblick von Ihnen verabschieden: als ich Klara fragte, ob sie meine Frau werden wolle, aber gleichzeitig auseinandersetzte, warum sie den Antrag nicht annehmen solle, und sie mich mit ihren grün schillernden Katzenaugen ansah und ich mich in ihrer Pupille spiegelte, die so groß war, so groß, und ich meinen Atem stocken hörte und sie mit einer tiefen Stimme lachte, die rauh war vor Zärtlichkeit.« (BEST: 167)

Klara hält die gefährliche Sorgebeziehung zu ihrem jüdischen Ehemann aufrecht und bezahlt dafür mit ihrem eigenen und dem Leben ihres Kindes. Eine ähnliche Erzählung wird in dem Kapitel »In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht« (BEST: 175-181) wiedergegeben. Aus Sicht eines Mannes, der von der Gestapo festgenommen wird, werden die Gedanken, die er sich um seine Frau und Tochter macht, geschildert. Von der Erzählstimme erfahren die Leser_innen, dass der Festgenommene mit seiner Verhaftung bereits gerechnet und Auswanderungspapiere beantragt hatte. Während er mit seinen Mithäftlingen auf Lastwagen verladen wird, hofft er: »Ach, dachte er, mach, daß sie dennoch gefahren ist, dann ist sie morgen in Holland, dann sind sie in Sicherheit.« (BEST: 180)

Das Adverb »dennoch« (Best: 180) weist darauf hin, dass er die Wahrscheinlichkeit für diesen Fall eher gering einschätzt und Frau und Tochter immer noch auf seine Rückkehr warten oder ebenfalls bereits verhaftet wurden.

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Das Kapitel »Das Feuerzeug« (BEST: 216-231) wird hingegen aus der Perspektive des Jungen Peter erzählt. Er erlebt mit, wie der Vater der Nachbarsfamilie vergeblich versucht, seine Tochter Anna, die Trisomie 21 hat, vor einer Euthanasie-Aktion der Nationasozialist_innen zu bewahren. Peters Familie gewährt Vater und Tochter eine Nacht Unterschlupf. Peter überwindet seine anfängliche Abneigung gegen Annas eigenwilliges Verhalten und freundet sich mit ihr an. Die Äußerungen »Hat dich jemand gesehen?« (BEST: 216), »Aber sicher kann man ja nie sein« (BEST: 216) sowie »Wir dürfen kein Risiko eingehen« (BEST: 217) deuten darauf hin, dass allen deutlich ist, wie gefährlich diese Form des Sorgens für den Anderen für jeden von ihnen ist. Am nächsten Morgen werden Tochter und Vater kurz nach Verlassen der Wohnung von der Gestapo verhaftet.

4.2.1.3 Zusammenfassung Das Sorgen um den Anderen wird in Die Bestandsaufnahme als eine vermenschlichende Praxis deutlich gemacht. Gleichzeitig wird sie als gefährdet, zerstörbar und gefährlich dargestellt. Während auf narrativer Ebene ein Geflecht aus Abhängigkeiten und Sorgebeziehungen entworfen wird, findet in der Erzählwelt eine ständige Unterhöhlung dieser Beziehungen statt. Rücksichtlos gegen jede Bindung – familiär oder freundschaftlich – werden die von den Nationalsozialist_innen verfolgten Figuren und ihre Familien und Freund_innen verhaftet, getötet und ausgelöscht. Die konstitutive Abhängigkeit der Menschen voneinander bedingt in Die Bestandsaufnahme die Verletzlichkeit der Figuren und stellt zugleich die Ressource ihrer Menschlichkeit dar, deren Zerstörung das Ziel der Nationalsozialist_innen ist. Narrativ wird dies durch ein spezifisches Erzählmodell realisiert, welches dadurch charakterisiert ist, dass sich die Rahmenerzählung erst retrospektiv erschließen lässt und eine Vielzahl von miteinander verflochtenen Erzählperspektiven einsetzt. Des Weiteren wird der Antisemitismus, der semantisch durch Tierparabeln und Entmenschlichungs-Metaphoriken transportiert wird, veranschaulicht. Die Sichtweise der Nationalsozialist_innen wird in ihrer kulturell-symbolischen Formation erzählerisch realisiert, in der Erzählung von Die Bestandsaufnahme neu kontextualisiert und auf diese Weise katachrestisch nachvollzogen.

4.2.2 Dekonstruktion von Sorgepraxis In dem Roman Aus einer schönen Welt steht mit A. als Mutter in einer Kleinfamilie aus der Mittelschicht ein traditionelles Sorgegeflecht im Mittelpunkt der Diegese. Beschreibungen der Praktiken der elterlichen und insbesondere der mütterlichen Sorge sind zentrale Bestandteile der Erzählung. Die spezifische Konstruktion der Erzählstimme als intern fokalisiert und heterodiegetisch er-

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möglicht einen dekonstruierenden Blick auf das Dargestellte. Weil die Erzählstimme nicht in der erzählten Geschichte vorkommt, die Gedanken, Einstellungen und Wünsche der Figuren aber genau kennt, kann sie in der Narration auf Brüche und Unstimmigkeiten in den Handlungen der Figuren hinweisen. Im Hinblick auf die Frage danach, wie in Aus einer schönen Welt Sorge als Ausdruck der grundlegenden Abhängigkeit vom Anderen in den Blick genommen wird, ist vor allem die elterliche Sorgebeziehung von A. und ihrem Ehemann zur gemeinsamen Tochter aufschlussreich. Im Folgenden gehe ich auf charakteristische Merkmale der narrativen Konstruktion ihrer Mutter- und Vaterschaft als Sorgebeziehung ein.

4.2.2.1 Mutterschaft als normativ regulierte Sorgebeziehung Mutterschaft stellt – für weite Teile des globalen Nordens – eine gesellschaftlich überdeterminierte Sorgepraxis dar, wie neueste Veröffentlichungen sowie die Debatten, die sich unter dem Schlagwort ›regretting motherhood‹ vollziehen, zeigen (vgl. Donath 2015; Diehl 2014; Speck 2014). Gegenstand der Verhandlungen sind dabei vor allem Fokussierungen auf Aspekte der Mutterschaft als sozialer Tätigkeit, in Abgrenzung zu einem Verständnis von Mutterschaft als biologisch determiniertem Verhalten. In dem Roman Aus einer schönen Welt wird Mutterschaft als Sorgetätigkeit ebenfalls problematisiert und ihre Natürlichkeit dadurch in Zweifel gezogen. So wird davon erzählt, dass A. mit ihren Vorstellungen von ›richtiger‹ Mutterschaft ringt: »A. hält sich mit beiden Händen an der Spüle fest. Die dünne Stimme des Kindes weckt in ihr den Wunsch, das Kind vom Stuhl zu reißen und so lange zu schütteln, bis es bereut.« (ASW: 34)

Die Erzählstimme weist darauf hin, dass A. verschiedene gesellschaftliche Konzepte von Mutterschaft gegen die von ihr empfundene Aggression für das Kind mobilisiert. Sie sagt sich: »Das Kind kann doch nichts dafür. Es hat nichts geplant. Dazu wäre das Kind nicht fähig. Das Fallenlassen des Bechers beruht auf keiner Entscheidung, dennoch haßt sie das Kind. Wilde Bilder durchzucken sie. Ein blutendes Kind auf der Straße. Auch auf die stählerne Wäschetrommel muß sie unweigerlich schauen.« (ASW: 34)

Gleich darauf wird die Information gegeben, dass A. offenbar über ihre eigenen Gedanken erschrickt und sich dem Kind anschließend liebevoll zuwendet. Allerdings fügt sie an, dass A., als sie den Boden aufwischt, auf die Küchenuhr schaut, womit sich andeutet, dass diese offenbar sehnsüchtig auf das Ende der Betreuungsarbeit wartet.

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Auf einer ersten Ebene wird hier dargestellt, wie eine Mutter ihrem Kind frischen Orangensaft zubereitet, die Küche aufräumt und, nachdem das Kind den Saft verschüttet hat, ohne zu strafen das Verschüttete entfernt. Indem die Erzählstimme den Blick der Leser_innen auf A.s Bemühungen um ein angepasstes Verhalten ergänzt, wird eine zweite Ebene der Situation sichtbar. Die Kontexte, welche regulativ zur Herstellung dieser Wirklichkeit beitragen, kommen in den Blick. Dabei liegt der Fokus auf solchen Regularien, welche die Mutterschaft von A. als ›natürlicherweise‹ Kind-zentriert konstituieren, wodurch der ›Preis‹ dafür kritisch realisiert wird. Er besteht darin, dass A. ihr Verhalten dem Kind gegenüber nicht hinterfragt und nicht nach Formen der Sorge sucht, die ihr (und dem Kind) besser entsprechen. Abweichende Rahmungen von Mutterschaft, die eher mutterzentriert sind, wie die, dass Mütter auch einmal eine Pause brauchen oder Kinder der Ausdruck mütterlicher Unlust und Wut zu mehr Empathie befähigt, kommen der Figur nicht in den Sinn (vgl. bspw. Juul 2009). Diese Form der Darstellung unterstützt die Deutung, dass die Erzählung von Aus einer schönen Welt als Einsatz dafür gelesen werden kann, die heteronormative Vorstellung der ›natürlichen‹ Mutterschaft zu erschüttern.

4.2.2.2 Untergeordnete Stellung des Kindes Während die Erzählung mit einer ausschweifenden Beschreibung der Beziehung A.s zu ihrem Ehemann beginnt, wird die gemeinsame Tochter erst im Verlauf des zweiten Kapitels von der Erzählstimme erwähnt. Als A. einmal wieder darüber nachsinnt, wir ihr Wert korrekt bestimmt werden könnte – ein zentrales Motiv des Romans (vgl. Kapitel 6.2.1) – wird das Kind beiläufig erwähnt: »Selbst das Kind, um das sie sich die Sorgen teilen, darf nicht berücksichtigt werden« (ASW: 9). In der Textstelle wird auf mehrere Charakteristika der Beziehung zwischen Mutter und Tochter hingewiesen. Zunächst einmal wird die Tochter explizit durch ihre Mutter in der Wertberechnung ausgeklammert. Es ergibt sich die paradox anmutende Situation, dass das Kind, keine – also auch keine geringfügige – Rolle in der Erstellung ihres Wertes durch ihren Ehemann spielen dürfe, obwohl es von A. als ein gemeinsames wichtiges Thema zwischen ihr und ihrem Ehemann identifiziert wird, indem sie es mit geteilten – nicht gemeinsamen – Sorgen zusammenbringt. Auf narrativer Ebene zeigt sich, dass A. ihre Tochter in einem paradigmatischen Bedeutungsfeld mit »Lachfalten […], Orangenhaut […], eine[r] sich um zwei Zentimeter senkende[n] Brust […] und eine[r] unüberwindbare[n] Abneigung gegen Entschlüsse, die man sofort ausführen soll«, lokalisiert: »Der Mann soll gerecht urteilen und keine Vergleiche anstellen: mit anderen Brüsten, Mündern und Hinterteilen. Allmächtig, einzigartig, wissend und gnädig soll er das Nebensächliche außer acht lassen und den eigentlichen Wert seiner Frau erkennen.

4. Abhängigkeit vom Anderen Auch den Nutzeffekt soll er nicht mitrechnen. Denn daß der Mann täglich etwas Warmes zu essen bekommt, ist kein Grund für die Liebe, die zwar durch den Magen geht, aber nach etwas Höherem streben sollte. Selbst das Kind, um das sie sich die Sorgen teilen, darf nicht berücksichtigt werden. ›Das reine Geschmacksurteil ist von Reiz und Rührung unabhängig‹, sagt A, und denkt: Drei Lachfalten unterm Auge, etwas Orangenhaut, eine sich um zwei Zentimeter senkende Brust, sobald ich den Haken des Büstenhalters öffne, und eine unüberwindbare Abneigung gegen Entschlüsse, die man sofort ausführen sollte.« (ASW: 8f.)

Die Erzählinstanz fokalisiert hier A., wie sie das von ihr gewünschte gerechte, interesselose Geschmacksurteil mit der Liebe, die der Mann für sie auf bringt, in eine logische Verkettung bringt. Auf einer ersten Ebene wird deutlich, dass sie ihrer Werterstellung die Analogie zwischen Urteil und Liebe zugrunde legt. Auf einer zweiten Ebene zeigt sich in der Textstelle, dass A. ihre Tochter als etwas wahrnimmt, das das »reine Geschmacksurteil« [ASW: 9] über sie ›verunreinigen‹ würde. Diese Äußerung gibt einen Hinweis darauf, dass das Kind für A.s Selbstbild nur eine untergeordnete Rolle spielt.

4.2.2.3 Verkennung des Kindes Nachdem das Kind im fünften Kapitel (ASW: 12f.) zum zweiten Mal kurz erwähnt wird (»In aller Früh, gleich nachdem der Mann und das Kind das Haus verlassen haben« [ASW: 12]), wird es in Kapitel elf (ASW: 20-22) ausführlicher eingeführt. Bereits in der Einleitung dazu zeigt sich, dass A. das Kind nicht als gleichwertigen Ansprechpartner anerkennt. Es wird von ihr vielmehr unter dem Aspekt seiner Nützlichkeit betrachtet: »A. bittet das Kind, ihr ein Bild zu malen. Das möchte sie in die Küche hängen, weil bunte Kinderzeichnungen in der Küche sehr dekorativ sind.« (ASW: 20)

Im Weiteren entspinnt sich ein Streitgespräch zwischen Mutter und Tochter, in dem verhandelt wird, an welchem Ort der Wohnung das Bild aufgehängt werden soll. Die Tochter favorisiert einen zentralen Platz im Wohnzimmer, den A. zunächst erbost verweigert, dann jedoch, mit Reflexion auf ihr kürzlich erworbenes Wissen aus einem Ratgeber, in welchem empfohlen wird, »daß man Kinder nicht kritisieren und beherrschen, sondern beraten und ermutigen sollte« (ASW: 20), freigibt. Daran anschließend markiert die Erzählinstanz A.s Stolz über die Entscheidung ihres erst vierjährigen Kindes. Denn dessen Wahl macht in A.s Augen deutlich, dass das Kind »die Beziehung zwischen dem Wert und dem Standort eines Dinges begriffen hat« (ASW: 21). In dieser Narration spiegelt sich zum einen die Relevanz wider, die das Kind für A. hat. Erst in dem Moment, in welchem A. ihre Tochter als Produzentin authentischer (schließlich könnte A. auch Bilder im Stil von Kinderbildern

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zeichnen) Kinderbilder benötigt, wird das Kind in die Erzählung eingeführt. Zum anderen fällt auf, dass das Alter der Tochter nur in einem Zusammenhang für A. erwähnenswert wird, in welchem es dazu dienen kann, herauszustellen, »wie genial das Kind ist« (ASW: 21). Es deutet sich hier bereits an, dass die Form der Narration darauf hinausläuft, den Eindruck zu erzeugen, dass die Tochter für A. ›nur‹ die Funktion erfüllt, ihren eigenen Wert zu steigern. Durch das 13. Kapitel (ASW: 23f.) wird diese Annahme weiter verstärkt. Dort heißt es: »A. wünscht sich, daß es [das Kind], schon allein wegen der hohen Kindergartenkosten, viele Blöcke vollmalt. Damit es sich entwickelt, muß das Kind sich ordentlich mit Knete, Farbe, Dreck besudeln und auch beißen und um sich schlagen lernen, denn A. will sich ihre Hoffnungen und Wünsche von keinem zerstören lassen.« (ASW: 24)

Anhand der Textstelle wird deutlich, dass eine gute Entwicklung des Kindes zu A.s Hoffnungen und Wünschen gehört. Mit dem Wunsch der Mutter ist zugleich die Erwartung verbunden, die Sorge um das Kind möge sich in gewisser Weise rentieren. Denn der Wunsch erscheint nicht etwa in einem Gespräch mit Großmutter, Ehemann, Freundin oder einer anderen vertrauten Person, er wird in dieser Hinsicht nicht explizit als intrinsisch motiviert ausgesprochen. Vielmehr tritt er quasi implizit als extrinsisch motiviert auf. Kindergartenkosten (K), Entwicklungswunsch (E) und vollgemalte Blöcke/anspruchsvolle Pädagogik (P) werden von A. so aneinandergereiht und miteinander verflochten, dass unentscheidbar wird, was welchem vorausgeht. Die Subjunktion »damit« (ASW: 24) impliziert zwar, dass der Entwicklungswunsch für das Kind den Anspruch an dessen gute pädagogische Betreuung motiviert und daraus in der Folge die hohen Kindergartenkosten entstehen, was der Folge (E) –> (P) –> (K) entspräche. Doch A.s Aussage widerspricht dieser Kausalität, weil sie deutlich macht, dass der Entwicklungswunsch von den hohen Kindergartenkosten ausgeht (»A. wünscht sich, daß es [das Kind], schon allein wegen der hohen Kindergartenkosten, viele Blöcke vollmalt« [ASW: 24]). Eine Rekonstruktion der in der betreffenden Textstelle entworfenen Kausalitätskette zeigt, dass die Stellen vertauscht sind: (K) –> (P) –> (E). Indem durch die Darstellung die alternativ vorgetragene Kausalität, A. wünsche sich vor allem, dass sich die hohen Kindergartenkosten auszahlen, an Legitimität gewinnt, wird der Glaube daran, dass jede Mutter ›natürlich‹ für ihr Kind schließlich immer die beste Entwicklung wünsche, infrage gestellt. Das problematisiert wiederum die Natürlichkeit von Mutterschaft insgesamt und wirft die Frage danach auf, inwiefern hinter dem Ziel der bestmöglichen Entwicklung häufig noch – wie hier A.s »Hoffnungen und Wünsche« (ASW: 24) – weitere implizite Wunschauslöser zu finden sind.

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Hinzu kommt, dass die Erzählstimme in diesem Kapitel auch Informationen über die Beziehung des Vaters zu seiner Tochter gibt, welche das Feld der Deutungsvarianten zusätzlich durchmischen: »Nun steht es [das Kind] an der Wohnungstür und wartet auf den Vater und wirbelt den Rucksack in die Luft, so daß die belegten Vollkornbrote gegen den Walkman stoßen, den der Vater gestern von einer Geschäftsreise mitgebracht hat, weil es dem Kind an nichts fehlen soll.« (ASW: 23)

Hier nun wird der Entwicklungswunsch, implizit vermittelt über das Ziel, »das Kind für die Musik empfänglich« (ASW: 23) zu machen, in den Kontext gestellt, dass »es dem Kind an nichts fehlen soll« (ASW: 23). Die Frage steht damit im Raum, ob es sich nun so verhält, dass der Vater wünscht, dass es dem Kind an nichts fehlen soll, damit es sich bestmöglich entwickelt, oder es sich bestmöglich entwickeln soll, damit sich die Frage erübrigt, ob es ihm an etwas fehle. Mit Blick auf das elfte Kapitel (ASW: 20-22) wird zudem erkennbar, dass es sich bei dem Wunsch des Vaters, es möge »dem Kind an nichts fehlen« (ASW: 23), eher um eine allgemeine Phrase handelt. Wenn die Tochter ihr ursprünglich für die Küche geplantes Bild an die Wand über dem Fernseher hängen möchte, gibt ihr die Erzählstimme eine der wenigen Möglichkeiten, ihre eigenen Wünsche in einem indirekten Verweis darzulegen. So kann die Auswahl dieses speziellen Ortes für die Platzierung des Bildes als eine Bemühung des Kindes verstanden werden, in den Fokus des Vaters zu gelangen und mehr Aufmerksamkeit von ihm zu erhalten. Denn die ersten Kapitel des Romans zeigen nicht nur spezifische Eigenheiten des Verhältnisses von A. zu ihrem Ehemann auf; sie geben en passant auch preis, dass sich A.s Ehemann, wenn er zu Hause ist, hauptsächlich vor dem Fernseher aufhält. Es kristallisiert sich somit heraus, dass es entgegen dem vorgetragenen Wunsch des Vaters sehr wohl etwas gibt, woran es dem Kind fehlt: an seiner Anwesenheit. Wenn weiterhin erzählt wird, dass er seiner Tochter einen Kassettenrekorder von der Geschäftsreise mitbringt, »weil es dem Kind an nichts fehlen soll« (ASW: 23), dann wird klar, dass er mit dieser Phrase einerseits vor sich verdeckt, dass es dem Kind an seiner Aufmerksamkeit mangelt, und dass er andererseits mit dem Kassettenrekorder ein Substitut schafft. Allein die Absicht, das Kind mit dem »Kassettenrecorder […] für die Musik empfänglich [zu] machen […], für die es sich noch nicht interessiert« (ASW: 23), entblößt das Geschenk für das Kind als eines, das sich nicht an dieses richtet, sondern an ein Kind, das es erst noch werden soll. Die Analyse zeigt, dass die heterodiegetische intern fokalisierende Erzählstimme in Aus einer schönen Welt Hinweise darauf gibt, dass Mutter- und Vaterschaft als natürlich bestimmte Sorgeverhältnisse Gefahr laufen können, die

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Bedürfnisse des Umsorgten zu verfehlen. So wird an mehreren Stellen durch die Erzählstimme anschaulich gemacht, dass Mutter wie Vater Bedürfnisse des Kindes nicht wahrnehmen.

4.2.2.4 Zusammenfassung In dem Roman Aus einer schönen Welt wird das Sorgegeschehen um das Kind in einer Kleinfamilie aus der Mittelschicht aufgegriffen. In den Fokus der Erzählstimme gelangt hauptsächlich die mütterliche Sorge A.s um ihre Tochter sowie in einem weitaus geringeren Umfang die väterliche Sorge. Die Form der Sorge, die im Rahmen der bezahlten Reproduktionsarbeit durch das Kindermädchen geleistet wird, wird erzählerisch nur gestreift. A. bezieht sich nur dann als Mutter auf das Kind, wenn es darum geht, den Wert des Kindes darzulegen. Es wird darüber hinaus sichtbar, dass das Kind von seinen Eltern vor allem unter Aspekten seiner kulturellen und sozialen Verwertbarkeit betrachtet wird. Zur Realisierung dieser Ausprägung von Sorge werden die von A. und ihrem Mann vorgenommenen Kausalitätsketten – in Bezug auf das Normativ des glücklichen und umsorgten Kindes – durch die Erzählstimme katachrestisch realisiert. Im Zusammenhang mit der Analyse zur Darstellung der väterlichen Sorgebeziehung kristallisiert sich heraus, dass die elterliche Sorge um das Kind in dem Roman Aus einer schönen Welt als eine verkennende Sorge konstruiert ist. Hoffnungen und Wünsche des Kindes stehen weniger im Mittelpunkt der Sorge als die seiner Eltern. Mutter- und Elternschaft werden in Aus einer schönen Welt als defizitär dargestellt. Dabei zeichnet sich ab, dass die Normative, welche an die Konstruktion der Natürlichkeit von Mutter- und Elternschaft anknüpfen, nicht garantieren, dass das Kind mit all seinen Bedürfnissen wahrgenommen wird. Solchermaßen wird erzählerisch nahegelegt, dass eine Kritik elterlicher Sorgepraxis eher dazu beitragen kann, die Bedürfnisse der Umsorgten zu erfüllen, als der Glaube an die natürliche Verfasstheit mütterlicher und väterlicher Sorge.

4.2.3 Vom Sorgen nach dem Erleben von E xtremsituationen Auch in So sind wir wird von einem verwandtschaftlichen Sorgegeflecht erzählt, wobei die Erzählung der Sorgepraxis weniger allgemeine Formen der familiären Sorge, wie im Krankheitsfall oder in der Kinderpflege, aufgreift, sondern die Besonderheiten der Sorgeverflechtung mit einem Überlebenden der Shoah fokussiert. Es werden verschiedene Sorgebeziehungen dargestellt, die unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. In der Erzählung wird insbesondere die Sorgebeziehung zwischen Vater und Tochter aus der Perspektive der Tochter ›Gila‹ beleuchtet. Dabei wird einerseits geschildert, in welcher Weise sich der Vater seinen beiden Töchtern, Gila und Rina, zuwendet. Andererseits kommt in den Beschreibungen der Erzählinstanz zum Ausdruck, dass auch Gila sich

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um ihren Vater sorgt. Durch die homo- bzw. autodiegetische, interne Fokalisierung wird vor allem die Intensität der Sorgebeziehungen veranschaulicht. Vom elterlichen Sorgeverhalten wird in So sind wir stark differenziert erzählt. Schon zu Beginn der Handlung werden Mutter und Vater sehr unterschiedlich konzipiert. Der Vater wird einführend als »Auschwitzüberlebende[r]« (SOSW: 7; Herv. i. O.) charakterisiert. Über die Mutter heißt es, sie sei die »Tochter eines zionistischen Pioniers« (SOSW: 7; Herv. i. O.). Während die Position der Mutter von der Erzählstimme innerhalb eines engen familiären Geflechts und dafür weitestgehend unabhängig von der Shoah bestimmt wird, wird der Vater weniger stark in Beziehung zu seiner Herkunftsfamilie geschildert und dafür aber in intensiver Verstrickung mit der Shoah repräsentiert. Im Folgenden gehe ich näher auf diese unterschiedlichen Thematisierungen ein.

4.2.3.1 Mütterliche Sorge Im Roman So sind wir sind Mutter und Vater antagonistisch angelegt, was sich auch auf der syntaktischen Ebene der Erzählung manifestiert. So wird die sorgenvolle Frage der Erzählinstanz danach, ob der Vater beim Zeitunglesen das fand, »was er suchte« (SOSW: 10), folgendermaßen beantwortet: Zunächst erläutert die Erzählinstanz die Ergebnislosigkeit der Suche des Vaters mit einem ausschweifenden Satzgebilde. Es zeichnet sich durch Hypotaxe, Epizeuxis, Polysyndeton und Klimax aus: »Nie fand er sie, die Wahrheiten und Halbwahrheiten in fetten Schlagzeilen, die doch nichts geändert hätten, und gerade deshalb gewann dieses Unterfangen an Bedeutung, wuchs zu quasi mythischen Proportionen an, denn er gab nicht auf. Mein Vater sammelte und sammelte, sammelte, verlor und suchte zimmeraus, zimmerab, allerorts. Papierfetzen über moderne Ungeheuer und Dämonen, aber die kümmerten sich nicht um seinen Wunsch, sie zu bezwingen, und hatten sich verdrückt, bevor er ihnen den Kampf ansagen konnte.« (SOSW: 11)

Darauf folgend interveniert die Erzählinstanz, indem sie einen zweiten Deutungsvorschlag für die erinnerte Beobachtung ihrer Kindheit anbringt: »Oder aber es war so: die Mutter mit ihrer berüchtigten Aufräumneurose und ihrem uns rettenden praktischen Sinn …« (SOSW: 11)

Schließlich verlegt sich die Erzählerin auf diese Version der Erzählung: »Ja, es kann nur die Mutter gewesen sein, die dem Vater half, den lockenden Sirenen zu entrinnen. Wer sonst als die Mutter hätte gedacht: weg damit, bevor wir im Papierfetzenmeer dieses Mannes ersaufen.« (SOSW: 11)

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Die Textpassage, welche sich auf die projizierten Gedanken der Mutter bezieht, ist der direkten Rede angenähert und beinhaltet einen Imperativ. Dadurch wird die pragmatische und bodenständige Haltung der Mutter in der Syntax des narrativen Akts widergespiegelt und bildet einen Gegenpol zur überbordenden syntaktischen und rhetorischen Gestaltung des väterlichen Verhaltens. Die Erzählstimme macht an mehreren Stellen der Erzählung auf die Ambivalenz im Mutter-Tochter-Verhältnis aufmerksam (vgl. SOSW: 12; 18f.; 96f.; 114-120). Die Mutter wird in diesen Textstellen als »Feindin Mutter« (SOSW: 12), als Frau, die Gila »in die Verbannung« (SOSW: 19) trägt, als die Person, die von ihr »lebenslang […] vor den Kopf gestoßen« (SOSW: 96) wurde, aber auch als »elegante Frau« (SOSW: 116) beschrieben. Gila scheint ihre Mutter einerseits zu bewundern, andererseits scheint sie von ihrer projizierten oder realen Abneigung der Mutter gegen sie abgeschreckt oder abgestoßen zu sein. So nimmt Gila an, dass ihre Mutter über sie denkt: »Ekelerregend, dass ich meiner Herkunft nicht entspreche. Ekelerregend, dass ich mit dem großartigen Durchhalteprojekt nichts zu tun haben will. Ekelerregend auch, dass ich mich immer und überall hinter dem Wort verkrieche.« (SOSW: 96)

Die Wirkung des Adjektivs »ekelerregend« wird in dieser Textstelle durch den anaphorischen Einsatz noch weiter verstärkt und verbindet die Sätze zu einer Klimax, die auf Gilas Affinität zum »Wort« zustrebt: »Lebenslang habe ich meine Mutter vor den Kopf gestoßen, indem ich lieber etwas las oder schrieb, statt mich ins Leben zu schmeißen, wie es sich für eine Tochter, die einem israelischen Leib entsprungen ist, gehört. Schon als Kind stand das deutsche Wort schützend neben mir, und meine israelische Mutter prallte daran ab.« (SOSW: 96)

Die Affinität zum ›Wort‹, zum deutschen allemal, aktualisiert nicht nur den Konflikt zwischen Mutter und Tochter, sondern aktualisiert auch die deutschjüdische Vergangenheit immer wieder. Die zionistisch geprägte, sportliche Mutter, so erfahren die Leser_innen, kann den Umzug nach Deutschland ebenso wenig ertragen wie die damit verbundene deutsche Sozialisation der Kinder. Den Hang ihrer Tochter zu Büchern und dem Lesen sieht sie als eine unwillkommene Spur des Deutschen an. Ausgerechnet das »Wort« (SOSW: 96), das die Grundlage der Beziehung zwischen Gila und ihrem Vater bildet und die Möglichkeit der Erzählinstanz darstellt, »aus dem Schlamm […] [ihrer] Kindheit zu kriechen« (SOSW: 7), wird in Gilas Vorstellung durch die Mutter an ihr als »deutsch« (SOSW: 96) abgelehnt.

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4.2.3.2 Väterliche Sorge Über die Formen der Sorge, die der Vater für seine Töchter auf bringt, wird in So sind wir allein aus Perspektive seiner Tochter Gila berichtet. Dabei stellt das beschützende Schweigen des Vaters, als Ausdruck seiner Sorge um die Töchter, ein Hauptmotiv der Erzählung dar. Es durchzieht die gesamte Narration und wird an mehreren Stellen mit den Erfahrungen des Vaters während der Shoah in einen semantischen Zusammenhang gebracht. So etwa zu Beginn der Handlung in der Parallelisierung des Kindheitsschlammes mit dem »Erinnerungsgiftstoff«, den es für Gila »auszuschwitzen« (SOSW: 7, Herv. i. O.) gilt. Oder in der folgenden Erläuterung: »Wir waren und sind eine Familie, die schonend über die Vergangenheit schweigt. Nirgends wurde und wird so schonend und beschützend über die Vergangenheit geschwiegen wie bei uns. Ich habe dennoch schon als Kind, bevor ich sprechen und schweigen konnte, gefühlt und daher gewusst, wovor mein Vater uns hat beschützen wollen und wovor er uns zeitlebens wird zu beschützen versuchen – vor sich selbst […], vor dem ausgemergelten Jungen im KZ.« (SOSW: 68)

Die Sorge des Vaters, die sich durch ein beharrliches Schweigen über seine Erfahrungen während der Shoah und seiner Aufenthalte in den Konzentrationslagern von Auschwitz und Buchenwald Ausdruck verschafft, leitet eine Suchbewegung bei den Schwestern ein, die gerade auf die Freilegung dieser Erfahrungen zielt (vgl. SOSW: 68). In einer Textpassage, in welcher die Erzählinstanz über ihren Umgang mit der Stille, die den Vater umgibt, berichtet, wird deutlich, dass das Schweigen nicht nur ein Weglassen von Informationen bedeutet, sondern eine spezifische Beziehung zwischen Vater und Umfeld ermöglicht. Gilas Erzählung spiegelt die besondere Erfahrung wider, die das Mädchen im Zusammensein mit ihrem Vater macht: »Diese hell glänzenden Nachmittage, sonntags zum Beispiel, wenn ich neben ihm sitze, keine Forderung im Kopf, nichts von ihm will, auch nicht den Vater beobachte, wie man einen Feind beobachtet oder jemanden, den man zu verstehen sucht, einfach Kind bin, dem die Zeit lang wird, neben dem abwesenden Vater, der lesenden Gestalt, dort in einer Ecke des Blickwinkels, schaue ich freundlich gelangweilt zu ihm herüber, werde abgelenkt von den hohen sich im Wind wiegenden Bäumen, werde abgelenkt von dem Herbsttag, der blassrosa im gelben Laub ersäuft, werde abgelenkt von einer Fliege, die gegen Scheiben klatscht, an der Gardine hochkriecht, kleiner, schwarzer Punkt auf weißem Stoff.« (SOSW: 19)

Die narrative Gestaltung der Textpassage erinnert an die Proustsche »›Deskription‹« (Genette 2010: 64), deren Besonderheit die Beschreibung der »Wahrnehmungstätigkeit des Betrachters, seiner Impressionen, allmählichen

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Entdeckungen, Distanz- und Perspektivwechsel« darstellt und eben gerade nicht die »Beschreibung eines betrachteten Gegenstands« ist. Die Erzählzeit wird durch eine Reihe von Ellipsen: »keine Forderung im Kopf, nichts von ihm will« (SOSW: 19), und Anaphern: »werde abgelenkt […], werde abgelenkt […], werde abgelenkt« (ebd.), gestaltet. Ihre Dauer wird von einem Wechsel zwischen Iteration und »Singulativ« (Genette 2010: 73) strukturiert. Einerseits gibt die Erzählinstanz vor, von einer Reihe von Nachmittagen zu berichten. Andererseits erinnert sie sich an Spezifika, die nicht jedes Mal in gleicher Weise vorgelegen haben können. Mit Genette kann diese Form der narrativen Gestaltung als ein Verweis auf die aktive Hervorbringung der Erzählenden als Erinnernde verstanden werden. Die »Gedächtnistätigkeit« (ebd.: 100) wird hier durch Deskription, Iteration, Ellipsen und Anachronien stilisiert. Die vorgelegte »›Erinnerung‹« (ebd.: 101), so meint Genette, stehe in gewisser Weise »im Dienst der Metapher« (ebd.). Auf diese Weise werde sie zu einem »Mittel für die Emanzipation der Erzählung von der diegetischen Zeitlichkeit« (ebd.: 100). Das spezifische narrative Verfahren der Deskription verweist zugleich auf die besondere Qualität der Beziehung zwischen Vater und Gila. Die teilweise vorliegende Unbeherrschbarkeit der Zeit kann als ein Hinweis auf den Modus der Verflechtung, der die Beziehung zwischen Vater und Tochter konstituiert, verstanden werden. Gilas Erinnerung schleust sie in einen Strudel der Überlappung von Einzelheiten und wiederkehrenden Erfahrungen. Elliptisches und anaphorisches Sprechen deuten darauf hin, dass sich die einzelnen Erinnerungssequenzen überlagern. Vor diesem Hintergrund wird das schonende, beschützende Schweigen des Vaters als eine wesentliche und produktive Konstante Gilas Erinnerungsraumes kenntlich gemacht und auf diese Weise narrativ ein Bruch mit einer pathologischen Konnotation des Schweigens über die Shoah vollzogen (vgl. dazu auch Kidron 2011). Nach Gilas Erzählung bestand das Schweigen bereits, bevor sie »sprechen und schweigen konnte« (SOSW: 68), und hält bis zur Gegenwart der Erzählung an. Sorge, Schweigen und Stille sind in Gilas Erinnerung bedeutungsvoll miteinander verknüpft und lösen zum einen die Suchbewegungen der Erinnerung aus, während sie diese zum anderen gleichzeitig bedingen.

4.2.3.3 Tradierte Sorge Als Gila ein Bericht des Vaters über seinen Aufenthalt in den Konzentrationslagern »Blechhammer in Schlesien« (Lustiger 2005: 24) und »Groß-Rosen« (ebd.: 25) in die Hände fällt, durchlebt sie eine Art Schockzustand, den die Erzählstimme in einem fantastischen Modus realisiert:

4. Abhängigkeit vom Anderen »Dann stieß ich auf den Namen meines Vaters. Arno Lustiger sprang mir aufgeregt und staunend ins Auge, löste sich von den restlichen Namen ab, flog auf mich zu, schnippte herrisch mit den Fingern. Arno Lustiger, das war ein Appell, und alles andere verstummte und schmolz dahin, und ich stand da wie ein armseliger Köter, dem man das Fell über die Ohren gezogen hatte.« (SOSW: 55)

An anderer Stelle habe ich dargelegt, wie sich die Aussagen des Vaters, die er in dem (nicht-fiktionalen) Bericht über die Zeit in den Konzentrationslagern und auf den Todesmärschen darlegt, schmerzhaft in Gilas ›Welt‹ drängen und auf welche Weise die Narration die Unvereinbarkeit zwischen den verschiedenen Realitäten – Buchladen und Bistro einerseits und KZ Blechhammer und GroßRosen andererseits – nachvollzieht (vgl. Dornick 2016). Für den hier verfolgten Zusammenhang ist es vor allem wichtig, festzuhalten, dass die Erzählinstanz von dem Bericht des Vaters zutiefst – und für eine längere Dauer der Erzählzeit – erschüttert wird. Dies wird auf narrativer Ebene durch einen fantastischen Erzählmodus ebenso wie durch ein gehäuftes Auftreten von Katachresen veranschaulicht. Daneben schildert die Erzählstimme Gilas Zustand reflexiv: »Nicht die Worte, sondern die Realität war flach und dünn und durchsichtig wie billiges Papier, und durch sie schimmerte der Lebensbericht meines Vaters. Ich hatte das Gefühl, in einer Inszenierung zu sitzen, und obwohl sich alle Mühe gaben, glaubwürdig zu sein, sah man doch Maske, Kostüm, Schminke, die trödelhafte Kulisse.« (SOSW: 58)

Erst durch ihre Sorge um ihren Sohn gewinnt sie ihre Fassung wieder zurück: »Ich blickte auf meinen Sohn und spürte, er hatte etwas Außerordentliches vollbracht. Nicht sein Sieg war das Besondere, sondern seine Freude darüber.« (SOSW: 61)

Der einfühlende Blick auf den Sohn ermöglicht es Gila, seine Freude, neben ihrer eigenen Erschütterung über die vom Vater erlebten Gräueltaten der Nationalsozialisten, mit in die Erzählung zu integrieren. Gleichzeitig ruft er Erinnerungen an die einfühlende Sorge des Vaters um seine Töchter hervor: »Plötzlich fielen mir viele Episoden meiner Kindheit ein. Zum Beispiel, wie ich einmal herrisch und mit lautem Gegacker darauf gepocht hatte, an einem windigen Sonntag gerade das geblümte Kattunkleid zum Ausflug anzuziehen, das weder Schutz vor Kälte noch sonst was außer blaue Blumen hätte bieten können, und wie mein Vater, statt zu schimpfen oder mit tiefer Männerstimme es mir zu erklären, nachgegeben hatte. Und wie mein Vater mir im Spielzeugladen doch die Puppe gekauft hatte, die ich haben wollte, nicht etwa weil sie die schönste, sondern weil sie die teuerste war. Und wie ich nachts bei ihm sitzen durfte, während er Zeitung las. Und er mir, statt mich ins Bett zu

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Poetologie des postsouveränen Subjekts schicken, heiße Schokolade mit Wasser machte, weil es mich vor der sich um den Löffel schlängelnden Milchhaut ekelte …« (SOSW: 61)

Die Reihe der Erinnerungen an die Sorgetätigkeit des Vaters ließe sich durch Gila weiterführen, wie die Anapher »und« sowie die Auslassungspunkte anzeigen. Die aufgerufenen Erinnerungen zeichnet aus, dass ihre Darstellung von einer spezifischen Qualität der Sorge des Vaters zeugt – einer einfühlenden Irrationalität. Denn weder ist es aus elterlicher Sicht rational, dem Kind das Tragen eines viel zu dünnen Kleides zu erlauben, noch, die teuerste Puppe nur deshalb zu kaufen, weil es der Tochter so viel bedeutet, die teuerste Puppe zu erhalten. Ebenso wenig erscheint es auf den ersten Blick besonders vernünftig, Kinder nachts, wenn sie eigentlich schlafen sollten, neben sich sitzen zu lassen und ihnen (überdies) heiße Schokolade zu kochen. Dennoch zeugt das beschriebene Verhalten des Vaters davon, dass er für die Gefühle seiner Kinder – mindestens Gilas – empfänglich ist, sie wahrnimmt und als berechtigt anerkennt. Hätten andere Väter die Abneigung gegen die »sich um den Löffel schlängelnde[…] Milchhaut« (SOSW: 61) mit einem Verweis auf übertriebene Mäkelei womöglich abgetan, so kocht Gilas Vater die heiße Schokolade aus Rücksicht auf die Befindlichkeit seiner Tochter mit Wasser. Gila übernimmt diese einfühlende Haltung gegenüber ihrem Sohn. Während sie den Erinnerungsbericht ihres Vaters liest, geht sie mit dem Kind auf seinen Wunsch in ein Bistro und bestellt ihm »drei Kugeln synthetischgrünes Pistazieneis« (SOSW: 57). Anschließend kommt sie ihrem Sohn erneut entgegen und lässt sich auf ein Flipperspiel mit ihm ein, obwohl sie gerade vollkommen überwältigt von der Lektüre des väterlichen Berichts ist. Dies führt schließlich dazu, dass sie sich aus ihrem Schockzustand herauslösen kann. In der Reflexion auf ihr elterliches Handeln findet sie einen Schlüssel zum Verhalten des Vaters: »Wir hatten ihn nur mit unseren Kinderforderungen und unseren Kinderklagen und unseren Kinderfreuden gerettet. Und jede Freude und jede Forderung und jede Klage, die wir weinerlich oder atemlos lachend, uns hurtig verlispelnd oder stockend hervorgebracht hatten, riss die Vergangenheit auf, die schwarz und filzig über seinem Wesen lag.« (SOSW: 61)

Die einfühlende Sorge um seine Töchter, welche die Bedürfnisse des Anderen als legitim anerkennt, rettet den Vater davor, an seinen (traumatischen) Erinnerungen zugrunde zu gehen. Ebenso ermöglicht sie es Gila, als Spur der väterlichen Sorge wie auch als tradierte Sorgepraxis gegenüber ihrem eigenen Kind, Abstand zu den Gräueltaten zu gewinnen, denen ihr Vater während der Shoah ausgesetzt war.

4. Abhängigkeit vom Anderen

4.2.3.4 Töchterliche Sorge In So sind wir wird jedoch nicht nur von der Sorge des Vaters um seine Töchter erzählt, sondern auch die Sorge seiner Tochter Gila um ihn dargestellt. Während zwischen Gila und ihrer Mutter ein unüberwindbarer Graben aufgrund der Shoah, der israelischen Zugehörigkeit der Mutter und Gilas deutschen Identitätsanteilen zu bestehen scheint, lässt die gemeinsame Verbundenheit zum Geschriebenen eine harmonischere Beziehung zum Vater zu: »Hasse ich deshalb Zeitungen? […] Warum ich sie nicht hasse? Nun, weil sie so eng mit meinem Vater verbunden sind. Deshalb freue ich mich jedes Mal, wenn ich in die Zeitung komme, als Anekdote oder Geschichte, die von meinem Vater gelesen, ausgerissen und verloren wird.« (SOSW: 23)

Als ein bestimmendes Motiv für die intensive Sorge des Mädchens um ihren Vater wird die Realisierung seiner »Abwesenheit« (SOSW: 17) deutlich, die sich insbesondere in seiner nahezu unbegrenzten Leidenschaft für Zeitungen äußert. Diese scheint für die Erzählinstanz zu Beginn der Erzählung rätselhaft, mythisch aufgeladen und auch märchenhaft besetzt: »Hier sollte etwas bewiesen werden, von meinem Vater, der nach bester abendländischer Manier mehrere Tageszeitungen las, vordergründig um sich zu informieren […], aber in Wirklichkeit, weil er mitten in einem Märchen steckte, das magisch ausgeschmückt war: Mit Papierfetzen, die verschwanden, mit Tischen voller Hinterhalte und Gefahren, mit Interieurs wie die unendlichen Räume des Universums […], und gerade deshalb gewann dieses Unterfangen an Bedeutung, wuchs zu quasi mythischen Proportionen.« (SOSW: 10)

Die Sorge des Mädchens um seinen Vater drückt sich in seiner Obsession für diesen aus. Gila verfolgt ihn, da tagsüber von ihm ferngehalten, in der Nacht. Sie schleicht sich an den Vater heran und belauscht diesen, während er Zeitung liest: »Am liebsten las mein Vater bei Dunkelheit, im Wohnzimmer auf unserem gelben Sofa liegend. Oft bin ich mitten in der Nacht aufgewacht, um nachzusehen, ob das Licht seiner Leselampe noch brannte […], [dann] lauschte ich, ob ich sein tiefes, heiseres Räuspern hörte. Mein Vater räusperte sich regelmäßig, wenn er las.« (SOSW: 11f.)

Die Sorge um den Vater wird von Gila bereits als Kind mit einem beruhigenden »Gefühl der Geborgenheit« (SOSW: 12) verbunden. Gleichzeitig wird sie von ihrem Nicht-Wissen über die Erlebnisse ihres Vaters zu einem WissenWollen über sie angetrieben. Obwohl Gila klar ist, dass sie die Erfahrungen des

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Vaters nicht einholen kann, wird ihr Leben auch noch als Erwachsene durch diese bestimmt: »Und selbst wenn ich in der Lage gewesen wäre, die Gefühle meines Vaters Schicht für Schicht aufzudecken, sie auszugraben, abzustauben und im hellen Schein des Tageslichtes zu präsentieren, diese Steinzeit mit ihren Steinmenschen und Steinängsten, so blieb doch gewiss, dass ich mir diese Geschichte nicht würde aneignen können. « (SOSW: 161)

Die Feststellung, dass ihr die Kindheit wie eine »chiffrierte Botschaft« (SOSW: 161) erscheint und ihr kaum Fakten über die Erlebnisse des Vaters während der Shoah bekannt sind, sowie der gesamte Schreibprozess, der Gegenstand der Erzählung von So sind wir ist, ermöglicht es Gila schließlich, ihre Position im Familiensorgegeflecht zu entschlüsseln: »Erst jetzt, weil ich das Buch schreibe, diese Fußnoten zur Familie, habe ich erfasst, was in seinem [des Vaters] Leben ganz einfach abhanden gekommen ist. Vierzig Jahre […] habe ich gebraucht, um zu sehen, was er ausgelassen hat. Vierzig Jahre, bis die Wahrheit zu dämmern begann und ich begriff, ja, das ist es, es ist sonnenklar, der Abfall fehlt.« (SOSW: 163)

In dieser bedeutsamen Textstelle offenbart sich die spezifische Form der Sorge, die Gila ihrem Vater zukommen lässt. Seit vierzig Jahren widmet sie sich der Chronik seiner Gefühle: »Abfall ist bei meinem Vater immer nur eins gewesen, nämlich das, was er mit einer ungeheuren Willenskraft und quasi unermüdlich aus seinem Lebensbericht geworfen hat: Fühlen.« (SOSW: 163)

Gila nimmt sich der Gefühle an, die der Vater nicht anerkennen kann, und wird auf diese Weise »›zur Gefühlschronistin‹« (SOSW: 163) der gesamten Familie. Die Einsicht in diesen Zusammenhang und die Anerkennung dessen, dass sie die Funktion innerhalb des Familien-/Sorgegeflechts ausgefüllt hat, sich um die Gefühle zu kümmern, die der Vater stets, ihrer Ansicht nach, als »Abfall« (SOSW: 163.) wahrnahm, eröffnet ihr schließlich eine neue Perspektive auf ihre Kindheit und auf sich selbst (vgl. Dornick 2012; 2016). Auf Ebene der Erzählung trägt die differenzierte Darstellung des Sorgeverhältnisses zwischen Tochter und Vater zu einer Entpathologisierung des väterlichen Verhaltens Arno Lustigers bei, indem es die besondere Qualität der Beziehung zwischen Vater und Tochter, entgegen des hegemonialen Diskurses, als einen produktiven Effekt des väterlichen Schweigens realisiert.

4. Abhängigkeit vom Anderen

4.2.3.5 Zusammenfassung Sorge wird in So sind wir narrativ als interdependentes Geflecht erzeugt und mit irrationalem Verhalten und Empfänglichkeit für die Bedürfnisse des Anderen jenseits der Norm semantisiert. Die Erzählstimme macht deutlich, in welchen Weisen der Vater seine Töchter – insbesondere Gila – in ihrer Kindheit umsorgt hat und auf den ersten Blick jenseits ›rationalen‹ Erziehungsverhaltens auf sie einging. Die Irrationalität des Vaters, von der in So sind wir erzählt wird, wird durch Einfühlung und eine hohe Empfänglichkeit für die Bedürfnisse seiner Tochter resignifiziert. Gila übernimmt diese spezifische Form des Sorgens. Das zeigt sich sowohl in ihrer Reaktion auf ihren Sohn als auch in Bezug auf ihre Sorge um den Vater.

4.2.4 Freundschaftliche Sorge In dem Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück wird ein Sorgegeflecht beschrieben, das sich aus verschiedenen Formen des Sorgens zusammensetzt. Es besteht aus Sorgebeziehungen, in denen unbezahlte wie auch bezahlte Reproduktionsarbeit geleistet wird. So kommen etwa die Sorgebeziehungen zwischen Großeltern, Eltern und Kindern einerseits in den Blick. Andererseits wird die Beziehung beschrieben, die Herr Grinberg mit seiner Haushälterin hat, welche für ihn grundlegende reproduktive Tätigkeiten gegen Bezahlung erledigt. Jenseits dieser Beziehungen wird das Sorgegeflecht durch freundschaftliche Verbindungen ergänzt. Die heterodiegetische Erzählinstanz nimmt vor allem die Freundschaften, die innerhalb des Sorgegeflechts bestehen und sich entwickeln, in den Blick. Die Konstruktion des narrativen Akts der Erzählung lässt sich durch ständige Aktualisierungen von Dezentrierungsprozessen und die Anregung von Perspektivwechseln charakterisieren. Insbesondere dem zu jedem der elf Kapitel gehörenden einleitenden Absatz kommt diese Funktion zu. Der in der Farbe der Überschrift gehaltene Text – grün in der Erwachsenenausgabe, rot in der Kinderbuchausgabe – ist vom Kapitel abgesetzt und beinhaltet eine Vorausschau auf das Kommende, wobei zwischen Erwachsenen- und Kinderbuchausgabe Unterschiede bezüglich des Erzählten vorliegen (vgl. Kapitel 3.4). Das erste Kapitel wird in beiden Ausgaben folgendermaßen angerissen, wobei in der Kinderbuchausgabe der letzte Satz »Eine Geschichte aus dem Mittelalter« (HGa: 11) ausgelassen wird: »Ob es nützt, zu wissen, dass Brokkoli aus Kleinasien stammt? Über die gewaltige Leistung, Kinder nicht zu sehen, wenn man in der Stadt wohnt. Zum Glück können Hunde nicht sprechen. Eine Wohnung voller Häkeldecken und Andenken. Wozu braucht man einen Namen? Eine Geschichte aus dem Mittelalter.« (HGa: 11)

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Die Narration ist mit einer Reihe von Fragen, Rätseln und Anekdoten versehen, mit denen unterschiedliche Perspektiven auf die erzählte Geschichte geworfen werden. Die Leser_innen werden dadurch angeregt, zunächst auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen über vorhandene Fragen oder angeschnittene Probleme nachzudenken, bevor sie auf die in der Erzählung verhandelten Lösungen treffen. Im Weiteren gehe ich in Bezugnahme auf Aristoteles’ grundlegende Reflexion über die Freundschaft auf die spezifische Darstellung der freundschaftlichen Sorgebeziehungen in dem Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück ein.

4.2.4.1 Fehlerhaftigkeit des Menschen als Grundlage für Freundschaft Auf der Suche nach dem »Wesen des obersten Gutes« (Nikomachische Ethik I 1: 1094a 21 – b 13) für den Menschen streift Aristoteles (4. Jh. v. Chr.) im achten Buch der Nikomachischen Ethik das Thema Freundschaft. Als eine besondere Form, sich zu den Mitmenschen zu verhalten, bildet die Fähigkeit zur Freundschaft in seinen Augen einen Vorzug des Charakters und fällt damit unter die »Trefflichkeit menschlichen Wesens« (Nikomachische Ethik VIII 1: 1155a 3-24). Aristoteles (ebd.) schätzt die Freundschaft, weil er sie als eine Voraussetzung für den Zusammenhalt in den »Polisgemeinden« denkt, die »in Hinsicht auf das Leben (in der Gemeinschaft) höchst notwendig« ist. Dabei macht er deutlich, dass eine Fülle gesellschaftlicher Konventionen auf Freundschaft auf baut. In diesem Zusammenhang führt Aristoteles (ebd.) eine Reihe von Beispielen an, anhand derer er die Bedeutsamkeit der Freundschaft für eine funktionierende Gesellschaft herausstellt: »Denn ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße: gerade auch den reichen Leuten und denen, die Amt und Herrschaft haben, tun Freunde bekanntlich ganz besonders not. […] Oder wie ließe der Wohlstand sich behüten und bewahren ohne Freunde? Je größer er ist, desto gefährdeter ist er. Und in Armut und sonstigem Mißgeschick gelten Freunde als einzige Zuflucht. […] Man kann auch in (den Unbilden) der Fremde erleben, wie nahe ein jeder Mensch dem anderen steht und wie befreundet er ihm ist.«

Offensichtlich weil Aristoteles die Freundschaft vorrangig als eine Art individuelle Eigenschaft denkt, hält er es für weiterführender, ihre unterschiedlichen Erscheinungsweisen phänomenologisch zu kategorisieren, als sich der Frage zuzuwenden, wie es um die gesellschaftlichen Bedingungen von Freundschaft überhaupt bestellt ist. So vergibt er mit seinem, aus der Analyse der Motive für Freundschaft gewonnenen, moralisierenden Imperativ, »vollkommene Freundschaft […] [sei] die der trefflichen Charaktere und an Treff-

4. Abhängigkeit vom Anderen

lichkeit einander Gleichen« (Nikomachische Ethik VIII 4: 1156a 20 – b 8), die Möglichkeiten, die in einer Ethik liegen, die sich weniger auf die Stabilisierung des Gleichen als vielmehr auf die Anerkennung des Ungleichen ausrichtet.3 In Lustigers Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück geht es hingegen um die Frage danach, wie wir vollkommene Freunde sein können, auch wenn wir nicht zu den Charakteren gehören, die Aristoteles mit dem Attribut ›trefflich‹ bezeichnet. Denn zwischen den Figuren des Romans entspinnt sich eine Freundschaft weniger aufgrund ihrer ›Trefflichkeit‹ als vielmehr infolge der Fehler und Schwächen, durch welche sie sich auszeichnen. An keiner Figur lässt sich das besser beobachten als an Herrn Grinberg, der auch noch als älterer Herr nach der ›richtigen‹ Lebensweise sucht. Die Einstellung, dass seine ›Trefflichkeit‹ nicht darin besteht, als Individuum bereits ›fertig‹ zu sein, hilft ihm dabei, sich ungewohnten Situationen anzupassen und diese für sich positiv zu wenden. So etwa, wenn er seinen Blick auf die Kinder auch noch in fortgeschrittenem Alter vollständig verändert und diese kurzerhand als seine Haushaltshilfen beschäftigt. Die Freundschaftsbeziehung, die sich zwischen ihm und den Kindern entwickelt, ist nicht eindimensional auf ihn als helfende Figur ausgerichtet, sondern verflicht die Figuren als helfende und hilfebedürftige miteinander. Denn auch den Kindern haften je verschiedene ›Fehler‹ oder Probleme an. Wie etwa Paul, der im Laufe der Geschichte seine Großmutter verliert und nur mit Mühe den Trauerprozess bewältigt. Oder Tina, genannt »die dicke Tina« (HGa: 111), die sich mit ihrem Alltag plagt, in welchem sie sich minderwertig und angreif bar fühlt. Simon leidet unter der Trennung seiner Eltern. Und Lucas Vorliebe dafür, Steine mit sich herumzutragen, wird von seinen Eltern als besorgniserregend wahrgenommen.

4.2.4.2 Sorge jenseits familiärer Bindung In dem Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück entspinnt sich ein Freundschaftsgeflecht, in welchem Sorgepraktiken jenseits eines familiären Zusammenhangs zur Anwendung kommen. Die Sorge-/Freundschaftsverflechtung zwischen den Figuren wird durch den Tod der Großmutter Pauls in Gang gesetzt. Herr Grinberg wird auf den Jungen aufmerksam, als er diesen am Abend allein, »durchfroren, schmutzig und vollkommen erschöpft« (HGa: 53) auf einer Parkbank vorfindet, wohin Paul im Moment größter Trauer gegangen ist. Erst von diesem Zeitpunkt an beginnt er sich für Paul und seine

3 | Aristoteles (Nikomachische Ethik VIII 4: 1156a 20 – b 8) kennt neben der Freundschaft zwischen »an Trefflichkeit einander Gleichen« zwei weitere Arten der Freundschaft, bei denen es sich um Freundschaften unter Ungleichen handelt. Diesen zwei Typen von Freundschaft haftet jedoch der Makel an, dass sie laut Aristoteles unter »Minderwertige[n]« (Nikomachische Ethik VIII 5: 1156b 28 – 1157a 17) geschlossen werden.

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Freund_innen zu interessieren. Zuvor wird Herr Grinberg als eigenbrötlerisch und Kindern wenig zugeneigt beschrieben: »Herr Grinberg war nicht unbedingt ein Kinderfreund. Ein Kinderfeind war er auch nicht gerade. Sagen wir, sie waren ihm gleichgültig. So gleichgültig wie das Wissen, dass die Röhre zwischen Hals und Ohr, die verstopft ist, wenn man Ohrenschmerzen hat, eustachische Röhre heißt. Oder das Wissen, dass Brokkoli aus Kleinasien stammt, wenn man Brokkoli essen muss.« (HGa: 11)

Die Gesten des Mitgefühls mit Paul, einmal durch Herrn Grinberg und ein anderes Mal durch das Mädchen Mathilda, bilden den Auftakt einer Reihe von Handlungen, welche zur Bildung eines Freundschaftsgeflechtes zwischen Herrn Grinberg und den Kindern führen. In der Erzählung dieser voranschreitenden Intensivierung der Beziehungen zwischen allen Beteiligten werden anschließend verschiedene Aspekte als Bedingungen der Möglichkeit von »vollkommener Freundschaft« (Nikomachische Ethik VIII 4: 1156a 20 – b 8) deutlich, wie sie in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück verstanden wird. Im Zentrum dieser steht dabei die Fähigkeit, Mitgefühl für den Anderen aufzubringen, welche unmittelbar mit der Möglichkeit verbunden wird, empfänglich für die Nöte des Anderen zu sein und den Anderen als verletzliches Individuum wahrzunehmen, seine Perspektive zu übernehmen sowie mittels dieser Übernahme die Trauer, den Schmerz oder das Leid des Anderen überhaupt zu bemerken (vgl. Clark 2007; Sontag 2003). Die Erzählinstanz berichtet davon, auf welche Weisen sich die verschiedenen Figuren umeinander zu sorgen beginnen und einander weiterhelfen. Das Mädchen Mathilda stellt den Mittelpunkt des Freundschaftsgeflechts dar, das sich aus Herrn Grinberg und den Kindern zusammensetzt und später auch die Haushälterin beinhaltet. Mathilda sorgt sich einerseits um Paul, als er seine Großmutter verliert, andererseits unterstützt sie Herrn Grinberg, als dieser sich, aufgrund eines Unfalls der Haushälterin, plötzlich allein versorgen muss. Eine andere Erzählung beschreibt die Sorge, welche Simon Tina zukommen lässt, die von ihren Klassenkameradinnen aufgrund ihres Gewichts geärgert wird. Simon beobachtet, wie zwei Mädchen Tinas Schulrucksack ausräumen und auf für sie Brauchbares durchstöbern. Zunächst abgelenkt durch seinen eigenen Kummer über die Trennung seiner Eltern, ergreift er die Initiative und hilft Tina, die demütigende Situation, der sie nicht zum ersten Mal ausgesetzt ist, abzuwenden. Er setzt durch, dass Tina ihre Sachen wieder zurückerhält, und begleitet sie anschließend auf dem Weg nach Hause. Seine Unterstützung bestärkt Tina darin, von ihrem eigenen Kummer zu erzählen, und gibt damit einen entscheidenden Impuls zur Veränderung ihrer mentalen Haltung, wie das folgende Gleichnis der Erzählstimme klarstellt:

4. Abhängigkeit vom Anderen »Oft ist es so: Man kann stundenlang herumrennen, ohne etwas zu spüren, weder Müdigkeit noch dass einem die Muskeln schmerzen. Jedoch kaum hat man sich hingesetzt und die Schuhe abgestreift, wird man schwer und träge. Man hat das Gefühl, nie wieder aus dem flauschigen Sessel hinauszukommen. Schon allein die Idee, die Schuhe wieder anziehen zu müssen, ist unerträglich. Genau so erging es Tina. Sie hatte alles ertragen, mit zusammengekniffenen Lippen. Aber kaum bot ihr einer an, sich von den Schmerzen und Schikanen auszuruhen, kaum kam einer und blickte sie freundlich und mitfühlend an und reichte ihr ein Taschentuch, da fing sie auch schon an zu …« (HGa: 114)

Im anschließenden Austausch zwischen beiden gibt Simon an Tina seine durch die Lektüre des »Buch[s] der Fragen« (HGa: 54) gewonnene Einsicht weiter, dass sie nicht allein mit ihrem Kummer ist, dass vielmehr »[j]eder Mensch […] einen blauen Fleck auf der Seele« (HGa: 116) habe. Bei dem »Buch der Fragen« handelt sich um ein ›magisches‹ Buch, das zwischen Kindern mit Kummer zirkuliert. Nachdem das Kind, welches das Buch erhalten hat, die Einträge der Anderen gelesen und eine Frage zu dem es beschäftigenden Problem entwickelt hat, verblassen einige Seiten des Buches und machen Platz für einen neuen Eintrag. Das Kind trägt dann sein Problem ein und gibt das Buch innerhalb von 30 Tagen weiter. Das »Buch der Fragen« stellt über seine Zirkulation eine virtuelle Verbindung zwischen den Kindern her und ermöglicht es ihnen dadurch, ihre Situation zu bewältigen. Auf der Ebene der Erzählung wird mit dem Motiv des »Buch[s] der Fragen« die Abhängigkeit der Menschen voneinander – vor allem auch auf einer psychischen Ebene – in Form von Unterstützung, Zusammenhalt und Zeugenschaft, betont. Das Buch als manifest gewordene Relation und Medium der Erinnerung steht dabei für die tröstliche Erfahrung, gehört und verstanden worden zu sein. Simons in der Erzählung gegebene Hinweis an Tina, dass sie bis zu ihrer Frage kommen müsse (HGa: 120), macht deutlich, dass der Akt der Niederlegung zugleich ein Akt der relationalen Reinszenierung darstellt. Das »Buch der Fragen« stellt eine virtuelle Form der Sorgeverflechtung dar, die über die konkrete Anwesenheit des Anderen hinausreicht. Die Einordnung der eigenen situativen Position in eine als Gemeinschaft vorgestellte und in der materiellen Verbundenheit innerhalb des Buches abgebildete Reihe anderer Schicksale ermöglicht es den Kindern, ihre Situation innerhalb dieser Gruppe als geteilte zu verstehen.

4.2.4.3 Zusammenfassung Die Erzählinstanz des Romans Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück legt ihr Hauptaugenmerk auf die Schilderung der freundschaftlichen Anteile des Sorgegeflechts. Sie gibt auf diese Weise einen Einblick in deren spezifische Qualität und verdeutlicht, dass freundschaftliche und familiäre Sorgebeziehungen sich ergänzen und gegenseitig unterstützen können. Freundschaft-

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liches Handeln, verbunden mit einer einfühlenden und empfänglichen Sorge füreinander, wird in dem Roman als Paradigma friedvollen und gerechten Zusammenlebens erzählt, wobei »vollkommene Freundschaft« (Nikomachische Ethik VIII 4: 1156a 20 – b 8) dort von Figuren praktiziert wird, die nichts weniger als in ihrer »Trefflichkeit« (ebd.) bereits vollendete Wesen sind. Der Roman stellt Menschen als grundlegend verletzlich sowie in vielerlei Weisen aufgrund ihrer Fehler und Schwächen voneinander abhängig dar und macht deutlich, dass eine Gemeinschaft dann von »trefflichen Charaktere[n]« (ebd.) gebildet wird, wenn diese ihre Abhängigkeit voneinander als ein für sie konstitutives und produktives Moment anerkennen und mit Fürsorge auf sie reagieren. Die Untersuchung zeigt, dass Sorge in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück in einem spezifischen Rahmen – dem Freundschaftsgeflecht – situiert wird. Sorge wird in dem Roman als eine Praxis dargestellt, die auch jenseits des familiären Rahmens ausgeübt wird und solchermaßen entscheidend für das Zusammenleben ist. Daneben wird die Fähigkeit von älteren Menschen und Kindern, Sorge gewissenhaft und einfühlend auszuüben, vor Augen geführt. Mit dem Motiv des »Buch[s] der Fragen« (HGa: 54) wird außerdem die Bedeutung virtueller Sorgeverflechtungen in den Blick gerückt.

4.2.5 Irrationale, interdependente und empfängliche Sorge Im Roman Woran denkst du jetzt stellt die Sorge im Krankheits- und Todesfall den Ausgangspunkt des Geschehens dar. Sie ist zugleich Triebfeder der Figuren und Mittelpunkt eines konzentrischen Kreisens aller Handlungen. Irrationalität, Interdependenz und Empfänglichkeit werden in dem Roman als drei bedeutsame Merkmale menschlicher Sorge dargestellt. Erzählt wird aus der Perspektive zweier Schwestern – Lisa und Tanja –, die anlässlich des bevorstehenden Todes ihres Onkels Paul in das Haus ihrer Mutter zurückgekehrt sind. Die narrative Darstellung besteht ausschließlich aus ihren Gedanken und Reflexionen. Alle Äußerungen, Erinnerungen und Erfahrungen von und mit anderen Figuren werden aus Sicht der Schwestern berichtet. Auf diese Weise entsteht nach und nach das Bild der Sorgeverflechtung zwischen Onkel, den Familienmitgliedern und einer Krankenpflegerin.

4.2.5.1 Menschliche Sorge: Irrationalität Die Krankenschwester und Lisa nehmen deutlich mehr Distanz zur Sorge um Onkel Paul ein als die Mutter. Das drückt sich etwa darin aus, dass die Mutter ihren Bruder auch noch im Angesicht des nahen Todes dazu antreibt, weiter zu essen, während Lisa und die Krankenpflegerin diese Form der Sorge als »sinnlos« (WDDJ: 73) wahrnehmen. Beide positionieren sich jedoch unterschiedlich zum Verhalten der Mutter, wie anhand der folgenden Textpassage deutlich wird:

4. Abhängigkeit vom Anderen »Es war ein groteskes, unwürdiges Schauspiel gewesen, dem sie beigewohnt hatte. Eine einzige Prozedur der Qual. Je schwächer ihr Onkel geworden war, desto größer war der Eifer ihrer Mutter gewesen, ihn mit dem faden, schleimigen Zeug zu verköstigen. Sie [Lisa] hatte mit der Pflegerin darüber gesprochen. ›Sie macht mich rasend‹, hatte sie gesagt, ›es ist so sinnlos.‹ Und die Pflegerin hatte nur mit den Schultern gezuckt und entgegnet, dass es gar nicht schlimm sei, ab und zu ein paar sinnlose Sachen zu machen. ›Das gehört dazu, das ist doch menschlich.‹« (WDDJ: 73)

Während Lisa die Handlung ihrer Mutter sinnlos findet und als »groteskes, unwürdiges Schauspiel« (WDDJ: 73) wahrnimmt, hebt sich die Deutung der Pflegerin deutlich von Lisas Empfinden ab. Für sie stellt der Versuch der Mutter, den Todkranken weiter am Leben zu erhalten, zwar auch keine rationale Handlung dar. Allerdings misst sie der Situation der Sorge um einen Sterbenden eine spezifische Qualität zu, durch welche sich der Rahmen der Beurteilung von Handlungen verschiebt. Ihrer Ansicht nach ist es ›menschlich‹, »ab und zu ein paar sinnlose Sachen« (WDDJ: 73) in einer solchen Situation zu machen. Durch die Einlassung der Krankenpflegerin wird die Irrationalität, die durch Lisa als unnormal abgelehnt wird, in das Geschehen der Sorge integriert. Darüber hinaus wird sie als spezifisches Merkmal menschlicher Sorge klassifiziert. Sorge wird in dieser Textstelle in einem Zusammenhang mit Menschlichkeit als eine Praxis verhandelt, die neben rationalen Entscheidungen auch Erwägungen einschließt, welche aus irrationalen Impulsen erfolgen. Diese irrationalen Impulse oder Affekte sind zum einen Grundlage und Antrieb menschlicher Sorge und können zum anderen als Ausdruck des »lebensdienlichen Umgang[s] mit der Verwundbarkeit und Kontingenz des Lebens« (Aulenbacher et al. 2015: 68) verstanden werden. Fürsorge ist demnach immer bereits in einen Konflikt mit der Moderne verwickelt, »wird doch das autonome Subjekt als Zentralreferenz ihres Menschenbildes und ihrer Sozialfiguren gerade nicht als (fürsorge)bedürftig, sondern (selbstsorge)fähig konzipiert« (ebd.).

In Woran denkst du jetzt wird dieses Spannungsverhältnis zwischen der Vorstellung eines autonomen Subjekts und dem Sorgen als Tätigkeit, die sich auf der Erfahrung der Interdependenz des Einzelnen gründet, durch die Krankenpflegerin begrifflich dadurch gefasst, dass sie Sinnlosigkeit, im Sinne von Irrationalität, in eine semantische Nähe zur Menschlichkeit verschiebt. Eine Sorge, so ließe sich daraus schließen, die ihre Praxis ausschließlich nach rationalen und ›sinnvollen‹ sowie im professionellen Bereich nach verwertbaren Kriterien ausrichtet, kann den Anspruch, Verwundbarkeit und Kontingenz »lebensdienlich« (ebd.) zu bearbeiten, nicht einlösen (vgl. Winker 2015). Die

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Integration des Irrationalen – soweit es dem Leben dienlich ist – erscheint vor diesem Hintergrund nicht sinnlos, sondern nötig, um Sorge ganzheitlich gestalten zu können (vgl. Aulenbacher/Dammayr 2014).

4.2.5.2 Menschliche Sorge: Interdependenz Sieht es zu Beginn der Handlung danach aus, dass sich alle Sorgepraktiken auf Onkel Paul ausrichten, schält sich im weiteren Verlauf heraus, dass das Sorgegeflecht nicht allein auf diesen konzentriert ist. Das zeigt sich etwa in der Sorge Lisas um ihre Mutter. Diese kümmert sich auch deshalb um ihren Onkel, damit ihre Mutter hin und wieder Zeit findet, sich um sich selbst zu sorgen: »Ich habe ihr gesagt: Draußen geht die Welt weiter, geh ein bisschen in die Stadt, geh zum Frisör. Was sind zwei Stunden? Ich passe auf ihn auf. Lass dir die Haare färben. Blättere in ein paar Illustrierten. Lies so einen Quatsch über was die Models und Fußballspieler gerade anstellen.« (WDDJ: 72)

Das Sorgegeflecht in Woran denkst du jetzt kann nicht richtig erfasst werden, wenn es als ein Zusammenschluss von autonomen Subjekten begriffen wird, die gemeinsam den kranken Onkel pflegen. Vielmehr zeichnet sich ab, dass alle Figuren nicht souverän über ihre Handlungen verfügen, irrationale Impulse und Affekte ausleben und als voneinander abhängig verstanden werden müssen. Die Bedeutung des Anderen für das ›Ich‹ wird nicht nur inhaltlich dargestellt, sondern auch auf Ebene der Narration hervorgebracht. So wird in einer längeren Passage vor Augen geführt, inwiefern Tanja ihren Onkel Paul in der Vergangenheit ebenso brauchte wie er sie. Dazu parallelisiert Tanja eine Erinnerung an das Verhalten des Onkels während einer längeren Erkrankung als Kind sowie die Erinnerung an ihr eigenes Verhalten gegenüber ihrem sterbenden Onkel. Mit der Unterstützung ihres Liebhabers rekapituliert sie, wie ihr Onkel sie als Kind während einer Masernerkrankung durch das Versprechen eines Aufenthalts im Garten getröstet hatte: »Sie hatte vor ihrem inneren Auge wieder Onkel Paul gesehen und sein verschmitztes Lächeln, als er in ihr Zimmer gekommen war, um ihr zu verkünden, dass er sie leider trotz ihres Fiebers mal kurz lüften müsse.« (WDDJ: 242)

Der Liebhaber nimmt Tanjas Gedanken auf und führt ihn weiter: »Du hast dich neben deinen Onkel in den Garten setzen dürfen, du hast unter einem Dach von dunkel verästelten Zweigen gesessen und hinaufgeblickt und zwischen den Zweigen den Himmel gesehen. Die lilafarbenen Fliederdolden haben einen Duft verbreitet und …« (WDDJ: 242)

4. Abhängigkeit vom Anderen

An die Ausführungen des Liebhabers anknüpfend, erinnert sich Tanja: »Sie konnte sich ganz genau an ihre Unersättlichkeit erinnern, wie gierig sie geblickt hatte. Alles, das blendende Mittagslicht, die Schatten, das Rascheln der Bäume, die vorbeiziehenden Wolken, der Fliederduft, Farben, Gerüche, Töne, all das war so intensiv, so geballt, so hochkonzentriert in sie eingedrungen, dass es geschmerzt hatte. ›Ist das schön?‹, hatte ihr Onkel gefragt. Und sie hatte genickt und das erste Mal wirklich bewusst gespürt, dass sie lebte.« (WDDJ: 243)

Tanja und ihr Liebhaber bringen hier gemeinsam eine Erinnerung hervor, welche allegorisch für die spezifische Weise der Sorge, mit der Onkel Paul sich Tanja zugewandt hatte, steht. Es wird deutlich, dass der Onkel Tanja nicht nur als schwer erkranktes Kind wahrnahm, sondern als ein Individuum, das Bedürfnisse hatte, die jenseits seiner Krankheit lagen. Er verstand, dass das Kind unter der durch die Krankheit erzwungenen Isolation litt. Der Liebhaber beschreibt diese Qual: »Du hattest Masern. Tagelang durftest du nicht aus deinem Zimmer. Und Lisa durfte nicht zu dir hinein. Du hast gedacht, du müsstest für immer und ewig in diesem Zimmer bleiben, Kinder haben kein Zeitgefühl.« (WDDJ: 242)

Die Struktur der Hervorbringung der Erinnerung verweist auf eine starke Interdependenz zwischen den Figuren. Zwar geht es vordergründig um die Beziehung zwischen Tanja und Onkel Paul, gleichzeitig benötigt es des Beitrags des Liebhabers, um die Erinnerung zu reinszenieren. Denn die Beziehung zwischen Tanja und Onkel Paul steht zum Zeitpunkt der Erzählung der Krankheitsgeschichte Tanjas existenziell infrage, weil Tanja nicht (mehr) weiß, ob sie ihren Erinnerungen an Onkel Paul trauen kann oder nicht. In dieser Situation ist sie auf ihren Liebhaber angewiesen, der sie dabei unterstützt, ihre Erinnerungen zu sortieren. Sie wendet sich an ihn, um sich gewissermaßen neu zu ihrem Onkel in Beziehung zu setzen. Butler schreibt über diesen Vorgang: »Ich nehme an, man geht zum Psychoanalytiker, damit jemand unsere Worte aufnimmt, und daraus ergibt sich ein Dilemma, denn derjenige, der vielleicht meine Worte aufnimmt, ist mir großenteils unbekannt, was den Empfänger meiner Worte gewissermaßen zur Allegorie der Rezeption selbst macht, zur Allegorie der phantasmatischen Beziehung zur Rezeption, die für einen oder zumindest angesichts eines Anderen artikuliert wird.« (KeG: 93)

Die Beziehung zwischen dem Liebhaber und Tanja mag anders gestaltet sein als die Beziehung zwischen Tanja und einem Therapeuten. Gleichwohl wählt

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Tanja den Liebhaber gezielt aus, und nicht etwa ihren Ehemann oder ein ihr nahestehendes Familienmitglied, um ihre Beziehung zu Onkel Paul zu reinszenieren bzw. zu übertragen. Da Tanja und Liebhaber sich vertrauensvoll und liebevoll begegnen, trägt die Reinszenierung der Beziehung Tanjas zu ihrem Onkel die Spur dieser Sorgeverflechtung. Denn Tanja hat sich dafür entschieden, diese mit ihrem Liebhaber durchzuführen, und ihr Liebhaber hat diese Anrufung seiner Person als Reinszenierungsinstanz verstanden und vor dem Hintergrund seiner Sorgebeziehung zu Tanja wahrgenommen. Auf dieser Grundlage wählt der Liebhaber bestimmte Szenen der Erinnerungserzählung aus und ist an der positiven Wiedererzählung der Beziehung zwischen Tanja und ihrem Onkel aktiv beteiligt. Daraus lässt sich ableiten, dass der Liebhaber in Woran denkst du jetzt nicht als ein beliebiger Spiegel für Tanjas Erinnerungen eingesetzt wird. Die Erzählkonstruktion legt vielmehr nahe, dass ihm eine konstitutive Funktion bei der Hervorbringung der Erinnerung zukommt.

4.2.5.3 Menschliche Sorge: Empfänglichkeit für das »Begehren, im Sein zu verharren« (KeG: 62) Ihre gemeinsam mit dem Liebhaber erzeugte Erinnerung an die Sorge des Onkels bringt Tanja in einer Rückschau mit einem Besuch bei ihm kurz vor seinem Tod zusammen. Die Erzählinstanz berichtet, wie Tanja damals gedacht hatte: »Er hatte Fieber. Wäre sie er, hätte sie ihm in den Rollstuhl geholfen und in den Garten hinausbefördert. Wäre sie er, so hätte sie ihn gelüftet.« (WDDJ: 246; Herv. i. O.)

An dieser Stelle wird das Emblem des ›Lüftens‹ für die spezifische Weise der Zuwendung eines Menschen zu einem anderen erzählerisch verfügbar gemacht. ›Lüften‹ bezieht sich zunächst inhaltlich auf das Verlassen des Krankenbettes und die Durchkreuzung des disziplinären Regimes einer rigiden Krankenpflege, wie Hygienevorschriften und -maßnahmen, Essens-, Besuchsund Schlafenszeiten. ›Lüften‹ steht für das Eintreten in einen utopischen Raum – den Garten –, in dem diese Regeln für einen kurzen Moment außer Kraft gesetzt sind. Auf einer zweiten – metaphorischen – Ebene kann der Vorgang des ›Lüftens‹ auch für die spezifische Qualität der Sorge stehen, die der Onkel dem Mädchen bereits hatte zukommen lassen. Er deutet auf die Empfänglichkeit des Sorgenden gegenüber den Bedürfnissen des Umsorgten hin, die jenseits der Krankenpflege existieren. Einen Hinweis auf die Quelle dieser Bedürfnisse gibt Tanja in ihrer Erinnerung selbst. So fällt ihr im Rückblick auf ihren Besuch im Garten während ihrer Masernerkrankung auf, dass sie »gierig […] geblickt« hatte und damals »das erste Mal wirklich bewusst gespürt [hatte], dass sie lebte« (WDDJ: 243). ›Lüften‹ wird hier mit einer Sorgepraxis in Verbin-

4. Abhängigkeit vom Anderen

dung gebracht, die sich für das Begehren des Anderen, »im Sein zu verharren« (KeG: 62), offenhält. Die mit dem Emblem versehene Sorgepraxis des ›Lüftens‹ verweist auf eine Handlung, welche die Krankenpflege überschreitet und aus ihrer Perspektive irrational und sinnlos erscheint. Hier deutet sich zugleich der irreduzible Charakter der Sorge an, die der konstitutiven Abhängigkeit vom Anderen geschuldet ist. Seine Realisierung hätte Tanja dabei helfen können, ihren sterbenden Onkel nicht nur als Kranken, sondern auch als (noch) lebendigen Menschen wahrnehmen zu können, wie sie später nachdenklich rekapituliert: »Wäre sie er, so hätte sie ihn gelüftet, hätte sie gewusst, dass es eine Zeit gab für Worte und eine Zeit für Schweigen, eine Zeit für Liebesbekenntnisse und eine Zeit für Gesten. Aber sie hatte sich von seinen Schmerzen einschüchtern lassen.« (WDDJ: 246; Herv. i. O.)

Die Erzählung läuft auf die Ergänzung der Sorgeverflechtung von Tanja und Paul durch die Sorgepraxis Lisas zu. Narrativ wird dabei wieder an das Emblem des ›Lüftens‹ angeknüpft. Das Lexem ›Lüften‹ wird hier in seinem polysemen Gehalt dafür verfügbar gemacht, sowohl ein spezielles situatives Geschehen zu bezeichnen als auch eine spezifische figurative Situation. Sein emblematischer Einsatz ermöglicht einerseits die Parallelisierung von unterschiedlichen Situationen und Figurationen – einmal ist Tanja ein krankes Kind und ein anderes Mal ist Paul der sterbende Onkel –, andererseits stellt es durch die mit Allegorisierung und Emblematisierung einhergehenden semantischen Erweiterungen auch die Möglichkeit her, den Bedeutungszusammenhang auf andere Ereignisse zu übertragen. So wird im letzten Kapitel des Romans deutlich gemacht, dass Lisa den Onkel – anstelle von Tanja – in den Garten geführt hatte. Die Erzählung dieses Ereignisses ist mehrfach herausgehoben. Einmal aufgrund seiner zentralen Stellung innerhalb der Narration am Ende der Erzählung. Des Weiteren aufgrund der Einleitung der Passage durch das Zitat des Titels des Romans »›Woran denkst du jetzt?‹« (WDDJ: 284) sowie drittens aufgrund der Erkenntnis Lisas, dass der Prozess des Sterbens, den ihr Onkel durchlebt, zu seinem (und ihrem) Leben dazugehört: »›Willst du nicht irgendetwas aufholen?‹, hatte sie ihren Onkel gefragt. Und sich mit dieser Frage selber überrascht. […] Steh doch auf, hätte sie ihn anschreien können, mach was, stell etwas an, werde endlich wütend, hau diese ganze Bude zusammen und ich helfe dir dabei. Wozu sparst du dich auf? Brich dein Leben doch endlich an. Aber das war ja sein Leben, hatte sie überrascht gedacht, während sie ihrem Onkel dabei zugeschaut hatte, wie er eine Seite umblätterte.« (WDDJ: 285f.)

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Als der Onkel verlangt, in den Garten geführt zu werden, hilft Lisa ihm dabei. Wie er einst gegenüber Tanja, zeigt sich Lisa nun für seine Abhängigkeit von ihr, über die Behandlung seiner Krankheit hinaus, empfänglich. Ihre ›empfängliche‹ Sorge gewährt dem Onkel einen Moment Lebendigkeit zu einem Zeitpunkt, an dem alle medizinischen Bemühungen sein Leben zu retten, gescheitert sind: »Er hatte sich auf ihren Arm gestützt, und sie waren hinausgegangen, auf die Hortensien zu, die halb im Schatten standen und halb im Licht. Und auch diese kleinen Flunkereien, hatte sie gedacht, und ihren Schritt seinem Gang angepasst, waren Leben.« (WDDJ: 286)

4.2.5.4 Zusammenfassung In dem Roman Woran denkst du jetzt wird eine familiäre Sorgeverflechtung zum Zeitpunkt der Krankheit und des darauf folgenden Todes eines der Mitglieder der Familie in den Blick genommen. Dabei wird von verschiedenen Sorgebeziehungen erzählt. Über die Darstellung der Sorgeverflechtung hinaus, die sich um den todkranken Onkel gebildet hat, wird teilweise in Analepsen von Sorgebeziehungen zwischen Figuren des Sorgegeflechts und auch außenstehenden Figuren berichtet. Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Sorge in dem Roman eine bedeutsame Rolle für die Existenz der Figuren zugeschrieben wird. Die Erzählung wird durch die Sorge motiviert, in welcher sich die Figuren aufeinander beziehen. Und Sorge wird in Woran denkst du jetzt als eine bedeutsame Weise der Verbindung von Menschen miteinander dargestellt. Daneben wird die Position der Figur, die bezahlte Reproduktionsarbeit leistet, als qualifiziert aufgewertet. Der Figur – die Krankenpflegerin – wird ein erweitertes Wissen über die Praxis des Sorgens zugestanden. Die Untersuchung zeigt außerdem, dass sich verschiedene Weisen der Resignifikation von Sorge identifizieren lassen, die darauf hinweisen, dass Sorge in Woran denkst du jetzt als ein Modus eingesetzt wird, der Abhängigkeit des Subjekts von anderen zu begegnen und dadurch ein menschliches Handeln im Sinne von Butler zu initiieren. Erstens wird sichtbar, dass diese Deutung von Sorge in die Fokalisierungen der Figuren eingelassen ist. Das wird in der dargestellten Episode deutlich, in der die Krankenpflegerin menschliches (Sorge-) Handeln mit Sinnlosigkeit im Sinne von Irrationalität resignifiziert. Des Weiteren wird Sorgen in Woran denkst du jetzt als eine Form der Verflechtung mit voneinander abhängigen Menschen dargestellt und dabei mit der Vorstellung gebrochen, nur der Umsorgte sei abhängig, während die Sorgenden als autonom verstanden werden könnten. Auf narrativer Ebene wird Interdependenz dargestellt, indem die konstitutive Verflechtung von Äußerungsakten hypotypotisch vor Augen geführt wird. Dieses Verfahren zeigt sich etwa in der Episode, in welcher Tanja ihre Erin-

4. Abhängigkeit vom Anderen

nerung an das Sorgehandeln ihres Onkels gemeinsam mit ihrem Liebhaber hervorbringt, oder wenn in dem Roman die Bedeutung von Sorgen anhand des Emblems ›Lüften‹ um die qualitative Dimension des Empfänglichen erweitert wird, wobei dessen metaphorischer Einsatz den Sinn des Lexems verdoppelt.

4.3 Z wischenfa zit Das Moment der konstitutiven Abhängigkeit wird in Lustigers Romanen sowohl auf narrativer als auch auf inhaltlicher Ebene in der Darstellung von Sorgeverflechtungen und -praktiken aufgegriffen. Es lässt sich feststellen, dass die Ausgesetztheit der eigenen Existenz an die Fürsorge anderer Menschen in den untersuchten Romanen in unterschiedlichen Situationen thematisiert wird. Indem verschiedene Perspektiven auf die Verflechtungen menschlichen Lebens miteinander geworfen werden, tragen die Romane dazu bei, die »Verletzlichkeit gegenüber dem Anderen als Preis, der für das Dasein zu zahlen ist« (PdM: 25), erzählerisch zu realisieren. Die Analysen machen eine Entwicklung der Darstellung von Sorge über die einzelnen Romane hinweg deutlich. Während Sorge in Lustigers frühen Romanen Aus einer schönen Welt und Die Bestandsaufnahme unter Aspekten des Scheiterns und der Zerstörung von Sorgegeflechten dargestellt wird, kommen in den späteren Romanen So sind wir, Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück und Woran denkst du jetzt unterschiedliche Ausprägungen von Sorge, wie die Sorge unter extremen Bedingungen und unter Traumatisierung, im Krankheitsfall oder jenseits der Familie in Freundschaftsgeflechten, in den Blick. Mütterliche und familiäre Sorge wird in den Romanen Lustigers entnaturalisiert. So wird Mutterschaft im Roman Aus einer schönen Welt als verkennende Sorgepraxis dargestellt. Und in Die Bestandsaufnahme wird davon erzählt, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Sorgebeziehungen gefährdet werden, gefährlich sind oder scheitern können. Der Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück hebt die Privilegierung der familiären Sorgebeziehung zu einem Teil auf und setzt ihr die freundschaftliche Sorge als äquivalent entgegen. In dem Roman Woran denkst du jetzt stellt Irrationalität ein wesentliches Merkmal einer empfänglichen Sorge für den todkranken Onkel dar, welche »die souveräne und abwehrende Position« aufhebt und »Alterität in einem offenen Sinn« (MdE: 102) berücksichtigt. In den Romanen wird damit das Bild einer Sorge entworfen, die nicht ›natürlicherweise‹ besteht, sondern abhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Ermöglichung ist. Hinsichtlich der Frage nach den Merkmalen einer Poetologie des postsouveränen Subjekts in den Romanen Lustigers lässt sich festhalten, dass verschiedene narrative Verfahren identifiziert werden können, die dazu beitragen,

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Sorge als einen Modus der Abhängigkeit der Menschen voneinander vor Augen zu führen. Der Einsatz spezifischer Erzählmodelle der Verflechtung, wie sie sich insbesondere in den Romanen Die Bestandsaufnahme, So sind wir, Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück sowie Woran denkst du jetzt zeigen, trägt dazu bei, die Interdependenz menschlichen Handelns und die Verbundenheit menschlicher Existenz zu veranschaulichen. Es kommen Verfahren der katachrestischen Realisierung und der metonymischen Verschiebung zum Einsatz, um spezifische Ausprägungen von Sorge bzw. Nicht-Sorge aufzudecken und anschließend zu resignifizieren. Wie sich zeigt, werden in Die Bestandsaufnahme etwa antisemitische Gleichnisse und Metaphern in einem veränderten Kontext aufgenommen. Dies führt dazu, dass ihre entmenschlichende Bedeutung aufgebrochen wird. In Aus einer schönen Welt wird die Natürlichkeit von Sorgeverhältnissen – vor allem mütterlicher Sorge – infrage gestellt, um daran anschließend die soziale Konstruktion der Sorge füreinander in den Blick zu nehmen. Außerdem werden metonymische Verfahren verwendet, um Sorge als Modus der Abhängigkeit voneinander weiter auszuleuchten und als eine Praxis menschlichen Handelns zu entwerfen, die über normalisierte familiäre Sorgeverhältnisse hinausgeht. So wird in So sind wir das schonende, beschützende Schweigen als väterliches Sorgeverhalten entpathologisiert, und in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück wird die Bedeutsamkeit freundschaftlicher Sorgeverhältnisse für Soziabilität herausgestellt. Dabei wird auch die wichtige Funktion von virtuellen Sorgegeflechten hypotypotisch vor Augen geführt. In Woran denkst du jetzt wird das Sorgen für einen Todkranken dargestellt und Sorge als eine Praxis resignifiziert, die in ein Geflecht voneinander abhängiger Menschen eingebettet ist. Des Weiteren wird die Notwendigkeit der Empfänglichkeit für die Bedürfnisse des Kranken jenseits seines Patientenstatus als ein bedeutsamer Aspekt einer ganzheitlichen Sorge realisiert.

5. Abhängigkeit von Normen Geschlecht

Darstellungen der Rolle der Frau in der heteronormativen Kleinfamilie. Formen performativer Zurichtung des ›weiblichen‹ Körpers. Nationalsozialistische Geschlechterbilder. Verschiedene Weisen ›Weiblichkeit‹ zu leben und ein fulminanter lesbischer Gegenentwurf. Eine Erzählung vom sorgenden Mann. Die Untersuchung des Moments der Abhängigkeit von Normen in Lustigers Romanen soll im folgenden Kapitel durch die Fokussierung von Geschlechternormen konkretisiert werden. Einführend lege ich dar, wie Normen von Butler verstanden und thematisiert werden und welcher Stellenwert ihnen in der Ethik des postsouveränen Subjekts zukommt. In diesem Zusammenhang gehe ich auf die grundlegende Bedeutung von Geschlechternormen ein. Im zweiten Schritt untersuche ich die Darstellung von Geschlechternormen in den Romanen. Ich frage, auf welche Weise Normen erzählerisch aufgegriffen werden und welche spezifischen Verfahren der Darstellung von Geschlechternormen in den Romanen identifiziert werden können. Drittens betrachte ich die Ergebnisse in einem Zwischenfazit.

5.1 D ie M acht der N orm Normen sind zentral für die Herausbildung des vergesellschafteten Subjekts. Nicht nur bestimmen sie das Handeln der Subjekte grundlegend, indem sie die Grenzen des Erlaubten bezeichnen und auf diese Weise eine moralische Anleitung zur Verfügung stellen. Über diese Funktion im Zusammenhang mit »Moralcode[s]« (Foucault 1989a: 36; Luhmann 1989: 404) hinaus stellen Normen die Bedingungen für die Konstitution des handlungsfähigen ›Ich‹ bereit. Durch ihre beschränkende Form ermöglichen sie die Wende des ›Ich‹ auf die mit ihnen verbundenen Verluste und legen damit die Grundlage für seine Entstehung (vgl. PdM).

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Die Abhängigkeit von Fürsorge, die jedes menschliche Wesen zu Beginn seines Lebens psychisch und physisch erfährt, stellt nach Butlers Verständnis auch die Möglichkeit für seine Unterwerfung unter die Normen der Gemeinschaften und Gesellschaften dar, die unsere Existenz sichern (vgl. Kapitel 4.1). In Anschluss an Spinoza und Hegel arbeitet Butler heraus, dass das »Begehren, im Sein zu verharren« (KeG: 62) mit einem Begehren nach Anerkennung einhergehen muss, denn erst dies macht das Subjekt zu einem »sozial lebensfähigen Wesen« (MdG: 10). Die Unterwerfung unter die Normen geschieht in Butlers Darstellung nicht als ein aktiver Akt eines autonomen (reflexiven) Subjekts, sondern muss eher als Geschehen betrachtet werden, in dessen Verlauf das Subjekt im Prozess seiner Unterwerfung in die Normen verwickelt wird (vgl. Kapitel 2.2).

5.1.1 Die ›inneren‹ Wächter_innen Butler knüpft an Michel Foucaults Arbeiten zum Prozess der Hervorbringung des Subjekts durch Normen an und entwickelt seine Überlegungen zum Prozess der Subjektivation – auch in Anschluss an dessen Überarbeitungen – weiter. Wie im zweiten Kapitel der vorliegenden Untersuchung genauer dargelegt wird, erarbeitet sie mit dem Konzept der psychischen Wende ein Denkmodell davon, auf welche Weise die Normen zum einen unsere Psyche erzeugen und zum anderen einen Angriffspunkt für den Widerstand gegen Normen darstellen. Doch wie genau lässt sich die Einsetzung des Subjekts als durch Normen konstituiert verstehen? Und durch welche gesellschaftlichen Praktiken erhält die Norm ihre konstitutive Macht? Foucault nähert sich der Beantwortung dieser Fragen mit der Analyse der Geschichte unterschiedlicher Formen gesellschaftlich organisierter Strategien, die sich darauf richten, das Subjekt zu unterwerfen (vgl. Foucault 1976; 1978; 1989a; 1989b; 1991; 2005). Er arbeitet dabei einen Übergang von Verfahren der Bestrafung zu solchen Strategien heraus, deren Ziele die Kontrolle und Disziplinierung des Subjekts sind (vgl. Foucault 1976; 1987; 1989a/b). Stehen in der Feudalgesellschaft etwa der Schmerz des Körpers, die Brutalität der Ausführung und das damit geförderte Entsetzen der Zuschauenden im Mittelpunkt der Bestrafung, werden im Zuge der Entwicklung der Gesellschaft vornehmlich Strafen entwickelt, die darauf zielen, den Geist desjenigen zu disziplinieren, welcher der Strafe ausgesetzt wird (vgl. Foucault 1976).1 Wesentliche Elemente der Unterwerfung sind anfänglich der Körper, seine Kontrolle und Bestrafung und später der »Geist« (Foucault 1976: 129); dessen Überwachung, 1 | Auch für die Todesstrafe lässt sich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine »Transformation vom öffentlichen zelebrierten ›Theater des Schreckens‹ hin zur vermeintlich diskreten und schnellen Exekution« (Martschukat 2006: 245) verzeichnen.

5. Abhängigkeit von Normen

Prüfung und Sichtbarkeit. Die Strafe wird als Form der universalen Reglementierung intelligibel. Zugleich beginnt sich damit das Potenzial der normierenden Gewalt zu entfalten: »Im Laufe des 18. Jahrhunderts bildet sich innerhalb und außerhalb des Justizapparates, in der alltäglichen Strafpraxis wie in der Kritik der Institutionen, eine neue Strategie zur Ausübung der Strafgewalt aus […], deren erste Ziele sind: daß aus der Bestrafung und Unterdrückung der Ungesetzlichkeiten eine regelmäßige und die gesamte Gesellschaft erfassende Funktion wird; daß nicht weniger, sondern besser gestraft wird; daß […] mit größerer Universalität und Notwendigkeit gestraft wird; daß die Strafgewalt tiefer im Gesellschaftskörper verankert wird.« (Foucault 1976: 104)

Als Sinnbild dieser veränderten Einstellung zur Strafe als Form der Unterwerfung setzt Foucault (ebd.: 256f.) Jeremy Benthams Panopticon ein: »Sein Prinzip ist bekannt: an der Peripherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, das auf die Fenster des Turms gerichtet ist, und eines nach außen, so daß die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird.«

Nicht nur, dass die hier beschriebene Architektur die Aufgabe des Bewachens zentriert und dementsprechend optimiert. Die Geschiedenheit der Insass_innen verhindert zugleich das Zustandekommen einer »dicht gedrängte[n] Masse, die vielfältigen Austausch mit sich bringt und die Individualitäten verschmilzt« (ebd.: 258). Der Auf bau des Panopticons ermöglicht es zudem, dem realen, dem ›äußeren‹ Wächter, der die Handlungen des Häftlings kontrolliert, einen virtuellen, ›inneren‹ Wächter zur Seite zu stellen. Die Macht über die Insass_innen wird durch seine ständige Sichtbarkeit erzeugt, welche der Uneinsehbarkeit der mächtigen Stelle gegenübersteht: »Das Panopticon ist eine Maschine zur Scheidung des Paares Sehen/Gesehenwerden: Im Außenring wird man vollständig gesehen, ohne jemals zu sehen, im Zentralturm sieht man alles, ohne je gesehen zu werden.« (Ebd.: 259)

Die Situation in Benthams Panopticon mag im Hinblick auf das realisierte Ensemble der Kontrolle extrem anmuten. An ihr lässt sich aber beispielhaft demonstrieren, wie Subjekte der Unterwerfung aufgrund von Differenzen erzeugt werden. So manifestiert sich die Unterscheidung zwischen Gefangenen und Wärter_innen räumlich und sozial, etwa in der Architektur der Anlage, der ungleichen Verteilung von Sichtbarkeit und in ihrer Kopplung an Ausge-

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setzt-Sein. Erst innerhalb eines spezifischen Ensembles von Deutungen und Normen, die festlegen, dass die Insass_innen eingesperrt, überwacht und sozial isoliert werden müssen, um sie für die Gesellschaft tauglich zu machen, entstehen diese als spezifische Subjekte, die einem bestimmten Grad an Schutz bzw. an Gefährdung ausgesetzt werden. Die Gefangenen werden »zur Annäherung an ein Ideal […], an eine Verhaltensnorm, ein Modell des Gehorsams« (PdM: 82) gezwungen. Das Subjekt entsteht auf dem Boden der Norm; die Subjektivation begründet – ähnlich wie die einzelnen Zellen im Panopticon – seine »Sicherstellung und Verortung« (PdM: 87). Butler macht in Anschluss an Foucault deutlich, dass »die Seele zum normativen und normalisierenden Ideal wird, nach dem der Körper geschult, geformt, gezüchtet und ausgestattet wird; sie ist ein historisch spezifiziertes imaginäres Ideal (idéal speculatif), unter welchem dem Körper Gestalt gegeben wird« (PdM: 87).

Im Zusammenhang mit der normierten Formung des Subjekts und seines Körpers nach einem imaginierten Vorbild ergänzt Butler die Frage nach den (historischen) Bedingungen der Macht der Norm um den Aspekt der Grenzen dessen, das durch die Norm erfasst wird. Sie fragt, ob, »wenn der Diskurs Identität produziert, indem er ein Reglementierungsprinzip bereitstellt und durchsetzt, das das Individuum zutiefst durchdringt, totalisiert und vereinheitlicht […], dann […] jede ›Identität‹ als totalisierende genau als eine solche ›den Körper einkerkernde Seele‹ [verstanden werden muss]« (PdM: 83).

Vor dem Hintergrund der Frage, in welchem Fall die diskursiv bereitgestellte und normierte Identität anders als »›einkerkernd‹« (PdM: 83) auf den Körper zugreifen könnte, stellt sich für Butler die Aufgabe, die Geschlechternormen kritisch zu hinterfragen und epistemologisch neu zu fassen.

5.1.2 Die Grenzen der Normen: Geschlecht Die Geschlechternormen, die auf den »restriktiven normativen Konzeptionen des sexuellen und vergeschlechtlichten Lebens« (MdG: 9; Übers. sd) beruhen, nimmt Butler in ihren Texten kritisch in den Blick. Sie macht deutlich, dass sich die heteronormative Konstruktion von Geschlecht auf der Ebene des Diskurses als höchst problematisch darstellt, da sie ihre eigene biologische Unmöglichkeit verdeckt. Ganz praktisch ergeben sich aus der kulturellen Verwerfung jedes anderen Geschlechts außerhalb der heteronormativen Ordnung grausame Folgen für die betroffenen Individuen.

5. Abhängigkeit von Normen

Die Unnachgiebigkeit, mit der die Körper dem heteronormativ strukturierten Sozialen verpflichtet sind, zeigt sich etwa im Zusammenhang mit den gewalttätigen Handlungen an intersexuellen Menschen (vgl. KvG; MdG). Ob über operative Verfahren – häufig sogar im Säuglingsalter – und hormonelle Zwangsbehandlungen der Geschlechtsangleichung oder institutionelle Ausschlussverfahren: Die Verweigerung der gesellschaftlichen Anerkennung von Geschlechtern jenseits der heteronormativen Matrix führt zu diversen Einschränkungen des subjektiven Handlungsvermögens und allzu oft zu Verletzungen der Menschenrechte (vgl. Butler 2001d; KvG; MdG).2 Die Normen, welche über die Illegitimität/Legitimität der Körper bestimmen, müssen deshalb zugleich in ihrer Verknüpfung mit der Anerkennung als menschlich betrachtet werden. Butler führt aus: »Die Normen, die eine idealisierte menschliche Anatomie regieren, produzieren einen selektiven Sinn dafür, wer menschlich ist und wer nicht, welches Leben lebenswert ist und welches nicht.« (MdG: 14)

Die Kritik an den Geschlechternormen fällt für Butler mit einer kritischen Ontologie zusammen. Sie macht deutlich, dass das kritische »›Infragestellen‹ durchaus ein Weg zu einer Rückkehr zum Körper sein kann, dem Körper als einem gelebten Ort der Möglichkeit, dem Körper als einem Ort für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten« (KvG: 10f.; Herv. i. O.).

Im Folgenden führe ich das Verhältnis von Norm und Geschlecht näher aus.

5.1.2.1 Konstruktion von Geschlecht Bereits in Das Unbehagen der Geschlechter arbeitet Butler daran, die heteronormative Konstruktion von Geschlecht als diskursiv zu dekonstruieren. Sie kritisiert unterschiedliche Ansätze feministischen Denkens dafür, sich auf eine binäre Struktur der Geschlechtsidentität zu berufen, der strukturalistische Annahmen zugrunde liegen. Indem die Vertreter_innen dieser Richtung ihr politisches Handeln darauf ausrichten, die gesellschaftlichen Bedingungen für Frauen zu verändern, schreiben sie en passant die Natürlichkeit des Subjekts ›Frau‹ weiter fest (vgl. Hark 2001b; Villa 2007). Damit wirken sie in Butlers Augen an der Demarkierung derjenigen politischen Prozesse mit, welche das heteronormativ vergeschlechtlichte Subjekt als ein Natürliches hervorbringen. Butler macht dagegen den Gedanken stark, dass es sich gerade deshalb schwierig gestaltet, Geschlechtsidentität zu wählen oder gar zu ändern, weil 2 | Einen ethnologischen Blick auf die ›Normalität‹ des Umgangs mit mehr als zwei Geschlechtern in anderen Kulturkreisen wirft Susanne Schröter in FeMale (2002).

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diese kulturell konstruiert ist (vgl. Schröter 2002). Daher wendet sie sich auch gegen Simone de Beauvoirs existenzialistisches Verständnis der Weiblichkeit (vgl. FesL). Geschlecht wird nach Butler zwar kulturell konstruiert und gesellschaftlich hergestellt, gleichwohl liegt dem Prozess der Annahme einer Geschlechtsidentität immer ein Zwang zugrunde. Dieser Zwang äußert sich in der Angst vor Verwerfung; vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft derer, die es zu beschützen gilt (vgl. MdG). Gerade die Naturalisierung der Binarität der Geschlechtsidentität sichert die Wirkungsmacht der Deutungskategorien ›weiblich‹ und ›männlich‹ ab. Jeder Versuch, die heteronormative Matrix zu unterlaufen, birgt das Risiko für das betreffende Subjekt, die gesellschaftliche Anerkennung zu verlieren. Butler setzt der Rekonstruktion der Beziehung von Körper, Sexualität und Geschlecht im Register des ›Natürlichen‹ ein performatives Verständnis des Verhältnisses entgegen. Sie weist nach, dass das soziale Geschlecht selbst die Relevanz des biologischen infrage stellt, wo es Zweigeschlechtlichkeit ›gegen die Körper‹ durchzusetzen versucht. Gleichzeitig verdeutlicht sie mit ihrer Neuformulierung der Performativität, wie sich kulturelle Anrufungen in die Körper einschreiben bzw. auf welche Weise die Körper über kulturelle Anrufungen erst als geschlechtliche lesbar werden. Butler argumentiert, dass »diese regulierenden Schemata […] keine zeitlosen Strukturen [sind], sondern historisch revidierbare Kriterien der Intelligibilität – Kriterien, die Körper produzieren und unterwerfen, die von Gewicht sind« (KvG: 37).

Diese Sichtweise auf Geschlecht hat zu erheblicher Kritik geführt (vgl. dazu Bublitz 2002; Meißner 2010). Butler sieht sich unter anderem mit dem Vorwurf konfrontiert, die konstruktivistische Perspektive würde konkretes Handeln verunmöglichen, weil sie Handeln immer bereits als gesellschaftlich enteignet begreife. Die wohl prominenteste Vertreterin dieser Kritik ist Seyla Benhabib. Diese befürchtet, dass »Konzepte wie Intentionalität, Verantwortlichkeit, Selbstreflexivität und Autonomie […] verschwinden« (Benhabib 1994: 13) und mit ihnen das Vermögen, »jene Distanz zwischen sich selbst und der Bezeichnungskette, in die es eingebettet ist, zu meistern und zu schaffen, die es ihm ermöglichte, auf die Bezeichnungen zu reflektieren und sie kreativ zu verändern« (Benhabib 1994: 13).

Butler hält dagegen, dass das Subjekt nicht abgeschafft wird, wenn »man nach den Bedingungen seiner Entstehung und seines Wirkens fragt« (KvG: 29). Erst in der Befragung der Genealogie des Subjekts ergibt sich in ihren Augen die Möglichkeit, verworfene Subjekte als gesellschaftlich verworfene sichtbar zu machen.

5. Abhängigkeit von Normen

5.1.2.2 Performativität und Resignifikation der heteronormativen Geschlechternormen Die Performativität von Geschlecht bezeichnet die wiederholende Praxis des Zitats geschlechtlicher und vergeschlechtlichender Normen eines regulierenden Regimes, das Subjekte hervorbringt und gleichzeitig illegitime Subjekte verwirft (vgl. KvG). Dieser Vorgang ereignet sich nicht ausgehend von einer anthropomorphen Macht, sondern vielmehr von heterogenen Punkten aus, die sich machtvoll zu Wissensformationen verschränken, verstärken und durch zitierende Wiederholung reproduzieren (vgl. Hsp). Butler wendet Foucaults Analysen zum Prozess der Einschreibung der Normen in die Körper in die Frage danach, »welcher kulturelle Apparat dieses Zusammentreffen von Instrument und Körper arrangiert und welche Eingriffe in diese ritualisierte Wiederholung möglich sind« (UdG: 214).

Sie steht damit vor der Aufgabe, zu klären, wie sich eine heteronormative Geschlechterordnung kritisch hinterfragen und modifizieren lässt, die als eine der grundlegendsten lebensweltlichen Erfahrungen des Subjekts verstanden werden kann (vgl. dazu Andresen/Kimmerle 2005; Bovenschen 1978; Bourdieu 1997a/b; Dölling/Krais 1997). Butler analysiert, inwiefern die gesellschaftlichen Institutionen zur Sicherung der heteronormativen Ordnung aufgrund der Subtilität ihrer Praxis über die Möglichkeit verfügen, ihre Macht ›im Geheimen‹ auszuüben. Dazu macht sie unter anderem John Austins und Pierre Bourdieus Sprechakttheorie fruchtbar. Die Praktiken wirken, wie etwa Bourdieu (1997b: 159) in seiner Analyse der männlichen Herrschaft zeigt, aufgrund einer doxischen3 Erfahrung, in welcher die binäre Geschlechterordnung »objektiviert – in der sozialen Welt und – inkorporiert – in den Habitus 4 präsent ist, wo sie als universelles Prinzip des Sehens und Einteilens, als ein System von Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungskategorien wirkt«.

Mit Bourdieu (2012: 56f.) lässt sich die heteronormative Ordnung als ein »zwischen den Geschlechtern instituierte[s] soziale[s] Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis« denken, welches »sich allmählich in zwei verschiedene Klassen von Habitus ein[prägt]«: 3 | Nach Bourdieu (1997a: 160) ist die doxische Erfahrung charakteristisch für die lebensweltliche Einstellung, »[d]ie nicht thetischen ›Thesen‹ der doxa sind jenseits oder diesseits der Infragestellung«. 4 | Unter ›Habitus‹ versteht Bourdieu »sozialisierte Subjektivität« (Bourdieu/Wacquant 1996: 159).

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Poetologie des postsouveränen Subjekts »Und zwar in Gestalt gegensätzlicher und komplementärer körperlicher hexis und in Form von Auffassungs- und Einteilungsprinzipien – mit dem Effekt, daß alle Gegenstände der Welt und alle Praktiken nach Unterscheidungen klassifiziert werden, die sich auf den Gegensatz von männlich und weiblich zurückführen lassen.«

Auf diese Weise werden den Geschlechtern verschiedene Bereiche des Lebens symbolisch zugewiesen, während die Individuen diese Zuweisungen habituell inkorporieren und auf Ebene der hexis5 reproduzieren (vgl. dazu Bourdieu 2009). Für die männlichen Areale beobachtet Bourdieu (ebd.: 57) Folgendes: »Sache der Männer, die auf der Seite des Außerhäuslichen, des Offiziellen, des Öffentlichen, des Aufrechten, des Trockenen, des Hohen, des Diskontinuierlichen stehen, sind alle kurz andauernden, gefährlichen und spektakulären Handlungen, die […] Unterbrechungen im gewöhnlichen Lauf des Lebens darstellen«.

Für die Frauen stellt er (ebd.) demgegenüber fest: »Den Frauen hingegen, die auf der Seite des innerhäuslichen, des Feuchten, des Niederen, Gekrümmten, des Kontinuierlichen stehen, obliegt die Verrichtung aller häuslichen, d.h. privaten und verborgen bleibenden, ja unsichtbaren oder schändlichen Arbeiten, wie die Pflege der Kinder und der Tiere.«

Butler knüpft an Bourdieus Analysen an und erfasst darüber hinaus die performativen Möglichkeiten der Durchkreuzung der Geschlechterordnung: »Was Bourdieu aber nicht verstehen kann, ist, wie das, was am Sprechen körperlich ist, eben den Normen, die es regulieren, widersteht und sie durcheinanderbringt. Auch vernachlässigt er in seiner Erklärung der Performativität des politischen Diskurses die stillschweigende Performativität des körperlichen ›Sprechens‹, die Performativität des Habitus.« (Hsp: 222)

Wie bereits im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit genauer ausgeführt, schließt Butler zunächst an Bourdieus Gedanken an, dass Widerstand gegen die männliche Herrschaft vor allem von jenen geleistet werden kann, die dem Spiel außen vor bleiben (vgl. Bourdieu 2012). Widerstand gegen die normative Anrufung ließe sich aus dieser Perspektive am ehesten aufgrund der Erfahrung des »Überschreiten[s]« generieren, weil dieses »als Außen der Intelligibilität gelebt« (Hsp: 243) werde. 5 | Mit dem Begriff der hexis referiere ich auf Bourdieus Differenz zwischen Habitus und hexis, wobei unter hexis der physisch-leibliche Ausdruck der habituell inkorporierten Strukturen verstanden wird (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996).

5. Abhängigkeit von Normen

Daran anknüpfend zeigt Butler in Bezug auf Derridas Konzept der ›Iteration‹, dass der Ansatzpunkt für Widerstand nicht so sehr in der Unterscheidung zwischen innen und außen liegt. Vielmehr fände er sich in dem Tatbestand, dass es notwendig ist, die Geschlechterordnung wiederholt zu praktizieren, um dadurch die Normen männlicher Herrschaft zu stabilisieren. Widerstand gegen die Geschlechternormen kann demnach gelingen, wenn er darauf zielt, die Wiederholung der Geschlechterordnung auszusetzen, in dem die Normen männlicher Herrschaft unterlaufen werden. In diesem Zusammenhang arbeitet Butler heraus, dass »[d]ie Kraft und die Bedeutung einer Äußerung […] nicht ausschließlich durch frühere Kontexte oder ›Positionen‹ determiniert« (Hsp: 227) sind. Demnach kann »eine Äußerung […] ihre Kraft gerade aus dem Bruch mit dem Kontext gewinnen, den sie ausführt« (Hsp: 227), was schließlich zur Resignifikation der Norm führen kann (vgl. Kapitel 2.3.2).

5.1.2.3 Zusammenfassung Die Macht der Norm begründet sich nach Butler zum einen auf der Ausgesetztheit des ›Ich‹ an die Fürsorge und Liebe des Anderen zu Beginn seines Lebens (vgl. dazu Kapitel 2, 4 und 6). Darüber hinaus stellen Normen den Bereich intelligiblen Lebens her und schaffen auf dieser Grundlage die Bedingungen der Existenz des ›Ich‹. Den Normen fällt damit einerseits eine unterwerfende und andererseits eine erzeugende Funktion für die Hervorbringung des ›Ich‹ als Subjekt zu. Heteronormative Geschlechternormen zählen zu den wirkmächtigsten Modi der Subjektkonstitution. Ihr vorreflexives, quasi natürliches Vorliegen sichert ihre stetige Wiederholung und Stabilisierung. Gleichzeitig produziert die heteronormative Matrix diskursiv eine Vielzahl von Körpern und Sexualitäten, die von den Grenzen der Norm ausgeschlossen werden, weil sie nicht als ›menschlich‹ intelligibel werden können. Butler macht darauf aufmerksam, dass mit dem Ausschluss des ›Ich‹ aus der Norm der intelligiblen Körper und Geschlechter eine permanente Gefährdung der Existenz verbunden ist. Diese äußert sich etwa in den gewaltvollen Verfahren der Geschlechtsangleichungen bereits im Säuglingsalter oder in gewalttätigen Angriffen auf Transpersonen und Homosexuelle. Die Kritik der Geschlechternormen muss daher ihrer Ansicht nach darauf zielen, den ausschließenden Modus der heteronormativen »›Matrix der Intelligibilität‹« (UdG: 39) zu unterwandern und durchlässiger für Körper und Geschlechter zu machen, die dieser Geschlechterordnung nicht entsprechen. Butler sieht einen Ansatzpunkt dafür in der Performativität der Geschlechternormen. Wenn es gelänge, die lokalen Wiederholungen der Normen und Äußerungen, welche die Geschlechterordnung als heteronormativ einsetzen, zu unterbrechen, könnten Modi, welche Körper und Geschlechter jenseits des Heteronormativen als menschlich anerkennen, normativ werden.

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5.2 G eschlechternormen in den R omanen G il a L ustigers Im folgenden Kapitel untersuche ich Lustigers Romane im Hinblick auf die Darstellung von Heteronormativität sowie auf die mit ihr verflochtenen symbolischen Ordnungen und gesellschaftlichen Techniken ihrer Reproduktion. Ich verfolge dabei die These, dass Geschlecht zwar heteronormativ dargestellt wird, die Zweigeschlechtlichkeit gleichzeitig jedoch narrativ unterminiert wird. Dabei knüpfe ich an den Gedanken von Butler an, dass die inszenierte Wiederholung immer über die Wiederholung an sich hinausgeht (vgl. UdG; MdG). Um zu verstehen, inwiefern Geschlecht in den Romanen Lustigers erzählerisch aufgegriffen und narrativ verhandelt wird, konzentriere ich mich im Folgenden auf die Textstellen, die eine poststrukturalistische Lesart von Geschlecht nahelegen bzw. einer solchen Lesart entgegenstehen. Ich gehe dabei formalistisch vor (vgl. White 2008). Das heißt, ich werde dabei nicht klären, ob Lustigers Romane Geschlecht in einer ›besseren‹ Weise aufrufen, dafür aber analysieren, ob die literarischen Darstellungen Geschlecht einen natürlichen Status zuweisen oder ob sie für die Querung und »Aufdeckung des phantasmatischen6 Status der Echtheits-Norm« (KvG: 185) in Einsatz gebracht werden. Hierbei ist der Gedanke leitend, dass es eine wesentliche Rolle für die Identifizierung einer subversiven Erzählstrategie spielt, ob ›Natürlichkeit‹ und ›Echtheit‹ des Geschlechts durchkreuzt oder verstärkt werden. Indem die Natürlichkeit der geschlechtlichen Zuweisung problematisiert wird, können auch die symbolischen Ordnungen, welche mit ihr verflochten sind, als gesellschaftlich konstruiert kritisch infrage gestellt werden. Auf diese Weise erlangen die Subjekte die Handlungsfähigkeit, die Grenzen der symbolischen Intelligibilität neu zu verhandeln (KvG: 41). Diese Form der Einsicht der Subjekte in »das Verhältnis, in dem sie zu ihren Dispositionen stehen« (Bourdieu/Wacquant 1996: 171), bezeichnet auch Bourdieu als Handlungsfähigkeit und grenzt sie vom determinierten Handeln scharf ab: »Im Grunde kommt der Determinismus nur im Schutze der Unbewußtheit voll zum Tragen, unter geheimer Mittäterschaft des Unbewußten.« (Bourdieu/Wacquant 1996: 171)

Zwar wird eine Situation wiederholt, gleichzeitig verändert der Kontext der Inszenierung die Rezeption der dargestellten Situation innerhalb der doxischen Erfahrung. Die Inszenierung enthebt die Situation der alltäglichen Lebenswelt 6 | Butler erklärt den Begriff des Phantasmatischen folgendermaßen: »Der Bereich des Phantasmatischen ist exakt eine in der Schwebe gehaltene Handlung, weder ganz affirmiert noch ganz negiert und meistens durch irgendeine Form ambivalenter Lust strukturiert (›Ja‹ und ›Nein‹ zugleich)« (Hsp: 151; Herv. i. O.).

5. Abhängigkeit von Normen

und zwingt die Rezipient_innen zu einer Reflexion über das Wiederholte. Auf diese Weise zielt die Explikation der symbolischen Ordnung nicht allein darauf ab, die Prozesse der Herstellung von Heteronormativität zu realisieren und womöglich metonymisch zu reproduzieren, sondern irritiert gleichzeitig diese Prozesse und kreiert damit Möglichkeiten der Intervention. Folgende Fragestellungen leiten die Romananalysen an: In welchen Formen wird von Geschlecht erzählt? Welche Kennzeichen der narrativen Darstellung von Geschlecht werden in Lustigers Romanen deutlich? Lassen sich eventuell Hinweise darauf finden, dass die heteronormative Geschlechterordnung inhaltlich und narrativ ausgesetzt wird? Der Schwerpunkt der Analysen liegt in diesem Kapitel auf dem Roman Aus einer schönen Welt.

5.2.1 Realisierung der normativen Konzeptualisierung von Geschlecht Der Roman Aus einer schönen Welt bietet sich für eine Untersuchung der Darstellung von Geschlecht insbesondere an, weil in seiner Narration das Alltagsund Familienleben, die Geschlechterverhältnisse und die Sexualität der heterosexuellen Figur A. kritisch kommentiert verhandelt werden. Zudem fokalisiert die Erzählstimme hauptsächlich A.s Gedanken und Gefühle. Auf diese Weise kann die Narration zum einen die »Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata« (Bourdieu 1987: 173) der Figur beleuchten und zum anderen subversive Resignifikationen der normativen Konzeptionen vornehmen, denen A.s Denken und Handeln unterliegt. Weil nahezu alle Kapitel aus A.s Perspektive erzählt werden, wird es zudem möglich, ihre psychischen Verstrickungen mit den einzelnen Familienmitgliedern in den Blick zu nehmen. Im Folgenden gehe ich auf sechs Aspekte der Darstellung von Geschlecht in Aus einer schönen Welt ein. Erstens mache ich deutlich, inwiefern A.s Denken und Handeln vom Motiv des Wertes geprägt ist und sie ihr Selbstbild aus den Urteilen der Anderen ableitet. Zweitens erläutere ich, auf welche Weise die Verknüpfung von Sexualität und Wert sichtbar gemacht wird, und bringe diese in einen biopolitischen Zusammenhang. Den dritten Aspekt der Untersuchung stellt die Fokussierung auf die Sichtbarmachung der normativen Konzeption weiblicher Körper dar, die in Aus einer schönen Welt vollzogen wird. Daran anknüpfend dehne ich viertens die Untersuchung auf die Analyse des Motivs des sportiven Körpers aus. Fünftens gehe ich auf die Hyperbel als Form der Realisierung und Verschiebung von Normen ein. Abschließend erweitere ich sechstens die dargestellten Aspekte um Hinweise auf Modi narrativer Subversion.

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5.2.1.1 Wert, Bewertung und Urteil Das Motiv des ›Wertes‹ spielt eine bedeutende Rolle im Roman Aus einer schönen Welt. Erste Hinweise darauf geben sowohl der Titel des Romans, dessen intertextuelle Verknüpfung mit Aldous Huxleys dystopischem Roman Schöne neue Welt (1932) Zweifel an der Schönheit der diegetischen Welt weckt, als auch die einleitenden Zitate, welche die Erzählung parataktisch rahmen. So wird ein kritischer Subtext durch das dem Roman vorangestellte Zitat Bertolt Brechts »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm« (ASW: 5) erzeugt, das aus der Dreigroschenoper (1928) stammt. Mit diesem wird auf die Ungleichheit hingewiesen, die immer schon mit dem liberal-marktwirtschaftlichen Denken eingesetzt wird. Gleichzeitig referiert das Zitat auf das unternehmerische Denken und Handeln, dem die Fokussierung auf ›Wert‹ als Unterpfand gesellschaftlicher Anerkennung in Aus einer schönen Welt entspringt. Des Weiteren leitet ein Kant-Zitat aus der Kritik der Urteilskraft (1790) das erste Kapitel ein, welches sich auf eine am Nutzen orientierte Normierung des Schönen bezieht: »Allein die Schönheit eines Menschen (und unter dieser Art, die eines Mannes, oder Weibes, oder Kindes), die Schönheit eines Pferdes, eines Gebäudes (als Kirche, Palast, Arsenal, oder Gartenhaus) setzt einen Begriff vom Zwecke voraus, welcher bestimmt, was das Ding sein soll.« (ASW: 7)

Solchermaßen gerahmt, beginnt die Handlung der Geschichte im ersten Kapitel mit der Frage danach, welchen Wert A. für ihren Ehemann hat: »A. möchte hören, wie viel sie wert ist. Sie hat ihre Augen auf das Gesicht des Mannes gerichtet und bittet ihn, es ihr genau auszurechnen.« (ASW: 7)

Das Motiv des Wertes wird hier ebenso eingeführt, wie der Mann als übergeordnete Instanz, die den Wert der Frau bestimmt. Die Verhandlung des Wertes von A., welche in dem ersten Kapitel des Romans seinen Ausgang in der Befragung ihres Mannes nimmt, wird in dem zweiten Kapitel weiter fortgesetzt und erstreckt sich insgesamt über die ersten acht Kapitel des Romans. Im zweiten Kapitel entwickelt A. Kriterien zur Berechnung ihres Wertes. Sie fragt: »Magst du meinen Mund mehr als meine Brüste?« (ASW: 8). Es wird dargestellt, dass A. nicht nur eine präzise Vorstellung davon hat, was genau der Mann beurteilen soll, sondern auch davon, in welcher Weise dieser vorgehen muss, um zu einem für A. anerkennbaren Urteil zu gelangen: »Der Mann soll gerecht urteilen und keine Vergleiche anstellen: mit anderen Brüsten, Mündern und Hinterteilen« (ASW: 8). Sie entwickelt an dieser Stelle eine Quasi-Theorie des gerechten Urteils, welche an Kants Kritik der Urteilskraft angelehnt ist. Über diese teilt die Erzählstimme mit: Zum einen solle der Mann A.s »Nutzeffekt« (ASW: 9) außer Acht lassen, zu dem sie auch das gemeinsa-

5. Abhängigkeit von Normen

me Kind zählt, von welchem hier zum ersten Mal, wenn auch exkludierend, die Rede ist (vgl. Kapitel 4.2.2.2). Zum anderen solle das »reine Geschmacksurteil […] von Reiz und Rührung unabhängig« (ASW: 9) sein, wie A. hier Kant (1996 [1790]: 138f.) zitierend bestimmt. In dem betreffenden Paragrafen, der in der Kritik der Urteilskraft niedergelegt ist, setzt Kant (1996 [1790]: 139) auseinander, dass und wie ein »reines Geschmacksurteil« interesselos und unparteilich formuliert werden muss. Gerade die ästhetischen Urteile sieht er gegenüber Gefühlen der Lust, des Reizes und also der emotionalen Rührung sehr anfällig, da seiner Ansicht nach der Begriff des ›Schönen‹ unzulässig mit dem Gefühl des Wohlgefallens verknüpft wird. Einen solchen Geschmack nennt Kant (ebd.: 138) »barbarisch« und fordert ein Geschmacksurteil, das nur »die Zweckmäßigkeit der Form zum Bestimmungsgrunde« haben darf. Im vierten Kapitel wird schließlich die von A. eingeforderte Bewertung durch den Mann erzählerisch realisiert. Allerdings wird diese nur gegenüber den Leser_innen offen gelegt. Es wird deutlich, dass A.s Ehemann zwar, wie von A. gewünscht, »die Zweckmäßigkeit der Form zum Bestimmungsgrunde« (ebd.: 139) legt, sein Urteil aber offensichtlich in eine andere Richtung ausfällt, als es A. mit ihrem Wunsch nach einem interesselosen Urteil intendiert. Durch seine Arbeit an Verkaufsgespräche gewöhnt, urteilt dieser: »Müßte er A. anbieten, würde er zunächst auf ihr Gesäß zu sprechen kommen, auf dem nun seine Hände weilen, und würde versuchen, ihre vielen Nachteile mit der relativ großen Fläche ihres Hinterteils zu kompensieren. (Bei einer um 15 % größeren Hinterteilsfläche ist, mit etwas Einfallsreichtum, ein Lustgewinn von 40 % zu erzielen, was die intensive Wartung der Frau ausgleicht, denn wo mehr Nutzen verlangt wird, müssen höhere Kosten in Kauf genommen werden).« (ASW: 11)

Es wird deutlich, dass A.s Wert sich weniger aus ihrem »Kern« (ASW: 18) speist als vielmehr aus einem Geflecht diverser Nutzenbeziehungen. Das Motiv des Wertes wird erneut durch den Ehemann aufgenommen, wenn ihn die Erzählstimme zu Beginn des 114. Kapitels (ASW: 129f.) mit der Aussage fokalisiert, dass er sich »die Frau leisten kann, weil sie weniger gekostet hat, als man annimmt« (ASW: 129). Die Aussage zeigt, dass der Wert von A. – neben ihrem Gebrauch als Lustobjekt – auch mit ihrer Position im verwandtschaftlichen Geflecht in einen Zusammenhang gebracht wird: Der Ehemann meint, weil seine Frau von ihrer Mutter »direkt ab Werk geliefert« (ASW: 129) worden sei, habe ihm ihr ›Erwerb‹ nur geringe Kosten verursacht.

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5.2.1.2 Biopolitischer Nutzen In den Kapiteln 113 (ASW: 128f.), 114 (ASW: 129f.) und 115 (130f.) wird eine Erweiterung des Blicks auf die Anfangsszene des Romans vorgenommen, in welcher A. ihren Wert durch den Ehemann erläutert haben möchte. Im 113. Kapitel wird durch eine das Geschehen ironisierende Erzählstimme deutlich gemacht, dass A. weder sich allein gehört noch ihrem Mann oder ihrer Familie, sondern dass sich ihr Zweck, um Kants Kriterium des ›reinen Geschmacksurteils‹ erneut aufzunehmen, erst in einem übergeordneten Gesellschaftszusammenhang erhellt, und sich ein Teil ihres Wertes von dort bemisst. Wie genau das gemeint ist, wird im Zusammenhang mit der Bemerkung, dass der Mann, »die Konjunktur auf seinen Schultern« (ASW: 128) trage, näher ausgeführt. So heißt es: »Stolz müßte die Frau sein, […] weil ja auch sie etwas zur Gesundung der Volkswirtschaft beiträgt. Würde sie den Umfang ihres Aufgabenfeldes begreifen, würde sie ihren Körper bereitwillig in den Dienst des Gatten stellen.« (ASW: 128f.)

Die Erzählstimme macht darauf aufmerksam, dass A.s Wert nicht allein in einer repräsentativen Erscheinung besteht, ausgestattet mit einem möglichst legitimen Körper, sondern darüberhinausgehend in der von ihr zu erbringenden Reproduktionsleistung: »›Das ist doch ganz natürlich so‹, sagt der Mann, denn sie sind schon wieder beim leidigen Thema. A. sträubt sich. Sie weiß, der Sohn, den der Mann sich wünscht, ist eine heilige Pflicht, denn ist die Frau nicht die Trägerin des Lebens?« (ASW: 130)

Die Fähigkeit, Kinder zu gebären, wird von A.s Mann als eine Aufgabe gedeutet, die der Frau »natürlich« (ASW: 30) zufällt. Die Vorstellung des natürlichen Geschlechts wird anschließend durch die Erzählstimme mit dem religiösen Gedanken zusammengebracht, Kinder zu gebären sei – aufgrund der biologischen Möglichkeit dazu – eine »heilige Pflicht« (ASW: 11) der Frau. Das Fragezeichen am Ende der Überlegung deutet allerdings auf einen möglichen Zweifel an dieser Annahme hin. In der Textstelle referiert die Erzählstimme auf die von A. erwartete Reproduktionsleistung und stellt diese in einen Zusammenhang mit biopolitischen Diskursen. Foucault bezeichnet mit dem Konzept der »Biopolitik« (Foucault 2005: 231) die Regulierung des »Leben[s]« (ebd.), worunter er den Wunsch nach einer systematischen gesellschaftlichen Steuerung und Beeinflussung der Bevölkerung fasst: »Die Bevölkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen,

5. Abhängigkeit von Normen beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand. Eine Bevölkerung kann zugrunde gehen oder sich entwickeln.« (Foucault 2005: 231)

Sexualität kommt dabei eine bedeutende Rolle zu, denn sie »liegt letztlich genau an der Verbindungsstelle zwischen der individuellen Disziplinierung des Körpers und der Regulierung der Bevölkerung« (ebd.: 232).

Wenn die Erzählstimme mitteilt, dass A. sich »sträubt« (ASW: 130), »nichts von den tieferen Verknüpfungen« (ASW: 129) ihrer Reproduktionsleistung ahnt und daher »ihr Höschen heute anbehalten« (ASW: 129) wird, dann weist dies nicht nur auf ihre individuelle Weigerung hin, den Geschlechtsakt zu vollziehen, sondern auch auf ihren Widerstand, in einem biopolitischen Zusammenhang zweckgebunden zu funktionieren. Vor dem Hintergrund, dass A. entgegen ihrem ursprünglichen Wunsch schließlich doch einwilligt, erneut schwanger zu werden, sind ihre Reflexionen interessant, von denen in Kapitel 112 erzählt wird. Hier heißt es: »Ein Teil ihres Mannes ist A. und fühlt sich erst an seiner Seite geborgen. Was hätte sie ohne ihn? Keinen Zweitwagen, keine Altbauwohnung, kein Festgeld in Luxemburg, keine neue Damenarmbanduhr von Rolex, keine Freundin, die neidisch auf die neue Damenarmbanduhr von Rolex blickt. Ja, selbst das Kind hätte sie nicht und daher auch kein Fleckensalz, […] keine Schwangerschaftsstreifen am Schenkel und an der Brust, […] keinen Urlaub in der Toskana, keine Dunstabzugshaube mit Glasscheibe von Bultmann, […] und nicht einmal so wichtige Wörter wie Schuldverschreibung, Investmentfonds, Vermögensnutzung und Renditen hätte sie in ihren Wortschatz aufnehmen können, hätte sie an einem Samstagnachmittag nicht den Mann getroffen, der ihr Gönner ist.« (ASW: 127f.)

Die Aufzählung der Objekte, die A.s Selbst ausmachen, sowie die abschließende Bemerkung, dass sie diese – und damit auch ihr Selbst – allein dem Mann verdankt, macht die strukturelle Abhängigkeit, in der sie zu ihrem Mann steht, (über)deutlich. Das Motiv des Wertes zeigt sich in diesen Darstellungen als eines, das nicht nur die Vorstellungen der Figuren allegorisch gestaltet, sondern darüber hinaus auch ihre Lebenswelt organisiert.

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5.2.1.3 Normative Konzeption des weiblichen Körpers Bourdieu betont, dass die männliche Herrschaft auf einer illusio beruhe, der sich alle Spielenden unterwerfen. Das Konzept der illusio hängt eng mit dem Feldbegriff von Bourdieu zusammen. In seinem Verständnis von Gesellschaft, die hauptsächlich auf symbolischer Herrschaft beruht,7 ist sie die »stillschweigende Anerkennung des Wertes der Interessenobjekte, die in ihm [dem Feld] 8 auf dem Spiel stehen, und […] [die] praktische Beherrschung der Regeln, die in ihm gelten« (Bourdieu/Wacquant 1996: 149).

In der Bewertung, die A. in Aus einer schönen Welt für sich einfordert, wird deutlich, inwiefern der Wert der Frau aus normativen Konzeptionen des weiblichen Körpers abgeleitet wird, welche die männliche Herrschaft stabilisieren. Die Form der Narration vollzieht dabei die Wendung der Normen in A.s Psyche zum Teil nach und macht auf diese Weise die Verknüpfungen zwischen den Normen sichtbar, mit denen A. sich selbst erfasst und auf deren Grundlage sie bewertet wird. Das zeigt sich insbesondere im achten Kapitel (17f.). A. hat sich gerade gewogen und festgestellt, dass sie zwei Kilo abgenommen hat: »›Ich habe …‹, sagt sie, hält mitten im Satz inne und fügt hinzu, obwohl sie gerade den Mann darüber aufklären wollte, daß sie zwei Kilo abgenommen hat: ›So kann man sich doch nicht gerne haben‹ […]. Sie zeigt auf ihre Waden und stellt mit Betroffenheit fest, daß der Satz, den sie ausgesprochen hat, damit der Mann aufhorcht, der Wahrheit entspricht. ›Die sind viel zu fett‹, ergänzt sie und ist, während sie demonstrativ die Haut zwickt, über ihre Unfähigkeit verwundert, sich so zu lieben, wie sie es ja eigentlich verdient.« (ASW: 17)

A. hat zunächst im Sinn, ihre Freude über die verlorenen zwei Kilo zu teilen. Sie ändert aber ihre Absicht und wünscht sich offenbar, dass ihr der Mann den Grund ihrer Freude legitimiert. Allerdings spricht A. diesen Wunsch nicht aus. Stattdessen sagt sie den Satz, vor dem sie sich vielleicht insgeheim am meisten fürchtet, dass »man sich doch [so] nicht gerne haben [kann]« (ASW:

7 | Bourdieu führt weiter aus, dass die symbolische Herrschaft auf dem Sprechen beruht und die männliche Herrschaft einen Sonderfall dieser Herrschaftsform bildet (vgl. Dölling/Steinrücke 1997). 8 | Das ›Feld‹ denkt Bourdieu als »ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen« (Bourdieu/Wacquant 1996: 127). Diese abstrakte Beschreibung füllt er anschließend inhaltlich durch die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Logiken, die ein Feld definieren und in ihm zirkulieren. So nennt er beispielsweise das »künstlerische, das religiöse oder das ökonomische Feld« (ebd.).

5. Abhängigkeit von Normen

17). Darauf folgt eine autoaggressive Handlung, wenn A. sich in ihre »Haut zwickt« (ASW: 17) und selbst beschimpft. Zunächst liegt es nahe, A.s Verhalten so zu deuten, dass sie ihren Mann hier wie einen Spiegel benutzt. Sie schaut sich durch seine Augen an und wertet ihren Körper gemessen an ihrer Vorstellung über seine Erwartung ab. Die Spiegelinterpretation kommt aber an ihre Grenzen, wenn es darum geht, zu erklären, worüber A. eigentlich so verwundert ist – über ihr Spiegelbild, über ihre Projektion, über ihre Unfähigkeit, sich selbst angemessen zu lieben – was auch immer das bedeuten könnte. Dazu kommt, dass der Spiegel keine Einheit für A. herstellt. Es wird vielmehr deutlich, dass die von A. projizierten Erwartungen ihr Selbstverhältnis weiter zerklüften: »Auch die Antwort des Mannes, daß er volle Frauen schön fände, kann sie nicht zuversichtlich stimmen, weiß sie doch, daß ihn ihre Beine nicht im geringsten interessieren und daß der Nachdruck, mit dem er sich für sie einsetzt, lediglich dazu dient, A. zum Verstummen zu bringen.« (ASW: 17)

A. kann sich mit dem Urteil des Mannes, eine ›volle Frau‹ zu sein, nicht identifizieren, weil sie selbst ›volle Frauen‹ abwertet. In einer anderen Textstelle wird berichtet, dass A. sich in den Bauch boxt, was den Selbsthass und Ekel vor dem eigenen Körper, den sie empfindet, unterstreicht. Schließlich macht die Erzählstimme deutlich, dass A. glaubt, der Mann interessiere sich überhaupt nicht für die Beine seiner Frau. Es zeigt sich, dass der Mann für A. weniger einen Spiegel als vielmehr eine Projektionsfläche der Normen darstellt, an welchen A. sich ausrichtet. In Form einer Hypotypose wird in dieser Textpassage vor Augen geführt, inwiefern der Körper in den Prozessen des ›doing gender‹ als ein »Scharnier« (Villa 1998: 246) zu verstehen ist, das zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt. Diese Vermittlungsfunktion begreift Villa (1998) mit Butler als einen performativen Prozess, im Zuge dessen sich das Individuum den regulierenden Normen unterwirft und seinen Körper als vergeschlechtlichten hervorbringt. Dem solchermaßen zugerichteten Körper komme als ›fleischgewordene[m] Gedächtnis‹ eine signifikante Stellung bei der Identifizierung von Praktiken der Vergeschlechtlichung und Programmen der Regierung zu. Der Körper sei mehr als ein Artefakt – ein Pfand der Macht, denn seine ständige Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Normierungen garantiere die ungestörte Reproduktion der gesellschaftlichen Prozesse der Vergeschlechtlichung (vgl. ebd.). Bettina Gerda Wuttig (2014) weist zudem darauf hin, dass neben den chirurgischen und hormonellen Behandlungen, denen intersexuelle Personen häufig gegen ihren Willen unterzogen werden, auch die ›ganz normalen‹ all-

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Poetologie des postsouveränen Subjekts

täglichen Praktiken der Vereindeutigung der Geschlechter bereits traumatische Effekte ausüben. Sie arbeitet heraus, dass die »Abkapselungen und Verhärtungen, die Beugungen im Körper mit denen der gesellschaftlichen Zuschreibungen, mit den Effekten von Subjektivierungen Analogien bilden (das eine ist keine Metapher für das andere), dadurch, dass sie sich in das System Körper hineinübersetzen, seine Sprache annehmen« (Wuttig 2014: 10f.).

Der durch die Erzählstimme in dem Roman Aus einer schönen Welt geschilderte Selbsthass, dem A. letztlich unterliegt, führt hypotypotisch vor Augen, wie die Körpernormen der männlichen Herrschaft ein weibliches Subjekt erschaffen, in deren Konstitution die Ablehnung des ›Ich‹ immer schon eingeschrieben ist. Denn das ›Ich‹ kann das phantasmatische Idealbild der ›echten Frau‹ niemals erreichen (vgl. KeG). In Aus einer schönen Welt wird einerseits narrativ die Unterwerfung des weiblichen Körpers unter die Geschlechternormen realisiert, zum anderen aber auch deutlich gemacht, inwiefern mit diesen Normen die Unterwerfung des weiblichen Körpers und der ›Frau‹ als – hier für das Begehren des Mannes allerdings weitgehend belangloses – Objekt hergestellt wird.

5.2.1.4 Der sportive Körper Die Erzählstimme legt dar, dass A. sich sowohl wünscht, begehrt zu werden als auch jenseits von sexuellem Begehren geliebt zu werden. Diese sich in ihr überlagernden Wünsche finden ihren Ausdruck in einer paradoxen Überlegung: »A. denkt, […] würde der Mann mich wirklich lieben, wäre es nicht schlimm, dass er meinem Körper keine Beachtung schenkt – denn daß man ihre Waden häßlich finden muß, darüber besteht bei ihr kein Zweifel.« (ASW: 17)

Das wenig mehr als interesselos zu nennende Verhalten des Mannes steht in einem starken Kontrast zu A.s aufgewühltem Gemütszustand und ihrer psychischen Ausgesetztheit an sein Urteil. Die Erzählstimme führt aus, dass der Mann sich weder daran beteiligen möchte, ihren Wert zu bestimmen, noch dass er seine Zurückweisung offen ausspricht. Auch entkräftet er A.s Vermutung, dieser würde sie so nicht mögen können, nur wenig. Durch die Komposition der Narration wird das Ungleichgewicht zwischen A. und ihrem Mann ebenfalls deutlich gemacht: Während das Aussehen des Mannes nur an wenigen Textstellen und dort auch nur verhalten kritisiert wird, nimmt die Auseinandersetzung mit der körperlichen Erscheinung A.s einen hohen Anteil der Erzählzeit ein.

5. Abhängigkeit von Normen

Das Motiv dieser Auseinandersetzung stellt der Idealtyp des »sportiven« (Rose 1997: 127; vgl. Bublitz 2010; Kaschuba 1989) Körpers dar, der mit einer Abwertung des mütterlichen Körpers zusammenfällt. Lore Rose (1997) argumentiert, dass der weibliche Körper mit zunehmender gesellschaftlicher Herauslösung der Frau aus familiären Zusammenhängen der Sinnstiftung einer Umschrift unterzogen wird. Weiblichkeit wird nun durch »Erfolg und Schönheit« (ebd.: 134) definiert, wobei die Chiffre Schönheit weiterhin »für die Macht, die die Frauen als einzige besitzen dürfen, für die Reduktion weiblicher Lebensperspektiven auf das Geschlechtliche« (Sichtermann 1992: 23) steht. Schönheitspraktiken nehmen in Aus einer schönen Welt eine konstitutive Bedeutung für die Konstruktion des Selbstbilds von A. ein. Tabelle 5.1: Praktiken normativer Zurichtung des weiblichen Körpers gibt einen Überblick über die Praktiken, die A. an ihrem Körper durchführt, um den normativen weiblichen Schönheitsidealen zu entsprechen: Tabelle 5.1: Praktiken normativer Zurichtung des weiblichen Körpers Kapitel

Dargestellte Praktiken normativer Zurichtung des Körpers

Kapitel 7

A. hält Diät, sie zählt dabei Kalorien und wiederholt mantrenhaft und metonymisch die angestrebten Körpermaße: »86, 64, 82 oder 85, 64, 83, wenigstens 82, 65, 85« (ASW: 15).

Kapitel 9

A. bearbeitet ihren Körper mit »straffende[r] Körpercreme« (ASW: 18), während sie darüber nachdenkt, weshalb ihr das gesamte Arsenal an angeschafften Schönheitsmitteln nicht die Befriedigung bringt, die sie erhofft (vgl. ASW: 18f.).

Kapitel 26

A. führt die Praxis der Säuberung ein: »Das Geheimnis einer schönen Frau ist, daß sie sich auch von innen säubert« (ASW: 38).

Kapitel 58

A. macht Gymnastik.

Kapitel 127

A. berechnet Kalorien und die Zeit, die sie benötigt, um Kalorien zu verbrennen.

Es zeigt sich hier, dass A.s Gedanken häufig um ihren Körper kreisen und sie sich für seine ›Verbesserung‹ einer Reihe zeitintensiver und zum Teil für den Körper schädlicher Praktiken unterzieht. Es lässt sich deuten, dass dieses Verhalten aus der spezifischen Situation folgt, dass der Körper von Müttern gesellschaftlich abgewertet wird und die »Spuren der Schwangerschaft […] getilgt werden« (Rose 1997: 145) müssen. Die Narration in Aus einer schönen Welt stellt in dieser Lesart den Zwang zur Schönheit als darauf ausgerichtet dar,

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Poetologie des postsouveränen Subjekts »das Geschehene unsichtbar zu machen, die ›frühere Figur‹ ohne Narben, mit straffen Brüsten und flachem Bauch wiederherzustellen, […] [wofür] anstrengende, zeitaufwendige, kostenintensive Prozeduren und ein hohes Maß an Selbstdisziplinierung notwendig [sind]« (ebd.).

In der Erzählung von Aus einer schönen Welt wird damit hypotypotisch verdeutlicht, welche Konsequenzen es für A. hat, dass sie sich mit dem Objektstatus identifiziert, der ihr zugeschrieben wird. Die Erzählstimme beschreibt, wie A. sich über diesen definiert und sich von den Urteilen der Anderen abhängig macht: »A. möchte bewundernd betrachtet werden. Sie sagt: ›Wie sehr möchte ich die fette Beute jedes herumstreifenden Auges sein.‹«

Dafür ist sie bereit, nahezu ständig auf Nahrung zu verzichten, worauf wiederholt hingewiesen wird (vgl. ASW: 43; 79). Durch die iterative Beschreibung der körperlichen Praktiken wird das Paradigma der Körperdisziplin narrativ etabliert. Die damit narrativ erzeugte »repetitive Einförmigkeit des kleinbürgerlichen Lebens« (Genette 2010: 79) wird dazu eingesetzt, die klaustrophobische Enge zu verdeutlichen, die für A.s Denken und Handeln in jedem Moment ihres Lebens durch die Anpassung an den Zwang, den idealen Schönheitsnormen des weiblichen Körpers zu entsprechen, entsteht.

5.2.1.5 Die Übertreibung als Form der hypotypotischen Realisierung und Verschiebung von Normen Wie weiter oben (vgl. Kapitel 5.2.1.4) bereits beschrieben, sind in die Narration von Aus einer schönen Welt die Beschreibungen von iterativen Praktiken, die A. an ihrem Körper durchführt, eingelassen. Diese werden durch A. mit Praktiken zur normativen Zurichtung des Geistes ergänzt. Tabelle 5.2: Praktiken normativen Zurichtung des Geistes gibt einen Überblick über alle in dem Roman dargestellten Maßnahmen, die A. anwendet, um sich geistig zu disziplinieren: Tabelle 5.2: Praktiken normativer Zurichtung des Geistes Kapitel

Dargestellte Praxis normativer Zurichtung des Geistes

Kapitel 10

A. fasst den Entschluss, ihre Gedanken zu notieren.

Kapitel 12

A. räumt ihre Wohnung hinsichtlich der Maßgabe aus, Dinge zu beseitigen, »die sie nicht mehr verkaufen könnte« (ASW: 22).

Kapitel 14

A. legt eine »Rangordnung des Leids an« (ASW: 24).

5. Abhängigkeit von Normen Kapitel 22/23

A. führt einen »Sextest« (ASW: 34) in einer Illustrierten durch.

Kapitel 26

A. führt die Säuberung als Praxis ein: »Das Geheimnis einer schönen Frau ist, daß sie sich auch von innen säubert« (ASW: 38).

Kapitel 27

An das Paradigma der Säuberung anschließend, räumt A. ihre Wohnung aus, um eine »vornehme Leere« (ASW: 39) herzustellen.

Kapitel 28

A. weitet die Säuberung auf das Kinderzimmer aus.

Kapitel 32

Beinhaltet eine Auflistung von verschiedenen Gedanken, die als nummerierte Regeln wiedergegeben werden. Vermutlich hat A. diese Liste angelegt.

Kapitel 36

A. reflektiert schriftlich über ihre Tätigkeit des Reflektierens.

Kapitel 37

A. bemüht sich mittels ästhetischer Tätigkeit, ihren Drang nach einer Zigarette zu kontrollieren.

Kapitel 38

Unter der Einleitung: »Pars pro toto« (ASW: 53) findet sich eine Auflistung störender Handlungsweisen von A.s Ehemann.

Kapitel 45

A. reflektiert schriftlich über ihre Identität.

Kapitel 49

A. beginnt eine »Suche nach sich selbst« (ASW: 64) und bricht diese wieder ab.

Kapitel 52

A. zählt die Handlungsweisen und Eigenschaften auf, die sie an ihrem Liebhaber stören.

Kapitel 57

A. streicht Wörter in einem Buch durch.

Kapitel 81/82

A. setzt sich mit ihrer Erinnerung auseinander und notiert dabei ihre Empfindungen. Sie begründet ihr Vorgehen damit, dass »eine Erinnerung sinnvoll verwertet werden muss und sich selbst aus einer kleinsten Beobachtung noch etwas Nützliches ableiten läßt« (ASW: 98).

Kapitel 83

A. notiert 82-mal hintereinander »Gottfried« (ASW: 99).

Kapitel 92/92

A. führt verschiedene gedankliche Übungen mit dem Ziel durch, ihren Selbstwert zu steigern.

Kapitel 97

A. versucht, ihre Gefühle mittels einer Auflistung zu klären.

Kapitel 119

A. reflektiert schriftlich über die Liebe.

Kapitel 121

A. reflektiert über die Motivation für Geschlechtsverkehr.

Kapitel 128

A. räumt die Wohnung aus, um sich »von den Dingen nicht beherrschen« (ASW: 141) zu lassen.

Wie die Tabellen 5.1: Praktiken normativer Zurichtung des weiblichen Körpers und 5.2: Praktiken normativer Zurichtung des Geistes zeigen, nimmt die Veranschaulichung selbstdisziplinierender Maßnahmen einen hohen Anteil der Erzählzeit ein. Die Erzählstimme stellt dar, inwiefern A. die Praktiken initiiert

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und über diese situationsabhängig verfügt. Insbesondere die Praktiken, die A. anwendet, um über Fragen des täglichen Lebens oder ihre Gefühle Klarheit zu gewinnen, lassen darauf schließen, dass die Praktiken A. gleichermaßen als Subjekt der Normen einsetzen. Es fällt dabei auf, dass A. einige Maßnahmen sowohl formal als auch semantisch transponiert. Ich führe das im Folgenden am Beispiel der von ihr aufgestellten Listen aus. Das Erstellen von Listen wird von A. sowohl für den Bereich des Auf bewahrens von übrig gebliebenen Lebensmitteln eingesetzt als auch für das Festhalten von Gedanken. Bereits im dritten Kapitel des Romans Aus einer schönen Welt wird erzählt, dass die Figur Listen anlegt, um »sich ihrer Fähigkeiten […] und natürlich auch ihrer Schwächen« bewusst werden zu können (ASW: 12). Im Verlauf der Handlung weitet A. den Gebrauch der Listen auf weitere Bereiche aus. Sie benutzt diese etwa zur Erfassung der Eigenschaften von Personen und Wünschen. Daneben verwendet A. die Listen auch, um sich emotional selbst zu regulieren. So etwa, wenn sie in Kapitel 83 (ASW: 98f.) eine Liste anlegt, die ausschließlich 82-mal den Namen ihres Liebhabers ›Gottfried‹ enthält. Ein anderes Mal erstellt A. eine Aufzählung von allem, »was sie stört und was sich noch vor Jahresende ändern sollte« (ASW: 30), und in Kapitel 153 (ASW: 165) eine Liste von möglichen Mordwerkzeugen. Es zeigt sich hier, dass den Listen über ihren praktischen Gebrauchswert als Merkzettel oder Dokumentation von Gedanken und Wünschen hinaus eine sinnstiftende Funktion zukommt. Sie geben A. die Möglichkeit, ihre Gedanken zu organisieren und ihre Affekte zu rationalisieren. Außerdem werden Modi der semantischen Verschiebung deutlich. Nicht nur werden die Listen immer mehr zu einer Obsession der Figur A. und überschreiten auf diese Weise gleichsam den Raum ihrer Anwendung. Darüber hinaus besetzen sie zugleich die Narration, was sich darin zeigt, dass ein wesentlicher Teil der Narration in Aus einer schönen Welt in Listenform verfasst ist und solchermaßen die lose – und damit unverbundene – Aufzählung von A.s Gedanken und Wünschen wiederholt. Die Listen stellen nicht nur ein bedeutendes Denkschema für A. dar, sondern werden so selbst zu einem konstitutiven Erzählschema. Es realisiert sich ein merkwürdiger Stellenwechsel: Die Listen, die A. benutzt, um ihr Handeln möglichst rational (und affektlos) zu gestalten, werden in ihrem geradezu übertriebenen neurotischen Einsatz zu einem Mittel der Entgrenzung, wo sie doch eigentlich der Begrenzung A.s dienen sollen. Die Listen, Signifikanten der Normen, die A.s diegetische Existenz bestimmen, werden ihrerseits zu einer konstitutiven Norm ihrer narrativen Erscheinung. In A.s Listen offenbaren sich zudem immer mehr auch verworfene Identifikationen, denn zunehmend dokumentiert sie mit ihnen ihre Träume, Ängste und geheimsten Wünsche. Solchermaßen geben sie den Blick auf den »Schauplatz der Artikulation« (Hsp: 37) der Normen frei. Die Listen stabilisieren A.s

5. Abhängigkeit von Normen

Selbstdisziplinierung, indem sie eine Möglichkeit zur Affektentladung schaffen, gleichzeitig können sie als eine Spur des Auf begehrens gegen die von ihr affirmierten Normen gelesen werden.

5.2.1.6 Narrative Subversion Eine ähnliche Form der Entgrenzung einer Trope findet sich in den Kapiteln 131 (ASW: 143) und 132 (ASW: 143f.) im Roman Aus einer schönen Welt. Hier kommt es auf der narrativen Ebene zur Katachrese der ›Schlingpflanzen-Allegorie‹, durch welche der Frau die Position einer sich um den Mann schlingenden Efeupflanze zugewiesen wird, wie ich im Folgenden genauer verdeutliche. Bereits die im ersten Kapitel (ASW: 7) des Romans durch die Erzählstimme gewählte Form der Beschreibung des Verhältnisses zwischen A. und ihrem Mann referiert auf das archetypische Bild des heteronormativen Geschlechterverhältnisses, das Johann Heinrich Voß (1795: 152) in seinem Hexameterepos Luise allegorisiert. Hier heißt es über die ›gute Hausfrau‹, dass sie sich als ›fruchtbarer Weinstock‹ um das Haus des Mannes ranken solle: »Sei ihm ein fruchtbarer Weinstock Um sein Haus; Und die Kinder um euren Tisch, wie des Ölbaums Sprösslinge!« (Ebd.).

Sowohl Treue und Fokussierung auf den Willen des Mannes werden in diesem Bild vermittelt wie auch Fruchtbarkeit (vgl. Becker-Cantarino 2010). Diese Allegorie wird im ersten Kapitel von der Erzählstimme aufgerufen, wenn sie A.s hexis beschreibt. Sie berichtet, dass A. »sich auf die Lehne seines [des Mannes] Fernsehsessels« (ASW: 7) setzt. Zuvor hat sie »dem Mann«, wie er zumeist genannt wird, bereits »einige Salzstangen […] neben die Zigaretten auf den Tisch gestellt, damit ihn kein plötzliches Bedürfnis von A. ablenken kann« (ebd.). Allerdings möchte dieser »lieber den Krimi sehen, der in einigen Minuten beginnt. Ferner hat er Kopfschmerzen und keine Lust zu reden (schon gar nicht von der momentanen Ausweitung der A.menge über den A.bedarf)« (ASW: 7).

A. wird hier als den Mann umsorgende Ehefrau dargestellt, welche die Bedürfnisse ihres Gatten erahnt und ihnen zuvorkommt. Einer Schlingpflanze gleich positioniert sie sich an seiner Seite auf der Sessellehne, während er das unverrückbare und uneingeschränkte Zentrum ihrer Bemühungen bildet, indem er den Hauptplatz auf dem Sessel einnimmt. In den Kapiteln 131 und 132 wird die Allegorie der heteronormativen Geschlechterordnung schrittweise dekomponiert und semantisch verschoben.

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Die Erzählstimme fokalisiert A.s Gedanken während einer Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann: »Während A. dem Mann (wieder einmal) sagt, daß sie sich trennen möchte, und der Mann (wieder einmal) erklärt, warum es ihr nicht ernst sein könne, wird A. nicht unabhängig von der Verarbeitung ihrer Wahrnehmung, aber parallel zu ihr, also nicht hinterher, sondern noch während sie und der Mann diskutieren, mit einem Mal bewußt, wie sie die von ihr ausgesprochenen Argumente und die vom Mann angeführten Gegenargumente benennen soll.« (ASW: 142)

Dabei wird deutlich, dass A. die Situation so wahrnimmt, dass sie und ihr Ehemann zwar miteinander sprechen und über ihre Beziehung diskutieren, gleichzeitig dieser jedoch auf die von A. vorgetragenen Punkte nicht nur nicht eingeht, sondern sie quasi aus seiner Realität auslöscht. A. realisiert diese Auslöschung und bringt sie unter der Begrifflichkeit »›Einsame Rede‹« (ASW: 142) zum Ausdruck. Dass die von A. erlebte Auslöschung auch ›real‹ in der Diegese stattfindet, führt die von der Erzählstimme beobachtete unverhohlene körperliche Annäherung des Mannes an A. vor, die stattfindet, obwohl sich jene kurz davor für eine Trennung ausgesprochen hat: »›Einsame Rede‹, flüstert sie, den Mann kurz unterbrechend, und überlegt, sich im Spiegel betrachtend, der Mann steht nun neben ihr und streift sanft über ihren Arm, ob man sich gleichzeitig als Sprechenden und zu sich selbst Sprechenden auffassen kann.« (ASW: 142)

In Kapitel 132 (ASW: 143) werden anschließend die »mögliche[n] Argumente des Mannes« (ASW: 143) durch die Erzählstimme realisiert. »Was ist die Frau ohne den Mann? Nicht einmal einen Witz kann sie so erzählen, daß die Pointe allgemein verständlich ist. Ausbeuten tut sie ihn. Denn eignet sie sich nicht alles an, was er im Laufe des Tages erlebt und verdient hat und ihr am Abend wiedergeben muß?« (ASW: 143)

Es ist nicht eindeutig, wessen Fokalisierung hier vorgenommen wird. Denkbar ist, dass A. die Gedanken des Mannes projiziert. Ebenso ist es möglich, dass die heterodiegetische Erzählstimme einen Kommentar zum Geschehen abgibt. Mit der Fokalisierung wird hypotypotisch vor Augen geführt, mit welchen Argumenten der Mann die offenbar durch A.s Trennungswünsche erschütterte heteronormative Geschlechterordnung sowie seine übergeordnete Position wiedereinsetzen könnte. Dabei verweist die Narration gleichzeitig auf die naturalisierten kulturellen Konzeptionen, auf deren Basis das Geschlechterverhältnis hierarchisiert wird. Durch die narrative Realisierung der »mög-

5. Abhängigkeit von Normen

liche[n] Argumente des Mannes« (ASW: 143) wird in Aus einer schönen Welt die Logik vor Augen geführt, der sie entspringen, und ihre epistemische Verfassung realisiert und kritisierbar gemacht. Mercilee M. Jenkins (1996: 43) stellt die Aussage infrage, dass »Frauen […] gar keine Witze erzählen« können. Vielmehr sei es so, dass diese Annahme spiegele, inwiefern »auch Kommunikationsformen« (ebd.) männlich definiert würden (vgl. Grabner 1999). Des Weiteren stellt sie die Thesen auf, dass »Frauen am lustigsten unter sich« seien und der von ihr als weiblich bezeichnete Humor sich auf »die Erfahrungen von Frauen« (ebd.) beziehe. Sie stellt dar, dass sich männliche und weibliche Muster des Humors beobachten lassen, die in einer Verflechtung mit der Hierarchie der Geschlechter stehen (vgl. ebd.). Der in der Textpassage eingesetzte Begriff der »Ausbeutung« (ASW: 143) verweist auf die fundamental egozentrische Perspektive seitens des Mannes, in welcher die ›Frau‹ als das passive Gefäß seiner Erlebnisse und Verdienste erscheint. Eine solche Sichtweise, durch welche die Gedanken und Gefühle der ›Frau‹ ausgelöscht werden, kann ihren ›Wert‹ (oder den ihrer Witze) überhaupt nicht realisieren. Die Kritik an der Konstruktion eines natürlichen Verhältnisses der Superiorität des Mannes über die Frau wird in diesem Kapitel nicht nur durch explizite Äußerung reflektiert, sondern auch in einer Hypotypose realisiert: »Zweiter Beweisgrund: Schon allein bei dem Gedanken, beim jährlichen Wohltätigkeitsball alleine den hellerleuchteten Saal zu betreten, weil der Mann eine wichtige Sitzung hat und erst später nachkommen wird, gerät sie in Hitzewallungen. (Man bedenke, noch vor der Menopause).« (ASW: 143)

A. nimmt offenbar an bzw. die Erzählstimme impliziert, dass der Mann die Tatsache, dass sich A. davor fürchtet, den Wohltätigkeitsball zu besuchen, ihrer inferioren biologischen Verfassung zuschreiben würde. Durch die hypothetische Fokalisierung seiner Gedanken wird anschaulich gemacht, wie das Konstrukt der ›natürlichen‹ Konstitution der Frau von ihm eingesetzt würde, um sich A.s Verhalten zu erklären. Demgegenüber könnte es ihm eine dekonstruierende Deutung des Vorgangs ermöglichen, die unterschiedlichen sozialen Rollen, die Mann und Frau auf dem Wohltätigkeitsball spielen, in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise wäre es dem Mann möglich, zu erkennen, dass er auf dem Wohltätigkeitsball als Verdiener und materieller Gönner auftritt, seine Frau hingegen die Aufgabe wahrnehmen muss, seine soziale Stellung zu repräsentieren. Dass A. sich selbst als wenig attraktiv einschätzt und Furcht davor hat, den an sie gestellten Erwartungen nicht gerecht zu werden, würde ihm in diesem Zusammenhang weniger durch ihre natürliche Konstitution bedingt erscheinen als durch die soziale Position ihrer Rolle als seiner Ehefrau.

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In den letzten beiden Textabschnitten des 132. Kapitels (ASW: 143) werden schließlich die Annahmen über die weibliche hexis und die ›SchlingpflanzenAllegorie‹ vor den Augen der Leser_innen in ein Zusammenspiel gebracht. Dabei weist die Erzählstimme explizit (und ironisch) auf den metaphorischen Charakter der ›Schlingpflanzen-Allegorie‹ hin: »Das ist doch klar: Die Frau strömt zum Mann, um mit ihm vereint ein Ganzes zu ergeben. […] Und zuletzt einige Metaphern: Die Frau ist der Efeu, der sich um den Mann windet. Ein Schlinggewächs ist sie und der Mann der dicke Stamm. Ein Nebensatz in einer Konfrontationsbeziehung.« (ASW: 143; Herv. sd)

Wurde die Trope der Schlingpflanze im ersten Kapitel des Romans Aus einer schönen Welt zunächst hypotypotisch repräsentiert, wird sie im 132. Kapitel durch die Erzählstimme als Allegorie markiert. Indem der performative Charakter der ›Schlingpflanzen-Allegorie‹ hier vor Augen geführt und explizit ausgewiesen wird, wird ihr ontologischer Status infrage gestellt. Auf diese Weise findet eine subversive Realisierung der Trope statt. Sie wird durch die Erzählstimme als ein Deutungsmuster der männlichen Herrschaft zitiert. Dadurch wird zugleich erzählerisch realisiert, auf welche Weise mit der ›Schlingpflanzen-Allegorie‹ das Geschlechterverhältnis hierarchisch geordnet wird.

5.2.1.7 Zusammenfassung In der Untersuchung zeigt sich, dass der Thematisierung von vergeschlechtlichenden Praktiken in dem Roman Aus einer schönen Welt ein hoher Anteil an Erzählzeit zukommt. Geschlechterverhältnisse werden als einerseits ›natürlich‹ wahrgenommen und andererseits kulturell konstruiert repräsentiert. Die normative Zurichtung weiblicher Körper, die auf gesellschaftlich konstruierte Idealtypen hinstrebt, wird ebenso veranschaulicht wie die Objektivierung von ›Frauen‹ im Zusammenhang mit biopolitischen Erwägungen. Das Motiv der Bewertung, die A. zu Beginn des Romans von ihrem Mann einfordert, wird in dem Roman auf verschiedene Weise durchgespielt. Dabei wird erzählerisch verdeutlicht, inwiefern A.s Körper ein Schauplatz der Aushandlung von Geschlechternormen ist, die biopolitisch motiviert sind. Durch die Narration wird sichtbar gemacht, dass die Bewertung A.s nicht (allein) von außen – also intersubjektiv und/oder gesellschaftlich – vorgenommen wird, sondern sie selbst die Geschlechternormen auch in ihre Psyche wendet. Die affirmative Wiederholung der Körpernormen im Zusammenhang mit exzessiven Körperpraktiken führt dies ebenso vor Augen wie die Schilderung des Selbsthasses, mit dem sie sich, respektive ihrem Körper, begegnet. Ebenso trägt die narrative Konstruktion dazu bei, die ›Natürlichkeit‹ des hierarchischen Geschlechterverhältnisses in Zweifel zu ziehen. So lässt sich in den Einzelanalysen feststellen, dass die poetologische Erzählstrategie in Aus

5. Abhängigkeit von Normen

einer schönen Welt darauf hinausläuft, die performative Verfertigung von ›Natürlichkeit‹ durch die narrative Realisierung der Konstruktion von Geschlecht hypotypotisch vor Augen zu führen. Während die Erzählung den kleinbürgerlichen Alltag von A. in seinem ritualisierten Ablauf darstellt, finden sich auf der Ebene der Narration semantische Verschiebungen, welche eine ungebrochene Wiederholung der Normen behindern. Des Weiteren lässt sich beobachten, dass die in dem Roman beschriebenen Praktiken der Selbstdisziplinierung, wie etwa die in Kapitel 5.2.1.5 analysierten Listen, die A. anfertigt, narrativ entkontextualisiert werden und auf diese Weise zu einem Ausdrucksmittel für A.s Widerstand gegen die heteronormative Geschlechterordnung gerinnen. Die Untersuchung macht auch deutlich, dass die allegorische Wirkung des Bildes der Frau als einer Schlingpflanze bezüglich der Konstruktion des heteronormativen Geschlechterverhältnisses auf narrativer Ebene hypotypotisch dargestellt wird. Die Erzählstimme unterläuft hier die natürliche Einsetzung des Geschlechterverhältnisses, indem sie eine Dekomposition der Entsprechung zwischen Trope und hexis vornimmt.

5.2.2 Überangepasste Idealtypen In dem Roman Die Bestandsaufnahme wird im Unterschied zu allen anderen Romanen Lustigers von Figuren erzählt, die sich mit dem Nationalsozialismus identifizieren und ihren Habitus an seiner Ideologie ausrichten. Bei der Untersuchung des Romans im Zusammenhang mit der Frage nach der Darstellung der Abhängigkeit von Geschlechternormen soll daher die Analyse von Geschlecht in ihrer narrativen Verknüpfung mit nationalsozialistischen Normen im Vordergrund stehen. Besonders auffällig zeigt sich diese Verflechtung in den narrativen Repräsentationen von nationalsozialistischer Mütterlichkeit und Väterlichkeit, wie ich im Folgenden verdeutliche.

5.2.2.1 Mütterliche Weiblichkeit Im Gegensatz zum Idealtypus der »sportiven« (Rose 1997: 127) Frau, dem A. sich in Aus einer schönen Welt annähern möchte, ist Weiblichkeit in Die Bestandsaufnahme mit mütterlichen Idealen, deutscher Zugehörigkeit sowie physischer und psychischer Gesundheit konnotiert. Im Folgenden gehe ich auf zwei Darstellungen von mütterlicher Weiblichkeit in Die Bestandsaufnahme genauer ein und zeige dabei, auf welche Weise das nationalsozialistische Weiblichkeitsideal in dem Roman veranschaulicht wird.

5.2.2.1.1 Die Figur der nationalsozialistischen Mutter Im Kapitel 24 (»Drei Taschenmesser«, BEST: 232f.) findet sich ein Brief von Helga Pfeifer, in dem sie um drei Taschenmesser aus dem Beschlagnahmefundus der »Ghettoverwaltung« (BEST: 232) bittet. Mit dem Brief liegt eine

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längere Fokalisierung der Figur vor, die zeigt, inwiefern in Die Bestandsaufnahme Geschlecht und nationalsozialistische Ideologie in einem Modus der Überangepasstheit miteinander zusammengebracht werden. Von der Figur Helga Pfeifer wird in mehreren Kapiteln des Romans erzählt. Charakteristisch ist für die Figur, wie die Mitteilung der Erzählstimme im Kapitel »Der Reigen« (BEST: 109-119) deutlich macht, dass die Figur, ihrem Nachnahmen (pfeifen – verpfeifen) gerecht werdend, daran beteiligt ist, den homosexuell orientierten Nachbarn bei den örtlichen Behörden zu melden. Zu Beginn des Briefes wird von Helga Pfeifer dargelegt, dass sie sich als »Hausfrau und Mutter von vier strammen Buben« sieht, die sie »für Führer, Volk und Vaterland in der rechten Haltung, will heißen: streng deutsch, zu erziehen« (BEST: 232) bemüht ist. Offensichtlich aus Gründen der Anerkennung als ein Subjekt, das die im Folgenden geforderten drei Taschenmesser legitim beanspruchen kann, weist sie anschließend ihre in den Dienst nationalsozialistischer Institutionen gestellte Mütterlichkeit nach. So zählt Pfeifer NSDAP-Mitgliedschaft, Ehe, ehrenamtliche Arbeit beim Reichsmütterdienst sowie Verleihung des bronzenen Mutterkreuzes als ihre Verdienste auf. Der Brief ist außerdem mit einer Anhäufung nationalsozialistischer Versatzstücke, wie »Führer, Volk und Vaterland«, »hohen Pflichten der Mutterschaft«, »Altreich« oder in direkter zitierter Form »›von der Notwendigkeit des Kinderreichtums für die ewige Sicherung des gewaltigen Werkes des Führers‹«9 (BEST: 232) versehen. Die Erzählstimme macht deutlich, wie Helga Pfeifer sich als ein Subjekt präsentiert, das einen legitimen Anspruch auf die eingezogenen Gegenstände hat, indem sie sich versiert der rhetorischen Formeln der Macht bedient. Der abschließende Gruß: »Heil Hitler! Ihre Helga Pfeifer« (BEST: 233) stellt demonstrativ Verbundenheit mit den Adressat_innen ihres Briefes her. Auffällig ist der gehäufte Einsatz nationalsozialistischer Rhetorik, welcher darauf hindeutet, dass der Verfasserin wohl bewusst ist, dass die beanspruchten Gegenstände aus Beschlagnahmungen Verfolgter des Nazi-Regimes stammen. Indem sie ihrem Gegenüber ihre Zugehörigkeit zur herrschenden Gruppe ostentativ versichert, bringt sie sich als Komplizin der Macht ins Spiel. Darüber hinaus zeichnet sich der Brief durch einen unterwürfigen Subtext aus, welcher den nachrangigen Status des mütterlichen Anliegens von vornherein mit einbezieht. Helga Pfeifer reflektiert in ihrer Bitte bereits, dass der Anspruch ihres Anliegens durch die Rationalität der herrschenden Macht begrenzt ist. Sie formuliert ihre Bitte

9 | Das Zitat wird folgendermaßen eingeführt: »oder wie es unser Kreispropagandaleiter Strammerle in der monatlichen Müttersitzung so schön ausgedrückt hat, ›von der Notwendigkeit des Kinderreichtums für die ewige Sicherung des gewaltigen Werkes des Führers‹« (BEST: 232).

5. Abhängigkeit von Normen »unter der Voraussetzung natürlich, daß solche Gegenstände von den verantwortlichen Behörden für wert erachtet worden sind, eingezogen zu werden« (BEST: 233).

Gegen die Nichtigkeit der Bitte lässt sich für Helga Pfeifer offenbar ihre mütterliche Position als bedeutungsvoll zum Einsatz bringen. Aus der Problematik, dass »es zur Zeit nicht möglich ist, im Altreich preisgünstige Qualitätsprodukte zu erwerben« (BEST: 233), entwickelt sie das Argument, dass es für den Auf bau des Nationalsozialismus gewinnbringender sei, könnte sie ihre Nachmittage dem Reichsmütterdienst zur Verfügung stellen und nicht der weiteren Suche nach Taschenmessern. Es zeichnet sich ab, dass sich Helga Pfeifer in ihrem Brief bei der Repräsentation ihres Subjektstatus vor allem auf ihre Weiblichkeit und hierbei auf Mütterlichkeit und mütterliches Verhalten beziehen kann, um ›erfolgreich‹ in der nationalsozialistischen Gesellschaft agieren zu können.

5.2.2.1.2 Die Figur des nationalsozialistischen ›Mädchens‹ In anderer Weise werden Identitätselemente nationalsozialistischer Mutterschaft in Kapitel 24 (»Die goldene Halskette«, BEST: 234-244) des Romans eingebunden. Die adoleszente10 Schülerin Marianne Brackmann geht hier im Glauben an den gesellschaftlichen Status als Mutter, der ihr symbolisch mit einer goldenen Halskette versprochen wird, Geschlechtsverkehr mit Helga Pfeifers Sohn Ludwig ein. Wenig später ist sie von dem bereits zum Kriegsdienst eingezogenen, ebenfalls noch jugendlichen Ludwig schwanger. Die interne Fokalisierung der Figur stellt die Naivität ihrer in weiten Teilen auf der Grundlage von Schlagworten und Gemeinplätzen konstruierten Deutungsmodelle ins Zentrum der Darstellung. Diese wirkt vor allem im Kontrast mit Ludwig Pfeifers Fokalisierung, welche sein akkurates Raum- und Zeitmanagement, das den sexuellen Akt begleitet, offenbart, geradezu einfältig. Marianne denkt: »Nun war sie wer. Hatte auch sie einen Mann, um den sie sich Sorgen machen konnte – er zog ja in den Krieg – und dem sie, wie alle Frauen, Kuchen mitbringen würde, weil man beim Militär nicht genug aß. Gerührt würde sie ihn anblicken, während er ihn verschlang, Das war das beste Kompliment, das man einem Kuchen machen konnte.« (BEST: 238)

Zeitgleich macht sich Ludwig darüber Gedanken, dass er »nun Dampf machen müsse[…], wenn er den Kegelabend nicht verpassen wollte« (BEST: 237). Die 10 | Gerade in der Zeit der Transgression des Kindes in die Erwachsenenwelt konstruiert sich die Identität des Subjekts in einer vergleichsweise offenen Weise. Identitätselemente werden ausprobiert, mit Lebensentwürfen wird experimentiert und sexuelle Präferenzen werden ausgelotet (vgl. Flaake 2001; King 2002).

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Erzählstimme berichtet einerseits von Mariannes romantisierenden Vorstellungen während des sexuellen Akts: »Jetzt bin ich seine Frau […]. Sie berührte das Herz. Sollte er fallen, würde sie es als ewiges Andenken an diesen Tag aufbewahren. Auch dem Kind würde sie es zeigen, das sie nun vielleicht gerade zeugten.« (BEST: 240)

Andererseits wird auf die Impulse ihrer Abwehr gegen den Geschlechtsverkehr hingewiesen. In den vergleichenden Ellipsen drückt sich Mariannes insgeheimer Widerwillen gegen Ludwig aus: »Wie ein Schwein, dachte Marianne« (BEST: 239), und: »Wie ein wildgewordener Hund, dachte sie« (BEST: 240). Marianne geht diesen Impulsen jedoch nicht nach. Es schält sich heraus, dass sie diese nicht als ernst zu nehmende Vorbehalte wahrnimmt. Das Zurückdrängen der eigenen Gefühle spiegelt sich in ihrer Fokalisierung wider, in der Marianne die aufkommende Angst durch einen Gemeinplatz ausblendet: »Selbst, wenn es weh tut, dachte sie, ist es nicht weiter schlimm. Dann hab ich es endlich hinter mir.« (BEST: 239) Indem die Erzählstimme auch die Zukunftspläne beschreibt, die Marianne im Zusammenhang mit dem Geschlechtsverkehr entwirft, führt sie das Verlangen nach Teilhabe an Mütterlichkeit als gesellschaftlich anerkannter Form der Ausprägung weiblicher Geschlechtsidentität, welche zugleich zur Verfügung stehende Handlungsoptionen ordnet, hypotypotisch vor Augen. Die Erzählstimme berichtet, wie Marianne, als Ludwig sie an einen verlassenen Ort führt, die Situation als unabwendbar deutet und sich nahezu schicksalhaft in die ihr, wie sie meint, zugedachte Rolle fügt: »Jetzt nimmt er mich den Pfad hinauf, dachte Marianne, damit er’s noch einmal probieren kann. Da oben ist nie jemand, jetzt muss ich ihn lassen. In der Klasse haben sie alle schon, und Erna hat auch schon, und jetzt muß ich auch.« (BEST: 238)

Die Analyse macht deutlich, dass Marianne die Situation innerhalb des Ereignishorizontes eines unausweichlichen ›ersten Mals‹ interpretiert. In der Darstellung der Figur Marianne Brackmann wird eine extreme Angepasstheit an das nationalsozialistische Ideal der mütterlichen Frau sichtbar gemacht. Die Fokalisierung verdeutlicht, dass Marianne ihren Gefühlen und Einstellungen kaum Wert zumisst, weil sie ihr Handeln in einem größeren Zusammenhang (»alle [haben] schon und jetzt muss ich auch« [BEST: 238]) verortet.

5.2.2.1.3 Zusammenfassung In Die Bestandsaufnahme wird in einigen narrativen Repräsentationen der weiblichen Figuren veranschaulicht, wie gesellschaftliche Erzählungen, Erzählformen und -elemente – hier nationalsozialistische Erzählungen von Mutter-

5. Abhängigkeit von Normen

schaft – als Versatzstücke weiblicher Identität eingesetzt werden und als solche individuelle Handlungsmacht generieren oder durchkreuzen. In der narrativen Darstellung werden Erzählsegmente nationalsozialistischer Weiblichkeit und Mütterlichkeit in auffälliger Weise konzentriert. Sowohl Helga Pfeifer als auch Marianne Brackmann üben keinen Widerstand gegen die heteronormativen Geschlechternormen und die Reduktion des Wertes der Frau auf ihre gesellschaftliche Funktion als Mutter aus. Die Angepasstheit an die nationalsozialistischen Weiblichkeitsideale wird jedoch nicht ungebrochen reproduziert. Zumindest in Marianne Brackmanns Fokalisierung finden sich Spuren eines vorreflexiven Widerstands gegen die Verwertung als nationalsozialistisches Reproduktionsobjekt, wenn sie den aufgezwungenen Geschlechtsakt ambivalent kommentiert.

5.2.2.2 Superiore Männlichkeit Wie in Kapitel 24 (»Drei Taschenmesser«, BEST: 232f.) des Romans Die Bestandsaufnahme liegt die Narration in Kapitel 27 (»Die Perlenkette«, BEST: 259-268) in Form eines Briefes vor. Aus dem vorletzten Kapitel des Romans »Schlußrechnung« (BEST: 325-333) wird ersichtlich, dass es sich beim Verfasser des Briefes um den SS-Mann Neunzlinger handelt. In dem Brief richtet sich Neunzlinger vornehmlich an seine Kinder Thomas und Nette sowie indirekt über die Formulierung »Mutti« (BEST: 265) an seine Frau. Der sorgsam verfasste Brief offenbart zum einen Empathie und Unrechtsbewusstsein des Vaters. Neunzlinger wird von der Erzählstimme zunächst als besorgter Vater dargestellt (»Meine kleine Nette, zieht dich der böse Junge an den Zöpfen?« [BEST: 259]), der Heim und Familie vor der gesellschaftlichen Außenwelt repräsentiert und beschützt. Zum anderen weist der Brief Neunzlinger als skrupellosen Opportunisten aus, wenn er seinen Alltag beschreibt und dabei Büroarbeit und Erschießungen unterschiedslos aneinanderreiht. In direkter Ansprache an seine Frau macht er allerdings die Einschränkung: »Keine Sorge, Mutti, der Vati geht nicht oft in den Wald und schießt nur, wenn es wirklich sein muss« (BEST: 265). Die Äußerungen Neunzlingers weisen ihn als einen Kriegsteilnehmer – seine Zugehörigkeit zu SS oder Wehrmacht wird nicht geklärt – aus, der an der Erschießung von wehrlosen Zivilisten beteiligt ist. Die Tötungsaufgaben verlieren in den Umschreibungen »Prüfung« (BEST: 266), »schwere Zeiten«, »hart im Nehmen« sowie »Sache der Gewöhnung« (BEST: 267) ihren unmenschlichen Charakter. Durch diese narrativen Einlassungen wird deutlich, wie Neunzlinger die von ihm als ›schwer‹ empfundenen Aufgaben rationalisiert, indem er sie durch die Rahmung des Außergewöhnlichen legitimiert:

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Poetologie des postsouveränen Subjekts »Ich kann dazu nur sagen, dass man in diesen schweren Zeiten Männer braucht, die hart im Nehmen sind und keine Muttersöhnchen, wie Heinzchen Schröder einer ist.« (BEST: 267; Herv. sd)

Mehr noch: Durch die gewählten Begriffe wird implizit ein übergeordneter Zusammenhang initiiert, in welchem die ausgeübten Tätigkeiten durch eine heilsgeschichtliche Erzählung gerahmt werden. Die Erschießung von wehrlosen Frauen, Männern und Kindern ist hier nur eine Randerscheinung, welcher mit der euphemistischen Bezeichnung »abfertigen« (BEST: 267) der Charakter eines vorübergehenden Übels verliehen wird. Davon zeugt auch die Überlegung Neunzlingers, dass, wenn er aus dem Krieg heimkehrt, »alles wie früher, nur noch schöner« (BEST: 266) sein wird. Gefühlskälte, Mitleidslosigkeit und Brutalität werden in seinem Brief zu Attributen starker Männlichkeit und zeichnen den moralisch Besten aus (»Nur wer sich selbst in der Zucht hat, kann über andere urteilen und herrschen!« [BEST: 266]). Der Nachsatz: »Sonst würde hier nichts funktionieren« (BEST: 267) verbietet jede Frage nach der Legitimität seiner mörderischen Aktivitäten. Gleichzeitig wird vor Augen geführt, inwiefern die ›Schwere‹ der Aufgabe zur Stärkung seiner soldatischen Männlichkeit beiträgt. In Neunzlingers Brief wird Männlichkeit als eine repräsentiert, die sich einerseits durch Härte und »eiserne Disziplin« (BEST: 265), andererseits aber auch durch Opportunismus auszeichnet (vgl. Dietrich/Heinz 2013). Die Leser_innen erfahren etwa, dass Neunzlinger, statt regelmäßig mit seinem Vorgesetzten am Abend »Schnaps« (BEST: 264) zu trinken, »viel lieber mit Dieter eine ruhige Kugel schieben« (BEST: 264) würde. Aber, so wird mitgeteilt: »Der Chef kegelt nicht so gerne, und so muß ich es auch lassen« (BEST: 265). Die Beteiligung am Krieg wird laut Erzählstimme von Neunzlinger als ein Karriereweg interpretiert, der sozialen Status und eine gute Versorgung der Familie gleichermaßen mit sich bringt: »Ich komme dann mit meinem zusätzlichen Abzeichen nach Hause und ziehe die Uniform am Weihnachtsmorgen an, und dann gehen wir alle zusammen spazieren, und die Nachbarn sollen schön glotzen und staunen.« (BEST: 264)

Die durch die opportunistische Tötungsarbeit gewonnenen Abzeichen und damit verbundenen Beförderungen steigern in den Augen Neunzlingers nicht nur seinen eigenen Wert, sondern auch den seiner Familie. Dabei scheint der Wert der Familie für ihn abgelöst von den grausamen Taten als unumstößliches Indiz seiner gelungenen Männlichkeit zu existieren.11 11 | Achille Mbembe (2015: 79; Herv. i. O.) schildert den Vorgang der Erhöhung des eigenen Selbst durch die Entmenschlichung eines Anderen anschaulich im Zusammen-

5. Abhängigkeit von Normen

In seinem Brief stellt sich Neunzlinger als Vater und höchstgestelltes Mitglied der Familie dar. So erhebt er als abwesendes Familienmitglied Anspruch darauf, darüber zu bestimmen, welche Blumen im Garten der Familie gesät werden dürfen: »Ich bin mit den Bartnelken nicht einverstanden, auch nicht mit dem Tränenden Herz« (BEST: 266), und gibt der Frau und den Kindern Aufträge (vgl. BEST: 266f.). Damit verknüpft realisiert sich textuell ein patriarchales Geschlechterverhältnis auf symbolischer Ebene, wenn der Vater dem Sohn »offiziell« die Aufgabe übergibt, »einen Weihnachtsbaum auszusuchen, der […] [ihrer] Familie würdig ist« (BEST: 267). Die Einsetzung eines männlichen Stellvertreters sowie der nachgesetzte Imperativ »Verstanden!« (BEST: 267) halten performativ seine Position als Familienoberhaupt und die hierarchische Geschlechterordnung aufrecht (vgl. dazu auch Thürmer-Rohr 1987). In Neunzlingers Fokalisierung lässt sich somit ebenfalls eine Konzentration der Verweise auf das traditionelle Gepräge nationalsozialistischer Geschlechterbilder feststellen. Während Neunzlinger im Krieg dient, sich um die äußere Gestaltung des Hauses kümmert und die Aufgaben im Haus verteilt, dient seine Ehefrau als Mutter untergeordnet im Haus und führt die ihr von ihm zugewiesenen Aufgaben aus (vgl. Bendel 2007).

5.2.2.3 Überanpassung als Strategie literarischer Realisierung Das Weiblichkeitsbild der ›Mutter‹ und das Männlichkeitsideal des ›Soldaten‹ organisieren in den untersuchten Textpassagen aus Die Bestandsaufnahme, die von nationalsozialistisch eingestellten Figuren handeln, die gesellschaftliche Ordnung und weisen darin Frauen und Männern ihre Plätze zu. Es lässt sich dabei eine idealtypische Reproduktion nationalsozialistischer Geschlechterbilder feststellen (vgl. Dietrich/Heise 2013). Die betrachteten Figuren zeichnen sich durch eine auffällige – an einigen Textstellen im Lichte neuerer Forschungsarbeiten durchaus übermäßig erscheinende – Angepasstheit an vorgegebene Rollenbilder aus (vgl. dazu Frietsch 2006; Frietsch/Herkommer 2009). Vor dem Hintergrund, dass die übertriebene Angepaßtheit an den Befehl […] den übertriebenen Status der Norm selbst offenbaren [kann]« (KvG: 325), interpretiere ich die narrative Markierung der Angepasstheit und Vereindeutigung von vergeschlechtlichter Identität durch die rhetorische Form der Übertreibung als eine narrative Strategie der Realisierung. Indem die Erzählstimme in Die Bestandsaufnahme die Anpassung der Figuren an das mütterhang mit der Reproduktion rassistischer Unterschiede: »Vor allem der ›kleine Weiße‹ konnte das Gefühl haben, ein Mensch zu sein, wenn er die Unterschiede zwischen ihm und dem […] [N-Wort] kultivierte. Das rassistische Subjekt sieht das eigene Menschsein nicht in dem, was es mit den anderen gleich macht, sondern in dem, was es von ihnen unterscheidet«.

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liche Ideal einerseits und das soldatische Ideal andererseits übertreibt, können zum einen die geschlechtsstereotype Zurichtung der Individuen als biopolitische Strategie des Nationalsozialismus und zum anderen die gesellschaftliche Konstitution geschlechtlicher Normen sichtbar werden. Damit verbunden ist die Vorführung der naturalisierten Geschlechterhierarchie, welche dem Mann einen der Frau übergeordneten Status zuweist (vgl. dazu Bruns 2015).

5.2.2.4 Zusammenfassung Im Roman Die Bestandsaufnahme wird veranschaulicht, auf welche Weise die Subjekte durch die Geschlechternormen gesellschaftlich positioniert werden. Mutterschaft wird von Helga Pfeifer als Beleg für ein legitimes Anrecht auf die erbeuteten Wertgegenstände eingesetzt sowie von Marianne Brackmann als Ausdruck natürlicher Weiblichkeit angestrebt. Die »soldatische Männlichkeit als hegemoniale Männlichkeit im Nationalsozialismus« (Dietrich/Heise 2013: 8) verschafft Neunzlinger gesellschaftliche Anerkennung und legitimiert seinen Status als Familienoberhaupt. Die Analyse zeigt, dass die untersuchten Fokalisierungen das rhetorische Mittel der Hypotypose in Einsatz bringen und dabei vor Augen führen, in welchen Weisen gesellschaftlicher Diskurs und Subjektidentität im Hinblick auf Geschlecht interferieren. Dazu werden spezifische Weiblichkeits- und Männlichkeitsbilder des Nationalsozialismus narrativ aufgerufen (vgl. dazu auch Frietsch 2006; Hopster 1986).

5.2.3 Anders ›weiblich‹ sein In der Erzählung des Romans Woran denkst du jetzt spielt Geschlecht an vielen Stellen des Textes eine implizite Rolle, an einigen Stellen wird von den Erzählstimmen auf Geschlecht auch als strukturierende Kategorie reflektiert. Charakteristisch für den Roman ist seine differenzierte Darstellung von Weiblichkeit. Deshalb betrachte ich im Folgenden vor allem die Textstellen, in denen Weiblichkeit aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird, um daran nachzuvollziehen, wie Weiblichkeit mit neuen Deutungsangeboten angereichert wird.

5.2.3.1 Partiale Perspektiven auf das weibliche ›Ich‹ Grundlegend für die Darstellung von Geschlecht ist in Woran denkst du jetzt die besondere Erzählstruktur, die sich von den anderen Romanen Lustigers abhebt. Die Narration wird hier durch die ausschließliche Fokalisierung zweier weiblicher Figuren variabel realisiert, die nahezu einen gleichen Anteil an der Erzählzeit innehaben. In insgesamt elf Kapiteln changiert die Erzählung zwischen den internen Perspektiven der zwei Schwestern Lisa und Tanja. Die Erzählung beginnt mit einem Kapitel zu Lisas Erfahrungen und Erinnerungen und wechselt anschließend kapitelweise zwischen Lisas und Tanjas Sicht auf

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die diegetische Welt. Den Abschluss der Erzählung bildet wieder Lisas Betrachtung. Die Sichtweisen der beiden weiblichen Figuren werden in abgeschlossenen Erzählsegmenten präsentiert. In den Kapiteln, die mit ›Lisa‹ überschrieben sind, berichtet die heterodiegetische Erzählstimme intern fokalisiert von Lisas Gedanken und Erinnerungen. So heißt es im ersten Kapitel, das Lisa zugeordnet ist: »Es dauerte noch eine Weile, bis sie endlich Schritte auf der Treppe vernahm. Na endlich, dachte sie und blickte in Erwartung der Silhouette Tanjas zur Türe hin und in den dunklen Flur. Sie lauschte gespannt, hörte das Geräusch, das Tanjas Absätze auf dem Parkettboden der Diele machten. Einen kurzen Augenblick wurde es still, und sogleich überlegte sie, was Tanja jetzt machte, warum sie im dunklen Flur stand, ob sie nachdachte, ob sie weinte, aber dann hörte sie, wie ihre Schwester die Schranktür öffnete.« (WDDJ: 28)

In mit ›Tanja‹ überschriebenen Kapiteln steht Tanjas innere Welt im Zentrum der heterodiegetischen Erzählstimme und Lisa wird dahingehend in der Narration vernachlässigt. Beide Figuren sind gegenüber allen anderen Figuren in Woran denkst du jetzt in privilegierte Erzählpositionen versetzt. Die heterodiegetische Erzählstimme kommentiert ihre Erzählungen nicht aus einer allwissenden oder beglaubigenden Perspektive, sondern ergänzt diese nur: »›UND? IST SIE endlich eingeschlafen?‹ Tanja nickte. ›Hast du ihr die Schlaftablette gegeben?‹ ›Jawohl.‹ ›Und was hat sie dir gesagt?‹ ›Nichts.‹ ›Wie nichts?‹, fragte Lisa verblüfft. ›Wir haben nicht gesprochen‹, erwiderte Tanja und setzte sich an den Küchentisch. ›Wie? Kein einziges Wort?‹ Tanja schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, was ihre Schwester nun wollte, und sie wusste auch, dass sie es ihr nicht geben würde. Sie würde sich nun nicht über ihre Mutter unterhalten.« (WDDJ: 29; Herv. i. O.)

Zum Vergleich: Während etwa in Aus einer schönen Welt die Erzählperspektive A.s beständig durch eine heterodiegetische und damit übergeordnete Erzählinstanz kontextuell ergänzt wird, kontrastieren sich die Gedanken der Schwestern in Woran denkst du jetzt auf der narrativen Ebene allein durch die Erzählperspektive der jeweils anderen Schwester. Tanjas und Lisas Überlegungen werden nicht vervollständigt oder durch die Ergänzungen der Erzählstimme delegitimiert, wie es in Aus einer schönen Welt geschieht. Ihre weibliche Geschlechtsperformanz wird nicht durch die Erzählstimme unterlaufen. Die Erzählstrategie läuft in Woran denkst du jetzt auf die Kombination von partialen retrospektiv teleologischen Erzählungen zweier Figuren hinaus, die sich in der Form von Selbstauskünften konstituieren. Weil die Perspektiven der Schwestern in jedem Kapitel wechseln, werden »identitätskonstituierende[…] Interaktionsgeflechte« (Schütze 1984: 79) sichtbar, welche verdeutlichen,

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in welcher Weise Lisa und Tanja sich selbst und die jeweils andere wahrnehmen und beurteilen: »Sie sagte das, um Lisa zu irritieren. Nicht, weil sie es auf einen Streit abgesehen hatte. Das nicht. Aber sie fühlte sich seit einer Stunde wie im Ring. Wie Lisa sie schon anschaute. Wie sie mit diesen besorgten Augen um sie herumtänzelte und eine Lücke in ihrer Deckung suchte.« (WDDJ: 42)

Die Konstruktion der Erzählsegmente als Selbstauskünfte führt hier die »Heterogenität und Flexibilität von Selbsterfahrungen und -präsentationen« (Lucius-Hoehne/Deppermann 2004: 181) vor Augen. Insbesondere die narrative Erzeugung von Geschlecht kommt in den Blick, indem die habituelle Inkorporierung von Geschlecht und ihre ständige performative Reproduktion erfassbar werden. Weil mit dem Text Woran denkst du jetzt kein autobiografischer Text vorliegt, sondern vielmehr eine fiktionale autobiografische Erzählung, berücksichtige ich bei der Analyse, dass von der Fokalisierung verwendete Sinnstrukturen und Bewältigungsformen von der Erzählstimme ausgewählt wurden und hier in exemplarischen Lebenswelten und einem besonderen Erzählzusammenhang in ihrer Wirkmächtigkeit (neu) dargestellt werden.

5.2.3.2 Verschiedene Entwürfe von Weiblichkeit In Woran denkst du jetzt werden unterschiedliche Weisen, ›Weiblichkeit‹ zu leben, dargestellt und teilweise auch von den Figuren diskutiert. Im Folgenden rekonstruiere ich die Dynamiken, die sich zwischen den verschiedenen Figuren entwickeln, und beschreibe dabei die unterschiedlichen Perspektiven, die auf Weiblichkeit geworfen werden. Vor allem die Beziehung zwischen Lisa und Tanja kommt in dem Roman in den Blick, weil in den internen Fokalisierungen Erinnerungen, Bilder und Projektionen der jeweils anderen Schwester präsentiert werden. Dabei fällt auf, dass sich Tanja im Zusammenhang mit dem Verhältnis zu ihrer Schwester hauptsächlich damit beschäftigt, was Lisa über sie denkt: »Und sie, Tanja, wusste, was Lisa nun dachte. Sie dachte, alle außer natürlich du. Du bist die große Ausnahme. Du bist diejenige mit dem makellosen Leben.« (WDDJ: 83)

Lisa reflektiert dagegen stärker auf ihre eigenen Projektionen. So wird sie etwa mit der Feststellung fokalisiert, dass sie sich »mit ihren Forderungen selber auf die Nerven« geht: »Seit Jahren schon die gleiche Geschichte. Sie und Tanjas Zurückhaltung, sie und Tanjas Abwesenheit, sie und ihre Kränkung darüber, nur noch Nummer zwei, drei oder gar vier zu sein.« (WDDJ: 81)

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In Lisas Fokalisierung finden sich Selbstkonzeptualisierungen, die in direkter Bezugnahme auf Tanja und in Abgrenzung zu ihr entworfen werden. So denkt Lisa etwa: »Tanja hatte immer noch diese jugendliche Ausstrahlung. Selbst das strenge Kostüm, ihre Arbeitskluft, die sie nun anhatte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich etwas bewahrt hatte, was ihr, Lisa verloren gegangen war.« (WDDJ: 63)

Es kristallisiert sich heraus, dass Lisa zu Beginn der Erzählung noch immer im Schatten ihrer Schwester lebt, den sie seit ihrer Jugend auf sich geworfen sieht. Die Reflexionen der Schwestern geben den Blick auf die Normierungen frei, durch die ein »makelloses« (WDDJ: 83) weibliches Leben in ihren Augen offenbar gekennzeichnet ist. So misst Tanja sich selbst an den Erwartungen an ein »perfekt[es]« (WDDJ: 83) Leben, von denen sie annimmt, dass Lisa diese auf sie projiziert: »Die sich ihr Leben perfekt eingerichtet hat, die nichts in die Knie kriegen kann, die Vorsorge für alle Not- und Wechselfälle getroffen hat. Du bist seine Nachfolgerin. Sportlich, gebildet, eine gute Mutter. Du bist mit einem erfolgreichen Mann verheiratet, überziehst nie dein Bankkonto, hast nirgends Schulden, kommst nie zu spät, trinkst nie über den Durst.« (WDDJ: 83)

Als wesentliche Punkte eines gelingenden weiblichen Lebensentwurfs tauchen in dieser gespiegelten Selbstbeschreibung Tanjas sowohl gesellschaftliche Anrufungen an eine größtmögliche Autonomie der Subjekte auf, die sich in der »Vorsorge für Not- und Wechselfälle« (WDDJ: 83) ebenso ausdrückt wie in der Anrufung, sich an geltende Gesetze zu halten und hegemoniale Konzepte der Selbstführung einzulösen. Daneben reflektiert die Figur vergeschlechtlichende Anrufungen, die ausschließlich heteronormativ gerahmt sind. So stützt sich Tanjas Eindruck, dass Lisa glaubt, sie führe ein »makellose[s] […] Leben« (WDDJ: 83), auch auf die Punkte, dass sie »eine gute Mutter« (WDDJ: 83) und mit einem »erfolgreichen Mann verheiratet« (WDDJ: 83) sei. Gleichwohl werden diese Normierungen an mehreren Stellen des Textes infrage gestellt. Es zeigt sich etwa, dass Lisa gewichtige Kritik an Tanjas Ehemann übt, sie diesen also zwar als »erfolgreich« (WDDJ: 83) wahrnimmt, gleichzeitig aber für oberflächlich und selbstbezogen hält (WDDJ: 88f.). Vor den Augen der Leser_innen ebenso wie vor den Augen von Tanjas Schwester Lisa entpuppt sich Tanjas Leben im Verlauf der Handlung als weniger perfekt als von Lisa – nach Tanjas Aussage – angenommen. Tanja teilt ihrer Schwester beispielsweise mit, dass sie trotz ihres sehr guten Hochschul-

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abschlusses von einer renommierten Universität im Ausland abends am Badewannenrand sitzt und Tierstimmen für ihre Tochter imitiert oder nachts Bettlaken wäscht, weil das Kind wieder begonnen hat, einzunässen. Die Leser_innen erfahren darüber hinaus, dass Tanja eine Affäre mit einem anderen Mann eingegangen ist. Nach dem Tod ihres Onkels kommen Lisa und Tanja miteinander ins Gespräch und reflektieren ihre Erwartungen aneinander, was dazu beiträgt, dass sie die alten Konfliktlinien befrieden können. In der gemeinsamen Sorge um die Bestattung des Onkels und die Mutter kommen sich die Schwestern auf eine neue Weise näher: »Sie war so müde, so erschöpft […]. Das Einzige, was sie noch zuwege bringen konnte, wäre, hier sitzen bleiben, die Oreo-Packung aufessen und auf die kleinen Striche im Notizbuch ihrer Schwester blicken, die jedes einzelne furchtbare Wort, das sie notiert hatte, einleiteten. Strich Totenschein, Strich Postamt abmelden, Strich Sarg … ›Ich würde jetzt gerne einen Joint rauchen.‹ Sie blickte zu Tanja herüber. ›Du würdest was?‹ ›Ich würde jetzt gerne in den Garten gehen und mit dir einen Joint rauchen. Hast du was dabei?‹ ›Ich habe immer was dabei‹, sagte Lisa. ›Aber du einen Joint?‹« (WDDJ: 105)

In dieser Textstelle wird deutlich, dass Lisa und Tanja nach dem Tod des Onkels alle anfallenden organisatorischen Aufgaben in die Hand nehmen. Nachdem von beiden Schwestern bekannt ist, dass sie gut bezahlten und verantwortungsvollen Berufstätigkeiten nachgehen und Sorge für andere Personen oder Projekte auch außerhalb der Familie und des Haushaltes übernehmen, erscheint es selbstverständlich, dass sie sich nun um die Beerdigung des Onkels und die trauernde Mutter sorgen. Die Erzählstimme weist auf Lisas und Tanjas Einsatz nicht explizit hin. Im Vergleich zur Figur A. in dem Roman Aus einer schönen Welt fällt auf, dass die Schwestern zwar unterschiedliche Weisen gewählt haben, Weiblichkeit zu leben. Diese Entwürfe gehen aber beide weit über die Grenzen der Hausfrauenexistenz von A. hinaus. Lisa und Tanja sind weitaus handlungsfähiger im Hinblick auf gesellschaftliche Anforderungen. Die Erzählstimme erkennt ihre Lebensformen trotz ihrer Unterschiedlichkeit an und wertet keine von beiden ab. Auf diese Weise wird weibliche Geschlechtsperformanz in Woran denkst du jetzt um weitere legitime Elemente erweitert, wie ein gut bezahlter Beruf, beruflicher Erfolg, Unabhängigkeit vom Ehemann bzw. Single-Dasein und Kinderlosigkeit.

5.2.3.3 Ver worfener Weiblichkeitsentwurf Zwei unterschiedliche Weisen, Weiblichkeit zu leben, treffen auch in der Darstellung der Figuren Anne, der Frau von Onkel Paul, und Christa, der Mutter von Tanja und Lisa, aufeinander. In der Darstellung der Reflexionen der

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beiden Schwestern über diese Lebensentwürfe werden Grenzen weiblicher Geschlechtsperformanz deutlich, wie ich im Folgenden deutlich mache. Über Anne denkt Tanja: »Schätzchen, hätte sie sagen können, du die Hauptrolle? Mit deinen roten Augen und deiner roten Nase! Du mit deinem Kaninchengesicht und deinen blonden Strähnen!« (WDDJ: 238)

In Tanjas Fokalisierung wird eine physiognomische Übereinstimmung von äußerem Erscheinungsbild und inneren Einstellungen angedeutet: »Mit deinen Skrupeln, Gemeinplätzen und deiner durchtriebenen Sittlichkeit? Wann hast du dich das letzte Mal im Spiegel angesehen?« (WDDJ: 238)

Es findet eine komplexe Verflechtung von Normen statt, die sich auf den Körper beziehen, und von Werten, welche die Geisteshaltung bzw. die ethische Haltung einer Person charakterisieren. Die Erzählstimme fokalisiert Tanjas Referenz auf Annes hexis in einem spezifischen Sinn. Weder sagt Tanja aus, dass Anne ihr körperliches Erscheinungsbild aufgrund der symbolischen Verweisungsstrukturen angepasst hat, noch gibt sie zum Ausdruck, dass das Erscheinungsbild Annes Verhalten bestimmt. Vielmehr referiert sie auf die Position, die Anne im sozialen Gefüge der Familie einnimmt, und begründet dies teilweise aus ihrem Erscheinungsbild, teilweise aus ihrem Verhalten. So erzählt sie, dass Anne auf Christa neidisch war, weil diese »ihre Mutter immer nur für überdreht gehalten hatte und für verwöhnt. Sie hätte sich ihr ganzes Leben abgerackert, hätte studiert, Karriere gemacht, und obwohl sie sich angestrengt hatte oder gerade darum, hatten alle ihr immer nur das Gefühl gegeben, dass sie ihrer Kontrahentin, die bewundert wurde, weil sie war, wie sie war, unreif, leichtfertig, verwöhnt und bezaubernd, nie würde das Wasser reichen können« (WDDJ: 235).

Während Christa aufgrund ihrer Herkunft einen hohen sozialen Status innehatte, musste sich Anne diesen offensichtlich erarbeiten. Allerdings konnte sie auf diese Weise, was sich in der Nebenbemerkung »und obwohl sie sich angestrengt hatte oder gerade darum« (WDDJ: 235) andeutet, nur schwer die Illusion aufrechterhalten, ihre Position im sozialen Gefüge resultiere aus einer natürlichen Disposition. »Mit ihrer Karriere und ihrem tollen Gehalt« (WDDJ: 236) drang sie in den symbolischen Bereich des Männlichen ein und wirkte nun weniger weiblich auf die anderen Figuren. Hinzu kam ihre Kinderlosigkeit, welche Annes Weiblichkeitsperformanz zusätzlich beeinträchtigt, wie Lisas elliptische Aussage: »Wenn sie Kinder gehabt hätte …« (WDDJ: 236) deutlich macht. Die Ellipse ver-

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weist in dieser Textstelle auf einen Zusammenhang, der zwischen Tanja und Lisa keiner weiteren Erläuterung benötigt, weil er beiden ›natürlich‹ erscheint. Wenn Anne Kinder gehabt hätte, davon gehen offenbar beide aus, dann hätte sie sich vielleicht nicht mehr unterlegen fühlen müssen. Bemerkenswert an dieser Fokalisierung ist, dass Lisa auf Anne und Paul nicht als Paar referiert, welche zusammen hätten Kinder haben können, sondern allein auf Anne, der die Kinder als attribuierbares Symbol der Weiblichkeit fehlen. Tanja stimmt dieser Analyse zu und unterstreicht damit, dass eine potenzielle Mutterschaft Annes ›Wert‹ im kulturell-symbolischen Konkurrenzspiel (illusio) zwischen den beiden Weiblichkeitsentwürfen gesteigert hätte.

5.2.3.4 Zusammenfassung Es wird deutlich, dass Geschlecht in dem untersuchten Roman Woran denkst du jetzt als gesellschaftlich konstruiert vorgeführt wird. Insbesondere die Erzählkonstruktion trägt dazu bei, den Reflexionen der Schwestern narrative Bedeutung zu verschaffen. In diese sind die Perspektiven der Figuren Lisa und Tanja nahezu gleichwertig und in abgeschlossenen Erzählsegmenten (Kapiteln) eingebunden. Daneben agiert die heterodiegetische Erzählstimme nicht ›gegen‹ die Figuren, wie etwa in Aus einer schönen Welt, sondern konzentriert sich in den verschiedenen Kapiteln darauf, die Fokalisierungen der Figuren durch Informationen über die jeweilig thematisierte Figurenperspektive zu ergänzen. Diese Erzählkonstruktion trägt dazu bei, die Differenz von weiblichen Sichtweisen ebenso vor Augen zu führen wie gesellschaftliche Prozesse der alltäglichen Konstruktion und Stabilisierung von Geschlechternormen. Verschiedene Entwürfe von Weiblichkeit werden präsentiert und Konsequenzen, die aus Grenzüberschreitungen der heteronormativen Geschlechterordnung resultieren, narrativ realisiert. Traditionelle Geschlechterarrangements werden zwar aufgerufen, aber nicht wie in Aus einer schönen Welt ungebrochen performativ wiederholt, sondern diskutiert. Im Roman Woran denkst du jetzt wird auf diese Weise Geschlecht als ein wirkmächtiges Deutungsmuster hypotypotisch veranschaulicht. Im narrativen Nachvollzug von Prozessen, in denen Weiblichkeit mit dem körperlichen Erscheinungsbild und Mutterschaft auf semantischer Ebene in einen Zusammenhang gebracht werden, werden diese, wie auch in Aus einer schönen Welt und Die Bestandsaufnahme, als zentrale Einsätze im Spiel um gesellschaftliche Positionierung vor Augen gebracht.

5.2.4 Lesbischer Gegenentwurf Ein bedeutsames Moment der Darstellung von Geschlecht im Roman So sind wir stellt die Einführung der lesbischen Figur Dominique im zweiten Teil des Romans dar. Wie weiter oben (Kapitel 4.3) ausgeführt, gliedert sich der Roman

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in zwei Teile mit nahezu gleicher Erzählzeit. Der erste Teil reicht bis Seite 131 und erstreckt sich über vier Kapitel. Der zweite Teil umfasst ebenfalls vier Kapitel, welche auf den Seiten 135-260 erzählt werden. Im ersten Teil werden verschiedene Erinnerungen an das Familienleben und an Mitglieder der Familie geschildert. Im zweiten Teil wird ausgehend von einer Partysituation davon berichtet, wie Gila einen Abend und eine Nacht in Paris mit ihrer Freundin Dominique verbringt. In diesem Textsegment finden sich gegenüber dem ersten Teil weitaus weniger diskursive Gesten der retrospektiven Reflexion des Geschehens durch Gila. Dadurch entsteht der Eindruck, die erzählte Zeit würde hier um die Jetzt-Zeit erweitert. Dennoch wird an einigen Textstellen durch eingeschobene Reflexionen der Erzählstimme sichtbar, dass der Zeitpunkt, von dem aus erzählt wird, noch weiter in der Zukunft liegen muss als der Zeitpunkt, an dem das Berichtete stattfindet. Gila tauscht sich im zweiten Teil des Romans mit Dominique über ihre Kindheitserinnerungen, die Mitglieder und Eigenarten ihrer Familie sowie ihre Verflechtungen mit der Shoah aus, mit denen sie sich im ersten Teil meist intro-/retrospektiv beschäftigt hat. Die Diegese wird auch hier weiter aus ihrer Perspektive entworfen. Die Figur Dominique wird ihr als Interaktionspartnerin zur Seite gestellt. Für Gila fungiert sie sowohl als Freundin, reale und imaginierte Diskussionspartnerin sowie auch als Folie, vor der sie ihre eigenen Gedanken und Empfindungen reflektiert: »›Und dann?‹, fragte Dominique, ›er verlor die Orientierung und brach ohnmächtig zusammen, und dann, was geschah dann?‹ Und ich dachte im Stillen, ah, wie clever, wie perfekt dieses ›Und dann?‹ Und wie es schon daherkam! Ganz scheinheilig mit einem Fragezeichen im Tonfall. […] Du kannst ihn doch nicht einfach so liegenlassen. Auf offenem Feld. In einem Wald. Den Kopf an einen Baumstamm gelehnt. Böse zugerichtet. Um es gelinde auszudrücken. Also los, gib uns schleunigst Meldung. Er liegt da, und dann?« (SSW: 168)

Dominique bedingt Gilas Auseinandersetzung mit der Situation und der rekapitulierten Vergangenheit, indem sie ihr als Vertraute zur Verfügung steht und durch hartnäckiges Nachfragen auf Erinnerungen und Wissensbereiche abzielt, denen sich Gila nur ungern nähert. Auf diese Weise erlangt Dominique eine konstitutive Bedeutung für Gilas Perspektive, während ihr gleichzeitig als lesbischer Figur Sichtbarkeit verliehen wird. Im Hinblick auf Lustigers andere Romane ist das privilegierte Hervorheben einer lesbischen Figur einzigartig. Zwar werden in dem Roman Die Bestandsaufnahme homosexuelle Figuren erwähnt. Sie werden aber nicht so ausführlich porträtiert wie Dominique. Im Folgenden führe ich aus, wie die Rolle beschaffen ist, die Dominique in So sind wir zukommt, auf welche Weise ihre narrative Identität konstruiert wird

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und durch welche Charakteristika sich ihre vergeschlechtlichte Darstellung auszeichnet.

5.2.4.1 Gegenentwurf zur heteronormativen Weiblichkeit Anders als in Aus einer schönen Welt und Die Bestandsaufnahme wird in So sind wir das Andere der heteronormativen Matrix nicht als Unvorstellbares oder Gefährdetes dargeboten, sondern als ein begehrenswerter Identitätsentwurf. Dominique wird als eine Figur charakterisiert, die viele Freundschaften unterhält und auch Ratschläge für heterosexuelle Beziehungen gibt. Sie wird als selbstbewusst und ihre sexuelle Orientierung ohne Scham oder Schuldgefühle auslebend präsentiert: »Und so stürmte sie fröhlich in den Suff, und ich trottete ihr mit zwei, drei Gläschen hinterher wie Sancho Pansa. Und während sie von ihren Kämpfen mit den Windmühlen erzählte oder von einem neuen Ausbund aller Trefflichkeit, den sie erst letzte Woche aufgerissen hatte […], ja, während sie schwärmte, stritt und konferierte, tat ich mich an Kartoffelchips und Erdnüssen […] gütlich.« (SSW: 219f.)

Dominique ist ihrem Körper und Begehren positiv gegenüber eingestellt. Sie bejaht ihre Sexualität und hinterfragt offen Geschlechternormen. Die Erzählstimme macht deutlich, dass Gila Dominique mit einiger Distanz, aber auch großer Bewunderung für ihre Lebensfreude und Begeisterung begegnet: »Oft war Dominique un-sag-bar verliebt und himmelte irgendeine Tussi an, die sie nach allen Regeln der Kunst (und einer Flasche Bourdeaux) durchzuficken gedachte. Oder sie hatte sie schon herumgekriegt und ließ sich (ganz Gourmet und Gourmand) stundenlang über den Geschmack ihres Speichel aus, ihrer Zunge, ihrer Brüste, ihrer Scheide, ihres Schweißes … Oh ja, sie war eine Sammlerin von Sinneseindrücken […]. Eine, die den Frauen in strenger Ergriffenheit zwischen die Beine schaute. […] Und jedes Mal grölte sie ›pour la vie‹, mit Vehemenz.« (SSW: 220)

So stellt Gila überrascht fest, dass das äußere Erscheinungsbild weniger wichtig für Dominique ist als für sie. Sie bemerkt, dass es Dominique nichts ausmacht, dass eine ihrer Liebhaberinnen »das Antlitz eines armseligen Bauernmädchen mit rundem Gesicht und platt gedrückter Nase« (SSW: 220) hat. Auch scheint Gilas Freundin sich nicht mit dem Körperideal des »sportiven« (Rose 1997: 127) Körpers zu identifizieren. Ihr Übergewicht bereitet ihr keine Sorgen, vielmehr wird es von ihr als ein Begleiteffekt ihrer hedonistischen Lebensauffassung hingenommen: »Wir beschlossen, in eine Brasserie zu gehen, um noch eine klitzekleine Kleinigkeit zu essen. Ich wusste, so gefräßig sie auch war, war doch ihr Hunger nur ein Vorwand. In

5. Abhängigkeit von Normen Wirklichkeit wollte sie die Zeit bis zum Morgengrauen totschlagen, und sie würde um dieser Zeitverschwendung willen fleißig futtern, was die Bretter oder ihr Magen hielt. Dass sich wegen dieser verfressenen und versoffenen Dilatation der Zeit auch die Gefäße ihres Herzens krankhaft ausdehnten, das störte sie nicht im Geringsten. Anfangs hatte ich sie noch zu ermahnen versucht. Dann hatte ich diese Scheinheiligkeit fallen gelassen.« (SSW: 219)

Ich lese die Figur Dominique als einen Gegenentwurf zur heteronormativen Vorstellung von Weiblichkeit. Ausschlaggebend für diese Interpretation ist die Bezogenheit der Figur auf körperliche Sinne, das mithin von ihrem »Begehren, im Sein zu verharren« (KeG: 62) zeugt. Dominique folgt ihren körperlichen Begierden entgegen normativer Beschränkungen. Das drückt sich in ihren bacchantischen Vergnügungen und dem unbändigen Verzehr von Nahrungsmitteln ebenso aus wie in ihrer genüsslichen Berichterstattung über lesbischen Geschlechtsverkehr. Darüber hinaus zeichnet sich die Figur durch eine beeindruckende Durchsetzungsstärke und ein kritisches Denkvermögen aus, wie ich im Folgenden näher ausführe.

5.2.4.2 Durchsetzungsstärke und intellektuelle Weiblichkeit Im siebten Kapitel des Romans So sind wir wird ein Streit Dominiques mit einem Bekannten wiedergegeben, der aufzeigt, wie sich in ihrer Figur Stärke und Verletzlichkeit verflechten. Der Streit entzündet sich auf der Party an der Bemerkung eines Bekannten, dass die Amerikaner »ein leichtes Opfer für jeden Demagogen« (SSW: 203) seien. Daran anschließend ergänzt dieser, wie die Erzählstimme mitteilt, »ein paar Standardsätzchen über die amerikanische Außenpolitik […], die man zurzeit in linken französischen Kreisen nachgeschmissen bekommt« (SSW: 203).

Als Dominique ihn zunächst in seinen Ausführungen bestärkt, erzählt Gila: »Er legte los und fing an zu krähen. ›Die Amerikaner … ihr übertriebener Aggressionsdrang … Die Amerikaner … kriegslüsterne Kolonialisten …‹« (SSW: 204)

Schließlich konfrontiert Dominique den Bekannten mit einer satirischen Zuspitzung seiner Aussagen: »›Du meinst also, dass es sich bei den Amerikanern um einen triebmäßigen, sozusagen angeborenen Jähzorn handelt und bei uns, den Europäern, um eine kulturell erworbene Angriffsstrategie …‹ ›Ja, ganz genau‹, fiel unser Bekannter ihr ins Wort.« (SSW: 204)

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Die Fokalisierung spiegelt Gilas Widerwillen gegen die Argumentation des Bekannten, indem seine ›Argumente‹ in Form einer expliziten Tautologie widergegeben werden: »Dann erläuterte er seine Theorie […], dass die Franzosen einen aufgeweckteren Geist und ein gesünderes Urteilsvermögen als die anderen Erdbewohner besitzen, weil sie einen aufgeweckteren Geist und ein gesünderes Urteilsvermögen als die anderen Erdbewohner besitzen.« (SSW: 204; Herv. sd)

Gleichwohl bringt sich Gila nicht in die Diskussion zwischen Dominique und dem Bekannten ein. Es ist Dominique, welche die Rede des Bekannten pariert. Sie nimmt seine Argumentation nicht zum Anlass für eine halbernste Zustimmung oder diskrete Distanzierung, wie es den weiblichen Figuren der anderen Romane Gila Lustigers entspräche.12 Dominique konfrontiert den Bekannten mit ihrem Eindruck, dass sie glaubt, seine Aussagen würden seiner eigenen Unzufriedenheit entspringen und nicht etwa einem realen Zusammenhang. Ihre Entgegnung wird aus Gilas Perspektive, versetzt mit den Kommentaren: »(Schach) […] (und matt)« (SSW: 207) folgendermaßen erzählt: »›Aber wenigstens weiß ich, dass ich, wenn ich griesgrämig blöke (Schach), nichts anderes tue, als meine letzten meckernden Energien dazu zu verwenden, den anderen das Leben zu verleiden. Während du trübe Tasse mit deinen wichtigtuerischen Argumenten und deinen irrelevanten Überzeugungen denkst, eine Meinung zu haben … (und matt)‹.« (SSW: 207)

Doch Dominique bleibt nicht dabei stehen, die Beweggründe des Bekannten psychologisch zu entschlüsseln. Sie ordnet seine Äußerungen in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang ein und findet außerdem deutliche Worte für »die kuriose Beschaffenheit seines politischen Engagements«, wie die Erzählstimme anerkennend feststellt: »Er würde nur seine eigene, hausgestrickte, erbarmungslose Verbitterung auf seine Umwelt speien. Mit seinem im Kleinbürgerlichen verwurzelten Denken würde er sich allenfalls mühselig zu Floskeln und Plattitüden hochschwingen, mit Ach und Krach und schnaufend. Nur mit Sprachschnörkeln und Gemeinplätzen könne er aufwarten. Und was wäre das schon, nichts anderes als ein Vermächtnis seiner Klasse.« (SSW: 207)

12 | Beispielsweise schweigt A. im Hinblick auf die demütigenden und sexistischen Kommentare ihres Mannes in Aus einer schönen Welt und Tanja hält sich zurück, um in dem Roman Woran denkst du jetzt eine Konfrontation mit ihrem Onkel zu vermeiden.

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Dominique wird in So sind wir als eine sehr facettenreiche Figur geschildert. Sie wird als berechnend, klug, leidenschaftlich und dabei gleichzeitig verletzlich dargestellt und hebt sich dadurch von den anderen weiblichen Figuren in Lustigers Romanen ab. Daneben zeichnet sich Dominique durch ein männlich konnotiertes Verhalten aus. Es wird erzählt, wie sie sich dominant und konfrontativ für ihre kritische, antinationalistische Weltsicht einsetzt. Sie wird als eine weibliche Figur konstruiert, die sich nicht darum bemüht, ihren Wert zu steigern und ihren Körper zu optimieren. Auch konzentriert sie sich nicht darauf, wie etwa die Figur A. in Aus einer schönen Welt oder Marianne Brackmann in Die Bestandsaufnahme männliche Figuren zu unterstützen, emotional zu entlasten oder deren Selbstwert durch Zurückhaltung in ihrer eigenen Meinung zu stärken.

5.2.4.3 Bruch mit dem Kontext verletzender Sprache Gila, welche in So sind wir als heterosexuelle, verheiratete Frau mit zwei Kindern präsentiert wird, für welche außereheliche Liebesbeziehungen keinesfalls infrage kommen, erscheint im Verhältnis zu Dominique als eine Kontrastfolie, obwohl auch sie beispielsweise an vielen Textstellen entrüstet oder konfrontativ agiert. Dennoch geht sie zu keinem Zeitpunkt so kompromisslos vor wie ihre Freundin. Im Gegenteil, sie kritisiert Dominique nach dem Streit dafür, so unüberlegt gehandelt zu haben: »Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht, denn er wird dich jahrelang hassen« (SSW: 218). Den Hass, den Gila hier andeutet, hat der Bekannte bereits vorher in Gilas Gegenwart entladen. Er schimpft über Dominique, als diese gegangen ist: »Seine Stimme überschlug sich fast: ›So eine … eine Unverschämtheit …‹« (SSW: 209). Die Erzählstimme gibt den Leser_innen über Gilas Fokalisierung zu verstehen, dass der Bekannte zunächst noch erstarrt wirkt, sich dann immer stärker entrüstet, bis er »die Maske der geschmackvollen Indignation fallen [lässt] und grobschlächtig« (SSW: 210) wird. Sie kommentiert: »Die Vorwürfe, die er nur noch der Form halber machte, degenerierten zu Fußnoten unter dem eigentlichen Text: ›Elende Lesbe. Hure. Das kleine Stück Scheiße. Fotze. Mistvieh aus der Gosse.« (SSW: 210)

Butler führt in Haß spricht über den Ursprung der Kraft, mit der Beschimpfungen den Anderen verletzen, aus: »Wenn der verletzende Begriff tatsächlich verletzt […], dann bewirkt er die Verletzung, indem er seine Kraft historisch aufbaut und verbirgt. Der Sprecher, der eine rassistische Diskriminierung äußert, zitiert diese Diskriminierung stets und reiht sich damit in eine historische Sprechgemeinschaft ein.« (Hsp: 84)

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Der Bekannte versucht, seinen Hass auf Dominique mithilfe von diskriminierenden Beschimpfungen zu entladen, um diese innerhalb der heteronormativen Matrix als anerkennbares Subjekt zu delegitimieren. Er knüpft an eine »historische Sprechgemeinschaft« (Hsp: 84) an, die von der souverän konstruierten Sprechposition des Machismus aus agiert, und zitiert Äußerungen, die zum einen die Weiblichkeit Dominiques abwerten (»Elende Lesbe. Hure. […] Fotze« [SSW: 210]) und zum anderen ihren Status als Mensch infrage stellen (»Das kleine Stück Scheiße. […] Mistvieh aus der Gosse« [SSW: 210]). Die narrative Strategie, welche die erzählte Welt in So sind wir konstituiert, unterwandert aber seine verletzenden Worte. Die diegetische Situation ist hier so konstruiert, dass Dominique sich nicht mehr mit dem Bekannten in einem Raum befindet und seine Beschimpfungen nicht hören kann. Außerdem stimmt Gila ihnen weder zu, noch trägt sie diese an Dominique weiter. Die erzählerische Anlage der Diegese trägt dadurch dazu bei, die Versuche des Bekannten zu unterminieren, seine durch Dominique verletzte Souveränität durch das Zitat machistischer Äußerungen wiedereinzusetzen. Dadurch wird zugleich die Wiederholung der Verletzung ausgesetzt. Butler erläutert: »Jemand, der performative Äußerungen wirkungsvoll einsetzt, spricht mit unbestrittener Macht.« (Hsp: 80)13 In der analysierten Textstelle in So sind wir wird diese Macht aber bestritten. Ihr wird kein Raum für ihre Wiederholung zugestanden; sie findet keinen, der ihr zustimmt. Im Gegenteil: Der Bruch mit der Wiederholung der performativen Äußerung des Bekannten setzt seine Macht (für den Moment) aus. Die Homosexualität Dominiques gerinnt in der Diegese des Romans nicht zu einem Grund für ihren Ausschluss aus der ›menschlichen‹ Gemeinschaft, sondern zu einem Anlass für Widerstand gegen die hegemoniale Deutungsmacht ausschließender und verletzender Äußerungen. Homosexualität wie auch Durchsetzungsstärke werden als Bestandteile einer alternativen Weiblichkeit dadurch legitimiert.

5.2.4.4 Zusammenfassung Die Analyse der Konstruktion und Darstellung der Figur Dominique macht deutlich, dass Homosexualität hypotypotisch und – in Bezug auf die heteronormative Geschlechterordnung – katachrestisch als legitimer und wertvoller Identitätsentwurf in So sind wir eingesetzt wird. Dominique wird aus Perspektive einer vertrauten und ihr freundschaftlich verbundenen Figur erzählt, die ihre Lebensweise bewundert. Aus dieser narrativen Erzählhaltung heraus wird ein anerkennender Blick auf Dominiques Verhalten geworfen. Es wird ge13 | Nach Butler (Hsp: 80) steht der Arzt, der das Neugeborene nach (oder auch bereits vor) seiner Geburt als Mädchen bezeichnet, »am Beginn einer langen Kette von Anrufungen, durch die das Mädchen transitiv seine Geschlechtsidentität zugewiesen bekommt«.

5. Abhängigkeit von Normen

schildert, wie sie zum einen Körpernormen selbst überschreitet und sie diese auch in Bezug auf ihre Liebhaberinnen nicht in der epistemologischen Rahmung von ›Attraktivität‹ zur Anwendung bringt. Daneben zeigt sich, dass Dominique nationalistische Einstellungen ablehnt und machistisches Verhalten aggressiv kontert. Die abweichende weibliche Geschlechterperformanz wird durch die Narration in So sind wir affirmiert sowie über die Auswahl der eingenommenen Erzählperspektiven in ein positives Licht gestellt.

5.2.5 Affirmation heteronormativer Geschlechterarrangements Der Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück stellt in Bezug darauf, wie in ihm Geschlecht aufgegriffen wird, zunächst einen starken Gegensatz zu den Romanen Aus einer schönen Welt, Die Bestandsaufnahme, Woran denkst du jetzt und So sind wir dar. In ihm wird vorwiegend heteronormativ auf Geschlecht Bezug genommen, wobei die Erzählstimme diese Bezugnahmen weitgehend affirmiert. Allerdings finden sich bei genauerer Betrachtung vereinzelte Textstellen, in denen die ›natürlichen‹ Attribuierungen von Männlichkeit als autonom und souverän in Zweifel gezogen werden. Im Folgenden gehe ich zunächst darauf ein, inwiefern in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück binäre Geschlechterbilder als ›natürlich‹ eingesetzt werden. Daran anschließend mache ich deutlich, in welchen Weisen die heteronormative Konstruktion von Geschlecht in dem Roman narrativ unterlaufen wird.

5.2.5.1 Affirmation der heteronormativen Geschlechterordnung In dem Roman wird die Narration vordergründig durch heteronormativ regulierende Normen von Geschlecht strukturiert. Dies zeigt sich etwa in der stereotypen Erfassung der Geschlechter, wie in der folgenden Textstelle, in welcher ein allgemeingültiger »Mutterblick« (HGa: 25) produziert wird, mit dem die mütterliche Ausprägung von Weiblichkeit – nicht aber von Väterlichkeit – stabilisiert wird: »Sie [die Kinder] nannten ihn untereinander den Kämm-dir-gefälligst-die-Haare-Blick. Oder den Bist-du-des-Wahnsinns-siehst-du-nicht-dass-es-regnet-zieh-dir-sofort-denAnorak-an-Blick.« (HGa: 25)

Zwar wird erwähnt, dass die Kinder von allen mit ihnen in Beziehung stehenden Menschen gemustert werden, nicht nur von Müttern oder Vätern, sondern auch von »Brüder[n], Patentanten, Lehrerinnen, Cousinen, Großmütter[n], Onkel[n], Großväter[n], Klassenkameraden …« (HGa: 25), dennoch sind die Blicke der Mütter quantitativ und qualitativ herausgestellt. Eine Fußnote stellt performativ die Mutter als stärker die Kinder umsorgend dar, indem sie auf weitere Mutterblicke hinweist, während es für die Erfassung der Blicke der Väter offen-

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bar ausreicht, mitzuteilen, dass sie die Kinder »musterten, um sich Sorgen zu machen« (HGa: 25). Des Weiteren wird die Beziehung, die zwischen den Figuren Herr Grinberg und seiner Haushaltshilfe Mirabella besteht und ein wesentliches Element der Handlung des Romans darstellt, durchweg heteronormativ konstruiert. Herr Grinberg wird als intellektueller Geistesarbeiter dargestellt, dem ein positiver Bezug zu seinen Gefühlen nahezu bis zum Ende der Geschichte fehlt. Zudem unterhält er, von seiner Bekanntschaft mit den Kindern einmal abgesehen, kaum soziale Kontakte. Mirabella, seine Haushaltshilfe, wird hingegen als fröhliche und pragmatische Figur eingeführt. Sie wird das erste Mal im ersten Kapitel in einem Halbsatz erwähnt und hier in einem Zusammenhang mit ihrer guten Kochkunst geschildert. Die Erzählstimme ergänzt in einer Fußnote: »Herr Grinbergs Leibspeise waren Bratkartoffeln mit Speck und Rührei. Natürlich lobte er auch die anderen Gerichte, die seine Haushälterin zubereitete […]. Herr Grinberg liebte Rührei, und das Geräusch, das seine Haushälterin verursachte, wenn sie die Eier an der Kante der Schlüssel aufschlug, erzeugte in ihm, dank der kurz darauf folgenden Gaumenfreuden, ein Glücksgefühl sondergleichen. Einmal war er allerdings der Küche verwiesen worden. Der Grund […] war ein Rätsel gewesen, das er seiner Haushälterin aufgegeben hatte […]. ›Also, wie viele Stunden braucht der arme Tropf, um zurückzukehren?‹, hatte Herr Grinberg gefragt und sich an den Herd gelehnt, um etwas Speck aus der Pfanne zu fischen. ›Warum rudert er denn hinaus? Das ist doch unlogisch!‹, hatte die Haushälterin wissen wollen. Unlogisch? Was, bitte schön, an einer Knobelaufgabe unlogisch sein könne, hatte Herr Grinberg schnippisch ausgerufen. Worauf die Haushälterin, etwas verschnupft, verlauten ließ, sie hätte für solch einen Schmonzes keine Zeit. Außerdem würde Herr Grinberg sie nur stören. Ferner sei es ungehobelt, mit den Fingern in der Pfanne herumzugrapschen. Beleidigt war Herr Grinberg abmarschiert und erst wieder zurückgekehrt, als diese Verächterin des Denksports ihn rief.« (HGa: 20f.)

In der Textstelle wird offensichtlich, in welcher Weise das im Roman dargestellte Geschlechterarrangement zwischen Herrn Grinberg und Mirabella die heteronormative Gesellschaftsordnung ungebrochen wiederholt. Während Mirabella, die für die Versorgung der existenziellen Grundbedürfnisse von Herrn Grinberg zuständig ist, gerade sein Essen vorbereitet, kommt dieser nicht etwa zu ihr, um sie zu unterstützen und einen Teil der Arbeit zu übernehmen, sondern um mit ihr Denksportaufgaben zu lösen, was sein geistiges Tätigkeitsgebiet repräsentiert. Mirabella fühlt sich durch diese Zumutung gestört und wehrt eine Beteiligung ab, so wie auch Herrn Grinbergs – tollpatschigen – Versuch, in ihrem Tätigkeitsfeld »herumzugrapschen« (HGa: 21). Die nach Geschlechtern geordnete Arbeitsteilung wird zudem durch das Angestelltenverhältnis stabilisiert, in welchem Mirabella bei Herrn Grinberg steht.

5. Abhängigkeit von Normen

Dieses Angestelltenverhältnis zwischen Herrn Grinberg und Mirabella wandelt sich am Ende der Handlung von Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück in ein Liebesverhältnis. Eingeleitet wird dieser Handlungsstrang durch eine Verletzung der Haushaltshilfe, welche sie für einige Zeit arbeitsunfähig macht. Mirabella nutzt diese Zeit dafür, ihr Heimatland Italien zu besuchen. Während ihrer Abwesenheit entsteht zwischen Herrn Grinberg und den Kindern eine freundschaftliche Beziehung, die auch Unterstützung in Grinbergs Haushalt miteinschließt (vgl. Kapitel 4.2.4.1). Herr Grinberg beginnt seine Haushaltshilfe zu vermissen, als er realisiert, dass ihm seine alltäglichen Verrichtungen ohne Mirabella schwerfallen. Er äußert dies ihr gegenüber am Telefon folgendermaßen: »›Mirabella‹ seufzte Herr Grinberg. Und dann sprudelte es aus seinem Mund heraus. Eine einzige lange Klage. Er zählte auf: Dass er nicht gut schlief. Dass er dementsprechend todmüde aufstehen würde. Und nicht einmal mehr genug Kraft hätte, nachmittags spazieren zu gehen. Dass man das, was er täglich vorgesetzt bekommen würde, nicht Essen nennen könne. Es sei denn, man möge gedünstete Möhren. Dass er seit zwei Tagen keine Post bekommen hätte, nicht einmal einen Werbebrief. Dass es wieder regnen würde, und das schon seit drei Tagen. Dass die Badezimmerdeckenlampe kaputtgegangen sei. Dass er seine graue Strickjacke nicht finden würde, jene mit dem Loch am Ellenbogen.« (HGa: 91f.)

Mirabella begleitet seine Klagen mit den Ausrufen: »›oh‹ oder ›oje‹ oder ›Sie Armer‹« (HGa: 92). Schließlich fragt Herr Grinberg »ganz zuletzt, nachdem er sich auch noch über die Müllabfuhr beschwert hatte […], etwas muffig: ›Wie geht es eigentlich Ihrem verstauchten Arm?‹« (HGa: 92)

Daraufhin antwortet die Haushaltshilfe: »›Ach, Herr Grinberg‹, […] und dann haucht[…] sie kaum hörbar ins Telefon: ›Ich vermisse Sie ja auch‹.« (HGa: 92) Es wird deutlich, dass die Gesprächsanteile zwischen Grinberg und Mirabella ungleich verteilt sind. Während der männliche Part – Herr Grinberg – selbstbezogen von seinen Sorgen berichtet, fällt dem weiblichen Teil – Mirabella – die Aufgabe zu, den Redeschwall anzuhören und Anteilnahme in Form unterstützender Ausrufe zur Verfügung zu stellen. Gesteigert wird die Asymmetrie zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹ im Gespräch noch dadurch, dass Mirabella auf ihre Aussage hin, dass sie Herr Grinberg vermisse, nur die unfreundliche Antwort erhält: »›Dann kommen Sie gefälligst zurück, und zwar sofort‹« (HGa: 92). Dieser Befehl wird von der Erzählstimme nicht etwa kritisch kommentiert, sondern positiv gewendet:

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Poetologie des postsouveränen Subjekts »›Dann kommen Sie gefälligst zurück, und zwar sofort‹, brummte Herr Grinberg. Aber sein Gebrumme hörte sich gar nicht mehr verdrießlich an.« (HGa: 92)

Herr Grinberg wiederholt hier also performativ die Struktur des der Frau übergeordneten Mannes und wird darin von der Erzählstimme unterstützt, indem sie sein Verhalten durch die Entschuldigung, es hätte sich »gar nicht mehr verdrießlich« (HGa: 92) angehört, normalisiert.

5.2.5.2 Subversion von Männlichkeitsnormen An einigen Stellen in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück wird das Bild souveräner Männlichkeit durch die Darstellungen der Erzählstimme erschüttert. Trotz ihrer Seltenheit kommt diesen Textpassagen für die Konstitution der Diegese eine entscheidende Rolle zu. Zum einen ist es Herrn Grinbergs Überschreiten der symbolischen Geschlechtergrenze mit seinem Eindringen in den weiblich konnotierten Bereich der »Pflege der Kinder« (Bourdieu 2012: 57) zuzuschreiben, dass der entscheidende Wendepunkt der Handlung in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück überhaupt herbeigeführt wird. Würde er die Kinder weiterhin nicht wahrgenommen und Paul allein und weinend auf der Bank übersehen haben, hätte sich das übergenerationelle Freundschaftsgeflecht, von dem in dem Roman erzählt wird, nicht entwickeln können. Der Reigen an Hilfeleistungen und Unterstützungen, welche Erwachsene wie auch Kinder des Romans stärken, wäre nicht eröffnet worden. Das Handeln der männlichen Hauptfigur gibt in dem Roman also den Impuls für das Entstehen einer solidarischen, Sorge tragenden und Verantwortung übernehmenden Gemeinschaft. Die Sorgepraxis wird damit symbolisch (ein Stück weit) aus dem ausschließlich weiblichen Zuständigkeitsbereich herausgelöst. Die Repräsentation der Geschlechterbinarität wird zwar durch diesen Transfer nicht unterlaufen, schließlich werden weiterhin die Sorgebeziehungen intersexueller oder homosexueller Personen ausgeblendet. Allerdings erfährt der Bereich der Repräsentation eine Erweiterung. Neben männlichen Figuren übernehmen in dem Roman auch kindliche Figuren Sorgeaufgaben. Immerhin ist es Paul, der – zunächst als Kind positioniert, das eigentlich der ›Sorge‹ bedarf – dazu beiträgt, den Wendepunkt in Herrn Grinbergs Leben einzuleiten, indem er sich um diesen sorgt. Denn als Herr Grinberg feststellt, dass er sich in Mirabella verliebt hat, ist er zunächst »hoffnungslos« (HGa: 161), wenn nicht sogar nahezu verzweifelt: »Obgleich er sich nach ihr gesehnt hatte, fühlte sich Herr Grinberg nun, da er wusste, dass sie schon in ein paar Stunden bei ihm sein würde, wie vor den Kopf gestoßen. Acht Stunden, was war das schon! Herr Grinberg ging unruhig im Zimmer auf und ab. Tausendmal legte er sich zurecht, was er ihr zu sagen gedachte. Tausendmal verwarf er es. Es war hoffnungslos.« (HGa: 161)

5. Abhängigkeit von Normen

Von Herrn Grinberg wird hier als einem zwar männlichen und hoch gebildeten, aber dennoch verletzlichen Menschen berichtet. Die Erzählstimme macht in der vorliegenden Textstelle deutlich, wie dessen Gedanken darum kreisen, auf welche Weise er Mirabella seine Gefühle für sie gestehen könnte. In der Hyperbel und Anapher »Tausendmal« (HGa: 161) drückt sich aus, dass Herr Grinberg unschlüssig darüber ist, wie er sich am besten ausdrücken soll. Es wird außerdem erzählt, dass er der Situation unsicher und nicht souverän gegenübersteht: »Warum es nicht ging? Weil er alt war und sie na, vielleicht nicht gerade jung, aber doch um einiges jünger als er. Wenn er ein Held gewesen wäre, wie in Romanen! Wenn er, um sich seiner Liebe würdig zu zeigen, gegen Windmühlen gekämpft hätte oder gegen eine staubumwölkte Hammelherde! Wenn er, um ihr Herz zu erobern, die neun Kreise der Hölle durchmessen hätte! Wenn er Zyklopen bezwungen hätte und Sirenen. Lotophagen und Zauberinnen … Was machte er aber stattdessen? Geschichten erzählen, Bratkartoffeln essen, Zeitung lesen, verträumt aus dem Fenster schauen, sich mit einem Hund unterhalten, Artikel schreiben …« (HGa: 167f.)

Dieser Einblick in Herrn Grinbergs Gemütsverfassung wird durch die Beschreibung körperlicher Symptome seiner emotionalen ›Auflösung‹ unterstrichen: »Herr Grinberg zuckte zusammen, seine Ohren begannen vor Aufregung zu glühen, sein Gesicht bekam die verdächtigen roten Flecken.« (HGa: 162)

Wie Herr Grinberg sich zu Beginn ihrer Freundschaft um Paul kümmerte, ihn umsorgte und nach Hause brachte, so sorgt sich nun Paul um ihn und hilft ihm in einer schwierigen Lebenslage weiter. Der ältere Mann lässt sich auf den Jungen und das von ihm mitgebrachte ›magische‹ Buch ein, und es gelingt ihm, seine Ängste zu überwinden (vgl. Kapitel 4.2.4.2). Er erkennt, dass es menschlich ist, nicht souverän zu sein, als er noch einmal gemeinsam mit Paul in das sogenannte Buch der Fragen schaut, in das die Kinder ihre Sorgen eintragen können. Herr Grinberg gesteht dem Jungen: »›Ja, glaubst du, ich bin erwachsen zur Welt gekommen? Glaubst du denn, ich hab als Kind keine Probleme gehabt?‹« (HGa: 170)

Er sieht ein, dass ihn die Angst, nicht ›gut‹ genug für diejenige zu sein, für die er Gefühle empfindet, schon einmal zurückgehalten hat, sich zu offenbaren: »›Ja‹, erwiderte Herr Grinberg und lächelte […]. ›Damals dachte ich, ich sei zu jung. Und heute hätte ich fast geglaubt, dass ich zu alt bin.‹« (HGa: 171)

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Diese Textpassagen zeigen deutlich, dass Verletzlichkeit in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück zu einem großen Teil gerade auch von den männlichen Protagonisten aus erzählt wird. Über die Anerkennung der eigenen Verletzlichkeit als kontinuierlichem Aspekt des Selbst wird es für Herr Grinberg möglich, sich selbst und andere zu verstehen.

5.2.5.3 Zusammenfassung Poetologisch zeichnet sich sowohl eine Wiedereinsetzung heteronormativer Geschlechterbilder in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück ab wie auch ihre hypotypotische Erweiterung über die binäre Geschlechterordnung hinaus bzw. ihre Durchkreuzung. Insgesamt verhalten sich die Figuren geschlechterrollenkonform. An einigen Stellen werden die Geschlechterstereotypen durch die Handlungen der Figuren außer Kraft gesetzt. Im Zuge dessen wird es für die Leser_innen möglich, nachzuvollziehen, vor welche Herausforderungen die Figuren durch die Erschütterung der binären Geschlechterordnung einerseits gestellt sind, welche neuen Möglichkeiten sich aber auch dadurch ergeben. Nicht nur entdecken die Figuren neue Seiten an sich selbst, sie lernen auch sich selbst und die anderen in einer neuen Weise kennen.

5.3 Z wischenfa zit Die menschliche Abhängigkeit von Normen wird von Butler in einem Zusammenhang mit der Ausgesetztheit des ›Ich‹ an den Anderen gedacht. Normen sind konstitutiv für die Erzeugung des Subjekts. Sie organisieren die Bereiche intelligiblen Lebens und regulieren auf diese Weise die Bedingungen menschlicher Existenz. Nach Butler gehören die Geschlechternormen mit zu den wirkmächtigsten Modi der Subjektkonstitution. Wie anhand der Studien von Bourdieu deutlich wird, sind Geschlechternormen eng mit dem Habitus der Subjekte verflochten und werden als ›natürlich‹ wahrgenommen. Während Bourdieu aufgrund dessen wenige Möglichkeiten sieht, Einfluss auf Geschlechternormen zu nehmen, macht Butler darüberhinausgehend auf den performativen Charakter derselben aufmerksam. Wie alle gesellschaftlichen Normen müssen auch Geschlechternormen stetig performativ reproduziert werden, um nicht an Legitimität einzubüßen. Hier sieht sie zugleich den Ansatzpunkt für eine kritische Ontologie. Durch einen metonymischen Bruch mit der Norm lassen sich ihre lokalen Wiederholungen aussetzen und ihr semantischer Gehalt anreichern. Dadurch kann zugleich der Bereich des intelligiblen Lebens ausgeweitet werden, der durch die Norm begrenzt wird. Das Unterlaufen der Norm macht es zudem möglich, die gesellschaftliche Einsetzung von Geschlechternormen sichtbar zu machen und einer gesellschaftlichen Kritik zuzuführen.

5. Abhängigkeit von Normen

Für den Roman Aus einer schönen Welt kann die Thematisierung von Geschlecht als ein zentrales Motiv geltend gemacht werden. In der Erzählung wird erstens dargestellt, wie der soziale Raum durch Geschlecht strukturiert wird und wie Subjekte aufgrund von Geschlechtsmerkmalen im sozialen Raum positioniert werden. Die Geschlechternormen werden durch die Narration zweitens hypotypotisch nachvollzogen und auf diese Weise vor die Augen der Leser_innen geführt. Drittens werden die Körperpraktiken, welchen A. sich unterwirft, als psychische Wende der Anrufung des gesellschaftlichen Körperideals der »sportiven« (Rose 1997: 127) Frau durch die Erzählstimme lesbar gemacht. Die Verinnerlichungsmodi und -effekte der gesellschaftlichen Anrufungen werden in Aus einer schönen Welt über ihre narrative Realisierung einerseits und die intern-/nullfokalisierte Darstellung andererseits Teil der Narration. In Die Bestandsaufnahme, Woran denkst du jetzt, So sind wir und Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück stellen Geschlechternormen nicht das zentrale Thema dar. Die Analysen machen deutlich, dass von Geschlecht und Sexualität in diesen Romanen in ihren Verflechtungen mit gesellschaftlichen Konzepten von Nation, Nationalität, Mutterschaft und Sorge erzählt wird sowie im Zusammenhang mit alternativen Lebensmodellen für Frauen. In den einzelnen Romanen wird auf unterschiedliche Weisen Widerstand gegen heteronormative Anrufungen narrativ vollzogen. Die Effekte der Geschlechternormen auf die Psyche des Subjekts werden in Aus einer schönen Welt hypotypotisch verdeutlicht und nachvollziehbar gemacht. Insbesondere die iterative Beschreibung der körperlichen Praktiken wird als narratives Verfahren eingesetzt. Der ständige Zwang zur Optimierung des weiblichen Körpers wird dadurch ebenso narrativ realisiert wie die gewaltvolle Objektivierung des Körpers, die durch die Körperpraktiken wiederholt wird. Die Identität als Frau und Mutter wird in Aus einer schönen Welt als »totalisierend« (PdM: 83) dargestellt. A. wird als eine in ihren Geschlechtskörper eingesperrte »›Seele‹« (PdM: 83) lesbar gemacht. Des Weiteren wird durch metonymische Verschiebungen vor Augen geführt, dass die symbolische Geschlechterordnung gesellschaftlich konstruiert wird. Auf narrativer Ebene wird die symbolische Geschlechterordnung hypotypotisch realisiert und katachrestisch destabilisiert. Wie in dem Roman Aus einer schönen Welt werden die heteronormativen Geschlechternormen in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück von den Figuren weitgehend wiederholt. Die Erzählstimme realisiert die stereotype Ausprägung von Geschlecht aber in dieser Narration nicht narrativ. Die Geschlechternormen werden vielmehr durch die Figuren unterlaufen, indem sie die ihnen zugewiesenen symbolischen Handlungsbereiche erfolgreich überschreiten.

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In dem Roman Die Bestandsaufnahme kommt es wie in Aus einer schönen Welt und Woran denkst du jetzt zur Erzählung von Mutterschaft als einer Form gesellschaftlich genormter Weiblichkeit. Die Untersuchung zeigt, dass Mutterschaft in allen drei Romanen als verschränkt mit den gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Anrufungen dargestellt wird. Demgegenüber wird die Bedeutung der Mutterschaft in den Romanen So sind wir und Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück weniger exponiert dargestellt. Während die Erzählung von Mutterschaft in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück vor allem aufgrund ihres geringen Anteils an der Erzählzeit wenig zur Geschichte beiträgt, wird in So sind wir die gleichberechtigte anerkennende Begegnung zwischen weiblichen Mutter- und Nicht-Mutterfiguren narrativ über die Darstellung von intimen freundschaftlichen bzw. vertrauten verwandtschaftlichen Gesprächen realisiert. Gila – Mutter von zwei Kindern – und Dominique verbringen den Abend gemeinsam miteinander, wobei über interne Fokalisierung die Gedanken von Gila erzählt werden. Effekt dieser Darstellungsweise ist eine unvoreingenommene Repräsentation von verschiedenen weiblichen Lebensentwürfen, mit der die Differenzen, die zwischen diesen bestehen, nicht ausgeblendet, sondern einbezogen werden. Dadurch, dass verschiedene Lebensentwürfe neben- und nicht gegeneinander gesetzt werden, werden Geschlechternormen nicht als zeitlose und natürliche Einteilung repräsentiert, sondern als »historisch revidierbare Kriterien der Intelligibilität – Kriterien, die Körper produzieren und unterwerfen, die von Gewicht sind« (KvG: 37). Geschlecht wird in Lustigers Romanen nicht nur als ordnende und hierarchisierende Struktur abgebildet, sondern zugleich als eine performative Praxis deutlich gemacht, aufgrund derer kulturelle Anrufungen nach geschlechtlicher Zuordnung individuell übersetzt werden. In den Romananalysen kristallisiert sich heraus, dass dem Moment der Abhängigkeit von Normen, insbesondere auch von Geschlechternormen, narrativ und inhaltlich-diegetisch Bedeutung zukommt. Die Untersuchung macht darüber hinaus sichtbar, dass Heteronormativität in allen analysierten Texten in unterschiedlichem Maß kritisch aufgegriffen wird, wobei sich diverse Ebenen und Verfahren der heterodoxen Aufnahme von Geschlecht in der Untersuchung abzeichnen. Für die Frage nach einer Poetologie des postsouveränen Subjekts lässt sich festhalten, dass Geschlecht in allen untersuchten Romanen als symbolische Struktur vor Augen geführt wird, die eine gesellschaftliche Ordnungsfunktion erfüllt und damit gleichzeitig die Positionierungen und Möglichkeiten von Subjekten festlegt. Als wiederkehrende rhetorische Mittel werden die Hypotypose, Metonymie und Katachrese eingesetzt, um Heteronormativität in den Romanen einerseits als eine wirkmächtige Matrix narrativ zu realisieren und andererseits mittels semantischer Verschiebungen zu unterlaufen.

6. Undurchsichtigkeit des Selbst Enteignetes ›Ich‹

Der verstellte Blick auf sich und andere. Dem Anderen ausgesetzt sein und die Konstitution des ›Ich‹ ausgehend vom ›Du‹. Der Unterschied zwischen Sehen und ›Ansehen‹. Den Anderen anerkennen, auch, wenn er mir unverständlich erscheint. Kritik einer Repräsentation des Anderen als Verworfenen. Im folgenden Kapitel sollen Lustigers Romane mit dem Moment der Undurchsichtigkeit des Selbst zusammengebracht werden. Die Untersuchung dieses Moments unterscheidet sich von der Analyse des Moments der Abhängigkeit vom Anderen und der Abhängigkeit von gesellschaftlichen Normen insofern, als dass sie nicht auf die Analyse einer konkreten Übersetzungspraxis abstellen kann, wie etwa die der Sorge im vierten Kapitel und der Geschlechternormen im fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit. Im Gegensatz zu diesen beiden Momenten zeichnet sich das Moment der Undurchsichtigkeit des Selbst durch eine hartnäckige Unbestimmtheit aus, welche etwa eine Zuordnung zu konkreten Praktiken unseres Lebens, mit denen wir unserer Undurchsichtigkeit begegnen, erschwert. Das liegt zum einen daran, dass sie mit den Momenten der Abhängigkeit vom Anderen und von gesellschaftlichen Normen in gewisser Weise zusammenfällt. Die Undurchsichtigkeit des Selbst resultiert aus den Enteignungen des ›Ich‹ durch die Abhängigkeitsbeziehungen, in denen es zur ›Welt‹ steht. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die Trope der Undurchsichtigkeit gerade dafür eingesetzt wird, ein Phänomen zu bezeichnen, das sich der epistemischen Erfassung beharrlich entzieht. Daher frage ich im Folgenden, ob und wie Undurchsichtigkeit in die Modi der Wahrnehmung, des ›Sehens‹ und ›Ansehens‹ in den Romanen eingeschrieben ist. Wie blicken die Figuren? Welche Sichtweisen auf sich und andere nehmen sie ein? Geraten in den Romanen auf diese Weise enteignete Bereiche der Psyche des ›Ich‹ in oder aus dem Blick? Ausgehend von der Erläuterung verschiedener Phänomene, die Butler unter dem Term ›Undurchsichtigkeit‹ in eine gemeinsame Geschichte bringt (vgl. Kapitel 6.1), gehe ich darauf ein, in welchen Weisen die Undurchsichtigkeit

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des Selbst in den Romanen Lustigers erzählerisch dargestellt wird und welche ethische Bedeutung sie in den Narrationen gewinnt (vgl. Kapitel 6.2). Ich suche nach spezifischen Verfahren der Darstellung von Undurchsichtigkeit und frage nach den Auswirkungen, welche die Anerkennung der Undurchsichtigkeit des Selbst auf das Handeln der Figuren hat. Abschließend gehe ich in einem Zwischenfazit (Kapitel 6.3) auf die Untersuchungsergebnisse ein.

6.1 R el ationale H erkunf t : E nteigne tes ›I ch ‹ Nicht nur bringt unsere existenzielle oder soziale Herkunft Enteignungen, oder nach Butler: Preisgaben, mit sich, darüber hinaus muss die gesamte Einsetzung des ›Ich‹ als relationaler Prozess verstanden werden (vgl. Balzer 2014). Daraus folgt für Butler, dass das ›Ich‹ »am Anfang nur in der Adressierung an dich« (KeG: 112; Herv. i. O.) besteht. In dieser Setzung zeichnet sich bereits ab, worin die ethische Bedeutung des Moments der Undurchsichtigkeit des Selbst liegt. Weil das ›Ich‹ am Anfang seiner selbst nicht für sich existiert, kann es sich bis zu einem gewissen Zeitpunkt noch gar nicht als ›Ich‹ bezeichnen und sich dementsprechend weder Handeln noch Folgen zurechnen. Es scheint hier – am Anfang des ›Ich‹ – einen Ort zu geben, von dem es zwar geformt wird, über den es aber keine moralische Rechenschaft abzulegen vermag. Diese Situation des noch nicht ›Ich‹ gewordenen Subjekts erfasst Butler in der folgenden phänomenologischen Beschreibung: »Ich stecke fest, bin ausgeliefert in einer Weise, die sich nicht einmal durch den Begriff der Abhängigkeit beschreiben lässt. Das bedeutet, dass ich auch auf Arten und Weisen geformt werde, die meiner Selbstbildung vorausgehen und sie erst möglich machen, und diese ganz besondere Transitivität ist schwer, wenn nicht unmöglich zu erzählen.« (KeG: 112)

Die Begrifflichkeiten des ›Feststeckens‹ und des ›Ausgeliefertseins‹ verweisen auf den Begriff der »Abhängigkeit« (KeG: 112), während sie ihn gleichzeitig überschreiten. Diese Überschreitung lässt sich Butler zufolge begrifflich schwer fassen. Einen wesentlichen Grund dafür sieht sie zum einen darin, dass das ›Ich‹ mit Beginn der Subjektwerdung ihm selbst unverständliche Erfahrungen macht, die auf undurchsichtige Selbstformierungsprozesse zurückgehen können (vgl. Sattler 2009). Zum anderen begreift Butler das Subjekt bei seiner Hervorbringung in doppelter Weise von den anderen abhängig, wie ich in den Kapiteln 2, 3.1 und 4.1 ausgearbeitet habe. Es bedarf sowohl der Fürsorge und Liebe anderer als auch der Anerkennung seiner Existenz durch geltende Normen, um weiterexistieren zu können (vgl. PdM; RdK). Das bedeutet, dass dem Subjekt auch sein Anfang doppelt undurchsichtig bleiben muss. Es kann

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

unmöglich erzählen, was es zu Beginn erfahren hat, weil das ›Ich‹ sich noch gar nicht auf sich zu beziehen vermag. Zum anderen aber kann es »keine abschließende oder angemessene Rechenschaft von sich geben, weil es nicht zum Schauplatz der Anrede zurückkehren kann, auf dem es eingeführt wird, und weil es nicht sämtliche rhetorischen Dimensionen der Anredestrukturen erzählen kann, innerhalb deren die Rechenschaft erfolgt.« (KeG: 92)

Weil die Geschichte des ›Ich‹ immer bereits von den Normen ihrer Hervorbringung abhängt, kann das ›Ich‹ keine Geschichte haben, die ihm gehört. Doch wie lässt sich eine Form der moralischen Rechenschaft denken, die von einem Subjekt erbracht wird, das keine Geschichte hat, die ihm ganz allein gehört, sondern dessen Geschichte mit der anderer in einem transitiven Verhältnis steht? Butlers Einsetzung des postsouveränen Subjekts, das sie abhängig, enteignet und verletzlich denkt, bestimmt zugleich die moralische Rechenschaft als postsouverän, als eine Rechenschaft, die immer bereits ausgehend von ihrer Beziehung zu einem (imaginären oder realen) ›Du‹ gedacht wird. Die Undurchsichtigkeit der Herkunft geht über das Moment der Uneinholbarkeit hinaus (vgl. Husserl 1998 [1913]). Dem (chrono-)logischen Problem, dass das Subjekt seine eigene Anrufung nicht in actu, sondern (wenn überhaupt) nur nachträglich beobachten kann, fügt Butler mit der Rede vom »Schauplatz« (KeG: 92) das epistemologische und zugleich psychologische Problem hinzu, dass das Subjekt aufgrund der Anredesituation in den Diskurs und in eine »Übertragung« (KeG: 71) eingebunden ist.

6.1.1 Diskurs und ›Ich‹ Butlers ethische Überlegungen sind in einem epistemischen Feld situiert, das durch ein poststrukturalistisches Verständnis von Diskurs, Macht und Subjekt konstituiert wird. Sie folgt dabei Foucaults Diskurs-Begriff, wie dieser ihn grundlegend in den Schriften Archäologie des Wissens (1973, i. O. L’archéologie du savoir [1969]) und Die Ordnung des Diskurses (1974, i. O. L’ordre du discours [1970/1972]) darlegt. Der Diskurs bringt nach Foucaults Verständnis ein gesellschaftlich verankertes Reglement des Sagbaren hervor, das beeinflusst, welche Aussagen (énonces) an der Oberfläche des Diskurses auftauchen können. Erst durch dieses Auftauchen können die Aussagen Deutungsmacht gewinnen und schließlich selbst Einfluss auf das Reglement des Sagbaren nehmen. Foucault nimmt im Wesentlichen Bezug auf die Vorstellung, dass der Diskurs als ein Kampffeld und weniger als ein Behältnis zu verstehen sei, in welchem alle Aussagen gleichermaßen bewahrt und aufgehoben werden. Er kritisiert die sprachanalytische Erfassung der Aussagen, die sich auf die ›Regeln

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ihrer Konstruktion‹ konzentriert. Seiner Ansicht nach braucht es darüberhinausgehend eine diskursive Erfassung von Aussagen, welche die ›Regeln ihres Erscheinens‹ in den Blick nimmt: »Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse stellt eine völlig andere Frage: wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?« (Foucault 1981: 42).

Diese Auffassung des Diskurses kann berücksichtigen, dass es nur bestimmten Aussagen gelingt, aufzutauchen – und dadurch bedeutsam zu werden. Dabei vertritt Foucault in Archäologie des Wissens die Ansicht, dass die Aussagen, welche an bereits bedeutsame Aussagen(-formationen) anschließen können, indem sie dem Reglement des Sagbaren entsprechen, eher die Möglichkeit haben, an die Oberfläche des Diskurses zu gelangen. In meinem knappen Rekurs auf den foucaultschen Diskursbegriff wird deutlich, dass mit diesem vor allem auf die Machtförmigkeit des Diskurses und seine inhärenten Modi der Konkurrenz und Verdrängung abgestellt werden kann. Foucaults Diskurskonzept hat gegenüber der Diskursvorstellung von Jürgen Habermas (1981) den Vorteil, dass es dieses ermöglicht, den Diskurs von seinen Rändern her zu denken. Die Fülle der in Konkurrenz stehenden Aussagen kommt in dieser Konzeption ebenso in den Blick wie die Macht, die sich aus der Nähe zum Reglement des Sagbaren ergibt. Foucaults DiskursBegriff erlaubt es, die Konstitution eines epistemologischen Feldes kritisch auf die Modi seiner Entstehung hin zu hinterfragen. Butler versteht daran anknüpfend die Moral des ›Ich‹ nun wesentlich als enteignet in dem Sinne, dass das Subjekt im Modus der Rechenschaft eine Narration hervorbringt, die immer an ein ›Du‹ adressiert ist und sich daher innerhalb eines spezifischen epistemologischen Feldes verortet. Das ›Ich‹, das sein Handeln darlegt, kann dies nur in einem diskursiv durchkreuzten Raum tun. Es stehen ihm dafür vorbestimmte ›rationale‹ Aussageformationen zur Verfügung, in denen es jedoch nicht aufgeht (vgl. Agamben 2002). Erstens stellt der Diskurs die Regeln des moralisch Sagbaren überhaupt erst zur Verfügung, auf deren Grundlage das Subjekt seine Rechenschaft hervorbringen kann. Des Weiteren gestaltet sich der Vorgang, durch den die Narration an ein ›Du‹ übermittelt wird, nicht unabhängig vom Diskurs. Es ist nicht immer ohne Weiteres abzusehen, ob die Anderen die epistemischen Voraussetzungen der Anrede verstehen oder ob sie die Narration nicht in einer ganz anderen Weise interpretieren als vom Sprechenden intendiert. Die Komplexität dieses Einwirkens stellt Butler eindrücklich dar, wie das folgende Zitat verdeutlicht:

6. Undurchsichtigkeit des Selbst »Das ›Ich‹ wird im Kontext der Anredesituation nicht nur erzählt, sondern auch verortet und artikuliert. Was im Diskurs entsteht, bringt in vielen Fällen »die intentionalen Ziele des Sprechens durcheinander.« (KeG: 71)

Gesellschaftliche Normen der Sagbarkeit und damit verschiedene Diskurse bedingen die moralische Geschichte des Subjekts ebenso wie die imaginäre Konstruktion des ›Du‹. Die Verortung und Artikulation des ›Ich‹ geschieht im Modus des Erzählens (von sich). Der Diskurs tritt einmal durch die Regeln der Formation des Sagbaren ein, die das ›Ich‹ berücksichtigt (vgl. Foucault 1989b). Des Weiteren bedingt er die Verfassung der un-/möglichen Beziehung des ›Ich‹ zu seinem angesprochenen ›Du‹ (einschließlich möglicher mit dieser Beziehung verbundener körperlicher Praktiken). Dieses zwischen ›Ich‹, ›Du‹ und Diskurs vorliegende transitive Verhältnis erzeugt für das Subjekt die Undurchsichtigkeit seiner Herkunft. Dem Diskurs kommt also neben dem Verhältnis von ›Ich‹ und ›Du‹ eine entscheidende Rolle bei der Erzeugung des ›Ich‹ zu, die nicht allein darin besteht, Normen und Regeln für den Prozess der Subjektivation bereitzustellen, sondern auch darin, konstitutiv auf das Verhältnis von ›Ich‹ und ›Du‹ einzuwirken, indem er »die intentionalen Ziele des Sprechens durcheinander[zubringen]« (KeG: 71) vermag.

6.1.2 Überschreitungen des ›Ich‹ Das ›Ich‹ wird in gewisser Weise ständig von seinen Aussagen überschritten. Der Weg, den jede Aussage innerhalb des Diskurses nimmt, kann von den Sprechenden nicht vollständig kontrolliert werden, weil das Auftauchen der Aussage vom Reglement des Sagbaren des Diskurses abhängt, in dem sie bedeutsam werden soll. Zwar stellt die Zensur ein Instrument dar, die Intention und damit die Richtung, aus der an eine Aussage diskursiv angeschlossen wird, zu regeln. Es zeigt sich aber immer wieder, dass sich Bedeutung nur sehr schwer kanalisieren lässt (vgl. etwa Hieber/Villa 2007). Foucault (1981: 44) – wie später auch Butler – weist in diesem Zusammenhang auf die Eigenheit der Aussage hin, ein »Ereignis« zu sein, »das weder die Sprache noch der Sinn völlig erschöpfen können«. Er erklärt in einer längeren Textpassage, worauf sich dieser Sinnüberschuss1 zurückführen lässt:

1 | Die Figur des Sinnüberschusses wird innerhalb der Wissenssoziologie dafür verwendet, den polysemen Gehalt der Anschauung zu bezeichnen (vgl. dazu etwa Breyer 2011: 45).

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Für den hier verfolgten Zusammenhang stellen Foucaults Beobachtungen wichtige Hinweise dar. Sie erklären, auf welchen Wegen sich Bedeutung der Kontrolle entziehen kann. Die Aussage ist zwar an eine Form der Materialität gebunden, zugleich führt sie aber eine – wie auch immer bedeutsame – eigenständige Existenz. Daneben ist sie offen für »Wiederholung, […] Transformation und […] Reaktivierung« (Foucault 1981: 44) und ist mit anderen Aussagen »gemäß einer völlig anderen Modalität« (ebd.) verbunden. Butler weist darüberhinausgehend mit Shoshana Felman auf die Überschreitung des Sprechens durch den Körper hin. Schließlich sei »der Körper im Sprechen [nicht] vollständig anwesend« (Hsp: 243). Die Momente der die Materialität überschreitenden Existenz, der Offenheit für Wiederholung und der Verbundenheit mit anderen Aussagen sowie der unkontrollierbaren Körperlichkeit des Sprechens machen deutlich, inwiefern die Bedeutungsanreicherung einer Aussage innerhalb des Diskurses unkontrollierbar ist. Es kann nicht abgesehen oder im Vorhinein geplant werden, in welcher Weise eine Aussage wiederholt wird oder mit welchen Aussagen sich eine getätigte Aussage für ein anderes Individuum verbinden wird. Ein weiterer Aspekt der Überschreitung des ›Ich‹ besteht darin, dass jedes ›Du‹ »imaginär« (KeG: 71) ist. Unabhängig davon, ob der Andere körperlich anwesend ist oder nicht, ist es möglich, ihn als Anderen anzureden. Dieser Andere existiert in der Vorstellung, und das Bild, das der Sprechende sich von ihm gemacht hat, kann sich zwar auf reale Erfahrungen stützen, hängt aber von den subjektiven Interpretationen des Erlebten ab. Gleichzeitig macht uns Butler aber auch darauf aufmerksam, dass das ›Du‹ das ›Ich‹ überschreitet, indem es ebenso »variabel und imaginär« ist, wie »es begrenzt, widerspenstig und hartnäckig einfach da ist« (KeG: 71).3

2 | Die Aussage begreift Foucault als ein Ereignis, weil ihre Existenz mit ihrem Auftauchen konstitutiv verbunden ist. 3 | Dies ergibt sich aus dem Konstitutionsmodus des ›Ich‹, der in der Abgrenzung vom ›Du‹ gründet (vgl. dazu Kapitel 2.2).

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

Wichtig für die Untersuchung des Moments der Undurchsichtigkeit des Selbst scheint mir insbesondere der sich hier andeutende Punkt, dass die Überschreitung des ›Ich‹ nicht mess-/oder kontrollierbar und damit nicht recht fassbar bleibt. Hierin zeigen sich zugleich die Produktivität und das transformative Potenzial der moralischen Erzählung. Diese zwingt in Butlers Verständnis dem Sprechenden weniger ein Geständnis ab, als dass es dem ›Ich‹ die Möglichkeit gibt, sich im Hinblick auf ein moralisches Problem ethisch (neu) zu entwerfen. Anknüpfend an das transitive Verhältnis zwischen ›Ich‹, ›Du‹ und Diskurs zieht Butler in Zweifel, dass es ein Sprechen ohne Übertragung geben kann. Mit der psychoanalytischen Rahmung der Überschreitung des ›Ich‹ in der Anrede des ›Du‹ gelingt es ihr, deutlich zu machen, wie unauflöslich und undurchsichtig Subjekt und Anrede miteinander verschränkt sind (vgl. Redecker 2011). Sie erläutert: »Die Übertragung ist nun die gefühlsgeladene Anredeszene, die an diesen überwältigenden Anderen erinnert und das Unbewusste auf seine Äußerlichkeit umleitet, von der her es auf irgendeine Weise zurückgegeben wird. In der Übertragung und Gegenübertragung geht es also nicht bloß darum, dass wir die Geschichte unseres Lebens aufbauen oder wiederaufbauen, sondern auch um die Inszenierung dessen, was nicht erzählt werden kann, und um die Inszenierung des Unbewussten, wie es in der Anredeszene selbst wieder durchlebt wird.« (KeG: 75)

Mit dem Konzept der Übertragung zielt Butler auf den Sachverhalt, dass Sprechen nicht nur deshalb unkontrollierte und unvorhersehbare Effekte mit sich bringt, weil die diskursiven Verknüpfungen der Aussagen mit anderen Aussagen nicht steuerbar sind. Sie weist darüberhinausgehend darauf hin, dass es für das Subjekt nicht immer benennbar ist, was es zum Ausdruck bringen möchte, und sich dadurch ein »unverfügbare[r] […] Bereich der Psyche« (KeG: 75) formiert. Butler wirft die Frage auf, inwieweit dieser unbewusste Bereich überhaupt dem Selbst zugerechnet werden darf. Sie thematisiert, dass »das Unbewusste verstehen […] jedoch gerade verstehen [heißt], was im eigentlichen Sinne nicht mir gehören kann, weil es sich just der Rhetorik des Gehörens widersetzt, weil es eine Art und Weise ist, durch die Anrede des Anderen von Anfang an enteignet zu sein« (KeG: 75; Herv. i. O.).

Aus diesen Bedingungen – der Enteignung und Undurchsichtigkeit –, denen das Sprechen des Selbst unterliegt, folgt, dass es für das ›Ich‹ nicht vollständig einsehbar ist, welche Aussagen es trifft und worauf sich diese gründen. Butler erfasst diese Aspekte des Sprechens und sich Ereignens von Aussagen als konstitutives Moment des Subjekts mit dem Begriff der Undurchsichtigkeit und entwirft davon ausgehend eine Ethik des postsouveränen Subjekts.

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6.1.3 Zur ethischen Bedeutung des Moments der Undurchsichtigkeit Ausgangspunkt von Butlers Überlegungen in Kritik der ethischen Gewalt stellt die an Adornos Moralphilosophie anknüpfende Frage dar, wie eine Ethik beschaffen sein muss, damit sie nicht gewaltsam durchgesetzt werden muss, sondern lebendig angeeignet werden kann (vgl. Adorno 1983; Kapitel 2.3.3). Die moralische Rechenschaft kann als der Modus der Auseinandersetzung des Selbst mit den moralischen Codes verstanden werden, durch welche das Selbst sich einerseits innerhalb des vorhandenen ontologischen Feldes ausprägt. Andererseits kann es sich aber auch mit ihnen auseinandersetzen, sich quasi an ihnen abarbeiten, indem es die epistemischen Rahmen der Normen performativ verschiebt, unterläuft und kritisiert, um das ontologische Feld seines eigenen Erscheinens oder das anderer Subjekte zu erweitern. Es zeigt sich hier, warum die Kritik »nicht vorankommt, wenn sie nicht berücksichtigt, wie das überlegende Subjekt überhaupt entsteht und wie ein reflektierendes Subjekt bestimmte Normen tatsächlich leben oder sich aneignen kann« (KeG: 16).

Butlers Arbeiten verdeutlichen, dass es eine lebendige Aneignung dann geben kann, wenn die gesellschaftlichen Normen darauf ausgerichtet sind, die Lebendigkeit des Subjekts, die Vielfalt der Ausprägung seiner Existenz anzuerkennen, und nicht darauf, sie zu beschränken. Dazu müssen die Grenzen der Anerkennung ständig erweiterbar sein, um auf die Undurchsichtigkeit, der das Selbst unterliegt, nicht begrenzend, sondern ermöglichend reagieren zu können: »Es ist eines, zu sagen, dass ein Subjekt in der Lage sein muss, Normen anzueignen, aber es ist etwas anderes, zu sagen, dass es Normen geben muss, die dem Subjekt innerhalb des ontologischen Feldes einen Raum eröffnen.« (KeG: 17)

Wie in 6.1.1 und 6.1.2 dargestellt, verweist der Terminus der Undurchsichtigkeit auf die unkontrollierbaren, enteigneten und unvorhersehbaren Aspekte des Sprechens eines Subjekts, das immer bereits von einer vergesellschafteten Stimme angerufen wird. Die Herkunft dieses Subjekts muss transitiv und vielstimmig gedacht werden, wobei sich die Kontrolle über die verschiedenen Stimmen dem Subjekt entzieht. Butler macht deutlich, inwiefern die Undurchsichtigkeit der Herkunft des ›Ich‹ aus der Unverfügbarkeit der Diskurse und seiner Einsetzung auf dem »Schauplatz der Anrede« (KeG: 92) notwendig folgen muss. Die Möglichkeit, ›Ich‹ zu sagen, denkt sie immer als eine, die uns von einem anderen Ort – der Gesellschaft – gegeben wird. Wenn wir uns als

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

›Ich‹ annehmen, stimmen wir einer unauflöslichen Verstrickung mit dem Ort unserer Einsetzung zu. Unser »Begehren, im Sein zu verharren« (KeG: 62), findet in dieser Verstrickung die Möglichkeit, zu existieren. Daraus folgt, dass wir jede Rechenschaft, die wir geben können, von diesem Ort aus formulieren. Butler interessiert die Undurchsichtigkeit des Ortes, von dem das Subjekt angerufen wird, vor dem Hintergrund der ethischen Implikationen, die sich daraus ergeben, »dass das Subjekt gerade in seiner Undurchsichtigkeit für sich selbst einige seiner wichtigsten ethischen Bindungen eingeht und unterhält« (KeG: 31).

Das Moment der Abhängigkeit wird konstitutiv für die Formierung des Selbst. Weil das Subjekt durch Beziehungen zu anderen geformt wird, die seinem Selbst notwendig vorausgehen und sich daher auch nicht rekonstruieren lassen, bleibt das Selbst für sich an dieser Stelle undurchsichtig. Dennoch sind für Butler »ebendiese Beziehungen zu anderen der Austragungsort der eigenen ethischen Verantwortlichkeit« (ebd.). Deshalb geht sie der Frage nach, inwiefern gerade ein Verständnis des Moments der Undurchsichtigkeit des Selbst den Grundstein für eine Ethik legt, die sich auf die Schaffung eines »legitimen Ortes innerhalb der Sphäre der gesellschaftlichen Ontologie« (KeG: 17) für jedes Subjekt ausrichtet. Butler nähert sich einer Antwort auf diese Frage mit einem Blick auf die »Rolle der Moral bei der Hervorbringung des Subjekt[s]« (KeG: 18) in einem Rückgriff auf Foucault: »Das Subjekt bildet sich im Verhältnis zu einer Menge von Codes, Vorschriften oder Normen; und das geschieht nicht nur (a) auf eine Weise, in der sich die Selbst-Konstitution als eine Art Poiesis enthüllt, sondern (b) auch so, dass sich die Selbst-Konstitution als Bestandteil der umfassenden Praxis der Kritik erweist.« (KeG: 27)

Einer »Praxis der Kritik« (KeG: 18) fällt nach dieser Deutung die Aufgabe zu, »die Grenzen des historischen Rahmens, mithin des epistemologischen und ontologischen Horizonts offen zu legen, vor dem überhaupt Subjekte entstehen« (KeG: 18).

Über die Ausrichtung des Selbst an Moralcodes formt sich die Subjektivität des ›Ich‹. Diese Moralcodes denkt Butler mit Foucault als Teil des »historischen Rahmens« (KeG: 18), der die Gesamtheit unserer epistemischen und ontologischen Annahmen beinhaltet.

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6.1.4 Das Moment der Undurchsichtigkeit im Kontext von Erinnerung, Gedächtnis und Trauma Im Hinblick auf die Debatten, die im Kontext der Forschungen zu literarischer Erinnerung und Traumadarstellungen geführt werden, sind Butlers Überlegungen zur Undurchsichtigkeit des Selbst vor allem im Zusammenhang mit unnennbaren, unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Effekten des Sprechens und Erzählens weiterführend. Denn wie Carol A. Kidron darstellt, hat »die Fokussierung der Wissenschaft und der Populärkultur auf psychische Narben, Gesprächstherapien und öffentliche Artikulierungen schwieriger Erfahrungen diskretere, eher nach innen gerichtete Formen mnemonischer Repräsentation bislang überschattet und sogenannte verkörperte Erinnerungen (embodied memories) verdrängt« (Kidron 2011: 161; Herv. i. O.).

Im Zuge diskursiver Verlagerungen auf die Themenfelder der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) (vgl. Shephard 2011) und Überlebensschuld (vgl. Leys 2011) hat sich ein »psychopathologische[s] Paradigma« (Lomratz 2011: 225) für die Erfassung der Shoah-Opfer ausgeprägt (vgl. Zajde 2011). Die analytische Aufmerksamkeit richtet sich vornehmlich auf sichtbare Abweichungen von der Norm im Verhalten der Überlebenden, was zu einer Stigmatisierung der Shoah-Opfer ebenso wie zu einer Psychopathologisierung des Traumas beigetragen hat (vgl. Brunner/Zajde 2011; Weilnböck 2007). Während eine umfassende methodologische und methodische Kritik dieses Paradigmas immer noch aussteht, erweist es sich nach Kidron nach wie vor als dauerhaft wirkmächtig. Obgleich etwa Studienergebnisse »keine eindeutigen pathologischen Befunde« hinsichtlich der Langzeitfolgen der Shoah in den Nachfolgegenerationen nahelegen, beobachtet sie, dass die Forschung »auch weiterhin auf gestörte psychosoziale Bewältigungsmechanismen, gestörte Selbstwahrnehmung und langfristige Nachwirkungen des Holocaust-Trauma bei der dritten Generation« (Kidron 2011: 165f.)

hinweist. In den Kapiteln 1.3.1 und 1.3.2 der vorliegenden Arbeit wurde deutlich, dass auch die deutsche Forschungsliteratur zur deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur punktuell an die skizzierte psychopathologische Rahmung anknüpft (vgl. dazu auch Dornick 2012; 2016). Umso wichtiger erscheint es mir, hervorzuheben, dass die Arbeiten, die sich mit den Phänomenen des Schweigens, Nicht-Erinnerbaren und Erfundenen auseinandersetzen, eine Sichtweise motivieren, die bei der Analyse der literarischen Repräsentation der Shoah die spezifischen Modi der Darstellung in den Vordergrund stellt und nicht die patho-

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

logischen (vgl. Caruth 2000; Dornick 2016; Hirsch 2008; Jung 2000; Kidron 2011; Knaap 2006; Platen 2000; Young 1995). Butler bietet mit der Trope der Undurchsichtigkeit des Selbst ein epistemologisches Vokabular an, mit dem sich den verworfenen, nicht-erinnerbaren Bestandteilen des Selbst anerkennend genähert werden kann, ohne sie zu pathologisieren oder in das kalte Licht einer dokumentarischen Erfassung zu zerren. Vielmehr ermöglicht es die Trope, Anerkennung für eine Existenz vom psychischen Ort des Schmerzlichen, Schwierigen und Unfassbaren aus einfordern. In ihrem Text Am Scheideweg macht Butler in Bezug auf das Verhältnis von Literatur und Trauma darauf aufmerksam, dass »[z]wischen Erzählen und Durchleben […] immer und notwendigerweise ein gewisser Abstand« (AS: 225) liegt. Gleichzeitig weist sie anhand Primo Levis Erzählen darauf hin, dass dieses »doch auch im Dienst seines Überlebens« steht und »so auf das Gedächtnis einwirken, seine traumatische Wirkung abmildern und sogar an seine Stelle treten« (AS: 225) kann. Mit Hayden White argumentiert sie dafür, dass »›die moralische Verantwortung, die die Form inspiriert‹, zur vermittelten objektiven Realität gehört. Gerät die Referentialität [des Erinnerten/Erzählten] ins Schwanken, hat das mit den Schwierigkeiten der Erinnerung an dieses Leiden zu tun, einer Schwierigkeit, die die Fähigkeit selbst zur Aufrechterhaltung einer Form für das Gedächtnis beeinträchtigt« (AS: 24).

Ihre Aussage rekurriert zum einen auf die Problematik, dass traumatische Erfahrungen Erinnerung verunmöglichen können (vgl. Caruth 2000; Hirsch 2008). Zum anderen referiert sie aber auch auf den Bereich des Undurchsichtigen, der sich zwischen jeder Aussage und dem Selbst auftut. Butler rekonstruiert den Prozess, in welchem das Undurchsichtige zwischen individueller Verarbeitung, Erzählung und gesellschaftlicher Geschichtlichkeit notwendig erzeugt wird: »Das Trauma löst die schmerzliche Erinnerung als begrenztes Ereignis auf, und die Geschichte bietet durch die Kristallisierung des Gedächtnisses Entlastung von eben dieser traumatischen Begegnung. Von Interesse scheint hier, dass die Geschichte Hand in Hand mit einem gewissen Vergessen arbeitet, das zum Überleben tatsächlich notwendig ist. Die Geschichte, die auf der Grundlage des Gedächtnisses das Leid belegen soll, kristallisierte das Leid und führt damit zu einem Vergessen, das dem Erzähler beim Überleben hilft.« (AS: 224f.)

Das Vergessen wird in dieser Perspektive als eine Folge der Kristallisierung des Gedächtnisses deutlich. Der Prozess des Erinnerns, der das Erlebte in die Form einer Geschichte – im Sinne einer Erzählung – bringt, führt dazu, dass bestimmte – nicht erzählbare – Erfahrungen ausgeblendet werden. Butlers

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Subjekttheorie macht aber deutlich, dass diese nicht erzählbaren, durch gesellschaftliche Diskurse nicht erfassbaren Erfahrungen des Einzelnen weiter bestehen, auch, wenn sie ›vergessen‹ werden. Sie existieren weiter in einer ›gespenstischen‹ Irrealität und werden als eine solche in die Psychen der Subjekte ›gewendet‹ (vgl. Kapitel 2.2.3). Solchermaßen wird die Shoah als »Pathologie der Geschichte« (Caruth 2000: 86) lesbar, die in die Subjekte gewendet, schließlich als Pathologie des Selbst erscheint. Das Moment der Undurchsichtigkeit des Subjekts ist für die Ethik des postsouveränen Subjekts entscheidend. Nur eine Ethik, die sich auf der Grundlage der Undurchsichtigkeit des Subjekts konstituiert, garantiert die Schaffung eines »legitimen Ortes« (KeG: 17) für die Vielfalt menschlichen Lebens und menschlicher Beziehungen. Aufgrund seines transitiven Verhältnisses zu einem ›Du‹ und zum Diskurs muss sich das Selbst in Teilen immer undurchsichtig bleiben. Zu Beginn seines Lebens, aber auch noch danach, durchlebt es Ereignisse und macht Erfahrungen, die ihm unverständlich sind und die es nicht erzählen kann. Darüber hinaus sind mit dem Sprechen und Erzählen immer Effekte verbunden, die vom Subjekt nicht durchschaut und kontrolliert werden können. Insbesondere Butlers Akzentuierungen im Hinblick auf das Verhältnis von Erinnerung, Gedächtnis und Trauma machen deutlich, dass das in einer Geschichte kristallisierte Erinnerte immer mit einem Vergessen einhergeht, das die Form der Erzählung mitbestimmt.

6.2 E nteigne tes ›I ch ‹ in den R omanen G il a L ustigers Die Einsetzung eines postsouveränen Subjekts, das abhängig, durch Normen konstituiert und sich selbst gegenüber undurchsichtig gedacht wird, verlangt nach einer kritischen Ontologie, welche darauf ausgerichtet ist, die pluralen Erscheinungen von Leben anzuerkennen und zu ermöglichen, und nicht etwa zu reglementieren und auszulöschen. Vor diesem Hintergrund untersuche ich im folgenden Kapitel die Romane Lustigers darauf, in welchen Weisen in ihnen das Moment der Undurchsichtigkeit des Selbst zum Einsatz gebracht wird, indem von enteigneten Bereichen des ›Ich‹ aus erzählt wird. Dazu gehe ich in textnahen Analysen der Darstellung der Modi des ›Sehens‹ und des ›Ansehens‹ nach. Ich arbeite ihre unterschiedliche erzählerische Konstruktion heraus und mache deutlich, wie die Wahrnehmung nicht normgerechter Aspekte des Selbst durch die Figuren präsentiert wird. Während ich mich in den Kapiteln 6.2.1 und 6.2.2 auf die Darstellung von Figuren konzentriere, die aufgrund ihrer abweichenden Erscheinung in ihrer Existenz gefährdet sind, fokussiere ich in den nachfolgenden Kapitel 6.2.3 bis 6.2.5, wie in den Romanen Wahrnehmung und hierbei insbesondere die Formen des ›Se-

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hens‹ und ›Ansehens‹ als Modi konstruiert werden, welche die Anerkennung pluraler Erscheinungsweisen von Leben möglich machen.

6.2.1 Verfehlte Anerkennung und gewaltvolle Ethik Schon im Titel korrespondiert der Roman Aus einer schönen Welt mit literarischen und dramatischen Werken, in denen es um die Problematisierung von Wahrnehmung geht. Der emblematische Verweis auf Aldous Huxleys Dystopie Schöne neue Welt (1932) zielt auf das achte Kapitel Huxleys Romans, in welchem die ›schöne neue Welt‹ mit Shakespeares Drama Der Sturm (engl. The Tempest, 1611) in Verbindung gebracht wird. In Huxleys Roman Schöne neue Welt referiert das Emblem der ›schönen neuen Welt‹ auf eine Wahrnehmung der Realität unter falschen Voraussetzungen. Es wird eine Rezeptionssituation produziert, in welcher Leser_innen und Figuren gegensätzliche Assoziationen mit der emblematischen Aussage verbinden. Auf diese Weise kommt die doppelbödige Einrichtung der ›Welt‹ in den Blick der Leser_innen (vgl. Goffman 1977; 2003; Schütz 1944). Zwei unterschiedliche Welten fallen an einem Zeitpunkt zusammen: Die Figur John ist voll freudiger Erwartung für die sogenannte ›neue‹ Welt, von der er bislang ausgeschlossen war. Was John jedoch nicht weiß – die Leser_innen aber schon –, ist, dass er nur in diese gebracht wird, um dort für eine Intrige benutzt zu werden. Die ›schöne neue Welt‹ entpuppt sich im weiteren Verlauf des Romans für John und die Leser_innen als eine Täuschung. Ebenso wird die ›schöne Welt‹ der gut situierten Mittelstandshausfrau in Aus einer schönen Welt als Täuschung vorgeführt. Denn vor dem kritischen Blick der Erzählstimme haben die Fassaden des Wohlstands keinen Bestand. In dem Roman wird zwar keine Dystopie erzählt, wohl aber die Schönheit einer Welt infrage gestellt, welche die Vielfältigkeit der menschlichen Existenz negiert und den Wert der Menschen hauptsächlich nach ihrer ökonomischen (und biopolitischen) Verwertbarkeit bemisst. Dabei spielt die Darstellung von Wahrnehmung eine zentrale Rolle. In den Vordergrund der Narration ist eine Phänomenologie der Blicke gerückt, die A. auf sich und andere wirft oder auf sich geworfen sehen möchte. Diese Blicke fungieren als Signifikanten der Normen, denen A. sich unterwirft und an deren Erreichen sie täglich von neuem scheitert, weil sie einem Idealtypus entsprechen, der nicht erreicht werden kann (vgl. UdG). Im Folgenden gehe ich auf die narrative Konstruktion verschiedener Rahmen und Richtungen von Blicken in Aus einer schönen Welt ein. Zunächst stelle ich einleitend das Erzählmotiv des verstellten Blicks auf die Herkunft der Fokalisierung vor, das für den Roman zentral ist. Daran anschließend arbeite ich die Perspektivität der dargestellten Blicke heraus und mache darauf folgend deutlich, dass A. trotz der Vielzahl der Blicke, die sie auf sich und andere wirft,

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die von ihr begehrte Selbsterkenntnis verfehlt. Abschließend erläutere ich, inwiefern in Aus einer schönen Welt veranschaulicht wird, dass die Verfehlung der Selbsterkenntnis durch A.s mangelnde Anerkennung des Moments der Undurchsichtigkeit des Selbst begründet ist.

6.2.1.1 Erzählmotiv: Der verstellte Blick Das Erzählmotiv des verstellten Blicks auf die Herkunft der Fokalisierung – wer spricht? – erlangt auf zwei verschiedenen Ebenen Wirkmächtigkeit für die Konstitution der Erzählung. Erstens auf Ebene der narrativen Konstruktion und zweitens auf der Ebene der Konstruktion der Figurenperspektiven. Auf der Ebene der narrativen Konstruktion kristallisiert sich das Erzählmotiv auf die folgende Weise heraus: Im formalen und stilistischen Auf bau der Kapitel ähnelt der Roman einer szenischen Darstellung. Die Kapitel beginnen und enden größtenteils unvermittelt und spiegeln in ihrer Mehrzahl die Reflexionen A.s über sich und andere wider. Die Erzählinstanz verfügt quasi über eine Reihe von Passagen, deren Urheberschaft häufig unbestimmt ist. Neben Textabschnitten, in denen deutlich wird, dass A.s Gedanken gerade durch die Erzählstimme wiedergegeben und auch von ihr kommentiert werden, finden sich Kapitel, in denen die Erzählstimme nicht markiert wird. Das heißt, es ist dann nicht klar, inwiefern das Erzählte von A. (oder einer anderen Figur) erlebt wird. Beispielsweise beginnt Kapitel 114 (ASW: 129f.) unvermittelt: »Der Mann kann sich die Frau leisten, weil sie viel weniger gekostet hat, als man annimmt« (ASW: 129). In diesem Duktus wird das gesamte Kapitel erzählt, wobei ein erzählerischer Vorgriff (»die Kleinküchenmaschine wird sie erst in zwei Jahren vom Vati zum Geburtstag geschenkt bekommen« [ASW: 129]) einen Hinweis auf die Nullfokalisierung der Erzählstimme liefert. Da von A. nicht bekannt ist, dass sie in die Zukunft blicken kann, wäre es möglich, dass die gesamte Narration in Kapitel 114 unabhängig von A.s Erleben erzählt wird. Gleichzeitig liegt mit dem Erzählten eine externe Analepse vor. Aus dem erzählerischen Rückgriff auf ein Geschehen außerhalb der Haupthandlung folgt aber auch die Möglichkeit, dass es sich bei der Erzählung um erlebte Gedankenrede von A. handelt. In diesem Fall würde diese daran denken, wie sie zwei Jahre nach dem Zeitpunkt der erzählten Handlung eine Kleinküchenmaschine geschenkt bekam. Auch Textstellen, in denen das Geschehen ohne Markierung der Fokalisierungsinstanz wiedergegeben wird, tragen zu einer Undurchsichtigkeit in Bezug auf die Herkunft der Erzählung bei, wie die folgende Textpassage zeigt: »Die Frau trägt einen dunklen Sommerpulli, der ihre vollen Brüste betont. Sie liegt auf einem roten Ledersofa und hat den Kopf nach unten gebeugt. Ihre langen blonden Haare umfließen sie. Ihre Augen sind halb geschlossen. Der Mann tritt an sie heran und reicht ihr ein Glas.« (ASW: 65)

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

Der Beginn des Kapitels 50 (ASW: 65-68), der hier zitiert ist, macht nicht deutlich, dass es sich bei der Darstellung um die Narration einer Fernsehsendung handelt. Vielmehr wird die Fernsehsendung sprachlich und narrativ ungekennzeichnet wiedererzählt. Erst im darauf folgenden Kapitel 51 (ASW: 68f.) wird das gesamte Kapitel 50 durch die Phrase: »Fortsetzung nächste Woche« sowie den Zusatz »A. blickt gebannt« (ASW: 68) rückwirkend neu gerahmt. Die narrative Geste stellt klar, dass es sich bei dem Erzählten in Kapitel 50 nicht um ein Erlebnis A.s handelt, sondern um eine fiktive Situation, die im Fernsehen dargestellt wird. Unklar bleibt aber weiterhin, ob die Erzählstimme von der Fernsehsendung erzählt oder A.s Gedanken fokalisiert werden, die sie beim Schauen der Fernsehsendung hat. Etwas anders verhält es sich mit Kapitel 78 (ASW: 96), dessen Narration im Stil mit der in Kapitel 50 vergleichbar ist. Das Kapitel beginnt in ähnlicher Weise wie Kapitel 50: »Am Abend kommt der Mann mit einem Blumenstrauß nach Hause. Die Frau lächelt. Mann und Frau umarmen sich.« (ASW: 96)

Die Erzählung hier wird nicht als Fernsehsendung markiert und könnte daher als intern fokalisierte Wahrnehmung A.s verstanden werden. Es ist jedoch ganz unklar, auf welche Situation A.s Wahrnehmung rekurriert. Sieht sie sich selbst als Frau in einer solchen Situation mit ihrem Mann? Oder imaginiert sie sich in einer solchen Situation? Möglich wäre aber auch, dass sie ein anderes reales/fiktives Paar bei der Begrüßung beobachtet. Es fehlt hier ganz offensichtlich ein epistemischer Rahmen, welcher dabei hilft, den ›Sinn‹ der erzählten Situation genauer zu bestimmen (vgl. Goffman 1977). Auf wieder andere Weise ist der Blick in Kapitel 30 (ASW: 42) verstellt. Dort heißt es: »Nach kurzem Bedenken wurde folgendes für den Abend gewählt:/Louis Armstrong und Duke Ellington zum Aperitif./Vivaldi für die Vorspeise. (Leicht und feierlich)/Beethoven zum Hauptgang: Kalbsnuß Rivera.« (ASW: 42)

Bei dieser Aufzählung wird zwar im Kontext der Kapitel 29 (ASW: 40-42) und 31 (ASW: 42f.) deutlich, dass es sich um die musikalische Untermalung eines Abendessens in A.s Haus handeln könnte. Es bleibt jedoch unklar, von welcher Figur die Musik ausgewählt wurde und wer die Auswahl kommentiert. Handelt es sich um erlebte Gedankenrede oder um eine Wiedergabe von Sachverhalten, die eventuell einen kritischen Blick auf das Geschehen inszenieren sollen? Auf Ebene der Figurenperspektiven lässt sich eine Phänomenologie des verstellten Blicks herausarbeiten, der ich im Folgenden in Bezug auf die Figur A.

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nachgehe. Dazu rekonstruiere ich die Blicke, die sich einerseits auf A. richten und die A. andererseits auf sich und andere wirft. Neben den unterschiedlichen Erzählperspektiven der Nullfokalisierung, der erlebten Gedankenrede sowie der Wiedergabe direkter Rede werden unterschiedliche Blickrichtungen der Erzählinstanz in Aus einer schönen Welt verwendet. Diese lassen sich grundlegend in Darstellungen unterscheiden, die erstens abbilden, wie A. sich selbst (Gefühle, Einstellungen, alltägliche Routinen, Körper) anschaut, beobachtet oder einschätzt. Zweitens, wie A. von anderen angeschaut oder beurteilt werden will und/oder wird. Und drittens kristallisiert sich heraus, wie A. andere anschaut bzw. wahrnimmt. Zwischen diesen Typen lassen sich Mischformen ausmachen, so etwa, wenn A. in Kapitel 52 (ASW: 70-72) »aufzählt, was sie an Gottfried [ihrem Liebhaber] stört« (ASW: 70), was zum einen ihre Gefühle verdeutlicht und zum anderen zeigt, wie sie ihren Liebhaber wahrnimmt. Darüber hinaus werden in einigen Kapiteln auch verschiedene Blickrichtungen beschrieben, die miteinander verflochten sind. So wird in Kapitel 55 (73-75) sowohl davon erzählt, wie A. ihren Mann sieht, als auch davon, wie sie sich selbst als fragmentiertes Objekt des Mannes wahrnimmt: »Der Mann ist stolz darauf, diese ungewöhnliche Brustwarze sein eigen nennen zu können. Auch A. ist stolz auf ihr Muttermal, weil der Mann stolz darauf ist, weil das ein seltener Platz für ein Muttermal ist und weil es daher den Wert ihrer Brust steigert. (Sind nicht auch Briefmarken mit kleinen graphischen Fehlern kostbarer?)« (ASW: 74)

Des Weiteren wird in mehreren Kapiteln A.s Blick auf Gegenstände dargestellt: »Alles scheint neu. Wie die Dinge leuchten! Ein eigenartiger Glanz geht von ihnen aus, den sie zuvor nicht wahrgenommen hat, weil das Auge gelangweilt über die gewohnten Flächen streifte und nur bei Makel: Staub, Flecken, herumliegendes Spielzeug, verweilte. (Das Auge ist alltagsblind und möchte überrascht werden.)« (ASW: 83)

A.s Fokussierung auf Blicke kommt aber auch in ihrem Begehren nach Bewunderung zum Ausdruck. Wie die folgende Textstelle aus Kapitel 42 (ASW: 58f.) zeigt, ist A. dem bewundernden Blick obsessiv verfallen: »Nein, nein, A. sucht nicht die Liebe, dieses höchste Ziel des menschlichen Treibens, auch nicht eine Verbesserung ihrer Sexualpraktiken, sie will nur ihr Hirn stimulieren, damit die neuronalen Substanzen dieses Brausen auslösen, das so angenehm ist und zu einer Verbesserung ihres Körpergefühls führt. Zum Beispiel durch den bewundernden Blick der Mutter, weil sie sich einen Mann geangelt hat, der nicht nur tüchtig ist, sondern auch im Sakko eine gute Figur macht. Denn dieser Blick unverhohlenen Neides wäre eine wahre Genugtuung.« (ASW: 59; Herv. sd)

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

Bewunderung geht für A. mit Genugtuung einher. Wie weiter oben (Kapitel 5.2.1.4 und 5.2.1.5) ausführlich dargestellt, übt sie eine Reihe von Maßnahmen an sich aus, um bewundernde Blicke zu erhalten. Neben der schriftlichen Dokumentation ihrer Gefühle, Abneigungen oder alltäglichen Routinen – wie etwa die Auf bewahrung von Essensresten in Kapitel 32 (ASW: 44f.) – unterwirft sie sich körperlichen Praktiken der Selbstdisziplinierung, um unterschiedliche Bereiche ihres Lebens zu kontrollieren. Neben den Techniken, die sich auf die Optimierung der körperlichen Erscheinung A.s ausrichten, nehmen die Praktiken, die sich mit der Erforschung der eigenen Gedanken, Gefühle und Wünsche beschäftigen, einen großen Anteil an den durch A. durchgeführten Techniken ein. Daraus lässt sich schließen, dass es A. nicht nur darum geht, ›äußerlich‹ einen Anlass für bewundernde – oder zumindest nicht ablehnende – Blicke zu geben, sondern dass ihr auch etwas daran zu liegen scheint, auf der Ebene ihres intellektuellen und emotionalen ›Ich‹ ein makelloses Erscheinungsbild abzugeben und so Genugtuung zu erlangen. Diese Rekonstruktion der Narration lenkt den Fokus auf die zentrale Rolle, die dem ›Blick‹ und seiner Perspektivität in Aus einer schönen Welt zukommt. Es wird eine Diegese erzeugt, welche die Besessenheit, die A.s Verhältnis zum ›Blick‹ auszeichnet, narrativ und figurativ nachzeichnet. Der ›Blick‹ wird in den einzelnen Kapiteln des Romans immer wieder sowohl zentral auf A. gerichtet als auch von ihr ausgehend nachverfolgt. A. wird als eine Figur dargestellt, die vom ›Blick‹ gebannt zu sein scheint, ihrerseits jedoch unfähig erscheint, den ›Blick‹ zu bannen. Zu diesem Leseeindruck trägt die Erzählstimme, die weniger Informationen an die Leser_innen weitergibt, als sie eigentlich hat (oder zu haben scheint), wesentlich bei. Indem A. immer wieder aus verschiedenen Perspektiven erzählerisch beleuchtet wird, kann sichtbar werden, dass das, was in den ›Blick‹ kommt, wesentlich davon bestimmt wird, von welcher Position aus geschaut wird. Die Partialität der Wahrnehmung wird ebenso vor Augen geführt wie die Pluralität der Anschauungen, wenn A. in verschiedensten Situationen von einer heterodiegetischen Erzählstimme intern fokalisiert wird, wie ich im Weiteren deutlich mache.

6.2.1.2 Verfehlte Selbsterkenntnis Nahezu gleich zu Beginn der Handlung – im fünften Kapitel des Romans – erwirbt A. »zehn Schulhefte« (ASW: 12), um »sich ihrer Fähigkeiten bewußt [zu] werden und natürlich auch ihrer Schwächen« (ebd.). Das ist der Auftakt für eine Reihe von Selbstbeobachtungen, die A. an sich vornimmt. Ein wesentlicher Grund dafür scheint ihre im 150. Kapitel (ASW: 161-163) angegebene Intention zu sein, dass A. sich »ein vernünftiges Maß, mit dem sie sich messen kann« (ASW: 161), wünscht. Die Erzählstimme ergänzt:

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Aus diesen Andeutungen lässt sich ableiten, dass A. glaubt, in ihr existierten verborgene Gefühle. Zu dieser Vorstellung unterhält sie eine ambivalente Beziehung: Einerseits fürchtet sie sich vor ihren Gefühlen, andererseits möchte sie diese aber auch gern kennen und vor allem kontrollieren lernen. Diese Auffassung wird durch den Topos des Kerns motiviert, welcher bereits im achten Kapitel (ASW: 17f.) des Romans eingeführt wird. A. formuliert dort den Wunsch, sich selbst »bis zum Kern ergründen« (ASW: 18) zu können. Sie fragt sich, wo der Ort dieses Kerns eigentlich sein könnte: »Ist der Kern die Seele, ist er das Herz oder sitzt er, wie ein Philosoph einmal behauptet hat, bei den Frauen im Unterleib?« (ASW: 18)

A. sucht mittels ihrer umfänglichen Dokumentationen und Anwendungen von Techniken also nicht nur nach bewundernden Blicken, sondern überdies nach Selbsterkenntnis. Auf den ersten Blick mögen diese beiden Ziele nichts miteinander zu tun haben; sie erscheinen vielleicht sogar paradox. Bewundernde Blicke einerseits und Selbsterkenntnis andererseits sind für A. jedoch beide mit ihrem Ziel verknüpft, den Normen dauerhaft entsprechen zu können. Anerkennung kann nach Butler nur dann erlangt werden, wenn Verhalten den gesellschaftlichen Normen entspricht (vgl. PdM). Dieser Überlegung zufolge garantieren bewundernde Blicke den ›Wert‹ eines Subjekts und signalisieren seine Fähigkeit, die Normen der Gesellschaft zu erfüllen. Das Subjekt, das sich auf Grundlage des erwarteten Verhaltens hervorbringt, wird von der Gesellschaft anerkannt und genießt aufgrund dessen mehr Schutz als ein Subjekt, das nur zu bestimmten Teilen anerkannt wird oder aber überhaupt nicht und damit zu den verworfenen Subjekten zählt (vgl. GL; MdG). A. fürchtet insgeheim den »Kern« (ASW: 18) ihres Wesens, weil dieser etwas zutage bringen könnte, das nicht anerkennbar ist. Die Erzählstimme macht deutlich, dass A. »sich nicht mehr überraschen lassen [will]. Es kann doch nicht aus heiterem Himmel irgend etwas aus ihr herausbrechen. Es muß doch eine Logik geben und eine Ordnung, denn wozu hat sie diesen großen Behälter, der sich Körper nennt, wenn nicht auch, um alles Innere unter Verschluß zu halten?« (ASW: 161)

Statt Selbsterkenntnis – im Sinne von Einsicht in ihre eigene Undurchsichtigkeit – zuzulassen, sucht A. nach Möglichkeiten, ihre Undurchsichtigkeit zu kontrollieren:

6. Undurchsichtigkeit des Selbst »Zahlen möchte sie haben, Gewißheit möchte sie haben, damit sie nicht abrutscht im Schuttstrom der Triebe, damit sie nicht in den Schlammguß gelangt, um dort kläglich zu ersticken.« (ASW: 162)

Die Metapher des Schlamms, welche im Roman So sind wir eingesetzt wird, um auf die verdrängten Erinnerungen zu referieren, taucht hier in einem Bezug zu einer unkontrollierbaren, furchterregenden und existenzbedrohenden »Unzulänglichkeit« auf, deren Gegenpole »Zahlen« und »Gewißheit« (ASW: 162) bilden.

6.2.1.3 Mangelnde Anerkennung des Moments der Undurchsichtigkeit des Selbst Mit A. wird in Aus einer schönen Welt eine Figur dargestellt, die sich vor der Undurchsichtigkeit ihres Selbst verschließt, aus Furcht davor, etwas an sich zu entdecken, das sie wertlos werden lässt. Das zeigt sich auch darin, dass A. sich einen »undurchlässigen Panzer« zulegt, der es ermöglichen soll, »dass sie sich nicht mehr schämen muß« (ASW: 163). A. scheint anzunehmen, dass sie nur dann in der Lage ist, sich zu »schützen« und zu »ertragen« (ASW: 162), wenn sie es schafft, weniger unzulänglich zu sein. Ihr Blick auf sich selbst ist insofern durch ihre eigene Angst, den Normen der Gesellschaft nicht zu entsprechen, von vornherein verstellt: »Damit sie sich schützen kann. Damit sie sich nicht mehr schütteln muß, wenn sie abends alleine vor dem Fernseher sitzt, damit sie auch den Haß nicht mehr spürt, damit sie von der Flutwelle des Hasses nicht auf die schwarze See getrieben wird, in der alles verfault, damit sie auch die Verzweiflung nicht mehr packt beim Baden des Kindes oder beim Anblick ihres nackten, weißen und zu weichen Körpers, den sie in solchen Momenten mit ihren Nägeln zerreißen möchte wie ein fleckig gewordenes Tuch. Damit sie nicht mehr mit ansehen muß, wie die Unzulänglichkeit aus all ihren Poren quillt wie Lava, die an der Luft erkaltet und langsam auf ihrer Haut erhärtet, so daß sich dort mit den Jahren Schicht auf Schicht ablagert und zum undurchlässigen Panzer wird, damit sie sich nicht mehr schämen muß, damit die Frustration nicht mehr an ihr zerrt, die sich erst in der körperlichen Ermattung legt, damit sie sich selbst ertragen kann – dafür wünscht sich A. den Seismographen.« (ASW: 162f.)

Diese Textstelle führt vor Augen, dass A. ihre Schwäche und Zerbrechlichkeit nicht nur fürchtet, sondern sich ihrer ebenso schämt. Sie rufen Gefühle des Hasses und der Verzweiflung sowie den Wunsch, sich zu verletzen, hervor. Die Metapher der aus A. herausquellenden Unzulänglichkeit, die sich Jahr für Jahr in Schichten auf ihrer Haut ablagert, zeigt an, dass die Figur sich als ungenügend sowohl in Bezug auf ihr Äußeres als auch in Bezug auf ihr inneres

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Erscheinungsbild empfindet. Beide Bereiche nimmt A. zwar getrennt wahr, sie sind für sie aber miteinander verbunden. Das wird beispielsweise in Kapitel 26 (ASW: 38) deutlich, in dem von A.s Gedanken berichtet wird, dass »›das Geheimnis einer schönen Frau ist, daß sie sich auch von innen säubert‹« (ASW: 38). Die Säuberungspraktiken, denen A. sich unterwirft, so lässt sich schließen, scheinen eine Reaktion auf A.s Gefühl der kontinuierlich aus ihr herausquellenden – und nicht beherrschbaren – Unzulänglichkeit zu sein.4 Dieses Gefühl mündet in Kapitel 56 (ASW: 75f.) sogar in Autoaggression. Es wird erzählt, wie A. nachts durch die Wohnung streift und sich schließlich in den Sessel des Mannes setzt. Was dann geschieht, berichtet die Erzählstimme folgendermaßen: »A. schließt die Augen, streicht langsam über Gesicht, Hals, Brust und Bauch. Dann ballt sie die Hand zur Faust und schlägt in ihren Unterleib.« (ASW: 76)

Es ist auffällig, dass das offensichtliche ›innere‹ Selbstwertproblem, welches A.s Handeln antreibt, keine explizite Thematisierung oder Auflösung erfährt. Nicht nur das, es werden auch kaum Hinweise auf die Herkunft des Problems gegeben. In einigen Textstellen wird zwar ein Mutter-Tochter-Konflikt angedeutet und der Vater wird als treuer Mitläufer während des Nationalsozialismus charakterisiert. Dennoch nehmen diese individuellen Bezugnahmen nur einen Bruchteil der Erzählzeit ein und erhalten auch keinen erklärenden Charakter.5 Vielmehr wird die Furcht, die A. angesichts ihrer subjektiven Unzulänglichkeit und der Undurchsichtigkeit ihrer Gefühle erlebt, narrativ in den Vordergrund gerückt, indem im Großteil der Erzählzeit A.s scheiternde Versuche dargestellt werden, ihre Schwächen und ihre Verletzlichkeit durch Kontrolle und schließlich sogar Autoaggression zu bekämpfen.

6.2.1.4 Zusammenfassung Die Analyse macht deutlich, dass Undurchsichtigkeit in dem Roman Aus einer schönen Welt sowohl in narratologischer Hinsicht eine bedeutende Rolle spielt als auch im Hinblick auf die gesamte Erzählung. A. wird als eine Figur dargestellt, die einerseits danach strebt, sich selbst zu erkennen, andererseits nahezu konsequent Zeichen ihrer Existenz ausblendet, die mit der permanenten Verfehlung normativer Ideale zusammenhängen und sich in ihrer (Auto-)Aggression manifestieren. Die erzählerische Realisierung ihres Selbsthasses, der in Selbstverletzung mündet, macht sichtbar, dass die Nichtanerkennung der Undurchsichtigkeit des Selbst gewaltvolle Folgen mit sich bringen kann. A. ist 4 | Käthe von Bose weist auf einen Zusammenhang zwischen Säuberungspraktiken und disziplinierender Handlungsmacht hin (vgl. Bose 2017). 5 | Vgl. dazu die Beschreibung des Vaters von A. (ASW: 136f.).

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

zwar materiell abgesichert und gebildet und hat damit eigentlich gute Voraussetzungen, sich selbst – und damit ihre Undurchsichtigkeit – zu erkunden und zu reflektieren. Die Narration führt aber hypotypotisch vor Augen, dass sie sich vor der Wahrnehmung dieser Undurchsichtigkeit zu fürchten scheint und ihr die Einsicht in den Tatbestand fehlt, dass gerade sie es ist, die sie näher zu einer ›Wahrheit‹ über sich führen könnte, welche die subjektiven Verwerfungen ihrer Existenz realisiert.

6.2.2 Ausgesetzt-Sein an den Anderen Im Roman Die Bestandsaufnahme findet sich die interne Fokalisierung einer zunächst namenlos bleibenden, im vorletzten Kapitel des Romans mit »Bäcker Uhland« (BEST: 327) bezeichneten Figur. Diese wird in Kapitel 21 (»Die Liebe habt ihr verstoßen« [BEST: 199-215]) zur exemplarischen Erzählung des ausgeschlossenen Anderen. Das Kapitel ist bemerkenswert, weil die Erzählstimme nur wenige Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes wie hier intern fokalisiert darstellt. Daneben fällt auf, dass die Kapitellänge mit 16 Seiten die durchschnittliche Erzählzeit für Kapitel in dem Roman überschreitet. Der Titel »Die Liebe habt ihr verstoßen« hebt sich ebenfalls von den anderen Kapitelüberschriften in Die Bestandsaufnahme ab, welche überwiegend aus ArtikelNomen-Konstruktionen bestehen, die nur in einigen Fällen durch ein Adjektiv erweitert werden. Bäcker Uhlands Erzählung soll im Folgenden im Kontext eines postsouveränen Verständnisses von Menschlichkeit als ein Plädoyer für die Anerkennung des Selbst als undurchsichtig gelesen werden. Ich folge dabei der Annahme, dass es nur dann möglich ist, über die Kategorisierung des Menschlichen im Hinblick auf die Ermöglichung von menschlicher Existenz nachzudenken, wenn anerkannt wird, dass Existenz nicht durchsichtig ist und damit nicht ein für alle Mal erfasst werden kann, weil anderenfalls jede Kategorisierung von menschlicher Existenz Gefahr läuft, einen Gewaltakt darzustellen. Dazu gehe ich auf drei Schwerpunkte der Darstellung Uhlands ein. Erstens mache ich die Form der Narration als eine Weise der nicht-intelligiblen Rechenschaft deutlich. Zweitens gehe ich darauf ein, inwiefern sich in der Narration die Gefährdung, die sich für das verworfene Subjekt mit dem Ausschluss aus dem Bereich des Menschlichen ergibt, widerspiegelt. Drittens erläutere ich, inwiefern Bäcker Uhlands Erzählung als ein Plädoyer für die Anerkennung des Anderen als menschlich gelesen werden kann.

6.2.2.1 Nicht-intelligible Rechenschaft In dem Kapitel »Die Liebe habt ihr verstoßen«, in welchem Bäcker Uhlands Fokalisierung vorliegt, wird ein Sprechen realisiert, das sich zum Erzählzeitpunkt innerhalb der Diegese von einem diskursiven Ort aus ereignet, der aus

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nationalsozialistischer Perspektive jenseits des menschlich-legitimen Bereichs liegt. Dieser Status der Erzählung manifestiert sich in der Narration, die als eine Rechtfertigung konstruiert ist. Die Erzählstimme leitet die Geschichte mit einer intern fokalisierten Abwertung Bäcker Uhlands ein, welche sich in der Aussage »Ich bin ein überflüssiger Mensch« (BEST: 199) manifestiert. An die Feststellung seiner Überflüssigkeit schließt sich eine Aufzählung der Charakterzüge und persönlichen Eigenschaften Uhlands an, welche vor allem ›Verfehlungen‹ der nationalsozialistischen Norm charakterisieren: »Arbeite ungern, stehe, wenn möglich, spät auf und kann kein Glas abschlagen. Ich trinke nicht, um einen Kummer zu vergessen. Mein Ehrgeiz ist nicht groß genug, als daß mir eine Niederlage Schmerz bereiten könnte. Ich strebe nach keinem Erfolg. Bin weder zufrieden noch besorgt und nehme mir nicht zu Herzen, von meiner Mutter beschimpft zu werden, weil ich im Schlaf wieder eingenäßt habe.« (BEST: 199)

Die Erzählstimme führt hier zunächst ein ›Ich‹ ein, das die für eine angenommene Mehrheit geltenden moralisch richtigen Normen und Lebensformen reflektiert sowie konsequent verneint und daran anschließend Anerkennung für seine abweichende Existenz fordert: »Ach, Schnaps, Schnäpschen, süffiger Schatz. Mein liebster Branntwein, mein Bruder, meine blasse Romanze. […] Mit seiner Hilfe gelange ich zu Erkenntnissen, denen ich den Vorzug vor den nüchternen Einsichten meiner Zeit gebe. Spielend bewältige ich das Pensum Leben, um das ich nicht gebeten habe. Ist das denn nicht genug Beweis für den Profit, den ein kluger Mensch aus dem Alkohol ziehen kann? Wiegen die Möglichkeiten, die einem der Schnaps eröffnet, nicht eine Leberzirrhose auf?« (BEST: 201)

Bäcker Uhland scheint sich mit der Lebensweise und den körperlich-leiblichen Folgen seiner Alkoholsucht arrangiert zu haben, wie sich in der liebevoll-anaphorischen Beschwörung des Schnapses zeigt: »Ach, Schnaps, Schnäpschen, süffiger Schatz. Mein Obstler, mein liebes Kirschwasser, allerliebstes Zwetschgenwasser. Du füllst mich aus. Du gibst mir Sinn. Formst mich und meinen Körper. Mit den Jahren schwemmt er auf, in die Breite getrieben. Auch die durchsichtige Blässe verdanke ich dir. Das ist mein Adelstitel. Das ist mein Kainsmal, mein ganzer Stolz. Schaue ich morgens meinen nackten, unförmigen Körper an, sehe ich überall dein Werk.« (BEST: 202)

Anschließend referiert die Erzählstimme die Urteile derjenigen, die zum Zeitpunkt des Stattfindens der Erzählung die moralische Deutungsmacht erlangt haben:

6. Undurchsichtigkeit des Selbst »Sie sagen, eine Entartung der menschlichen Rasse. Sie sagen, ein vom Alkohol zerfressenes Gehirn, Leber, Magen, Darm, Niere, alles kaputt. Was bleibt da noch? Ein menschliches Wrack.« (BEST: 203)

Im Fall der hier vorliegenden »Du-Erzählung« (Greber 2006: 45) wendet sich das ›Ich‹ mit seiner moralischen Rechenschaft an eine mehrdeutige Instanz, die es mit dem Pronomen ›Sie‹ anredet. Dieses Pronomen kann im Deutschen sowohl als formale Anrede für eine Person als auch für mehrere Personen verwendet werden, weswegen die »Du-Erzählung« (ebd.) auch vorliegt, wenn die Adressierung an die 2. Person Plural ergeht (vgl. ebd.). Zugleich besteht die Möglichkeit der Adressierung der Erzählung an die Leser_innen. Auf diese Weise wird erreicht, dass die Adressierung der Erzählung über die diegetischen Grenzen des Romans hinausreicht. Nach Erika Greber geht vom »DuModus« eine Gefährdung der »Stabilität der fiktionalen Welt« aus, »weil er die erfundene Figur und den real existierenden Leser zugleich adressieren kann, was dem Erzähldiskurs eine unheimliche Wirkung verleiht« (ebd.: 48).

Diese »unheimliche Wirkung« gründet sich insbesondere darauf, dass »alles unmittelbar gegenwärtig und umfassend spürbar gemacht« (ebd.: 49) wird. Auf diese Weise wird die Intensität der Darstellung verstärkt. Die Leser_innen werden in der vorliegenden Erzählung durch die Du-Adressierung in die Diegese verwickelt. Sie müssen sich gleichsam gezwungen durch die direkte Anrede ›Sie‹ mit den vorgebrachten Vorstellungen über ihre moralischen Urteile auseinandersetzen. Diese undurchsichtige Präsenz trägt in der Erzählung um Bäcker Uhland dazu bei, dass der Eindruck der Fragilität des Einzelnen, der sich in der Rechenschaft ethisch zu den Normen der Gesellschaft in Beziehung setzt, verstärkt wird. Auf beklemmende Weise wird deutlich, wie bedrohlich das Abweichen des Einzelnen von den moralischen Vorstellungen der (vielen) Anderen werden kann, wenn die Vielgestaltigkeit des Lebens nicht als menschlich-legitim anerkannt wird: »Sie sagen, dem muß man die verhaßte Brut schon im voraus ausrotten. Mit schonungsloser Härte muß hier eingegriffen werden. Der ist für nichts gut. Kostet nur Geld. Kann nicht mehr zurückgeführt werden, und selbst wenn … wer will ihn schon?« (BEST: 203)

In dieser Textpassage referiert die Erzählstimme zum ersten Mal auf den Grund seiner Rechenschaftslegung, welcher in der konkreten Bedrohung durch eine Zwangssterilisation besteht. Im Zuge der rassenhygienischen Maßnahmen der Nationalsozialisten, worunter auch das ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹ vom 14. Juli 1933 zählt, wurden auch Bürger, denen eine deutsche Herkunft zugeschrieben wurde, als sogenannte ›Asoziale‹ Opfer

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nationalsozialistischer Verfolgung, die häufig in Zwangssterilisationen oder Einweisungen in Konzentrationslager mündete (vgl. Bock 1986; Klee 1985). Die Auseinandersetzung mit dem Urteil der Machthabenden darüber, dass Bäcker Uhland kein Recht auf Kinder oder Familie habe, bildet einerseits den Anlass, gleichzeitig aber auch den produktiven inhaltlichen Rahmen für seine Rechtfertigung. Bäcker Uhland sieht sich zu Unrecht mit einer Zwangssterilisation konfrontiert. In der Annahme, durch die Darstellung seiner Vorzüge die Urteilenden umstimmen zu können, beginnt er mit deren Darlegung, die von einer Reflexion auf seine Gefühle begleitet wird.

6.2.2.2 Gefährdung jenseits der Normen Indem sich Uhland als ein von den Normen abweichendes Individuum als ›Ich‹ einer moralischen Erzählung positioniert, wird die Einsetzung seines Selbst auf einem ethischen Schauplatz verdeutlicht. Seine Aussage wird auf diese Weise gleichsam zu einem Plädoyer für ein postsouveränes Verständnis von Menschlichkeit, wie sich in der folgenden Textpassage zeigt: »Mache gern Aussagen über mein vergangenes und zukünftiges Leben. Besitze Fähigkeiten, von denen Sie nichts ahnen – ich kläre Sie auf. Da werden Sie sehen, daß Ihre Vermutungen nicht der Wahrheit entsprechen. Wie manch anderer Mensch weiß ich meine Nachteile auszugleichen. Habe ein schönes Lachen, jedem Zuhörer wird es warm ums Herz, wenn ich einmal loslege. […] Außerdem muß zu meiner Entschuldigung gesagt werden, daß ich der Gattung Mensch angehöre – ein ganz besonderer, recht komplexer Organismus, meinem Körper, einer Persönlichkeit und einem Durst.« (BEST: 203)

Uhland wendet sich in seiner Rechtfertigung zur staatlichen Anrufung um, indem er auf die Kategorien, denen er nicht entspricht, Bezug nimmt: »Gut, ich will mich nach den zur Verfügung stehenden Spalten richten. Ein kurzes Ja, ein kurzes Nein, was dazwischen liegt, interessiert mich nicht.« (BEST 203f.)

In dieser Textstelle wird deutlich, auf welche Weise das Subjekt »genötigt [ist], nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es nicht selbst hervorgebracht hat, und damit […] das Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst – in einem Diskurs, der zugleich dominant und indifferent ist, [zu suchen]« (PdM: 25).

In Bäcker Uhlands Erklärung wird einerseits die subjektivierende Macht und andererseits die existentielle Bedrohung, die von der Kategorisierung des Legitim-Menschlichen ausgeht, deutlich. Zunächst guten Willens, der anrufenden

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Macht zu entsprechen, stößt er unmittelbar darauf an die Grenzen seiner eigenen Intelligibilität. Er fragt: »Doch gesetzt dem Fall, daß mein Leben nicht hineinpaßt, in Ihre Spalte, wenn die vorgegebenen Antworten meine Ansichten verzerren, wie reagiere ich da?« (BEST: 203f.; Herv. i. O.)

Die Frage: »Wie reagiere ich da?« (BEST: 204) markiert die Gefährdung der eigenen Existenz, die mit der Abweichung von der Norm zusammenfällt (vgl. GL; PdM). In der Narration des Romans entwickelt sich insofern aus Uhlands Umwendungen auf die normierenden Anrufungen eine ethische Kritik nicht allein am rassenhygienischen System des Nationalsozialismus, sondern darüber hinaus an staatlich verfassten Praktiken biologischer Regulierung insgesamt. Es wird vor Augen geführt, dass die Kategorisierung eines Menschen immer schon die Bedingung der Vernichtung menschlicher Existenz mit sich führt. In der Erzählung wird die Gefährdung der Existenz auch durch die Hinwendung zur Mutter markiert, welche ontogenetisch wie auch phylogenetisch als erste Instanz der Einsetzung in das Leben verstanden werden kann. Als primärer Signifikant der Abhängigkeit vom Anderen und damit zugleich als erste Instanz der Enteignung des ›Ich‹, fleht Bäcker Uhland seine Mutter um Unterstützung und Vertretung gegenüber den Machthabenden bei der Durchführung seiner Zwangssterilisation an: »Mutter, mach du’s, aber mach’s schnell. War doch mal jung, war doch mal schön. Auch treu, fromm und bescheiden bin ich gewesen. Sollte ich nicht frei entscheiden können, bitte ich dich, mich zu beschützen. Sollte aus Zeit- und Kostenersparnis nicht noch einmal nachgefragt werden, fordere ich, daß du es machst.« (BEST: 204)

In dem Moment, in dem sich die Konstitution des Staates durch eine Gouvernementalität der (hier genetischen) Auslöschung des Anderen generiert, welche die Verwertungslogik zum Paradigma des Menschlichen erhebt, gerinnt der Staat zu einer mörderischen Macht, die weder die Würde des Menschen noch Menschenrechte anerkennt. Auch Uhland gerät in die gnadenlose Maschinerie einer vernichtenden Selektion, die seine Zugehörigkeit zum Menschlichen negiert. In seinem Flehen kommt zum Vorschein, wie die Subjektwerdung »das Begehren nach Existenz dort aus[beutet], wo das Dasein immer von anderswo gewährt wird; sie markiert eine ursprüngliche Verletzlichkeit gegenüber dem Anderen als Preis, der für das Dasein zu zahlen ist« (PdM: 25).

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Die Darstellung der Verletzlichkeit, die aus der Undurchsichtigkeit des Selbst resultiert, wird durch Uhlands groteskes Angebot, sich in einen Käfig zu setzen und Nüsse zu essen oder sich als Ersatz für alle anderen Feinde bereitzustellen, ins nahezu Unerträgliche gesteigert. So heißt es in der betreffenden Textstelle: »[W]enn sie alle tot sind […], [d]er Jud ist weg, der Kommunist, die schwule Sau, der Landstreicher, stinkende Zigeuner, Neger, Asiat, die deutsche Hure, die sich in artfremdem Eiweiß tummelt, der Pole, Asphaltliterat, Bolschewist, Verräter: ich will euch alle ersetzen.« (BEST: 209)

Die Figur der Anerkennung wird hier nicht nur in den Grenzbereichen des ›Menschlichen‹ durchgespielt, sondern explizit markiert. So hofft Uhland, die Machthabenden von seinem Nutzen dadurch zu überzeugen, dass er sich als »lebendes Beispiel« (BEST: 208) zur Abschreckung zur Verfügung stellt: »Als abschreckendes Beispiel, als Warnung will ich dienen. Der abstoßende Aussatz, ein menschliches Restchen. Da können sie sehen, wovor man sie gerettet hat, die erbgesunden Nachfahren eurer erbgesunden Vorfahren. Da haben sie ein lebendes Beispiel und erschaudern.« (BEST: 208; Herv. sd)

Mit einer Referenz auf Aristoteles’ Poetik, welche die Erzeugung von Jammern und Schaudern als kathartische Instrumente der Tragödie einsetzt, um auf diese Weise der Darstellung des ethisch ›Richtigen‹ zu dienen, biedert sich Bäcker Uhland in dieser Textstelle als ein Exempel für das aus der gesellschaftlichen Anerkennung Ausgeschlossene an; nicht jedoch, ohne ironisch auf das neurotische Verhältnis von Erbgesundheit und nationalsozialistischer Ideologie anzuspielen, wie sich in der übertreibenden repititio »erbgesunden« (BEST: 208) andeutet.

6.2.2.3 Für eine Anerkennung des Anderen Zwar referiert Uhlands Erzählung auf die Ausgrenzung des Anderen aus dem Bereich des Menschlichen, gleichzeitig kann die Narration aber auch als ein Bestehen auf der Notwendigkeit des Anderen gelesen werden, das mit dem Bestehen auf dessen Menschlichkeit verknüpft ist. In diesem Sinne lässt sich Uhlands moralische Rechtfertigung als ein Plädoyer für das Andere des Menschlichen und damit für ein postsouveränes Verständnis des Menschlichen deuten. Wie sich in den Analysen zeigt, spielt das Moment der Undurchsichtigkeit in der Erzählung eine bedeutsame Rolle. Wie lässt sich Uhlands Beharren auf seine Existenz anders als ein Einsatz für das Aufgeben der Fiktion verstehen, das Individuum müsse sich lückenlos rechtfertigen können? Können nicht gerade die Schwierigkeiten, die sich in seinem Fall bezüglich der Kategorien des

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Menschlichen stellen, zu denen er sich positionieren soll, als Einwände gegen die kritiklose Kategorisierung des Menschlichen gelesen werden? Ist Uhlands Bemerkung, dass sein »Leben nicht hineinpaßt, in Ihre Spalte« (BEST: 204; Herv. i. O.), nicht gerade als ein Argument dafür zu lesen, dass die Kategorien des Menschlichen infrage gestellt werden müssen, wenn Lebewesen wie er von ihnen nicht erfasst werden? Schließlich macht die Erzählung auch deutlich, dass Uhlands Unfähigkeit, sich mit den geltenden Normen zu arrangieren, keinen bewussten Vorsatz darstellt, sondern seiner Existenz entspringt. Die Leser_innen mögen Uhlands Werte nicht teilen; ja sie sollen es vielleicht auch gar nicht, wie die folgende Textpassage nahelegt: »Die Hexe [die Mutter] mag dich nicht. Hast ihr ja schon den Mann genommen, sollst ihr den Sohn lassen. Da hat sie dir den Krieg angesagt. Will den Sohn retten. Der Sohn darf keine Säuferleber bekommen und kriegt das Zimmer kontrolliert. Nach all den Jahren. Dennoch buche ich unzählige Punkte für mich. Bin eben ein studierter Schwindler, ein unumstrittener Meister, was das Kriechen, Heucheln und Verheimlichen angeht. Und findet sie ihn einmal und schüttet ihn weg, meinen Schnaps, dann vergelte ich ihr das brutale Vorgehen, indem ich ins Bett scheiße. Mache einen großen Haufen, da schreit die alte Hexe, und wir haben unsere Ruh.« (BEST 202)

Die Erzählung legt nahe, über die Gründe dafür nachzudenken, dass Uhlands Existenz nicht das gleiche Recht zufällt, unter die Kategorien des Menschlichen zu fallen, wie anderen Existenzen. Es handelt sich nicht um eine Narration, die Uhland zu einem Opfer der Nationalsozialisten stilisieren soll. Zwar ist er (zu Recht) verzweifelt und verängstigt, gleichzeitig beharrt er konsequent auf der Legitimität seiner Existenz. Nicht zuletzt besteht Uhland auf dem Recht, Nachkommenschaft zu zeugen, und widersetzt sich damit dem nationalsozialistischen Anspruch, die Herkunft der Bevölkerung biopolitisch zu kontrollieren.

6.2.2.4 Zusammenfassung Das Moment der Undurchsichtigkeit wird in der Erzählung um Bäcker Uhland im Roman Die Bestandsaufnahme aus der Perspektive ihrer Nichtanerkennung aufgegriffen und hypotypotisch veranschaulicht. Während die Figur A. in dem Roman Aus einer schönen Welt die Blicke der anderen auf sich übernimmt, wehrt sich Bäcker Uhland gegen die normative Sichtweise, die ihm Wertlosigkeit zuschreibt und seine Existenz gefährdet. Gegenüber A.s Rechenschaft, die durch eine heterodiegetische Erzählstimme nullfokalisiert vermittelt wird, treffen wir in Bäcker Uhlands Geschichte auf eine autodiegetische Erzählstimme, die sich im »Du-Modus« (Greber 2006: 48) mit einer undurchsichtigen Invokation an Figuren der Diegese und extradiegetische Adressat_innen wendet. Das trägt dazu bei, dass Uhlands moralische Rechenschaft »unheimlich«

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(ebd.) präsent erscheint und auf diese Weise verstärkt zu einer Kritik der hegemonialen Ontologie anregt. Durch Bäcker Uhlands Rechenschaft wird den Leser_innen modellhaft vor Augen geführt, wie dieser sein ›Ich‹ zu moralischen Codes in Beziehung setzt und um einen legitimen Raum im ontologischen Feld des Menschlichen ringt. Nicht nur in seinem verzweifelten und an mehreren Stellen unwürdigen Flehen wird die Gewalt, welcher er unterliegt, deutlich. Darüber hinaus steht die drohende Sterilisierung konkret für die Gefährdung, welcher Uhland aufgrund seiner nicht-intelligiblen Rechenschaft ausgesetzt ist.

6.2.3 Neue Sehweisen Der Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück thematisiert die Frage danach, wie wir miteinander glücklich zusammenleben können. Im Vorwort der Erwachsenenausgabe weist die Erzählstimme ausdrücklich darauf hin, dass das vorliegende »Buch« (HGa: 9) im Kontext des Libanonkrieges 2006 entstanden ist.6 Sie berichtet von der schwierigen Situation, als sie sich während dieses Krieges in Tel Aviv, der Hauptstadt Israels, aufhielt, ihre »beste Freundin dagegen in Beirut« (HGa: 8), der Hauptstadt des Libanons. Die Freundschaft lässt sie den anhaltenden Konflikt zwischen Israel und Hisbollah mit neuen Augen sehen: »Dies war nicht mein erster Krieg, doch nie zuvor hatte ich um den Feind gebangt. O nein, ich habe ihn noch nie gehasst, aber gefürchtet habe ich mich wohl vor ihm. […] Ich sprach täglich mit meiner Freundin, und täglich erfuhr ich von dem Leid auf der anderen Seite.« (HGa: 8)

Diese Erfahrung führt für die Erzählstimme zu einer Veränderung ihrer Sicht auf den Krieg: »Bislang hatte ich ja von ihm hauptsächlich eins wahrgenommen: zertrümmerte Häuser, ausgebombte Busse – die Zeichen seines Zerstörungspotenzials. […] In diesem Krieg wünschte ich mir wie nie zuvor, mich aller Denkweisen zu entledigen, eine Zeitlang niemand zu sein als Mensch.« (HGa: 8f.; Herv. sd)

Die explizit im Erzähltext markierten Begriffe »wahrgenommen« (HGa: 8) und »Denkweisen« (HGa: 9) deuten auf die Veränderung der Rahmen der Wahrnehmung hin. Der Andere, bis dahin der namenlose, gesichtslose, Furcht gebietende Feind, ist nicht länger namen- und gesichtslos. Er existiert nicht länger 6 | Der Libanonkrieg 2006 zwischen Israel und dem Libanon dauerte vom 12. Juli 2006 bis zum 14. August 2006 an.

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ohne Beziehung zum ›Ich‹ und wird dadurch von einem Objekt der Furcht in ein Objekt der Sorge transformiert. Die Freundschaft als Möglichkeit, dem Anderen zu begegnen und neue Sehweisen zu entwickeln, wird solchermaßen zum Leitmotiv des Romans und als Chiffre für »ein kleines, ganz alltägliches Glück« (HGa: 9) dem Unglück des Krieges entgegengestellt. Im Folgenden argumentiere ich, dass das literarische Motiv des gelingenden bzw. verfehlenden ›Ansehens‹ in dem Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück narrativ dazu eingesetzt wird, die Bedeutsamkeit der undurchsichtigen Anteile der eigenen Herkunft für die »Wahrheit […] [einer] Person« (KeG: 88) hervorzuheben. Dazu stelle ich dar, auf welche Weise die ›richtige‹; die empfängliche Erfassung des Anderen erstens durch die Darstellung des normativen Sehens und zweitens über die Verdeutlichung des wahrnehmendes Ansehens hypotypotisch vor Augen geführt wird.

6.2.3.1 Den Anderen ›ansehen‹ Dass dem ›richtigen‹ Erfassen der Anderen in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück eine bedeutende Rolle zukommt, macht bereits das paratextuelle Zitat Leo Tolstois aus dem Roman Luzern deutlich, das dem Roman vorangestellt ist. In diesem spricht sich die Erzählstimme dafür aus, das menschliche Urteilen und Denken durch Infragestellung zu entschärfen: »Wenn der Mensch nur endlich gelernt hätte, nicht so scharf und entscheidend zu urteilen und zu denken und nicht immer Antworten auf Fragen zu geben, die ihm nur darum gegeben sind, damit sie ewig Fragen bleiben« (HGa: ohne Seitenangabe).

Des Weiteren wird gleich zu Beginn der Handlung das literarische Motiv des ›Ansehens‹ innerhalb der Beschreibung der Figur Grinbergs eingeführt, indem die Erzählstimme auf die Differenz zwischen dem ›Sehen‹ und dem ›Ansehen‹ bzw. Wahrnehmen der Kinder referiert: »Wenn man ihn gefragt hätte, wie er sich Kinder vorstellte, so hätte er wohl vor seinem inneren Auge folgendes gesehen: ein Mädchen, das immer ordentlich aussieht, nie murrt, sich nie schmutzig macht, sich auch nie mit ihrer Schwester zankt … Kurz, man ahnt es schon, wo der Haken war, der gute Mann hatte in seinem ganzen Leben kein einziges wirkliches Kind gesehen.« (HGa: 11f.; Herv. sd)

Wie weiter erzählt wird, lebt Herr Grinberg mitten in einer Stadt und hat die Angewohnheit, jeden Nachmittag im Park zu verbringen, wo er Zeitung liest, seine Hündin mit den Kindern tollt und in welchem er, wie etwas später deutlich wird, auch mit seinen neuen Freund_innen in Kontakt kommt. Der Erzählstimme liegt in der Textstelle offenbar weniger daran, darzustellen, dass Herr Grinberg eventuell noch nie ein Kind ›gesehen‹ hat, sondern vielmehr,

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den Sachverhalt zu markieren, dass er die Kinder noch niemals in ihrer spezifischen Existenz bewusst bemerkt und ›wahrgenommen‹ hat: »Sah er sie denn nicht, die müden Schulkinder, die morgens mit ihren Ranzen und verschlafenen Augen durch die Straßen stapften? Sah er sie denn nicht, wenn sie mittags mit einem Bein auf dem Bürgersteig und dem anderen im Rinnstein nach Hause hüpften? Nein, er sah sie nie. Weder morgens noch abends. Selbst nachmittags nicht – und das war eine ganz schöne Leistung.« (HGa: 12; Herv. i. O.)

Das Verb ›sehen‹ wird hier problematisiert und in seiner semantischen Vielschichtigkeit für den Aspekt verfügbar gemacht, dass ›sehen‹ in dem Roman nicht allein als ein physiologischer Vorgang verstanden wird, sondern vielmehr im Kontext einer Epistemologie des Sehens in der Bedeutung von ›wahrnehmen‹.

6.2.3.2 Für ein wahrnehmendes ›Ansehen‹ Der Vorgang des ›Sehens‹ korreliert mit einem wahrnehmenden ›Ansehen‹ des Anderen, welches durch eine Beziehung zu diesem ermöglicht wird: »Plötzlich, während Mathilda und Luca kauten, fiel es Herrn Grinberg wie Schuppen von den Augen. Eigentlich hatte er sie noch nie richtig betrachtet. Geschweige denn, dass er ihre Namen kannte. Was für eine Nachlässigkeit aber auch, dachte er und schaute ihnen belustigt beim Kauen zu. Donnerwetter, dachte er, die sind ganz und gar nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe.« (HGa: 104)

Mit dem wahrnehmenden ›Ansehen‹ des Anderen ist, wie im zweiten Kapitel des Romans deutlich wird, eine spezifische Form der Begegnung mit dem Anderen verbunden, welche für die Undurchsichtigkeit seiner Herkunft empfänglich ist. Über die Kinder heißt es hier: »Ihre Welt war auch ohne ihn voller Menschen, die sie betrachteten. Sie hatten Väter, die sie musterten, um sich Sorgen zu machen. Und Nachbarn, die sie mitten im Treppenhaus beguckten und für frech erklärten. Sie hatten große Schwestern, die sie mit ihren tellergroßen Augen nur aus einem einzigen Grund anzustieren schienen: damit sie gelegentlich die Nase rümpfen und den Kopf schütteln konnten. Und Mütter, die immer gerade dann etwas an ihnen bemerkten, wenn sie es eilig hatten und aus dem Haus gehen wollten.« (HGa: 12; Herv. sd)

Mit den Verben ›betrachteten‹, ›musterten‹, ›beguckten‹, ›anstieren‹ und ›bemerkten‹ entfaltet sich in der vorliegenden Textstelle das semantische Feld äußerlicher Begutachtung. Es kristallisiert sich heraus, dass die Erwachsenen, wenn sie auf die Kinder blicken, weniger deren Bedürfnisse, Wünsche oder

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Ängste wahrnehmen als vielmehr ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ängste auf die Begutachteten projizieren. Die Textpassage verdeutlicht, inwiefern die Begutachtenden, die »Wahrheit […] [einer] Person« (KeG: 88) verfehlen müssen, wenn der Vorgang des ›Ansehens‹ nicht mit dem Wahrnehmen des Anderen, sondern mit einem oberflächlichen oder normativen Sehen verbunden wird, wie es die Verben ›betrachten‹, ›mustern‹, ›begucken‹, ›anstieren‹ und ›bemerken‹ nahelegen. Die anschließende narrative Vervielfachung der Betrachtenden, Musternden, Beguckenden und Anstierenden macht eine Kritik an der Hegemonie des begutachtenden Blicks, der die Grundlage für die Erfassung der Kinder bereitzustellen scheint, deutlich: »Nicht nur Mütter – auch Brüder, Patentanten, Lehrerinnen, Cousinen, Großmütter, Onkel, Großväter, Klassenkameraden … Sie [die Kinder] kamen mit dem Zählen gar nicht nach. Die Finger konnten sie sowieso nicht mehr zu Hilfe nehmen, so unsagbar viele Menschen gab es, die sie anschauten.« (HGa: 12)

Das projizierende Wesen dieser Form des ›Anschauens‹ wird abschließend mit der Formulierung konkretisiert, dass die Kinder »für jeden […] etwas anderes [waren]« (HGa: 12) und zwar: »Für den einen waren sie nichts Besonderes, für den anderen frech. Für den dritten einfach kindisch, für den vierten so interessant wie ein säbelrasselndes Gespenst.« (HGa: 25f.)

Gegen eine normative Form des Sehens, welche dem Anderen eine bestimmte Weise des Seins aufnötigt, wird in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück ein wahrnehmendes ›Ansehen‹ gesetzt, das dem Anderen die Möglichkeit eröffnet, sich zu erklären. Die Textpassage, in welcher erzählt wird, wie sich Lucas Mutter mit ihren Freundinnen über die Angewohnheit ihres Sohnes berät, Steine in seinen Taschen herumzutragen, führt dies beispielhaft vor Augen. Der projizierende Charakter der Begutachtungen des Jungen durch die Freundinnen der Mutter äußert sich in ihren Kommentaren, welche seine Angewohnheit pathologisieren und Gegenmaßnahmen, wie etwa »Fußreflexzonenmassage«, »Edelsteinenergie«, »Bach-Blüten-Therapie«, »Ying-Yang-Ausgleich« und sogar »Familientherapie« (HGa: 47) vorschlagen. In einer Fußnote teilt die Erzählstimme hingegen mit, dass Mathilda Luca direkt auf seine Angewohnheit anspricht. Seine Antwort: »›damit sie sich nicht langweilen‹« (HGa: 48), nimmt der Situation ihren problematischen Charakter und unterstreicht zudem den Umstand, dass eine dem Anderen zugewandte, empfängliche und fragende Haltung seine Erfassung womöglich besser ermöglicht.

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6.2.3.3 Zusammenfassung In Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück wird das wahrnehmende ›Ansehen‹ des Anderen als ein literarisches Motiv dafür eingesetzt, darzustellen, inwiefern die Anerkennung der Undurchsichtigkeit der Herkunft für die Erfassung des Anderen bedeutsam ist. In der Narration wird das literarische Motiv des ›Ansehens‹ im Verlauf der Handlung durch die Erzählstimme ausdifferenziert. Die Bedeutung wird ausgehend vom begutachtenden Betrachten um den Bedeutungskomplex des empfänglichen Erfassens erweitert. Es wird auf diese Weise hypotypotisch verdeutlicht, dass die menschliche Begegnung mit dem Anderen nicht so sehr in seiner Toleranz zu finden ist, sondern vielmehr durch Hinterfragen und die Veränderung der Kategorien seiner Beurteilung erzeugt werden kann. Nur auf diese Weise können wir empfänglich für die Nuancen der menschlichen Existenz sein, die zwischen oder jenseits verfügbarer epistemischer Raster ein Eigenleben führen.

6.2.4 Anerkennung des Anderen Auch im Roman Woran denkst du jetzt lässt sich das literarische Motiv des ›Ansehens‹ des Anderen wiederfinden. Bereits die Struktur des Romans, welcher aus zwei verschiedenen Perspektiven erzählt wird, rückt die Unterschiedlichkeit von Wahrnehmungsweisen in den Fokus. Indem sich die beiden gleichwertigen Erzählperspektiven der Figuren Lisa und Tanja auf ein gemeinsames Ereignis – die Krankheit und den Tod ihres Onkels – beziehen, wird deutlich, wie dieses von beiden mit unterschiedlichen Erinnerungen, Assoziationen und Kontexten in einen Zusammenhang gebracht wird. Darüber hinaus werden im Roman, wie bereits in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück, verschiedene Weisen des ›Ansehens‹ thematisiert, wie ich im Folgenden genauer ausführe.

6.2.4.1 Empfängliches ›Ansehen‹ Die Analyse von Woran denkst du jetzt zeigt, dass in der Erzählung Irrationalität, Interdependenz und Empfänglichkeit als drei bedeutsame Merkmale menschlicher Sorge vor Augen geführt werden (vgl. Kapitel 4.2.5.1). Im Weiteren knüpfe ich an dieses Ergebnis an und mache deutlich, dass der empfänglichen Sorge ein empfängliches ›Ansehen‹ des Anderen zugrunde liegt. Eine zentrale Textstelle, in der auf die unterschiedlichen Weisen, den Anderen anzusehen, intensiv Bezug genommen wird, ist jene, in welcher davon erzählt wird, wie die Mutter für den todkranken Onkel eine Suppe zubereitet und diesen anschließend zwingt, diese Suppe zu sich zu nehmen. Aus Lisas Perspektive wird berichtet:

6. Undurchsichtigkeit des Selbst »Sie musste nur an diese Suppe denken – der Inbegriff der Absurdität, des Lächerlichen, der Halsstarrigkeit ihrer Mutter –, sie musste sich nur dieses in Wasser aufgelöste Getreide vergegenwärtigen, mit dem ihre Mutter ihren Onkel hatte aufpäppeln wollen, um augenblicklich wütend zu werden.« (WDDJ: 72)

Es wird hier deutlich, dass Lisa eine von der Mutter abweichende Perspektive auf die ›richtige‹ Pflege des im Sterben liegenden Onkels einnimmt. Im Gegensatz zur Mutter, die den nahenden Tod ihres Bruders nicht annehmen kann und ihre Kraft dafür einsetzt, diesen hinauszuzögern, hat Lisa akzeptiert, dass sie ihren Onkel verlieren wird. Deshalb würde sie es lieber sehen, wenn er in seinen letzten Tagen nicht noch dazu gezwungen würde, (unappetitliche) Nahrung zu sich zu nehmen. Wie in Kapitel 4.2.5.1 dargestellt, reagiert die Pflegerin gelassen, als Lisa ihr gegenüber die für sie unerträgliche Vorgehensweise der Mutter anspricht: »Die Pflegerin hatte nur mit den Schultern gezuckt und entgegnet, dass es gar nicht schlimm sei, ab und zu ein paar sinnlose Sachen zu machen. ›Das gehört dazu, das ist doch menschlich‹.« (WDDJ: 73)

Lisa hat zunächst für die Haltung der Pflegerin nur Spott übrig, erkennt dann aber, dass die Handlungen der Mutter offenbar auf eine Wahrnehmung der Gegenwart gerichtet sind, die Lisa nicht nachvollziehen kann. Nur so kann sie sich das Verhalten der Mutter erklären: »Aber bestimmt hatte sie nicht die Gegenwart gesehen. Nicht diese abgemagerte, erschöpfte Gestalt. Nicht dieses Leichengesicht. Nicht seine Resignation. Und ganz bestimmt nicht, dass er starb.« (WDDJ: 73; Herv. sd)

Die Textstelle führt vor Augen, dass der Andere erst dann als menschliches Wesen intelligibel werden kann, wenn die ihm zugrunde liegende Undurchsichtigkeit anerkannt wird. Die Irrationalität der Mutter, die in ein quälendes Verhalten demgegenüber umschlägt, den sie eigentlich zu schützen beabsichtigt, wird im Zusammenhang mit den – auch für die Mutter – nicht bis ins Letzte aufklärbaren Gefühlen, Erinnerungen und Bedürfnissen verständlich. Lisa kann sich daher nur über Spekulationen dem irrationalen Handeln der Mutter nähern: »Lisa wusste auch nicht, was ihre Mutter gesehen hatte, wenn sie jeden Morgen nach der Toilette ihres Onkels mit dampfenden Schälchen ins Zimmer gekommen war. Vielleicht hatte ihre Mutter die Vergangenheit gesehen, ihn und sich als Kinder. Vielleicht hatte sie eine für alle unsichtbare Zukunft wahrzunehmen geglaubt, irgendeine Mög-

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Poetologie des postsouveränen Subjekts lichkeit, ihn doch noch durchzukriegen. Aber bestimmt hatte sie nicht die Gegenwart gesehen.« (WDDJ: 73; Herv. sd)

Deutlich hebt sich in der Textstelle die wiederholte Verwendung des Verbs ›sehen‹ ab, das dafür eingesetzt wird, auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen hinzuweisen. Wie ein roter Faden zieht es sich durch die Textpassage, um schließlich durch das Verb ›wahrnehmen‹ semantisch erweitert zu werden.

6.2.4.2 Arbeit am Begriff des ›Sehens‹ Die verschobene Bedeutung des Verbs ›sehen‹ wird an einer späteren Stelle der Erzählung wieder aufgenommen. Lisa erinnert sich hier daran, wie ihr Onkel sie nach seiner Chemotherapie darum gebeten hatte, mit ihm in ein Café zu gehen. Zwar hatte sie mit einem Bezug auf fehlende Abwehrkräfte abgelehnt, Paul hatte sich jedoch unbeirrt angezogen und sie dann gefragt, ob sie fertig sei. Die Erzählstimme bemerkt dazu, dass Lisa »ihn angeschaut und sich entschuldigt [hatte]« (WDDJ: 221). Während er im Café Zeitung las, ließ sie ihre Gedanken schweifen, beobachtete die Kellnerin und erinnerte sich an ihre Kindheit mit Onkel Paul. Währenddessen hatte ihr Onkel unvermittelt seinen Kopf gehoben und sie darauf hingewiesen, dass sie »eine ganz eigene Art zu sehen« habe, die es mit sich brächte, dass sie »viel mehr als alle anderen [sehe]« (WDDJ: 223). In der Textstelle wird damit durch die Erzählstimme auf eine besondere Weise des ›Sehens‹ hingewiesen. Lisas Weise, Menschen anzusehen, ermöglicht es ihr, auch Sachverhalte zu erfassen, die von anderen nicht wahrgenommen werden. Ihre Form des ›Ansehens‹, das die Perspektive des Anderen integriert, ist es schließlich auch, die es Onkel Paul ermöglicht, einen letzten Ausflug in den Garten zu unternehmen und sich ›lüften‹ zu lassen. Die Narration des Ausfluges wird im letzten Kapitel des Romans geschildert und beginnt mit dem Zitat des Romantitels »Woran denkst du jetzt?« (WDDJ: 284). Es wird berichtet, wie Lisa ihrem Onkel seine Zeitung in das sonnige Zimmer gebracht hatte und wie sie ihn schließlich gefragt hatte, ob er nicht das Gefühl habe, etwas »aufholen« (ebd.) zu wollen. Die Erzählstimme erläutert, dass Lisa die Gegenwart plötzlich »wie Hohn« (WDDJ: 285) erschienen war. Je länger sie ihn jedoch beobachtet hatte, desto deutlicher war ihr geworden (oder wird es ihr nun zum Zeitpunkt der Erzählung), dass es gerade die täglichen Routinen und vertrauten Gegenstände waren, die das Leben für ihren Onkel bedeutsam und lebenswert machten: »Sie hatte ihn in diesem Augenblick innig geliebt, mit der gleichen ohnmächtigen Wut und der gleichen Sehnsucht und der gleichen gut kaschierten Verzweiflung […], mit der er, das wusste sie nun, das Zimmer geliebt hatte und das Tageslicht, den Teppich und

6. Undurchsichtigkeit des Selbst die Lampe, das Fenster, das Sofa und den Stuhl. All die alltäglichen Dinge des Lebens, das sich ihm nun so schmerzhaft entzog.« (WDDJ: 285)

Schließlich hatte ihr Onkel Lisa gebeten, ihn in den Garten zu bringen. Die Erzählstimme berichtet, wie sie »seinen wehmütigen Blick erwischt [hatte], der bei den Kastanien im Garten verweilt war« (WDDJ: 286; Herv. sd), und dass dies den Ausschlag dafür gegeben hatte, dass Lisa ihrem Onkel – sehr wahrscheinlich gegen den Willen der Mutter – dabei half, in den Garten zu gelangen. Im Zusammenhang mit den weiter oben analysierten Vorgängen, die emblematisch mit dem Verb ›lüften‹ verknüpft sind (vgl. Kapitel 4.2.5.2), wird erkennbar, dass die Verwendung des Verbs ›sehen‹ in dieser Textstelle semantisch erweitert wird und eine spezifische Empfänglichkeit für die Existenz des Anderen markiert. Diese drückt sich hier in der metaphorischen Verwendung des Begriffes ›erwischen‹ aus. Es kristallisiert sich heraus, dass es Lisas spezifische Sehweise ist, die es ihr erlaubt, den »wehmütigen Blick« (WDJ: 286) des Onkels zu bemerken. Solchermaßen wird narrativ ein Modus des empfänglichen ›Ansehens‹ realisiert, der im Gegensatz zum Modus des normativen Sehens die Wünsche des Anderen anerkennt und ihm dabei hilft, sie sich zu erfüllen – unabhängig davon, ob diese dem ›Ich‹ rational erscheinen.

6.2.4.3 Zusammenfassung Undurchsichtigkeit wird in Woran denkst du jetzt als ein Moment verfügbar gemacht, das irrationale Handlungen begründet. ›Sehen‹ wird hier sowohl dafür eingesetzt, die jeweils beschränkte Perspektivität allen Wahrnehmens und Erkennens zu verdeutlichen, als auch dafür, die Bedeutung sichtbar zu machen, die mit der Anerkennung der Undurchsichtigkeit des Selbst verbunden ist. Auf diese Weise wird die Bedeutung des Begriffes ›Sehen‹ hypotypotisch in den Bereich des empfänglichen ›Wahrnehmens‹ verschoben. In einen Zusammenhang mit dieser Arbeit am Begriff des ›Sehens‹ fällt auch die Legitimierung »eine[r] ganz eigene[n] Art zu sehen« (WDDJ: 223), die im Kontext der Diegese eine Aufwertung erfährt. Dieser spezifische Modus des ›Sehens‹ kann als ein empfängliches Sehen verstanden werden, das für die Undurchsichtigkeit des Anderen offen ist und diese als menschlich anerkennt.

6.2.5 Kritik der politischen Repräsentation Abschließend stelle ich dar, wie das empfängliche Erfassen des Anderen im Roman So sind wir hypotypotisch als Grundlage für die Kritik der politischen Repräsentation von Überlebenden der Shoah vor Augen geführt wird. Dazu gehe ich zunächst darauf ein, wie das Moment der Undurchsichtigkeit in dem Roman dargestellt wird. Ich mache im Anschluss daran deutlich, dass die

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traumatischen Erfahrungen des Vaters für Gila einen Anlass darstellen, der Undurchsichtigkeit ihrer eigenen Herkunft narrativ auf den Grund zu gehen. Daran anknüpfend zeige ich, dass dieses empfängliche Erfassen des ›Ich‹ und des Anderen mit dem Moment des »Sprechen[s] und Zuhören[s] vom Ort des Traumas« (Caruth 2000: 98; Herv i. O.) zusammenfällt.

6.2.5.1 Undurchsichtigkeit des Traumas Bereits zu Beginn der Handlung wird in So sind wir durch die intern fokalisierte, autodiegetische Erzählstimme das Ziel bestimmt, mit der Hervorbringung der Diegese einen Beitrag dazu zu leisten, sich ihrer eigenen Undurchsichtigkeit, deren Ausgangspunkt sie in der Kindheit lokalisiert, anzunähern. Dazu erklärt die Erzählstimme einleitend: »Und dann dachte ich, während ich meine monotonen Runden drehte, rannte, schwitzte, rannte, Schritt für Schritt, dring in sie ein, lass die Kindheit reden, Schritt für Schritt für Schritt …« (SSW: 8; Herv. i. O.)

Die Kindheit, so wird bereits davor deutlich, scheint die Erzählstimme in ihren Bann geschlagen zu haben: »Zuvor hatte ich freilich andere Wege gesucht, um aus dem Schlamm meiner Kindheit zu kriechen und mich von einer Vorgeschichte zu befreien, die, so dachte ich, nichts mit mir zu tun haben durfte.« (SSW: 7; Herv. i. O.)

Diese Erklärung korrespondiert zu einem Teil mit der Rekonstruktion der Darstellung der Figur A. in dem Roman Aus einer schönen Welt. Auch für Gila in So sind wir stellen körperliche Maßnahmen der Selbstdisziplinierung einen Versuch dar, sich den Normen und Werten ihrer Umwelt anzupassen, ihre Schwäche und Gefühle zu bekämpfen. Gila macht klar, dass sie der Undurchsichtigkeit ihres Selbst, die hier durch die Metapher des »Schlamm[s]« verdeutlicht wird, lange Zeit einen immer »rücksichtsloser[en]« Umgang mit dem eigenen Körper entgegengesetzt hat: »Als ich an einem frühen Morgen im Jardin du Luxembourg joggte […] und ich in erbärmlichem Zustand und grauenhafter Stimmung heimkam, wenn auch mit der Gewissheit, jetzt erst recht und von nun an noch rücksichtsloser mit meinem Körper umzugehen, um ihn und mich zu einem disziplinierten Vollstrecker meines Willens zu machen, weil Menschen, so hatten es mir mein Vater, der Auschwitzüberlebende, und meine Mutter, Tochter eines zionistischen Pioniers, beigebracht, nicht an ihrer Willenskraft, sondern an ihren Gefühlen zugrunde gehen, hatte ich plötzlich die Eingebung, dass ich nicht rannte, um mich in den Griff zu kriegen, sondern um förmlich aus allen Poren auszuschwitzen, was man Erinnerungsgiftstoff nennen könnte.« (SSW: 7; Herv. i. O.)

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Doch im Gegensatz zu A. in Aus einer schönen Welt beschließt die Erzählstimme in So sind wir, sich auf die Undurchsichtigkeit ihre Herkunft einzulassen, indem sie sich ihrer Kindheit und Familie, ihrer Vergangenheit narrativ nähert: »Eigentlich dachte ich, beschämt, jaja, und doch: merde über diese Familie mit all ihren Macken und Unzulänglichkeiten und ihren Helden, Possenreißern, Weltverbesserern und Verlierern. Ganz besonders merde über die in meinem Hirn gefesselte Vergangenheit. Und dann dachte ich, während ich rannte, schwitzte, rannte – warum auch nicht? Hast dich über andere gebeugt. Warum also nicht über dich?« (SSW: 7; Herv. i. O.)

Die zitierten Textpassagen machen deutlich, dass Kindheit, Familie und Vergangenheit in einen Zusammenhang mit der Erkenntnis des ›Ich‹ gebracht werden. Während A. in Aus einer schönen Welt ihre Selbsterkenntnis durch die Dokumentation ihrer Vorsätze, Abneigungen und Ziele in Form von Listen voranbringen möchte, wobei das Verhältnis von ›Ich‹, Familie und Erinnerung außerhalb des Blicks gerät, wählt das ›Ich‹ in So sind wir den Weg, genau dieses Verhältnis über die narrative Reflexion einzuholen. Ausgehend von den wenigen Informationen, welche die Erzählstimme über die Vergangenheit des Vaters hat, versucht sie, diese zu rekonstruieren (vgl. dazu auch Doerry/Hage 2006). Dass sie kaum mehr weiß als das, was der Vater in seinem Bericht schreibt, lässt die folgende Passage vermuten: »Ich hätte sowieso nicht ausführlicher erzählen können, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung […]. Die Geschichte gehörte mir nicht. Ich kannte ja kaum die einfachsten Fakten.« (SSW: 161)

Für ihre Rekonstruktion greift sie auf zwei autobiografische Berichte Arno Lustigers zurück, in welchen er seine Flucht vom Transport – oder besser: vom Todesmarsch7 – vom KZ Langenstein aus schildert. Diese beiden Berichte werden nicht genauer spezifiziert. Die Erzählstimme gibt an: »Ich wusste nur das, was ich in zwei Büchern gelesen hatte.« (SSW: 161) Ihre Version der Nacherzählung legt nahe, dass es sich bei der Hauptquelle ihrer Information um einen Bericht von Arno Lustiger (2005) handelt, der sich in dem Buch Als der Krieg zu Ende war. Erinnerungen an den 8. Mai ’45 befindet. Dieser Eindruck wird durch die Textstelle bestärkt, in welcher die Erzählstimme erwähnt, dass sie alles, was sie über ihren Vater wisse, nur aus Büchern habe, und dass diese Berichte nur einmal zwei und einmal sechs Seiten umfassen (vgl. SSW: 161). Der Bericht in: Als der Krieg zu Ende war. Erinnerungen an den 8.  Mai ’45 ist 7 | Bei Arno Lustiger heißt es hierzu lapidar: »Wer nicht marschieren konnte, wurde auf der Stelle erschossen« (Lustiger 2005: 27).

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sechs Seiten lang und damit der längste Bericht, den Arno Lustiger zu seinen persönlichen Erfahrungen während der Shoah je veröffentlicht hat. In seiner Schilderung der Flucht berichtet Arno Lustiger davon, wie er durch Volkssturm-Männer aufgespürt wird und ihm die Exekution droht. Beim zweiten Versuch gelingt es ihm, dem Todesmarsch zu entkommen. Der durch harte Arbeit in den Stollen sowie durch Krankheit und Hunger ausgezehrte junge Mann irrt im Wald umher, folgt einem Deserteur, verliert ihn aber und fällt in Ohnmacht. Schließlich wird er durch amerikanische Soldaten gefunden, in ein Feldlazarett gebracht und trifft dort glücklicherweise auf einen Arzt, der sich in der Behandlung von Patienten mit Mangelerscheinungen auskennt. Im Bericht von Arno Lustiger (2005: 28) heißt es hierzu: »Nach einer gewissen Zeit verlor ich das Bewußtsein, und dann hörte ich wie im Traum englische Worte. Es war eine amerikanische Panzerspitze, die mich am Waldesrand aufgelesen hatte und mich jetzt ins Feldlazarett, auf dem Panzer festgeschnallt, brachte. Ich war frei, aber halbtot.«

Während der Moment seines Bewusstseinsverlustes nur in einem Halbsatz Erwähnung findet, nimmt die Schilderung dieser Situation in So sind wir mehr Raum ein. Die Fokalisierung findet hier aus Perspektive Gilas statt, die sich in des »Vaters Augen« versetzt und dabei Folgendes wahrnimmt: »Was noch auf der Netzhaut liegt. Ihn, Vater […]. Sehe ihn jünger, wie er daliegt und ins Licht blickt, das durch Äste dringt.« (SSW: 165)

Erfahren die Leser_innen in Arno Lustigers Berichten nur, dass dieser am Waldrand von den amerikanischen Soldaten gefunden wird, dehnt sich in So sind wir der Moment, in welchem er das Bewusstsein verliert, durch eine detailgenaue Beschreibung Gilas Vorstellung über das Geschehen im Wald aus. Die Erzählzeit von zwei Seiten geht hier deutlich über die Sekundenschnelle, mit der eine Ohnmacht über einen Menschen hereinbricht, hinaus. Die Erzählstimme vollzieht assoziativ-affektiv die Ohnmachtssituation des Vaters nach und bringt sie hypotypotisch vor die Augen der Leser_innen: »Ringsherum ist alles regungslos und die Ruhe so glänzend wie ein blank geriebener Pfennig. Keine Bewegung, kein Laut, keine Spur von Menschen, nichts. Nur plötzlich leise Blätter.« (SSW: 165)

Das Rauschen in den Ohren bei und nach einer Synkope wird ebenso beschrieben: »Von weit, weit her hört er ein Rauschen, von weit, von sehr weit her«, wie das Flimmern, das vor den Augen entsteht: »Nun hat er die Lider geschlossen und sieht ein rot pulsierendes Meer« (SSW: 165). Die Hypotyposis

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der Ohnmacht wird hier durch die erzählerische räumliche Anordnung des Rauschens, zunächst »[v]on weit, weit her«, dann wie eine abfließende Welle, »weit, von sehr weit her« (SSW: 165) und durch die Metaphorik des rot pulsierenden Meeres herbeigeführt. Die Textstellen machen deutlich, wie unterschiedlich die Fokussierungen der Erzähler_innen ausfallen. Während sich im Bericht des Vaters vornehmlich Informationen über den Ablauf der Flucht finden, wobei emotionale Aspekte ausgespart werden, versetzt sich die Erzählstimme in So sind wir in die Lage des Vaters. Sie ergänzt seinen Bericht fiktional um eigene assoziierte Eindrücke, Gefühle und Gedanken, von denen sie sich vorstellt, dass der Vater sie während seiner Flucht erlebt haben könnte. Die Tochter versetzt sich in den Vater hinein und durchlebt seine Erfahrungen auf Grundlage ihrer Vorstellungen neu.

6.2.5.2 Unfassbarkeit und das ›Zeugen für den Zeugen‹ Die Figur Gila nähert sich in So sind wir der Undurchsichtigkeit ihres Selbst an, indem sie die Aufgabe übernimmt, für ihn von den Wirkungen der traumatischen Geschehnisse zu zeugen (vgl. Baer 2000; Caruth 2000). An anderer Stelle habe ich ausführlich dargelegt, dass die Unfassbarkeit des Traumas als massiver »Anschlag auf das Verstehen« (Caruth 2000: 94) gedeutet werden muss, weil es die Produktion von Sinn und damit die performative Reproduktion von Identität bedroht (vgl. Dornick 2012). Denn die traumatisierende Erfahrung selbst zeichnet sich durch eine »Verwirrung von Zeichen« (Luhmann 1987: 96) aus, die zunächst ›Sinnlosigkeit‹ begründet. Kurt Grünberg (2006: 29) arbeitet im Hinblick auf die Traumatradierung heraus, dass die »Erfahrungen eines systematischen Genozids […] bei Weitem das menschliche Fassungsvermögen [überschreiten], sodass das Ausmaß des Schreckens weder im Moment des Geschehens noch im Nachhinein individuell ›abgebildet‹ werden kann.«

Die traumatischen Erfahrungen schlagen sich nach Grünberg in einem sozialen Prozess kollektiv nieder, in dem sie »von den Überlebenden vor allem unbewusst und nonverbal weitervermittelt« (ebd.: 30) werden. Insbesondere die Nachkommen der Überlebenden sind mit diesen undurchsichtigen Effekten des Prozessierens des (unfassbaren/sinnlosen) Traumas der Überlebenden konfrontiert. Am Beispiel des filmischen Beitrags Shoah von Claude Lanzmann macht Cathy Caruth (2000: 98) darauf aufmerksam, inwiefern dem Trauma als Rekurs auf Unfassbarkeit mit Shoah ein Ausdruck gegeben wird, der »das herkömmliche Verstehen in einer Form [übersteigt], die sich als wesentliches Merkmal aller Mitteilungsversuche abzeichnet«.

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Sowohl Sprechen über das Trauma als auch das Anhören seiner Geschichte setzen deshalb ein Bewusstsein über die »Lücke« (ebd.: 97), die aus seiner Unverständlichkeit resultiert, voraus: »Dieses Sprechen und Zuhören – ein Sprechen und Zuhören vom Ort des Traumas – hängen nicht davon ab, was wir voneinander wissen, sondern davon, was wir noch nicht über unsere eigene traumatische Vergangenheit wissen.« (Ebd.: 98; Herv. i. O.)

Caruth plädiert angesichts der Unverständlichkeit des Traumas für ein »aufmerksames Hören« (ebd.: 97), »das über die Pathologie des individuellen Leidens hinaus auf die Wirklichkeit einer Geschichte achtet, die in ihren Krisen nur durch Formen wahrnehmbar ist, die sich nicht aneignen lassen« (ebd.; vgl. dazu auch AS).

Nach Caruth (ebd.) kann sich die »Geschichte des Traumas« ausschließlich nachträglich ereignen, wenn sie durch einen anderen gehört wird. Die Erzählung, die sich in So sind wir von Gilas Wahrnehmungen aus entspinnt, kann als die Realisierung eines Zuhörens gelesen werden, das sich dem Anderen »aufmerksam« (ebd.) nähert (vgl. dazu Kapitel 6.2.5.1). Dabei stellt die Produktion einer Narration über die »Lücke« (ebd.), die in Bezug auf den »Ort des Traumas« (ebd.: 98; Herv. i. O.) besteht und immer bestehen wird, eine Möglichkeit dar, das ›Unfassbare‹ zu erfassen. Das »aufmerksame Hören« (ebd.: 97) kann vor diesem Hintergrund als eine Weise, den Anderen wahrnehmend anzusehen, verstanden werden. Über die Rekonstruktion der imaginären Vorstellungen, die mit den Erinnerungen verbunden sind, gerät die subjektive Perspektive Zeugnis Ablegender so in den Fokus der Darstellung. Simultan wird mit der Narration in So sind wir »Postmemory« (Hirsch 2008: 111) geschaffen, welche die Brüche und Leerstellen der Erinnerungen der Opfer des Nationalsozialismus aufgreift. Die Verknüpfung mit der Vergangenheit findet nach Marianne Hirsch (2008) über Imagination, Projektion und Neuschöpfung statt (vgl. Lezzi 2002). Sie bezieht in ihre Überlegungen ein, dass die ›vererbten‹ Erinnerungen die Geschichte und die Erfahrungen der zweiten Generation aufgrund ihrer überwältigenden Präsenz zunächst zwar verdrängen. Dennoch dürfe ihrer Ansicht nach nicht vergessen werden, dass deren Perspektiven und Geschichten von den vergangenen traumatischen Geschehnissen beeinflusst sind. Insbesondere aus dem Faktum, dass sich traumatische Erfahrungen der erzählerischen Rekonstruktion verweigern und sich damit einem vollkommenen Intelligibel-Werden entziehen, schöpfen sie ihre Wirkkraft (vgl. Hirsch 2008). Auf diese Weise kommt Hirsch (ebd.: 111) zu dem bedeutungsvollen Schluss, dass die Effekte der nicht-intelligibel werdenden Geschehnisse in der Gegenwart

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

weiterwirken, und bezeichnet den spezifischen Modus des Weiterwirkens als »Postmemory«.8 In ihren Ausführungen zeichnet sich die Kritik an Aleida und Jan Assmanns (2006; 2014) Theorie des kulturellen Gedächtnisses ab, dass durch diese solche Erinnerungsprozesse nicht berücksichtigt werden können, die sich aus dem Bruch mit Tradierungskulturen ergeben, sei es aufgrund kultureller Vernichtung oder aufgrund individueller Traumatisierung. Das Konzept von »Postmemory« (ebd.) nehme hingegen die indirekte Beziehung eines Subjekts zu den Erinnerungen anderer in den Blick, welche sich auf der Grundlage von Schweigen oder Alltagsroutinen ergeben kann (vgl. dazu auch Hofman 2005).

6.2.5.3 Kritische Praxis In So sind wir wird nicht nur ein »Zuhören vom Ort des Traumas« (Caruth 2000: 98; Herv. i. O.), sondern auch ein Sprechen von diesem aus ermöglicht. Die Konstruktion der Narration spiegelt die Undurchsichtigkeit des ›Ich‹ ebenso wider wie die Unverständlichkeit dessen, worüber es berichtet. Die Erzählstimme reflektiert an mehreren Stellen über die Weise des Zustandekommens der Narration, etwa wenn sie erläutert: »Ich müsste jetzt über dieses Werk reden, denn es hatte einen starken Eindruck auf mich gemacht. Aber ich tue es nicht.« (SSW: 48)

Daneben setzt sich die Erzählstimme in Metalepsen damit auseinander, was potenzielle Leser_innen über sie denken könnten: »Ach, Leser, du hältst mich jetzt wohl für mutig« (SSW: 67). Sie gibt als das Ziel ihres Erzählens an, das zu »schildern, was gern wortlos bleiben würde« (SSW: 48). Gila macht deutlich, dass Erzählen für sie auch die Funktion hat, Undurchsichtigkeit zu realisieren, indem sie mitteilt, dass sie auch erzählt, was sie sich weshalb dachte, selbst, wenn es sich um eine Ablenkung handelt: »Warum ich das alles erzähle? Weil ich es so gedacht habe. Warum ich es so gedacht habe? Als Ablenkung.« (SSW: 66) An anderer Stelle bezichtigt sich die Erzählstimme selbst der Lüge, um daran anknüpfend die psychischen Folgen ihres Schreibens zu verdeutlichen: »Ich habe eben erfunden, gepinkelt habe ich damals nicht. Die Pisse ist hinzugedichtet, nicht etwa, weil mich Pisse interessiert, sondern weil ich einfach erfinden muss.« (SSW: 46) 8 | In der deutsch-jüdischen Literatur der zweiten Generation erzählen viele Romane vom Weiterwirken des Vergangenen im Modus des ›Postmemory‹, beispielsweise Esther Dischereits Roman Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte (1988), Viola Roggenkamps Roman Familienleben (2004), Minka Pradelskis Roman Und da kam Frau Kugelmann (2005) (vgl. dazu auch Dornick 2012).

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Als Erklärung dafür referiert sie auf das von ihr als asymmetrisch empfundene Verhältnis zwischen Erzählstimme und Leser_innen: »Ein Grund ist wohl, dass ich mir den Leser vorstelle und sein ganz und gar gleichgültiges Gesicht, während ich mich langsam Satz für Satz vor ihm entblöße.« (SSW: 46)

Die Vorstellungen und Bilder, von denen das ›Ich‹ erzählt, sind Bestandteile des »Schlamm[s] der Kindheit (SSW: 7; Herv. i. O.). Teilweise erscheinen sie als ritualisierte Erinnerungen, wie etwa die Stilisierung des abwesenden Vaters, teilweise entspringen sie aber auch Gilas Ängsten. Indem die Erzählstimme ihre Imaginationen narrativ in einem Zusammenhang mit ihrem ›Ich‹ hervorbringt, gewinnt sie eine erweiterte Perspektive auf sich selbst, auf ihren Vater und die Familie. Die um die Undurchsichtigkeit des Selbst ergänzte Perspektive bietet in So sind wir die Grundlage für eine Kritik politischer Repräsentation Überlebender. Sie wird mit dem Anspruch verbunden, die diskursive Erfassung Überlebender der Shoah zu erweitern. Ausgelöst wird die Kritik durch die Realisierung der begrenzten Perspektive, in welcher diese diskursiv erscheinen können: »So sind wir nicht, schrie es in mir auf. So sind wir nicht. ›A. L. ist Überlebender‹, hörte ich und dachte, dass dieses Bild des Überlebenden ein falsches Bild war. Ein Szenenbild, ein Vorstellungsklischee zur Einschläferung des Grauens. […] Als wäre es das schon. Als könne man meine Familie so zusammenfassen. Als wären wir immer nur das: prädestiniert zu leiden. Aber dann habe ich […] begriffen, dass Fakten nichts sind und historisches Wissen nichts. Dass Daten nichts sind und Tatsachen ein Blendwerk, weil man der Geschichte meiner Familie nicht beikommen kann, wenn man sich nicht dem Zufall ausliefert. […] Und den Gefühlen, Geräuschen, Eindrücken, Begegnungen und Sehnsüchten. Ich müsste mich vor allen Dingen mit den Sehnsüchten abgeben und den Lügen, Wünschen, Illusionen und Märchen.« (SSW: 250)

Gila spricht sich in dieser Textstelle explizit gegen die epistemische Gewalt einer vereinnahmenden Perspektive der hegemonialen Erinnerungspolitik auf die Überlebenden der Shoah aus (vgl. Jureit 2011; Kantsteiner 2006; Kertész/ McKay 2001). Sie plädiert für eine Erweiterung ihrer epistemischen Erfassung um bislang nicht-intelligible Momente von Zeugenschaft (vgl. Dornick 2016; vgl. auch Grandsard 2011; Jureit 2010; Kellermann 2001; 2011; Young 2011; Zajde 2011).

6.2.5.4 Zusammenfassung In dem Roman So sind wir wird Undurchsichtigkeit in der Form des Traumas zum Gegenstand. Die Erzählstimme legt dar, in welchen Weisen das Schweigen des Vaters zur Undurchsichtigkeit ihres Selbst beigetragen hat. Zum einen

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

ist ihre Erinnerung angefüllt mit Schweigen, zum anderen trägt dieses Schweigen zu einer bruchstückhaften Vermittlung der Erlebnisse des Vaters bei. Die traumatischen Erfahrungen bleiben unverständlich. Die spärlichen Aussagen des Vaters werden von der Erzählstimme durch eigene Vorstellungen erweitert. Die Imagination steht in Verbindung mit dem Undurchsichtigen, das ihre Erinnerung an die Kindheit durchdringt. Auf diese Weise wird in So sind wir eine Sichtweise auf die Überlebenden kreiert, die das »Sprechen und Zuhören vom Ort des Traumas« (Caruth 2000: 98; Herv. i. O.) aus einbezieht. Die Undurchsichtigkeit, die aus der Unverständlichkeit des Traumas resultiert, wird nicht nur auf der Ebene der Erzählung reflektiert, sondern auch in der Narration widergespiegelt. Diese zeichnet sich durch eine Reihe metaleptischer Brüche aus, in denen die Erzählstimme über die Konstruktion der Narration Auskunft gibt. Die Reflexionen auf Form und Inhalt des Traumas leuchten die spezifische Undurchsichtigkeit, welche die Kindheit der Nachgeborenen umgibt, aus. Solchermaßen erweitern sie die Perspektive, die auf das Trauma, das den Vater und die Familie erfasst hat, geworfen werden kann. Vor dem Hintergrund dieser neuen Sichtweise auf das Trauma fordert Gila die Legitimität der sekundären Zeugenschaft ein und lehnt die politische Vereinnahmung der Geschichte der Überlebenden und ihrer Familien/Nachkommen ab (vgl. Dornick 2016).

6.3 Z wischenfa zit Die Undurchsichtigkeit des Selbst stellt neben der Abhängigkeit vom Anderen und von Normen ein wesentliches Moment des postsouveränen Subjekts dar. Mit ihm findet der Aspekt subjekttheoretisch Anerkennung, dass das ›Ich‹ zu Beginn seiner Einsetzung nur in der Adressierung an dich« (KeG: 112; Herv. i. O.) besteht. Ihm sind immer schon Spuren des Anderen eingeschrieben, die teils demarkierte, teils verdrängte Teile seiner Identität konstituieren. Die ethische Bedeutung des Moments der Undurchsichtigkeit des Selbst liegt darin, dass mit seiner Anerkennung ein Subjekt intelligibel wird, welches seine eigene Undurchsichtigkeit und auch die anderer als menschlich erfährt. Die Romananalysen zeigen, dass dem Moment der Undurchsichtigkeit des Selbst eine bedeutsame Rolle bei der narrativen Gestaltung der Erzählung zukommt. Auf diegetischer Ebene wird Undurchsichtigkeit in unterschiedlichen Zusammenhängen hypotypotisch veranschaulicht. In den Romanen Aus einer schönen Welt und Die Bestandsaufnahme wird deutlich, inwiefern die Nichtanerkennung der Undurchsichtigkeit des Selbst und seine Einsetzung als autonomes Subjekt zu gewaltvollen Konsequenzen für die Figuren führen. Sowohl A. als auch Bäcker Uhland sehen sich etwa dem Verlust ihrer körperlichen Integrität ausgesetzt. Bäcker Uhland ist durch die Erlasse der Nationalsozia-

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list_innen plötzlich in seiner Zeugungsfähigkeit bedroht und A. ist der eigene Körper durch die Projektion der externen Blicke auf ihn dauerhaft entzogen. Demgegenüber wird die Bedeutung der Anerkennung von Undurchsichtigkeit in den Romanen Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück, Woran denkst du jetzt und So sind wir sichtbar. In ihnen wird von verschiedenen Weisen des Wahrnehmens des Anderen erzählt. Dabei geraten mehrere Aspekte der Undurchsichtigkeit in Beziehungen zu sich selbst und anderen in den Blick. In Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück zeigt sich, dass die Beziehung zum anderen die Form, in welcher er wahrgenommen wird, verändern kann. Gleichzeitig macht die Analyse deutlich, dass es für die Beziehung zum anderen bedeutsam sein kann, ihn im Hinblick auf seine Undurchsichtigkeit zu befragen. Sogar irrationale Handlungen können verständlich werden, wenn die Prämissen, denen sie folgen, geklärt werden können. Dies wird auch in Woran denkst du jetzt vor Augen geführt. Obwohl die Figuren in dem Roman unterschiedliche Sichtweisen haben, gelingt es ihnen, diese auf der Grundlage anzuerkennen, dass sie sich auf verschiedenen Voraussetzungen gründen. Schließlich zeigt die Untersuchung des Romans So sind wir, dass traumatisierende Erfahrungen die Undurchsichtigkeit der eigenen Herkunft verstärkt in den Fokus rücken lassen. Das Schweigen des Vaters über seine Erlebnisse durchdringt die Erinnerungen der Erzählinstanz an ihre Kindheit und gerinnt auf diese Weise zu einer Chiffre des Undurchsichtigen. Gleichzeitig konstituiert das Schweigen des Vaters die Beziehung zwischen ihm und seiner Tochter als eine, die das »Sprechen und Zuhören vom Ort des Traumas« (Caruth 2000: 98; Herv. i. O.) ermöglicht. Die Tochter nimmt ihren Vater von Kindheit an als einen Menschen wahr, der geheimnisvoll und unverständlich auf sie wirkt. Die Erinnerung an diese Wahrnehmung ermöglicht es ihr später, eine Beziehung zu ihrem Vater einzugehen, in der die Undurchsichtigkeit in der Form dessen, »was wir noch nicht über unsere eigene traumatische Vergangenheit wissen« (ebd.: 97), zum Gegenstand werden kann. Im Hinblick auf die Rekonstruktion der poetologischen Verfahren kristallisiert sich heraus, dass Undurchsichtigkeit in allen untersuchten Erzählungen hypotypotisch verdeutlicht wird und im Zusammenhang mit der Frage erscheint, wie Wahrnehmungsschemata die Intelligibilität des ›Ich‹ und des Anderen regulieren. In Aus einer schönen Welt wird diese Poetologie durch die Beschreibung und Konstruktion einer Phänomenologie der Blicke umgesetzt, denen A. ausgesetzt ist und infolge der Verinnerlichung auf sich selbst und andere wirft. In Die Bestandsaufnahme wird die Dimension einer existenziellen Gefährdung in den Blick gerückt, die mit Deutungsschemata verbunden ist, welche den Anderen zum Wertlosen erklären. Mit der narrativen Form der »Du-Erzählung« (Greber 2006: 45) wird in der Erzählung um Bäcker Uhland das ›Du‹ bzw. das fiktionale ›Sie‹, mit dem die Nationalsozialist_innen angesprochen

6. Undurchsichtigkeit des Selbst

werden, und die Adressierung der (impliziten)9 Leser_innen zusammengebracht. Die Undurchsichtigkeit der Position der Adressierten trägt dazu bei, dass die fiktionale Rahmung des Erzählten infrage gestellt bzw. überschritten wird. Der ethische Schauplatz, an dem sich das ›Ich‹ zu dem anderen in Beziehung setzen muss, erfährt auf diese Weise eine Vervielfältigung. Inwiefern die Anerkennung der pluralen Erscheinungsformen menschlichen Lebens die Weise bestimmt, in welcher der Andere betrachtet wird, kann in den Romanen Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück und Woran denkst du jetzt anhand der semantischen Arbeit am Begriff des ›Sehens‹ nachvollzogen werden. Daneben wird der Umstand, dass es unterschiedliche Weisen gibt, mit denen der Andere angesehen und erfasst werden kann und dass diese Weisen die (Un-)Verständlichkeit und (Un-)Durchsichtigkeit des Anderen mit konstituieren, in dem Roman Woran denkst du jetzt mit der narrativen Konstruktion der Diegese vor Augen geführt. Die Diegese wird ausschließlich aus den beiden Erzählperspektiven der Schwestern Lisa und Tanja erzeugt, die sich gegenseitig ergänzen und erweitern. In So sind wir wird die Undurchsichtigkeit zum einen hypotypotisch durch die Unverständlichkeit des Verhaltens des Vaters für seine Tochter, aber auch durch die Unklarheit, welche die Tochter sich selbst und ihrer Herkunft gegenüber empfindet, verdeutlicht. Zum anderen wird auf die Undurchsichtigkeit narrativ in einer Reihe von metaleptischen Brüchen Bezug genommen. Auf diese Weise gibt die Erzählstimme der Unbeherrschbarkeit und Unverständlichkeit des traumatischen Materials Ausdruck. Die Narration zeichnet sich durch ein ständiges Ringen mit der Undurchsichtigkeit der kindlichen Erfahrungen aus, den Spuren der familiären Traumatradierung und dem Wunsch, eine sinnvolle Geschichte über eine Herkunft im Schatten des väterlichen Traumas zu generieren. Gleichzeitig wird verdeutlicht, inwiefern die Anerkennung der Undurchsichtigkeit einer politischen Aneignung des Traumas entgegensteht und eine Kritik der politischen Repräsentation ermöglicht. Durch die hypotypotische Darstellung der Undurchsichtigkeit des Selbst wird vor Augen geführt, dass eine vereinnahmende Perspektive auf die Überlebenden wesentliche Teile ihrer Zeugenschaft ausblendet.

9 | Nach Genette fallen implizite Leser_innen und extradiegetische Adressat_innen in »eins« (Genette 2010: 260).

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7. Zur Poetologie des postsouveränen Subjekts

Abschließend führe ich die Ergebnisse der Analysen im Hinblick auf die Frage zusammen, ob die Poetologie der Romane Lustigers als eine Poetologie des postsouveränen Subjekts verstanden werden kann. Dafür resümiere ich zunächst die analysierten Erzählweisen des Subjekts in den untersuchten Romanen. Ich unterscheide hierbei zwischen den Resultaten bezüglich der Darstellung postsouveräner Existenz und dem erzählerischen Einsatz spezifischer rhetorischer Mittel sowie den Befunden zur Implementierung epistemologischer Rahmen einer Erzählweise vom postsouveränen Subjekt. Daran anschließend diskutiere ich die Ergebnisse vor dem Hintergrund aktueller literaturwissenschaftlicher und soziologischer Debatten.

7.1 E rz ählweisen des postsouver änen S ubjek ts Im Hinblick auf die Forschungsfrage haben sich die drei aus den Schriften Butlers abgeleiteten Analysemomente: Abhängigkeit vom Anderen, Abhängigkeit von Normen und Undurchsichtigkeit des Selbst als fruchtbar erwiesen. In der Untersuchung kristallisierte sich heraus, dass sich die Poetologie der Romane Lustigers durch die Realisierung solcher erzählerischer Darstellungen und narrativer Einsätze auszeichnet, die Vorstellungen eines autonomen, souveränen Subjekts destabilisieren und die Denkfigur des postsouveränen Subjekts intelligibel werden lassen. Der Einsatz spezifischer Erzählmodelle und die diegetische Fokussierung auf Themenbereiche der Sorge, der Ausgrenzung anderer, der Geschlechterungleichheit und menschlicher Interdependenz realisieren Phänomene postsouveräner Existenz. Postsouveräne Darstellungen der Figuren werden durch den narrativen Einsatz der Tropen Katachrese, Metonymie und Hypotypose hervorgebracht.

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Poetologie des postsouveränen Subjekts

7.1.1 Postsouveräne E xistenz in Gila Lustigers Romanen Postsouveräne Existenz wird in Lustigers Romanen auf verschiedene Weise thematisiert. Im Roman Die Bestandsaufnahme spielt das Moment der konstitutiven Abhängigkeit vom Anderen eine wesentliche Rolle. Das Erzählmodell besteht in einem Verfahren der retrospektiv teleologischen Enthüllung wesentlicher Informationen über die dargestellten Beziehungsnetze. Es ist dergestalt darauf angelegt, die Interdependenz und damit auch die Abhängigkeiten und das Ausgesetzt-Sein der einzelnen Figuren vor den Augen der Leser_innen darzustellen. Die Erzählung der einzelnen Schicksale in einem Setting, welches verdeutlicht, dass die Lebenswege der Figuren miteinander verknüpft sind, voneinander abhängen und die Figuren einander in ihrer Verletzlichkeit ausgesetzt sind, habe ich als einen hypotypotischen Einsatz herausgearbeitet. Mit diesem wird deutlich, inwiefern die Abhängigkeit vom Anderen zu einer Gefährdung werden kann, wenn die gesellschaftlichen Normen bestimmte Subjekte aus dem Bereich des Menschlichen ausschließen. Schilderungen über das Scheitern von Sorgebeziehungen und die gewaltsame Zerstörung von Menschenleben veranschaulichen, dass Sorge eine gesellschaftliche Praxis darstellt, welche stets in Bezug auf ihre exkludierenden Effekte kritisch hinterfragt werden muss. Ausschlaggebend dafür sind die erzählerischen Aufnahmen von Figuren, die nicht in das epistemische Raster der gesellschaftlichen Sorge fallen, ebenso wie der Einsatz der »Du-Erzählung« (Greber 2006: 45) Bäcker Uhlands. Diese macht durch ihre unheimliche Intensität die Konsequenzen einer Nichtanerkennung der Undurchsichtigkeit des Selbst im Zusammenhang mit der konstitutiven Abhängigkeit des Subjekts vom Anderen und von Normen begreiflich (vgl. Kapitel 6.2.2.1). In der Binnenerzählung – wie auch im gesamten Roman – realisiert die Erzählstimme, wie bestimmte Ausprägungen des ›Ich‹, wenn sie nicht durch hegemoniale Subjektvorstellungen intelligibel gemacht werden, die Menschlichkeit des betroffenen Subjekts selbst infrage stellen und damit seine Existenz gefährden können. Im Zusammenhang mit der Untersuchung des Romans Aus einer schönen Welt wurde deutlich, dass die Abhängigkeit vom Anderen und von den gesellschaftlichen Normen als Bestandteile der Undurchsichtigkeit des Selbst der Figur A. erzählt werden. Dies zeigt sich zum einen in der Rekonstruktion der Sorgebeziehungen A.s, die das Scheitern des empfänglichen Sorgens kenntlich macht. Des Weiteren wurde sichtbar, dass insbesondere A.s Abhängigkeit von den Geschlechternormen in den Fokus der Erzählstimme genommen wird, wobei gleichzeitig davon erzählt wird, wie A.s Widerstand gegen diese scheitert. Über die Untersuchung der ›Phänomenologie der Blicke‹ konnte schließlich deutlich werden, dass A. als eine Figur angelegt ist, deren Blick auf die Welt verstellt ist. Sie kann sich selbst, wie auch die anderen, nicht ›richtig‹ erfassen, weil sie sich der Undurchsichtigkeit ihres Selbst nicht nähern möch-

7. Zur Poetologie des postsouveränen Subjekts

te. Solchermaßen habe ich Aus einer schönen Welt als einen Roman verstanden, der vor allem vorführt, in welchen Weisen die Figur A. nicht-souverän denkt und handelt, während sie gleichzeitig damit beschäftigt ist – und beständig daran scheitert –, ihr Handeln am Idealbild des souveränen Subjekts auszurichten. Für den Roman So sind wir konnte ich zeigen, dass die Abhängigkeit vom Anderen hier auf verschiedenen Ebenen durchgespielt wird. Zum einen wird in dem Roman das Sorgeverhältnis zwischen Vater und Tochter als eines erfasst, das trotz der traumatischen Erfahrungen des Vaters während der Shoah und seinem dadurch bedingten Verhalten weniger pathologisch als eigentümlich ist. Die Erzählung lässt sich als eine lesen, die der Interdependenz von Vater und Tochter eine spezifische Qualität zumisst. Durch die autodiegetische Erzählstimme wird eine Perspektive auf die Beziehung Gilas zu ihrem Vater geworfen, welche die psychischen Verflechtungen als konstituierende Momente des erzählenden ›Ich‹ fokussiert. Auf diese Weise wird veranschaulicht, inwiefern der psychischen Interdependenz zwischen Eltern und Kindern nicht zwangsläufig eine pathologische Qualität innewohnt, nur weil Eltern traumatische Ereignisse durchlebt haben. Ich zeigte hier, dass das Weiterwirken personifizierter traumatischer Muster durch Tradierung nicht ausschließlich problematisch sein muss, sondern auch befähigende Wirkung haben kann. In meiner Untersuchung des Romans wurde zudem sichtbar, dass die Anerkennung der Momente Abhängigkeit vom Anderen und Abhängigkeit von Normen sowie der Undurchsichtigkeit des Selbst dazu beitragen, dass die Figur Gila ein Bild von sich entwickelt, welches ihr postsouveränes Denken und Handeln mit in die Suche nach sich selbst integriert (vgl. Kapitel 4.2.3 und 6.2.5). Insgesamt verdeutlichen die Untersuchungsergebnisse, dass in So sind wir über die Reflexionen der autodiegetischen Erzählstimme veranschaulicht wird, inwiefern das Konzept des Menschlichen um verworfene Aspekte und Momente der Enteignung/Undurchsichtigkeit erweitert werden muss, um eine Form der politischen Repräsentation zu erlangen, welche die Vielfältigkeit menschlicher Erfahrung einschließt. In Bezug auf den Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück wurde deutlich, dass im Mittelpunkt der Erzählung die Darstellung der Abhängigkeit vom Anderen steht. Ich habe den Roman insbesondere im Hinblick auf Sorge als bedeutsamen Modus der Bearbeitung menschlicher Interdependenz diskutiert. Dabei kristallisierte sich im Analysevorgang heraus, dass im Roman ein freundschaftliches und generationenübergreifendes Sorgegeflecht entworfen wird, das durch den spezifischen Modus des empfänglichen Erfassens des Anderen initiiert wird. An ausgewählten Textstellen wurde herausgearbeitet, auf welche Weise verdeutlicht wird, dass außerdem ein ›Ansehen‹ des Anderen, das die Undurchsichtigkeit des Selbst anerkennt, grundlegend dafür

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ist, den Anderen jenseits der normativen Grenzen subjektiver Intelligibilität zu erfassen (vgl. Kapitel 6.2.3). Ähnlich machte ich in der Untersuchung des Romans Woran denkst du jetzt sichtbar, dass in dem Roman Aspekte einer empfänglichen Sorgepraxis vor Augen geführt werden. Insbesondere anhand der Analyse der emblematischen Verwendung des Lexems ›Lüften‹ und seiner semantischen Erweiterung in der Narration konnte ich zeigen, dass die Anerkennung der Abhängigkeit vom Anderen sowie die Integration der Interdependenz und Irrationalität, welche menschliche Handlungen häufig kennzeichnen, dazu beitragen, die Bedürfnisse und Nöte des Anderen wahrnehmen zu können.

7.1.2 Katachrese und Metonymie als rhetorische Mittel der Resignifikation Die Untersuchung zeigt, dass metonymische Verschiebungen in allen Romanen Lustigers auf narrativer Ebene eingesetzt werden, um Bedeutungen mit neuen Konnotationen anzureichern. Insbesondere im Zusammenhang mit der Darstellung der Abhängigkeit vom Anderen im Kontext von Sorge ließ sich eine Poetologie herausarbeiten, die durch Metonymien gekennzeichnet ist. Durch metonymische Verschiebung wird etwa das schonende Schweigen des Vaters (und der ganzen Familie) in dem Roman So sind wir entpathologisiert. Ich habe deutlich gemacht, wie gegen die pathologische Deutung des Schweigens das schonende Schweigen emblematisch als eine Form der Begegnung gesetzt wird, die den Anderen zwar auf Distanz hält, sich ihm dabei jedoch auch zuwendet. Daneben lässt sich der Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück als ein metonymischer Einsatz dafür verstehen, freundschaftliche Sorgebeziehungen als gleichwertig zur familiären Versorgungsinstitution zu realisieren. Freundschaft wird in ihm mit dem Potenzial des Füreinander-Sorgens versehen und dabei zugleich die Bedeutsamkeit von Sorge im Bereich des Freundschaftlichen herausgestellt. Im Roman Woran denkst du jetzt wird eine Metonymie eingesetzt, indem Sorge im Zusammenhang mit dem Vorgang des ›Lüftens‹ als eine Praxis reformuliert wird, die einer besonderen Empfänglichkeit für den Anderen jenseits rationaler Festlegungen zum Wohle des ›Patienten‹ bedarf, um menschlich zu bleiben. Einen weiteren zentralen Punkt im Hinblick auf die Konstruktion einer Poetologie des postsouveränen Subjekts stellte meine Beobachtung dar, dass katachrestische Darstellungen in den Lustigers Romanen häufig im Zusammenhang mit metonymischen Verschiebungen gebraucht werden (vgl. Kapitel 4.3 und 5.3). Im Roman Die Bestandsaufnahme werden etwa die antisemitischen Gleichnisse und Metaphern kommentarlos durch die Erzählstimme wiedererzählt. Es ist der Kontext der Narration, welcher ihre entmenschlichende Bedeutung katachrestisch freilegt (vgl. Kapitel 4.2.1.1). Auch die denatura-

7. Zur Poetologie des postsouveränen Subjekts

lisierende Darstellung von Sorgebeziehungen in Aus einer schönen Welt wird katachrestisch erzeugt. Die Erzählstimme unterläuft das Dargestellte kontinuierlich. Auf diese Weise kommt es zu einem Bruch mit der heteronormativen Perspektive auf (von den Figuren als idealtypisch imaginierte) Elternschaft einerseits und eheliches Miteinander andererseits (vgl. Kapitel 4.2.2). Die rhetorischen Mittel Katachrese und Metonymie können als bedeutsame Elemente einer postsouveränen Poetologie angesehen werden. Indem sie die semantische Verschiebung epistemischer Raster ermöglichen, tragen sie dazu bei, Termini und Artikulationsweisen durch semantische Resignifikation zu erneuern.

7.1.3 Hypotypose als rhetorisches Mittel der Realisierung Ein weiteres wesentliches Ergebnis der Untersuchung stellt mein Befund dar, dass bei den Darstellungen der Abhängigkeit von Normen im Kontext von Geschlecht sowie der Undurchsichtigkeit des Selbst überwiegend hypotypotische Gestaltungsmittel wie Embleme, Symbole, Metaphern und Allegorien, aber auch spezifische narrative Darstellungsmodi eingesetzt werden. In der Analyse von Die Bestandsaufnahme wurde deutlich, dass ein Schwerpunkt der Narration darin besteht, die (Re-)Produktion nationalsozialistischer Geschlechterbilder anschaulich zu machen. Daneben legte ich dar, dass auch für die Darstellung der Undurchsichtigkeit des Selbst Hypotyposen eingesetzt werden, wie sich etwa anhand der Analyse der »Du-Erzählung« (Greber 2006: 45) in Bäcker Uhlands Narration zeigte. Für den Roman Aus einer schönen Welt arbeitete ich heraus, dass hier durch die Narration begreif bar wird, in welcher Weise der Prozess, in dem sich ein ›Ich‹ an weiblichen Geschlechternormen ausrichtet, abläuft. Die ›Phänomenologie der Blicke‹ habe ich als ein spezifisches narratives Verfahren dafür analytisch freigelegt, die ständige Verfehlung der von A. angestrebten Selbsterkenntnis hypotypotisch zu verdeutlichen. Im Hinblick auf die Frage nach der Darstellung der Abhängigkeit von Normen ließ sich im Zusammenhang mit der Analyse von Geschlecht für den Roman So sind wir darlegen, wie hier der lesbische Weiblichkeitsentwurf der Figur Dominique durch verschiedene rhetorische Mittel ›lebhaft‹ vor Augen gestellt wird. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Undurchsichtigkeit des Selbst im Zusammenhang mit der Darstellung der traumatischen Erfahrungen des Vaters dargestellt wird. Auch im Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück wird eine Reihe von hypotypotischen Darstellungen eingesetzt. Die Untersuchung zeigte, wie in der Narration des Romans heteronormative Geschlechterbilder zum einen zugespitzt, zum anderen unterlaufen werden. Daneben habe ich darauf hingewiesen, dass in Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück anschaulich gemacht wird, auf welche Weise normative Raster des ›Ansehens‹ die mensch-

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liche Wahrnehmung bedingen. Die Geschichte von Luca, welcher Steine sammelt, einfach, um diesen Langeweile zu ersparen, führt konkret vor Augen, dass es einer steten Erweiterung epistemischer Rahmen bedarf, um den Anderen von seiner Undurchsichtigkeit aus erfassen zu können. Schließlich machte die Analyse von Woran denkst du jetzt deutlich, dass in dem Roman Hypotyposen eingesetzt werden, um den Begriff des ›Sehens‹ semantisch auszudifferenzieren. Anhand der unterschiedlichen Perspektiven der Hauptfiguren wird in der gesamten Erzählung vor Augen geführt, in welcher Weise individuelle Sichtweisen auf Sachverhalte variieren können. Damit verbunden ist die anschauliche Darstellung des empfänglichen Sorgens durch das Emblem des ›Lüftens‹. Die nullfokalisierte Erzählperspektive trägt dazu bei, dass nachvollziehbar wird, wie Weiblichkeit sozial normiert und bedingt wird. Diese Befunde weisen die Hypotypose als einen wesentlichen Bestandteil der Poetologie Lustigers Romane aus. Sie wird narrativ überwiegend als ein rhetorisches Mittel eingesetzt, um das Auf brechen der akzeptierten epistemologischen Ordnung nachzuvollziehen. Dabei wird der Bruch zwischen den verschiedenen Sichtweisen auf die Welt durch die Hypotypose als eine mögliche Transition realisiert und weniger als eine unüberbrückbare Differenz.

7.1.4 Fragendes ›Ansehen‹ als Modus der Begegnung mit dem Anderen Über die spezifische Ausrichtung der untersuchten Romane hinaus werden in Lustigers Romanen erzählerisch Phänomene realisiert, die sich an den Rändern und in den Grenzregionen der ›normalen‹ – hegemonialen – Erfassung der Lebenswelt lokalisieren lassen. In allen Romanen konnte ich die Bewegung eines erzählerischen Aufspürens und Darstellens von solchen Sachverhalten beobachten, die bildlich gesprochen unter der Oberfläche des alltäglichen Sprechens und Handelns lagern. Auf epistemischer Ebene wird der Modus des fragenden – oder wie ich ihn an anderer Stelle genannt habe (vgl. Kapitel 6.2.4) – der Modus des empfänglichen ›Ansehens‹ etabliert, welcher eine Form menschlicher Begegnung initiiert, die der Undurchsichtigkeit des Selbst Rechnung trägt. Ich arbeitete heraus, dass der Andere in diesem Wahrnehmungsmodus in kritischer Distanz zu den idealisierenden und stereotypisierenden gesellschaftlichen Normen wahrnehmbar wird. Die Form der empfänglichen Begegnung ermöglicht es, dem Anderen »gerecht« (MdG: 97) zu werden, ihm zuzugestehen, auf seine Weise »zu atmen, zu begehren, zu lieben und zu leben« (MdG: 20) und auf vielfältige Weise als menschlich zu erscheinen. Die Analysen zeigten, dass die Darstellung und Etablierung des Modus des fragenden ›Ansehens‹ in den Romanen Lustigers dazu beiträgt, das epistemische

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Problem des ›Blickens‹ – der Perspektive – und die epistemologische Konstitution der Sehweisen auf den Anderen vor die Augen der Leser_innen zu führen. Die Romane bleiben aber nicht bei dieser Problematisierung stehen. Vielmehr wird in ihnen ein neuer Pfad in das unübersichtliche Terrain der Formen menschlicher Anerkennung eingeschlagen. Durch die Fokussierung auf die Diversität von Perspektiven und Deutungsrahmen einerseits und die Gewaltförmigkeit epistemischer Raster und damit verbundener Praktiken andererseits wird erzählerisch die Vorstellung unterwandert, dass die Komplexität des Phänomens ›Welt‹ in idealisierenden Normen aufgehen kann. An diesen dargestellten Bruchstellen epistemischer Raster wird der Modus des fragenden ›Ansehens‹ des Anderen als eine lokale Strategie eingeführt, mit der die normativ-exkludierenden Anrufungen verschoben werden. Ein wesentliches Kennzeichen dieser erzählerischen Intervention besteht in der Kreation von diegetischen Situationen der Unentscheidbarkeit. Die Figuren unterstehen dabei entweder einer Bewertungsinstanz oder sind selber in die Lage versetzt, über andere zu urteilen. Indem die Erzählstimme beschreibt, wie die Figuren innehalten und über die zur Verfügung stehenden Normierungen reflektieren, wird der Modus des fragenden ›Ansehens‹ als ein legitimes Handlungsmuster eingesetzt. Die Analyse macht deutlich: Voraussetzung dafür, dass die einengenden Bedingungen, unter denen die Intelligibilität des Menschlichen erzeugt wird, in den Romanen Lustigers sichtbar werden können, ist die Gestaltung und narrativ-kohärente Darstellung der Figuren aus einer Perspektive heraus, welche ihre Menschlichkeit von vornherein behauptet. Nur auf diese Weise können die Normen als Ursache der Gefährdung bestimmter Figuren überhaupt in den Blick geraten. Es ist die Erzählweise, die Poetologie, durch welche die erzählten Gegenstände angeordnet werden und an deren Stelle die Entscheidung darüber getroffen wird, auf welche Zusammenhänge der Blick freigegeben wird. Hier zeigt sich, dass die Romane Lustigers und die Texte Butlers an einem spezifischen Punkt zusammenfallen: Sie alle sprechen von jenem prekären Ort aus, der dem postsouveränen Subjekt ›gehört‹. Die gewählten Erzähl- und Schreibweisen schließen das postsouveräne Subjekt von Anfang an mit ein und beharren auf seiner Menschlichkeit. Es erscheint nicht etwa nachträglich als etwas Verworfenes, das aus moralischen Gründen toleriert werden sollte. In Lustigers Romanen und Butlers Philosophie werden Geschichten vom Subjekt an den Grenzen der Intelligibilität aus erzählt, dem nur über empfängliches bzw. fragendes ›Ansehen‹ Gerechtigkeit widerfahren kann. Das ständige Ringen um Anerkennung, das naheliegende Scheitern an Normen und seine andauernde Gefährdung werden als ontologische Momente seiner und unserer Existenz sichtbar gemacht, welche nur durch eine Poetologie realisiert werden können, die das Recht auf Undurchsichtigkeit des Selbst einlöst.

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7.2 L iter arische R e alisierung als hypot ypotische  S ubversion Die vorliegende Arbeit wurde als ein interdisziplinärer Vermittlungsraum angelegt, der ausgehend von den philosophischen Texten Butlers die literarischen Texte Lustigers in den Blick nimmt. Entsprechend war die Analyseperspektive plural und partial konstruiert. Im Vordergrund des Untersuchungsinteresses stand nicht die vollständige Erfassung der untersuchten Romane, sondern die Herausarbeitung ihres ethischen Potenzials im Hinblick auf die Konstruktion der Erzählstimmen und den erzählerischen Einsatz kritischer Perspektiven auf Universalität und Autonomie. Realisiert wurde dieses Vorhaben über ein zweistufiges Analyseverfahren, in dessen Verlauf ich zunächst verschiedene Erscheinungsweisen des Postsouveränen in den Texten Butlers untersucht habe. Daran anschließend habe ich Butlers Subjektverständnis vor dem Hintergrund ihrer ethischen Überlegungen näher beleuchtet. Auf diese Weise konnte ich zentrale Momente des Konzepts des postsouveränen Subjekts – Abhängigkeit vom Anderen, Abhängigkeit von Normen und Undurchsichtigkeit des Selbst – identifizieren. Als philosophisch-soziologisches Wissen habe ich diese anschließend als Analysepunkte in den Bereich der literaturwissenschaftlichen Methoden transferiert. Dabei knüpfte ich an ein Verständnis von Figuren und den sie einbettenden Konstellationen an, das Aspekte des nicht-kohärenten, abhängigen und ausgesetzten Subjekts in die Literaturanalyse miteinbezieht. Darüber hinaus spielte es eine bedeutende Rolle, dass ausgehend von dem Konzept des postsouveränen Subjekts sowohl gesellschaftliche Bedingungen menschlicher Existenz in den Blick genommen werden können als auch die Rhetorizität von Erzählungen. Schließlich ermöglichte es dieses Konzept, auf die in den Romanen hergestellten Welten die Perspektive der ethischen Aushandlungen im Literarischen zu werfen. Die zweite Stufe des Analyseverfahrens bildete die Untersuchung der literarischen Darstellungen von Die Bestandsaufnahme, Aus einer schönen Welt, So sind wir, Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück sowie Woran denkst du jetzt in Bezug auf die analytischen Momente des Konzepts des postsouveränen Subjekts, welche die ethische Dimension der Romane in den Vordergrund stellte. Lustigers Texte wurden über den Interpretationsrahmen deutsch-jüdischer Herkunft zweiter Generation hinausgehend als Beiträge zu einem Diskurs über Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens lesbar, die den Menschen als abhängig und undurchsichtig erfassen. Mit der Denkfigur des postsouveränen Subjekts konnten Übersetzungsprozesse angestoßen werden, welche die Poetologie der Romane Lustigers sowohl auf der Ebene der dargestellten Inhalte als auch auf der Ebene der dafür eingesetzten Formen als eine postsouveräne Poetologie ausweisen.

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7.2.1 Das ›Erscheinen‹ des postsouveränen Subjekts Festzuhalten ist, dass sich die Untersuchungsperspektive des postsouveränen Subjekts in der vorliegenden Studie als produktiv dafür erwiesen hat, den Interpretationsrahmen deutsch-jüdischer Literatur der zweiten Generation zu erweitern und darüber hinausgehend die konkreten Aushandlungen ethischen Handelns im Literarischen genauer in den Blick zu nehmen. Daran anschließend verstehe ich die spezifische Poetologie der Romane Lustigers als einen literarischen Beitrag dazu, spezifisches ›Wissen‹ über die menschliche Existenz zu resignifizieren und narrativ in Form der Darstellung postsouveräner Verständnisse von Sorge, Geschlecht und moralischer Zurechenbarkeit zu realisieren. Dies kann vor dem Hintergrund, dass Diskurse einen »Fluss von Wissen bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit [bilden]« (Jäger/Jäger 2007: 23), nicht hoch genug bewertet werden. Die Analysen haben gezeigt, dass die Romane zum einen mögliche Welten des postsouveränen Subjekts erzählerisch projizieren, zum anderen aber auch als Texte begriffen werden können, welche die postsouveräne Einrichtung des Realen narrativ vor Augen führen. Grundlegende Momente des postsouveränen Subjekts – die Abhängigkeit vom Anderen, die Abhängigkeit von Normen und die Undurchsichtigkeit des Selbst – werden in den Romanen erzählerisch aufgegriffen und in Strukturen und verwendeten Motiven literarisch repräsentiert. In den Romanen – so folgere ich – wird die epistemische Gestalt des postsouveränen Subjekts narrativ angereichert; sie gewinnt weiter an Kontur und tritt aus dem Raum des Möglichen in den Bereich des literarisch Realisierten. Die Aktualisierung, Konturierung und epistemische Erweiterung der Figur des postsouveränen Subjekts, die dadurch erreicht wird, trägt zur Aktualisierung des Wissensvorrates um die postsouveräne Verfasstheit des Menschen ebenso bei wie zur Legitimierung von ethischen Entwürfen, welche postsouveräne Aspekte realisieren. Indem die Romane Lustigers einer Poetologie des postsouveränen Subjekts folgen, beteiligen sie sich literarisch am Diskurs über die Verfassung von Subjekten und verhelfen damit en passant der Figur des postsouveränen Subjekts »zum Dasein« (Foucault, zit.n. Butler, KeG: 62). Dazu tragen sowohl Darstellungen der alltäglichen Lebenswelten bei, in denen die Geschichten der Romane angesiedelt sind, als auch die narrative Erweiterung der epistemischen Perspektive auf menschliches Zusammenleben. Bislang nicht erfasste Phänomene werden in den Romanen der alltäglichen lebensweltlichen Sicht hinzugefügt (vgl. Petersen 1996). Deutungsmuster werden reflektiert, hinterfragt und um neu gewonnene Einsichten ergänzt, andere werden teilweise ironisch verworfen und auf diese Weise der epistemologische Raum für das Subjekt innerhalb des ontologischen Feldes ausgedehnt.

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Die Ausrichtung auf eine Erweiterung des ontologischen Feldes, in welchem das Subjekt erscheinen kann, sehe ich als zentral für einee Poetologie des postsouveränen Subjekts an. Wie die Romananalysen deutlich gemacht haben, lässt sich diese poetologische Stoßrichtung in allen untersuchten Romanen nachweisen. Exemplarisch sei an dieser Stelle etwa auf die Darstellung der Figur Bäcker Uhlands in Die Bestandsaufnahme verwiesen, deren Betteln um Existenz erzählerisch aufgenommen und damit einer diskursiven Realisierung zugeführt wird. Oder auf die Darstellung der demarkierten gesellschaftlichen Zwänge und Normen, denen A. qua ihrer Identifikation mit dem Weiblichen in dem Roman Aus einer schönen Welt unterliegt. Sie liegt aber ebenso in So sind wir vor, wenn Gila eine doppelte Zeugenschaft reklamiert und damit Widerstand gegen hegemoniale Sichtweisen auf die Rolle der Überlebenden für die Vergangenheitsbewältigung leistet. Auch die Markierung der freundschaftlichen Begegnung für ein gelingendes menschliches Zusammenleben in dem Roman Herr Grinberg & Co. Eine Geschichte vom Glück kann als ein Beitrag zu einer Poetologie gelesen werden, der es um eine Modulation der epistemischen Erfassung des Anderen geht. Ebenso kann der narrativen Darstellung des miteinander verflochtenen Daseins des Menschen in dem Roman Woran denkst du jetzt ein Anteil daran zugesprochen werden, die Interdependenz und Relationalität menschlichen Zusammenlebens poetologisch nachzuvollziehen. Darüber hinaus machen die Analysen narrative Einsätze für die Veranschaulichung einer bestimmten Perspektive auf das Zusammenleben der Menschen sichtbar. Diese habe ich unter dem Term des empfänglichen ›Ansehens‹ als einen spezifischen Modus des ›Ansehens‹ rekonstruiert. Die Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass mit seiner Hilfe ein konkreter Modus der Anerkennung des Anderen als postsouveränes Subjekt veranschaulicht wird, mit dem sich vielleicht am ehesten ein »lebendige[r] Ort« (KeG: 16) für das ›Ich‹ erzeugen lässt. Die Studie fügt den von Butler als relevante Tropen der Kritik und des Widerstands herausgearbeiteten rhetorischen Mitteln Katachrese und Metonymie die Hypotypose hinzu. In der Untersuchung der Romane kristallisierte sich heraus, dass durch die Hypotypose die semantischen Verschiebungen und Brüche kontextualisiert werden können. Darüber hinaus liegt eine performative Kraft in der Hypotypose. Sie birgt die Möglichkeit, das ›Da-Sein‹ der (noch) nicht intelligibel gewordenen Seinsweise vor Augen zu führen und zu konkretisieren. Die Hypotypose schält sich vor dem Hintergrund der vorliegenden Analysen als ein wirkmächtiges Mittel heraus, um die theoretische Figur, die abstrakte Idee des postsouveränen Subjekts ins Leben zu ›rufen‹. Sie ist es, welche die interdependente, undurchsichtige Verfasstheit des Menschlichen anschaulich werden lassen und auf diese Weise ein Wiedererkennen des ›Ich‹ im Anderen initiieren kann.

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7.2.2 Affirmation des Bruchs Nicht ganz zufällig weist die vorliegende Arbeit auf die Kraft der Vorstellung als Verbündete einer Ethik des postsouveränen Subjekts. Im Zuge dessen zeichnet sich in der vorliegenden Arbeit auch eine Antwort auf die aktuelle Frage danach ab, »welche Leistungen das so definierte Feld der Kunst, der Literatur, der Musik und der Bildung für die zeitgenössische Gesellschaft erbringt« (Nünning 2016: 39).

Literatur erschafft Mögliches und arbeitet auf diese Weise an einer Erweiterung der Episteme intelligiblen Lebens mit. Ihr kultureller Beitrag für die Formung von Vorstellungen über eine Ethik des Zusammenlebens kann daher nicht hoch genug geschätzt werden. In literarischen Werken werden Deutungs- und Handlungsmuster durchgespielt, Konsequenzen gezogen sowie ertragen und auf diese Weise schließlich auch intelligible Subjekte entworfen. Gleichzeitig bietet Literatur einen Raum dafür, Verwerfungen intelligiblen Lebens zu reflektieren, indem Unmögliches thematisiert wird oder Realitäten durch Zeitsprünge näher zusammengerückt werden. Literatur ist demnach über ihre Funktion als »reintegrierende[r] Interdiskurs und als ein Medium kultureller Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion« (ebd.: 58), als ein Experimentier- und Veranschaulichungsfeld für Entwürfe un-/möglichen (Zusammen-)Lebens zu begreifen (vgl. Haker 2004). An diese Rahmung lässt sich sowohl aus literaturwissenschaftlicher als auch aus philosophisch-soziologischer Perspektive anknüpfen. Die erstmalige systematische Analyse und Interpretation der Romane Lustigers schließt die literaturwissenschaftliche Forschungslücke und erweitert mit seiner spezifischen Fokussierung auf Momente einer Ethik des postsouveränen Subjekts den Blick auf die deutsch-jüdische Gegenwartsliteratur. Sie setzt damit Impulse für Untersuchungen, die nach Momenten des postsouveränen Subjekts über den hier gewählten Analysegegenstand hinaus Ausschau halten. Untersuchungsfragen zur erzählerischen Konstruktion von Sorge und Abhängigkeit sowie Geschlecht lassen sich als Fäden einer Interpretation vom postsouveränen Subjekt aus ebenso aufnehmen, wie sie Problematisierungen sogenannter ›Pathologien‹ des Traumatischen anstoßen können (vgl. dazu Caruth 2000). Mit dieser Forschungsperspektive ist die programmatische Suche nach anderen – nicht-hegemonialen – Deutungen unauflöslich verbunden, welche dem Abweichenden einen legitimen Ort in der menschlichen Ontologie zuweisen. Gerade dieser Punkt ist für die Methodologie einer Literaturwissenschaft, die sich als kritisch-reflexiv versteht, unverzichtbar (vgl. Klein 2005). Von ihm aus lässt sich eine literaturwissenschaftliche Analysetätigkeit konstituieren, die Differenzen realisiert und ihre Demarkierung politisiert (vgl. Glissant 2010;

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Peitsch 2016). Eine solche Methodologie hat zum Ziel, stigmatisierende Zuschreibungen aufzudecken und sie nicht weiter fortzuschreiben, wie es im Fall des »psychopathologische[n] Paradigma[s]« (Lomratz 2011: 225) etwa Markus Neuschäfer (2013) mit seiner Deutung einer pathologischen ›Ich‹-Beziehung in So sind wir oder Helene Schruff (2000) in ihrer Analyse pathologischer Familienbeziehungen in der deutsch-jüdischen Gegenwartsliteratur durchaus tun (vgl. Neuhaus 2005). Die hier vorgeschlagene Sichtweise vom postsouveränen Subjekt aus stellt erinnerungspolitische und geschichtswissenschaftliche Perspektiven infrage, welche die Bruchlosigkeit und Universalität des Gedächtnisses als eine Art anthropologische Konstante voraussetzen und zu Weisen der machtförmigen Vereinnahmung von Erinnerung und Psychopathologisierung von Trauma als Enteignungen des Subjekts schweigen (vgl. dazu Assmann 2014). Eine Forschungsperspektive, die sich auf die Analyse nicht-hegemonialer Erzählungen konzentriert, bietet darüber hinaus produktive Anknüpfungspunkte für die Literaturwissenschaft zu anderen nicht-hegemonial ausgerichteten Wissensformationen, wie beispielsweise den Gender-, Postcolonial- oder den Subaltern Studies an. Aspekte der Heterogenität nationaler Identität können dabei ebenso in den Blick genommen werden, wie neue globale Verbindungen verfolgt werden können (vgl. Ahmed 2000; Ahmed 2014a; Attia 2015; Mbembe 2016; Spivak 1988). Auch erhält die Untersuchungsperspektive des postsouveränen Erzählens durch den hier vorgestellten Ansatz neue Impulse. Merkmale literarischer Darstellungen, die singulär als Willkür oder Kontrollverlust der Erzähler_innen interpretiert werden (vgl. Lickhardt 2012), oder Befunde einer thematischen Ausrichtung auf Grenzsituationen (vgl. Wolf 2012) und konstitutiver Abhängigkeit (vgl. Neumann 2012) werden im Rahmen des Konzepts des postsouveränen Subjekts als Veranschaulichung ethisch bedeutsamer Momente lesbar (vgl. Ahmed 2014b). Für eine solche Lektüre stellen die hier herausgearbeiteten Untersuchungspunkte der existentiellen Abhängigkeit des Subjekts vom Anderen und von Normen sowie die Undurchsichtigkeit des Subjekts grundlegende analytische Anknüpfungspunkte dar. Die Frage nach einer philosophisch und soziologisch orientierten Erfassung der Figur des postsouveränen Subjekts als Ausgangspunkt einer neuen Ethik des Zusammenlebens ist mit der vorliegenden Arbeit zwar auf das Tableau gehoben, freilich aber längst nicht abschließend geklärt. Die Untersuchung will indes theoretische und empirische Erkundungen entlang der hier entworfenen Denkfigur und des mit ihr implizierten ethischen Konzepts anregen. Vor dem Hintergrund der Aufgabe einer »Neufiguration des Sozialen« (Mbembe 2016: 158) kann etwa das herausgearbeitete Handlungsmuster des ›empfänglichen Ansehens‹ ganz konkret in Verbindung mit der Entwicklung von ›Rezeptwissen‹ gebracht werden und damit einer Dezentrierung der Do-

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minanzkultur Vorschub leisten (vgl. dazu Ahmed 2012; Attia 2015; Haraway 2016; Haskel 2007). Mit der Figur des postsouveränen Subjekts aktualisiert sich zugleich die Figur des Anderen und mithin die Frage, wie die postsouveräne Erfassung des Subjekts die Bedingungen der Möglichkeit, den Anderen als ›anders‹ zu denken, berührt (vgl. dazu auch Ahmed 1998; Ahmed 2006). Die Befunde leisten darüber hinaus einer im Entstehen begriffenen Analyseperspektive Vorschub, die nach der soziologischen Bedeutung der Kategorie des Unbewussten fragt (vgl. Renn 2016). Ebenso sind die vorgelegten Ergebnisse im Rahmen neuester Forschungen zu Kapitalismuskritik (vgl. Brown 2015; Buckingham/Le Masson 2017; Hark 2014; Meißner 2015; Spivak 2013) sowie zur Post-Wachstumsgesellschaft relevant (vgl. Amirpur et al. 2015; Bauhardt 2013; Seidl/Zahrnt 2010); weisen sie doch das transformative Potenzial literarischer Vorstellungs- und Veranschaulichungskraft sowie narrativer Darstellungsmodi aus (vgl. Hark 2017). Sie können als relevante Verbündete dafür verstanden werden, alternative Denk- und Handlungsmuster zu erzeugen, zu implementieren und damit von einer ethischen und politischen Praxis zu künden, die den Anderen als »meinesgleichen« (Mbembe 2016: 150; Herv. i. O.) anerkennt und ihn als uneingeschränkt menschlich voraussetzt.

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9

Elisabeth Bronfen

Hollywood und das Projekt Amerika Essays zum kulturellen Imaginären einer Nation Januar 2018, 300 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4025-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4025-4

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

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Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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