Idyllik im Kontext von Antike und Moderne: Tradition und Transformation eines europäischen Topos 9783110448092, 9783110449044, 9783110448481

Beginning with the ancient tradition, this volume examines the historical development and aesthetic manifestations of th

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German Pages 362 Year 2015

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Einleitung
Theokrits Bukolika und andere Gedichte. Eidyllia vor dem Idyll
Non in Arcadia Vergilius. Eklogenland als politisch verunsicherte Poetenidylle
Verkehrte Welt in Arkadien? Paradoxe Diskurse im schäferlichen Gewande
Deutsche Schäferspiele im 17. Jahrhundert. Eine Textsorte und ihre Funktionen
Entgrenzte Idylle. Gattungsbrüche in Nicolas Poussins Arkadienbildern
Gattungsfragen als medientheoretisches Problem. Salomon Geßners Kunsttheorie und Idyllenproduktion
Idylle und Gefährdung. Zwei Aspekte schweizerischer Landschaftsdarstellung im 18. und frühen 19. Jahrhundert
Wielands Idylle von Lampeduse
‚Aber freilich, wenn alle Menschen Schafe gehütet hätten, so wären sie zwar an sich wohl ganz glücklich gewesen. Aber was wäre denn aus unsrer Geschichte geworden?‘ Idylle, Theodizee und Geschichtsphilosophie bei Karl Philipp Moritz
Klassizistische Ansichten vom Volk. Überlegungen zu Idyllen von André Chénier und Eduard Mörike
Idyllik, Anti-Idyllik, Aufklärung und Selbstaufklärung. Zur ästhetischen und philosophischen Kritik des Arkadien-Topos
Herr und Knecht in der (Anti-)Idyllik von Johann Heinrich Voß und Fritz Reuter
Wi(e)derschein der goldenen Kindheit. Jean Pauls Idyllen-Experimente
Idylle als poetologischer Kommentar. Thomas Manns Erzählung Herr und Hund und die Literatur der Moderne
Gestörte und umgekippte Idyllen. Zum Komplex ‚See‘ in Adalbert Stifters Hochwald und Elfriede Jelineks Gier
W. G. Sebalds verstörende Idyllen in seiner Dichtung und seinem Prosawerk
Inhumane Idyllen. Das ästhetische Intervall des Idyllischen in der Lyrik Louise Glücks
Personenregister
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Idyllik im Kontext von Antike und Moderne: Tradition und Transformation eines europäischen Topos
 9783110448092, 9783110449044, 9783110448481

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 148

Idyllik im Kontext von Antike und Moderne Tradition und Transformation eines europäischen Topos

Herausgegeben von Nina Birkner und York-Gothart Mix unter Mitarbeit von Jessica Helbig

De Gruyter

ISBN e-ISBN (PDF) e-ISBN (EPUB) ISSN

978-3-11-044809-2 978-3-11-044904-4 978-3-11-044848-1 0083-4564

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI Books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis NINA BIRKNER und YORK-GOTHART MIX Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Einleitung ................................................................................................. 1 KARL-HEINZ STANZEL Theokrits Bukolika und andere Gedichte. Eidyllia vor dem Idyll ............................................................................ 14 NIKLAS HOLZBERG Non in Arcadia Vergilius. Eklogenland als politisch verunsicherte Poetenidylle ..................... 33 KLAUS GARBER Verkehrte Welt in Arkadien? Paradoxe Diskurse im schäferlichen Gewande ................................ 49 CHRISTIANE CAEMMERER Deutsche Schäferspiele im 17. Jahrhundert. Eine Textsorte und ihre Funktionen ................................................. 78 TILMAN REITZ Entgrenzte Idylle. Gattungsbrüche in Nicolas Poussins Arkadienbildern ................................................................................... 105 LOTHAR VAN LAAK Gattungsfragen als medientheoretisches Problem. Salomon Geßners Kunsttheorie und Idyllenproduktion .............. 120

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Inhaltsverzeichnis

YVONNE BOERLIN-BRODBECK Idylle und Gefährdung. Zwei Aspekte schweizerischer Landschaftsdarstellung im 18. und frühen 19. Jahrhundert ......... 130 KLAUS MANGER Wielands Idylle von Lampeduse ....................................................... 153 ALESSANDRO COSTAZZA ,Aber freilich, wenn alle Menschen Schafe gehütet hätten, so wären sie zwar an sich wohl ganz glücklich gewesen. Aber was wäre denn aus unsrer Geschichte geworden?‘ Idylle, Theodizee und Geschichtsphilosophie bei Karl Philipp Moritz ............................. 169 MARKUS WINKLER Klassizistische Ansichten vom Volk. Überlegungen zu Idyllen von André Chénier und Eduard Mörike ......................................... 188 YORK-GOTHART MIX Idyllik, Anti-Idyllik, Aufklärung und Selbstaufklärung. Zur ästhetischen und philosophischen Kritik des Arkadien-Topos ........................................................................... 206 NINA BIRKNER Herr und Knecht in der (Anti-)Idyllik von Johann Heinrich Voß und Fritz Reuter .......................................... 223 ALEXANDER KLUGER Wi(e)derschein der goldenen Kindheit. Jean Pauls Idyllen-Experimente ....................................................... 242 JENS EWEN Idylle als poetologischer Kommentar. Thomas Manns Erzählung Herr und Hund und die Literatur der Moderne ......................................................... 258

Inhaltsverzeichnis

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RITA SVANDRLIK Gestörte und umgekippte Idyllen. Zum Komplex ‚See‘ in Adalbert Stifters Hochwald und Elfriede Jelineks Gier .................... 281 ELENA AGAZZI W. G. Sebalds verstörende Idyllen in seiner Dichtung und seinem Prosawerk ....................................................................... 305 CARLOS SPOERHASE Inhumane Idyllen. Das ästhetische Intervall des Idyllischen in der Lyrik Louise Glücks ................................................................ 323  

Personenregister ..................................................................................349

 

Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Einleitung NINA BIRKNER und YORK-GOTHART MIX

I. Ausgangsfragen Drei Wochen nach Kriegsende, am 28.5.1945, verliert der für seine Kritik an trügerischen Idyllen gerühmte und verfemte Künstler George Grosz angesichts einer sich nun zur Gänze enthüllenden Monstrosität des Schreckens seinen letzten Glauben an die Menschheit. Was dem in New York lebenden Exilanten bleibt, ist eine vage Sehnsucht nach den Delitiae Italiae; das für die Idylle konstitutive Harmonieideal hat sich in toto absentiert. Gegenüber Erwin Piscator äußert Grosz: „Natürlich erwarte ich von der Zukunft nichts. Einmal möchte ich noch in der Sonne liegen an einem Mittelmeerstrande. Wenn dann aber einer kommt und quatscht von Fortschritt oder Befreiung und Kultur, dann entsichere ich meinen Revolver und schieße sofort.“1 Die noch im Zeitalter der Aufklärung im Rekurs auf Vergil und die antike Tradition unter der Prämisse einer geschichtsphilosophisch fundierten Erziehungsutopie von Johann Gottfried Herder postulierte Idee, selbst auf dem „Schlachtfelde“, im bellum omnium contra omnes, seien „Lager-, Kriegs-, Schlachtidyllen“2 denkbar, ist der Überzeugung gewichen, der locus amoenus sei nur noch als Phantasma, als „never-never land voll großer Schönheit“,3 vorstellbar. _____________   1 2

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George Grosz an Erwin Piscator, 28.5.1945. In: Ders.: Briefe 1913–1959. Hg. v. Herbert Knust. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 352. Herder, Johann Gottfried: „Idyll“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. X. Adrastea (Auswahl). Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt a.M. 2000, S. 276–283, Zitat S. 281. Vgl. dazu: Mix, York-Gothart: „‚Der Neger malt den Teufel weiß‘. J. G. Herders Neger-Idyllen im Kontext antiker Traditionsgebundenheit und zeitgenössischer Kolonialismuskritik“. In: Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische Welt. Hg. v. Hans-Jürgen Lüsebrink. Göttingen 2006, S. 193–207. George Grosz an Erna Horn, 16.12.1957. In: Ders.: Briefe 1913–1959, S. 510.

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Aber Grosz enthebt nicht nur die Idylle ihrer sozialutopischen Gegenweltlichkeit. Ihn überzeugt auch nicht mehr die von Immanuel Kant in seiner Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht begründete Position, dass die „Zwietracht“,4 also der in aller Konsequenz ausgetragene Konflikt, das Movens der Zivilisation sei. In der verordneten Sozialharmonie einer bizarrerweise als Sozialistischer Realismus deklarierten Ästhetik noch bis zum Ende des Kalten Krieges präsent, transformiert sich die Idylle zur Projektion uneinlösbarer Utopie oder zum ideologischen und religiösen Kitsch – in der künstlerischen Praxis existiert sie von nun an eher als Anti-Idyllik oder als forma non grata. Paradoxerweise sind aber auch die Spielarten radikaler Entidealisierung ohne den Rekurs auf die antike Tradition nicht denkbar und jede Dekuvrierung oder Umfiguration der Idylle aus philosophischer, historischer, ästhetischer oder anthropologischer Perspektive wird vom Versuch einer Präzisierung menschlicher Selbsterkenntnis begleitet. Vor dem Hintergrund dieses fundamentalen Wandels stellt der vorliegende Band folgende Fragen: Wo liegen die Grenzen des idyllischen Menschenbildes und seiner ästhetischphilosophischen Konkretisierung? Was wird tradiert, negiert oder verdrängt? Warum wird die Idylle heute nicht mehr als ästhetisches Genre, aber permanent als vermeintlich natürliches Gegenbild und Korrektiv der Zivilisation imaginiert? Sind die Ursprünge idyllischen Denkens im europäischen Spannungsfeld von Antike und Moderne als transkulturelle Universalien bestimmbar, die in ihrer Teleologie, ihrem Bedürfnis nach kausaler Geschlossenheit, kollektiven Mythen und Reduktion von Komplexität anthropologisch bedingt, ja, als kognitive Strategien der Existenzbewältigung im Prozess der Zivilisation unabdingbar sind?

II. Die Tradition der Idylle Der Begriff Idylle ist phänomenologisch und terminologisch nur schwer zu fassen. Vom Ursprung her handelt es sich um eine antike epischlyrische Gattung, die mit impliziter oder expliziter zivilisationskritischer Intention ländliche, oft pastorale Daseinsformen vorführt und selbst in ihren ironisch-parodistischen Verkehrungen oder motivischen Transformationen im 18., 19. und 20. Jahrhundert dem korrektiven Ideal einer unentfremdeten humanen Existenz verpflichtet bleibt. Das moderne Ver_____________   4

Kant, Immanuel: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. In: Ders.: Werke, Bd. XI. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1968, S. 33–50, Zitat S. 39.

Idyllik im Kontext von Antike und Moderne

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ständnis des Genres wird von Salomon Geßner mitgeprägt, dessen Idyllen (1756) breit rezipiert und vielfach übersetzt werden und für die Entwicklung der Gattung in Westeuropa bestimmend sind. Wie Friedrich Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) oder Friedrich Schlegels Idylle über den Müßiggang (1799) zeigen, wandelt sich die Idylle noch im 18. Jahrhundert von der den antiken Mustern verpflichteten „Dichtungsart“, so Wilhelm von Humboldt in seiner Abhandlung Über Göthes Hermann und Dorothea (1798), zur variablen „Empfindungsweise“,5 die an keinen Stand, Schauplatz oder keine Situation mehr gebunden ist. Ob „Alpe, Trift, Otaheiti, ob Pfarrstube oder Fischerkahn“, der Ort der Idylle sei ebenso „gleichgültig“ wie „die Wahl des Standes der Mitspieler“,6 erklärt Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik (1813) und unterstreicht damit die definitive Auflösung der ursprünglich präskriptiv gefassten Gattungstypologie. Die Gattungskonventionen werden so substantiell relativiert, dass ein zukunftsweisendes, den Stand der Diskussion reflektierendes Paradigma nicht mehr möglich scheint. Wie vielfältig sich die Vorstellung des Idyllischen nach der Dekonstruktion tradierter Gattungsnormen perpetuiert, belegen Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal (1793), Johann Gottfried Herders NegerIdyllen (1797), Heinrich von Kleists Der Schrecken im Bade (1808), Giacomo Leopardis Canti (1831), Alessandro Manzonis I Promessi Sposi (1840–1842), Eduard Mörikes Idylle vom Bodensee (1846), Gottfried Kellers Feueridylle (1846), Theodor Storms Weihnachtsidyllen (1865), Friedrich Nietzsches Lied eines theokritischen Ziegenhirten (1882), Wilhelm Raabes Hastenbeck (1898), Hermann Hesses Ein Wandertag (1910), Robert Walsers Der Schäfer und Der Träumer (1914), Thomas Manns Gesang vom Kindchen (1928), Robert Musils Die Hasenkatastrophe (1936) oder Ernst Jandls Idyllen (1992). Parallel zu der komplexen literaturtheoretischen Debatte im 18. Jahrhundert, in deren Verlauf sich die Idylle von einer Gattung zu einer ‚Idee‘ wandelt, etablieren sich generalisierende anthropologische Deutungsdiskurse, die grundsätzlich die Frage nach der existentiellen Entfremdung im zivilisatorischen Prozess aufwerfen und in paradoxer Weise die Komplexität, aber auch die Simplifizierung der gattungstheoretischen Programmatik forcieren. Mit dem Begriff ‚idyllisch‘ wird dann im 19. Jahrhundert ein Sammelsurium von Merkmalen assoziiert, die wenig mit dem aufkläreri_____________   5 6

Humboldt, Wilhelm von: „Über Göthes Hermann und Dorothea“. In: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 2. Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken. Hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Darmstadt 31979, S. 125–356, Zitat S. 279. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit“. In: Ders.: Werke, Abt. I, Bd. 5. Hg. v. Norbert Miller. München 1963, S. 7–456, Zitat S. 261.

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schen Impetus früherer Gattungsdiskussionen gemein haben: das Glück im Winkel, die sprichwörtliche Schrebergartenidylle oder, ironisch grundiert, ‚idyllisch‘ als Synonym für die Selbstgenügsamkeit und Lebensform des Philisters. Diese Varianz der Konnotation existiert auch im ironischen Unterton des englischen Ausdrucks bucolic oder der französischen Bezeichnung une idylle, die in der Romanliteratur die Nebenbedeutung des Amourösen haben kann. De facto ist der schillernde Begriff über Jahrhunderte in allen Künsten präsent. Die auffällige Mehrdeutigkeit und das Flottieren des Begriffs zwischen der Landschafts- und Vedutenmalerei, der Gartenbauarchitektur, dem Singspiel, der Tapeten- und Porzellanmalerei, der Sinfonik, populären Gesellschaftsutopien, der Belletristik und selbst der Mode hat eine exakte Begriffsbestimmung erschwert. Aus der Orientierung an der von Theokrit und Vergil begründeten Gattungstradition lassen sich indes charakteristische Merkmale der Idylle und des ‚Idyllischen‘ ableiten. Als conditio sine qua non gilt gemeinhin die Präsenz einer überschaubaren, egalitär organisierten sozialen Gruppe, die in einer begrenzten, von völlig ausweglosen Notlagen freien, szenisch als Binnenraum organisierten, schönen ländlichen Welt fern von Hof und Stadt agiert. In traditioneller idyllischer Idealisierung ist der Tod ebenso wenig wie die Krankheit oder die Intrige präsent. Topisch ist die Darstellung des idyllischen Raums als locus amoenus,7 der vor den in einen imaginierten Außenraum projizierten Bedrohungen geschützt ist. Hier gilt die „Vorherrschaft des Räumlich-Zuständlichen“:8 Im idyllischen Raum entsteht der Eindruck einer Zeitlogik durch naturhaft vorgegebene Zyklen, die im Kontrast zur Chronometrie der ökonomistischen Devise time is money und den damit korrespondierenden sozialen Regulativen zu sehen sind.9 Der Idylle ist der Glaube an und die Propagierung von gesellschaftlichen Harmonieidealen immanent. Freundschaft und amouröse Avancen ohne tragische Liebeshändel sind präferierte Themen.10 Bei Geßner, dessen Werke bis ins 19. Jahrhundert in Europa rezipiert werden, transformiert sich das Motiv des erotischen Verlangens zur zärtlichen Liebe und zur Idealisierung familialer Lebensformen. Die in seinen _____________   7 8 9 10

Zu den Merkmalen des locus amoenus vgl. Garber, Klaus: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 1967, S. 8. Vgl. Elias, Norbert: „Vorwort“. In: Ders.: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Hg. v. Michael Schröter. Frankfurt a.M. 1988. S. VII–XLVIII, insbes. S. XXII. Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: „Idylle“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Harmonie – Material. Hg. v. Karlheinz Barck, Friedrich Wolfzettel u. a. Stuttgart u. a. 2001, S. 119–138, Zitat S. 121.

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Idyllendichtungen zu beobachtende Tendenz zur Subjektivierung wird von Johann Heinrich Voß, Johann Wolfgang Goethe oder Jean Paul unter bürgerlichen Vorzeichen fortgeführt. Ob ein Raum als Idylle wahrgenommen wird, ist angesichts der Projektion des ‚Idyllischen‘ in unterschiedliche Milieus, Zeiten und Weltgegenden von dem Betrachtenden bzw. Empfindenden abhängig. Die völlige Subjektivierung der Idylle wird im 19. Jahrhundert vor allem von Jean Paul postuliert, der die Gattung als „epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“11 definiert.

III. Zielsetzungen des Bandes Die genannten Charakteristika, die im Rekurs auf Vergil als ‚arkadisch‘ begriffen werden und den locus amoenus ausweisen, sind für die Idyllentradition konstitutiv. In dem vorliegenden Band werden daher solche literarische Texte und Kunstwerke in den Blick genommen, die durch den Rekurs auf substantielle idyllische Topoi einen deutlichen Bezug zur Gattungstradition besitzen. Ausgehend von der europäischen Idyllentradition wird nach der historischen Entwicklung des Genres und den literarästhetischen Erscheinungsformen der Idylle beziehungsweise des ‚Idyllischen‘ in der deutschen Kunst und Literatur gefragt. Auf diese Weise schließt der Band eine Forschungslücke: Denn bis dato gibt es keine Überblicksdarstellung, die versucht, die auf die Antike rekurrierende Tradition der Idyllik in ihren gattungsrelevanten Mustern und Varianten bis ins 20. Jahrhundert zu analysieren.12 Dabei sind die im Abschnitt ‚Ausgangsfragen‘ konkretisierten Themen ebenso erkenntnisleitend wie das Problem, dass die Dichotomie zwischen Zweckrationalität und Idyllik in das Gegenteil verkehrt und geschichtsmächtig wird, wenn diese Divergenz unter der teleologischen Amalgamierung von „Arkadien und Utopien“13 im Sinne Ernst Blochs aufgehoben wird: In dem Maße, in dem der für die Idylle konstitutive, geschützte und harmonische Binnenraum zunehmend als bedroht und brüchig dargestellt wird, gewinnt das idyllische Gegenbild an soziokultureller Eigendynamik und Bestimmungsmacht. Neben der _____________   11 12

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Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“, S. 258. Der Band schließt damit an Versuche von Rolf Wedewer an. Der von ihm herausgegebene Band Die Idylle. Eine Bildform im Wandel zwischen Hoffnung und Wirklichkeit, 1750–1930. Köln 1986 beschränkt sich allerdings allein auf die Bildende Kunst. Die nach wie vor einschlägige Einführung zur Idylle von Renate Böschenstein aus dem Jahr 1967 hat nicht den Anspruch, Detailfragen zu vertiefen. Bloch, Ernst: „Arkadien und Utopien“. In: Gesellschaft, Recht und Politik. Festschrift für Wolfgang Abendroth. Hg. v. Heinz Maus. Neuwied, Berlin 1968, S. 39–44, Zitat S. 39.

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Fokussierung der kultur- und philosophiegeschichtlichen Entwicklung zielt der Band deshalb auch darauf, Modelle der Modernisierung und der Transformation der Idylle mit dem Blick auf die europäischen Nachbarkulturen zu analysieren. Dabei werden exemplarische Werke aus anthropologischer, historischer, philosophischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht – reflektiert die Idylle doch implizit oder explizit in ihrer Affirmation ebenso wie in ihrer Negation die Natur und Kultur des Menschen.

IV. Zu den Beiträgen des Bandes In dem historisch-chronologisch gegliederten Band wird mit den Gedichten Theokrits (um 270 v. Chr.) und den Eklogen Vergils (70 v. Chr. – 19 v. Chr.) zunächst der historische Ursprung der Gattung in den Blick genommen – „alle späteren Idyllendichter haben sich an ihnen bewußt orientiert“.14 Dabei macht Karl-Heinz Stanzel deutlich, dass für Theokrits Gedichte die Spannung zwischen partiell realistischer Darstellung des Hirtenlebens und artifizieller Überhöhung der literarischen Figuren konstitutiv ist. Auch wenn der Alltag der Hirten geschildert wird, sind insbesondere ihre Sprache und Gedanken aber nicht alltäglich, sondern geprägt von der griechischen Dichtung und dem Mythos. Ihre Kultiviertheit verweist darauf, dass sie – entgegen dem verbreiteten Verständnis – schon bei Theokrit kein ‚ursprüngliches‘, unentfremdetes menschliches Dasein führen. Aufgrund des Kontrasts von Einfachheit und Künstlichkeit besitzen die Hirtengedichte ein hohes experimentelles Potenzial: Sie loten die Möglichkeiten traditioneller Dichtung aus – von der Beschreibung des locus amoenus bis hin zum Umgang mit dem Mythos. Den zweiten Idyllentopos – nämlich die Vorstellung, dass es sich bei dem locus amoenus in den Bucolica Vergils um eine utopische Wunschwelt handelt, die als Gegenbild zur defizitären Realität fungiert – problematisiert Niklas Holzberg. Er zeigt, dass Vergils Welt der Eklogen ein imaginäres Reich der Poesie ist, in dem implizit oder explizit die politischen Ereignisse im Römischen Reich während der Machtkämpfe zwischen den Regenten Oktavian und Mark Anton thematisiert werden. Dargestellt werden die daraus resultierenden Gefährdungen, die friedfertige Hirten ebenso wie den Erzähler existenziell verunsichern. _____________   14

Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 7.

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Erst im 18. Jahrhundert setzt sich mit Salomon Geßners (1730–1788) Dichtungen die Idylle als Gattungsbezeichnung durch. Der Mitbegründer der Helvetischen Gesellschaft, Zürcher Ratsherr und zeitweilige künstlerische Leiter der Porzellan- und Fayence-Manufaktur im Schooren in Kilchberg setzt eine lebendige Tradition bukolischer Dichtung fort, die allerdings kaum zwischen der Gattung des Hirtengedichts und der Idylle zu differenzieren sucht.15 Nach Kongruenzen und Divergenzen zwischen diesen beiden, enge Berührungspunkte aufweisenden Genres fragt Klaus Garber. Dabei stellt er die These auf, dass die Schäferdichtungen und Idyllen des 17. und 18. Jahrhunderts mit dem Topos der ‚verkehrten Welt‘ synchronisiert werden können. Schon bei Vergil lässt sich aus poetologischer Perspektive von einer ‚verkehrten Welt‘ sprechen, da er in der gattungshierarchisch niederen Hirtendichtung Themen des genus grande verhandelt. Auch die arkadischen Dichtungen Sigmund von Birkens (1626–1681) oder die Idyllen Geßners und Johann Heinrich Voß’ (1751–1826) thematisieren und aktualisieren in zweifacher Weise diesen Topos einer ‚verkehrten Welt‘: Zum einen werden die sozialen und politischen Missstände der jeweiligen Zeit kritisch reflektiert, wodurch sie als ‚verkehrte Welt‘ vorgeführt werden, und zum anderen präsentieren die Dichtungen der Realität entgegengesetzte, sie umkehrende Lebens- und Gesellschaftsentwürfe im Zeichen von Vernunft und Humanität. Mit zwei kulturhistorisch äußerst wirksamen Ausprägungen des ‚Idyllischen‘ in der Frühen Neuzeit befassen sich Christiane Caemmerer und Tilman Reitz. So widmet sich Caemmerer den Schäferspielen – einer Gattung, die sich in Italien während der Renaissance entwickelt und im 16. und 17. Jahrhundert an vielen Höfen Europas etabliert hat. Aufgrund ihres schematischen Handlungsgangs und ihres stereotypen Figurenarsenals ist das Genre von der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang äußerst selten in den Blick genommen worden – zu Unrecht, weil den Schäferspielen durchaus evidente literarhistorische Funktionen jenseits der bloßen Unterhaltung des höfischen Publikums zukommen. Die an einem locus amoenus – an einem hierarchiefreien, von gesellschaftlichen Konventionen unabhängigen Raum – _____________   15

Zwischen der Idylle und Bukolik gibt es jenseits aller Berührungspunkte zwei zentrale Unterschiede: Erstens werden in der Renaissance und im Barock arkadische Dichtungen verfasst, die sich ganz „von der Gestalt des kleinen hexametrischen Gedichts, das ihr Theokrit und Vergil gegeben haben“ (Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 4), lösen; man denke etwa an die Schäferdramen oder -romane der Zeit. Zweitens kann sich die Bukolik auch thematisch „verwandeln: einerseits wird sie zur allegorischen Darstellung höfischer oder privater Verhältnisse, andererseits wird die Hirtenszenerie ins Geistliche übertragen“ (Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 5).

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situierte Handlung ermöglicht erstens die Diskussion verschiedener Konzepte der Liebe und Partnerwahl. Zweitens kommentieren die Schäferspiele das politische Zeitgeschehen und setzen sich mit höfischen Interaktionsformen sowie mit herrschaftstheoretischen Fragestellungen auseinander. Im Gegensatz dazu fragt Reitz danach, wie sich das ‚Idyllische‘ in einer anderen Kunstform – nämlich in der Bildenden Kunst der Zeit – manifestiert. Dazu analysiert er die Arkadienbilder Nicolas Poussins (1594–1665) im Hinblick auf die Validität von Friedrich Schillers seit 1795 immer wieder aufs Neue debattierten ästhetischen Kategorien des Sentimentalischen und Naiven für die Frühe Neuzeit. Eine Erweiterung der literarischen wie ikonographischen Gattungskonventionen sieht Reitz in der Thematisierung von Sterblichkeit und Tod, die die Annahme einer prinzipiellen Differenz zwischen präreflexiver und reflexiver Historizität relativiert. Schillers Kategorien erweisen sich als dialektische Parameter, die auf abstrakte Grundstrukturen jedes Weltverhältnisses verweisen, ergo zu verschiedenen Zeiten ihre prinzipielle Gültigkeit haben. Wie skizziert, setzt sich erst mit Geßner die Idylle als literarische Gattung in Abgrenzung zur Schäferpoesie und der ländlichen Dichtung durch. Seine Texte bilden fortan das Muster, auf das sich alle nachfolgenden poetologischen Debatten beziehen. Vor diesem Hintergrund befasst sich Lothar van Laak mit Geßners kunst- und gattungstheoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Malerei sowie mit der Idylle als ‚bildlicher‘ Literatur. Anhand des Briefes über die Landschaftsmahlerey (1772) entwickelt er die These, dass Geßner das Verhältnis der beiden Künste als ein dynamisches Miteinander versteht, deren Gemeinsamkeit in dem Vermögen liegt, den Rezipienten ein ‚Gefühl für das Schöne‘ zu vermitteln. Davon ausgehend zeigt er, wie sich dieser Anspruch in Geßners eigenen Idyllen manifestiert. Genauso wie Geßners Idyllen die gut dokumentierten gattungstheoretischen Debatten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts prägen, 16 ist sein bildliches Œuvre stilbildend für die zeichnerische und malerische Gestaltung der schweizerischen Landschaft, wie Yvonne Boerlin-Brodbeck zeigt. In den stilisierten Idyllenlandschaften Geßners und seiner ‚Nachfolger‘ werden mögliche Gefährdungen einer imaginierten harmonischen Lebenswelt ausgegrenzt. Durch dieses Verfahren wird die Natur als imaginärer Sehnsuchtsraum jenseits der Gebrechen des zivilisatorischen Erscheinungsbildes konstituiert. Dabei erweisen sich die Bildsujets nie als Abbild, sondern als ästhetische Konstruktion von Natur unter den Vorzeichen der Aufklä_____________   16

Vgl. die von Helmut J. Schneider herausgegebene Quellensammlung Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988.

Idyllik im Kontext von Antike und Moderne

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rung. Die unwirtlichen Gletscher, schroffen Schluchten oder düsteren Felsmassive populärer Vedutenmalerei sind davon ebenso zu trennen wie die minutiösen poetischen Naturbeschreibungen in Albrecht von Hallers (1708–1777) naturwissenschaftlich inspirierter Alpenidealisierung. Wie erwähnt, wandelt sich Idylle noch im 18. Jahrhundert von einer den antiken Mustern verpflichteten Kleinform hin zum „Denkbild“.17 Die Idylle verschmilzt mit anderen Gattungen, etwa mit der realistischen Landlebendichtung, und das ‚Idyllische‘ bildet häufig nur noch eine ‚Enklave‘ in größeren Texten. Vor diesem Hintergrund fragt Klaus Manger in seinem Beitrag danach, wie Christoph Martin Wieland (1733–1813) in seiner Verserzählung Clelia und Sinibald (1783–1784) auf idyllische Topoi rekurriert und so genus humile (Idylle) und genus grande (Epos) miteinander verbindet. Dabei zeigt er, dass sich am Ende des Versepos eine ‚insulare Idylle‘ konstituiert: Die wieder vereinigten, einander liebenden Protagonistenpaare bilden eine humane Gemeinschaft, die sich nicht länger durch die ‚Macht des Bösen‘, die Dogmen der institutionalisierten Religion und durch zufällige Glücksfälle fremdbestimmen lässt. Stattdessen orientieren sich die fortan selbstbestimmt handelnden Figuren an aufklärerischen Normen und Werten – an ‚natürlicher Frömmigkeit‘, Empathiefähigkeit und ‚vernünftiger Koexistenz‘. Damit wird die Idylle ähnlich wie etwa in Voß’ Luise und Goethes idyllischem Epos Hermann und Dorothea als Leistung und Errungenschaft der Figuren vorgeführt.18 Die Entwicklung der Idylle von der Gattung hin zur ‚Idee‘ korreliert mit einer zunehmenden Infragestellung des ‚Idyllischen‘. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die meisten Autoren des 18. Jahrhunderts ihre Idyllen im Goldenen Zeitalter der Antike als einem vermeintlich historischen Idealzustand ansiedeln. Diese Rückprojektion in die ‚Urzeit des Menschengeschlechts‘ macht eine „Integration der zeitgenössischen Realität“19 unmöglich. Das wird für die Autoren und Gattungstheoretiker des 18. Jahrhunderts zunehmend zum Problem – erstens deswegen, weil die realitätsmimetische Darstellung des Landlebens vermeintlich Theokritische Forderung ist, der es nachzukommen gilt; und zweitens, weil die Idylle nicht nur Evasionsangebote machen, sondern auch ein kritisches Gegenbild zur Realität darstellen soll, so dass sie notwendig an Momente der gegenwärtigen Wirklichkeit anschließen muss. Nicht zufällig steht in _____________   17 18 19

Vgl. Böschenstein-Schäfer: „Idylle“, S. 131. Vgl. Birkner, Nina: „‚Der Landgeistliche als vielleicht schönster Gegenstand einer modernen Idylle‘. Der Vicar of Wakefield als Vorbild für Voß’ Luise und Goethes Hermann und Dorothea“. Erscheint in: Goethe Jahrbuch (2016). Böschenstein-Schäfer: „Idylle“, S. 122.

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den gattungstheoretischen Schriften der Zeit die Frage im Vordergrund, wie in der Idylle das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit bzw. das von Antike und Gegenwart zu bestimmen sei. Mit Karl Philipp Moritz’ (1756–1793) Absage an die Idylle befasst sich Alessandro Costazza. Anhand der Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers (1787) und der Götterlehre (1791) macht er deutlich, dass sich Moritz von der Idylle distanziert, weil er eine Rückkehr in den Naturzustand – ähnlich wie Immanuel Kant – weder für möglich noch für erstrebenswert hält, auch wenn die Menschen den Verlust ihrer Unschuld mit der Erfahrung von Leid und Elend bezahlen müssen. Stattdessen favorisiert Moritz die Tragödie, weil sie den Menschen ‚zur höhern Bildung veredelt‘ und so mit dem eigenen Leid versöhnt. Anders als Moritz relativieren Marie-Joseph Chénier (1764–1811) und Eduard Mörike (1804–1875) die Idylle, wie Markus Winkler zeigt. Beide Autoren heben sich von den traditionellen Gattungsmustern ab, ohne sie aber ganz zu negieren. Während Chénier mit revolutionärer Verve in La Liberté (1787) den locus amoenus im Sinne einer auf ökonomisch-kulturellen Fortschritt abzielenden anthropologischen Geschichtsinterpretation der Aufklärungsepoche dekonstruiert, funktionalisiert Mörike als Vertreter der Schwäbischen Dichterschule in seiner Wald-Idylle (1842) den Topos als Travestie der spätromantischen idyllischen Vorstellung einer Volkspoesie. Wie differenziert sich die Vorstellung des Idyllischen nach der Diskussion um Salomon Geßners Werke darstellt, zeigt York-Gothart Mix anhand von Oliver Goldsmiths The Deserted Village (1770), Voß’ Die Leibeigenen (1775), Herders Neger-Idyllen (1797), Samuel Taylor Coleridges Fire, Famine and Slaughter (1797), Kants Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) und Schillers Essay Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde (1790). Vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und der zeitgenössischen neoklassizistischen Antikenbegeisterung radikalisiert sich die aufklärerische Arkadienkritik zu einer Tradition demonstrativer Anti-Idyllik, die bis in das 20. Jahrhundert führt und nicht allein die Realitätsferne, sondern den antiken Topos in toto problematisiert und als illusionär klassifiziert. An dieser ästhetischen und philosophischen Entzauberung der Idylle haben, wie der Beitrag zeigt, Kant, Schiller, Moritz, aber auch Jean Baptiste Dubois, Goldsmith und Coleridge entscheidenden Anteil. Mit der Anti-Idyllik, die die Gattungskonventionen bewusst negiert, um den Kontrast zwischen der arkadischen Hirtenwelt und der ländlichen Realität zur Darstellung zu bringen, setzt sich auch Nina Birkner auseinander. Sie zeigt mit Blick auf Voß’ Die Leibeigenen und Fritz Reuters (1810– 1874) Kein Hüsung (1857), wie die Autoren auf die Idyllentradition rekurrieren, um Sozialkritik zu üben. Beide Autoren thematisieren die inhuma-

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nen Lebensbedingungen der Landbevölkerung in Mecklenburg: Sie sind davon überzeugt, dass die Störung der vernünftig organisierten Natur durch einen inhumanen Gutsherrn zur Denaturierung des Subjekts führt und fordern eine christlich geprägte patriarchalische Gesellschaftsordnung. Angesichts der sich in der philosophischen Theorie und ästhetischen Praxis der Spätaufklärung, Klassik und Frühromantik immer weiter ausdifferenzierenden Diskussion über die Funktion und Varietät der Idyllik sieht Jean Paul (1763–1825) das Genre an keinen spezifischen Schauplatz mehr gebunden. Vor diesem Hintergrund untersucht Alexander Kluger den metafiktionalen und hybriden Charakter des Genres, er charakterisiert die Idyllik des fränkischen Dichters als experimentelles Spiel, das durch Grenzüberschreitungen sowie die Integration tragischer und komischer Aspekte bestimmt und bereichert wird. In Jean Pauls Idyllenkonzeption haben die kanonisierten Staffagen und Stilisierungen angesichts der komplexen Kritik der Zeitgenossen keinen Platz mehr. Seine Idyllen sind ironisch gebrochene Stillleben, die sich in überraschender Weise als narrative Experimente zu erkennen geben und Gattungsgrenzen ausloten. Als Idyllendichter bewegt Jean Paul sich auf einer programmatischen Gratwanderung zwischen einer Normierung und einer Relativierung der Norm, um dem Leser Reflexionshorizonte jenseits zur Genüge bekannter Klischees zu eröffnen. Ungeachtet der Plattitüden wohliger Heimatidyllen des 19. Jahrhunderts und der Distanz der frühen Moderne gegenüber dem Genre setzen sich Autoren wie Hermann Hesse (1877–1963) und Thomas Mann (1875– 1955) intensiv mit der Tradition der Idyllik auseinander. Jens Ewen analysiert den von der Thomas-Mann-Forschung bislang wenig beachteten Text Herr und Hund (1919). Ewen charakterisiert Manns nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs entstandene Idylle als Gegenkonzept zur Wirkungsästhetik einer litterature engagée, die ostentativ von seinem Bruder Heinrich repräsentiert wird, ohne aber dem Eskapismus eines ästhetizistischen Ideals das Wort zu reden. Dennoch steht die Ironie des Erzählers unverkennbar der in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) konkretisierten Gegenrede zum literaturpolitischen Radikalismus nahe. Bereits in der Biedermeierzeit ist das Thema der ‚gestörten‘ Idylle gegenwärtig, so auch in Adalbert Stifters (1805–1868) 1842 erschienener Rahmenerzählung Der Hochwald, die dem häuslichen Taschenbuchpublikum eine ungewöhnliche Katastrophe vor Augen führt. Stifters Konzept erweist sich, so Rita Svandrlik, als überaus wirkungsmächtig und ist selbst noch in der österreichischen Gegenwartsliteratur präsent. Elfriede Jelinek (*1946) radikalisiert Stifters Ansatz, das Idyllische erscheint in ihrem Roman Gier (2000) konsequent dekonstruiert: Sattsam bekannte Muster und

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Topoi werden durch ihr Schreibverfahren konterkariert und durch ihren ästhetischen Widerstand gegen schon immer gewusste Sinnstrukturen ad absurdum geführt. Auch Jelinek zeigt, dass Natur ein sozioästhetisches, topisches Konstrukt ist und als Projektionsfläche fungiert. Anders als Jelinek, die in ihrer Narration Gier das idyllische Harmonieideal obsessiv zerstört, führt der Allgäuer aus Norfolk W. G. Sebald (1944–2001) in seinen Schriftsteller- und Künstlerportraits Logis in einem Landhaus (1998) die Nähe von Idylle und Elegie und eine daraus resultierende Melancholie vor. In kritischer Fortführung des in der Literatur um 1800 so breit variierten Motivs des Wanderns werden die Defizite des zivilisatorischen Erscheinungsbildes und die Suche nach Schutzräumen im artifiziellen Rekurs auf den Heimatdiskurs vorgeführt. Sebald lässt, so Elena Agazzi in ihrem Beitrag, dabei nie die Illusion einer verklärendkontemplativen Hingabe an die Natur zu, sondern zeigt sich als historisch versierter Kommentator der Zeitgeschichte. Auch Carlos Spoerhase untersucht die Rolle des Idyllischen in der Gegenwartsliteratur. Er widmet sich dem letzten Gedichtband der PulitzerPreisträgerin des Jahres 1993, Louise Glück, A Village of Life (2009). Im Anschluss an die bereits im 18. Jahrhundert, ja letztlich bereits in Vergils Bucolica zu verortende Frage nach der Korrelation von Idylle und AntiIdylle fragt Spoerhase nach der Möglichkeit einer ‚Post-Idylle‘, da sich in A Village of Life affirmative und kritische Perspektivierungen des Idyllischen in dialektischer Intuition verbinden. Spoerhase sieht ungeachtet der langen Gattungstradition hier ein noch nicht durchgespieltes Idyllenkonzept der 1943 geborenen Dichterin: Idyllische Harmonie ist nicht im wohlfeilen Traum vom Aufgehen in der Natur, sondern nur in der bewussten ästhetischen Wahrnehmung eines menschenfremden Naturschönen möglich.

Literaturverzeichnis Birkner, Nina: „‚Der Landgeistliche als vielleicht schönster Gegenstand einer modernen Idylle‘. Der Vicar of Wakefield als Vorbild für Voß’ Luise und Goethes Hermann und Dorothea“. Erscheint in: Goethe Jahrbuch (2016). Bloch, Ernst: „Arkadien und Utopien“. In: Gesellschaft, Recht und Politik. Festschrift für Wolfgang Abendroth. Hg. v. Heinz Maus. Neuwied, Berlin 1968, S. 39–44. Böschenstein-Schäfer, Renate: „Idylle“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Harmonie – Material. Hg. v. Karlheinz Barck, Friedrich Wolfzettel u. a. Stuttgart u. a. 2001, S. 119–138. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 1967.

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Elias, Norbert: „Vorwort“. In: Ders.: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Hg. v. Michael Schröter. Frankfurt a.M. 1988. S. VII–XLVIII. Garber, Klaus: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974. Grosz, George: Briefe 1913–1959. Hg. v. Herbert Knust. Reinbek bei Hamburg 1979. Herder, Johann Gottfried: „Idyll“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. X. Adrastea (Auswahl). Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt a.M. 2000, S. 276–283. Humboldt, Wilhelm von: „Über Göthes Hermann und Dorothea“. In: Ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 2. Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken. Hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Darmstadt 31979, S. 125–356. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit“. In: Ders.: Werke, Abt. I, Bd. 5. Hg. v. Norbert Miller. München 1963, S. 7–456. Kant, Immanuel: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. In: Ders.: Werke, Bd. XI. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1968, S. 33–50. Mix, York-Gothart: „‚Der Neger malt den Teufel weiß‘. J. G. Herders Neger-Idyllen im Kontext antiker Traditionsgebundenheit und zeitgenössischer Kolonialismuskritik“. In: Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische Welt. Hg. v. Hans-Jürgen Lüsebrink. Göttingen 2006, S. 193–207. Schneider, Helmut J. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988. Wedewer, Rolf u.a. (Hg.): Die Idylle. Eine Bildform im Wandel zwischen Hoffnung und Wirklichkeit, 1750–1930. Köln 1986.

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Theokrits Bukolika und andere Gedichte. Eidyllia vor dem Idyll KARL-HEINZ STANZEL Der Beginn der Hirtendichtung oder Bukolik im eigentlichen Sinn ist fest mit dem Namen Theokrit verbunden. Seine bukolischen Gedichte sind der Ausgangspunkt einer langen Entwicklung. Auch die Frage nach dem Idyll, der Idylle sowie dem Idyllischen führt unweigerlich zu Theokrits Dichtung und zwar in einem doppelten Sinne. Zum einen taucht der in seiner eigentlichen Bedeutung schwer zu fassende griechische Terminus εἰδύλλιον zum ersten Mal im Zusammenhang mit den Gedichten Theokrits auf und wird dort verwendet als eine Bezeichnung für ein Gedicht dieser Sammlung. Da der Terminus andernorts kaum gebraucht wird, ist seine genaue Bedeutung nach wie vor nicht ganz klar. Zum anderen verbinden wir mit dem Idyll und dem Idyllischen die Vorstellung einfacher, vornehmlich ländlicher Daseinsformen und harmonischen Zusammenlebens, das zudem in einer idealisierenden Verklärung der Einfachheit dargeboten wird. Auch diese vorläufige inhaltliche Bestimmung führt uns zu den Gedichten Theokrits. Allerdings hat die Hirtendichtung nach ihren Anfängen etliche Veränderungen und Verwandlungen erfahren, die in die Richtung der späteren Schäferdichtung oder Pastorale führen. Demnach ist mit Blick auf den Ausgangspunkt bei Theokrit sowohl bei der Frage nach dem Idyll als auch bei der nach der Hirtendichtung ähnliche Vorsicht geboten, da aus der späteren Entwicklung gewonnene Vorstellungen nicht unbedingt auf Theokrit übertragen werden können, weil sie bei ihm noch nicht oder in anderer Weise vorliegen. Das offenbar erst spät geprägte griechische Wort εἰδύλλιον bedeutet im Griechischen niemals das, was wir im Deutschen mit dem ‚Idyllʻ verbinden; der Terminus taucht vielmehr bei den Theokriterklärern zur Be-

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zeichnung aller seiner Gedichte auf.1 εἰδύλλιον kann unschwer als Deminutivbildung zu εἶδος (ähnlich wie ἐπύλλιον zu ἔπος) verstanden werden und diese Form können wir damit erklären, dass die Gedichte, bei denen sie Anwendung findet, jedenfalls nach den Konventionen der Zeit Theokrits und seinen poetologischen Überzeugungen einen gewissen Umfang nicht übersteigen, dass damit also ein Gedicht geringeren Umfangs bezeichnet wird. Zumindest in diesem Punkt sind sich auch die Scholien einig, da sie in einem εἰδύλλιον ein µικρὸν ποίηµα (mikron poiema, kleines Gedicht) sehen. Schon schwieriger ist es anzugeben, was nun der Begriff εἶδος besagt. Hier können wir festhalten, dass bereits die Theokriterklärer damit nicht so recht etwas anzufangen wussten, was wiederum nur darauf verweist, dass auch sie diesen Terminus vorgefunden und nicht selbst geprägt haben. In den Theokritscholien wird der Terminus versuchsweise damit erklärt, dass diese Gedichte ein ähnliches εἶδος, eine ähnliche Gestalt, hätten wie ihre πρόσωπα, die Figuren, die darin vorgeführt werden. Wenn darauf verwiesen wird, dass der Dichter alle Gedichte einheitlich habe benennen und nicht unterschiedliche Titel habe einführen wollen, legt das die Vermutung nahe, dass der Begriff bereits in engerer Beziehung zu den Hirtengedichten gesehen wurde. Die Einlassung, dass εἰδύλλιον nichts mit ἡδύ (‚süß‘, ‚angenehm‘) zu tun habe, ist nur negativer Art. Offenbar steht dahinter der Versuch einer etymologisierenden Erklärung, der angesichts des Eingangs des ersten Eidyllions, wie wir noch sehen werden, gar nicht so abwegig erscheint. Letztlich sind jedoch all diese Erklärungen nicht überzeugend, und auch der von neueren Interpreten unternommene Versuch, εἶδος als musikologischen Terminus zu erklären, wird heute nicht mehr vertreten, so dass die genauere Bedeutung von εἶδος offen bleiben muss. Der jüngere Plinius nennt jedenfalls ‚idyllia‘ an einer Stelle seiner Briefe, an der er verschiedene Bezeichnungen für seine eigenen Gedichte durchspielt, in einem Atemzug mit epigrammata, eclogae und poematia, um am Ende doch dem Terminus hendecasyllabi, Elfsilbler, den Vorzug zu geben.2 Idyllion ist also auch für Plinius eine Bezeichnung für ein kleines, _____________   1

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Vgl. Wendel, Carolus: Scholia in Theocritum vetera. Stuttgart 1967, Prolegomena 5. Neben den einschlägigen Theokritkommentaren von Gow (1950), Dover (1971) und Hunter (1999) vgl. zum Terminus auch Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart ²1977, S. 2–4; Ecker, Hans-Peter: „Idylle“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4. Hu–K. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1998, Sp. 183–202; zur Wortgeschichte Sp. 185; Dierse, Ulrich: „Idylle“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4. I–K. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel, Stuttgart 1976, Sp. 192–197. Vgl. Plinius Caecilius Secundus, Gaius: „14. Brief des 4. Buches“. In: Ders.: Briefe. Epistularum libri decem. Lateinisch – deutsch. Hg. v. Helmut Kasten. Zürich 71995, S. 218–221.

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selbstständiges Gedicht, das dadurch aber weder nach Form noch nach Inhalt näher bestimmt wird. Das Corpus Theocriteum ist vielfältig:3 Neben den Hirtengedichten im engeren Sinn ist eine kleine Gruppe zu nennen, die in einem städtischen Milieu angesiedelt ist; diese sind sicherlich aus einer Vielzahl von Gründen mit den Hirtengedichten am nächsten verwandt. Daneben gibt es Epyllien, kleinere Stücke epischen Inhalts, und Herrschergedichte; dazu kommen einige, die man am ehesten als ‚lyrische Poesie‘ bezeichnen könnte und die sich in metrischer Hinsicht von den anderen abheben. All diese verschiedenartigen Gedichte enthält das Corpus Theocriteum, außerdem auch einige sicherlich nicht von Theokrit stammende Texte, die ebenfalls den bukolischen Gedichten zuzuordnen sind, die auch die Entwicklung der Hirtendichtung und der ‚Idylleʻ mit geprägt haben. Die Frage ist, ob man das Idyll oder Eidyllion als eine Gattung bezeichnen sollte, wie es etwa Renate Böschenstein-Schäfer vorschwebt.4 Dies mag mit Blick auf die spätere Entwicklung des Idylls berechtigt sein, mit Blick auf das Griechische wäre es wohl nach wie vor angemessener, sich darauf zu verständigen, dass εἰδύλλιον eine Sammelbezeichnung für verschiedenartige Gedichte und Gedichttypen darstellt. Die Vorstellung vom Idyll steht aber wohl doch vor allem mit Theokrits Hirtengedichten im Zusammenhang, obwohl alle Gedichte des Corpus Theocriteum als Eidyllia bezeichnet werden. Die Entwicklung des Begriffs εἰδύλλιον lässt sich daher wohl am ehesten so erklären, dass der zunächst offene und im Hinblick auf eine gattungsmäßige Bestimmung nicht festgelegte Terminus mit der exponiertesten Gruppe des Corpus Theocriteum, den Hirtengedichten, in nähere Verbindung gebracht wurde und dann auch vornehmlich solche Gedichte bezeichnete.5 Die Hirtengedichte stehen exponiert am Anfang des Corpus Theocriteum. Mit den Hirten stehen vermeintlich einfache Leute im Zentrum. Mit ihnen verbindet man das Einfache und Unverstellte, allerdings trifft dies auf die theokritischen Hirten nicht in vollem Umfang zu. Dies wird deutlich, wenn man nach dem poetischen Grundanliegen fragt, das in den drei _____________   3

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Das Corpus Theocriteum ist allerdings nur ein modernes Konstrukt und hat keine Grundlage in der handschriftlichen Überlieferung; vgl. etwa Gutzwiller, Kathryn: „The Evidence for Theocritean Poetry Books“. In: Theocritus. Hg. v. Annette Harder, Remco F. Regtuit u. G. C. Wakker. Groningen 1996, S. 119–148. Zumindest sieht Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 7–13, Theokrit als Modell an und zieht (S. 10) auch die städtischen Adoniazusen (Eid. 15) heran, um weitere Bestimmungen für die Idylle zu gewinnen, wenngleich sie dort auch einräumt, dass dieses Stück aufschlussreich für die ‚Spannweite der Gattung‘ sei. Ein eindeutiger Beleg dafür lässt sich allerdings schwerlich beibringen. Die Verweise in der einschlägigen Forschungsliteratur scheinen in diesem Punkt zirkulär.

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bereits herausgestellten Hauptgruppen der Dichtung Theokrits, den ländlichen und den städtischen Gedichten sowie den Epyllien, zutage tritt. Das Versmaß in all diesen Gedichten ist der versus heroicus, der Hexameter, und damit haben wir nach antikem Verständnis epische Dichtung vor Augen. Als alexandrinischer Dichter will Theokrit anders dichten als Homer. Seine Dichtung ist stets eine implizite Auseinandersetzung mit dem Epiker. Die deutlichste Absetzung von Homer betrifft schon den Umfang seiner Dichtung, die immer innerhalb einer überschaubaren Größe bleibt. In den Epyllien werden die Helden nun in alltäglichen, vom homerischen Epos her überhaupt nicht vertrauten Situationen oder ganz bewusst in einer Sphäre dargestellt, die man als ,bürgerlichʻ bezeichnen könnte. In dieselbe Richtung weisen die anderen Gedichtgruppen, da Theokrit hier dichterisch neue Wege beschreitet und das Epos sowohl inhaltlich als auch formal mit Neuem, vielleicht auch diametral Entgegengesetztem konfrontiert. So stellt er kleine Leute in den Mittelpunkt, verbindet formal mit dem Epos den Mimos und nimmt damit eine subliterarische Form in die höhere Dichtung auf. Daher sind die Gedichte Theokrits in der formalen Grundausrichtung auch eher dramatisch als narrativ, wiewohl hier natürlich ein ganzes Spektrum, das sich zwischen den genannten Polen bewegt, geboten wird. Im Hinblick auf die Figuren dieser Dichtung, insbesondere im Hinblick auf die Akteure in den städtischen Gedichten bietet es sich an, zum Vergleich auf die Mimiamben des Herodas hinzuweisen, die ähnlich geartet sind. Der Unterschied besteht indes darin, dass der Iambos, mit dem Herodas den Mimos verbindet, zwar in einer alten Tradition steht, aber weniger auf die Welt der Heroen als auf die eher alltägliche Welt des Dichters bezogen ist, so dass die Pole nicht so extrem sind wie bei der Verknüpfung von Epos und Mimos. Wenn Theokrit also Hirten in den Mittelpunkt der ländlichen Gedichte stellt, dann können wir darin jedenfalls eine grobe Entsprechung zu den städtischen Gedichten sehen. Mit den Hirten kommen die einfacheren Leute in den Blick, eigentlich Abhängige, die auf das Wohlwollen ihrer Herren angewiesen sind. Wenn insgesamt die hohe Dichtung eine solche Neuausrichtung erfährt, dann darf freilich vermutet werden, dass der Wirklichkeitsbezug der traditionellen Dichtung als fraglich und problematisch empfunden wurde. Insofern kann es nicht überraschen, dass die Zeichnung der Hirten realistische Züge aufweist, dass auch ihre Arbeit Erwähnung findet und gelegentlich ihre soziale Abhängigkeit zur Sprache

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gebracht wird.6 Einige innerhalb der ohnehin nicht sehr umfangreichen Gruppe der ländlichen Gedichte gelten als besonders realistisch, das zehnte Eidyllion fällt eigentlich völlig heraus, weil es nicht Hirten, sondern mit den Schnittern Landarbeiter in den Mittelpunkt stellt; dabei wird auch die Mühe dieser Art von Arbeit besonders hervorgehoben. Unter den Hirtengedichten im engeren Sinn kommt in dieser Hinsicht vor allem das vierte Eidyllion in den Blick, weil auch hier die Hirtenwelt anders gezeichnet ist – insbesondere fehlt das Moment der musikalischen und dichterischen Betätigung der Hirten, außerdem wird die Abhängigkeit der Hirten thematisiert. Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für das fünfte Eidyllion, das vom Thema Streit beherrscht wird.7 Ein Aspekt dieser Gedichte ist die poetische Herausforderung und zugleich Spannung, die in der Behandlung solcher Themen in hexametrischer, also ursprünglich heroischer Dichtung liegt. Auf diese Weise werden der traditionellen Poesie neue Bereiche erschlossen. Allerdings ist es für Theokrits Figurenspektrum aufschlussreich und kennzeichnend, dass nur die Hirten als Dichter und Sänger auftreten, was sie in besonderer Weise auszeichnet. Und hier stehen sie in einer alten Tradition, da auch Hesiod als Hirte von den Musen zum Dichter berufen wurde. Daraus ergibt sich dann als wesentliches Merkmal der Hirtengedichte die musikalisch-dichterische Orientierung. Trotz dieser Exposition der bukolischen Gedichte können die ländlichen und städtischen Stücke als näher verwandt angesehen werden; sie bilden innerhalb des Corpus eine engere Einheit. Man könnte von ländlichen und städtischen Mimen oder auch von low life poems sprechen.8 Dazu gehört auch, dass in ihnen ähnliche Motive begegnen, etwa wenn wir daran denken, dass Simaitha im zweiten Eidyllion sich mit einem ähnlichen _____________   6

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Zum Alltäglichen und Gewöhnlichen in der alexandrinischen Dichtung: Zanker, Graham: Realism in Alexandrian Poetry. A Literature and its Audience. London, Sydney 1987, S. 155ff. Dazu auch: Fantuzzi, Marco u. Richard Hunter: Tradition and Innovation in Hellenistic poetry. Cambridge 2004, S. 133–141. Zu den verschiedenen Versuchen, auch innerhalb dieser Gruppe noch kleinere Einheiten zu unterscheiden, vgl. etwa Reinhardt, Thomas: Die Darstellung der Bereiche Stadt und Land bei Theokrit. Bonn 1988, der mit der Unterscheidung zwischen merae rusticae und solchen Gedichten, die auf die Stadt weisen, der Sache beizukommen sucht. Allerdings scheint dies auch nicht ganz aufzugehen, da am Ende dann mit den Thalysien ein Gedicht noch einmal herausgestellt werden muss, in welchem Stadt und Land in Kontakt vorgeführt werden. Eine etwas andere Unterscheidung und Feineinteilung der ländlichen Gedichte findet sich bei Fantuzzi/Hunter: Tradition and Innovation, S. 153, die 1 und 3–7 „the serious bucolic idylls“ nennen, 10 „agricultural“ und 11 „bucolic-parodic“. Je nach Kriterium und Aspekt lassen sich verschiedene Klein- und Kleinstgruppen finden, gewonnen scheint damit letztlich wenig. Dazu vor allem Zanker: Realism in Alexandrian Poetry, S. 9–18, 156f., 164–181.

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Liebesleid konfrontiert sieht wie die Hirten. In der Tat wurde auch erst jüngst wieder die Frage diskutiert, wie ‚pastoralʻ oder ‚bukolischʻ die städtischen Gedichte eigentlich sind, und von einer Interpretin wurde mit Vehemenz die These vertreten, dass diese Stücke zusammengehören.9 Immerhin könnte man für diese Auffassung auch Vergil als Zeugen anführen, da er in seiner achten Ekloge das Simaitha-Lied und damit das zweite Eidyllion im Lied eines Hirten imitiert. Allerdings wäre hier auch das subtile und feinsinnige Vorgehen Vergils hervorzuheben, das darauf hindeutet, dass mit dem Lied der Zauberin doch anderes ins Hirtenlied eingebracht wird. Auch Renate Böschenstein-Schäfer hat die städtisch geprägten Adoniazusen (Eid. 15) herangezogen, um daraus wesentliche Elemente der Idylle als Gattung abzuleiten.10 Grundsätzlich ist zu bemerken, dass die Grenzen der Hirtendichtung für Theokrit nicht zu eng gezogen werden sollten, da die städtischen Gedichte von ähnlicher Art sind und damit auch pastorale oder bukolische Elemente aufweisen. Zudem könnte man für spätere Tendenzen zur Ausweitung der Gattung auch auf das Fischeridyll 21 verweisen, welches zwar nicht von Theokrit stammt, aber belegen kann, wie sehr die Grenzen der Gattung auch schon in der Antike erweitert worden sind. In ihm stehen nicht Hirten, sondern Fischer im Mittelpunkt. Spätere Zeiten konnten darin leicht ein Vorbild für ähnliche Bestrebungen sehen. Trotz gewisser Einschränkungen kann man jedoch feststellen, dass die Bukolika bei Theokrit in stärkerem Maße eine Einheit bilden als andere Gedichtgruppen und dass in ihnen eine dichterische Welt sichtbar wird, wie sie weder in den anderen Gedichten noch bei anderen alexandrinischen Dichtern gegeben ist. Dabei handelt es sich um eine Gegen- oder Parallelwelt, in der Züge der realen Welt zwar begegnen, die aber nicht in ihr aufgeht. Insofern hebt sich gerade die Hirtendichtung Theokrits von dem städtischen Ambiente der anderen Stücke ab. Während die Charaktere in den städtischen Gedichten trotz einer gewissen Künstlichkeit so konzipiert sind, dass sie der realen städtischen Welt angehören könnten, ist die in den bukolischen Gedichten gezeichnete Hirtenwelt doch von anderer Art, eine fiktive Welt, die als eine Alternative zur realen Welt dargeboten wird.11 Allerdings ist auch diese Welt eher offen, und sie ist vor allem nicht so einheitlich, wie man das vielleicht erwarten würde. _____________   9 10 11

Vgl. Krevans, Nita: „Is there Urban Pastoral? The Case of Theocritus’ Id. 15“. In: Brill’s Companion to Greek and Latin Pastoral. Hg. v. Marco Fantuzzi u. Theodore Papanghelis. Leiden 2006, S. 119–146. Zu Eid. 2 vor allem S. 145f. Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 10. Vgl. dazu Payne, Mark: Theocritus and the Invention of Fiction. Cambridge 2007, insbes. S. 13ff.

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Nach wie vor ist es aber notwendig, näher zu bestimmen, was das Bukolische der Hirtengedichte eigentlich ausmacht.12 Deutlich ist, dass der Begriff des Bukolischen, der βουκολικὰ µοῖσα, und Theokrits Spiel damit von zentraler Bedeutung ist, was beispielsweise darin gipfelt, dass das βουκολιάσδεσθαι nicht die eigentliche Hirtentätigkeit, sondern den Hirtengesang bezeichnet. Eine solche wie auch immer geartete einheitliche Bezeichnung fehlt für die ja auch nur geringe Zahl an städtischen Gedichten. Die Hirten Theokrits zeichnet trotz aller realistischen Züge eine enorme Künstlichkeit aus.13 Daher ist die Vorstellung, dass in dieser Darstellung in besonderer Weise auf eine ursprüngliche und nicht entfremdete Form menschlichen Daseins abgehoben werden soll, von den Hirten Theokrits ganz und gar fernzuhalten. Deren Einfachheit ist aufgehoben in ihrer Kultiviertheit, da sie sich doch beispielsweise einer deutlich anderen als der Alltagssprache bedienen, da sie den Mythos, wie noch näher zu zeigen sein wird, nicht nur kennen, sondern sich auch ihres eigenen Daseins im Mythos vergewissern und ihre eigene Hirtenwelt vor dem Hintergrund einer mythischen Hirtenwelt zu deuten versuchen. Diese Hirten sind zuallererst literarische Figuren, fiktive Gestalten, die sich in der Welt der überkommenen Dichtung bewegen. Die jedenfalls partielle realistische Zeichnung einerseits und die Überhöhung der Hirten als literarische Figuren andererseits sind die beiden Pole in Theokrits Darstellung, aus der sich auch eine spezifische Spannung ergibt, beispielsweise dann, wenn der Hirt singt und zugleich seine Tiere versorgt werden müssen. Die Tiere der Hirten sind in verschiedener Hinsicht geeignet, diesen Kontrast hervorzuheben, etwa wenn gerade im Zusammenhang mit dem Liebesleid auf das Unmittelbare und Animalische in den Betätigungen der Tiere abgehoben wird. Die Frage stellt sich natürlich, was die Hinwendung zu einfacheren literarischen Formen und damit zu einem einfacheren Menschentyp eigentlich bedeutet. Man muss sich allerdings vor Augen halten, dass die Hirten _____________   12

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Jetzt dazu etwa Pretagostini, Roberto: „How Bucolic are Theocritus’ Bucolic Singers?“ In: Brill’s Companion to Greek and Latin Pastoral. Hg. v. Marco Fantuzzi u. Theodore Papanghelis. Leiden 2006, S. 53–73. Die Verwandlung und Aneignung erfolgt in der Bukolik in zweifacher Richtung: Einerseits wird eine anthropologische Realität in das Hirtenlied aufgenommen, andererseits sind es aber gerade auch Elemente einer städtischen Realität (S. 53). Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 8f., hat diese beiden Seiten der theokritischen Hirten bereits knapp beschrieben, wenn sie von einem „Spannungsverhältnis zwischen Natürlichem und Artifiziellem“ spricht, allerdings scheint mir dieser Kontrast doch etwas zu eng gefasst. Vgl. auch Reinhardt: Stadt und Land bei Theokrit. Schon Rüdiger Vischer (Das einfache Leben. Wortund motivgeschichtliche Untersuchungen zu einem Wertbegriff der antiken Literatur. Göttingen 1965) stellt bei Theokrit nur eine „bedingte Einfachheit“ fest (S. 135), seine Gedichte deuteten dies eher an. Eine Ausnahme bildeten nur die Thalysien.

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nicht in dieser Einfachheit vorgeführt werden, sondern dass ihre Sprache, ihre Vorstellungswelt und ihr Denken sehr stark von der griechischen Dichtung und dem Mythos geprägt sind. Es wird deutlich, dass es hier keineswegs um Einfachheit im Sinne einer Urtümlichkeit und Unverdorbenheit oder, wie man heute auch sagen könnte, einer wie auch immer genauer zu fassenden Authentizität geht, sondern dass diese Einfachheit von anderen Dingen überlagert und fast verstellt ist, dass sie in einer ganz und gar unnatürlichen Künstlichkeit aufgehoben ist. Diese Künstlichkeit mag in der späteren Tradition der Hirten- und Pastoraldichtung nicht mehr in dem Maße erkennbar sein, im griechischen Kontext steht sie jedoch deutlich spürbar im Vordergrund. Die Hirtendichtung Theokrits ist in dieser Hinsicht stark experimentell, es wird ausgelotet, welche Möglichkeiten die traditionelle Dichtung bietet, wenn ihr neue Bereiche erschlossen werden. Nach den bislang zur Diskussion gestellten allgemeineren Überlegungen ergibt sich für die von Theokrit entworfene Hirtenwelt, dass diese als eine Art dichterische Parallelwelt gezeichnet ist. Gerade im Lichte der späteren Entwicklung des Idyllischen sollte festgehalten werden, dass diese Gegenwelt in keiner Weise mit Vorstellungen einer idealen oder utopischen Welt gleichgesetzt werden kann. Theokrit liefert an einigen Stellen sogar konkrete Angaben zum geographischen Raum der Welt der Hirten. Allerdings zielen diese Hinweise eher nicht auf einen bestimmten, jedenfalls nicht auf einen einheitlichen Raum. So ist der Handlungsort in einigen Gedichten Sizilien mit dem Aitna, was auch die Heimatregion Theokrits gewesen sein könnte. Vom Aitna kommt natürlich Polyphem, der mythische Hirt im elften (und sechsten) Eidyllion; aber auch Thyrsis, der im ersten Eidyllion von den Leiden des Daphnis singt, stellt sich fast schon formelhaft als Thyris vom Aitna (vgl. Gedicht 1, V. 65: Θύρσις ὅδ’ ὡξ Αἴτνας) vor.14 Das für Theokrit stets als programmatisch angesehene siebte Eidyllion ist dann allerdings auf Kos angesiedelt. Die Hirtenwelt ist auch keine abgeschlossene, vielmehr sind die Hirtenagone, von denen in den Gedichten die Rede ist, fast ‚internationalʻ zu nennen: Gerade Thyrsis vom Aitna, der es in der bukolischen Muse recht weit gebracht hat (vgl. Gedicht 1, V. 20), hat sich schon im Wettkampf mit Chromis aus Libyen gemessen (vgl. ebd., V. 24).15 Solche Wettkämpfe gehören zum Hirtenkosmos, während ein Angehöriger der ländlichen Welt diese eher verlässt, _____________   14

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Vgl. Theokrit: Gedichte. Griechisch – deutsch. Hg. v. Bernd Effe. Düsseldorf, Zürich 1999. Die Gedichte Theokrits werden alle nach dieser zweisprachigen Ausgabe und unter Angabe von Gedicht und Vers im Fließtext zitiert. Auch die Übersetzungen entstammen dieser Ausgabe. Dazu auch Pretagostini: „Theocritus’ Bucolic Singers“, S. 54.

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wenn er sich an Wettkämpfen wie den olympischen beteiligt (vgl. Gedicht 4, V. 6ff.). Es finden sich also einige geographische Angaben, diese deuten aber nicht in eine einheitliche Richtung. Vorstellbar wäre auch, dass gerade der Bereich der Stadt als Kontrast zum Land eine prominente Rolle spielen würde, aber der Gegensatz von Stadt und Land ist überhaupt nur für die Thalysien relevant und dort auch nicht gerade im Sinne einer Opposition. Stadt und Land stehen im siebten Eidyllion sicherlich nicht in einem unüberwindbaren Gegensatz. Natürlich werden in manchen Gedichten Gegensätze zur ländlichen Welt der Hirten aufgebaut, aber die sind von einer anderen Art: Polyphem leidet vor allem darunter, dass Galateia dem Meer entstammt und dass dieses ihm nicht zugänglich ist, während Galateia umgekehrt offenbar einen Besuch in der Hirtenwelt machen konnte (vgl. Gedicht 11, V. 25–29). Auch das dritte Eidyllion, das ebenfalls Werbung um eine Geliebte und zugleich Klage über Liebesleid ist, geht von einem gewissen Gegensatz zwischen zwei Welten aus: Der namenlos bleibende Ziegenhirt, eine Art nicht-mythische Entsprechung zu Polyphem, singt sein Lied vor einer Höhle, die die Geliebte Amaryllis bewohnt und die er nicht betreten zu können scheint, während sie offenbar leicht die Höhle verlassen könnte. Aber dieser Gegensatz lässt sich wohl eher darauf zurückführen, dass das Paraklausithyron in der ländlichen Welt etwas grotesk erscheinen soll, wird ein solches Lied doch eigentlich in der Stadt vor dem verschlossenen Haus der Geliebten gesungen. Die beschriebenen Gegensätze weisen somit kaum über die jeweiligen Gedichte hinaus. In diesem Zusammenhang ist vor allem das Motiv des locus amoenus,16 das bereits vor Theokrit zu erheblicher Bedeutung gelangt ist, von besonderem Interesse. Das Motiv begegnet in den Hirtengedichten natürlich häufig, es ist gleichsam das Zentrum der Idylle, aber es lässt sich leicht zeigen, dass es niemals auf eine utopische oder ideale Gegenwelt verweist. Ein kleines Beispiel aus der für Theokrit etwa zeitgenössischen Dichtung soll zunächst die herkömmlichen Implikationen in Verbindung mit der Hirtenwelt veranschaulichen. In den Argonautika schildert Apollonios Rhodios die anstrengende Fahrt der Argonauten. Dabei kommen in einer kleinen Szene auch einmal die Hirten in den Blick: [Sie] mühten sich unablässig beim Rudern. Rasch fuhren sie am schnellströmenden Rhebas, am Felsen von Kolone und wenig später am Schwarzen Kap vorbei,

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Hierzu ist nach wie vor hilfreich die Dissertation von Schönebeck, Gerhard: Der locus amoenus von Homer bis Horaz. Heidelberg 1962 (allerdings scheint mir der Begriff ‚Ideallandschaft‘, unter den die Interpretationen gestellt werden, ausgesprochen problematisch); ferner Elliger, Winfried: Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung. Berlin, New York 1975. Dazu auch Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 8f.

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danach an der Mündung des Phyllis, wo früher einmal Dipsakos den Sohn des Athamas in seinem Haus aufgenommen hatte, als er auf dem Widder aus der Stadt des Orchomenos geflohen war. Jenen hatte eine Wiesennymphe geboren; er neigte nicht zur Gewalttat, sondern lebte gern an den Wassern seines Vaters, zusammen mit seiner Mutter, und hütete am Ufer die Schafe.17

Die Kommentatoren sprechen hier von einer ‚ländlichen Idylle‘ oder ‚Bukolik‘, die ‚am Rande‘ Eingang ins Epos finde,18 wie man es auch von den homerischen Epen her kennt. Hier ist das Gegenweltliche, das man mit dem Dasein der Hirten gerne verbindet, sehr klar zu fassen: Die Ruhe der Hirtenwelt steht im Gegensatz zur Unrast der Helden, diese ländliche Welt ist darüber hinaus von Friedfertigkeit, Gastfreundschaft und Frömmigkeit gekennzeichnet. Bereits vor Theokrits Hirtendichtung gibt es auch einen Epigrammtyp, der sich auf die Beschreibung eines Ortes beschränkt, an dem Kühlung möglich ist und der Ruhe und Rast ermöglicht. Häufig werden in diesem Zusammenhang auch Hirten genannt. Daher hat sich für solche Epigramme die Bezeichnung ‚bukolischʻ eingebürgert, sie könnten aber ebenso als ‚idyllischʻ bezeichnet werden.19 Die genauere Betrachtung der bei Theokrit zahlreich begegnenden Beschreibungen eines locus amoenus führt darauf, dass fast keine als eine gleichsam absolute Preisung der Hirtenwelt gelesen werden kann, die nur diesem Ziel dient, sondern dass sie vielmehr fast alle einen ganz bestimmten Zweck erfüllen. Im gerade erwähnten dritten Gedicht, in dem sich Amaryllis vor ihrer Höhle zeigen soll, verspricht ihr der Ziegenhirt für diesen Fall vor allem Geschenke aus seiner Welt, Äpfel (vgl. V. 10) in Fülle sowie eine Ziege mit Zwillingen (vgl. V. 34), die aber auch einer anderen zum Geschenk gemacht werden könnte, sollte sich die Angebetete spröde zeigen. Seine eigene Welt preist der Ziegenhirt nicht in besonderer Weise, da Amaryllis offenbar, obwohl sie in einer Höhle haust, zu ihr gehört. Anders verhält es sich bei Polyphem, der im Kyklops zunächst zur Kompensation dafür, dass Galateia seinen nicht alltäglichen Anblick zu ertragen hätte, auf die zahlreichen Köstlichkeiten aus seiner Welt verweist, die tausend Schafe, die auch Milch geben, aus welcher wiederum Käse gewonnen werden kann, der im Sommer wie auch im Winter zur Verfügung steht (vgl. Gedicht 11, _____________   17 18 19

Apollonios von Rhodos: Das Argonautenepos, Bd. 1. Hg., übers. u. erl. von Reinhold Glei u. Stephanie Natzel-Glei. Darmstadt 1996, 2. Buch, V. 649–657. Vgl. Fränkel, Hermann: Noten zu den Argonautika des Apollonios Rhodios. München 1968, S. 221f. Zum bukolischen Epigramm: Stanzel, Karl-Heinz: „Bucolic Epigram“. In: Brill’s Companion to Hellenistic Epigram. Hg. v. Peter Bing u. John St. Bruss. Leiden 2007, S. 333–351.

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V. 34–36); er preist aber seine Welt überhaupt auch an, um Galateia dazu zu bringen, das Meer zu verlassen und zu ihm zu kommen: So komm doch zu mir, und du wirst keinen Nachteil haben, das blaue Meer aber laß gegen das Land schlagen; angenehmer wirst du in der Höhle bei mir die Nacht verbringen. Es gibt Lorbeerbäume hier, es gibt schlanke Zypressen, es gibt dunklen Efeu, es gibt den süßfruchtigen Wein, es gibt kühles Wasser, das mir der baumreiche Aitna aus seinem weißen Schnee als ambrosischen Trunk entsendet. Wer würde schon lieber als dies das Meer haben und die Wogen? (Ebd., V. 40– 47)

Hier werden alle Elemente aufgeboten, die im Kontext der Beschreibung eines locus amoenus bei Theokrit begegnen: Bäume, in der Regel werden bei diesem Dichter zwei genannt, Wein und – besonders schön – das Wasser, das ausreichend Kühlung verspricht. Da das Meereswesen stets von kühlendem Wasser umgeben ist, dürfte es sich aber davon wohl kaum angelockt fühlen. Die Landschaftsbeschreibung ist einerseits recht stereotyp in der Aufzählung der stets gleichen Elemente, andererseits ist sie rhetorisch zugespitzt und verweist gerade dadurch auf den besonderen Zweck, der sich nicht in der Beschreibung und im Lob der Landschaft erschöpft. Der werbende Sänger, der namenlose Ziegenhirt im dritten Eidyllion, sowie der auch anderweitig bekannte Polyphem im elften Gedicht preisen in ihren Liedern die ländliche Welt in den buntesten Farben. In beiden Fällen ist aber mit dieser Preisung ein ganz bestimmter Zweck verbunden, der nämlich, die Geliebte dazu zu bewegen, ihre Welt zu verlassen und sich in die des jeweiligen Hirten zu begeben. In diesem Punkt freilich sind beide nicht erfolgreich, für Polyphem ist die Werbung auch mit größeren Schwierigkeiten verbunden, da Galateia dem Meer entstammt und damit nicht problemlos in die ländliche Welt des Hirten gelangen kann, während Amaryllis doch immerhin in einer Höhle haust, der ländlichen Welt also doch anzugehören scheint. Das Lob der eigenen ländlichen Welt mit all dem, was sie zu bieten vermag, ist also hier klarerweise interessenbestimmt und -geleitet. Die Beschreibung eines locus amoenus steht auch für uns am Anfang der Hirtengedichte Theokrits. Das erste Eidyllion führt nämlich Thyrsis, einen Schafhirten, und einen namentlich wiederum nicht genannten aipolos im Gespräch vor, zwei Angehörige der ländlichen Welt also, und hier malt Thyrsis die Welt der beiden als eine aus, die voll von Annehmlichkeiten der verschiedensten Art ist: Thyrsis: Süß läßt ihr Wispern die Pinie dort, Ziegenhirt, bei den Quellen erklingen, süß spielst du auch auf der Syrinx; nach Pan wirst du den zweiten Preis davontragen. Wenn er einen gehörnten Bock nimmt, wirst du eine Ziege bekommen; und wenn er eine Ziege als Preis bekommt, fließt dir das Zicklein zu. Vom Zicklein ist das Fleisch gut, bis du es melkst.

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Ziegenhirt: Süßer, Schäfer, strömt dein Lied, als sich das rauschende Wasser dort vom Felsen aus der Höhe ergießt. Wenn die Musen das Schaf als Geschenk mit sich führen, wirst du ein Stall-Lamm als Preis bekommen; und wenn es ihnen gefällt, das Lamm zu nehmen, wirst du danach das Schaf mit dir führen. (Gedicht 1, V. 1–11)

Dieser Beginn der Bukolik ist ein besonderer:20 Es handelt sich hierbei keineswegs um eine gewöhnliche Beschreibung eines locus amoenus, eines Platzes, der zur Rast einlädt, obwohl hier dieselben Elemente und Motive begegnen wie in Polyphems Beschreibung seiner Welt, sondern die Wahrnehmung der Umgebung wird in eine bestimmte Richtung gelenkt. Auch hier ist nämlich, ähnlich wie bei den Beschreibungen der Umgebung im dritten und elften Eidyllion, eine bestimmte Intention damit verbunden: Thyrsis will seinen Hirtenkollegen dazu bewegen, sich an diesem Ort niederzulassen und ein Lied auf der Syrinx zu spielen, während er in der Zwischenzeit die Aufgabe übernimmt, dessen Tiere zu beaufsichtigen. Mit der Beschreibung des locus amoenus ist ein Kompliment an die Sangeskunst des Hirtenkollegen verbunden, die Natur wird daher vor allem akustisch wahrgenommen, das Rauschen der Pinie ist ein ψιθύρισµα, ein Wispern. Lautmalerisch wird hier ein menschlicher Laut nachgeahmt, durch die Wahl des Verbums µελίσδεσθαι (‚singen‘) werden die Klänge der Natur schon in die Nähe des µέλος, des Liedes des Ziegenhirten, gerückt. Wenn der Ziegenhirt dann das Kompliment zurückgibt, übersteigert er dieses, indem er mit dem Plätschern des Wassers andere Laute der Natur ins Spiel bringt und im Vergleich dazu den Gesang noch angenehmer sein lässt. Gegenüber der akustischen Wahrnehmung der Natur treten andere Aspekte, die in den Versen 12–14 noch anklingen, deutlich zurück. Der Einklang mit der Natur, die Harmonie, wird vor allem im Hinblick auf die musikalische Betätigung herausgestellt. Mit der Beschreibung verfolgt aber Thyrsis vor allem den Zweck, den Hirtenkollegen zu einem Lied zu bewegen. Dieser soll sein Lied von Daphnis zum Vortrag bringen, es soll also zum Austausch von Liedern kommen; und die Beschreibung des Ambiente ist schon ganz auf den Einklang abgestimmt, natürliche Laute und Gesang der Hirten bilden eine Einheit.21 _____________   20

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Vgl. zu diesem Passus Elliger: Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung, S. 325–328. ‚Süß‘ (V. 1) ist griechisch ἁδύ, dieses erste Wort der Bukolik Theokrits spielt offenbar, wie oben angedeutet, auch eine Rolle bei dem Versuch, eine etymologische Erklärung für den Begriff Eidyllion zu finden. Eigentlich handelt es sich hierbei um eine Spielart eines Motivs aus den Wettstreitgedichten, in denen auch darum gefochten werden kann, wo der Agon stattfindet. Eine besonders aggressive Variante einer solchen Auseinandersetzung begegnet in Eid. 5. Dazu etwa Reinhardt: Darstellung der Bereiche Stadt und Land, S. 38ff.; Elliger: Darstellung der

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In ähnlicher Weise wird auch am Ende des siebten Gedichts ein Ort beschrieben, an welchem man sich niederlassen kann. Allerdings sind die Voraussetzungen hier doch etwas andere, da es sich nicht allein um eine Begegnung von Hirten handelt. Vielmehr schildert in diesem Stück der aus der Stadt kommende Simichidas, in dem viele eine Spiegelung Theokrits gesehen haben, wie er aufs Land kommt und dort dem Ziegenhirten Lykidas begegnet, um dann an einem Erntefest teilzunehmen. Diese Skizzierung ist für die Frage nach der Konzeption der Hirtendichtung nicht ganz unerheblich, da in diesem Gedicht zwar durchaus vom bukolischen Gesang die Rede ist, zudem auch einige Hirten Erwähnung finden, die Hirtenwelt an sich aber eigentlich nicht zur Darstellung kommt. Simichidas ist nämlich zu einem Erntefest auf einem Landgut unterwegs, und das ist auch bei der abschließenden Szene spürbar. Das Lager der Feiernden wird in einer großen Ausführlichkeit beschrieben (vgl. Gedicht 7, V. 131–157). Simichidas, Eukritos und der schöne Amyntas lagern sich auf Weinlaub und Binsen, denen dieselbe Qualität zugeschrieben wird wie im ersten Eidyllion den Lauten der Natur: ἁδύς, süß, ist hier die Binse. Dann aber ist das Erlebnis der Natur – wieder wie im ersten Eidyllion – vornehmlich ein akustisches: Pappeln und Ulmen rauschen, das Quellwasser plätschert herab und allerlei Getier trägt darüber hinaus das Seinige zu dieser klanglichen Kulisse bei, Zikaden zirpen, der Laubfrosch meldet sich zu Wort, die Bienen summen, die Vögel singen. Offenbar ergibt das alles zusammen – jedenfalls nach den fast euphorisch zu nennenden Worten des Simichidas – einen harmonischen Wohlklang, obwohl hier im Gegensatz zum ersten Gedicht die Fülle der sehr verschiedenen Klänge überrascht. Danach aber werden die Geschenke der Natur beschrieben: Obst der verschiedensten Art (allerlei Sorten werden aufgezählt) kann genossen werden und vor allem der Wein. An dieser Beschreibung ist vornehmlich eines auffällig: Die Erzeugnisse, die die Hirten aus ihrer Zucht gewinnen, vor allem die Milch und dergleichen mehr, was Polyphem seiner Galateia und der Ziegenhirt seiner Amaryllis noch anpreisen, finden hier überhaupt keine Erwähnung. Für die Thalysien kann zumindest gelten, dass die ländliche Welt nicht auf die der Hirten beschränkt ist. Die Beschreibung des locus amoenus hier im siebten Eidyllion entspricht am ehesten dem, was man nach gängigen Vorstellungen erwartet, und sie übersteigt das übliche Maß bei weitem. Aber zu beachten ist hier auch die Perspektive: Nicht ein Hirte preist seine Welt an, wie in all den anderen _____________   Landschaft in der griechischen Dichtung, S. 325; Schönbeck: Der locus amoenus von Homer bis Horaz, S. 128–131.

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Fällen, sondern ein aus der Stadt kommender Mann bringt hier seine Erwartung zum Ausdruck, wie er ein ländliches Fest begehen will. Die bukolische Landschaft wird aus seiner Sicht wahrgenommen, sie wird nicht in der Unmittelbarkeit präsentiert, die die anderen Gedichte auszeichnet.22 Zwar korreliert die Festbeschreibung des Simichidas mit der des Ziegenhirten in der ersten Hälfte des Gedichts (vgl. Gedicht 7, V. 63–89).23 Allerdings wird dort die Beschreibung eines locus amoenus allenfalls angedeutet. Insgesamt zeigt sich so, dass Theokrit unterschiedliche Strategien mit diesem traditionellen Motiv verbindet. Die Hirtengedichte unterscheiden sich von den städtischen Gedichten mit ihrer typischen Atmosphäre auch in dem Punkt, dass Theokrit dem Mythischen ein ganz spezifisches Gepräge gibt. Der Mythos stellt in den Bukolika eine entscheidende Ebene dar, da er den Hirten Theokrits als Bezugspunkt, Projektionsfläche und Identifikationsangebot dient. Dabei geht es um traditionelle Mythen, in denen Hirten eine bestimmte Funktion oder Rolle zukommt, zum Teil rücken aber auch Mythen über Hirten in den Mittelpunkt, die eher am Rande stehen, vielleicht sogar erst von Theokrit in diese Form gebracht worden sind. Ein signifikantes Beispiel dafür bietet das dritte Eidyllion: Dort singt der Ziegenhirt vor der Höhle für die Angebetete, um sie dazu zu bringen, ihn zu erhören. Im ersten Teil des Liedes begegnet man eher volkstümlichen Elementen, wenn der Verliebte das Zucken seines Auges zu deuten versucht oder sich auf eine Siebwahrsagerin beruft – hier befindet man sich in der Tat in den low life poems. Von ganz anderer Art ist dann aber der zweite Teil, ein Lied im Lied, eine mythologische Einlage, in welcher der Ziegenhirt sein eigenes unglückliches Verliebtsein in mythische Zusammenhänge einzuordnen versucht: Hippomenes, als er das Mädchen heiraten wollte, nahm Äpfel in die Hände und vollbrachte seinen Lauf; und Atalante – wie sie sah, da wurde sie rasend, da stürzte sie in tiefes Verlangen. Die Herde führte auch der Seher Melampus vom Othrys nach Pylos; und sie legte sich in den Armen des Bias nieder, die Mutter, die reizende, der klugen Alphesiboia. Die schöne Kythereia, hat sie nicht Adonis, in den Bergen Schafe hütend, so weit in den Wahnsinn getrieben, dass sie ihn auch als Toten nicht von ihrer Brust lässt?

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Vgl. dazu neben Elliger: Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung, S. 329–337, Fantuzzi/Hunter: Tradition and Innovation, S. 146f., die in diesem Falle von einer „radically idealised representation of the sympathetic participation of the world of nature“ und einer „primitivistic idealisation“ sprechen. Entscheidend ist aber wohl die Perspektive, dass hier ein Städter spricht. Zu den beiden Liedern, die Lykidas hören wird, siehe die Ausführungen unten.

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Neidisch bin ich auf Endymion, der den unwandelbaren Schlaf schlummert; und ich beneide, liebe Frau, Iasion, der soviel bekommen hat, wie ihr Uneingeweihten nicht erfahren werdet. (Gedicht 3, V. 40–50, Absätze durch K.-H. S.)

Interessant sind in unserem Zusammenhang vor allem die ersten drei Strophen dieser Liedeinlage – als solche wurde dieser Teil des Gesangs zu Recht bezeichnet, da er sich von dem vorhergehenden unter anderem durch seine strophische Gliederung abhebt. Der Ziegenhirt bringt hier gleichsam erfolgreich werbende Verliebte aus dem traditionellen Mythos bei. Hippomenes, Bias und Adonis dürfen als in der Liebe erfolgreiche Hirten gelten, zumal es ihnen zum Teil gar gelungen ist, ihre Angebetete in den Wahnsinn zu treiben, obwohl ihr Unternehmen aus jeweils verschiedenen Gründen aussichtslos schien. Bei Endymion und Iasion aus der letzten Strophe scheint der Erfolg zwar eher zweifelhaft, weil sich die Frage stellt, ob sie diesen überhaupt genießen konnten, aber hervorzuheben ist hier wohl auch das rhetorische Geschick, mit dem die Fragwürdigkeit dieser Sichtweise dann doch hinreichend verschleiert wird. Der traditionelle Mythos liefert dem Ziegenhirten hier also eine Art Folie, um seine eigene Situation zu beleuchten und einzuordnen. Man könnte hier sogar von einer Kontrastfolie sprechen, da im Gegensatz zu ihm die mythischen Vorbilder allesamt erfolgreich gewesen sind. Mythische Welt und Hirtenwelt sind keineswegs deckungsgleich.24 Vor diesem Hintergrund sind diese exempla aber auch geeignet, dem Hirten Trost zu spenden und etwas Zuversicht zu vermitteln, dass seinem Gesang, auch wenn es aussichtslos scheint, vielleicht doch noch ein Erfolg beschieden sein könnte. In der Hirtenwelt Theokrits kommt nämlich den Ziegenhirten gerade in Liebesdingen die Rolle zu, sich etwas ungeschickt zu verhalten. Nicht von ungefähr kommt es daher, dass der Werbende im dritten Eidyllion anonym bleibt. Auf der Ebene des Mythos erfährt die Erfahrung der Liebe als einer leidvollen und Kummer bereitenden eine besondere Fundierung. Im ersten Gedicht der Sammlung will der auch da wieder anonym bleibende Ziegenhirt vom Schafhirten Thyrsis ein Lied hören, es ist aber nicht irgendein Lied, sondern ein ganz bestimmtes, nämlich das von den ἄλγεα Δάφνιδος, den Leiden des Daphnis, eines βούκολος. Dieses Lied scheint eine Art Meisterlied des Thyrsis zu sein, da er es damit schon zu entsprechendem Ruhm und Erfolg gebracht hat, wie wir dem Eingangsdialog des ersten Eidyllions entnehmen können: _____________   24

Dazu jetzt auch Payne: Theocritus and the Invention of Fiction, S. 64–66; ferner Stanzel, KarlHeinz: Liebende Hirten. Theokrits Bukolik und die alexandrinische Poesie. Stuttgart 1995, S. 131– 137 sowie S. 191–206.

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Aber du, Thyrsis, singst doch von den Leiden des Daphnis und bist in der bukolischen Muse weiter vorangekommen (Gedicht 1, V. 18–20).

Nach diesen Versen scheint es sogar so, dass dieses Lied das Standardlied des bukolischen Gesangs darstellt, da der Rinderhirt Daphnis eine Art Ahnherr bukolischen Liebesleids zu sein scheint. Um diese Liebesschmerzen des Daphnis, sein Liebesleid, geht es auch im siebten Gedicht, den Thalysien. Dort tauschen der Ziegenhirt Lykidas und Simichidas ihre Lieder aus. Lykidas singt ein Lied für seinen Geliebten Ageanax, das ihn auf dessen anstehender Reise nach Mytilene begleiten soll; er singt ein propemptikon, ein Begleitgedicht für die Reise. Lykidas wird also von Ageanax getrennt sein, und er stellt sich vor, dass er bei einer Art ländlichem Symposion am Lagerfeuer Trost suchen wird. Diese nur angedeutete Feier ist die Entsprechung zu Simichidas’ Schilderung des ländlichen Erntefestes ganz am Ende des Gedichts. Trost werden Lykidas zwar auch die Annehmlichkeiten der ländlichen Welt bieten, vor allem aber die Lieder, die in diesem Falle Tityros singen wird. Auch er wird nämlich eine Version von den Leiden des Daphnis singen, jedenfalls wird hier ein Detail genannt, das im ersten Eidyllion fehlt: der Name der Geliebten, Xenea. Trost soll also in diesem Falle, da Lykidas Ageanax offenbar vermisst, eine Geschichte spenden, in der ein Hirte ein viel schlimmeres Leid erfahren hat und am Ende sogar in den Tod gegangen ist. Allerdings wird Tityros in der Imagination des Lykidas noch ein weiteres Lied vortragen, das nicht der Liebesthematik zugeordnet werden kann: In diesem Lied geht es eher um das Gegenteil, die wunderbare Rettung des Hirten Komatas aus einer ausweglosen Situation. Hier klingt nebenbei wieder leise die soziale Abhängigkeit der Hirten an, da er willkürlich und offenbar in böser Absicht von seinem Herrn in eine Kiste gesperrt worden ist und nur gerettet werden konnte, weil die Bienen ihn genährt haben. Und er wird singen, wie einst den Ziegenhirten eine weite Truhe aufnahm, lebend, durch schlimmen Frevel des Herrn, und wie die stumpfnasigen Bienen von der Wiese zum süß-duftenden Zedernholzkasten kamen und ihn nährten mit weichen Blüten, weil ihm die Muse süßen Nektar über den Mund goß. Ach, glücklich zu preisender Komatas, du hast diese Freude erfahren […] (Gedicht 7, V. 75–80).

Komatas hat offenbar seine Rettung aus dieser Lage nur dem Umstand zu verdanken, dass er ein Hirtensänger ist. Er wird hier also als ein Hirtensänger der Vorzeit etabliert, und es kommt nicht von ungefähr, dass dieser ‚Mythosʻ sich nirgendwo sonst belegen lässt. Innerhalb des Liedes des Lykidas steht somit den ἄλγεα Δάφνιδος auch ein Lied von erfolgreicher Rettung gegenüber. Tod und Liebesleid stehen auf der einen Seite, Rettung auf der anderen Seite, beides spendet Lykidas Trost; und in diesem

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zweiten ‚Mythos‘ kommt dann in besonderer Weise wieder die Kraft des Hirtengesanges zur Geltung. Während der Ziegenhirt des dritten Eidyllions also vor allem im Bereich des traditionellen Mythos seine Beispiele wählt, sind es im Falle des Lykidas eher entlegene oder sogar anderswo gar nicht begegnende mythische Erzählungen, in denen Hirten eine entscheidende Rolle zukommt. Deutlich wird hier auch, dass eine an anderer Stelle nicht belegte mythische Vergangenheit für die Hirten ins Spiel gebracht wird: Komatas wird etabliert als einer der Sänger der Vorzeit, die es ihrem Gesang zu verdanken haben, dass sie gerettet worden sind. Die Welt der Hirten ist also in dieser Hinsicht als eine ungemein vielschichtige konstruiert.25 Schließlich sei noch auf das bekannteste Beispiel verwiesen, das in unserem Zusammenhang angeführt werden kann: der Hirt Polyphem, aus der Odyssee eher als Unhold bekannt. Dieser ist ein instruktives Beispiel dafür, wie der alexandrinische Dichter mit traditionellen Figuren des Mythos verfährt. Auch er erscheint bei Theokrit vor allem in der ganz und gar unheroischen Situation des Liebesleids. Im elften Eidyllion wendet sich Theokrit bekanntlich an Nikias, offenbar ein Freund, und verweist auf das Beispiel Polyphems, dem es wohl gelungen ist, sich von seiner unglücklichen Liebe zu heilen. Theokrit führt dann das Lied Polyphems an, mit welchem er die Meernymphe Galateia für sich zu gewinnen suchte. Dieses Lied ist dem Gesang des Ziegenhirten im dritten Eidyllion ganz ähnlich, auch die Situation ist vergleichbar, insofern der Kyklop zu seiner Angebeteten nicht gelangen kann, weil diese das Meer bewohnt: Im Grunde ist sein Unterfangen aussichtsloser als jenes des Ziegenhirten, weil es bei Amaryllis immerhin auch möglich wäre, dass diese ihre Höhle verlässt und sich dem verliebten Hirten zeigt. Polyphem liefert also hier gleichsam die mythische Parallele für das, was anhand des Ziegenhirten vorgeführt wird; und zumindest auf der Ebene des Dialogs mit Nikias, an den sich Theokrit eingangs wendet, nennt der Dichter den Kyklopen ὡρχαῖος, eine Gestalt mythischer Zeit also (Gedicht 11, V. 8). Man könnte demnach Polyphem als ein Beispiel für einen erfolglosen Liebenden aus dem traditionellen Mythos bezeichnen, obgleich es freilich zu bedenken gilt, dass dieses Thema wohl erst durch Philoxenos in die Dichtung eingeführt worden ist. _____________   25

Vgl. dazu auch Fantuzzi/Hunter: Tradition and Innovation, S. 149, die in Komatas und Daphnis die ‚hero-foundersʻ der bukolischen Dichtung sehen. Jedenfalls sind sie in besonderer Weise die Vertreter der mythischen Vergangenheit der Hirten. Mit ihrem jeweiligen Schicksal markieren sie für die Hirten ganz wesentliche Ereignisse; Liebe und Dichtung als die beiden großen Themen der Hirtengedichte werden so auch auf der mythischen Ebene etabliert.

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Polyphems Liebe kommt aber auch in einem weiteren Hirtengedicht, und zwar in anderer Weise, ins Spiel. Das sechste Eidyllion ist ein Gedicht, in welchem zwei Hirten, Daphnis und Damoitas mit Namen, einen Agon miteinander bestreiten. Im Gegensatz zu anderen Gedichten, in denen der Wettstreit in Form eines Amoibaions, eines Wechselgesangs, ausgetragen wird, singt jeder der beiden hier ein zusammenhängendes Lied, und der erste entscheidet sich für Polyphems Liebe zu Galateia. Der Sänger, Daphnis,26 nimmt in einer Art Rollenspiel den Part eines suasor amoris ein, der den sich etwas tölpelhaft verhaltenden Kyklopen direkt anspricht. Gegenüber dem elften Eidyllion hat sich die Situation insofern grundlegend verändert, als jetzt Galateia angeblich sogar aktiv versucht, den Kyklopen für sich zu gewinnen. Das ist jedenfalls die Botschaft, die der die Rolle des Ratgebers einnehmende Sänger zu vermitteln sucht.27 Der im Agon antwortende Sänger greift die Idee des Rollenspiels auf, schlüpft seinerseits in eine passende Rolle und antwortet in persona des Kyklopen auf die milden Vorhaltungen des Ratgebers. Diesem wird im Übrigen in Liebesdingen eine ähnliche Ungeschicklichkeit unterstellt wie dem Daphnis des ersten Eidyllions (vgl. dort, V. 82f. – die Geliebte befindet sich auf der Suche nach Daphnis, der sich so sehr abhärmt). Auch hier ist also die bekannte Geschichte in einer ganz neuen Form präsent. In ihrem Agon beteiligen sich die Hirten an der Arbeit am Mythos; der in der dichterischen Tradition vorgegebene Liebesstoff wird weiter spielerisch verwandelt, Polyphem ist nun nicht mehr der unglücklich und aussichtslos Verliebte, sondern Damoitas streift das ab und lässt ihn als einen Liebenden und Werbenden erscheinen, der eine raffinierte Strategie verfolgt, um die angebetete Galateia für sich einzunehmen. Das Spiel mit dem Mythos betrifft darüber hinaus aber auch die Situation des Agons. Eine Betrachtung der mythischen Elemente, die die Hirtenwelt bestimmen und konstituieren, zeigt damit auch, dass diese in den Gedichten Theokrits entworfene Welt keineswegs eindimensional ist, sondern dass sie ausgesprochen vielschichtig konstruiert ist. _____________   26

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Neuerdings tritt Payne: Theocritus and the Invention of Fiction, S. 94ff., wieder dezidiert dafür ein, dass der Daphnis aus Eid. 6 und der mythische ‚Hirtenheld‘ Daphnis identisch seien. Allerdings sind dafür kaum überzeugende Gründe auszumachen. Die Gegenposition etwa bei Fantuzzi/Hunter: Tradition and Innovation, S. 149. Payne: Theocritus and the Invention of Fiction, S. 95–98, sieht in dem Gedicht ein Stück „about the malleability of characters in a fictionalized literary tradition“ (S. 97). Dies betrifft nicht nur Daphnis auf der Handlungsebene des Gedichts – hier scheint allerdings die Annahme, dass er mit dem mythischen Daphnis identisch sei, nicht unbedingt plausibel, vgl. die vorige Anmerkung –, sondern auch die Darstellung Polyphems im Hinblick auf den Mythos.

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KARL-HEINZ STANZEL

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Non in Arcadia Vergilius. Eklogenland als politisch verunsicherte Poetenidylle NIKLAS HOLZBERG Während George Grosz nach dem 8.5.1945 ganz im Sinne seiner höchst kritischen Haltung gegenüber falschen Idyllen von New York aus verkündete, er werde, falls er sich noch einmal am Mittelmeerstrand sonnen könne, jemanden, der dann auftauche und von Fortschritt oder Befreiung und Kultur daherrede, sofort erschießen,1 veröffentlichte etwa gleichzeitig der Altphilologe Bruno Snell einen Aufsatz über Vergils Bucolica, in dem er die Welt der darin auftretenden Hirten als Idylle interpretiert.2 Der Titel der von ihm neu gegründeten Zeitschrift, in der sein Aufsatz erschien, verrät allein schon, in welche Richtung das mit seiner Interpretation verbundene Wunschdenken, das Grosz endgültig abhanden gekommen war, offenkundig ging. Denn dieser Titel, Antike und Abendland, beschwor mitten aus Hamburg heraus, der von Bomben in den Infernos des Sommers 1943 total zerstörten Heimatstadt Snells, Hoffnung darauf, dass die in Schutt und Asche liegende Nation der Richter und Henker wieder die der Dichter und Denker werde, und zwar durch den Rekurs auf die klassische Kombination von humanistischer und christlicher Ethik, den der alliterierende Zeitschriftentitel suggeriert. Dementsprechend lautet die Überschrift von Snells Aufsatz Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft, und man kann sich mit Blick auf den historischen Kontext bereits vor der Lektüre lebhaft vorstellen, wie sich der Autor angesichts der ihn umgebenden Ruinen und der mittlerweile bekannt gewordenen, unfassbaren Gräueltaten seiner Landsleute in die spirituelle Utopie hineinträumte, für die in seinen Augen Arkadien steht. Es ist also von daher nur zu verständ_____________   1 2

Der Verfasser schließt an das Vorwort des vorliegenden Bandes an und verweist auf: Georg Grosz an Erwin Piscator, 28.5.1945. In: Ders.: Briefe 1913–1959. Hg. v. Herbert Knust. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 352. Vgl. Snell, Bruno: „Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft“. In: Antike und Abendland 1 (1945), S. 26–31; ders.: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Göttingen 51980, S. 257–274.

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lich, dass ein gewissenhafter Philologe wie Snell sich diesmal unter Verzicht auf sorgfältige Textarbeit etwas zusammenreimte, was (wie gleich kurz gezeigt werden soll) wissenschaftlich unhaltbar ist, aber seine deutschen Leser glaubten ihm lange Zeit nur allzu gerne und erst Anfang der siebziger Jahre wurde er widerlegt. Wer sich heute fragt, warum die Bürger Westdeutschlands, allen voran die humanistisch gebildeten, sich von 1945 bis 1968 sehr viele antik-abendländische Wolkenkuckucksheime in der Art des Snell’schen Arkadiens zusammenbauten, wird am besten genauso antworten wie Staatssekretär Humphrey Appleby in der satirischen BBCFernsehserie Yes Minister, in der sein Dienstherr von ihm hören will, warum die Germans der Europäischen Union beigetreten seien: „to cleanse themselves of genocide and apply for readmission to the human race.“3 Eigentlich wusste man schon vor dem Erscheinen von Antike und Abendland Nr. 1, dass die ‚Entdeckung Arkadiens‘ als Idylle lange vor Snell durch den Renaissance-Autor Jacopo Sannazaro in Anspruch genommen wurde: in seinem 1504 publizierten Hirtenroman Arcadia. Dort machte er aus demjenigen Teil der Peloponnes, der für die Griechen des Altertums die Heimat des Gottes Pan und der ihn besonders verehrenden Hirten war, eine heidnisch-antike Wunschwelt der freien Liebe, also ein Utopia fern der zur Zeit Sannazaros geltenden christlichen Sexualmoral, und sein Roman wurde zum Muster der Schäferdichtung, die im europäischen Literaturspektrum des 16.–18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte. Nun ist von Arkadien als dem Reich Pans und seiner Schafe und Ziegen hütenden Gefolgschaft bereits in Vergils Bucolica die Rede, einem zehn Einzeltexte, die man Eklogen nennt, umfassenden Gedichtbuch. Es wurde sehr wahrscheinlich bald nach 35 v. Chr. veröffentlicht,4 also in der Zeit, als die Imperatoren Oktavian und Mark Anton die beiden mächtigsten Männer des Reiches waren und die Befürchtung groß war, einer von beiden werde irgendwann versuchen, den anderen aus der Macht zu verdrängen. Das erzeugte zweifellos Verunsicherung bei den Römern, und es wäre durchaus denkbar, dass Vergil seinen Lesern als Kompensation die geistige Flucht in die heile Welt der fernen Hirtenlandschaft anbot. Aber in den Bucolica werden Arkadien, die Arkader und der arkadische Berg Maenalus nur an wenigen Stellen thematisiert.5 Dennoch leitete Snell aus diesen _____________   3 4 5

Aus The Devil You Know, erstmals gesendet von der BBC am 23.3.1981. Vgl. Holzberg, Niklas: Vergil. Der Dichter und sein Werk. München 2006, S. 21f. Vgl. Bucolica 4, 58f.; 7, 3f.; 7, 25f.; 8, 21–24; 10, 9ff. (Vergils Werke werden im Folgenden zitiert nach: Vergilius Maro, P.: Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit R. A. B. Mynors. Oxford 1969). Dazu besonders ausführlich Flintoff, Everard: „The Setting of Virgil’s Eclogues“. In: Latomus 33 (1974), S. 814–846, Zitat S. 833–841 u. Jenkyns, Richard: „Virgil and Arcadia“. In: The Journal of Roman Studies 79 (1989), S. 26–39, Zitat S. 28–36.

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Stellen, speziell aus einem Abschnitt in der zehnten Ekloge, in dem der Elegiendichter Cornelius Gallus entweder mitten unter den Göttern, Hirten und Herdentieren Arkadiens weilt oder eine solche Situation imaginiert,6 folgende These ab: Die griechische Gebirgsgegend bilde den Schauplatz (fast)7 aller zehn Eklogen, sie symbolisiere ein verklärtes Dasein, ein Traumland der Empfindsamkeit und den idyllischen Frieden des Goldenen Zeitalters, also eine von der Wirklichkeit deutlich abgesetzte geistige Landschaft. Obwohl Ernst A. Schmidt schon 1972 schlagend bewies, dass Vergils Hirtengedichte weder in Arkadien angesiedelt sind noch uns eine Idylle in Gestalt einer Wunschwelt vor Augen führen, die Sannazaros Arcadia antizipiert,8 wäre es eigentlich notwendig, Snells These erneut als falsch zu erweisen. Denn sein Aufsatz gilt nach wie vor als Klassiker, und immer wieder stößt man auf Publikationen, die direkt an seine Position anknüpfen. Allein schon die Eingabe von ‚Vergil‘ und ‚Arkadien‘ bei Google liefert elektronisch auf dem ganzen Globus bequem abrufbare Darlegungen von Laien, die den Dichter unbeirrt zum Entdecker der griechischen Landschaft als eines irdischen Paradieses erklären,9 ja, selbst seriöse Untersuchungen zu den Eklogen aus jüngster Zeit reden ganz selbstverständlich von Arkadien als dem Schauplatz der Eklogen.10 Doch auch wenn das nicht oft genug richtiggestellt werden kann, ist hier nicht der Ort für eine _____________   6

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Zu den beiden Möglichkeiten vgl. Vergil: Eclogues. Hg. v. Robert Coleman. Cambridge 1977, S. 286f.; Flintoff: „The Setting“, S. 837f., denkt sich Ekloge 10, 44f., mit plausibler Begründung nicht in Arkadien, sondern auf einem Kriegsschauplatz gesprochen. Aber man kann sich auch gut vorstellen, dass Gallus sich von Arkadien aus im Geist an den Ort versetzt, wo seine Lycoris sich gerade befinden könnte, sie also in einem Heerlager wähnt. Ekloge 2, die Snell für sehr früh verfasst hält, lokalisiert er ,noch‘ in Sizilien. Vgl. Schmidt, Ernst A.: Poetische Reflexion. Vergils Bukolik. München 1972, S. 172ff.; ders.: „Arkadien: Abendland und Antike“. In: Antike und Abendland 21 (1975), S. 36–57; ders.: „Bukolik und Utopie. Zur Frage nach dem Utopischen in der antiken Hirtenpoesie“. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 2. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Frankfurt a.M. 1985, S. 21–36; Kennedy, Duncan F.: „Arcades ambo: Virgil, Gallus and Arcadia“. In: Hermathena 143 (1987), S. 47–59; Jenkyns: „Virgil“. Hier zwei Beispiele: Leuschner, Udo: „Arkadien. Der Traum vom irdischen Paradies – Wie die Schäferidylle die christliche Religion über zwei Jahrtausende begleitete“, 2000. URL: http://www.udo-leuschner.de/sehn-sucht/sehn-sucht/s04arkadien.htm (Stand: 2.12.2013) und Konrad, Falko: „Arkadien, der Traum von der Harmonie, von der wahrhaften Auflösung des Widerstreites“, 2009. URL: http://arcadiadertraum.blogspot.de/ 2009/10/der-arkadische-traum-vom-idealisierten.html (Stand: 20.10.2012). Vgl. Breed, Brian W.: Pastoral Inscriptions, Reading and Writing in Virgil’s ,Eclogues‘. London 2006, S. 117; Suerbaum, Werner: „Die Goldene Zeit bei Vergil. Die Historisierung des Paradieses“. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 83 (2008), S. 39–61, Zitat S. 45f.; Jones, Frederick: Virgil’s Garden. The Nature of Bucolic Space. London 2011, S. 69 u. S. 154, Anm. 32.

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ausgiebige Diskussion der gegen Snell mit Recht vorgebrachten Argumente. Ich referiere also im Folgenden nur das Wichtigste. Im Grunde ist das Wesen der Welt, in die Vergil seine Leser mit den Eklogen versetzt, bereits erfasst, wenn man sich klar macht, dass, wie Schmidt es treffend formuliert hat, Bukolik „nicht schlechthin von Hirten, sondern von Hirten, insofern diese Sänger sind“, handelt.11 Die Landschaft, in der die Sänger auftreten,12 kann man geographisch nicht fixieren, weil sie ein imaginäres Reich der Poesie ist. Dichtung bekommen wir in den Liedern der Hirten sowie in der Schilderung ihrer Dialoge und Aktionen exemplarisch als Bukolik dargeboten. Zugleich wird sie explizit und implizit reflektiert, wobei poetisches und metapoetisches Sprechen zu einer untrennbaren Einheit verbunden sind. Da Vergils literarisches Vorbild, der Grieche Theokrit (1. Hälfte des 3. Jhs. v. Chr.), in seiner Sammlung von Gedichten verschiedenen Inhalts, den Eidyllia („Gedichtchen“),13 mehrfach ebenfalls Hirten singen und diese in Sizilien agieren lässt, nennt Vergil seine Verse „syrakusisch“ (6, V. 1) und lässt den Hirten Corydon prahlen, er besitze tausend auf den sizilischen Bergen grasende Lämmer (2, V. 21). Aber Syrakus und Sizilien bezeichnen nicht das Land, in dem auch Vergils Hirten wohnen, sondern die beiden dazu gehörigen Adjektive stehen synonym für ‚theokritisch‘, beziehen sich also auf die Gattung ‚Bukolik‘, die Vergil von Syrakus nach Rom gewissermaßen importiert hat. Arkadien wiederum verkörpert als Land des Hirtengottes Pan das Singen der Hirten in seiner mythisch-ursprünglichen Form, und da Hirtengesang Dichtung jeder Art repräsentiert, bedeutet ‚arkadisch‘ zugleich ‚bukolisch‘ und ‚poetisch‘. Wenn Vergil nun zu Beginn von Ekloge 7 Corydon und Thyrsis „Arkader“ nennt (V. 4), heißt das nicht, dass sie aus Arkadien stammen, sondern ‚arkadisch‘, d.h. ‚bukolisch‘ singen können. Und wenn das dann am Ufer des Mincius (heute Mincio) geschieht, an dem Vergils Heimatstadt Mantua liegt, verweist der Dichter nicht auf den Schauplatz, sondern wie in einer Sphragis auf sich selbst als den Autor der neuen ‚theokritischen‘, d.h. ‚bukolischen‘, ‚römischen‘ Poesie. ‚Arkadisch‘ ist mithin bei Vergil noch nicht gleichbedeutend mit ‚idyllisch‘, sondern erst bei Sannazaro und dessen Nachfolgern. Aber eine Idylle ist ‚Eklogenland‘, als das ich Vergils imaginäres Reich der Poesie, die ‚generic landscape‘, von nun an in Anlehnung an Frederick Jones bezeichnen möchte,14 durchaus, zumindest auf den ersten Blick. Denn alles, _____________   11 12 13 14

Schmidt: Poetische Reflexion, S. 17. Zur Frage, ob man die Eklogen lokaliseren kann, bes. ausführlich: Flintoff: „The Setting“. Zu dem Begriff und dem daraus entwickelten Begriff ‚Idylle‘, vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 21977, S. 1–7. Jones: Virgil’s Garden, S. 27 u. öfters: „Eclogue-land“.

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was uns über Klima, Fauna und Flora dieses Landes gesagt wird, stimmt mit dem überein, was wir heute unter einer Idylle verstehen:15 Zwar bietet das Gedichtbuch nirgendwo eine systematische Schilderung dieser Idylle, aber zahlreiche über die einzelnen Eklogen verstreute Angaben fügen sich zu einem einigermaßen geschlossenen Bild von „Virgils Garden“ (Jones)16 zusammen: Stets ist die Jahreszeit angenehm, Wind und Regen gibt es kaum, was die Hirten tun, findet fast immer am Tag statt, und weder sind die Berge unwirtliche Aufenthaltsorte, noch geht vom Meer eine Bedrohung aus. Es existieren keine gefährlichen Tiere wie Wölfe oder Löwen, sondern nur die für die Hirten und die übrigen Menschen nützlichen Rinder, Ziegen, Schafe und Bienen, und ebenso nützlich ist die Pflanzenwelt, in der Gift und Dornen so gut wie ganz fehlen und von der Speise, Tierfutter, Schatten für Hirten und Herden, Hecken sowie Material für die Herstellung von Kränzen, Körben und Hirtenflöten geliefert werden. Die Hirten schließlich verbringen ihr Leben mit Singen und Lieben und natürlich auch mit ihrer Hirtenarbeit, aber diese wird kaum thematisiert. Sie ernähren sich vor allem von pflanzlicher Kost und Milchprodukten, wissen wenig von Geld und wohnen in kleinen Hütten. Durch all das wirkt ihr Lebensraum wie der einer idyllischen Frühzeit der Menschheit, wie deren Dasein im Goldenen Zeitalter. Also doch eine Wunschwelt, ein irdisches Paradies? Nein, denn zum einen handelt es sich hier, wie gesagt, nicht um die Schilderung einer bestimmten Form menschlicher Existenz, die der Dichter eskapistisch mit der Wirklichkeit kontrastiert, sondern lediglich um ein imaginäres Reich der Poesie, das keine sorgenfreie utopische Wunschwelt darstellt. Zum anderen ist in dieses imaginäre Reich die Realität des Römischen Reiches eingedrungen und hat die Bewohner des Reichs der Poesie in Konflikt mit der Politik derer gebracht, die im realen Römischen Reich die Macht innehaben. Bevor wir uns diesem wichtigen Thema zuwenden, ist zu fragen, warum Vergil ein Reich der Poesie in der Weise darbietet, wie es im letzten Absatz gezeigt wurde. Und die Antwort lautet: Eklogenland repräsentiert eine spezielle Art von Poesie: die ‚kleine‘ Dichtung in der Nachfolge des hellenistischen Dichters Kallimachos (ca. 320 – nach 245 v. Chr.). Dieser Autor hatte es sich zu Beginn seines poetischen Hauptwerks, der _____________   15 16

Vgl. Schmidt: Poetische Reflexion, S. 17. Die folgende Charakterisierung von ,Eclogue-land‘ lehnt sich eng an Jones: Virgil’s Garden an: ebd., Kurzübersicht S. 25f., 29ff., sowie die einzelnen Kapitel zu Flora, Fauna, „Climate, Time, Geology, Geography“ und „Human Geography“. Zur Landschaft der Bucolica vgl. auch Pietzcker, Carl: Die Landschaft in Vergils Bukolika. Diss. Freiburg i.Br. 1965 u. Witek, Franz: Vergils Landschaften. Versuch einer Typologie literarischer Landschaft. Hildesheim 2006, S. 41–44 u. S. 64–66.

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Aitia (‚Ursprungsmythen‘), explizit zum Programm gemacht, nicht wie die Autoren des großen Epos von großen Menschen und Taten zu singen, sondern Könige und Kriegshelden durch normale Sterbliche und ihre militärischen Unternehmungen durch alltägliche Begebenheiten – etwa eine erotische Geschichte – zu ersetzen. Dementsprechend tritt in seiner Dichtung an die Stelle von Pathos mit hohem ethischen Anspruch eine Diktion voller Esprit, Witz und Double-entendre. Seine Poesie wirkt also im Vergleich mit dem Epos spielerisch, und das kommt auch in einem permanenten Jonglieren mit Versen anderer Dichter, die intertextuell aufgerufen werden, sowie metapoetischer Selbstreflexion zum Ausdruck. All das wird nun innerhalb von Vergils Eklogenland ins Bukolische transformiert: Die Hirten sind insofern ‚klein‘, als sie einer niedrigen sozialen Schicht angehören und, obwohl das Metrum wie im Epos der Hexameter ist, unheroisch sprechen. Liebe und andere private Probleme beherrschen ihr Dasein und in ihre Verse sind durch mehr oder weniger wörtliche Zitate die Verse Theokrits sowie anderer poetischer Vorgänger Vergils ‚eingeschrieben‘: Sie singen, und sie reflektieren ihr Singen. Dass die Welt der Hirten in den Bucolica von den Regeln der ‚Grammatik‘ kallimacheischer Poesie der ‚kleinen‘ Formen geprägt ist, verrät Vergil implizit und zugleich sehr pointiert in der Eröffnung von Ekloge 6, dem Binnenprolog des Gedichtbuches; dort lesen wir in V. 3–5: cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem vellit et admonuit: ,pastorem, Tityre, pinguis pascere oportet ovis, deductum dicere carmen.17

Auf engstem Raum thematisiert Vergil in diesen drei Versen all das, was für Eklogenland als Reich der Poesie, speziell der ‚kleinen‘, charakteristisch ist: Der Dichter, der die Maske eines seiner Hirten trägt und somit teilhat an ihrer bescheidenen Lebensform, lässt sich vom Dichtergott dazu anhalten, statt der ‚großen‘ epischen Themen die ‚kleinen‘ zu wählen. ‚Kleine‘ Poesie wird einerseits durch die schlichte Tätigkeit der Schafzucht symbolisiert, andererseits mit dem aus der kallimacheischen Poetik entwickelten Begriff deductum carmen definiert, und die Formulierung „cum canerem reges et proelia“ evoziert intertextuell V. 3–5 des programmatischen Prologs zu den Aitien des hellenistischen Dichters. Auch wenn die Idylle Eklogenlands keine solche wie etwa Sannazaros Arcadia ist, sondern die eines Reiches der Poesie, so gleicht dieses doch insofern mythischen Vorstellungen von Goldenem Zeitalter und irdi_____________   17

„Als ich von Königen und Schlachten singen wollte, zupfte Apollo mich am Ohr und mahnte: ‚Ein Hirte, Tityrus, soll fette Schafe weiden und ein fein gesponnenes Lied singen.‘“ Diese und alle folgenden Übersetzungen stammen vom Verfasser.

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schem Paradies, als auch hier die Welt der hohen Politik ausgeklammert ist – das impliziert ja der Verzicht auf das Thema ‚Könige und Schlachten‘. Aber obwohl dieser Verzicht konsequent geleistet wird, können die realen römischen Staatsaktionen der Epoche, in der die Bucolica entstanden, auf das imaginäre Eklogenland übergreifen, einige seiner Bewohner ins Unglück bringen und weitere verunsichern. Was von den Zeitgenossen Vergils im Hintergrund ständig mitgelesen wird, ja direkt in das Dasein der singenden Hirten hineinwirkt, ist folgende politische Lage: In den dreißiger Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. waren Oktavian und Mark Anton zwar in das Machtkartell des sogenannten zweiten Triumvirats (zu dem noch der weniger mächtige M. Aemilius Lepidus gehörte) eingebunden, aber es kriselte immer wieder zwischen den beiden Imperatoren. Im Jahr 40 v. Chr. z. B., das als Zeitpunkt in Ekloge 4 direkt angesprochen ist (V. 11f.), musste ihr Einvernehmen vertraglich festgeschrieben werden. Und dass die Römer allen Grund hatten, ein irreversibles Zerwürfnis zu befürchten, sieht man daran, dass es dazu schon im Jahr 33 kam, also nicht lange nach dem Jahr 34 v. Chr., in dem die Bucolica sehr wahrscheinlich publiziert wurden; die Entscheidungsschlacht bei Aktium, in der Mark Anton von Oktavian endgültig niedergerungen und ausgeschaltet wurde, fand wiederum nur zwei Jahre später statt. Wer also auf den Gegner des Siegers gesetzt hatte, musste spätestens jetzt mit negativen Konsequenzen rechnen. Aber auch in den Jahren, als die beiden Männer noch gemeinsame Politik machten, hatten deren eigene Landsleute darunter zu leiden. Denn nach dem Sieg über die Mörder Caesars bei Philippi 42 v. Chr. wiesen die beiden Imperatoren den Veteranen ihrer Heere in mehreren Städten Italiens Grundstücke zu, nachdem sie deren Besitzer hatten enteignen lassen. Und diese Regelung betraf auch das Gebiet um Vergils Geburtsort Mantua. Ob der Dichter selbst, wie die unter dem Namen des Aelius Donatus überlieferte Vergil-Vita Suetons behauptet, von den Konfiskationen betroffen war – zumindest vorübergehend –, ist in der Forschung umstritten. Aber in zwei seiner zehn Eklogen, 1 und 9, treten Hirten auf, denen man ihren Grund und Boden weggenommen hat. Wenn nun einer von ihnen, Meliboeus, in 1, V. 77f. verkündet: carmina nulla canam; non me pascente, capellae, florentem cytisum et salices carpetis amaras,18

dann bedeutet das: Als Opfer einer politischen Maßnahme erklärt er implizit, er werde keine ,kleine‘ Poesie mehr dichten können – das wird _____________   18

„Lieder werde ich keine mehr singen; nicht mehr werdet ihr, meine Ziegen, während ich euch weide, blühenden Schneckenklee und bittere Salweiden abrupfen.“

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nachträglich durch den Bezug von „canerem“ in den oben aus dem Binnenprolog zitierten Versen auf „canam“ hier in V. 77 bestätigt. Nun sagt Meliboeus das zu einem Hirten (wie die Persona Vergils in Ekloge 6 heißt dieser Tityrus), der offenkundig von der Landenteignung verschont geblieben ist. An ihn hat der junge „Gott“ (V. 6 und 42), dem er das zu verdanken hat (zweifellos ist Oktavian gemeint, der 34 v. Chr. 29 Jahre alt war), in Rom sogar folgende Aufforderung gerichtet (V. 45): „pascite ut ante boves, pueri; summittite tauros“.19 Bos, der Singular zu boves, ist die lateinische Entsprechung zum griechischen boûs, das in boukólos (Rinderhirt) steckt. Hier wird also, wie intratextuell wiederum 6, V. 5 (und zuvor schon 1, V. 77 „pascente“ mit Bezug auf 1, V. 45 „pascite“) untermauert, ein Hirte implizit zum Singen bukolischer Verse ermuntert, womit der junge ‚Gott‘ erlaubt, was sein Dialogpartner nicht mehr tun kann. Durch diese Gegenüberstellung eines Hirten, der ‚singen‘ darf, mit einem anderen, dem es nicht mehr möglich ist, baut Vergil eine Spannung auf, die von Anfang an in die Idylle von Eklogenland Verunsicherung einbringt. Zugleich möchte er, wie man annehmen darf, mit Blick auf seine reale Gegenwart zwischen den Zeilen sagen, dass er und die anderen Dichter des zeitgenössischen Rom sich verunsichert fühlen. Denn sie alle müssen sich angesichts der politischen Lage in der Mitte der dreißiger Jahre fragen, wie lange selbst Kollegen, die, wie in Eklogenland der Hirte Tityrus, bisher von staatlichen Eingriffen in ihr Leben ausgenommen wurden, noch unbeschwerte ,kleine‘ Poesie verfassen können, die in den Bucolica durch die idyllische Welt der singenden Hirten repräsentiert wird. Wie die politische Verunsicherung der Idylle von Eklogenland, die Vergil in der ersten Ekloge sehr eindringlich exponiert, sich in den übrigen neun Gedichten direkt oder indirekt artikuliert (das Gedichtbuch, ursprünglich auf eine Papyrusrolle geschrieben, will sukzessive ,entrollt‘, also linear gelesen werden), kann ich hier nur skizzieren. Ich beschränke mich dabei auf die Eklogen, in denen das Spannungsverhältnis zwischen dem imaginären Reich der ,kleinen‘ Poesie und dem in dieses Reich eingedrungenen realen Imperium Romanum außer in Nr. 1 deutlich zum Ausdruck kommt: 4, 5 und 9. Nur kurz sei anhand eines Beispiels darauf hingewiesen, dass sich auch in den übrigen Gedichten Stellen finden, an denen ein in der Welt singender Hirten fremdes Element stört. In Ekloge 3 schickt der Schiedsrichter Palaemon dem Wechselgesang des Damoetas und Menalcas eine kurze Beschreibung der, wie üblich, idyllischen Szenerie voraus (V. 55–57): _____________   19

„Weidet Rinder, Jungs, zieht Stiere auf wie bisher.“

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Dicite, quandoquidem in molli consedimus herba et nunc omnis ager, nunc omnis parturit arbos, nunc frondent silvae, nunc formosissimus annus.20

Aber gegen Ende des musischen Wettbewerbs singt Damoetas plötzlich (V. 92f.): Qui legitis flores et humi nascentia fraga, frigidus, o pueri (fugite hinc!), latet anguis in herba.21

Da die Anrede von Hirten mit ‚pueri‘ an den oben zitierten Vers 1, 45 erinnert und dort unverkennbar auf einer zweiten Leseebene metapoetisch gesprochen wird, darf man das auch für die vorliegenden Verse vermuten. Gewiss, es lässt sich nicht entscheiden, ob mit der lauernden Schlange implizit eine politische Bedrohung oder die Anfeindung von kallimacheischer Poesie durch Leute, die sie ablehnen, gemeint ist; für das Zweite spricht, dass unmittelbar vor V. 92f. Pollio als Liebhaber der Bukolik und Baius und Maevius als schlechte Poeten erwähnt sind (V. 84–91).22 Jedenfalls wird der Leser durch V. 93 sehr drastisch alarmiert, auch durch die Versgestaltung: Das am Anfang des Hexameters exponierte und betont vor einer Dihärese platzierte daktylische Wort, das den ersten Sinneseindruck von der Schlange wiedergibt, die unmittelbar darauf folgenden warnenden Worte und diejenigen, die per Hyperbaton das Tier in die Mitte nehmen und so sein Versteck abbilden,23 veranschaulichen auf engstem Raum, wie jäh etwas Gefährliches in die Idylle einzudringen vermag. Keine Schlange, so erfahren wir aus Ekloge 4, also dem nächsten Gedicht nach dem gerade angesprochenen, werde es mehr in dem Goldenen Zeitalter geben, das die Parzen prophezeit hätten. Möglich machen werde diesen paradiesischen Zustand der Welt die Geburt eines Knaben, der dann, unter die Götter versetzt, einen durch die Tatkraft seines Vaters befriedeten Erdkreis regiere. Da als ein Gott schon in Ekloge 1 Oktavian bezeichnet wird, ohne dass sein Name fällt, und da Vergil in der Rolle des Hirtendichters den Imperator in Ekloge 8 hymnisch apostrophiert, aber wieder nicht beim Namen nennt (V. 6–13),24 liegt es nahe, diesen auch mit _____________   20 21 22 23 24

„Tragt etwas vor, da wir uns ja in das weiche Gras gesetzt haben und jetzt jeder Acker, jetzt jeder Baum dabei ist, Früchte hervorzubringen, jetzt die Wälder grünen, jetzt das Jahr am schönsten ist.“ „Die ihr Blumen pflückt und am Boden wachsende Erdbeeren – ihr Jungs, eine eiskalte Schlange (flieht von hier!) ist im Gras versteckt.“ Vgl. zu dem Problem zuletzt: Karakasis, Evangelos: Song Exchange in Roman Pastoral. Berlin, New York 2011, S. 117–119. Vgl. Vergilius Maro, P.: Bucolica. Hirtengedichte. Studienausgabe. Lateinisch – deutsch. Übersetzung, Anmerkungen, interpretierender Kommentar und Nachwort v. Michael von Albrecht. Stuttgart 2001, S. 33, Anm. 6. Holzberg: Vergil, S. 21f.

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dem anonymen Knaben in Ekloge 4 zu identifizieren. Aber ist das denkbar, wo doch nicht von einem ‚iuvenis‘ wie in Ekloge 1 (V. 42), sondern von einem ‚puer‘ die Rede ist und die Weissagung der Parzen den Beginn des Goldenen Zeitalters auf 40 v. Chr. datiert? Nun, der Sprecher von Ekloge 4 blickt ja auf dieses Jahr zurück, da das Gedichtbuch erst bald nach 35 v. Chr. veröffentlicht wurde. Also kann er auch den Gesang der Parzen aus der Retrospektive zitieren, als bereits länger verkündete Prophezeiung – genau das tut er, wie ich meine –, und dann spricht nichts dagegen, dass er mit dem Geburtsjahr des Knaben 63 v. Chr. das Jahr meint, in dem Oktavian zur Welt kam.25 Dieser wurde in dem Jahr 40 v. Chr., für das die Parzen den Anfang des Goldenen Zeitalters ankündigten, dreiundzwanzig, und im Herbst ebendieses Jahres hatte er nach einem Zerwürfnis mit Mark Anton in Brundisium den erwähnten Vertrag geschlossen, der bei den Römern vielleicht Hoffnung weckte, es werde zu keinem Bürgerkrieg zwischen den beiden und ihren jeweiligen Anhängern kommen. Das Goldene Zeitalter begann zwar laut der vierten Ekloge 40 v. Chr., also im Jahr des Vertrags, aber es wird, wie wir in V. 37ff. lesen, erst dann ein richtiges Paradies auf Erden bescheren, wenn der Knabe, der über die Erde herrschen soll, zum Mann (‚vir‘) geworden ist; daraus darf man folgern, dass Vergil eine glückliche Zukunft Roms allein von Oktavian erwartet. Als einen richtigen ‚vir‘ wird er vermutlich nicht einen Dreiundzwanzigjährigen betrachten, und tatsächlich lässt er den Imperator erst in der Aeneis, an der er wohl um 29 v. Chr. zu arbeiten begann und die um 18 v. Chr. erschien, als einen ‚vir‘ bezeichnen. Anchises sagt dort zu Aeneas im Elysium, während den beiden die Schau künftiger Helden Roms zuteil wird (6, V. 791-793): hic vir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, Augustus Caesar, divi genus, aurea condet saecula qui rursus Latio… 26

Die in Ekloge 4 gegebene Beschreibung des Goldenen Zeitalters stimmt nur in wenigen Punkten mit dem überein, was uns in anderen antiken Texten, etwa in einem berühmten Abschnitt der Metamorphosen Ovids (1, 89–112),27 erzählt wird. Lediglich darin, dass Frieden herrscht (V. 17), es keine Schifffahrt gibt und der Acker alles hervorbringt, ohne vorher bearbeitet zu werden (V. 38–41), erinnert Vergils Bild an das anderer Autoren. _____________   25 26 27

So erstmals Binder, Gerhard: „Lied der Parzen zur Geburt Octavians. Vergils vierte Ekloge“. In: Gymnasium 90 (1983), S. 102–122; vgl. auch Holzberg: Vergil, S. 47–51. „Dies ist der Mann, dies ist er, der dir, wie du öfter hörst, verheißen wird, Augustus Caesar, eines Gottes Sohn, der das Goldene Zeitalter von neuem für Latium stiften wird…“. Der lateinische Text ist zitiert nach Vergilius Maro: Opera. Zitiert nach: Ovidius Naso, P.: Metamorphoses. Hg. v. William Anderson. Leipzig 1985.

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Und nur diese drei Punkte entsprechen Wünschen, wie sie jeder Mensch hegen könnte, während alles andere, was wir über die prophezeite Dauerglückseligkeit lesen, doch wohl nur von antiken Hirten, also auch von den in Eklogenland lebenden, erträumt worden sein dürfte: Beispielsweise Ziegen, die ihre milchstrotzenden Euter heimtragen (V. 21f.), oder Wolle, die keine Färbung benötigt, da diese sich von selbst auf den Schaffellen zeigt (V. 42–45). Aber was soll nun dieses Hirten-Utopia? Ich finde, als bukolisches Schlaraffenland, das die in den übrigen Gedichten gezeichnete Idylle erheblich übersteigert, wirkt es etwas komisch. Deshalb halte ich es für wahrscheinlich, dass Vergil hier, wie kurz aufzuzeigen ist, eine Art Versteckspiel treibt. Er dürfte in der Mitte der dreißiger Jahre, wie man bereits aus der programmatischen Ekloge 1 erschließen kann, durch die politische Lage irritiert sein. Wenn dies zutrifft – und das nehme ich an –, fällt es ihm wohl nicht leicht, das Goldene Zeitalter, das sich jeder Römer für seinen von Bürgerkriegen seit Langem immer wieder heimgesuchten Staat wünschen würde, in der traditionellen Weise zu schildern. Andererseits möchte er seine auf Oktavian gesetzten Hoffnungen zum Ausdruck bringen. Aber indem er nun vor allem eine bessere Zukunft speziell für Eklogenland, das die von der großen Politik bewusst schweigende ,kleine‘ Poesie repräsentiert, voraussagen lässt, wirkt seine Darbietung des Parzenliedes nicht so pathetisch und ernst, wie ein explizites Bekenntnis zu Oktavian als dem zu erwartenden Friedensherrscher es sein müsste. Vergil spricht ja als Hirtendichter, der in den Kategorien eines kleinen Hirten denkt, und das verleiht seiner indirekten Verherrlichung eines großen Imperators etwas Spielerisch-Unverbindliches, was ihm wiederum erlaubt, sich hinter seinem Text zu verstecken. Meine Interpretation sehe ich darin bestätigt, dass die poetische Persona des Horaz, die in den ersten elf Monaten nach der Schlacht bei Aktium immer noch sichtlich verunsichert war, dies in einer Reaktion auf Vergils Ekloge 4 artikuliert. Dort steht in V. 4: „ultima Cumaei venit iam carminis aetas“,28 und dazu bemerkt der Ich-Sprecher in V. 1 von Horazens Epode 16,29 einem Gedicht, welches das von manchem Römer offenbar mit Bangen beobachtete Interim zwischen Oktavians Sieg über Mark Anton und Kleopatra am 2. September 31 v. Chr. und Oktavians Einmarsch in Kleopatras Hauptstadt Alexandria am 1. August 30 v. Chr. voraussetzt:30 „Altera iam teritur bellis civilibus aetas.“31 Horazens IchSprecher sagt also implizit – durch das ,Zitat‘ von ‚iam‘ und ‚aetas‘ stellt er _____________   28 29 30 31

„Das letzte Zeitalter des sibyllinischen Liedes ist schon gekommen.“ Zitiert nach: Horatius Flaccus, Q.: Opera. Hg. v. Fridericus Klingner. Leipzig 1982. Holzberg, Niklas: Horaz. Dichter und Werk. München 2009, S. 21f. „Schon das zweite Zeitalter wird durch Bürgerkriege aufgerieben.“

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den intertextuellen Bezug her –, dass die Prophezeiung des ‚letzten‘, den ewigen Frieden bringenden Zeitalters in Ekloge 4 noch nicht eingetroffen sei, und vielleicht will er damit andeuten, er habe gespürt, dass Vergil bereits rund fünf Jahre vorher auch nicht so recht wusste, ob Oktavian den Römern wirklich ab dem Jahre 40 v. Chr. das endgültige Ende der Bürgerkriege und ein neues Zeitalter des Friedens bringen werde.32 In Ekloge 4 muss, wenn die Gleichsetzung von ‚puer‘ und Oktavian zutrifft, mit dem Vater, der den von dem Knaben einst zu regierenden Erdkreis befriedet, Oktavians Adoptivvater Caesar gemeint sein. Ist es so, dann findet meine These, auch Ekloge 4 sei aus politischer Verunsicherung heraus geschrieben, eine weitere Bestätigung in der nachfolgenden Ekloge 5. Denn dort ist, wie die communis opinio annimmt, implizit vom Tod Caesars und seiner Apotheose die Rede. Vordergründig geht es um den Hirten Daphnis, in dem die antike Hirtendichtung den Sohn Merkurs und einer Nymphe sah. Zunächst schildert der Hirte Mopsus in einem Lied, wie über das Dahinscheiden des Halbgottes Götter, Menschen und Tiere trauern, und danach hören wir von Menalcas, dass nach der Aufnahme des Daphnis in den Götterhimmel Tierfriede geherrscht habe und außer Pan, den Hirten und Dryaden sogar Bergwälder, Felsen und Büsche ihre Freude über die Apotheose bekundet hätten; danach verheißt für die Zukunft Menalcas kultische Handlungen zur Verehrung des Daphnis.33 Caesar, an den die Zeitgenossen bei Lektüre der fünften Ekloge unwillkürlich gedacht haben dürften,34 wurde nach seiner Ermordung am 15.3.44 v. Chr. im Juli desselben Jahres angeblich mehrfach als Komet am Himmel gesichtet und seit 43 v. Chr. als Gott verehrt.35 Direkt an die Prophezeiung eines Goldenen Zeitalters schließt sich also ein Text an, der den Blick des Lesers zurücklenkt auf die Iden des März als ein Ereignis, das den gerade von Caesar beendeten Bürgerkrieg erneut aufflammen ließ, und dies kann die freudige Stimmung des Menalcas-Liedes, die auf die traurige des Mopsus-Liedes folgt, durchaus dämpfen. Denn die Erinne_____________   32 33

34 35

Mehr dazu: Holzberg: Horaz, S. 110ff. In meinem Vergil-Buch ist mir in diesem Zusammenhang ein ärgerliches Versehen unterlaufen: Anders als auf S. 75 gerieten mir auf S. 80 die beiden Sänger durcheinander, was dann auch keiner meiner Korrektoren bemerkte. Statt Z. 11–18 „Das gilt…anknüpft“ lese man: „Das gilt ebenso für den Menalcas der Ekloge 5. Nachdem hier der Hirt Mopsus, der jünger ist als er, in enger Anknüpfung an die Theokritische Tradition ein Lied über die Klage um Daphnis vorgetragen hat, singt Menalcas von der Apotheose dieses Hirten. Damit demonstriert er, wie gut Bukolik sich als Gefäß für die Anspielung auf Tagesereignisse eignet, in diesem Falle die Vergöttlichung Caesars. Wieder repräsentiert Menalcas also den Bukoliker Vergil.“ Zu verbessern ist auch S. 45 Z. 8 „Muse“ in „Muße“ und S. 74 Z. 14 „einen kostbaren“ in „zwei kostbare“. Vgl. Holzberg: Vergil, S. 78, 80. Vergil: Eclogues, S. 173.

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rung an den Tod des ,Vaters‘ mochte Vergils Publikum um 35 v. Chr. bewusst machen, dass noch ganz unklar war, wohin es mit dem ,Sohn‘ gehen werde. Die letzte der vier Eklogen Vergils, in denen römische Realität in das imaginäre Reich der ,kleinen‘ Poesie hineingenommen wird, ist Nr. 9.36 Sie fungiert als vorläufiger Abschluss des Buches, da das in Ekloge 1 zur Sprache gebrachte Thema der Landkonfiszierung wieder aufgegriffen wird und Ekloge 10 mit einem Gattungsdialog zwischen Bukolik und Elegie, der hier anhand einer Begegnung des Cornelius Gallus mit der Hirtenwelt geführt wird, eine Art Koda bildet. Ekloge 9 ist also fast so exponiert wie ihr Pendant, Ekloge 1, und das verleiht dem Problem, mit dem sich beide Texte auseinandersetzen, besondere Bedeutung. Vergleicht man sie miteinander, sieht man, dass die existentielle Verunsicherung, die im ganzen Eklogenbuch von dem Programmgedicht an bei den Hirten und Vergil in der Rolle des über sie schreibenden Hirtendichters mehrfach erkennbar ist, sich zur Hoffnungslosigkeit gesteigert hat. Denn während in Ekloge 1 dem enteigneten Hirten Meliboeus der in seinem Grund und Boden nicht geschmälerte Hirt Tityrus gegenübergestellt und so ein gewisser Ausgleich geschaffen wird, fehlt ein solcher in Ekloge 9. Sie beginnt damit, dass Moeris auf die Frage des Lycidas, wohin er unterwegs sei, erwidert, er müsse dem Eigentümer seines Äckerchens Ziegenböcke bringen. Außerdem erfahren wir von ihm, der Hirt Menalcas habe nicht, wie Lycidas gehört haben will, durch seine Lieder allen Besitz der Hirten retten können. Und das begründet er so (V. 11–13): carmina tantum nostra valent, Lycida, tela inter Martia quantum Chaonias dicunt Aquila veniente columbas.37

Wie im Binnenprolog das Singen über Könige und Schlachten mit dem Weiden von Schafen kontrastiert wird (6, V. 3–5), so treten hier die Waffen des Mars in einen Gegensatz zu den Liedern der Hirten. Aber jetzt erscheint kriegerische Gewalt nicht etwa nur als mögliches Thema für die ‚carmina‘, das zugunsten der ,kleinen‘ Poesie ausgeblendet werden muss, sondern als zerstörerische Macht, welcher der Hirtengesang nicht gewachsen ist. Dieser vermag daher nicht mehr mit voller Kraft zu tönen, so dass wir anstatt der Lieder, die in den vorausgegangenen Eklogen erklangen, _____________   36

37

Dazu zuletzt: Rupprecht, Kai: „Warten auf Menalcas – Der Weg des Vergessens in Vergils neunter Ekloge“. In: Antike und Abendland 50 (2004), S. 36–61; Meban, David: „Virgil’s Eclogues and Social Memory“. In: American Journal of Philology 130 (2009), S. 99–130, dort S. 108–116; Karakasis: Song Exchange, S. 187–212. „Unsere Lieder, Lycidas, haben mitten zwischen den Waffen des Mars so viel Macht, wie – so sagt man – die chaonischen Tauben haben, wenn der Adler kommt.“

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nur noch Bruchstücke vernehmen. Es sind Ausschnitte aus Texten des mit seinen Liedern gegenüber den Vollstreckern der Konfiskationen machtlosen Hirten Menalcas, die jetzt nur noch zitiert werden. Sowohl Lycidas als auch Moeris, die die ,Fragmentarisierung‘ der Bukolik aus der Notlage heraus betreiben, lassen mehrfach erkennen, dass sie sogar Mühe haben, sich an die Texte zu erinnern. Moeris begründet seine Gedächtnisschwäche mit seinem Alter und dem Versagen seiner Stimme. Er singt also nicht wie Meliboeus nur deshalb keine Lieder mehr, weil man ihn von seinem Grund und Boden vertrieben hat, sondern auch aufgrund physischer Schwäche. Das alles sind für den Leser Signale für den unmittelbar bevorstehenden Schluss des ihm vorliegenden literarischen Werkes. Und dieser ist ja auch erreicht. Die ‚Geschichte‘ von Eklogenland ist zu Ende, es wird innerhalb eines Gedichtes kein Hirtengesang mehr zu hören sein, lediglich noch die Liebesklage des befreundeten Dichters Cornelius Gallus (10, V. 31–69). Nachdem Vergil sie wiedergegeben hat, erhebt er, der jetzt noch kurz verrät, dass er in der Rolle eines Hirten zu uns sprach (V. 71), sich aus dem Schatten, indem er offenbar ebenso saß wie zu Beginn der ersten Ekloge der singende und flötende Hirt Tityrus, und fordert seine gesättigten Ziegen auf, jetzt, wo der Abendstern komme, nach Hause zu gehen. Es dürfte durch meine Ausführungen deutlich geworden sein, dass Eklogenland nicht als die idyllische Wunschwelt betrachtet werden kann, als die Bruno Snell sie in seinem berühmten Aufsatz heraufbeschwor. Die Idylle eines Reiches der Poesie, das uns die Bucolica stattdessen vor Augen stellen, ist keineswegs frei ist von Störungen; diese verursacht das Eindringen des realen Römischen Reiches in das fiktive Reich der Poesie, und es verunsichert den Dichter sowie die in seinem Werk auftretenden Personen. Aber auch ohne eine Wunschwelt zu präsentieren, hat Vergils kleines Gedichtbuch eine enorme Wirkung ausgeübt, und das speziell auf neuzeitliche Literatur, die Idyllen kreierte, wie der römische Autor sie noch nicht kennt. Man kann sogar generell mit Richard Jenkyns sagen: „The Eclogues form probably the most influential group of short poems ever written.“38 Und wenn Bruno Snells Interpretation des erfolgreichen Gedichtbuches auch zweifellos verfehlt ist, so war doch auch sie sehr einflussreich. Kaum etwas, das ein Altphilologe schrieb, hat ein so blühendes Nachleben entwickelt wie Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft.39 _____________   38 39

Jenkyns: „Virgil“, S. 26. Der Aufsatz ist das Resultat einer neuen Auseinandersetzung mit den ausgesprochen schwierigen Eklogen, nachdem ich sie erstmals vor sieben Jahren in meinem Vergil-Buch zu interpretieren versucht habe. Während ich damals den Dichter in seiner Haltung

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Literaturverzeichnis Binder, Gerhard: „Lied der Parzen zur Geburt Octavians. Vergils vierte Ekloge“. In: Gymnasium 90 (1983), S. 102–122. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 21977. Breed, Brian W.: Pastoral Inscriptions, Reading and Writing in Virgil’s ,Eclogues‘. London 2006. Flintoff, Everard: „The Setting of Virgil’s Eclogues“. In: Latomus 33 (1974), S. 814–846. Grosz, George: „George Grosz an Erwin Piscator, 28.5.1945“. In: Ders.: Briefe 1913– 1959. Hg. v. Herbert Knust. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 352. Holzberg, Niklas: Horaz. Dichter und Werk. München 2009. Holzberg, Niklas: Vergil. Der Dichter und sein Werk. München 2006. Horatius Flaccus, Q.: Opera. Hg. v. Fridericus Klingner. Leipzig 1982. Jenkyns, Richard: „Virgil and Arcadia“. In: The Journal of Roman Studies 79 (1989), S. 26–39. Jones, Frederick: Virgil’s Garden: The Nature of Bucolic Space. London 2011. Karakasis, Evangelos: Song Exchange in Roman Pastoral. Berlin, New York 2011. Kennedy, Duncan F.: „Arcades ambo: Virgil, Gallus and Arcadia“. In: Hermathena 143 (1987), S. 47–59. Konrad, Falko: Arkadien, der Traum von der Harmonie, von der wahrhaften Auflösung des Widerstreites, 2009. URL: http://arcadiadertraum.blogspot.de /2009/10/der-arkadischetraum-vom-idealisierten.html (Stand: 20.10.2012). Leuschner, Udo: „Arkadien. Der Traum vom irdischen Paradies – Wie die Schäferidylle die christliche Religion über zwei Jahrtausende begleitete“, 2000. URL: http://www.udo-leuschner.de/sehn-sucht/sehn-sucht/s04arkadien.htm (Stand: 20.10.2012). Meban, David: „Virgil’s Eclogues and Social Memory“. In: American Journal of Philology 130 (2009), 99–130. Ovidius Naso, P.: Metamorphoses. Hg. v. William Anderson. Leipzig 1985. Pietzcker, Carl: Die Landschaft in Vergils Bukolika. Diss. Freiburg i.Br. 1965. Rupprecht, Kai: „Warten auf Menalcas – Der Weg des Vergessens in Vergils neunter Ekloge“. In: Antike und Abendland 50 (2004), S. 36–61. Schmidt, Ernst A.: Bukolische Leidenschaft. Frankfurt a.M. 1987, S. 239–264. Schmidt, Ernst A.: „Bukolik und Utopie. Zur Frage nach dem Utopischen in der antiken Hirtenpoesie“. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 2. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Frankfurt a. M. 1985, S. 21–36. Schmidt, Ernst A.: „Arkadien: Abendland und Antike“. In: Antike und Abendland 21 (1975), S. 36–57. Schmidt, Ernst A.: Poetische Reflexion. Vergils Bukolik. München 1972. Snell, Bruno: „Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft“. In: Antike und Abendland 1 (1945), S. 26–31. Wiederabdruck in: Snell, Bruno: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Göttingen 51980, S. 257–274.

_____________   gegenüber Oktavian noch sehr optimistisch einschätzte, glaube ich inzwischen, wie ich jetzt aufzeige, Unsicherheit angesichts der politischen Lage zu sehen. – Für die Durchsicht des Aufsatzes danke ich Regina Höschele.

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Suerbaum, Werner: „Die Goldene Zeit bei Vergil. Die Historisierung des Paradieses“. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 83 (2008), S. 39–61. Vergil: Eclogues. Hg. v. Robert Coleman. Cambridge 1977. Vergilius Maro, P.: Bucolica. Hirtengedichte. Studienausgabe. Lateinisch – deutsch. Übersetzung, Anmerkungen, interpretierender Kommentar und Nachwort v. Michael von Albrecht. Stuttgart 2001. Vergilius Maro, P.: Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit R. A. B. Mynors. Oxford 1969. Witek, Franz: Vergils Landschaften. Versuch einer Typologie literarischer Landschaft. Hildesheim 2006.

 

Verkehrte Welt in Arkadien? Paradoxe Diskurse im schäferlichen Gewande KLAUS GARBER ‚Verkehrte Welt in Arkadien?‘ – Streicht man das Fragezeichen, formuliert man den nachgefragten Sachverhalt als faktologischen, ließe sich schwerlich ein pointierteres Paradoxon in den Kulturwissenschaften ausmachen. ‚Arkadien‘ ist wie sonst nur die aetas aurea Chiffre für unverstelltes und unverschandeltes, gerechtes und glückliches Leben, dabei gegenüber dem ‚Goldenen Zeitalter‘ mit dem Vorzug ausgestattet, die jüngere, geschichtlich gesättigtere, kulturelle Befindlichkeit und Zukünftigkeit signalisierende Kategorie zu sein. Was in aller Welt mag dazu ermutigen, apriori Inkompatibles zusammenzuzwingen? Oder lässt sich womöglich aus dem Paradoxon doch Sinn herausspinnen?1

I. Die Frühe Neuzeit in der Optik von Krisen Ein Wort vorweg von dem Frühneuzeitler. Der Topos der ‚Verkehrten Welt‘ gelangt geschichtlich überhaupt erst in der Frühen Neuzeit zur vollen literarischen Entfaltung – und das infolge von Krisen, Umbrüchen und geschichtlichen Verwerfungen so ungeheuren Ausmaßes, dass große Literatur davon nicht nur nicht unberührt bleiben kann, sondern eigene Konzepte einer Antwort entwickeln muss, zu denen eben auch der Topos ‚verkehrte Welt‘ gehört, in der Antike ausgebildet und nun in der Frühen Neuzeit seine volle Virulenz entfaltend. _____________   1

Zum Topos ‚Verkehrte Welt‘ vgl. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern ²1954, S. 104ff. Reiches Material bei Hocke, Gustav René: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Beiträge zur vergleichenden europäischen Literaturgeschichte. Reinbek bei Hamburg 1959. Es wird sogleich deutlich werden, dass wir den Topos selbst metaphorisch verwenden, ihn also nicht einschränken auf die ‚topologischen‘ Wendungen.

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Das 16. Jahrhundert ist eines der Krise, wie es sie in der nachantiken Geschichte in diesen Dimensionen nicht gegeben hat. Es ist von Erschütterungen gezeichnet, für die es offenkundig in der jüngeren Geschichte nur eine Parallele gibt, nämlich in dem jüngst vergangenen 20. Jahrhundert, das von mehr als einem berufenen Historiker als ‚KatastrophenJahrhundert‘ tituliert worden ist. Bleiben wir beim 16. Jahrhundert. Natürlich lassen sich immer ‚Vorboten‘ ausmachen und entsprechend Zeugen finden, die anders datieren und bewerten. Das Schisma zwischen Kaiser und Papst ist eine solche geschichtliche Konfiguration, die die Größten, ob einen Walther von der Vogelweide, einen Dante Alighieri oder einen Geoffrey Chaucer herausgefordert haben. Die Unterjochung des Landes, in dem die Moderne geboren ward, die Unterwerfung Italiens im Quattrocento durch die beiden mächtigsten nationalen Monarchien Spanien und Frankreich, anhebend im Schlüsseljahr 1494 und vorläufig gipfelnd in der sacco di Roma 1527, wäre ein zweites konkurrierendes. Schlüsselwerke wie die Arcadia Jacopo Sannazaros, die burleske Epik eines Matteo Maria Bioardo, von dem Einschlag in den bildenden Künsten, angefangen bei Michelangelo gar nicht zu reden, sind ohne diese Eckdaten von dramatischer Wucht überhaupt nicht denkbar.2 Und doch: Die Krise des 16. Jahrhunderts ist nochmals von anderer Qualität.3 Und das alleine schon aufgrund ihrer longue durée. Sie ist kein Ereignis mehr, sondern ein Umpflügen aller Grundlagen des Lebens, in dessen Folge die Welt zwangsläufig anders aussieht. Wir deuten in ein paar Sätzen diese Zusammenhänge an, weil sie sogleich auch in unsere Betrachtung hineinspielen werden. Mit der Spaltung der Christenheit, der Konfessionalisierung Europas, der Statuierung von divergenten Glaubensbekenntnissen unter jeweils wechselseitigem Ausschluss der anderen und ihrer vielfachen Verteufelung als Erscheinungsformen und Ausgeburten _____________   2

3

Zum Übergang vom Quattro- zum Cinquecento und damit den Wende- und Krisenjahren zwischen 1480 und 1530 vgl. etwa Cardini, Franco: La crisi del sistema comunale. Mailand 1982. Die Konsequenzen für eine Interpretation der literarischen Dokumente des Zeitraums – etwa der Arcadia Sannazaros – sind bislang, so weit zu sehen, noch nicht gezogen. Der apokalyptische Prospekt um 1500 wird auf der Basis reichster (und vielfach erschreckender) Quellen bezeichnenderweise meisterhaft entfaltet von einem Outsider der Zunft: Peuckert, Will-Erich: Die große Wende. Bd. I-II. Bd. I: Das apokalyptische Saeculum und Luther. Bd. II: Geistesgeschichte und Volkskunde. Hamburg 1948. Paperback-Edition. Darmstadt 1966. Einschlägig ist der erste Band. Zum Kontext vgl. das berühmte Werk von Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1985. Eine aus den reichen alltagsweltlichen Quellen schöpfende Geschichte des 16. Jahrhunderts ‚von unten‘, wo sich die täglichen Kämpfe um den rechten Glauben abspielten und die Zerwürfnisse am eklatantesten manifest wurden, fehlt bislang.

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des in der Johannis-Apokalypse geweissagten Antichristen, wurden die mentalen Glaubensgewissheiten unrevidierbar erschüttert und die mit ihnen verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen je länger, desto deutlicher als religiös kaschierte und maskierte politische Machtkämpfe diagnostiziert. Die Werke von Repräsentanten der Weltliteratur, heißen sie nun Miguel de Cervantes oder Baltasar Gracián, François Rabelais oder Michel de Montaigne, William Shakespeare oder Edmund Spenser, Johann Fischart oder (später) Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, sind ohne Referenz auf diese welthistorischen Erschütterungen schlechterdings unverständlich.4 Schon in den sechziger und siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts zeichnen sich theologisch wie politiktheoretisch jedoch bereits Lösungsversuche ab, die unabweislich in die Moderne führen – dort in einer Erkundung der einfachen apriorischen Prinzipien des christlichen Glaubens jenseits der konfessionellen Barrieren, hier in der Erkundung der einfachen apriorischen Prinzipien des weltanschaulich und religiös neutralen Staates. Sei für den theologischen Part der Name Jakob Böhme erwähnt, für den etatistischen Jean Bodin, so dürfte sich zumindest andeutungsweise erhellen, was mit den Kürzeln gemeint ist.5 Entscheidend ist nun, um den Übergang zur ‚arkadischen‘ Betrachtung zu gewinnen, dass die theologische wie die politiktheoretische Lösung machtpolitisch überspielt wird von der Ausformung der modernen Monarchien im 17. Jahrhundert, unter deren Schutz und Schirm und nicht selten in engster Liaison mit den jeweiligen Konfessionen soziale und mentale Verwerfungen wiederum von drastischen Dimensionen sich ausbilden, die alleine die Macht und Durchschlagskraft der Gegenbewegungen verständlich machen, wie sie noch im 17. Jahrhundert einsetzen und sodann im 18. Jahrhundert kulminieren. In der Auseinandersetzung der Aufklärung mit dem tief in das 18. Jahrhundert hineinreichenden Barock mag man diesen geschichtlichen Antagonismus kategorial und epochen_____________   4 5

Das große Buch zur europäischen Literatur als Seismograph der Krise um 1600 fehlt gleichfalls bislang, so weit zu sehen. Drei Hinweise auf magistrale Werke, die in der Internetflut zu verschwinden drohen: Heer, Friedrich: Die dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters. Frankfurt a.M. 1959, dazu Garber, Klaus: „Wege in die Zukunft. Friedrich Heers ‚Die dritte Kraft‘ als europäisches Vermächtnis“. In: Die geistige Welt des Friedrich Heer. Hg. v. Richard Faber u. Sigurd Paul Scheichl. Wien u.a. 2008, S. 107–128; Lecler, Joseph S. J.: Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation. Band I–II. Stuttgart 1965, französische Originalausgabe: Histoire de la tolérance au siècle de la réforme. Vol. I–II. Paris 1955; Evans, Robert J. W.: Rudolf II and His World. A Study in Intellectual History 1576–1612. Oxford 1973, deutsche Version unter dem Titel: Rudolf II. Ohnmacht und Einsamkeit. Graz 1980.

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nomenklatorisch indiziert sehen. Wir erwähnen ihn, weil er in die folgende Betrachtung hineinspielt. Der Renaissance bzw. dem Humanismus und zumal dem Späthumanismus, dem Barock und der Aufklärung als den Makroepochen der Frühen Neuzeit entnehmen wir unsere Beispiele für die nun zu eröffnende Synchronisierung von ‚arkadischer‘ und ‚verkehrter‘ Welt, dieser aberwitzigen Kontamination.6

II. Stände-Poetik Zu beginnen ist mit einer gattungstheoretischen bzw. poetologischen Erwägung, welche hinauslaufen soll auf eine Erhebung der Metapher von der ‚verkehrten Welt‘ in eine Metapher zweiter Potenz, eine MetaMetapher, und das anlässlich ihrer Implantation in die Schlüssel-Gattung Arkadiens. Als eine solche nämlich hat die Schäferdichtung als das eigentliche literarische Substrat bzw. gattungsgeschichtliche Paradigma der Arkadien-Utopie seit Vergil zu gelten. Ihre Bestimmung in der Poetologie nicht anders als die mit ihr in der Praxis zur Geltung gelangenden strategischen Verfahrensweisen gehorchen metaphorisch gesprochen dem Topos ‚verkehrte Welt‘ im gattungstheoretischen Haushalt Alteuropas, der ein nach Hierarchien strukturierter ist. Verankert ist er in der Stillehre, wie ihn Rhetorik und Poetik gleichermaßen traktieren. Hier wie dort wird die sogenannte Dreistillehre abgehandelt. Sie geht schon auf die VergilKommentatoren des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts zurück und rekurriert durchgängig auf das Werk des römischen Dichters.7 Demnach begründen die drei Hauptwerke Vergils drei Schreibstile, an denen die Ranghöhe der Gattungen haftet. Sein Frühwerk, die Hirtengedichte oder Eklogen, repräsentieren den niederen Stiltyp, in der Fachterminologie der Poetologen stilus humilis genannt. Das zeitlich in der Mitte seines Schaffens angesiedelte Werk, seine Lehrdichtung vom Landbau, die Georgica, prägt eine mittlere Stilhöhe aus, den stilus tenuis, und sein reifes Meisterwerk, das Epos Aeneis, verkörpert den hohen Stil, den stilus grande. Gemäß dieser Stil-Trias, angelehnt an und abgeleitet aus der Werk-Trias _____________   6

7

Zu diesen epochalen Problemen vgl. die einschlägigen Beiträge in: Garber, Klaus: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. München 2009; ders.: „Sub Specie Theatri. Ein weiter Blick aus dem Abstand auf das europäische Theater der Frühen Neuzeit“. In: Europäische Schauplätze des frühneuzeitlichen Theaters. Normierungskräfte und regionale Diversität. Hg. v. Christel Meier u. Angelika Kemper. Münster 2011, S. 25–41. Zum Folgenden vgl. Behrens, Irene: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle/Saale 1940; Quadlbauer, Franz: Die antike Theorie der genera dicendi im lateinischen Mittelalter. Wien 1963.

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Vergils, ist die europäische Literatur bis in das 18. Jahrhundert hinein, genauer bis zur Empfindsamkeit, rubriziert und schematisiert gewesen. Das ist ein weitreichendes Thema, nicht zuletzt im Blick auf nachantike Gattungen wie die Oper oder den Roman. Wir dürfen an dieser Stelle nur den einen thematisch relevanten Aspekt berühren.

III. ‚Verkehrte Welt‘ poetologisch Hirtendichtung als Trägerin auch der arkadischen Glücks-Chiffren ist nicht eine, sondern pronociert und paradigmatisch die eigentliche Repräsentantin der niederen Stilform und steht als solche vielfach stellvertretend für andere literarische Formen auf der rangtiefen Ebene in der Gattungshierarchie. Diese Platzierung verkehrt sich jedoch in praxi und alsbald auch in den theoretischen Verlautbarungen vor allem von Seiten der Hirten-Dichter selbst in ihr genaues Gegenteil. Der alteuropäischen Gattungstypologie ist ein Konstruktionsmechanismus inhärent, der nach den Prinzipien des Topos der ‚verkehrten Welt‘ funktioniert, demzufolge das Unterste zuoberst und das Oberste zuunterst gekehrt wird. Eine metaphorische Implantation der Figur der ‚verkehrten Welt‘ in den poetologischen Diskurs hat statt; und das ausschließlich im Blick auf die Hirtendichtung – über die Epochengrenzen hinweg bis in das 18. Jahrhundert hinein, ja in einem Akt der Transformation noch über die weltliterarische Zäsur der Empfindsamkeit hinweg, da die Schäferdichtung zur Idylle mutiert.8 Einige wenige Bemerkungen zu diesem poetologischen RochadeVerfahren – einem der spektakulärsten der alteuropäischen Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte – müssen hinreichen. Vergil weissagt in seinen Hirtengedichten ein zukünftiges Reich des Friedens, das nach den Bürgerkriegen unter Augustus heraufziehen wird und in der Lebensform der Hirten antizipiert erscheint. In nuce wird in Vergils Hirtendichtung vorweggenommen, was sein dichterisches Hauptwerk, das genus grande, das Epos Aeneis, zum poetischen Vorwurf erheben wird, nämlich das Heranwachsen Roms zu einer beherrschenden Weltmacht, kulminierend in der Friedensherrschaft des Augustus, verschwistert mit dem Versprechen, die Welt als Ganze zu befrieden. Poetologisch gesprochen heißt dies, dass die niedere Gattung der Hirtendichtung ihrerseits Themen von epischer Dignität umspielt, die nach poetologischer Kodifikation in das Fach der _____________   8

Garber, Klaus: „Bukolik“. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. A–G. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 31997, S. 287–291.

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hohen Gattung gehören. Ja, mehr noch: Der Hirtendichtung ist es gegeben, im unschuldigen, friedfertigen, die Natur verehrenden Leben der Hirten Züge und Ingredienzien symbolisch zu verkörpern, die eines womöglich gar nicht fernen Tages – für Vergil verknüpfen sie sich mit dem Antritt der Herrschaft des Augustus – zu Maximen einer befriedeten Weltordnung avancieren sollen.9 Die Hirtendichtung als niederste Gattung ist ein Widergänger des Epos, eine komplementäre Spielart der höchsten Form der Dichtung, ja, das literarische Votieren Alteuropas erfüllt sich überhaupt erst im Miteinander von Schäfer- und Heldendichtung. Die niederste Figur des Hirten steht gleichberechtigt neben der höchsten des Heroen. Der heroische Impetus des genus grande wird gespeist von den arkadischen Energien der Hirtendichtung. Die niederste Gattung bildet den geschichtsphilosophisch teleologischen Kompass für die höchste. Von dieser Paradoxie, der poetisch ‚verkehrten Welt‘, hat die Hirtendichtung Alteuropas ebenso gelebt wie die poetologische Theorie. Sie alleine ist verantwortlich dafür, dass sich alle Großen der Weltliteratur der Hirtendichtung verschrieben und dem ihr inhärenten Arkadien-Mythos eine jeweilig nur geschichtsphilosophisch zu entziffernde Note verliehen haben. Eben deshalb ist mit der Geschichte der europäischen ArkadienUtopie durchaus eine perspektivisch verkürzte Geschichte der alteuropäischen Literatur am Beispiel ihrer prominentesten literarischen Verkehrsform, der Hirtendichtung, zu schreiben.

IV. Hirte und Dichter Weil jeder von Hirten formulierte Satz ein uneigentlicher ist und Hirtendichtung als paradoxale Literaturform per se allegorisches Rollensprechen meint, ist alles in ihr möglich und nicht zuletzt die Umkehrung des in der Welt Beglaubigten, also die Verkehrung der Welten. Und eben dies soll nun an einigen Beispielen gezeigt werden. Sie sind so gewählt, dass eine möglichst weite semantische Bogenspannung erkennbar wird. Ausgehoben sind sie aus der deutschen Literatur, um nicht ins Uferlose zu gelangen. Zunächst jedoch zu einem ständisch-stratifikatorischen Paradigma. Vergil – und in gewisser Weise schon Theokrit mit seinem siebten Idyll _____________   9

Die einschlägige Literatur bei Albrecht, Michael von: Vergil. Bucolica – Georgica – Aeneis. Eine Einführung. Heidelberg 2006. Ein einziger Verweis: Klingner, Friedrich: „Virgil und die geschichtliche Welt“. In: Ders.: Römische Geisteswelt. Hamburg, München 41961, S. 293–311.

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Thalysia – hat die verklausulierte Annäherung der Gestalt des Hirten an die des Dichters eingeleitet. Das ist kein eins zu eins zu verrechnender Vorgang, sondern vielmehr eine virtuelle Überblendung zweier Lebensformen, einer literarisch und damit traditionsgeschichtlich präformierten, und einer keinesfalls individuellen, sondern im Mythos zumal über Apollo und Orpheus archetypisch aufgewerteten musisch-dichterischen.10 Diese Kreuzung hat in der europäischen Hirtendichtung die überraschendsten Effekte gezeitigt. Keine Gruppe, kein Stand hat sich den dieser Liaison eigenen Chancen kompetenter und raffinierter verschrieben als die Humanisten seit der Frührenaissance. Das beginnt schon mit Dante Alighieri und seinem poetisch-pastoralen Briefwechsel mit Giovanni di Virgilio, setzt sich fort in den großen Eklogen-Zyklen Francesco Petrarcas und Giovanni Boccaccios und begleitet seither die Geschichte der gleichermaßen lateinisch wie volkssprachig bukolisch votierenden Humanisten bis in das 18. Jahrhundert hinein. Eine Literaturgeschichte des europäischen Humanismus ist ohne permanenten Einbezug der Hirtendichtung, zumal in der Gestalt der Ekloge, nicht denkbar. Sie ist das Organon der poetologisch-standespolitischen Entwürfe der Humanisten gewesen. Und diese sind so geartet, dass sie sich versuchsweise durchaus auch einmal unter dem metaphorischen Titel der ‚verkehrten Welt‘ traktieren lassen.

V. Humanistische Exempel inmitten des 17. Jahrhunderts Das sei an einem Beispiel aus dem deutschen Humanismus gezeigt und zwar an einem aus dem 17. Jahrhundert. Die Literatur dieses Zeitraums ist entgegen landläufigen Vorstellungen als eine des Humanismus und nicht des Barock zu qualifizieren, setzt sie doch die lateinischen Vorgaben des älteren Humanismus in die Nationalsprache um, genauso wie dies zumeist bereits im 16. Jahrhundert in den Ländern ringsum geschehen ist. Der Begriff des ‚Barock‘ sollte für spezielle kulturelle Formationen vor allem im Umkreis von Hof und Kirche vorbehalten bleiben. Im gelehrten Milieu hat er nichts zu suchen. Entsprechend haben auch die deutschen Eklogen des 17. Jahrhunderts – die in Versen und die in prosimetrischer Anlage vom Typ der Opitz’schen Nymphe Hercinie – als ein typisches Produkt des _____________   10

Wiederum ein Hinweis: Schmidt, Ernst A.: Poetische Reflexion. Vergils Bukolik. München 1972. Die Konsequenzen werden eindrucksvoll entfaltet bei Buchheit, Vinzenz: Der Anspruch des Dichters in Vergils Georgika. Dichtertum und Heilsweg. Darmstadt 1972.

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deutschsprachigen Humanismus zu gelten und dies um des Paradoxons willen mitten im sogenannten Zeitalter des Barock. Zu den vornehmsten Merkmalen der humanistischen Hirten zählt, dass sie ihrem gelehrten, um nicht zu sagen ihrem professoralen Stand entsprechend nicht nur sanges- sondern vor allem auch diskussionsfreudig sind. Das gehört zu den apriorischen Paradoxien dieser allein von der Literatur lebenden und durch sie geadelten Geschöpfe, an denen zwei Jahrhunderte bürgerlicher Literaturwissenschaft ob solcher unnatürlichen Kreuzung Anstoß in Permanenz nahm, wurde Natur hier doch angeblich vergewaltigt, Natürlichkeit in Künstlichkeit überführt und eben dadurch verschandelt – ein anderes, hier nicht aufzumachendes Thema. Unter diesen gelehrten Hirten-Diskutanten gibt es eine Handvoll in Umlauf befindlicher Themen, die unentwegt abgewandelt und mit einer neuen eigenen Note versehen werden. Gelehrtes Schreiben im Humanismus und also auch in der Schäferdichtung ist ein ständiger Prozess des Umschreibens. Die intertextuelle Matrix ist so dicht wie in keiner anderen literarischen Epoche sonst. Einen Diskurs haben die Humanisten besonders geschätzt und in herausragender Weise zu ihrem eigenen gemacht. Er besitzt scharfsinnigen Charakter, eignet sich für paradoxe Ausformungen, nimmt Züge an, die ihn der Stilfigur der ‚verkehrten Welt‘ kompatibel machen, aber nun eben nicht ex negativo, sondern in futurisch-utopischer, eben arkadischer Perspektive.11

VI. De vera nobilitate im juristischen Milieu 1650 erscheint von dem rührigsten Schäferdichter, den das 17. Jahrhundert hervorgebracht hat, von dem aus Eger in Böhmen im Zuge der Gegenreformation geflohenen und nach Nürnberg verschlagenen Sigmund Betulius, dem späteren Sigmund von Birken, eine kleine Hochzeitsschrift zu Ehren eines Lüneburger Juristen, der zeitweilig ein Gönner des Mittellosen gewesen ist.12 Juristen waren die Produzenten der komplizierten _____________   11 12

Vgl. zuletzt Garber, Klaus: „‚De vera nobilitate‘. Zur Formation humanistischer Mentalität im Quattrocento“. In: Ders.: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit, S. 443–503. Birken, Sigmund von: Glükkwünschende Zuruffung auff den TrauungsTag des Edlen/ Vesten und Hochgelarten Herrn H. Joh. Friederich Friesendorff/ […]. Hamburg 1650. Das Werk, das sich in Birkens Handbibliothek befand, ist seit 1945 verschollen. Man muss auf die ‚Pegnesis‘Fassung ausweichen. Dort ist das Stück zusammengefügt mit einer weiteren zeitgleichen Ekloge Birkens: Schönheit=Lob auf ein Freudenreiches Eh= und Ehrenfest/ neben einem Glück=Zuruf gesungen und aus fremder Ferne übersendet von Falindor und Hylas/ zween Schäfern. Nürnberg/ bey Wolfgang Endtern/ dem ältern. M.DC.LI. Vgl. zum Einzelnen Stauffer, Hermann: Sigmund von Birken (1626–1681). Morphologie seines Werks. Band I–II. Tübingen

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Rechtsgebäude des Absolutismus und die stärkste Stütze von Ratsregimenten und fürstlichen Verwaltungen einschließlich des gesamten politischen Verkehrs im Innern wie vor allem nach außen hin. Sie waren die entscheidenden Sachwalter des Bestehenden, Garanten unverbrüchlicher Ordnung und, wenn es denn im Interesse der Obrigkeit lag, die gefragten und gut dotierten Lieferanten passender, den Auftraggebern entgegenkommender Gutachten. Der Stand genoss höchsten Respekt, trat er doch immer wieder als Repräsentant sanktionierter Herrschaft auf. So war es kein Zufall, dass Birken ausgerechnet diese einem Juristen zugedachte Hochzeits-Schäferei dazu auserkor, einen Diskurs anzuzetteln, dessen Fazit dazu angetan war, einen jeden Rechtskundigen in Harnisch zu versetzen. Nichts anderes und nicht weniger wurde schäferlichspielerisch probiert als gegenüber der etablierten Rechts- und Ständeordnung eine diametral entgegengesetzte in Stellung zu bringen, die Verhältnisse buchstäblich auf den Kopf zu stellen, verkehrte Welt vorsätzlich in provokativ-progressiver Absicht zu generieren. Der Schäfer Floridan, so der schäferliche Name Birkens in dem 1644 in Nürnberg gegründeten ‚Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz‘, versteigt sich – geschützt durch sein schäferliches Kostüm und also ermächtigt zu uneigentlicher Rede – im Gespräch mit seinen Mithirten dazu, an der bestehenden sozialen Pyramide mit dem Adel an der Spitze entschieden zu rütteln. Ein schlimmeres Sakrileg ist in den Ohren eines standesbewussten Juristen nicht denkbar. Der jugendliche Feuerkopf Birken, eben über zwanzig, erkühnt sich in zunehmend disputativer Rage zu dem ungeheuerlichen Gedanken, an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie sollten jene stehen, die sich am meisten durch Tugend und Verstand auszeichnen, keinesfalls aber automatisch jene, denen dieses Vorrecht von Geburt aus zukommt wie eben dem Hochadel. Wie sich das in dem Munde eines Hirten ausnimmt, der seine humanistischen Exerzitien erfolgreich absolviert hat? Dann wie solte der/ der durch behuf selbst=angemaster Tugend den Adel erwirbt/ nicht Edler zu achten seyn/ als der/ der ihn von seinen Ahnen empfangen/ und solchen allein zu erhalten und fortzusetzen sich bemühet? Welches solte wol schwerer seyn/ eine hohe Sache anfangen/ oder dieselbe also/ wie sie angefangen/ fortführen? etwas grosses erwerben/ oder erworbenes erhalten? ein ding erfinden/ oder zu dem erfundenen etwas hinzuthun? Zudem so unterscheidet uns ja alle miteinander/ nicht die Geburt/ sondern die Tugend. Nicht durch

_____________   2007, S. 100–102 (Nr. 53); vgl. auch: Martin Opitz. Studien zu Werk und Person. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Amsterdam 1982, S. 578ff. Dort erfolgt neben der Darlegung der Überlieferungsverhältnisse auch eine Interpretation der beiden Stücke durch den Verfasser.

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geboren werden/ sondern durch leben/ wird der Adel erlanget. Vor GOtt sind wir alle gleiches Herkommens/ und ist kein Mensch unedel/ wann er nicht seine Edle Ankunft/ die/ wie unser aller/ von GOtt ist/ mit Lastern schändet und unehret. […] Der Ausspruch könte dieser seyn: weil allein und anfangs der Adel von Tugend gekommen/ auch ohne sie nicht bestehen kan: so muß/ die Hoheit des Adels/ nach größe der Tugend abgemessen werden. Je tugendhafter nun einer ist/ je mehr soll er Edel/ und also der Tugendhafteste auch der aller=Edelste heißen. Erkaufter Adel ist nicht wehrt/ hierbey eingeführt zu werden.13

VII. Fluchtpunkt Naturrecht Hier wird ein Sozialmodell skizziert, das ausschließlich apriorischen Prinzipien der Vernunft gehorcht, wie es anderthalb Jahrhunderte später heißen soll, oder aber, um in der Zeit zu bleiben, das kompatibel ist mit Prinzipien des Naturrechts, wie es eben jetzt sich herausformt. Ein Naturstand, wie es in der poetologischen Terminologie des Zeitalters heißt, macht sich zum Anwalt einer Natur, die einen geschöpflichen Status besitzt und als solche jene regulativen sozialen Normen in sich birgt, für deren verbindliche Artikulation es nicht mehr bedarf als der rechten Dolmetscher und Ausleger, als welche eben jene Gestalten figurieren, die in der Natur ihren Lebensraum haben, die Hirten, umgemodelt zu Humanisten mit Expertenwissen. Hirten entwerfen im Blick auf eine geschöpfliche Natur, der alle Menschen als gleiche Wesen entspringen, eine alternative Ordnung der Welt, so dass gemessen an ihr die bestehende Ordnung nur als eine widernatürliche zu qualifizieren ist, die ihrerseits durch eine Drehung um 180 Grad von einer ‚verkehrten‘ zu einer ‚wahren‘ Welt erhoben werden kann.

VIII. Gesellschaftliche Realität und schäferlicher Lebensraum Kein Geringerer als der Patrizier Georg Philipp von Harsdörffer, Gründer des ‚Pegnesischen Blumenordens‘ und unter dem von dem Engländer Philip Sidney und seiner Arcadia entlehnten schäferlichen Namen ‚Strefon‘ in der Pastorale agierend, ist denn auch sogleich zur Stelle als Repräsentant und Anwalt des Realitäts-Prinzips. Er wirft ein, dass die Schäfer an_____________   13

Birken, Sigmund von: „Floridans Schönheit-Lob und Adels-Prob. MDCL“. In: Pegnesis: oder der Pegnitz Blumgenoß-Schäfere FeldGedichte in Neun Tagzeiten: meist verfasset/ und hervorgegeben/ durch Floridan. Gedruckt und verlegt v. Wolf Eberhard Felseckern. Nürnberg A. M DC LXXIII, S. 211–272, Zitat S. 263f.

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lässlich einer solchen Argumentation „allein die Weißheit=kündigen/ und die Käys. Rechte gar nicht/ auf unsrer seite [haben]/ von welchen lezten der Adel nicht in so änge schranken/ wie du jetzund beschrieben/ eingefangen wird.“ Doch auch diesem Einwand weiß Floridan zu begegnen. Er hätte anders geredet, „wann wir auf den Rathaus wären“. Jetzt aber erfolge das Gespräch auf dem „Felde“, „da wir so wenig Zoll von Worten geben/ als an andern Orten von Gedanken.“14 Die Argumentation auf dem Feld kann eine andere sein als die auf dem Rathaus. Letztere verkörpert die Instanz der Realität. Hier orientieren sich Verleihung und Bestätigung des Adels von Seiten des Kaisers an anderen als den in der Schäferei vorgetragenen Maßstäben. Auf dem Feld ist die Zensur des Gedankens aufgehoben. Die in allen theoretischen Äußerungen zur Bukolik wiederkehrende Beteuerung, die Poeten hätten die Hirtennamen entlehnt, „damit sie unter solchem Vorzug ihres anderwärtlichen Standes ihre Gedanken desto freyer ausbilden“ können, hat unter anderem auch diese Bedeutung.15 Der Schäfer Floridan macht von dieser Lizenz Gebrauch. ‚Feld‘ markiert eine Chiffre, in die Natur, schöpfungstheologisch gedeutet, eingewandert ist, Urverhältnisse sich erhalten haben, in deren Licht die bestehenden als temporäre sich darbieten, die in Betracht von Maximen der ‚Weisheitskundigen‘, als deren Sprecher die Hirten sich geben, nicht zu bestehen vermögen. Die Verhältnisse stehen wortwörtlich auf dem Kopf. _____________   14 15

Birken: „Floridans Schönheit-Lob und Adels-Prob. MDCL“, S. 264. Birken, Sigmund von: Fortsetzung Der Pegnitz=Schäferey/ behandlend/ unter vielen andern rein=neuen freymuhtigen Lust=Gedichten und Reimarten/ derer von Anfang des Teutschen Krieges verstorbenen Tugend=berümtesten Helden Lob=Gedächtnisse; abgefasset und besungen durch Floridan/ den Pegnitz=Schäfer. mit Beystimmung seiner andern Weidgenossen. Nürnberg 1645, f. 2v („Vorbericht“). Vgl. auch die Widmungsadresse an den „Hochgeehrten Leser“ in: Harsdörffer, Georg Philipp u. Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht/ in den Berinorgischen Gefilden/ angestimmet von Strefon und Clajus. Nürnberg 1644, f. A2v. Beide Texte im Faksimile mit editorischen Beigaben in: Harsdörffer, Georg, Johann Klaj u. Sigmund von Birken: Pegnesisches Schaefergedicht 1644–1645. Hg. v. Klaus Garber. Tübingen 1966. Vgl. auch Harsdörffer, Georg Philipp: Frauenzimmer Gesprechspiele. Fünfter Theil. Nürnberg 1645. Reprint. Hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1969. Hier das Kapitel: „Das Schäfergedicht“, S. 315–325 bzw. S. 440–450 (Reprint). Schließlich sei verwiesen auf den Nothwendigen Vorbericht Harsdörffers in seiner Übersetzung der Montemayor’schen Diana. Nürnberg 1646 (Reprint. Darmstadt 1970), f. 1π4r–f. 2π6v. Die ausführlichste zeitgenössische theoretische Äußerung zur Hirtendichtung findet sich bei Birken, Siegmund von: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst. Nürnberg 1679. Hier ist vor allem die Vorrede sowie das Kapitel „Von den Feld=Helden und Straff=Gedichten. De Eclogis, Epicis & Satyris“, S. 293–314, heranzuziehen. Wie kein anderer hat Birken als fruchtbarster Bukoliker des 17. Jahrhunderts den Zusammenhang von Hirten- und Heldengedicht sowie den Konnex zwischen Schäferdichtung und Satire in seinem Werk theoretisch und praktisch reflektiert. Eine eingehende Untersuchung zur bukolischen Theorie im 17. Jahrhundert fehlt bislang.

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IX. Schäfer als König – König als Schäfer Das aber ist nicht nur eine Spezialität dieser kleinen schäferlichen Erzählung in der Gestalt einer prosimetrischen Ekloge, zu deren Unterscheidung von der reinen Versekloge Vergil’schen Typs wir vor langer Zeit den Begriff ‚Prosaekloge‘ eingeführt haben, der sich inzwischen kommentarlos durchgesetzt hat. Vielmehr ist die schäferliche Dichtung als Hort urzeitlicher, menschheitlicher und damit ‚arkadischer‘ Versprechen auf die Präsentation paradoxer, dem Bestehenden widerstreitender Bilder und Gedankenfiguren geradezu spezialisiert. Nicht zu zählen sind die Titel und die Geschichten, in denen ein Hirt aus niederem Stand in den obersten aufsteigt – und das alleine aufgrund seiner inneren Werte, seiner Tugend, seiner Frömmigkeit, seiner Urteilskraft, insgesamt seiner nicht angestammten, sondern erworbenen und praktizierten Qualitäten. In der Pastorale und zumal in der Schäferoper, von der es allein in Deutschland hunderte gegeben hat, ist die Rede zu Hause, ein eigentlicher König zu sein, sei nur dem Schäfer vorbehalten. In seiner Gestalt, ausgestattet mit allen Attributen aus der Antike und zumal Vergils nicht anders als denen aus der jüdisch-christlichen Tradition vom guten Hirten, vom pastor bonus herrührenden, wird das Unterste zuoberst gekehrt, kann der Hirt als Repräsentant des von Gott geschaffenen Menschen die symbolisch besetzte Spitze unter den Menschen einnehmen und als Stellvertreter all jener fungieren, die nichts sind als Menschen. In der zeitgenössischen Wirklichkeit bemisst sich die Stellung des Menschen allein nach seinem sozialen Rang. Ein ganzes Heer von Berufen ist damit befasst, diesen Rang in Kleidung und Schmuck, in Mimik und Gebärde, in Rede und Verkehrsform zu modellieren, für Hierarchisierungen und damit für Abstufungen zu sorgen, ständliche Stufenleitern visuell und symbolisch kenntlich und erfahrbar zu machen. Die Zeremonialwissenschaft ist nicht umsonst eine Königsdisziplin des Zeitalters. Diesen ganzen von Kirche und Staat, städtischen Regimentern und territorialen Behörden vielfach bekräftigten gesellschaftlichen Verbindlichkeiten widerstreitet die Pastorale als literarische Trägerin der ArkadienVision in allen ihren authentischen Zeugnissen. Hier gelten kontrafaktische Werte und symbolische Rangordnungen. Und so ist es in der paradoxalen Konstruktion dieser Gattung begründet, wenn am Ende nicht nur der Hirt zum König aufsteigt, sondern umgekehrt der König, der Fürst, der Repräsentant von Herrschaft Zepter und Krone ablegt und freiwillig herabsteigen wird in den Hirtenstand, weil er, weil sie alle in einem der Bekehrung vergleichbaren Akt der Einsicht erkannt haben, dass nur in diesem niederen Stand das der Zeit Enthobene, das Bleibende verkörpert ist und gelebt wird. Ein solches Szenarium ist nicht denkbar ohne

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das Wissen um die Homologie mit dem Szenarium der Gedankenfigur von der ‚verkehrten Welt‘. Die pastorale Pointe besteht in ihrer spielerischen Umkehr, dass nämlich mit der Verabschiedung der ‚verkehrten‘ Welt die ‚wahre‘ geboren wird. Spiegelbildliche Verhältnisse obwalten und die Schäferdichtung ist dazu bestimmt, diese zu reflektieren und zugleich diskursiv durchzubuchstabieren.

X. ‚Wirtschaften‘ auf dem theatrum mundi Dass dem aber so ist, dazu genügt es, für einen Moment eine Gegenprobe aufzumachen. Könige, Fürsten nahmen an diesem Rollenspiel teil und das auch außerhalb der Literatur, z.B. in den sogenannten ,höfischen Wirtschaften‘.16 Da ließen es sich die Spitzen der Gesellschaft nicht nehmen, im Hirten- und Bauernkostüm zu erscheinen, als Hirten und Bauern zu speisen, zu tanzen, zu singen, zu sprechen. Als Entlastung von den Zwängen der Etikette wird diese Kuriosität in der Forschung, wenn überhaupt, wahrgenommen. Sie ist mehr und anderes. In dem Spiel gibt ein Wissen sich kund, dass auf dem theatrum mundi die reale und sanktionierte Rolle eine vorläufige, der Zeit geschuldete und am Ende wieder von ihren Trägern abfallende und zurückzugebende ist. Auf Totalität ist das dreidimensionale, Erde, Himmel und Hölle gleichermaßen umspannende Theater des Barock aus. Die höfisch inszenierten ‚Wirtschaften‘ sind eine Miniatur dieses theatrum mundi. Könige und Fürsten bekennen im Vollzug solcher Festivitäten, dass ihr Gegenteil, dass die niedersten Stände hinzugehören zu der Gesamtheit der ständischen Formation. Sie werden eingemeindet, von Herrschaft umsponnen, dem herrschaftlichen Reglement integriert, indem die verkleidete und ins Natürliche verpuppte Herrschaft sich symbolisch_____________   16

Vgl. Schnitzer, Claudia: „Königreiche – Wirtschaften – Bauernhochzeiten. Zeremonielltragende und -unterwandernde Spielformen höfischer Maskerade“. In: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hg. v. Jörg Jochen Berns u. Thomas Rahn. Tübingen 1995, S. 280–331; Schnitzer, Claudia: Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit. Tübingen 1999, S. 195– 253: „Verkleidungsbankette“ (S. 220ff.: „Wirtschaften“); paradigmatisch: WatanabeO’Kelly, Helen: Court Culture in Dresden. From Renaissance to Baroque. Basingstoke, New York 2002, S. 166ff.; Deppe, Uta: Die Festkultur am Dresdner Hofe Johann Georgs II. von Sachsen (1660–1679). Kiel 2006, S. 53ff.; vgl. schließlich auch die Hinweise bei Alewyn, Richard u. Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959; zum Kontext: Watanabe-O’Kelly, Helen u. Anne Simon: Festivals and Ceremonies. A Bibliography of Works Relating to Court, Civic and Religious Festivals in Europe 1500– 1800. London, New York 1999.

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spielerisch in sie verwandelt. So haben wir es mit zwei Modellen und Funktionen von ‚verkehrter Welt‘ im Lichte Arkadiens zu tun. Die Schäfer steigen in Verkehrung der realen Gegebenheiten empor an die Spitze, weil sie Repräsentanten des Menschen qua Menschen sind. Sie agieren futurisch, die ,verkehrte‘ faktische Welt unterminierend. Die als Schäfer und Bauern verkleideten Könige und Fürsten suchen umgekehrt in der spielerischen Aufhebung der Rangordnungen deren Zementierung auf dem Umweg symbolischer Interaktion, metaphorisch gesprochen über einen zeremoniell umgedrehten Kniefall vor den unteren Ständen. Diese Dialektik ist der Arkadien-Utopie inhärent und will entfaltet sein.

XI. ‚Wann Gottes Hammer gleist‘ Doch die Floridan-Geschichte geht ja noch weiter und das an der Hand unseres Gewährsmannes und schäferlichen Wortführers Floridan alias Sigmund von Birken. Kurz vorher war ein Rechtsbeflissener und Consiliarius der Stadt Lüneburg zu seiner Hochzeit zu beglückwünschen und das erneut in der typischen Nürnberger Manier, nämlich schäferlich und also bereit zum Raisonnieren.17 Nun herrscht aber nicht heitere Stimmung inmitten der schönen Natur, wie durchweg in der Pastorale üblich, ganz im Gegenteil. Ein Unwetter geht darnieder, und wenn das in der Schäferdichtung geschieht, dann ist Unheil im Schwange. Solches kann durchaus auch an sozialen Missständen haften. Die Schäfer sind zur Stelle, um von dem Unrecht, ja von einer auf dem Kopf stehenden Welt Kunde zu geben in ihrer Eigenschaft als Weisheitskundige und Experten der Geheimnisse von Natur und Schöpfung. Drunter und drüber geht es in der kleinen Schäferei, und der Dichter findet ein ideales Feld vor, das wort- und metaphernreich zu bestellen ist. Folgen wir ihm einen Moment. Floridan tritt ins Freie heraus. Im Hause hält es ihn nicht. Der furchtbarste Krieg, den die Menschheit bis dato erleiden musste, ist eben zu Ende gegangen. Wir schreiben das Jahr 1649. „Kriegerische Stechfliegen und Blutegeln“ schwärmen ihm immer noch vor den Augen herum. Und _____________   17

Birken, Sigmund von: „Hochzeitliches Schäfer=Gedicht in Besprechung der Pegnitzhirten übersendet von Floridan“. In: Glükwünschende Gedichte Auf den Hochzeitlichen Ehren=Tag Deß Ehrenvesten und Hochgelarten Herren Heinrich Krolowen/ Beyder Rechten Candid. & Consiliarii der Stadt Lüneburg. und Der WolEhren= und Tugendreichen Jungfern Magdalenen Wulkowen/ Des Edlen/ Vesten/ Hochgelarten vnd Hochweisen Herren Wilhelm Wulkowen/ beyder Rechten Doctorn vnd wolverdienten Burgermeisters daselbsten/ Eheleiblichen Tochter. Welcher gehalten den 29. Tag deß WeinMonats Jm Heil=Jahre MDCXLIX. vbersendet von Vornehmen Freunden vnd Pegnitzschäferen aus Nürnberg. Gedruckt zu Hamburg bey Michael Pfeiffern, f. B1r–f. C2v.

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dazu passt der Platzregen nur zu gut als allegorische Kulisse. „[A]uf dem Felde [war] wenig Ergötzligkeit/ als welches nicht von der lachenden Sonnen bestralet/ sondern von weinenden Wolken betriefet wurde.“ Die Gegend ist überschwemmt. Für den erfindungsreichen Schäfer sind solche in der pastoralen Welt eher ungewöhnlichen Vorgänge Herausforderungen, auch ihnen poetisch gerecht zu werden, und zwar gleichermaßen in Vers wie in Prosa. Das Faktologische darf nicht roh und unbearbeitet in die Pastorale eingehen. Es will gedeutet und zugleich geistreich umspielt sein, auch und gerade, wenn es Unheil mit sich führt. Wann Gottes Hammer gleist/ und schmeisset auf uns los/ so muß Erd/ Wasser/ Luft/ und Feuer/ Unfall schmieden. Die Flut/ die Wolken=ab der zürnend’ Himmel gos/ erinnert/ daß man auch mit Gott soll sliessen Frieden. Sonst wird der Weltvertrag/ gleich wie der Wasser stoß zerrissen Deich und Damm/ sich wieder auch zerglieden. Du aber Tullenau/ solst heissen Dultenau: das Türmlein der Gedult man unzerrissen schau.

Dann erfolgt der Übergang zur Prosa: Wahr ist es/ er sahe viel wunderliches Wesens/ als er in die Stadt kame. Die Häuser liefen vor den Thüren herüm/ die Türme begunten ein pfeiffendes Getöne von sich zugeben. Etliche hatten die Fenster am Hals/ und frageten die vorbeiwandlenden/ wie ihnen das Haus anstünde. Die andern liefen/ fremde Ankömmlinge zuerkennen; da sie unterdessen ihnen selbst unbekandt blieben.18

Das ehemals „lustige Thal“ ist in eine ungestalte „Wüsteney“ verwandelt worden. Erinnerungen an die Sündflut werden wach. Ein Unwetter dieses Ausmaßes kann – genauso wie der mörderische Krieg – nicht anders denn als Strafgericht Gottes gedeutet werden. Der ‚Weltvertrag‘, das Miteinander von Gott und Mensch, steht zur Disposition. Wir streifen diese Bilder und Vorstellungen nur eben. Sie sind Gemeingut der Zeit. Der Dichter aber zitiert sie, ruft sie in das Gedächtnis seiner Hörer und Leser, weil er sie kontaminieren möchte mit aktuellen und im Alltagsbewusstsein keineswegs bereits verankerten. Diese Technik der assoziativen Montage verbreiteter theologischer Bilder mit standespolitischen Vorstellungen der Humanisten gehört zu den Spezifika der Pastorale und ist bislang so gut wie gar nicht entfaltet worden.

_____________   18

Die vorgelegten Zitate vgl. Birken: „Hochzeitliches Schäfer=Gedicht“, f. B1v.

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XII. Fiktionale zwischenständische Positionierung Das Volk ist wie der Dichter unterwegs im Freien, um die Verheerungen ringsum zu inspizieren. Die besondere Aufmerksamkeit erregt ein im Unwetter umgestürzter Wagen, der sich aufgrund seiner Insignien leicht als ein von einem Adeligen gesteuerter zu erkennen gibt. Da sieht man es also wieder: Dann ob sie wol an Stand und Ehre/ welches beydes nur ein Wahn ist/ etwas vor andern waren/ so waren sie doch gleichmäßiger natürlicher Herkunft/ und Menschlichen Gebrechlichkeiten eben auch/ oder wol/ das Schande zusagen/ noch zehenmal mehr/ als geringe Leute/ unterworfen. Noch dennoch renneten die närrischen Leute/ diese/ dem Augenschein nach/ hohe Personen in augenschein zunehmen/ und dachten nicht daran/ daß sie indessen in ihren Seelen eine viel währ= und wärhaftere Hoheit zusuchen hätten/ gegen welcher jene für nichts wehrten Schatten/ ja gantz für keine Hoheit/ zu achten und zuhalten.19

Selten in der Pastorale zeichnet sich die Stellung des Hirten-Poeten als eines Repräsentanten des gelehrten Standes so klar ab wie in der vorgelegten Partie. Hinsichtlich des Adels ist er sogleich mit der Lehre zur Hand, dass eben niemand vor Unglück gefeit sei, und der ständisch Erhobene womöglich noch weniger als der kleine Mann. Aber auch dieser erhält einen ermahnenden Wink. Statt zu versuchen, einen Blick auf die ‚hohen Personen‘ zu erhaschen, stände es ihm besser an, sein Auge auf sein Inneres zu richten und nach ‚Hoheit zu suchen‘. Der Schäfer wahrt eine Mitte zwischen oben und unten. Das qualifiziert ihn zur Lehre in beiden Richtungen, garantiert ihm seinen Ausgriff ins Allgemeine, die Stände Überschreitende. Er bleibt Anwalt des Menschlichen, in das, wie verpuppt auch immer, egalitäre Momente hineinspielen. Sie mögen, ja sie dürften nicht im Spiel sein. Aber sie sind als Potenz gegenwärtig, harren also der Stunde ihrer Entbindung, wie sie dann im 18. Jahrhundert kommen wird. Dass indes im Umkreis des gelehrten Humanismus allemal Positionen argumentativ bezogen, ja erobert werden, die langfristig sozialen Sprengstoff bergen, lehrt auch dieser kleine Text neuerlich. Wieder geht es um die Zitation des Adels-Diskurses und wieder wagt sich der Dichter, als Hirt verkleidet, weit vor.

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Ebd., f. B1v

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XIII. Adel maccaronisierend Nun aber gelangt ein neues, bislang nicht zur Sprache gekommenes Moment hinzu, das zu einem ganz anderen Aspekt ‚verkehrter Welt‘ in Arkadien führt. Es ist kein moralischer oder eruditärer, sondern ein linguistischer. Auch in der Sprache vermag die Welt Kopf zu stehen. Und an dem Schäfer als einem Sachwalter der Sprache ist es, diesen linguistischen Sündenfall aufzuspießen, mit einem gehörigen Schuss satirischen Mimikries poetisch zu vergegenwärtigen und sodann mit aller gebotenen Vorsicht die Urheber dieses Frevels an der Sprache zu identifizieren. Der Schäfer, als Reporter auf den Spuren eines ungewöhnlichen Ereignisses unterwegs, ist sich als guter Rechercheur nicht zu schade, sich umzuhorchen, was es denn mit dem umgefallenen Wagen jenes „Fürnemsten oder Fürsten/ wie sie verkürtzt genennet werden“, auf sich haben könne. Er fragte einen/ was dann darbey sonderlichs vorliefe/ das beschauens wehrt wäre. Der antwortete: O grand fol! Da siehet man ja schon baiselesmains, hurtige politezzen/ courtois, minen, und des Trinceanten zierliche Legons. En passent der Speiß=rariteten/ des regalirens/ des poculirens/ und der aggregablen discoursen nicht zuerwähnen/ welches alles nicht nur mit proufit/ sondern auch mit höchstem plaisir und contentement pour passer le temps envisagiret und angeschauet wird.20

Der Schäfer kann sich darauf keinen Reim machen, meint einen ‚Zauberer‘ vor sich zu haben, der ihn „mit dergleichen unbegreifflichen Reden bannen und besweren“ will. Das Unwetter in der Natur, der Mord im Krieg verlängern sich in die Sprache hinein. Aber dieser ‚Zauberer‘ lässt sich sozial lokalisieren. Im nächsten Moment nämlich taucht in wohlkalkulierter erzählerischer Regie ein Reiter auf, den man sich sehr wohl als Sprecher der maccaronisierenden Rede, wie es in der Zeit heißt, vorstellen kann. Hören wir noch einmal in den Text hinein, um mit dem Kolorit dieser schäferlich-satirischen Sprache vertraut zu werden. [I]n dem kam ihm ein ander zu gesicht/ welcher zwey Beine über ein Pferd herabhängend daher=/ und weil auf seine und seiner Diener Kleider gantze Bergwerke gesmolzen waren/ iedermanns Augen gleich als mit einem Magnetischen Blitz an sich/ zoge. Das gute Gerücht/ daß dieselbe Person nicht schelten liese/ hielte ihn zurükk; sonst hätte er bey sich geslossen/ es müste wenig innerliche Trefflichkeit unter dieser äuserlichen verborgen seyn. Dann die Tugend findet sich in sich selbst/ und hat keines äuserlichen Glantzes vonnöten/ ohne/ der von ihr herfür blitzet. Wann das Kleid den Mann macht/ so kommt die ertheilte Ehre nicht dem Manne/ sondern dem Kleid zu. Ist aber der Mann an sich selber Ehrenwehrt/ so darf seine Tugend keines schönen Kleides. Soll Ehre Ehre seyn/

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Ebd., f. B2r.

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so muß auch der ein geehrter Mann seyn/ der sie giebt: geehrte Leute aber ehren nur üm das/ was sie selber geehrt machet/ nämlich/ üm Tugend. Dargegen der Pöbel/ der seine Ehre sucht in Reichtum und äuserlichem Pracht/ gibt auch andern deßwegen Ehre: wie aber die Ehre/ die er hat/ keine wahre Ehre ist; also auch diese/ die er andern giebet.21

Noch einmal wiederholen sich die Argumente aus dem Diskurs um den ‚wahren‘ Adel, der einer der Sittlichkeit, der Tugend, nicht zuletzt auch des Decorums ist. Dieser Adelige, der da dem Schäfer begegnet, ist korrumpiert, usurpiert einen Adelstitel, der ihm nicht zukommt und verbleibt bei allem Reichtum im Status des Pöbels. In der Schäferliteratur darf Derartiges ausgesprochen werden.

XIV. Der Schäfer als Anwalt eines nationalsprachlichen Projekts Hier und jetzt geht es um den linguistic turn. Der Adel ist auch sprachlich defekt. Eine Sprache wie die verlautete verleugnet ihre Herkunft nicht. Die welschen Brocken des adeligen ‚Zauberers‘ weiß ein jeder Leser oder Hörer als dem höfischen Code zugehörige wahrzunehmen. Die Schäferliteratur ist voll von solchen maccaronisierenden Schwadroneuren. Da ist auch Freude am poetischen Imaginieren am Werk, aber zugleich doch mehr. Die Schäfer sind der Schöpfung nahe Wahrer der Ursprache.22 Eine jede Nation steht seit der Renaissance im Wetteifer um die größtmögliche Nähe zur Ursprache. Für die deutschen Humanisten war es ausgemachte Sache, dass die deutsche Sprache nicht nur zu den vier Hauptsprachen neben dem Hebräischen, Griechischen und Lateinischen zählte, sondern als die jüngste unter den vieren zugleich eine verjüngte war und so der Ursprache am nächsten. Die Sprachgesellschaftsbewegung des 17. Jahrhunderts ist ohne diese Philosopheme überhaupt nicht verständlich. Der Adel und das hochgestellte ständische Personal aus dem Umkreis der Höfe ist dem ursprünglichen Sprechen entfremdet, hat das Ursprachen_____________   21 22

Ebd. Vgl. Newman, Jane O.: Pastoral Conventions. Poetry, Language, and Thought in Seventeenth-Century Nuremberg. Baltimore, London 1990; Garber, Klaus: „Pastorales Dichten des Pegnesischen Blumenordens in der Sozietätsbewegung des 17. Jahrhunderts. Ein Konspekt in 13 Thesen“. In: ‚der Franken Rom‘. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 146–154; Garber, Klaus: „Sprachspiel und Friedensfeier. Die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts auf ihrem Zenit im festlichen Nürnberg“. In: Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte. Hg. v. Heinz Duchhardt. München 1998, S. 679–713.

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Projekt verkehrt in sein Gegenteil, praktiziert ‚verkehrte Welt‘ im Umgang mit der Sprache. Der Hirte aber als Sachwalter des ursprachlichen Erbes in der nationalen Sprache der Deutschen ist mehr als ein versponnener Restaurateur. Er ist nochmals Repräsentant, nun aber der Dignität der deutschen Sprache als einer der Ursprache affinen. Ihre Pflege führt stets nicht nur einen quasitheologischen, sondern immer auch einen nationalkulturellen Index mit sich. Pflege der ursprachlich fundierten deutschen Sprache ist ein Unterpfand zugleich der nationalen Integrität; und die spezifiziert sich religiös und moralisch nicht anders als verfassungspolitisch und selbst noch defensorisch. Versündigung an der Sprache ist vor diesem Hintergrund als Versündigung an dem Gedeihen einer Nation zu werten. Die Hirten, die im Geist des Humanismus sprechen, wahren ein arkadisches Gut in der Inobhutnahme eines Sprachkörpers, an dem symbolisch immer auch der Vorschein einer humanistischem Verständnis gemäßen nationalen Mitgift haftet. Zu betonen bleibt, dass diese polito-linguistische Operation im Humanismus nirgendwo auf Überwältigung, Superiorität der Sprachen und Nationen ringsum abzielt, sondern nur, das aber entschieden, auf den Wettkampf um die Trophäen in artibus et litteris. Indem die Hirten im Gegensatz zu den oberen Ständen an einem national gewendeten ursprachlichen Impetus festhalten und ihn offensiv verteidigen, nehmen sie wiederum und nun in linguisticis einen allgemeinen wider einen partikularen Gedanken und einen mit diesem verknüpften kulturpolitischen Anspruch wahr.23

XV. Übergänge ins 18. Jahrhundert Das Reizvolle an der Schäferdichtung und an der mit ihr sich vielfach überschneidenden Landlebendichtung besteht nun darin, dass beide Gattungen die in die erste Moderne hineinführende Schwelle überschreiten. Die Landlebendichtung erfährt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einen eminenten Aufschwung und adaptiert vielfältig arkadische Erbschaften aus der Schäferdichtung, die ihrerseits in den interessantesten Bildungen in der im 18. Jahrhundert überhaupt erst gezeugten Idylle fortlebt. Für mentalitätsgeschichtliche Fragen etwa, wie sie sich auch mit dem Topos ‚verkehrte Welt‘ verbinden, ist diese doppelte gattungsgeschichtliche Kon_____________   23

Vgl. Garber, Klaus: „Die Idee der Nationalsprache und Nationalliteratur in der Frühen Neuzeit Europas“. In: Ders.: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit, S. 107–213.

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sistenz von kaum zu überschätzendem Vorteil. Es gibt keine zweite Gattung Alteuropas, die so vital im 18. Jahrhundert fortlebt und zwar bis an dessen Ende, als sich nochmals eine Metamorphose mit der Schöpfung des idyllischen Epos von Johann Heinrich Voß und Johann Wolfgang Goethe vollzieht.

XVI. Pseudogriechische Wendung bei Salomon Geßner Wir sind auf punktuelle, paradigmatische Fall-Betrachtung aus, nicht zuletzt, um den Texten nahe zu bleiben. Eine Sonderstellung hat Geßner inne, der erste deutsche Dichter seit den Tagen der Reformation, der eine nachhaltige europäische Reaktion auslöst. Sein Idyllenwerk, 1756 in einer ersten Sammlung an die Öffentlichkeit getreten, muss als ein Schlüsselwerk der arkadischen Literatur auch unter dem Gesichtspunkt des Topos der ‚verkehrten Welt‘ befragt werden dürfen. In großen Werken entscheidet der Beginn über Rang und Statur, bergen die ersten Sätze doch in nuce das Geheimnis des mit jedem Werk neu aufgespannten poetischen Kosmos. Blicken wir also in die berühmte und viel behandelte Vorrede zu den Geßner’schen Idyllen. Wir dürfen uns nicht daran stoßen, dass bei Geßner der bereits erwähnte Topos vom ‚Goldenen Zeitalter‘ im Zentrum steht, nicht Arkadien. Das Motiv des ‚Goldenen Zeitalters‘ ist eine mythische Schöpfung der Griechen, Arkadien eine solche Roms, genauer Vergils. Insofern indizieren auch die Geßner’schen Idyllen die nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Literatur des 18. Jahrhunderts charakteristische Griechenwendung. Bei Geßner konkretisiert sie sich im emphatischen Bekenntnis zu dem hellenistischen Dichter Theokrit, der erstmals vor Vergil gerückt wird. Er sucht in dem Vorgänger Vergils den Dichter ursprünglicher Natur, natürlicher Lebensverhältnisse – völlig zu Unrecht, denn Theokrits Eidyllia repräsentieren eine hochartifizielle Poesie, die nur aus dem elaborierten Kunstwillen der alexandrinischen Spätzeit heraus verständlich wird.24 _____________   24

Vgl. Theokrit und die griechische Bukolik. Hg. v. Bernd Effe. Darmstadt 1986; Effe, Bernd u. Gerhard Binder: Die antike Bukolik. München, Zürich 1989, S. 15ff.; im vorliegenden Kontext: Lucius, Wulf D. von: „Der deutsche Theokrit. Votivtafel für Salomon Gessner“. In: Zwischen Zettelkasten und Internet. Ein Feststrauß für Susanne Koppel. Hg. v. Meinhard Knigge. Eutin 2005, S. 21–31; zur Diskussion im 18. Jahrhundert zuletzt: Pirro, Maurizio: „Teocrito e Virgilio nel dibattito settecentesco sulla poesia pastorale“. In: Università degli Studi di Napoli ‚L’Orientale‘. Annali. Sezione germanica 17 (2007), Nr. 1–2, S. 175–188.

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Doch ‚falsch‘, ‚missverstanden‘, ‚verständnislos‘ etc. sind in epochalen Akten der Rezeption obsolete Begriffe. Vergil steht für den Schweizer Idyllendichter als Repräsentant allegorischen höfischen Dichtens und das ausdrücklich bereits als Hirtendichter. Dieser Wendung der Gattung sucht er im Namen Theokrits zu widerstreiten. Es ist ein Verdienst der neueren Forschung der sechziger und siebziger Jahre, gezeigt zu haben, wie nachhaltig der bukolische Habitus Vergils auch bei Geßner fortlebt. Es ist ein zeitkritischer, ein sozialkritischer, ein aus dem Ursprung her votierender und ein durch und durch futurisch gewendeter – drei Kategorien, die nur auf Vergil und schlechterdings nicht auf Theokrit passen.25

XVII. Der Hirt als Wiederbringer des goldenen Zeitalters Diese Idyllen sind die Früchte einiger meiner vergnügtesten Stunden; denn es ist eine der angenehmsten Verfassungen, in die uns die Einbildungs-Kraft und ein stilles Gemüth setzen können, wenn wir uns mittelst derselben aus unsern Sitten weg, in ein goldnes Weltalter setzen. Alle Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük, müssen Leuten von edler Denkart gefallen; und um so viel mehr gefallen uns Scenen die der Dichter aus der unverdorbenen Natur herholt, weil sie oft mit unsern seligsten Stunden, die wir gelebt, Ähnlichkeit zu haben scheinen. Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König.26

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Dies wird zu Recht immer wieder betont von den Kennern der idyllischen Tradition, vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart ²1977, S. 73ff.; Voss, Ernst Theodor: „Salomon Gessner“. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Benno von Wiese. Berlin 1977, S. 249–275; Schneider, Helmut J.: „Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder“. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–434, S. 380ff.; vgl. auch ders.: „Selbstbescherung. Zur Phänomenologie des Landschaftsblicks in der Empfindsamkeit“. In: Das Projekt Empfindsamkeit und der Ursprung der Moderne. Richard Alewyns Sentimentalismusforschungen und ihr epochaler Kontext. Hg. v. Klaus Garber u. Ute Széll. München 2005, S. 129– 138; zur Gattung zuletzt: Behle, Carsten: ‚Heil dem Bürger des kleinen Städtchens‘. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002; Schneider, Florian: Im Brennpunkt der Schrift. Die Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts. Würzburg 2004; zur – seit je bekannten, gleichwohl überraschenden – Rezeption Geßners in Frankreich vgl. jetzt die große Untersuchung von Wiebke Röben de Alencar Xavier: Salomon Gessner im Umkreis der Encyclopédie. Deutsch-französischer Kulturtransfer und europäische Aufklärung. Genf 2006. Geßner, Salomon: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart ³1988, Zitat S. 15. Die Ausgabe ist mit einem reichhaltigen Herausgeberteil ausgestattet, der zahlreiche Winke zu einem angemessenen Geßner-Verständnis enthält.

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Aus der Stadt losreißen muss sich der Sprecher dieser Vorrede, um „Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestöhrtem Glük“ in der Gegenwart genießen zu können. Das ist die Geburtsstunde des modernen Naturgefühls, das in dieser Konfiguration in der alteuropäischen Literatur nicht existierte, weil es ein Leiden an den Zwängen städtischer, zivilisatorischer Existenz in dieser überhaupt erst mit der Empfindsamkeit ins Spiel kommenden Gestalt nicht gab. Es bedarf des Auszugs aus der Gesellschaft in die Natur, um ursprünglicher Erfahrungen, indiziert im goldenen Zeitalter, in der Gegenwart noch einmal teilhaftig zu werden. Zu diesem Exodus in die Natur muss eine Prädisposition bestehen. Wie in der vorangehenden Schäferdichtung ist sie in der empfindsamen Idylle der Kunstfigur des Hirten unterlegt. Er lebt literarisch vor, was Sehnsucht des Städters, des kultivierten Menschen ist. Durchweg hält sich die Fixierung des Hirten als ständisch rangtiefer Figur. Eben als einer solchen ist dem Hirten die Erfahrung eines Glücks vergönnt, die dem Ranghohen verschlossen bleibt. Neuerlich hat eine Umkehrung der Werte statt. Genuss der Natur, Erfahrung der Individualität, reflexives Eingehen in die Geheimnisse, die die innere seelische Welt bereit hält, Ausmessen der zeitlichen Dimension des Daseins, Kultivierung von Memoria, Antizipation zukünftiger jenseitiger Freuden und wie die empfindsamen Losungsworte im Einzelnen lauten mögen – sie alle sind so geartet, dass sie den gesellschaftlich sanktionierten Normen widerstreiten. Die aus der alteuropäischen Schäferliteratur bekannte Umkehr der das soziale Leben prägenden Güter setzt sich fort, nun empfindsam gewendet. Der Hirt bleibt die Projektionsfigur dieser Wunschvorstellungen. Und noch einmal wird der Vergleich mit dem König als dem ranghöchsten Vertreter der ständischen Hierarchie gesucht. Die dem Hirten zugänglichen Daseinserfahrungen rangieren über allen Prämierungen, die die Gesellschaft zu vergeben hat. Der Topos der ‚verkehrten Welt‘, in der spezifisch schäferlich-arkadischen Variante und empfindsam neu justiert, hat Bestand. Ihm korrespondiert schon bei Geßner eine radikale Kritik an gesellschaftlichen Missständen. ‚Verkehrte Welt‘ herrscht dann in der anderen, zweiten Bedeutung, die wir zu profilieren suchten, als satirisch aufgespießtes Auf-dem-Kopf-Stehen der Realität.

XVIII. Vom Hirten zum Bauern Auch dazu soll noch einmal ein Beispiel gegeben werden, nun aus dem späten 18. Jahrhundert, in dem die frühneuzeitliche Literatur an ein Ende gelangt und mit ihr auch die alteuropäische Schäfer-, Landleben- und

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Idyllendichtung in ihrer vorrevolutionären Gestalt. Zu den Dichtern, die die Idylle mit Verve und Leidenschaft adaptiert haben, gehört der Sohn eines aus der Leibeigenschaft Entlassenen, der gebürtige Holsteiner aus Eutin, Johann Heinrich Voß, heute vor allem als unübertroffener Übersetzer Homers bekannt. Schon Geßner hatte in seiner zitierten Vorrede Homer als Zeugen für idyllische Urverhältnisse in Anspruch genommen. Goethes Werther wird ihm eine Generation später darin folgen. Es walten seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nochmals merkwürdige und auszuhorchende Konsonanzen zwischen der epischen und der idyllischen Welt, wie sie in der Schöpfung des idyllischen Epos weltliterarisch zum Ausdruck kommen. Voß war dessen Begründer mit seiner vielbespöttelten Luise, in der er, in der Figur des Pfarrers, das Ideal einer aufgeklärt-patriarchalischen, von Toleranz, Weltfrömmigkeit, Freiheitsbewusstsein und sozialer Fürsorge bestimmten zukünftigen weltbürgerlichen Gesellschaft entwarf – ein erhabenes Denkmal der deutschen Spätaufklärung. Goethe antwortete mit Hermann und Dorothea sogleich darauf.27 In seinem Frühwerk war Voß auf andere, radikalere Töne gestimmt. Der Stachel der Leibeigenschaft saß ihm im Fleisch. Die Idylle schien ihm das geeignete Medium, seiner Kritik an den unwürdigen Verhältnissen auf dem Lande literarisch präformierten Ausdruck zu verleihen. Dafür musste sie umgerüstet, der Schäfer durch den Bauern ersetzt werden. Der vermochte zwar immer noch in Hexametern zu sprechen, teilte ansonsten aber das bittere Los der Leibeigenschaft mit den Bauern im Ancien régime und lehnte sich vehement dagegen auf, so in der Idylle Die Pferdeknechte, die im Januar 1775, ein Jahr nach dem Werther vollendet wurde, 1776 im Lauenburger Musenalmanach erschien und mit der er sich sogleich die Kritik seiner adeligen Freunde im Göttinger Hain, der Brüder Friedrich Leopold und Christian zu Stolberg-Stolberg, zuzog.28 _____________   27

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Wiederum meisterhaft gezeigt in dem Nachwort zu: Voß, Johann Heinrich: Idyllen. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1801 mit einem Nachwort von E. Theodor Voss. Heidelberg 1968. Das Nachwort ist in überarbeiteter Form unter dem Titel „Arkadien und Grünau. Johann Heinrich Voss und das innere System seines Idyllenwerkes (1968)“ eingegangen in: Europäische Bukolik und Georgik. Hg. v. Klaus Garber. Darmstadt 1976, S. 391–431; stets ist des weiteren heranzuziehen: Schneider, Helmut J.: Bürgerliche Idylle. Studien zu einer literarischen Gattung des 18. Jahrhunderts am Beispiel von Johann Heinrich Voß. Diss. phil. Bonn 1975; vgl. auch Garber, Klaus: „Idylle und Revolution. Zum Abschluß einer zweitausendjährigen Gattungstradition im 18. Jahrhundert“. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Festschrift für Wolfram Mauser zum 65. Geburtstag. Hg. v. Ortrud Gutjahr, Wilhelm Kühlmann u. Wolf Wucherpfennig. Würzburg 1993, S. 57–82. Textkritisch nach wie vor maßgeblich: Der Göttinger Dichterbund. Erster Teil. Johann Heinrich Voß. Hg. v. August Sauer. Berlin, Stuttgart 1886; hier ein großes Vorwort von Sauer.

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XIX. Satanische Märchen in der Idylle Pfingsten zieht herauf. Darauf pflegte man sich als Kind zu freuen. Damit ist es vorbei. Wie ‚Totengeläute‘ schallen die Kirchglocken. Der Pferdeknecht Michel hat das Versprechen von seinem adeligen Herrn erhalten, heiraten zu dürfen und aus der Leibeigenschaft entlassen zu werden, das aber nur gegen eine phantastische Summe von hundert Talern. Die ganze Familie kratzt die letzten Wertsachen zusammen. Umsonst: Die Hochzeit wird zugestanden, nicht so die Freiheit. Michel rast. Und sein Compagnon Hans weiß zu erzählen, wie es zugeht in den Kreisen des Adels, mit welch satanischen Spielen man sich delektiert. Michel, du sprachst doch vom Tanz. Ich will dir ein Märchen erzählen. Kennst du die wüste Burg? Mein seliger Oheim, der Jäger, Lauert da im Mondschein einst auf den Fuchs, in den Zwölften. Mit einmal Braust, wie ein Donnerwetter, das wütende Heer aus der Heide. Hurra! rufen die Jäger, die Pferde schnauben, die Peitschen Knallen, das Hifthorn tönt, und gewaltige feurige Hunde Bellen hinter dem Hirsch, und jagen ihn grad’ in das Burgthor. Oheim hält’s für die fürstliche Jagd, ob sein Tiras gleich winselt, Denk mal, und geht (wie er denn zeitlebens ein herzhafter Kerl war!) Ihnen nach in die Burg. Nun denk, wie der Satan sein Spiel hat! Jäger und Pferd’ und Hunde sind Edelleute, mit Manteln, Langen Bärten und eisernen Kleidern und großen Perücken; Wie die Schlaraffengesichter im Spiegelsaale des Junkers. Weiber mit hohen Fontanschen und Bügelröcken und Schlentern Fodern sie auf zum Tanz. Da rasseln die glühende Ketten! Statt der Musik erschallt aus den Wänden ein Heulen und Winseln. Drauf wird die Tafel gedeckt. Ganz oben setzt sich der Stammherr Vom hochadligen Haus’, ein Straßenräuber. Sein Beinkleid, Wams und Bienenkapp’ ist glühendes Eisen. Sie fressen Blutiges Menschenfleisch, und trinken siedende Thränen.29

Ein Märchen soll’s sein. Doch die beiden tun nichts, um ihm seinen makabren Charakter zu nehmen. Es ist ein vom Teufel eingegebenes schwarzes. Endzeitstimmung herrscht. Diese Frevel werden nicht ungerächt bleiben. Die Revolution kündigt sich an, um Auskehr in der verkehrten Welt zu halten. Michel. Bald ist der Kerl dabei! Dann schallen ihm unsre Seufzer Statt der Musik, dann brennen ihm unsre Thränen die Seele! Hans.

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Voß, Johann Heinrich: „Die Pferdeknechte“. In: Der Göttinger Dichterbund. Erster Teil. Johann Heinrich Voß. Hg. v. August Sauer. Berlin, Stuttgart 1886, S. 73–78, Zitat S. 77.

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Hu! wie wird er dann springen! Wie wird sein Weib, das Gerippe! Auf französisch dann fluchen, wenn keine Zofe die Ketten Ihr nach der Mode mehr hängt! Da wird sich der Satan ergötzen!...30

XX. Gesang Ariels Das ist ein ‚unvergilscher‘, ein unpastoraler, ein unidyllischer Ausklang. Zur Gattung in allen ihren drei Ausprägungen gehört der Entwurf von Alternativen, das eben ist ihre Vergil’sche Mitgift. Voß, der Altphilologe, wusste auch darum. Und deshalb ist er zur Zyklenbildung geschritten, einer Neuerung in der Gattungsgeschichte. Eine Trilogie hat er nachträglich ausgeformt, in der die Pferdeknechte den Eingang bilden. In mittlerer Position wird eine Idylle platziert, in der ein Gutsbesitzer und seine Frau über die Leibeigeschaft räsonieren und der Frau es schließlich gelingt, ihren Gemahl von der Unmenschlichkeit dieser Fron zu überzeugen. Eine dritte Idylle hallt wider vom Jubel der Befreiten, der im hochgestimmten und den Hochzeitern zugedachten Gesang sich verströmt: ‚Arkadien in Grünau‘ wie ein Nachfahre von Johann Heinrich Voß, wie Ernst Theodor Voss vor vierzig Jahren seinen bahnbrechenden Artikel zur Luise seines Vorfahren titulierte. […] O wie selig, gesellt wohlthätigen Geistern, Schweben wir einst herüber und sehn Paradiese, wo Fluch war; Hören genannt vom Hirten und Ackerer unsere Namen, Feurig in Red’ und Gesang’ und in segnender Mütter Erzählung; Hören am Freiheitsfest sie genannt vom Pfarrer mit Andacht, Leise mit Thränen genannt von dem weither denkenden Greise; Und umschwebende Seelen Entlassener winken uns lächelnd, Dort uns Tochter und Sohn, dort Enkelin zeigend und Enkel, Die im erneueten Erdparadies gottähnlicher aufblühn! Aber geeilt, mein Guter, bevor wir beide dahingehn, Wo nicht folgt ein Besitz, als redlicher Thaten Bewußtsein! Schauerlich, hätten wir halb nur gethan, und nach täuschendem Labsal Marterte hier von neuem ein unbarmherziger Fronherr!31

Es ist nicht der französische Weg, den Voß in seinen Idyllen einschlägt, obgleich sie an sozialkritischem Elan doch schwerlich zu überbieten sind. Es bleibt der deutsche, der erfüllt ist von der Hoffnung, dass Herrschaft, dass der Adel erziehbar und einsichtsfähig ist, in der Begegnung mit dem Gedankengut der Aufklärung zu Reformen sich versteht. Auch ein revolu_____________   30 31

Ebd., S. 77f. Voß, Johann Heinrich: „Die Erleichterten“. In: Der Göttinger Dichterbund. Erster Teil. Johann Heinrich Voß. Hg. v. August Sauer. Berlin, Stuttgart 1886, S. 152–163, Zitat S. 158.

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tionärer Geist wie Voß bleibt dem paternalistischen Erbe der lutherischen Reformation verpflichtet – ein in die Nachgeschichte der Idylle im 19., ja noch ins 20. Jahrhundert hineinführendes Thema. Genug, wenn es gelungen wäre, zu zeigen, dass auch die arkadischen Gattungen teilhaben an einer Geschichte des Topos von der ‚verkehrten Welt‘, und das in den beiden Komponenten der ihr eigenen Konstruktion: in der satirischen Geißelung der pathologischen Züge einer entstellten Welt, die aus der Perspektive der Schäfer, Landleute und Bauern verantwortet wird durch die an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide stehende Schicht. Und sodann in der bis an den Vorabend der Revolution nicht preisgegebenen Hoffnung, dass Umkehr möglich ist, die entstellte Welt eine menschenwürdige Gestalt anzunehmen vermöchte, sobald das von den Hirten und ihren Widergängern, den Humanisten, den Gelehrten, den Gebildeten artikulierte Vermächtnis lebenswerter, dem Menschen als Menschen zukommender Maximen die Menschheit als eine nach arkadischen und also vernünftigen Prinzipien regulierte erreicht hätte und von ihr in tätigen Besitz genommen worden wäre.32

Literaturverzeichnis Albrecht, Michael von: Vergil. Bucolica – Georgica – Aeneis. Eine Einführung. Heidelberg 2006. Alewyn, Richard u. Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959. Becker-Cantarino (Hg.): Martin Opitz. Studien zu Leben und Werk. Amsterdam 1982. Behle, Carsten: ‚Heil dem Bürger des kleinen Städtchens‘. Studien zur sozialen Theorie der Idylle im 18. Jahrhundert. Tübingen 2002. Behrens, Irene: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle/Saale 1940. Birken, Sigmund von: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst. Nürnberg 1679. Birken, Sigmund von: „Schönheit-Lob und Adels-Prob. MDCL“. In: Pegnesis oder der Pegnitz Blumgenoß-Schäfere FeldGedichte in Neun Tagzeiten: meist verfasset/ und hervorgegeben/ durch Floridan. Gedruckt und verlegt v. Wolf Eberhard Felseckern. Nürnberg A. M DC LXXIII, S. 211–272. Birken, Sigmund von: Schönheit=Lob auf ein Freudenreiches Eh= und Ehrenfest/ neben einem Glück=Zuruf gesungen und aus fremder Ferne übersendet von Falindor und Hylas/ zween Schäfern. Nürnberg/ bey Wolfgang Endtern/ dem ältern. M.DC.LI. Birken, Sigmund von: Glükkwünschende Zuruffung auff den TrauungsTag des Edeln/Vesten und Hochgelarten Herrn H. Joh. Friederich Friesendorff/ […]. Hamburg 1650.

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Ein erster Prospekt zu einer derartigen Lesart der Gattung: Garber, Klaus: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009.

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Birken, Sigmund von: Fortsetzung Der Pegnitz=Schäferey/ behandlend/ unter vielen andern rein=neuen freymuhtigen Lust=Gedichten und Reimarten/ derer von Anfang des Teutschen Krieges verstorbenen Tugend=berümtesten Helden Lob=Gedächtnisse; abgefasset und besungen durch Floridan/ den Pegnitz=Schäfer. mit Beystimmung seiner andern Weidgenossen. Nürnberg 1645. Birken, Sigmund von: „Hochzeitliches Schäfer=Gedicht in Besprechung der Pegnitzhirten übersendet von Floridan“. In: Glükwünschende Gedichte Auf den Hochzeitlichen Ehren=Tag Deß Ehrenvesten und Hochgelarten Herren Heinrich Krolowen/ Beyder Rechten Candid. & Consiliarii der Stadt Lüneburg. und Der WolEhren= und Tugendreichen Jungfern Magdalenen Wulkowen/ Des Edlen/ Vesten/ Hochgelarten vnd Hochweisen Herren Wilhelm Wulkowen/ beyder Rechten Doctorn vnd wolverdienten Burgermeisters daselbsten/ Eheleiblichen Tochter. Welcher gehalten den 29. Tag deß WeinMonats Jm Heil=Jahre MDCXLIX. vbersendet von Vornehmen Freunden vnd Pegnitzschäferen aus Nürnberg. Gedruckt zu Hamburg bey Michael Pfeiffern, f. B1r–f. C2v. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart ²1977. Buchheit, Vinzenz: Der Anspruch des Dichters in Vergils Georgika. Dichtertum und Heilsweg. Darmstadt 1972. Cardini, Franco: La crisi del sistema comunale. Mailand 1982. Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern ²1954. Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Reinbek bei Hamburg 1985. Deppe, Uta: Die Festkultur am Dresdner Hofe Johann Georgs II. von Sachsen (1660–1679). Kiel 2006. Effe, Bernd u. Gerhard Binder: Die antike Bukolik. München, Zürich 1989. Effe, Bernd (Hg.): Theokrit und die griechische Bukolik. Darmstadt 1986. Evans, Robert J.W.: Rudolf II and His World. A Study in Intellectual History 1576–1612. Oxford 1973; deutsche Version unter dem Titel: Rudolf II. Ohnmacht und Einsamkeit. Graz 1980. Garber, Klaus: „Sub Specie Theatri. Ein weiter Blick aus dem Abstand auf das europäische Theater der Frühen Neuzeit“. In: Europäische Schauplätze des frühneuzeitlichen Theaters. Normierungskräfte und regionale Diversität. Hg. v. Christel Meier u. Angelika Kemper. Münster 2011, S. 25–41. Garber, Klaus: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009. Garber, Klaus: „Die Idee der Nationalsprache und Nationalliteratur in der Frühen Neuzeit Europas“. In: Ders.: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. München 2009, S. 107–213. Garber, Klaus: „‚De vera nobilitate‘. Zur Formation humanistischer Mentalität im Quattrocento“. In: Ders.: Literatur und Kultur im Europa der Frühen Neuzeit. Gesammelte Studien. München 2009, S. 443–503. Garber, Klaus: „Wege in die Zukunft. Friedrich Heers ‚Die dritte Kraft‘ als europäisches Vermächtnis“. In: Die geistige Welt des Friedrich Heer. Hg. v. Richard Faber u. Sigurd Paul Scheichl. Wien u.a. 2008, S. 107–128. Garber, Klaus: „Sprachspiel und Friedensfeier. Die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts auf ihrem Zenit im festlichen Nürnberg“. In: Der Westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, Rezeptionsgeschichte. Hg. v. Heinz Duchhardt. München 1998, S. 679–713. Garber, Klaus: „Bukolik“. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. A–G. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 31997, S. 287–291.

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Verkehrte Welt in Arkadien?

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Deutsche Schäferspiele im 17. Jahrhundert. Eine Textsorte und ihre Funktionen CHRISTIANE CAEMMERER

I. Einführung Die Forschung hat sich seit den 1960er Jahren der bukolischen Literatur der Frühen Neuzeit in Deutschland in ausführlicher Weise angenommen und zu einzelnen Schreibvarianten wie Schäferroman und Prosaekloge detaillierte Untersuchungen zum Utopiepotential1 und zur Darstellung privater bzw. biographisch belegbarer Themen2 vorgelegt. Mit den deut_____________   1

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Vgl. hierzu die Arbeiten von Garber, Klaus: „Forschungen zur deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. und 18. Jahrhunderts“. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 3 (1971) H. 2, S. 226–242; ders.: „Vergil und das Pegnesische Schäfergedicht. Zum historischen Gehalt pastoraler Dichtung“. In: Deutsche Barockliteratur und europäische Kultur. Hg. v. Martin Bircher u. Eberhard Mannack. Hamburg 1977, S. 168–203; ders.: „Arkadien und Gesellschaft. Skizze zur Sozialgeschichte der Schäferdichtung als utopischer Literaturform Europas“. In: Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 2. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart 1982, S. 37–81; ders.: „Martin Opitz‘ Schäferei von der Nymphe Hercinie. Ursprung der Prosaekloge und des Schäferromans in Deutschland“. In: Martin Opitz. Studien zu Werk und Person. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino. In: Daphnis 11 (1982) H. 3, S. 547–603; ders.: „Utopia. Zur Naturdichtung der Frühen Neuzeit“. In: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift für Paul Raabe. Hg. v. August Buck u. Martin Bircher. Amsterdam 1987, S. 435–455; ders.: „Arkadien-Utopie“. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4. R–Z. Hg. v. Hans Jörg Sandkühler. Hamburg 1990, S. 685–690. Vgl. Heiduk, Franz: „Die Liebes-Beschreibung von Amoena und Amandus“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 17 (1973), S. 136–153; Breuer, Ingo: „Historien von Liebe und Narrheit. Überlegungen zur Gattungstypologie frühneuzeitlicher Erzählliteratur am Beispiel des ‚Schäferromans‘“. In: Simpliciana 20 (1998), S. 255–282; Hirsch, Arnold: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes. Köln, Wien ³1979; Bauer, Marieluise: „Zum Zeitverständnis landadliger Schäferromane“. In: Schäferdichtung. Hg. v. Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1977, S. 20–38; Bauer, Marieluise: Studien zum deutschen Schäferroman des 17. Jahrhunderts. Diss. phil. München 1979; Spellerberg, Gerhard: „Damon und Lisille. Eheroman und Vorläufer des bürgerlichen

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schen Schäferspielen tut sie sich bis heute schwer. Diese mehr oder weniger stark an ausländischen Vorlagen orientierten Spiele wurden selten eines zweiten Blickes für Wert befunden. Ein stark normierter Handlungsablauf, ein festes Personenrepertoire und ein sehr ähnliches Argumentationsgefüge erwecken leicht den Anschein stereotyper Gleichartigkeit. Beide Sachverhalte erschweren die Beschreibung der literarhistorischen Funktion einer Textgruppe, will man nicht bei den individualästhetisch geprägten Urteilen des 19. Jahrhunderts stehen bleiben, die die Schäferspiele ausschließlich als adligen Zeitvertreib ohne literarische und gesellschaftliche Bedeutung ansahen. Dennoch ist der zweite Blick notwendig, den Klaus Garber noch einmal in seiner kleinen Schrift zu Arkadien in der Literatur eingefordert hat, indem er auf die Notwendigkeit detaillierter Einzelanalysen bukolischer Texte und ihrer Paratexte hinwies, um ihnen auf die Spur ihrer Funktionen und Aussagen zu kommen.3 Genau dies gilt in verstärktem Maße auch für die deutschen Schäferspiele. Wen ich frühling sage, so dencke ich allezeit ahn meinen armen bruder’s, wie er Silvius war undt Gendt Mirtillus; daß macht mich doch gantz trawerig, wen ich dieße glückliche zeitten betrachte undt wie sie nun vorbey; kan also mitt Mirtillus sagen: Ach, früling, deß jahres jugendt, schöne mutter der blühmen, der grünen kreütter undt der neüen liebe, du kommst zwar wider herbey, aber die holden undt glückseelichen tagen meiner freüde kommen nicht wieder; die seindt leyder lengst vorbey, aber ahnstadt freüden finden sich betrübtnuß, angsten undt sorgen.

So schreibt Lieselotte von der Pfalz 1721 an ihre Halbschwester, die Raugräfin Luise.4 Diese Briefstelle führt in viele Facetten der Textsorte ‚Schäferspiel‘ und ihrer Verortung im Literatur- und Kultursystem Deutsch_____________  

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Privatromans des 18. Jahrhunderts?“ In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. v. Norbert Honsza u. Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988, S. 703–731; Spellerberg, Gerhard: „Schäferei und Erlebnis. Der erste deutsche ‚Schäferroman‘ und die Forschung“. In: Daphnis 18 (1989) 1, S. 59–112; Caemmerer, Christiane: „Des Hylas aus Latusia lustiger Schauplatz von einer Pindischen Gesellschaft. Der Bericht über eine Gruppe studentischer Liedermacher im Leipzig des 17. Jahrhunderts“. In: Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff von Freunden, Schülern und Kollegen, Bd. 1. Hg. v. James Hardin u. Jörg Jungmayr. Bern u. a. 1992, S. 775–798; Caemmerer, Christiane: „Drei in einem. Schäferdichtung als Prosatextsorte“. In: Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum internationalen Kongreß in Berlin, 20. bis 22. September 1999. Hg. v. Franz Simmler. Bern u. a. 2002, S. 53–64; Wels, Ulrike: „Keuschheit und Vernunft. Geschlechterdiskurse über die Liebe vor der Ehe in Amoena und Amandus“. In: Liebe als Metapher. Eine Studie in elf Teilen. Hg. v. Walter Delabar u. Helga Meise. Frankfurt a.M. 2013, S. 35–63. Vgl. Garber, Klaus: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. Paderborn 2009, S. 14. Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans aus den Jahren 1721 und 1722. Hg v. Wilhelm Ludwig Holland. Tübingen 1881, S. 90–91.

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lands ein. Lieselotte nimmt den Gestus bukolischen Schreibens auf, wenn sie hier ihre Jugend mit dem Frühling verbindet, während sie sich an die deutschsprachige Aufführung eines der beiden großen Schäferspiele Italiens, an die Aufführung von Giovanni Battista Guarinis Pastor Fido im Heidelberger Schloss erinnert, die in der Zeit zwischen 1663 und 1671 unter Beteiligung der jungen Mitglieder des kurpfälzischen Hofes stattgefunden hat.5 Damit stellen sich die deutschen Schäferspiele des 17. Jahrhunderts als Übersetzungen ausländischer Vorlagen vor, die bei höfischen Festen aufgeführt worden sind und in erster Linie von der Liebe handeln. Lieselotte ruft darüber hinaus im wörtlichen Zitat aus der Übersetzung von Statius Ackermann den Schauplatz der bukolischen Literatur und somit auch aller Schäferspiele auf,6 den locus amoenus: Ein Ort, er mag Sizilien, Arkadien oder ganz anders heißen, der charakterisiert ist durch eine blumenbestandene Wiese, eine Quelle oder einen Brunnen und einige Bäume. Es ist ein Wunschort, ein utopischer Ort, auch ein Ort der Erinnerung, aber stets ein Ort des Glücks, der immer auch auf den Spielort, den Hof, an dem das Stück aufgeführt wird, zurückverweisen soll.7 Seit den Idyllen Theokrits zeichnet er sich durch permanent schönes Wetter und ewigen Frieden aus, bewohnt von Schäfern, die sich in engster Harmonie miteinander und mit der Natur befinden. Störungen dieser Harmonie, für die als topischer Gegenort der locus terribilis steht, der dunkle und unheimliche Wald, der die schäferliche Landschaft ergänzt, sind nur von kurzer Dauer. Die gesellschaftlichen Strukturen sind gegenüber denen der eigenen Gegenwart so wenig ausgeprägt, dass die Problemstellungen, mit denen sich der Autor auseinandersetzt, seien sie tagespolitischer, gesellschaftlicher oder geistlicher Natur, auf ein Kernmotiv, auf einen Affekt reduziert werden: die Liebe. Dies gilt auch für die dramatische Ausformung der bukolischen Literatur. Es ist der von der zeitgenössischen Literaturtheorie angenommene Müßiggang der schäferlichen Profession, der dazu geführt hat, dass die Liebesdichtung als bei den Schäfern am locus amoenus zu Hause gedacht worden ist.8 In einem immer ähnlichen Hand_____________   5 6 7

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Vgl. Bolte, Johannes: „Schauspiele am Heidelberger Hof, 1650–1687“. In: Euphorion 31 (1930), S. 578–591. So überzeugend nachgewiesen in: Bolte: „Schauspiele“, S. 578–591. Vgl. hierzu die Untersuchungen von Klaus Garber, insbesondere die von ihm in die Thematik detailliert einführende Studie Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln, Wien 1974. Hier hatte allen voran Julius Caesar Scaliger in seinen Poetices libri septem die bukolische Dichtung als älteste Dichtung ‚Antiquissimum, Pastorale‘ bezeichnet. Für ihn bot sich unter den Lebensformen der Frühzeit vor allem das Schäfertum zum Dichten und Singen an, wobei die enge Gemeinschaft der Schäferinnen und Schäfer und das Beispiel der Schafe

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lungsverlauf geht es darum, den richtigen Partner zu finden, zu wählen und zu erobern. So gehört auch der immer gute Ausgang zu den Ausstattungsmerkmalen der Textsorte. Damit stehen auf der literalen Ebene im Mittelpunkt aller Schäferspiele Liebe und Partnerwahl. Gleichzeitig werden neue Formen der Höflichkeit, Höfischkeit und des guten Benehmens nach dem Vorbild des Cortegiano Baldassarre Castigliones entwickelt und vorgestellt, Affekte und Affektregulierungsmechanismen benannt und im Preis der Goldenen Zeit,9 der seit Jacopo Sannazaros Arcadia zum bukolischen Repertoire gehört, über die rechte Herrschaft und mögliche Herrschaftsmodelle ebenso diskutiert wie über sozialutopische Elemente dieses Motivs: ewiger Frieden und Liebesfreiheit.10 Die Darstellung der Handlung dient den Autoren und Bearbeitern auch dazu, neue Formen des Dichtens zu präsentieren. Denn Schäfer klagen über ihre unerfüllte Liebe in Versen. Hier stellen die Idyllen Theokrits das sprachliche Material für die Argumentationen bereit. Das Fachgespräch der Hirten über die Herde, ihre Liebesklagen und Gespräche über die Liebe, ihr Wettgesang sowie ihre Schilderungen des locus amoenus bilden die Folie für politische, geistliche oder gesellschaftliche Diskurse. Ferner finden sich Elemente der Panegyrik und Verweise auf die Gegenwart bis hin zu Darstellungen von Zeitgenossen, die seit Vergil fester Bestandteil der Eklogenliteratur sind und auf die anderen bukolischen Textsorten übertragen werden.11

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dazu geführt habe, dass sie in ihren Dichtungen vor allem von der Liebe erzählten. Vgl. Scaliger, Julius Caesar: Poetices libri septem. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561 mit einer Einleitung von August Buck. Stuttgart, Bad Cannstatt 1964, S. 6–7. Seine Argumentation wurde übernommen von: Harsdörffer, Georg Philipp: Poetischer Trichter, 2. Teil. Nürnberg 1648. Reprint. Darmstadt 1969, S. 102; ebenso in den 1660er Jahren von Kindermann, Balthasar: Der deutsche Poet. Wittenberg 1664. Reprint. Hildesheim, New York 1973, S. 261. Vgl. hierzu Caemmerer, Christiane: „Die Liebe als Affekt im höfischen Schäferspiel“. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, Bd. 2. Hg. v. Johann Anselm Steiger u. a. Wiesbaden 2005, S. 849–861. Siehe hierzu Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des Goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und zu ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965; Petriconi, Hellmuth: „Über die Idee des Goldenen Zeitalters als Ursprung der Schäferdichtung Sannazaros und Tassos“. In: Die Neueren Sprachen 38 (1930) H. 4, S. 265–283; Caemmerer, Christiane: Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit. Deutsche Schäferspiele des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1998, S. 33. Vgl. Garber, Klaus: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. Paderborn 2009, S. 33–42.

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II. Die Herausbildung der Textsorte ‚Schäferspiel‘ in Italien Die europäische Literatur kennt bukolische Schauspiele, Schäferspiele, nicht erst seit dem 31.7.1573, als Aminta von Torquato Tasso, dem damaligen Hofdichter des Hauses d’Este, auf der Po-Insel Belvedere in Ferrara für die Hofgesellschaft des Fürsten Alfonso II. aufgeführt wurde. Denn schon seit dem Ende des 15. Jahrhunderts war es an den Höfen der italienischen Kleinstaaten üblich geworden, zu festlichen Anlässen Eklogen zu rezitieren, die sich aufgrund ihrer dialogischen Struktur dazu gut eigneten und meist in einem Lob auf das Herrscherhaus mündeten. Hieraus entwickelten sich nach und nach kleine Schauspiele.12 Aber Tassos Spiel und der rund zehn Jahre später von seinem zeitweiligen Nachfolger im Amt, dem Hofdichter Giovanni Battista Guarini, als Erwiderung geschriebene Pastor Fido sind für die deutsche Rezeption zu den Prototypen der Gattung geworden.13 Beide Spiele stellen ein festes Repertoire an Handlungselementen und Figuren bereit, auf das nachfolgende Autoren immer wieder zurückgegriffen haben. Die einsträngige Handlung von Tassos Aminta vom Liebeswerben des Schäfers um die keusche Schäferin Silvia,14 die sich ihm als Jägerin und Dienerin der Göttin Diana immer wieder verweigert, wird erst zu einem guten Ende geführt, als Silvia annehmen muss, Aminta sei gestorben und aus ihrem Mitleid nun Liebe entsteht. Guarini legt seinem Stück eine vergleichbare Handlung mit umgekehrter Rollenverteilung zu Grunde. Hier ist es die Schäferin Dorine, die versucht, den keuschen Schäfer Silvio, der ebenfalls als Jäger der Göttin Diana dient, zur Liebe zu bewegen. Auch er empfindet zunächst Mitleid mit der von ihm für ein Reh gehaltenen und angeschossenen Schäferin, bevor er schließlich die Liebe zu ihr zulassen kann. Guarini aber gestaltet die Liebeshandlung komplexer als Tasso: Er fügt mit Amarillis und Mirtill ein zweites Paar als Handlungsträger ein. Zudem verzichtet er nicht mehr auf die Gestaltung gesellschaftlicher Zusammenhänge und Zwänge. Denn Amarillis glaubt, _____________   12

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Vgl. hierzu: Greg, Walter W.: Pastoral poetry and pastoral drama. A literary inquiry, with special reference to the pre-restoration stage in England. New York 1959 (Erstdruck: 1906); Clubb, Louise George: „The making of the pastoral play. Some Italian experiments between 1573 and 1590“. In: Petrarch to Pirandello. Studies in Italian literature in honour of Beatrice Corrigan. Hg. v. Julius A. Molinaro. Toronto, Buffalo 1973, S. 45–72; Caemmerer: Siegender Cupido, S. 31–40. Sampson, Lisa: Pastoral Drama in early modern Italy. The Making of a New Genre. Oxford 2006. Vgl. Guarini, Battista: „Il Pastor Fido (1590)“. In: Teatro del Seicento. A cura di Luigi Fasso. Mailand, Neapel 1956, S. 91–323. Der Pastor Fido wurde in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts geschrieben und 1590 zum ersten Mal gedruckt. Vgl. hierzu auch Caemmerer: Siegender Cupido, S. 40–66. Vgl. Tasso, Torquato: „Aminta“. In: Poesie. A cura di Francesco Flora. Mailand, Neapel 1952, S. 611–673.

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gegenüber Mirtill die Spröde spielen zu müssen, weil sie als älteste Tochter von ihrem Vater der Familie des Silvio, dem vermeintlich ältesten Sohn, versprochen worden ist, um das arkadische Orakel zu erfüllen und damit dem Land Frieden zu bringen. Was Amarillis, die anderen Bewohner Arkadiens und die Rezipienten des Schäferspiels nicht wissen, ist, dass Mirtill, der kurz nach seiner Geburt weggegeben worden ist, der älteste Sohn im Sinne des Orakels ist. Seine Bereitschaft, für Amarillis in den Tod zu gehen, erlöst Arkadien von dem jährlichen Jungfrauenopfer. Neben dem skizzierten Handlungsschema werden bei Tasso und Guarini ebenfalls bereits die als Gesprächspartner für die Protagonisten fungierenden Figuren etabliert. Es sind die gleichaltrigen oder älteren liebeserfahrenen Freunde und Freundinnen, die die vergeblich Liebenden beraten und versuchen, die Liebesverweigerer zur Liebe zu überreden. Hinzu kommen die heilkräuterkundigen Ammen und die magische Künste beherrschenden Zauberer sowie die Satyren, die mit ihrer triebhaften Liebe die friedliche Gemeinschaft ebenso bedrohen wie die untreuen und wankelmütigen Frauen, die seit Guarini häufig Corisca heißen. Daneben kann es auch eine Reihe von Göttergestalten wie Cupido, Venus, Pan und Diana geben, die in den Vorreden die Liebesverwirrungen ankündigen oder diese zum Schluss als deus ex machina lösen. Beide Spiele konnten und können unter den unterschiedlichsten Aspekten rezipiert werden. Der Aminta präsentiert ein hedonistischhöfisches Gesellschaftsideal in der Nachfolge Castigliones, er zeigt die Initiation zweier junger Menschen in die Welt der Erwachsenen durch die Liebe und kann auch als Allegorie der göttlichen Liebe gelesen werden. Der Pastor Fido dagegen stellt ein durch den Absolutismus geprägtes Gesellschaftsmodell vor und kann mit dem Opfertod des Mirtill gleichermaßen als heilsgeschichtliche Allegorie und Präsentation des neustoizistischen Constantia-Ideals aufgefasst werden. In den berühmten Chören zum ‚Lob der goldenen Zeit‘ stellen beide Spiele in Anlehnung an Sannazaro ihre je unterschiedlichen Vorstellungen von Gesellschaft vor. Für Tasso hat die zivilisatorische Entwicklung des Menschen, die er in dem Begriff ‚Ehre‘ zusammenfasst, zum Verlust der Liebesfreiheit und damit eines Lebens ohne Zwänge geführt, in dem noch galt ‚S’ei piace, ei lice‘, so formuliert er es im Chor nach dem ersten Akt. Guarini dagegen trauert in einem darauf antwortenden Chor nach dem vierten Akt seines Stückes der Zivilisation nach, wie er sie im goldenen Zeitalter verwirklicht sah. Er beklagt den Verlust der ‚wahren Ehre‘, der zur Zerstörung der ehelichen Liebe geführt habe, und den Verfall der gesellschaftlichen Werte, denn

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nun gelte nicht mehr: ‚Piaccia, se lice‘.15 Beide Schäferspiele konstituieren mit ihren Handlungsschemata und ihrem dramatischen Personal die Textsorte, mit der spätestens seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in ganz Europa höfische Feste und politische Ereignisse ausgestattet und gefeiert werden.

III. Die frühe Rezeption der neuen Textsorte ‚Schäferspiel‘ in Deutschland im Umkreis der Höfe bis zu Opitz’ Literaturreform In Deutschland erfolgt die Rezeption der Textsorte zum Ende des 16. Jahrhunderts zunächst durch die Integration kleinerer Auftritte von Schäfern in die höfischen Festakte, die damals vor allem noch Schauturniere waren. Es wird begonnen, italienische und französische Schäferspiele zu übersetzen, die über die neu verfassten Vorreden (Prologe) in die gesellschaftlichen und politischen Umstände des jeweiligen Festaktes oder des anvisierten Lesepublikums eingepasst werden. Allerdings wählen hier die gelehrten Übersetzer häufig noch das Lateinische als lingua franca. So lässt sich 1607 eine Bearbeitung des Pastor Fido in lateinischer Sprache für die Hochzeit Philipp II. von Pommern durch J. Valentin Winther und eine lateinische Fassung des Aminta aus dem Jahr 1616 von Andreas Hildebrandt nachweisen.16 Das Bemühen der Fürsten um eine an Frankreich orientierte Modernisierung der Staatsführung und des Verwaltungsapparates führte auch zu einer Orientierung an der höfischen Geselligkeit, wie sie in Italien und Frankreich gepflegt wurde. In diesem Zusammenhang steht die erste Phase der Rezeption der Schäferspiele. So tritt 1618 der treue Schäfer Mirtill aus dem Pastor Fido bei der Taufe des Sohns von Johann Friedrich von Württemberg als Beispiel für belohnte Treue und Beständigkeit auf.17 Im gleichen Jahr übersetzt Elisabeth von Hessen-Kassel im Rahmen des Bildungsprogramms, das Landgraf Moritz für seine Kinder _____________   15

16 17

Zur Übernahme dieses Gegensatzes in Goethes Torquato Tasso und damit zur Übernahme bukolischer Topoi bei Goethe vgl. Schneider, Helmut J.: „Goethes Schauspiel Torquato Tasso und Tassos Hirtenspiel Aminta. Eine Skizze zum Fortleben der pastoralen Tradition“. In: Goethe und Italien. Hg v. Willi Hirdt u. Birgit Tappert. Bonn 2001, S. 313–339. Vgl. hierzu Caemmerer: Siegender Cupido, S. 74–75. So ist es wiedergegeben in Weckherlin, Georg Rudolf: „Kurtze Beschreibung Deß zu Stutgarten/ bey den Fürstlichen Kindtauf und Hochzeit/ Jüngst-gehaltenen Frewden Fest Verfärtiget durch Georg Rodolfen Weckherlin“. Tübingen 1618. In: Stuttgarter Hoffeste. Texte und Materialien zur höfischen Repräsentation im frühen 17. Jahrhundert. Hg. v. Ludwig Krapf u. Christian Wagenknecht. Tübingen 1979, S. 189–296.

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vorsieht, mit Francesco Contarinis La Fida Ninfa ein Schäferspiel, in dem es um die Treue und Beständigkeit nicht eines Schäfers, sondern einer Schäferin zu dem von ihr geliebten Hirten über alle gesellschaftlichen Widrigkeiten hinweg geht. Der über die sprachliche Schulung weit hinausgehende erzieherische Aspekt für die junge Prinzessin, die aus dynastischen Gründen mehrere Eheanbahnungen über sich ergehen lassen musste, ist offenkundig.18 Der Fürstenerzieher Eilger Mannlich widmet 1619 seinem Schützling, dem fünfzehnjährigen Eberhard von Berlepsch seine in Knittelverse übersetzte und mit moralischen Merkverschen versehene Fassung des Pastor Fido mit dem Hinweis,19 dass man aus diesem Buch die wichtigsten Dinge über die Strukturen der Gesellschaft und des menschlichen Herzens lernen könne, was für einen jungen Adligen ebenso wichtig sei, wie die guten Kenntnisse fremder Länder: Dann hieraus wird Geberd und Sitt Und aller Menschen Sinn und Muth: Was man denckt vnd begehren thut: Verborgne Lieb; verborgner Haß: Heimlicher Neidt / Anschläg / vnnd was Sonst in dückischen Rath deß Hertzen Der Mensch beschleust: Sein Freud sein schmertz[en] Offenbar vnd klärlich erkand.20

Geht es in diesen frühen Übersetzungen und Aufführungen vor allem um die höfische Rezeption der modernen Literatur der Zeit und mit ihr um die Reform des gesellschaftlichen Lebens, so ist das Schäferspiel dennoch als literarische Textsorte zusammen mit den anderen bukolischen Textsorten ‚Schäferroman‘ und ‚Prosaekloge‘ ganz besonders mit dem großen Literaturreformator des 17. Jahrhunderts Martin Opitz verbunden. In zeitlicher Nähe zur Publikation seiner Teutschen Poeterey, in der er 1624 seine Vorstellungen von einer muttersprachlichen Dichtung und Literatur zusammenfasst, erscheinen Das Lob des Feldlebens (1623) und Zlatna oder von der Ruhe des Gemüts (1625). Es sind beides Texte, die zwar der Landlebendichtung zuzurechnen sind, aber wie die Übersetzung des Hohen Liedes (1627) das Naturdekorum ausgestaltet haben, das auch die bukolische Literatur prägt. 1627 wendet Opitz sich mit dem Text für die Oper Dafne auch der Welt des höfischen Festes und des mythologischen Schäferspiels zu und nimmt 1630 in seiner Prosaekloge Schäfferey von der Nimfen Hercinie formale und inhaltliche Elemente aus Sannazaros Arcadia auf. Damit eta_____________   18 19 20

Vgl. Knispel, Claudia: Das Lautenbuch der Elisabeth von Hessen. Frankfurt a.M. 1994, S. 19–20. Mannlich, Eilger: Pastor Fido. Ein sehr schön/ lustige vnd nützliche TRAGICO Comoedia. […] Mülhausen 1619. Mannlich: Pastor Fido, S. ijr.

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bliert er die Textsorte ‚Prosaekloge‘ in der deutschen Literatur. Hieran schließt sich die Übersetzung von Philip Sidneys großem Staats- und Schäferroman Arcadia an. Durch seine Neuschöpfungen und Übersetzungen macht er die bukolische Literatur im deutschen Literaturbetrieb heimisch. Von nun an beginnen Studenten und junge Gelehrte, die Schäferspiele zu übersetzen, die sie auf ihren akademischen Reisen kennengelernt haben. Diese Übersetzungen sollen, so die allgemeinen Selbstaussagen in den Vorreden, zur Lektüre unter Freunden dienen. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges beginnen diese Studenten und jungen Gelehrten im Dienste der kleinen territorialen Höfe ausländische Schäferspiele für höfische Feste umzuarbeiten.

IV. Die Übersetzungen des Aminta und des Pastor Fido Die beiden italienischen Vorbilder sind in Deutschland sehr unterschiedlich rezipiert worden. Tassos kleines Kammerspiel ist kaum aus den Bücherstuben der Gelehrten herausgekommen. Der Wittenberger Ethikprofessor Michael Schneider hat mit seiner nicht auf dem Original, sondern auf einer französischen und lateinischen Übersetzung fußenden deutschen Fassung von 1639 den Text für eine zeitgemäße Erziehung des jungen Adels bereitgestellt,21 wie er in seiner Vorrede erläutert.22 Auf der Grundlage dieser Textfassung bearbeitet Philipp von Zesen das italienische Schäferspiel so, dass es seinem eigenen Sprach- und Literaturprogramm entspricht, und gibt ihm den Titel Der herzlichverliebte, schmerzlichbetrübte beständige Roselieb.23 Die Bearbeitung erscheint 1646 in Hamburg. Zesen verortet seinen Text im mitteldeutschen Raum und verschiebt den Akzent des Stückes von Tassos ‚s’ei piace, ei lice‘ auf ein dem Pastor Fido vergleichbares Constantia-Ideal.24 Wenn Aminta auch nicht so häufig übersetzt und bearbeitet worden ist wie Pastor Fido, so wird das Stück dennoch in Deutschland sehr viel gespielt, denn es gehört in das Repertoire der deutschen Wanderbühnen.25 _____________   21 22 23 24 25

Vgl. Schneider, Michael: Des berühmten Jtaliänischen Poeten Torquati Tassi AMJNTAS oder Waldtgedichte […]. Wittenberg 1639 (2. Auflage: Hamburg 1642. HAB Wolfenbüttel). Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 91–93; Bornemann, Ulrich: „Michael Schneider. Ein vergessener deutscher Dichter des 17. Jahrhunderts“. In: Daphnis 8 (1979) H. 2, S. 265– 308. Vgl. [Zesen, Philipp von]: Der herzlich=verliebte schmerzlich=betrübte beständige Roselieb: oder Wald=spiel […]. Hamburg 1646. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 93–95. Vgl. u.a. „Comedia. Von den Aminta und Silvia“. In: Liebeskampff oder ander Theil der engelischen Comoedien und Tragoedien. […] o.O. 1630. Neudruck in: Spieltexte der Wanderbühne,

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Allerdings wird das schäferliche Ambiente in der dort gespielten Fassung völlig aufgegeben. Statt einer stolzen Jägerin ist Silvia hier ein fleißiges Hausmütterchen, das sich im Nähen und Spinnen übt, während es auf den Richtigen wartet. Diesen hält sie dann so lange hin, bis sie sicher sein kann, dass er sie heiratet. Nicht die Angst vor dem Affekt der Liebe, sondern das Streben nach sozialer Sicherheit bestimmt ihr Handeln.26 Guarinis Pastor Fido dagegen ist nicht nur früh auf den höfischen Festen präsent, sondern wird auch für die Adelserziehung eingesetzt. Von Eilger Mannlichs Fassung in Knittelversen war schon die Rede. Lieselotte von der Pfalz bezieht sich in ihrem oben zitierten Brief auf die Aufführung einer von Statius Ackermann übersetzten Fassung, die mit den von Paul Fleming bearbeiteten Chören schon 1653 am sächsischen Hof gespielt worden ist.27 Es gibt darüber hinaus ein reiches Maß an handschriftlichen Übersetzungen, die sicher bis heute noch nicht alle bekannt sind und die zeigen, welche Bedeutung diesem Text aus sprachlicher und erzieherischer Perspektive beigemessen worden ist.28 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts werden ungefähr zeitgleich die Übersetzungen der beiden großen schlesischen Autoren Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Hans Aßmann von Abschatz gedruckt.29 Hofmann von Hofmannswaldau hatte seine Übersetzung schon in den fünfziger Jahren verfasst. Sie kursierte in verschiedenen Manuskriptfassungen, bis 1678 ein Raubdruck hergestellt wurde, auf den Hofmannswaldau mit einem autorisierten eigenen Druck reagierte. Dies veranlasste Abschatz, seine Übersetzung für seinen adligen Freundeskreis gleich als Druck zu veröffentlichen. Der Druck ist nicht datiert, aber die Vorrede lässt es zu, ihn in den 1670er Jahren zu vermuten. Die Publikationsgeschichte der beiden Übersetzungen zeigt erneut die Faszination, die von Guarinis Text ausgegangen ist, der sowohl gespielt als auch gelesen wurde. Beide Autoren haben ihn nicht bekannt machen müssen, sondern _____________  

26 27 28 29

Bd. 2. Unter Mitwirkung v. Hildegard Brauneck hg. v. Manfred Brauneck. Berlin, New York 1975, S. 91–210. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 77–79. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 100–102. Vgl. Schwartzwald, Heinrich: Il Pastor Fido. Der Getrewe Schäffer auß dem Italiänischen ins Teütsche übergesetzet von H. S. [1674]. [Handschrift]. Standort: Bibl. Gedanska. Vgl. [Hofmann von Hofmannswaldau, Christian:] IL PASTOR FIDO Oder Der getreue Schäfer Aus dem Jtalienischen deß Ritters B. Guarini. [Wolffenbüttel 1678.] [Szenar]. Reprint in ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2. Curriculum studiorum und andere gedruckte Werke. Hg. u. mit einem Nachw. versehen v. Franz Heiduk. Hildesheim u.a. 1993, S. 427–456; [Hofmann von Hofmannswaldau, Christian:] „Der Getreue Schäfer“. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1. Deutsche Ubersetzungen Und Getichte […]. Teil 1. Breslau 1679. Reprint. Hg. u. mit einem Nachw. versehen v. Franz Heiduk. Hildesheim u.a. 1984, S. 49–267. Vgl. auch: Caemmerer: Siegender Cupido, S. 111–123.

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mit ihren Übersetzungen ihre Kunstfertigkeit unter Beweis stellen können. Für beide stehen die Liebesthematik und ihre Gestaltung im Mittelpunkt ihrer Arbeit, mit der sie sich an eine kleine, ihnen vertraute Leserschaft richten. Hofmannswaldau entschuldigt nicht mehr die süße Schale der Liebeshandlung mit dem bitteren Kern der vermittelten Lehre, sondern stellt wie Guarini den Spaß an der Lektüre in den Mittelpunkt seiner Übersetzung. Es geht ihm weniger um die Erzählung der Geschichte als vielmehr um die Darstellung der unterschiedlichen Affekte, für deren Gestaltung er freie Rhythmen und den arguten und marinistischen Stil der 1650er Jahre einsetzt. In seiner Fassung ist das Stück 1678 in Wolfenbüttel aus Anlass des Besuches der Piastenherzogin Luise und ihrer Tochter aufgeführt worden. Abschatz nennt in der Vorrede zu seiner Übersetzung diese selbstbewusst den ‚jüngeren Bruder‘ der Hofmannswaldauschen Fassung. Er nimmt das Ausdrucksrepertoire der 1670er Jahre auf, führt den Text aus den Höhen der Spitzfindigkeit und Dunkelheit des manierierten Stils zurück auf die mittlere Stilebene galanten Schreibens und setzt wieder Alexandriner und die kurze Madrigalform ein. Dabei opfert er Guarinis Argumentation im ,Lob der goldenen Zeit‘ (Chor nach dem 4. Akt) seiner eigenen galanten Konzeption. Die Ursache für den Verfall der Sitten sieht er nicht in mangelnder Keuschheit wie Guarini, sondern in restriktiver Lustfeindlichkeit, die dazu geführt habe, dass man im Verborgenen lieben müsse. Und so sagt er in der Vorrede zur 2. Auflage in Bezug auf seine Übersetzung zu Recht: „Gvarini ist in die Fußstapfen des Tasso getreten/ und ihm weit zuvor gekommen.“30

V. Jenseits von Tasso und Guarini: Übersetzungen bürgerlicher Gelehrter und höfische Aufführungen Mit Hermann Heinrich Schers New=erbawte Schäferey von der Liebe Daphnis und Chrysilla aus dem Jahre 1638 sei ein von der Literarhistorie bisher kaum wahrgenommener Autor und sein einziges Schäferspiel als Beispiel für die Bearbeitung eines Schäferspiels für ein bürgerlich-gelehrtes Publikum vorgestellt.31 Scher nutzt die Möglichkeiten, die ihm das bukolische Drama anbietet, um staatstheoretische Probleme zusammen mit gesell_____________   30 31

Abschatz, Hans Aßmann von: „Pastor Fido“. In: Poetische Ubersetzungen und Gedichte. Breßlau 1704. Reprint. Hg. v. Erika Alma Metzger. Bern 1970, S. 4. Vgl. Scher, Hermann-Heinrich: Hermann=Heinrich Scheren von Jever New=erbawte Schäferey/ Von der Liebe Daphnis vnd Chrysilla, Neben Einem anmutigen Auffzuge vom Schafe=Dieb. Hamburg 1638.

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schaftlichen und moralischen Fragen im Rahmen einer Schäfergesellschaft eigenständig zu erörtern, obwohl seinem Spiel eine niederländische Vorlage von Jan Harmens Krul zugrunde liegt. Dabei plädiert Scher anders als Krul im Sinne des Neustoizismus für eine auf Beständigkeit, Tugend und Vernunft ausgerichtete Liebe. Liebeslust und Liebesfreiheit werden hier als Gesellschaft und Staat bedrohende Aspekte des Liebesaffektes gewertet, sofern dieser nicht durch Vernunft diszipliniert wird. Dies wird sowohl im schäferlichen Bereich als auch in der höfischen Gesellschaft dargestellt. Denn Scher greift mit der Vorlage eine Handlungsvariante auf, die auch viele andere deutsche Autoren gerne verwenden. Er konfrontiert die ideale Schäferwelt mit dem Hof, der in diesem Fall den locus terribilis repräsentiert.32 So verhält es sich auch in Ernst Christian Homburgs Bearbeitung von Jean Mairets Sylvie (1627/1628). Mairet gehörte in Frankreich zur politischen Opposition gegen Ludwig XIII. und Kardinal Richelieu. Er legt seinem Spiel eine Episode aus dem IX. Buch des Amadis zu Grunde und arbeitet sie in ein Schäferspiel um. Mit der Liebe zwischen Prinz und Schäferin stellt er ein galantes Liebeskonzept dar, wie es die Diskurse der Pariser Salons bestimmt. In der Ablehnung dieser Verbindung durch den König und in seinem Versuch, das Paar mit Zauberkraft zu trennen, bezieht Mairet zudem Position gegen die Machtanmaßungen Ludwigs XIII. Homburgs Übersetzung und Bearbeitung, die unter dem Titel Dulcimunda 1644 erschienen ist,33 rückt zwar die Liebesgeschichte stärker in den Mittelpunkt, gibt jedoch den galanten Liebesdiskurs auf. Er nimmt auch den politischen Diskurs aus der Tagesaktualität heraus, indem er ihn allegorisch überhöht. Im Schlusstableau geht es nur noch um die falsche Herrschaft, die vom König und seinem schlechten Ratgeber präsentiert wird, und um die rechte Herrschaft, die durch den Prinzen und seine Verbindung mit der Tugend, d. h. mit der Schäferin, dargestellt wird.34 Wie _____________   32

33 34

Zu Scher vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 169–195, und Caemmerer, Christiane: „Original und Übersetzung vs. Quelle und Text. Zur Bedeutung der Quellen bei der Edition von Schäferspielen des 17. Jahrhunderts am Beispiel von Jan Harmens Krul Cloris en Philida und Hermann Heinrich Scher Daphnis und Chrysilla“. In: Quelle, Text, Edition. Ergebnisse der österreichisch-deutschen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996. Hg. v. Anton Schwob u. a. Tübingen 1997, S. 149– 167. Vgl. Homburg, Ernst Christoph: Tragico-Comoedia Von der verliebten Schäfferin Dulcimunda. Jena 1643. Vgl. ausführlich hierzu Caemmerer, Christiane: „Sylvie und Dulcimunda. Deutsche Schäferspiele der frühen Neuzeit im Spiegel des interkulturellen Texttransfers. Probleme der Edition und Kommentierung“. In: Edition und Übersetzung. Zur wissenschaftlichen Dokumentation des interkulturellen Texttransfers. Beiträge der internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für Germanistische Edition, 8. bis 11. März 2002. Hg. v. Bodo Plachta u. Winfried Woesler. Tübingen 2002, S. 377–387.

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Schneider, Homburg und Scher gehört auch der Bearbeiter der Bergerie von Antoine de Montchrestien, August Augspurger, zum akademischstudentischen Milieu der Wittenberger Schüler von August Bucher. Er wählt für seine Übersetzung, die 1644 unter dem Titel Schäfferey erscheint,35 wie Scher und Homburg eine Prosa-Versform, die sonst vor allem für die Prosaekloge und den kurzen deutschen Schäferroman typisch ist. So kann es nicht verwundern, dass sein Spiel um die Liebe zwischen fünf Paaren vor allem als Traktat über die Liebe rezipiert worden ist, wie die Widmungstexte zeigen.36 Kaspar Stieler gibt in seiner Bearbeitung des Stoffes für ein Hoffest den Traktatcharakter völlig auf. In seiner Basilene von 1667 kürzt er den breitangelegten Liebesdiskurs stark ein und integriert die typischen Figuren und Situationen des Schäferspiels in eine den Zuschauern aus der Komödientradition und von der Wanderbühne vertraute Welt.37 Außerdem verändert er die neuplatonische Liebeskonzeption Montchrestien/Augspurgers zugunsten eines traditionell protestantisch-christlichen Weltbildes, indem er die heilsgeschichtlichen Konnotationen verstärkt, die im Pastor Fido schon angedeutet sind, dessen ,Mirtill und Amaryllisʻ-Handlung Monchrestien/Augspurger als Vorlage diente. Auf diese Traditionen zurückgreifend wird von Stieler das Thema der menschlichen Beständigkeit angesichts der Wechselfälle des Lebens gestaltet. Er versieht das Spiel, das am Geburtstag des Fürsten Albert Anton zu Schwartzburg-Rudolstadt aufgeführt worden ist, mit einem Prolog, der vom Kriegsgott Mars, und einem Epilog, der von der Friedensgöttin Irene gesprochen wird. Beide Reden kommentieren die politische Lage, in der sich der kleine Territorialstaat gerade befindet, und warnen den Fürsten vor kriegerischen Auseinandersetzungen.38 Ähnlich komplex stellt sich auch die Rezeption der holländischen Aspasia von Jacob Cats in ihren deutschen Bearbeitungen durch die Wanderbühne bzw. für ein Hallenser Hoffest von Daniel Elias Heidenreich dar.39 Die über strukturelle und formale Veränderungen hinausgehende Modifi_____________   35 36 37 38 39

Vgl. Augspurger, August: Schäfferey/ Auß dem Frantzösischen ANTONII MONTCHRESTIENS. […] Dresden 1644. SuUB Göttingen; Städt. Schloßb. Mannheim; SLB Stuttgart; HAB Wolfenbüttel u.a. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 197–224. Vgl. [Stieler, Caspar]: Basilene. Lustspiel. Rudelstadt [1662]. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 224–242. Vgl. Cats, Jacob: „Königliche Schäferin/ Aspasia, Freuden=Spiel“. In: Ders.: Sinn=reiche Wercke und Gedichte/ Aus dem Holländischen übersetzet/ Sechster Theil. […] Hamburg 1714, S. 1–91; „Comoedia genandt Die gekröndte Schäfferin Aspasia“. In: Konvolut von 14 Dramen des XVII. Jahrhunderts der Wiener Stadt-Bibliothek. [Handschrift]. Standort: Wien Stadt-Bibliothek; [Daniel Elias Heidenreich]: Die Königliche Schäfferin/ Aspasia. Trauer=Freuden=Spiel. Halle [1672]. SuUB Göttingen.

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kation der bukolischen Textvorlage macht in der Wanderbühnenfassung aus dem republikanisch-calvinistischen Text ein Zaubermärchen in der Wiener Spieltradition und in der höfischen Fassung ein Festspiel über Tugend und Laster am Hofe. Hier verbindet sich ähnlich wie bei Homburg der Herrscher mit der Schäferin, d. h. die Macht mit der Tugend, was auch die anderen Repräsentanten des Hofes veranlasst, ihr lasterhaftes Leben zugunsten eines tugendhaften aufzugeben.40 Die Einbindung der übersetzten und/oder bearbeiteten Texte in das jeweilige höfische Fest ist vielleicht kein Spezifikum der Textsorte Schäferspiel, kann aber aufgrund des jeweils unspezifischen Schauplatzes, als der sich der locus amoenus auch dann präsentiert, wenn er Sizilien oder Arkadien heißt, besonders überzeugend gelingen – zumal die Affinität der deutschen Höfe zur Schäferliteratur besonders groß gewesen ist. Dies zeigt unter anderem der Zusammenschluss einiger zum Umkreis der Fruchtbringenden Gesellschaft und der Académie des Loyales gehörenden Adligen, der unter dem Namen Académie des Parfaits Amants Honoré d’Urfé um eine Fortsetzung seines großen Schäferromanzyklus Astrée bat. Die Mitglieder hatten sich alle schäferliche Namen aus dem französischen Kultroman zugelegt und korrespondierten gerne unter diesen Namen. Hier gibt es Briefzeugnisse, die den mehr oder weniger geselligen höfischen Alltag so schildern, als sei er aus einem Schäferroman oder Schäferspiel entnommen.41 Welche Bedeutung dabei der schäferlichen Einkleidung des Textes zukommt, zeigen die beiden bearbeitenden Übersetzungen des Berger extravagant von Thomas Corneille durch Andreas Gryphius unter dem Titel Der schwermende Schäffer.42 Auch hier werden Schäfer- und höfische Welt einander gegenübergestellt. Sie sind aber anders verzahnt. Das Don Quijote-Motiv aufnehmend, wird hier ein Kaufmannssohn gezeigt, der die Schäferwelt seiner Romanlektüren für wahr hält und von einer kleinen Hofgesellschaft an der Nase herumgeführt wird, die bereitwillig die Idee aufnimmt, eine schäferliche Maskerade zu veranstalten. Neben der Satire auf das bürgerliche Schäferwesen, etwa das der Nürnberger Pegnitzschäfer, die in der kurzen Fassung für ein Brieger Hoffest im Jahre 1661 auch als Absage an neue gesellschaftliche Allianzen und als Beharren auf der alten Ständehierarchie gelesen werden kann, belegt vor allem die Langfassung für die zeitgenössische Druckausgabe die textsortenspezifische _____________   40 41

42

Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 371–412. Vgl. Caemmerer, Christiane: „Frühe Zeugnisse deutschsprachiger Schäferspiele des 17. Jahrhunderts an deutschen Fürstenhöfen. Überlegungen zur Konstituierung eines Textkorpus“. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. Germanistik im Konflikt der Kulturen, Bd. 2. Hg. v. Jean-Marie Valentin. Bern u. a. 2008, S. 335–341. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 343–368.

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Bedeutung des Liebesdiskurses. Dabei wird die von der neueren Forschung immer wieder behauptete Entlastungsfunktion der schäferlichen Maske für die höfische Gesellschaft in einem Gespräch zwischen Charite und Clarimond thematisiert.43 Charite erklärt Clarimond, dass sie ihm als Höfling seine Liebesschwüre nicht glaubt. Wenn er sich aber in seiner Rolle als Schäfer Philiris, die ihn zur Aufrichtigkeit verpflichte, an sie wende, so werde er vielleicht erhört: Charite: […] Clarimond der ist ein Hoffemann. Doch Philiris weiß nichts als was ein Schäffer kan. Last zu daß ich mich was der Schäffer heut annehme! Der Schäffer freyer Muth ist mehr vor mich bequeme; Als die verstelten Blick und Seuffzer voll von Kunst/.44

Clarimond gibt mit seiner Antwort der Problematik, die das höfische Verhalten verursacht, Ausdruck. Clarimond: Mein Herz bricht durch die Wort in vielmahl hundert Stücke/ Drum schweigt; und weil die Treu in freyem Leben blüht, So hört wie Philiris vor Clarimund bemüht. Es wird doch Clarimund sein Leiden stets verstecken; Wenn Philiris nicht will als Dolmetsch es entdecken. Er öffnet euch sein Hertz/ er zeigt der Seelen Grund/ Und spricht (ob wohl der Nam entlehnt) aus eignem Mund Sein unverfälschte Brunst die nun aufs höchste kommen/ Libt in der That was sie zu liben vorgenommen.45

Die höfische conduite erfordert, dass er seine wahren Gefühle verbirgt und dennoch eine galante Rede führt. Doch selbst wenn er wahr spräche, müsste er fürchten, dass ihm nicht geglaubt wird, weil am Hofe nicht die Wahrheit gesprochen wird, wie ihm Charite schon deutlich gemacht hat. Über den locus amoenus als Schauplatz und über die mit ihm verbundenen Topoi der Wahrheit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit wird im Schäferspiel ein Sprechen über die Liebe ermöglicht. Aber nicht nur das. Eine weitere Diskussion, die immer wieder in den Schäferspielen geführt wird und die bei Gryphius besonders deutlich herausgearbeitet ist, weil sie hier unter den Mitgliedern des Hofes geführt wird, ist die Gegen_____________   43 44

45

Vgl. Wiedemann, Conrad: „Heroisch – Schäferlich – Geistlich. Zu einem möglichen Systemzusammenhang barocker Rollenhaltung“. In: Schäferdichtung. Hg. v. Voßkamp, S. 96– 122. Gryphius, Andreas: Der schwermende Schäffer. Breslau 1663. Neudruck in ders.: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 8. Lustspiele II. Hg. v. Hugh Powell u. Marian Szyrocki. Tübingen 1972, S. 105–171, Zitat S. 153; vgl. auch Gryphius, Andreas: Der Schwermende Schäfer Lysis. Brieg [1661]. Neudruck in ders.: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, Bd. 8. Lustspiele II. Hg. v. Hugh Powell u. Marian Szyrocki. Tübingen 1972, S. 47–104. Gryphius: Der schwermende Schäffer, S. 154.

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überstellung von Konvenienzehe und Liebesheirat. Bei Corneille/Gryphius überlassen die Brüder die Entscheidung, wer zum Ehepartner gewählt werden soll, ihren Schwestern. Bei Kaspar Stieler und Ernst Christian Homburg dagegen streiten die Töchter heftig mit den Vätern und dürfen schließlich eine Liebesehe eingehen. Bei Montchrestien/Augspurger verbindet Cupido als Gott der Liebe alle Paare, die sich seiner Entscheidung beugen müssen. Hier resultiert die Verbindung aus der Pflicht zur Liebe und ist damit durchaus ambivalent zu interpretieren. Schon bei Guarini entsteht aus dem Eheversprechen, das die beiden Väter miteinander verabredet haben, der Konflikt, der die Handlung bestimmt. 46 Es ist erneut der locus amoenus, der hier die Lizenz zur Liebesheirat gibt. Völlig ausgeschlossen ist aber das Beharren auf dem ehelosen Stand. Im Schäferspiel wird er dargestellt als Dienst für die Göttin Diana, der von allen Schäferinnen und Schäfern im Laufe der jeweiligen Handlung aufgegeben werden muss. Am Ende des Jahrhunderts ist es Johann Christian Hallmann, der das Liebesthema dann ganz anders gestaltet, als es seit Tasso und Guarini üblich gewesen ist. In seinen Schäferspielen Urania und Rosibella entwickelt er ein christliches Lebens- und Liebeskonzept,47 das eher zum Verzicht als zur Realisierung der Liebe aufruft. In Urania ermöglichen Keuschheit und Tugend die Aussöhnung zwischen Moral und Voluptas, was dazu führt, dass am Ende nicht die Liebe, sondern die Tugend triumphiert und sich entgegen der Konvention der Textsorte am Ende keine Paare finden. In Rosibella dagegen rekurriert Hallmann auf die christliche Vorstellung von der den Tod besiegenden Liebe. Vor diesem Hintergrund gestaltet er den locus amoenus als einen paradiesischen Ort des Einvernehmens zwischen Gott und Mensch und entwirft ein christlich-tugendhaftes Lebensmodell, in dem irdische und himmlische Liebe miteinander verschmelzen.48 Die Stücke werden 1666 und 1671 im Breslauer Schultheater aufgeführt. Dennoch kann hier nicht von der Gestaltung eines dezidiert bürgerlichen Liebesverständnisses gesprochen werden. Denn Hallmann hat die Druckfassung der Urania der Piastenherzogin und späteren Regentin Luise von _____________   46

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48

Vgl. Caemmerer, Christiane: „Die Schäferliteratur und die Frauen“. In: ‚Wenn sie das Wort Ich gebraucht‘. Festschrift für Barbara Becker-Cantarino von FreundInnen, SchülerInnen und KollegInnen. Hg. v. John Pustejovsky u. Jacqueline Vansant. Amsterdam, New York 2013, S. 221–247, insbesondere S. 240–247. Vgl. Hallmann, Johann Christian: Siegprangende Tugend Oder Getrewe Urania. Lust-Spiel. Breßlaw 1667. Neudruck in ders.: Sämtliche Werke, Bd. 3. Vermischte dramatische Stücke, Teil 1. Urania, Antiochus und Stratonica, Adonis und Rosibella. Hg. v. Gerhard Spellerberg. Berlin, New York 1987, S. 1–148. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 413–462.

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Brieg, Liegnitz und Wohlau (geb. Fürstin von Anhalt Dessau)49 und die Rosibella in einer zum Festspiel bearbeiteten Fassung von 1684 dem österreichischen Herrscherpaar Leopold I. und Claudia Felicitas von Österreich zu ihrer Hochzeit gewidmet.50

VI. Exkurs: Die allegorischen Schäferspiele Die politisch-allegorischen, aber vor allem die christlich-allegorischen Schäferspiele nehmen innerhalb der Textsorte einen besonderen Platz ein. Bei den politischen Allegorien wird die Verbindung zwischen Text und Anlass nicht ausschließlich über die Vorreden hergestellt, sondern bereits durch die Konzeption des Textes, die einen politischen Zusammenhang in die Strukturen eines Schäferspiels umsetzt. Bei den christlich-allegorischen Spielen kommt es zum Teil zu einer völligen Umwertung der traditionellen bukolischen Topoi. In enger Nachfolge von Opitz und sehr früh in der deutschen Geschichte der bukolisch-dramatischen Textsorte steht das erste politischallegorische Schäferspiel, das Simon Dach 1635 aus Anlass des Besuches des polnischen Königs Wladislaw IV. in Königsberg geschrieben hat. Sein Cleomedes übernimmt bis in die Struktur und Wortwahl hinein Elemente der ersten bukolisch-mythologischen Oper Dafne,51 die 1627 Heinrich Schütz und Martin Opitz für die Hochzeit des späteren Georg II. von Hessen-Darmstadt mit der Tochter des sächsischen Kurfürsten Johann Georg I., Sophie Eleonore, verfasst hatten.52 Hier werden in der Auseinandersetzung zwischen Dafne und Apoll auch dynastische Fragen verhandelt, wie dies das Widmungsgedicht und die Vorrede zeigen. Dach dagegen nutzt die Textsorte Schäferspiel, um im Cleomedes, der bezeichnenderweise den Untertitel Der allerwerteste und lobwürdigste trewe Hirt der Crohn _____________   49 50

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Gerade die Idealisierung der Keuschheit in Hallmanns Urania hängt wahrscheinlich mit der Mitgliedschaft der Piastenherzogin im österreichischen Damenorden der Sklavinnen der Tugend zusammen. Genauere Untersuchungen stehen hier aber noch aus. In dem der Festspielfassung vorangestellten Vorspiel passt Hallmann das Thema der Überwindung des Todes durch die Liebe der Situation am österreichischen Hof an, indem er die neue Eheschließung des Kaisers nach dem Tod seiner ersten Frau dahingehend allegorisch überhöht. Vgl. Dach, Simon: Cleomedes. Der allerwehrteste= und lobwürdigste trewe Hirt der Krohn Pohlen. Eingeführet zu Königsberg in ädibus privatis etc. Königsberg 1936. Bibl. Gedanska. Auch in: Dach, Simon: Poetische Werke. Bestehend in heroischen Gedichten, denen beigefüget 2 seiner verfertigten poetischen Schau-Spiele. Königsberg 1696. Reprint. Hildesheim 1970. Vgl. Opitz, Martin: „Dafne“. In: Ders.: Weltliche Poemata [1644], Teil 1. Hg. v. Erich Trunz. Tübingen 1967, S. 103–128.

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Pohlen trägt, mit Hilfe einer schäferlichen Liebeshandlung Panegyrik und Herrschaftskritik zu verbinden. Das Spiel handelt von der Nymphe Venda (Polen), die nach dem Tode ihres Hirten (König Sigismund III.) von drei Satyrn (Türken, Russen, Tartaren) verfolgt wird und sich unter den Schutz des Hirten Cleomedes (Wladislaw IV.) begibt, was eifersüchtig von der Nymphe Hierophile (Schweden) beobachtet wird, bis schließlich Merkur die beiden Nymphen miteinander versöhnt. Die von Venda gegebene Allegorese am Schluss zeigt, dass das Schäferspiel die politische Situation in der Region nach dem Tod des polnischen Königs Sigismund III. thematisiert. Dabei setzt der Autor in beeindruckender Weise die historischen Fakten in die stereotypen Handlungsstrukturen des Schäferspiels um und sorgt so dafür, dass über der festlichen Aufführung der eigentliche Anlass für den Besuch des polnischen Königs und die von der Stadt Königsberg dabei vertretenen Interessen präsent bleiben.53 Die Funktionalisierung bukolischer Elemente für den politischen Diskurs bis hin zur emblematischen Verdichtung zeigt auch eine Friedensallegorie, die Sigmund von Birken für die Feierlichkeiten am Ende der Friedensverhandlungen in Nürnberg im Jahre 1651 verfasst hat. Das Vergnügte/ bekriegte und Widerbefriedigte Teutschland ist nur als Cartel, d. h. als Zusammenfassung, in der nur die Chöre zwischen den Akten vollständig wiedergegeben werden, überliefert und wurde von Birken für die Druckfassung, die 1679 zusammen mit seiner Poetik erschienen ist, noch einmal überarbeitet und unter dem Titel Margenis gedruckt. Grundlage für die Konzeption seines Schäferspiels ist eine Hypothese von Sallust und Cicero, die besagt, dass eine enge Verwandtschaft zwischen Krieg und Frieden besteht. Prinzessin Margenis (Germania) verliebt sich in den Schäfer Irenian (Frieden), wird aber ihrerseits von dem Prinzen Polemian (Krieg) und einem falschen Schäfer Irenaris (der falsche Frieden) umworben. Mit diesen Personen, zu denen noch die lebens- und liebeserfahrenen Ratgeber in Gestalt des Hofmeisters Leukofron (die alte Treue), der Pflegemutter Irenians, Erone (Eintracht), und der Mutter des Prinzen Erifile (Zwietracht) hinzukommen, gestaltet Birken ein Schäferspiel, in dem es wie immer um glückliche und unglückliche Liebe, adäquate und falsche Werbung, Eifersucht und Rache geht. Cupido spricht als Liebesgott den Epilog und preist im Angesicht der glücklichen Paare seine Macht. Allein die Chöre zwischen den Akten tragen mit ihrer Allegorese der Handlung dazu bei, dass der politische Zusammenhang nicht vergessen wird. Hier wird die Liebe gepriesen, die allein als Grundlage der Eintracht den Frieden garantieren kann; hier wird nach der alten deutschen Treue gefragt, die _____________   53

Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 143–168.

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von List und Betrug in die Flucht geschlagen worden ist, und der Krieg verflucht. Als sich die Versöhnung des Paares Margenis und Irenian abzeichnet, die für die Versöhnung zwischen Menschen, Ständen und Staaten steht und für Wohlstand und Sicherheit sorgen wird, feiert der Chor mit dem Frieden, den sie bringt, die goldene Zeit.54 Von den Nürnberger Pegnitzschäfern ist die Möglichkeit einer christlich-heilsgeschichtlichen Auslegung der bukolischen Formen in ihren theoretischen Schriften etabliert und deutlich favorisiert worden. Das bukolische Decorum war für religiöse Zusammenhänge bereits durch den 23. Psalm und das Hohe Lied eingeführt worden und auch die Opfergeschichte des Mirtill aus dem Pastor Fido bot eine heilsgeschichtliche Deutung an. Die vollständige Übertragung der Struktur einer Schäferspielhandlung in den christlich-allegorischen Bereich wurde von Georg Philipp Harsdörffer geleistet. Bereits 1642 wies er im zweiten Teil seiner Frauenzimmer Gesprächspiele auf das italienische Schäferspiel von Niccolo Negri hin, dessen Übersetzung unter dem Titel Die glückseelige Seele55 1637 in Breslau gedruckt worden war und als Quelle für seine Konzeption gelten kann.56 Es handelt sich dabei um ein anima et corpo-Spiel, das an einem bukolischen Schauplatz angesiedelt ist und neben dem Dekorum auch das Personal und die Handlungselemente der Textsorte übernimmt.57 Die Schäferin ‚Seele‘ wird von dem Hirten ‚Sinn‘ dazu überredet, den Genüssen und Werten nachzujagen, die der reiche Hirte ‚Welt‘ anbietet. Deshalb verlässt sie immer wieder den steilen Pfad, der sie zu ihrem Bräutigam ‚Christus‘ führen soll. Gedrängt von ihrer Kinderfrau ‚Gewissen‘, begleitet vom Schäfer ‚Gutt Begehren‘ und den drei heiligen Frauen ‚Gebete‘, ‚Almosen‘ und ‚Enthaltsamkeit‘ erklimmt sie ihn schließlich doch noch. Negris katholisches Spiel ist die Vorlage für Harsdörffers Seelewig (1644),58 das eine ähnliche Handlung in einen theologisch-protestantischen Zusammenhang stellt. Der Autor trägt hier einer Weltsicht Rechnung, die in der irdischen Liebe eine Gefahr für das Seelenheil sieht und das Böse besiegt, nicht durch die Liebe harmonisiert sehen will. Dies führt zu einer Umwertung der bukolischen Topoi, denn der traditionelle locus amoenus, die liebliche Gegend, wird hier negativ geschildert, wird als irdische Welt zum locus terribilis. Die Hinwendung zu Christus ist jetzt der eigentliche locus amoenus. _____________   54 55 56 57 58

Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 305–341. Vgl. Ein gar Schön Geistliches Waldgetichte/ genant Die Glückseelige Seele/ Ausz Zihrlichem Welnsch in gemeines Deutsch gebracht. [Breslau] 1637. Vgl. Caemmerer, Christiane: „Das geistliche Waldgetichte: Die glückselige Seele von 1637 und seine Quelle“. In: Daphnis 16 (1987) H. 4, 665–678. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 244–260. Vgl. Harsdörffer, Georg Philipp: „Seelewig“. In: Ders.: Frauenzimmer Gesprächspiele, IV. Teil. Nürnberg 21644. Reprint. Hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968, S. 44–209; S. 533–666.

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Harsdörffer will damit einen Kontrapunkt zu den weltlichen Schäferspielen setzen, indem er zeigt, dass es auch möglich ist, ein Schäferspiel zum Lobe Gottes zu schreiben, wie er es in den Frauenzimmer Gesprächspielen formuliert hat.59 Diese Neubewertung traditioneller bukolischer Topoi nimmt Anton Ulrich von Braunschweig Wolfenbüttel in seinem christlichallegorischen Schäferspiel Amelinde (1663)60 wieder zurück. Er verbindet heilsgeschichtliche und absolutistische Fragestellungen in einem bukolischen Szenarium, das den weltlichen Schäferspielen entspricht. Hier ist die Handlung, in der die Schäferin Amelinde (Seele) sich zwischen dem Prinzen Volamis (Wollust) und dem Schäfer Coelidamas (Christus) entscheiden muss, an einen Hof verlegt, dem die Funktion des locus terribilis zufällt. Zwar wendet sich Amelinde, geblendet von dem höfischen Prunk, zunächst dem Prinzen zu, muss sich aber den Nachstellungen von dessen Vater Trompiares (Satan) erwehren. Der Schäfer Coelidamas befreit Amelinde aus dem Gefängnis, in das sie Mondiane (Welt), die Mutter des Prinzen, hat werfen lassen, und erweist sich als der Sohn Gottes und damit als der Sohn eines dem Trompiares weit überlegenen Herrschers. Beide Spiele, Harsdörffers Seelewig und Anton Ulrichs Amelinde, sind 1654 und 1657 zum Geburtstag des Herzogs August II. am Wolfenbütteler Hof aufgeführt worden.61

VII. Schäferspiele als höfische Kasualdichtung So verschieden in den einzelnen Schäferspielen auch argumentiert werden mag, es ist der immer gleiche Schauplatz, der locus amoenus, der die drei Aspekte verbindet, die ihnen gemeinsam sind und sie im literarischen Kanon des 17. Jahrhunderts zu einer wichtigen literarischen Form machen: ihre Funktion als Kasualdichtung, ihre Allegoriefähigkeit und die Liebe als ausschließliches Handlungsmovens. _____________   59 60

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Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 260–281. Vgl. Anton Ulrich, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: Amelinde Oder: Dy Triumphirende Seele/ […]. Wolfenbüttel 1657. Neudruck in ders.: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftr. der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel u. in Verb. mit Hans-Henrik Krummacher hg. v. Rolf Tarot, Bd. 1. Bühnendichtungen. Teil 1. Amelinde. Regier-KunstSchatten. Andromeda. Orpheus. Unter Mitw. v. Maria Munding u. Julie Meyer hg. u. eingel. v. Blake Lee Spahr. Stuttgart 1982, S. 1–81. Vgl. Caemmerer: Siegender Cupido, S. 286–302. Zu Aufführung und den Druckfassungen von Amelinde vgl. Lehmeyer, Frederick Robert: The ‚Singspiele‘ of Anton Ulrich von Braunschweig. Diss. phil. Berkeley 1970. [Masch.]

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Die Liebesthematik ist im deutschen Drama bis zum Schäferspiel nie so positiv dargestellt worden. Die säkularisierte Diskussion um die Affekte des Menschen und Luthers Eheauffassung, die die Liebe als Voraussetzung für die Ehe ansieht, haben hier die Bedingungen geschaffen. Die Verlagerung der Handlung in den idealen Raum des locus amoenus und die dadurch bedingte relative soziale Gleichheit der Schäfer und Schäferinnen ermöglichen es, unterschiedliche gesellschaftliche Muster der Liebe vorzuführen und zu diskutieren. Dabei sind die Positionen gegenüber dem Liebesaffekt nicht geschlechtlich differenziert. Männer wie Frauen können sich der Liebe verweigern oder sich vor Liebe verzehren und dies mit den gleichen Argumenten. Denn das verhältnismäßig statische Personal und die festen Handlungselemente werden sehr differenziert eingesetzt und unterschiedlich funktionalisiert. So weist schon bei Tasso Silvia Aminta zurück, weil sie noch jung ist und den Liebesaffekt erst im Laufe des Stückes kennenlernt. Guarinis Amarillis dagegen verweigert sich der Liebe zu Mirtill, weil sie weiß, dass sie durch eine Heirat mit Silvio dem Wunsch der Väter folgen, das Orakel erfüllen und damit Arkadien Frieden bringen muss. Die Schäferin Urania aus Hallmanns gleichnamigen Stück dagegen weist alle Werbungen zurück, weil sie bereits verheiratet ist. Aspasia und Dulcimunda schicken die um sie werbenden Schäfer fort, weil sie sich an andere Männer gebunden haben. Hier zeigt sich, dass mit den festen Personenstrukturen, Handlungs- und Textelementen immer wieder unterschiedliche Sachlagen dargestellt und begründet werden. Mit dem Handlungsort des locus amoenus wird aber durchaus der Liebes- und Heiratsdiskurs des 17. Jahrhunderts thematisiert. Die einzelnen Autoren verwirklichen in ihren Arbeiten zwar unterschiedliche Konzepte, im Allgemeinen geht es aber um eine Verbindung von Liebe und Vernunft bzw. Liebe und Tugend, die häufig bereits in den Vorreden in einem Streitgespräch zwischen Cupido und Venus oder zwischen Venus und Juno vorbereitet wird. Die hedonistisch geprägte Liebesauffassung eines Tasso und eines Mairet werden in den Bearbeitungen für ein deutsches Publikum nicht übernommen. Literarhistorisch ist der Liebes- und Heiratsdiskurs in den deutschen Schäferspielen ein lange Zeit völlig ignoriertes Phänomen, das das Feld immer wieder der Analyse der preziösen Liebesdiskurse in Frankreich und des empfindsamen Liebesdiskurses im Deutschland des 18. Jahrhunderts überlassen musste, obwohl er literar- und kulturhistorisch wichtige Fragestellungen anbietet. Schließlich finden die Gespräche über die Liebe im deutschen Schäferspiel zwischen unverheirateten Paaren statt! Bereits August Buchner hat in seiner Poetik die bukolischen Textsorten im Zusammenhang mit den Lobgesängen, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Beerdigungen abgehandelt. Auch Martin Opitz rechnet sie in

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seiner Teutschen Poeterey zu den einfachen Schreibformen, die die Möglichkeit bieten, die grundlegenden Dinge des menschlichen Lebens zu verhandeln.62 Und so werden die Schäferspiele auch eingesetzt: als einführende Lektüre in die zeitgenössische Lebenswelt der Höfe und als Kasualdichtung im Rahmen von höfischen, seltener auch städtischen Festen. Beim höfischen Fest sind sie integraler Bestandteil der Festdramaturgie. Sie sind vorzugsweise bei ,privaten‘ Familienfeiern ,grosser Herren‘ und ihrer Familien eingesetzt worden, d. h. bei Geburtstagsfeiern, Taufen, Namenstagen, Verlobungen und Hochzeiten.63 Hier präsentierte der Hof sich vor allem einer hofinternen Öffentlichkeit, um mit den genannten Festen die eigene Dynastie und ihren Fortbestand zu feiern. In diesem Zusammenhang gehörten die Schäferspiele, wie Jörg Jochen Berns es formuliert hat, zu den den eigentlichen Festkern umkreisenden ‚Hochfürstlichen Divertissements‘, zu denen auch die Feuerwerke, Wirtschaften, Opern und mythologischen Aufzüge zählten.64 Und hier ermöglichte nun das verhältnismäßig restriktive Modell des Schäferspiels seinen Autoren im Einzelfall, sehr präzise auf gesellschaftliche und politische Befindlichkeiten des jeweiligen Aufführungsortes zu reagieren. Denn die Spiele boten die Möglichkeit zu einer politischen und sozialen Allegorese an. Die Vereinigung der Paare durch die Macht der Liebe und unter ihrer Schirmherrschaft ist durchaus gleichzusetzen mit der Vereinigung unter dem Schutz eines Herrschers. Allerdings ermöglichen die Reduktion der gesellschaftlichen Komplexität und die Beschränkung auf einen privaten Konfliktstoff hier noch weitgehend befriedigende Konfliktlösungen. Damit entspricht das Schäferspiel als eine Variante bukolischen Schreibens wie die Ekloge/Prosaekloge und der Schäferroman den Vorstellungen einer Arkadien-Utopie.65

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Vgl. hierzu auch Caemmerer, Christiane: „Normierung des Neuen. Die deutschen Schäferspiele des 17. Jahrhunderts und ihr Platz in den poetischen Schriften“. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit, 1. Teil. Hg. v. Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, S. 665–672. Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft Der großen Herren. Berlin 1729. Hierzu 1. Theil: Von dem Privat-Ceremoniel der grossen Herren in Ansehung ihrer eigenen Personen/ und ihres Hauses. Vgl. Berns, Jörg Jochen: „Die Festkultur der deutschen Höfe zwischen 1580 und 1730. Eine Problemskizze in typologischer Absicht“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 34 (1984), S. 295–311. Siehe hierzu Garber: „Arkadien-Utopie“.

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Entgrenzte Idylle. Gattungsbrüche in Nicolas Poussins Arkadienbildern TILMAN REITZ Nicolas Poussins zweites Bild eines Grabs in Arkadien inszeniert offenkundig Motive der bukolischen Tradition; zugleich geht es darüber hinaus, indem es Themen wie Tod, Zeit und Überlieferung verhandelt. Die klassische Stellung der Idylle wird aufgebrochen, indem ein Einbruch der Reflexion in die sinnliche Unmittelbarkeit gestaltet wird. Das Gemälde zeigt, um es mit später geprägten Begriffen zu sagen, das Naive im Begriff, eine sentimentalische Perspektive auf sich selbst zu gewinnen. Im Folgenden soll unter anderem geprüft werden, ob diese Kategorien Schillers für Werke der Frühen Neuzeit wirklich anachronistisch sind. Man kann auch vermuten, dass das Thema verlorener Unmittelbarkeit und unerfüllbarer Sehnsucht nach ihr zur Zeit Poussins künstlerisch voll artikuliert ist und später nur noch kunsttheoretisch benannt werden muss. Vor allem interessiert mich aber, wie sich Poussin zur ästhetischen und ontologischen Hierarchie der Kunstgattungen verhält, aus deren Auflösung bzw. Neuordnung das moderne, unter anderem von Schiller umschriebene Bild vorreflexiver Natur hervorgeht. Das Resultat wird paradoxe Züge haben: Poussin gehört zu den Ordnungsgründern, die ihre eigenen Einteilungen unterlaufen. Der Weg zu dieser These lässt sich jedoch mit klassischen Belegen und Argumenten bestreiten. Ich gehe in vier Schritten vor. Zunächst rekonstruiere ich knapp das gattungshierarchische Schema, das sich Vergils Hauptwerken entnehmen lässt, und frage, inwiefern schon seine Bucolica die eigene topische Einordnung utopisch oder reflexiv brechen. Dann zeichne ich nach, wie Poussin und Guercino die in der Tradition verfestigte Hierarchie durcheinander bringen, indem sie das christliche Motiv der Todesmahnung ins Hirtenbild integrieren. Ein genauerer Blick auf Poussins Darstellung von Symbolverstehen zeigt im folgenden Teil, dass nicht allein die Grenzen zwischen Themenbereichen, sondern auch die zwischen Malerei und Dichtung zur Disposition stehen. Schließlich wird Poussins eigenes Ordnungsprojekt und seine Vorbildrolle in der akademischen Kodifizierung der Gemälde-

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gattungen angesprochen. Dass dies der zuvor untersuchten Grenzüberschreitung nicht widerspricht, legt eine staats- und sozialtheoretische Analogie nahe: Wie absolutistische Politik strebt auch souveräne Kunst eine hierarchisierte symbolische Ordnung an – doch wie diese Politik zehrt sie zugleich deren traditionale Substanz auf.

I. Gattungshierarchie und Zeitlichkeit bei Vergil Man kann Poussins Variation des Themas Idylle gut mit Bezug auf Schrift und ultimative Abwesenheit diskutieren. Ich beginne also mit einer Grabinschrift, wenn auch signifikanter Weise nicht mit der des Ur-Idyllikers Theokrit. Vergil ließ auf seinem Grab der Überlieferung zufolge festhalten, dass er Hirten, Bauern und Anführer besungen hat: „cecini pascua, rura, duces“.1 Das verweist gedrängt auf seine Hauptwerke, ihre ästhetisch-soziale Rangordnung und eine zivilisatorische Logik: Zuerst und zuunterst erscheinen die bescheidenen Lieder der nicht sesshaften Viehhüter, die Bucolica, es folgen in Mittellage die Lehren für den Ackerbau, die Georgica, zuoberst steht schließlich das Epos von den Führern der Stadt, die Aeneis. Einen deutlicheren Beleg für eine Ordnung ästhetischer Gattungen, die zugleich eine Sozialordnung festschreibt, wird man schwer finden. Vergils Schema ist denn auch über die Dichtung hinaus stilprägend geworden, noch Bühnenbilder frühneuzeitlicher Theater verorten die Tragödie in städtischer Architektur, die Komödie in einem agrarischen und das Satyrspiel in einem unbebaut-natürlichen Umfeld. Ein Instrument zur universellen Nutzung des Schemas zeigt, dass es sich geradezu als Inventars-Ontologie der menschlich erschlossenen Welt lesen lässt: Die Rota Virgilii, die auch in der Bildkunst verwendet wurde, legt den Sphären der Hirten, Bauern und Feldherrn in allen Bereichen Attribute bei – Hirtenstab, Pflug und Schwert; Schaf, Rind und Pferd usw.2 Eine entsprechende Abstufung erwartet man bei den jeweils verhandelten Lebensthemen – und mag dann überrascht sein, dass auch in Arkadien Prinzipienfragen reflektiert werden. Doch schon bei Vergil macht die Hir_____________   1 2

Vgl. zu diesem Satz und seiner Einordnung Brandt, Reinhard: Arkadien in Kunst, Literatur und Dichtung. Freiburg i.Br., Berlin 2006, S. 31f. Zur kunsttheoretischen Einordnung und künstlerischen Nutzung Vergils vgl. die kommentierten Auszüge: Vergil: „Bucolica (42–39 v. Chr.) und Georgica (37–29 v. Chr.)“. In: Landschaftsmalerei. Hg. v. Werner Busch. Berlin 1997, S. 33–42; Lomazzo, Giovanni Paolo: „Trattato dell’ arte della pittura, scoltura et architettura (1584)“. In: Ebd., S. 94–100.

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tendichtung Anstalten, über ihre Grenzen zu treten. Gerade ihre vorzivilisatorischen Züge werden zum Fluchtpunkt kultivierter Reflexion. Um zu sehen, was bei Poussin radikalisiert wird, lohnt es diese Aspekte kurz aufzulisten. Vergil verzichtet erstens nicht nur auf urbane Späße über das Landvolk (wie sie bei Theokrit vorkommen), sondern verknüpft das Hirtenleben mit dem politischen Zeitgeschehen; er erweitert seine Eklogen zweitens um kosmologische und heilsgeschichtliche Themen; drittens stellt er darin sogar zivilisatorische Errungenschaften und Hierarchien in Frage. Kritisch ist bereits der Auftritt unglücklicher Hirten, die von ihrem Veteranen zugeteilten Stück Land vertrieben wurden – so das Thema der ersten und neunten Ekloge. Als dann im vierten Stück explizit ein höherer Ton angestimmt wird – anders als im sechsten nicht einmal durch einen hochstehenden Empfänger motiviert –, verheißt Vergil eine versöhnte Welt, die ohne Bauern und Krieger (und ohne Händler) auskommt: Stadtmauern bleiben nur noch eine Weile als Spuren früheren, in den Städten als solchen vermuteten Betrugs („uestigia fraudis“; 4, 31), der Handel erübrigt sich, weil jedes Land alles Lebensnotwendige erzeugt („omnis feret omnia tellus“; 4, 39), auf Technik kann verzichtet werden, weil etwa das Vieh sich nun (für Kleidung) von selbst färbt, und als eine Art Gegenbild zur unfrommen soldatischen Gewalt in den Rahmeneklogen sollen sogar Rinder und Löwen furchtlos zusammenleben (4, 22).3 Die bekannte Bezeichnung für alles dies ist das goldene Zeitalter bzw. das wiederkehrende Reich des Saturn – doch anders als seine neuzeitlichen Nachfahren macht Vergil nicht vorgeschichtliche Zustände zum Thema. Der prophezeite neue Äon wird nie als vergangenes, vor Zivilisation und Geschichte liegendes Zeitalter geschildert; in der sechsten Ekloge sieht die Frühgeschichte stattdessen wild und trostlos aus. Noch wichtiger ist, dass Arkadien nie zum utopischen, aus der sozialen Welt gefallenen Fluchtort wird. Es bleibt gerade durch Vergils zeitkritische Akzente immer in die Ordnung der Landgüter, Städte, Kriege und politischen Verfügungsgewalt eingelassen. Unter diesen Vorzeichen können die Grenzen der idyllischen Einfachheit nur überdehnt, nicht überschritten werden. Zumindest in Frage gestellt werden sie allerdings dort, wo die inhaltliche Erweiterung mit formaler Selbstreflexion zusammengeht. Reinhard Brandt hat darauf hingewiesen, dass ein zentraler Satz der fünften Ekloge, der wie später die gemalte Inschrift bei Guercino und bei Poussin mangels Verb zeitlich ambig ist, sich als eine solche Selbstreflexion lesen lässt. Der _____________   3

Ich zitiere Vergil unter Angabe von Gesang und Vers im Wortlaut der Ausgabe von Robert Coleman, Vergil: Eclogues. Hg. v. Robert Coleman. Cambridge u. a. 1977.

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sterbende Hirt Daphnis bittet darum, ihm ein Grabmal zu errichten und darauf zu schreiben bzw. ,hinzuzufügen‘ („et tumulo super addite“; 5, 43): „Daphnis ego in siluis, hinc usque ad sidera notus/ formosi pecoris custos, formosior ipse“ – „Ich, Daphnis, hier in den Wäldern, bekannt von hier bis zu den Sternen,/ Hüter schönen Viehs, schöner ich selbst“ (5, 44f). Brandt nimmt an, dass die ,Wälder‘ im übertragenen Sinn für die Verse stehen, die Daphnis berühmt machen werden, und führt zum Beleg eine Stelle vom Beginn der vierten Ekloge an, wo der fragliche Doppelsinn noch näher liegt: „si canimus silvas, silvae sunt consuli dignae“ – „Wenn wir von Wäldern singen, sind diese Wälder [oder Verse?, T. R.] des Konsuls würdig“ (4, 44).4 Mir kommt es nicht darauf an, ob sich Brandts Lesart erhärten lässt, sondern auf den einfachen Sachverhalt, dass zumindest die explizite Selbstreflexion des ,Singens‘ die in der Inventars-Ontologie getrennten Bereiche verbindet: Die bukolischen Wälder werden dem eigentlich eposheischenden Stadtherrn gerecht. Der Beginn der sechsten Ekloge wiederholt in anderer Konstellation die gespannte Verbindung von Thema (diesmal die Entstehung der Welt) und Form (ein Gesang nach noch nicht ganz ausgeschlafenem Rausch). In der fünften Ekloge stellt nun womöglich das Grabmal samt Inschrift selbst einen Gattungsbruch dar – von der Liebe und Schönheit der Hirten erzählen gewöhnlich Gesänge, sie muss nicht in Stein gemeißelt werden. Das könnte der Grund dafür sein, dass die Inschrift als superaddendum angekündigt wird, und das könnte auch in der Erwähnung des schönen Viehs reflektiert werden, die dann nicht nur für heutige Leser komisch wäre: Der Hirt wird zwar vom Gedicht zu den Sternen erhoben, bleibt aber, weil er nur über körperliche Vorzüge verfügt, am Ende doch auf der Ebene seiner Herde. Allein der Dichter, der diese Spannung von poetischer Form und bukolischem Inhalt reflektiert, darf schon im untersten Genre nach den Sternen greifen. Hätte die Stelle diesen mehrfachen Brechungssinn – Aufbrechen der Gattungsgrenzen, komische Brechung der kosmischen Hirtenapotheose, Selbstreflexion der selbst Unstatthaftes angemessen sagenden Dichtung –, stünde sie mit vollem Recht beinahe exakt im Zentrum von Vergils ersten neun Eklogen. (Der zehnte und letzte Gesang kann als elegisches Nachwort gelesen werden).5 Poussin wird den Ansatz radikaler ausführen: Eine Kunst, die sich selbst versteht, kann keinen festen Ort in einer vorgegebenen Ding-, Personen- und Formenordnung haben. _____________   4 5

Brandt: Arkadien, S. 33f. Eine solche Zentralstellung (und eine Selbstapotheose des Dichters) vermutet Brandt: Arkadien, S. 34ff.

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II. Genreüberlagerung und Naivitätsverlust bei Poussin und Guercino Auf den Arkadienbildern, die Guercino und Poussin in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geschaffen haben, ist nach verbreiteter Auffassung eine Art Entdeckung des Todes dargestellt. Die Gemälde selbst legen dies nahe, indem sie jeweils einen Fortgang der Bildhandlung andeuten: Bei Guercino stoßen die Hirten auf einen zunächst dem Betrachter zugewandten Schädel, unter dem sie die Inschrift Et in Arcadia Ego entdecken werden; in Poussins erster Adaption des Themas entziffert einer der Hirten bereits eben diesen Satz; in seiner zweiten Version sind verschiedene Lektürestadien dargestellt – und der im Verständnis am weitesten vorgedrungene Hirt wendet sich fragend um.6 Den Gesamtsinn der Vorgänge haben mit verschiedenem Akzent die wichtigsten frühen Biographen Poussins expliziert. Giovanni Pietro Bellori erläutert die Inschrift 1672 mit der Bemerkung: „Et in Arcadia ego, cioè, che il sepolcro si trova ancora in Arcadia, e la Morte a luogo in mezzo alla felicità“.7 Dreizehn Jahre später fügt André Félibien den Verweis auf einen Verstorbenen hinzu: „Par cette inscription on a voulu marquer que celui qui est dans cette tombeau a vécu en Arcadie, & que la mort se rencontre parmi les plus grandes felicitez“.8 Ob Bellori meinte, dass der Tod selbst spricht – und ob das besonders für Guercinos Bild zutrifft –, ist umstritten und wird unten kurz zu prüfen sein. Zunächst liegt jedoch eine andere Frage nahe: Weshalb soll der Tod in Arkadien etwas Neues und Unerwartetes sein? In Theokrits Idyllen und Vergils Eklogen wird ja durchaus gestorben, und im Daphnis-Gesang steht der Tod (samt Grabinschrift-Supplement) sogar im Mittelpunkt. Was demgegenüber neu sein könnte, verrät zunächst eine Inventarprüfung bei Guercino: Der Totenkopf zählt nicht zum klassischen Arkadien-Reper_____________   6

7 8

In der Rekonstruktion kann man fragen, ob die Hirten Latein können. Die Antwort scheint mir nicht entscheidend, die suggestive Betrachterführung, auf die es eher ankommt, legt aber nahe: Ja. Einerseits sind Lektürefortschritte dargestellt, andererseits fragt sich die lateinkundige Betrachterin selbst: ,Und was heißt das?‘ „Et in Arcadia ego, das heißt, dass sich das Grab auch in Arkadien findet, und sich der Tod inmitten des Glücks aufhält“, Bellori, Giovanni Battista: Le vite de’ pittori, scultori, e architetti moderni. Rom 1672, S. 464. „Durch diese Inschrift wollte man festhalten, dass derjenige, der in dem Grab liegt, in Arkadien gelebt hat, und dass man den Tod unter den größten Glückseligkeiten antrifft.“ Félibien, André: Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes (1666–1688), Bd. IV. London 1705, S. 71. Beide Zitate finden sich prominent bei Panofsky, Erwin: „Et in Arcadia Ego. Poussin and the Elegiac Tradition“. In: Ders.: Meaning in the Visual Arts. Garden City, N.Y. 1955, S. 295–320, Zitat S. 316.

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toire, erst recht nicht einer, auf dem eine Fliege und vor dem eine Maus sitzt. Daher hat Erwin Panofsky wohl recht, wenn er in Guercinos Bildkonzeption eine andere, christliche, zur Zeit der Gegenreformation beliebte Gattung sieht: ein „mediaeval memento mori in humanistic disguise“.9 Und wenn es, wie er meint, sogar der Schädel bzw. der Tod selbst sein sollte, der spricht, wird der Gattungsbruch noch härter: Statt schöner Hirten äußert sich dann die unschöne Zukunft, die alles Fleisch erwartet; statt gleichmäßiger Lebensrhythmen wird ein Kontrast zwischen Zeitlosigkeit und Einbruch der Zeitlichkeit inszeniert. Ein Schädel in einer Guercino wohl bekannten Franziskus-Darstellung Annibale Carraccis, unter dem die Legende „IO imago de[lla] morte, mezzo da[l] Paessaggio“ in Stein steht, 10 macht beide Zuordnungen wahrscheinlich. Hier spricht das Sinnbild des Todes klarerweise in Ichform, es gemahnt damit christlich an Sterblichkeit, und die Verbindung von Totenkopf und Inschrift präfiguriert zugleich Guercinos Konzeption. Die generische Einordnung ist überdies stabiler als Panofsky selbst glaubt. Noch Poussins zweites Arkadienbild, in dem der Schädel wieder getilgt ist, aber das Motiv bevorstehender Todeserkenntnis erhalten bleibt, hat, wie sich zeigen wird, Memento-Mori-Charakter. Schon jetzt lässt sich probehalber eine erste Pointe zur Gattung der Bilder festhalten: Ihre von Félibien und Bellori umkreisten Aussagen werden möglich, weil die Genres Idylle (oder Pastorale) und Memento Mori gekreuzt wurden. Der volle Befremdungseffekt der Bilder beruht darauf, dass dies geschichtlich zu Extremen polarisierte Inhalte betrifft: Nicht nur die Todesmahnung, auch das in den Bildern evozierte Arkadien ist erst vor christlichem Hintergrund möglich. Die entscheidenden Verschiebungen finden sich, wie Petra Maisak dargestellt hat, in der Arkadiendichtung der Renaissance (namentlich bei Jacopo Sannazaro): „Das neue Arkadien resultiert aus dem Verständnis der Antike als einer unwiderruflich verlorenen goldenen Zeit“; „der Garten Eden und das Zeitalter Saturns“11 bieten zwei heterogene, aber ästhetisch vereinbare Muster für die Sehnsucht nach dem verlorenen Zustand. Verarbeitet wird sozusagen die Vertreibung aus einem vorchristlichen Paradies. _____________   9 10

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Panofsky: „Et in Arcadia Ego“, S. 309. „ICH Bild des Todes, inmitten der Landschaft.“ Vgl. für das Bild und die Zuordnung Bernstock, Judith: Poussin and French Dynastic Ideology. Bern u. a. 2000, S. 110ff.; sowie dies.: „Death in Poussin’s second Et in Arcadia Ego“. In: Konsthistorisk tidskrift LV (1986), H. 2, S. 55–66. Maisak, Petra: Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt. Frankfurt a.M., Bern 1981, S. 51.

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Ich will diesen Wandel hier nicht untersuchen, sondern nur eine geistesgeschichtliche Fußnote machen und eine argumentative Konsequenz ziehen. Zu bemerken ist, dass Panofsky Poussin als Initiator einer Arkadienauffassung darstellt, die eigentlich schon Sannazaro hervorbringt: der elegisch-wehmütigen Erinnerung an vergangenes Glück. „The Arcadians“, schreibt er zur Charakterisierung des zweiten Hirtenbilds, „are not so much warned of an implacable future as they are immersed in mellow meditation on a beautiful past.“12 Wenn Poussins Bild jedoch nicht nur einen Rückschritt von Guercinos Gattungsmontage zu dichterisch schon bezogenen Positionen bedeuten soll, muss es mehr als diese Erinnerung an eine ‚schöne Vergangenheit‘ bieten. Und in der Tat ist gut zu sehen, in welcher Weise ihm das gelingt: Es inszeniert den Verlust des Paradieses sinnlicher Unmittelbarkeit selbst, den Einbruch von Sterblichkeit und Geschichtlichkeit in die mythisch verklärte Vorwelt. Wenn man an die Erinnerungskultur der Hirten zurückdenkt, können einem (wie erwähnt) auch Grabmal und Inschrift als solche fremd in Arkadien vorkommen. Bei Theokrit, Vergil, Sannazaro und anderen wird Vergangenes ja vor allem mündlich, durch wiederholte Gesänge überliefert. In diesem Zusammenhang sind auch die Schäfernamen austauschbar; den Namen ,Daphnisʻ auf Stein zu fixieren, ist fast widersinnig, weil er in den verschiedenen Dichtungen und der geschilderten Welt mal singt und mal besungen wird, mal als glücklich und mal als unglücklich Liebender, mal als Sterbender und mal als Gedächtnispflegender auftritt. In der Bildkonzeption Guercinos scheint diese Spannung gemäßigt, weil nur noch ein anonymes Ego – der Tod oder der Verstorbene – spricht. Doch Poussin setzt die unpastorale Geschichte in anderer Weise in Szene. In beiden Arkadienbildern erscheinen die Hirten, wie man öfter bemerkt hat, als eine Art Archäologen. Sie finden die Zeichen früherer kultureller Tätigkeit und beginnen dazu ein Verhältnis aufzubauen; der geschichtliche Zeitabstand zeigt sich also bereits in der semiotischen Situation. Dass die aufgefundenen Zeichen selbst dafür gemacht sind, die Grenzen der gegenwärtigen Lebenszeit zu übersteigen, reflektiert dann besonders das zweite Bild. Die Frauenfigur, auf die die Bewegung des Bildes zuläuft und zu der sich einer der Hirten fragend umwendet, hat allegorische Züge und ist in verschiedener Weise gedeutet worden. Eine plausible Möglichkeit ist die Deutung der Figur als Mnemosyne oder (genauer) Historia bzw. Clio, wie Louis Marin angedeutet und Oskar Bätschmann gezeigt hat. Die relevanten Bildelemente legen in Grundzügen bereits selbst nahe, was die allegorische Konvention dann bestätigt: Eine Inschrift ist eben fixierte Erinne_____________   12

Panofsky: „Et in Arcadia Ego“, S. 313.

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rung, und die Frauenfigur lässt schon dadurch, dass sie ihren Blick gegen die dargestellten Lektürehandlung richtet, ihre Zugehörigkeit zu diesem Funktionskreis vermuten.13 Vergleicht man sie mit der Historia, die in Cesare Ripas Iconologia beschrieben ist, erhärtet sich die Annahme: Seine allegorische Figur schreitet zusammen mit dem sicheltragenden Chronos bzw. Saturn voran, wendet jedoch ihren Kopf zurück und schreibt das Vergangene auf. Ihren Fuß hat sie auf einen Steinblock gestützt.14 Bei Poussin sind diese Attribute auseinandergelegt. Der Text befindet sich auf dem Grabmal, die Sichel tritt als Schatten in Erscheinung, den der Arm des entziffernden Hirten wirft, aus der Kopfdrehung ist eine gegen die Erzählrichtung gewendete Körperstellung geworden, statt der Frauengestalt selbst stützt der fragende Hirte seinen Fuß auf den Steinblock. Poussin wird Ripas Figur oder eine ähnlich ausgestattete allegorische Frauengestalt Raffaels gekannt haben; auf einem Bibel-Frontispiz von 1642 zeigt er selbst eine Historia (und weist dabei dem Schattenwurf, der ihre zurückgewandte Gesichtshälfte und ihren Text ins Dunkel taucht, eine wichtige Rolle zu).15 Was den Hirten bei Poussin aufgehen könnte, ist daher nicht allein ihre Sterblichkeit, sondern eine Differenz von Heute und Früher, die durch stumme Schriftzeichen vermittelt wird und so die sinnliche Gegenwart relativiert. Dazu passt, dass Poussin sein Gemälde selbst in einem weiteren Sinn als Historie verstanden haben dürfte. Im seit der Renaissance üblichen, erst nach Poussin fest in der Gesamteinteilung der Bildgattungen verorteten Sprachgebrauch bezeichnet die istoria einerseits mehr- und meist ganzfigurige, erzählende Bilder überhaupt, andererseits pointiert solche im hohen Stil, mit bedeutenden Ereignissen und hochstehenden Personen. Sie gilt seit Leon Battista Alberti als summum opus des Bildkünstlers. Eine entsprechende, von Bellori überlieferte Reflexion Poussins charakterisiert die maniera magnifica spezifisch durch ein großes Thema („soggetto grande“) wie Schlachten, Heldentaten und Heilsgeschehen („le battaglie, le azioni eroichi e le cose divine“) und legt besonderen Wert darauf, sie von den Lebensdetails freizuhalten, für die bereits die Genremalerei zuständig ist: Der Maler müsse sich dieser „minuzie“ mit all seiner Kraft („tutto suo potere“) enthalten, um nicht das Dekorum der Historie zu verletzen („per non contravenire al decoro dell’istoria“).16 _____________   13 14 15 16

Auf diese Punkte stützt sich Marin, der die Figur tentativ als Mnemosyne liest, Marin, Louis: Die Malerei zerstören (1977). Berlin 2003, S. 102. Vgl. Bätschmann, Oskar: Dialektik der Malerei von Nicolas Poussin. München 1982, S. 67f. Vgl. ebd., S. 68. Bellori: Le vite de’ pittori, S. 479f.

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Poussins arkadische Hirten passen interessanterweise nur halb in dieses Schema. Große Taten, die Überbleibsel der alten Inventars-Ontologie, werden hier nicht dargestellt; einen Hinweis in diese Richtung gibt allenfalls die eher heroische als pastorale Gebirgslandschaftskulisse. Aber Poussin setzt (den bereits mit Vergil gegenüber Theokrit begonnenen Prozess zu Ende führend) tatsächlich viel daran, unwürdige Details des Hirtenlebens zu vermeiden. Sein Arkadien enthält noch nicht einmal Vieh, als Hirtenkleidung dienen antike Umhänge. Über diese Reduktion des Inventars hinaus ist das Bild durch einen formalen Minimalismus – wenige Figuren, dominante Primärfarben, Betonung der Waagerechten und Senkrechten – auf hohen Stil ausgelegt. Es verwundert daher nicht, wenn Poussin in einem bekannten späteren Brief vorrangig den ‚Modus‘ der Darstellung statt der Bildgegenstände anführt, um verschiedene Gemäldetypen zu unterscheiden.17 Unter diesen Vorzeichen ist auch das idyllische Inventar historientauglich.

III. Schriftlichkeit, Bildlichkeit und verräumlichter Lektüreprozess bei Poussin Historie im engeren Sinn aufgezeichneter Erinnerung bringt Poussin wie gesehen durch das Medium der Schrift ins Bild. Deren Gegensatz zum erfüllten Hier und Jetzt der Hirtengesänge lässt sich daran festmachen, dass die Grabinschrift Jahre oder Jahrhunderte ungelesen bleiben kann, bevor sie wieder entziffert wird – eine Spur aus unbeaufsichtigten Signifikanten, wie sie bevorzugt Jacques Derrida analysiert hat. Poussin veranschaulicht darüber hinaus Lücken des Verstehens, die unmittelbar im Lektüreprozess aufbrechen. Rekonstruiert man die dargestellte Entzifferung, zeigt sich sogar, dass der Augenblick des Verstehens völlig ausgespart ist. Der Bezug der Hirten zum Satz auf dem Grabmal ist narrativ prägnant: Der links stehende Hirt hat erkannt, dass es etwas zu lesen gibt, der rechts vor ihm kniende ist dabei, den Text zu entziffern, sein Gegenüber hat die Lektüre bereits vollzogen und wendet sich mit einer wohl das Gelesene betreffenden Frage an die (oben tentativ als Historia bestimmte) Frauengestalt hinter ihm. Diese gibt jedoch keine direkte Antwort; sie _____________   17

Den „Modus-Brief“ hat Poussin am 24.11.1647 an Paul de Chantelou geschrieben; dokumentiert ist er u. a. in Gaethgens, Thomas u. Uwe Fleckner (Hg.): Historienmalerei. Berlin 1996, S. 142f. Poussin geht dort, gelehrt an antike Tonartenlehren anknüpfend, zwar von Themen aus, die bestimmte Darstellungsweisen verlangen, konzentriert sich jedoch deutlich auf die ‚Stimmungen‘ von Sujet, Gestaltungsweise und Betrachter.

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blickt am Fragenden vorbei, ihre Kopfneigung signalisiert Reflexion und ihre Hand auf der Schulter des Hirten allenfalls, dass sie ihn daran teilhaben lassen will. Im Kontrast zu den eindeutig handelnden Lesenden bleibt sie, selbst wenn sie allegorisch definiert sein sollte, die Rätselfigur des Bildes:18 Als einzige weiblich, als einzige reich bekleidet, als einzige ganz gegen die Lektürerichtung gewendet, bildet sie einen narrativ unterbestimmten Widerhalt der Bewegung, die in der stummen Frage des rechten Hirten kulminiert. Für den Betrachter sind zumindest die allgemeinen Züge der Antwort erkennbar. Wie auch immer der Hirt die Worte „Et in Arcadia ego“ genau verstanden haben mag, er wird wissen wollen, was es heißt, dass auch in Arkadien gestorben wird. Das Resultat dieser Reflexion dürfte sein: Auch ich werde sterben müssen. Das wird bildsymbolisch gleich dreifach bekräftigt. Der sensenförmige Schatten, den der Arm des entziffernden Hirten wirft, lässt unmittelbar Tod assoziieren (Chronos-Saturn wäre also symbolisch doppelt bis dreifach besetzt), hinter der Frauenfigur hört die lebendige Vegetation auf, und schließlich kehrt sich in ihrer Gestalt sinnfälliger Weise die Handlungsrichtung um – aus Leben wird, stark gedeutet, Erinnerung. Beginnt man so angeleitet selbst weiter über die Inschrift zu reflektieren, wird klar, dass sich ihr Sinn nicht ohne Grund der Vergegenwärtigung widersetzt. Dass der fragende Hirt (auch bei unterstellter Sprachkenntnis) Verständnisprobleme hat, ist schon aus der Komplexität der ihm abverlangten Deutungsleistung verständlich. Die knappe Wortfolge auf dem Grabmal bildet ja, da das Zeitwort fehlt, nicht einmal einen ganzen Satz, ist damit mehrdeutig und macht, auch wenn man nur einen annehmbaren Interpretationsweg beschreibt, mehrere Übertragungsleistungen nötig. Hat man gelesen bzw. ergänzt: ‚Auch ich (der Gestorbene) (war) in Arkadien‘, kann – nahe gelegt durch das abstrakte ‚Ego‘ statt eines Namens – die Verallgemeinerung folgen: ‚Auch in Arkadien sterben die Menschen‘. Das wird man dann – gerade wenn es eine neue Einsicht ist oder erstmals aufmerksam bedacht wird – zurück auf sich selbst beziehen: ‚Auch ich werde sterben‘. Schon weil sich auf diesem Weg der Zeitindex von der Vergangenheit über die abstrakte Gegenwart in die Zukunft verschiebt, erweist sich das Fehlen des Verbs in Poussins Bild als passend. _____________   18

Dass sie so funktioniert, zeigt die Vielzahl ihrer versuchten Deutungen, etwa als Weisheit oder Philosophie, vgl. Maisak: Arkadien, S. 179–181, als Tod, vgl. Bernstock: „Death in Poussin’s second Et in Arcadia Ego“, als die französische Nation und die Vernunft, vgl. Bernstock: Poussin and French Dynastic Ideology, S. 315–329 oder als Kunst oder Malerei, vgl. Brandt: Arkadien, S. 83f.

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Reflektiert man die einzelnen Schritte, kommt eine noch vielschichtigere Zeitstruktur zum Vorschein. Was es für mich heißt, sterblich zu sein, kann ich nur durch eine uneinholbare Antizipation erfassen: Es wird einen Zustand nach meiner Erfahrung geben.19 Der Schatten des entziffernden Arms weist auf den Kopf des Lesenden, aber in Form einer Sense. Sobald ich mir meinen Tod zu vergegenwärtigen versuche, gerate ich mithin an die Grenzen meiner Vorstellungskraft; er wird mich der Perspektive der anderen ausliefern, in deren Gedächtnis ich bleibe.20 Daher sieht man sich bereits unabhängig von etwaigen Verdrängungsimpulsen vom eigenen Tod zur Betrachtung übersubjektiver, die individuelle Erfahrung zu der anderer vermittelnder Medien getrieben. Das könnte erklären, weshalb die Frage des dritten Hirten nur durch eine stumme Geste der Frauenfigur beantwortet wird. Sie führt ihn in ein Gebiet, in dem es zwar noch etwas zu verstehen gibt, aber nicht mehr für ihn. Doch auch wenn der Hirte nur das verstorbene ‚Ego‘ verstehen will, das durch die Inschrift spricht, gerät er an Grenzen intentionaler Sprache: Es kann ja genau genommen nur gemeint haben: ‚Auch ich werde in Arkadien gewesen sein‘. Eine erfahrungsgesättigte Aussage würde die dritte Person verlangen, etwa: ‚Auch sie war in Arkadien‘. Auf die Genrefrage bezogen heißt dies, dass das Thema Tod geradezu einen Übergang von der Idylle zur Historie erfordert – vom gegenwärtigen Ausdruck zur über die Zeit zwischen verschiedenen Symbolverwendern vermittelnden Schrift.21 Darüber hinaus lässt sich noch eine andere Gattungspointe erkennen: Fordert schon Guercino mit einer malerischen Inschriftserfindung die Dichtung heraus, so macht Poussins Darstellung eines Lektüreprozesses systematische Punkte im Paragone, dem Wettstreit der beiden Künste. Dichtung kann Sinn auf verschiedene Sprecher verteilen, doch sie kann weder verschiedene sinngebende, -suchende, -verfehlende und -verschiebende Akte noch ein Gefüge symbolischer Verweisungen simultan zur Darstellung bringen. Der Malerei dagegen ist, wie Poussin zeigt, eben dies möglich. Sie ist keine lineare Aneinanderreihung von Sinneinheiten, die _____________   19 20 21

Expliziert ist das bekanntlich (als Nebenthese) bei Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927). Tübingen 1993, S. 262. Die Frage, ob man ein modernes Deutungsschema wie dieses sinnvoll für Poussin nutzen kann, wird unten noch erörtert. So Sartres ebenfalls bekannte Anschlussreflexion zu Heidegger, vgl. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943). Reinbek bei Hamburg 1994, S. 939–941. Den Zusammenhang von Sterblichkeit und Zeichenverwendung umkreist bereits (in mir nicht immer ganz klarer Weise) Marin: Die Malerei zerstören, S. 120–125. Er verweist auch auf Derrida, der bei mir im nächsten Abschnitt eine (wenn ich richtig sehe, wiederum etwas andere) Rolle spielen wird.

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jeweils im Augenblick des Lesens oder Hörens verstanden werden und dann der nächsten Platz machen müssen, sodass das zuvor Gesagte allenfalls angereichert, vergessen oder erneut aufgerufen werden kann. Stattdessen hält die bildräumliche Ausbreitung die Vielheit der signifikanten Elemente und Strukturen verfügbar, zwischen denen man sich im Verstehen und Nichtverstehen hin und her bewegt. Die Malerei erlaubt es derart zum Beispiel, den Blick erneut auf ‚frühere‘ Stufen einer narrativen Folge wie den Beginn des Entzifferns zu richten, wenn eine ‚spätere‘ Sinnfigur wie die mutmaßliche HistoriaDarstellung das verlangt – oder ohne feste Reihenfolge mehrere Ausdeutungen eines Elements wie des Sichel-Schattens in Betracht zu ziehen. Mit einem Wort: Der zeitlichen Abfolgeordnung von Denken und Handeln wird ein Reflexionsraum der für sie nötigen Fixpunkte entgegengestellt. Damit sind Struktur und Prozess als gleichberechtigte Bedingungen von Verstehen (sowie Aufschub und Sinnverschiebung als dessen entsprechende Grenzen) dargestellt.22 Die malerische, bildräumliche Seite ergänzt und fundiert hier die Dichtung, statt sie nur nachzuahmen – und sie kann das Wechselverhältnis, in dem beide stehen, insgesamt abbilden.

IV. Hierarchie und Verfügungsgewalt Die Frage, ob die Begriffe des Naiven und Sentimentalischen für Poussin verfehlt sind, hat sich im Argumentationslauf fast nebenher erledigt: Der Arkadienmythos nimmt als bewusste Ex-Post-Konstruktion eines verlorenen Zeitalters Schillers Schema vorweg, und Poussin hebt darin gesondert die Differenz eines präreflexiven und eines reflexiven Zustands hervor. Dafür sind jedoch in der Rekonstruktion noch andere mögliche Anachronismen hinzugekommen: Ein Todesbegriff, der erst in der Existenzialphilosophie des 20. Jahrhunderts entfaltet wird, und eine stark an Derrida orientierte Zeichentheorie. Der Rückgriff auf beides ließe sich allgemein damit rechtfertigen, dass abstrakte Grundstrukturen unseres Weltverhältnisses eben zu verschiedenen Zeiten entdeckt und wiederentdeckt werden können. Ich glaube aber, dass die beiden genannten Punkte spezifischer in ein ästhetisch-politisches Projekt passen, das Mitte des 17. _____________   22

Dies ist der Punkt, an dem das Bild sogar für Poststrukturalisten, namentlich für Derrida, anschlussfähig wird. Dessen différance bezeichnet ja sowohl eine ‚räumliche‘ Verschiebung (die Bewegung in und Umgestaltung von gegebenen Zeichenstrukturen) als auch einen ‚zeitlichen‘ Aufschub (des vollen Verstehens, das immer neue Explikationen verlangt). Vgl. Derrida, Jacques: „Die Différance“. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hg. v. Peter Engelmann. Stuttgart 1990, S. 76–113.

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Jahrhunderts nicht nur Poussin verfolgt: die Rekonstruktion von Ordnung aus Elementen. Sowohl die Vorgänge des Bezeichnens und Verstehens als auch Sterblichkeit sind ja in dem Sinn elementar, dass jede Kultur und jede soziale Ordnung mit ihnen umgehen muss. Wenn man will, kann man angeregt durch das Wort Ego noch das in der Reflexion auf sich selbst stoßende Ego Cogitans ergänzen und hat dann drei unerschütterliche Fundamente:23 den sterblichen Körper, den endlichen Geist, die übers begrenzte Individuum hinausgehende Zeichenpraxis. Grundlagen dieser Art sucht man auf, wenn alles andere strittig geworden ist: die antike Überlieferung und die christliche Lehrmeinung, die individuelle Lebensbahn und die legitime soziale Hierarchie. Baut man dabei jedoch nur auf transhistorische Grundlagen, resultiert eine destruktive Haltung zur Tradition: Man muss, wie es Poussins Symboleinsatz zeigt, die alten Ordnungen zum Material für rationale Konstruktionen machen, und man kann, wie das Staatstheorien seiner Zeit sehen, keine ererbten Macht- und Deutungsansprüche mehr anerkennen. Dem fallen beispielsweise bei Thomas Hobbes Adel und Kirche(n), bei Poussin das hierarchische Inventar der Darstellungsgattungen zum Opfer. Wie ist dies aber damit zu vereinbaren, dass Poussin eine zentrale Berufungsgröße war, als die Hierarchie der Gemäldegattungen kodifiziert wurde? Für die 1648 gegründete und nach der Niederschlagung der Fronde erfolgreich im absolutistischen Staat etablierte Akademie für Malerei war er das Vorbild schlechthin, und dort wurde auch der Vorrang der klassisch durch große Sujets bestimmten Historie festgeschrieben.24 Wenngleich Poussin nun nicht steuern konnte, wie ihn Charles Le Brun, André Félibien und Jean-Baptiste Colbert rezipierten, hat er ihnen doch bildnerisch und diskursiv die Richtung gewiesen. Man kann aber deutlich machen, bis zu welchem Punkt die Übereinstimmung zwischen dem Maler und seinen Anhängern reicht. Poussin ist zweifellos überzeugt, dass Ordnung gestiftet und garantiert werden muss. Er mobilisiert auch so viel klassisches Bildungsgut wie möglich, um sich _____________   23 24

Vgl. Brandt: Arkadien, S. 20. Das zentrale Dokument bildet André Félibiens Vorrede zu den von ihm präsentierten Conferences der Académie Royale de Peinture et de Sculpture, vgl. dazu im Überblick Gaethgens, Thomas W.: „Historienmalerei. Zur Geschichte einer klassischen Bildgattung und ihrer Theorie“. In: Historienmalerei. Hg. v. Gaethgens u. Fleckner, S. 15–76, hier insbes. S. 26–34; Félibien, André: „Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture (1668)“. In: Historienmalerei. Hg. v. Gaethgens u. Fleckner, S. 156–165. Spezifisch auf das Verhältnis Félibien/Poussin bezogen (und daher in der Sache relativierend) Germer, Stefan: Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV. München 1997, S. 484–502.

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TILMAN REITZ

als künstlerischer Gesetzgeber auszuweisen.25 Doch er entzieht der neuen Ordnung den traditionalen Rückhalt, konkrete Muster und sinnliche Evidenz, indem er nur noch souverän verfügt, wie sie ausgestaltet ist. Was bei ihm und in der Folge als gültige Form erscheint, hat immer einen Anteil willkürlicher Setzung – der in konsequenten Werken auch reflektiert wird. Das ist der vielleicht stabilste Struktursinn der allegorischen Frauengestalt in Poussins Arkadienbild: Mit ihr hat der Künstler eine starke, aber auch symbolisch nicht mehr eindeutig zuzuordnende Entscheidung getroffen. Seine Stärke liegt nicht im Ausmalen eines Novus Ordo Seclorum oder der Restitution alter Formen, sondern in der Demonstration von Ordnungsbedürftigkeit. Auch dieses Problem wird gleichzeitig in der Theorie politischer Souveränität reflektiert, deren Willkür betonende Pointen Poussin durch Autoren wie Gabriel Naudé und François de La Mothe Le Vayer vertraut waren.26 Für die Idylle resultiert hieraus möglicherweise eine Vorgabe, deren Tragweite zu prüfen ist: Der in ihr geschilderte Zustand kann nicht einmal mehr als verlorenes Paradies oder Utopie integral beschworen werden, sondern muss jeweils zu bestimmten, reflexiv zugänglichen Zwecken neu konstruiert werden – etwa als Wunschwelt haltloser Empfindungen (in Goethes Werther), als Chiffre für Kindheit (bei Jean Paul) oder auch als Experimentierfeld für eine nicht mehr gegenstandsgebundene Wahrnehmung und Formgebung (bei Malern wie Claude Monet und Paul Gauguin). Es ist mit anderen Worten nicht länger ausgemacht, dass in der bukolischen oder pastoralen Welt Schönheit, Einfachheit, Liebe, Sehnsucht oder auch nur Unmittelbarkeit die Hauptrolle spielen. Erst damit wird sie vollständig künstliche Natur.

_____________   25 26

Das verdeutlichen besonders seine Selbstbildnisse der späten 1640er Jahre, vgl. etwa Winner, Matthias: „Poussins Selbstbildnis im Louvre als kunsttheoretische Allegorie“. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte XX (1983), S. 417–449. Vgl. für diverse (verstreute) Belege: Bernstock: Poussin and French Dynastic Ideology, allerdings mit einer fragwürdigen Engführung auf die Legitimation der französischen Monarchie; allgemein zu den genannten Autoren Schnur, Roman: Individualismus und Absolutismus. Berlin 1963.

Gattungsbrüche in Nicolas Poussins Arkadienbildern

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Literaturverzeichnis Bätschmann, Oskar: Dialektik der Malerei Nicolas Poussins. München 1982. Bellori, Giovanni Battista: Le vite de’ pittori, scultori, e architetti moderni. Rom 1672. Bernstock, Judith: Poussin and French Dynastic Ideology. Bern u. a. 2000. Bernstock, Judith: „Death in Poussin’s second Et in Arcadia Ego“. In: Konsthistorisk tidskrift LV (1986), H. 2, S. 55–66. Brandt, Reinhard: Arkadien in Kunst, Literatur und Dichtung. Freiburg i.Br., Berlin 2006. Busch, Werner (Hg.): Landschaftsmalerei. Berlin 1997. Derrida, Jacques: „Die Différance“. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hg. v. Peter Engelmann. Stuttgart 1990, S. 76–113. Félibien, André: „Conférences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture (1668)“. In: Historienmalerei. Hg. v. Thomas W. Gaethgens u. Uwe Fleckner. Berlin 1996, S. 156–165. Félibien, André: Conferences de l’Académie Royale de Peinture et de Sculpture. London 1705. Félibien, André: Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellens peintres anciens et modernes (1666-1688), Bd. IV. London 1705. Gaethgens, Thomas W.: „Historienmalerei. Zur Geschichte einer klassischen Bildgattung und ihrer Theorie“. In: Historienmalerei. Hg. v. Thomas W. Gaethgens u. Uwe Fleckner. Berlin 1996, S. 15–76. Germer, Stefan: Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV. München 1997. Heidegger, Martin: Sein und Zeit (1927). Tübingen 1993. Lomazzo, Giovanni Paolo: „Trattato dell’arte della pittura, scoltura et architettura (1584)“. In: Landschaftsmalerei. Hg. v. Werner Busch. Berlin 1997, S. 94–100. Maisak, Petra: Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt. Frankfurt a.M., Bern 1981. Marin, Louis: Die Malerei zerstören (1977). Berlin 2003. Panofsky, Erwin: „Et in Arcadia Ego. Poussin and the Elegiac Tradition“. In: Ders.: Meaning in the Visual Arts. Garden City, N.Y. 1955, S. 295–320. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943). Reinbek 1994. Schnur, Roman: Individualismus und Absolutismus. Berlin 1963. Vergil: „Bucolica (42–39 v. Chr.) und Georgica (37–29 v. Chr.)“. In: Landschaftsmalerei. Hg. v. Werner Busch. Berlin 1997, S. 33–42. Vergil: Eclogues. Hg. v. Robert Coleman. Cambridge u.a. 1977. Winner, Matthias: „Poussins Selbstbildnis im Louvre als kunsttheoretische Allegorie“. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte XX (1983), S. 417–449.

 

Gattungsfragen als medientheoretisches Problem. Salomon Geßners Kunsttheorie und Idyllenproduktion LOTHAR VAN LAAK

I. In seinem sowohl kunsttheoretisch als auch werkgeschichtlich aufschlussreichen Brief über die Landschaftsmahlerey von 1772 beharrt Salomon Geßner ganz selbstverständlich auf der Doktrin des ut-pictura-poesis.1 Damit geht Geßner – sechs Jahre nach Gotthold Ephraim Lessings Epoche machender Schrift über den Laokoon oder Über die Grenzen von Malerei und Poesie 2 – auch weiterhin von der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Künste Malerei und Poesie aus. Das lässt sich daraus herleiten, dass die Idylle, die für Geßner geradezu paradigmatische Gattung, prinzipiell im Zusammenhang mit ihrer Bildlichkeit gesehen wird.3 Aus der Wertschätzung der poetogenen Kraft dieser Gattung aufgrund ihrer bildlich-anschaulichen Wirkung versteht sich für Geßner die Kritik, die Lessing programmatisch und Norm setzend an der ‚malenden Dichtung‘ übt, nicht so ohne Weiteres. Die Idylle ist für Geßner eine Gattung, die das Zusammenspiel von Bildli_____________   1 2

3

Einen guten Überblick bietet: Jacob, Joachim: „ut-pictura-poesis“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9. St–Z. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2009, Sp. 997–1006. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012. Vollhardt widmet sich in seinem instruktiven Nachwort der Bedeutung der Einbildungskraft für Lessing als dem Vermögen, das vor oder jenseits der medialen Differenzierung ästhetische Integrationsleistungen vollbringen kann; siehe dazu unten. Vgl. zur aktuellen Diskussion des Laokoon die Beiträge in: Robert, Jörg u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings ‚Laokoon‘ zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston 2013. Grundlegend dazu die Arbeiten von: Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart ²1977; Schneider, Helmut J. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988.

Salomon Geßners Kunsttheorie und Idyllenproduktion

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chem und Literarischem kultiviert. Geßner sieht die beiden Künste der Malerei und Poesie dementsprechend auch nicht in einem normativhierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Stattdessen konstatiert er für die beiden „Schwestern“ ein dynamisches Miteinander, wenn er sich wünscht, dass sich die „Kenntniß beyder Künste mehr verbände“.4 So rät Geßner in seinem Brief über die Landschaftsmahlerey des Weiteren: Die Dichtkunst ist die wahre Schwester der Mahlerkunst. Er [der Maler; L. v. L.] unterlasse nicht die besten Werke der Dichter zu lesen; sie werden seinen Geschmack und seine Ideen verfeinern und erheben, und seine Einbildungs-Kraft mit den schönsten Bildern bereichern. Beyde spüren das Schöne und Grosse in der Natur auf; beyde handeln nach ähnlichen Gesetzen. Mannigfaltigkeit ohne Verwirrung ist die Anlage ihrer Werke, und ein feines Gefühl für das wahre Schöne muß beyde bey der Wahl jeden Umstandes, eines jeden Bildes durch das Ganze leiten.5

Die entscheidende Instanz, die für Geßner jenseits der medialen Differenz zwischen Bild und Text liegt, ist das „feine Gefühl für das wahre Schöne“. Dieses ist bildbar, erziehbar. An der Bildung des Gefühls zeigt sich, dass das Ästhetische für Geßner eine ethische Grundlegung besitzt und sich am Ideal der Perfektibilität des Menschen orientiert. Das Ideal allerdings wird im Gefühl verankert. Das Gefühl ist es, das kultiviert, ‚verfeinert‘ werden muss. Dazu sollen die Künste verhelfen, denn sie vermitteln dem Rezipienten das „wahre Schöne“. Die Künste stellen die Verfahren bereit, diesen Prozess der Perfektibilierung des Menschen zu organisieren. Den Gefühlen und ihrem Zusammenspiel „nach ähnlichen Gesetzen“ verdankt sich die Geschmacksbildung. Sie vollzieht sich dabei so, dass die „Einbildungs-Kraft mit den schönsten Bildern bereicher[t]“ wird. Gefühl, Geschmack und Einbildungskraft sind damit die – Künste und Medien übergreifenden und anthropologisch geprägten – Vorstellungen, die „durch das Ganze leiten“ sollen, d. h. den ästhetischen Gesamtentwurf abrunden. Aber, so soll im Folgenden kritisch nachgefragt werden: Können Sie es denn auch? Und lässt sich damit tatsächlich die Differenz der Medien überspielen?

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Der „Brief über die Landschaftsmahlerey“ wird zitiert nach: Geßner, Salomon: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 31988, S. 171–194, Zitat S. 184. Geßner: „Brief über die Landschaftsmahlerey“, S. 184.

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II. Geßner reflektiert im Brief über die Landschaftsmahlerey seine eigene werkgeschichtliche Entwicklung zwischen den Künsten ausgehend von seinem ersten „dunkle[n] Gefühl“. Dieses ‚dunkle Gefühl‘ habe sich bei Betrachtung der Natur eingestellt. Es schließt an die Bestimmung Alexander Gottlieb Baumgartens an, von der her die Ästhetik als Gnoseologia inferior zu entwerfen ist.6 Bei Geßner habe dieses ‚dunkle Gefühl‘ die Bereitschaft geweckt, sich künstlerisch auszudrücken. Weil ihm aber ausreichende bildkünstlerische Fertigkeiten fehlten, habe er sich „lieber auf eine andere Art auszudrücken“ gesucht. Geßner führt näher aus: Indeß thaten die Schönheiten der Natur und die guten Nachahmungen derselben von jeder Art immer die gröste Würkung auf mich; aber in Absicht auf Kunst wars nur ein dunkles Gefühl, das mit keiner Kenntnis verbunden war; und daher entstand, daß ich meine Empfindungen, und die Eindrücke, die die Schönheiten der Natur auf mich gemacht hatten, lieber auf eine andere Art auszudrücken suchte, deren Ausdruck weniger mechanische Übung, aber die gleichen Talente, eben das Gefühl für das Schöne, eben die aufmerksame Bemerkung der Natur fordert.7

Mit seiner literarischen Produktion in der Gattung der Idylle, auf die Geßner sich hier bezieht, reagiert er also auf seinen Mangel an bildästhetischem Vermögen: Der mediale Wechsel von der Malerei zur Poesie beziehungsweise zur Literatur soll das ästhetische Ausdrucksbegehren von Mimesis und Imagination befriedigen und die Möglichkeit bieten, das ‚dunkle Gefühl‘ mit „Kenntnis“ zu verbinden, ohne „mechanische Übung“ nötig zu haben. Geßner betont damit zum einen die Diskursivität des Mediums Literatur und zum anderen ihre prinzipielle Affinität zu den _____________   6

7

Vgl. dazu den einleitenden Überblick in der von Dagmar Mirbach herausgegebenen Ausgabe von Baumgartens Ästhetik: Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik. Aesthetica. Lateinisch – deutsch. Übers. u. hg. v. Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg 2007, insbes. S. XXXVVII–LXXX der Einleitung. Vgl. auch die älteren Arbeiten: Franke, Ursula: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972; Paetzold, Heinz: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer. Wiesbaden 1983 sowie zuletzt die Beiträge in: Aichele, Alexander u. Dagmar Mirbach (Hg.): Aufklärung, Bd. 20. Themenschwerpunkt: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus. Hamburg 2008 sowie zur Konzeption der ästhetischen Erfahrung im Stellenwert der neueren Debatte: Laak, Lothar van: „Die Konzeption ästhetischer Erfahrung bei Alexander Gottlieb Baumgarten“. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hg. v. Christian Soboth u. Udo Sträter. Halle/Saale 2012, S. 505–512. Geßner: „Brief über die Landschaftsmahlerey“, S. 173.

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Formen, Prozeduren und Prozessen des Wissens. Das hat weitere kunstund medientheoretische Aspekte und Konsequenzen, denen es nachzugehen lohnt: Denn Geßners Behauptung impliziert, dass es ihm bei diesem medialen Wechsel gelungen sei, einen ästhetisch adäquaten, ja der Malerei gleichwertigen Ausdruck zu finden. Ausgehend von seinem ‚dunklen Gefühl‘, seiner Erziehung und Geschmacksbildung sieht er also eine Konvergenz von medialen und ästhetischen Aspekten. Künste und Medien können – so scheint es in Geßners Argumentation – ohne weiteres durch andere ersetzt werden, selbst wenn ganz konstitutive Unterschiede zwischen ihnen bestehen. Diese intermediale, ‚geschwisterliche‘ Wechselbeziehung der Künste bestimmt dabei das ästhetische Darstellungsgeschehen nahezu kompensatorisch: Bildende Kunst und Literatur stehen füreinander ein. Sie werden in eine anthropologische Perspektive gerückt, in der sich die medialen und ästhetischen Grenzen durch Rezeption und Reflexion der ästhetischen Erfahrung relativieren, überspielen lassen. Neben diesen medien- und kunsttheoretischen Implikationen im weiteren Sinn lassen sich auch gattungstheoretische Implikationen für die Idylle im engeren Sinn benennen. Denn ihr werden hier zwei besondere ästhetische Grundhaltungen – im Sinne von poetogenen, literaturanthropologischen Situationen – zugeschrieben, die die Gattung besonders modellieren sollen: „eben das Gefühl für das Schöne, eben die aufmerksame Bemerkung der Natur“. Das ‚dunkle Gefühl‘ erweist sich damit durch das Medium der Literatur erstens als in ein „Gefühl für das Schöne“ verwandelt.8 Diese Transformation vollzieht sich zweitens als aufmerksamer Betrachtungs- und Kontemplationsprozess der Natur gegenüber.9 Geßners moderat-bürgerlicher Klassizismus orientiert sich damit, anders als der am Pathetischen und Erhabenen orientierte Klassizismus Johann Joachim Winckelmanns, ganz dezidiert an der Natur und nicht an der Kunst. 10 Gleichwohl ist Geßner sich bewusst – das artikuliert er in seinem Brief über die Landschaftsmahlerey ebenfalls –, dass die im Medium der Literatur und in der Gattung der Idylle sich vollziehende Gestaltung und Verwandlung des Gefühls durchaus eigene, neue Probleme mit sich bringen kann. Wenn das Gefühl im Medium der Literatur verinnerlicht wird und den Bereich des _____________   8 9 10

Die Problemgeschichte von Schönheit und Sinnlichkeit der Literatur zeichnet nach: Jacob, Joachim: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Tübingen 2007. Eine besonders bedeutende Rolle der Kontemplation in der ästhetischen Erfahrung der Natur sieht: Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a.M. 1991. Winckelmann geht zwar von der Schönheit der Natur der ‚Alten‘ aus, dann verschiebt sich seine Argumentation aber immer weiter von der Natur der Antike zu den Kunstwerken der Antike: Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Hg. v. Ludwig Uhlig. Stuttgart 1991.

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Anschaulichen verlässt, wird es auch auf sich selbst zurückgeführt. Das Gefühl rückt so gegenüber den Künsten in ein Selbstverhältnis, in einen Selbst-Bezug. Von ihm aus sind Literatur und Malerei nur noch als Magazin seiner Erinnerung wahrnehmbar. Dementsprechend stellt Geßner mit Blick auf die Lehrdichtung von Barthold Heinrich Brockes fest: [S]eine Gedichte sind doch ein Magazin von Gemählden und Bildern, die gerade aus der Natur gekommen sind. Sie erinnern uns an Schönheiten, an Umstände, die wir oft selbst bemerkt haben, und itzt wieder ganz lebhaft denken, die uns aber das Gedächtniß nicht liefert, wenn wir sie am nöthigsten haben.11

Aus der durch das Magazin der Künste evozierten ‚lebhaften‘ Erinnerung kommt zwar die Kraft der Verschönerung der Erfahrung. Zur ‚Erfahrung‘ dieses Selbstgefühls stehen die Künste so aber auch in einem prinzipiell untergeordneten Verhältnis.12 Die Malerei und die Literatur erscheinen damit nur als Surrogat für die eigenen, unmittelbaren Naturerfahrungen. Dabei aber hat die Literatur ein größeres Potenzial als die Malerei, Gefühle beim Leser bzw. Betrachter zu evozieren und zu modellieren. Für die Bildlichkeit selbst ist dementsprechend von entscheidender Bedeutung, dass dieses Modell, das von der Erinnerungsleistung her konzipiert ist, die poetische Zeichenorganisation der Literatur tendenziell über die visuelle rückt.13 Trotz der festgestellten augenscheinlichen Schwäche unseres Gedächtnisses nähert Geßner sich Lessings Paradigma von der besonderen Leistungsfähigkeit der Literatur somit in dieser Hinsicht deutlich an. Dieser Eindruck verstärkt sich sogar noch im Hinblick auf die Vorrede „An den Leser“ zur Ausgabe der Idyllen von 1756. Denn dort wird das Bildliche der Idyllen – „Alle Gemählde von stiller Ruhe und sanftem ungestörtem Glük“14 – durch „das beste Muster in dieser Art Gedichte“, durch Theokrit, und somit durch die Literatur beglaubigt und zwar sprachlich-diskursiv und in dem Wissen um die literarische Tradition. Mir deucht, das ist die Probe darüber, daß Theokrit in seiner Art fürtrefflich sey, weil er nur wenigen gefällt; denen kann er nie gefallen, die nicht für jede Schönheit der Natur, bis auf die kleinsten Gegenstände empfindlich sind, denen, deren Empfindungen einen falschen Schwung genommen haben, und einer Menge von Leuten, die ihre Bestimmung in einer falsch-ekeln Galanterie finden. […] Ich ha-

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Geßner: „Brief über die Landschaftsmahlerey“, S. 186. Die Konzeption und Bedeutung des Selbstgefühls für die Aufklärungsphilosophie, insbesondere bei Johann Nikolaus Tetens, hat herausgearbeitet: Frank, Manfred: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a.M. 2002. Ausführlicher habe ich das entwickelt in: Laak, Lothar van: „Der Wandel der Bildlichkeit bei Salomon Gessner“. In: Euphorion-Beiheft zu „Salomon Gessner und die Kultur seiner Zeit“. Hg. v. Wolfgang Adam u. Maurizio Pirro. Heidelberg 2012, S. 61–78. Geßner, Salomon: „An den Leser“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 31988, S. 15–18, Zitat S. 15.

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be meine Regeln in diesem Muster gesucht, und es wird mir eine Versicherung der glüklichen Nachahmung seyn, wenn ich diesen Leuten auch mißfalle.15

Wie das Zitat deutlich macht, orientiert sich Geßner explizit an Theokrit und verpflichtet seine eigenen Texte – ähnlich wie sein literarisches Vorbild – auf „jede Schönheit der Natur“. Die literarische Darstellung widmet sich der Beschreibung „bis auf die kleinsten Gegenstände“. Ihr Rezeptionsmodus ist eine Haltung der Aufmerksamkeit,16 die sich nicht als Galanterie17 oder „zugespitzte[r] Witz“ erweist, sondern sich den Empfindungen „der Natur und den Empfindungen der Unschuld“18 widmet. Der Schönheit wird das Medium der Literatur für Geßner so anscheinend in besonderer Weise gerecht. Gleichwohl, und das ist die besondere und für die Gattung wichtige Pointe, kann die Literatur dies gerade nur dadurch leisten, dass sie sich auf das Bild und die Bildlichkeit der Idylle besinnt und verpflichtet. Diese eigentümliche Ambivalenz scheint geradezu konstitutiv für die Gattung Idylle zu sein, die ‚bildliche‘ Literatur sein will, obwohl sie die besonderen Qualitäten des Mediums Literatur zur Generierung von Empfindungen und der Gestaltung des Habitus der Aufmerksamkeit deutlich werden lässt.

III. Wie sich Aufmerksamkeit auf die genaue Wahrnehmung der Natur, die Geschmacksbildung und die Erfahrung der Schönheit bezieht und im ‚literarischen Bild‘ der Idylle verdichtet wird, zeigt sich sehr beispielhaft in der Idylle Als ich Daphnen auf dem Spaziergange erwartete aus der Sammlung der Idyllen von 1756.19 Weil die geliebte Daphne noch nicht erscheint, muss sich der Ich-Erzähler gedulden; er vertreibt sich die Zeit seines Wartens mit der Betrachtung der Natur: „Sie kömmt noch nicht die schöne Daphne! hier will ich ins Gras mich hinlegen und sie erwarten, hier an der Quelle. Indeß will ich die Gegend umher betrachten, und mein Verlangen täuschen.“20 Der schweifende, auf die Details der Natur gerichtete, kon_____________   15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 18. Vgl. zur ästhetischen Dignität der Aufmerksamkeit: Thums, Barbara: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008. Grundlegend hierfür im interkulturellen Vergleich von Frankreich und Deutschland: Steigerwald, Jörn: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Heidelberg 2011. Geßner: „An den Leser“, S. 18. Geßner, Salomon: „Als ich Daphnen auf dem Spaziergange erwartete“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 31988, S. 63–65. Ebd., S. 63.

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templative Blick zielt auf die Erfahrung der Ruhe in den wechselnden Lichtern und Schatten der Natur; aber diese Anschauung wird genutzt, um in der Imagination dem „Verlangen“ etwas Mäßigendes entgegen zu setzen. Wenn in der Betrachtung, Anrufung und allegorischen Ausdeutung der Viole zwischenzeitlich ein Fixpunkt gefunden wird, kann die Empfindung temperiert werden. Aber auch aus dieser Beruhigung löst sich das Auge wieder, um in einen anderen „angenehme[n] Betrug“ zu verfallen: Ich will izt durch den kleinen Hain des wankenden Grases hinsehn; wie glänzet das manigfaltige Grün, von der Sonne beschienen! sie streuen schwebende Schatten eins auf das andre hin; schlanke Kräuter durchirren das Gras mit zarten Ästen und manigfaltigem Laub, oder sie steigen darüber empor, und tragen wankende Blumen. Aber du blaue Viole, du Bild des Weisen, du stehst bescheiden niedrig im Gras, und streust Gerüche umher, indeß daß Geruchlose Blumen hoch über das Gras empor stehn, und pralerisch winken. Fliegende Würmchens verfolgen sich unten im Gras, bald verliert sie mein Aug im grünen Schatten, dann schwärmen sie wieder im Sonnenschein, oder sie fliegen zu Schaaren empor und tanzen höher in der glänzenden Luft.21

Die Abfolge von Illusion und Kontemplation in der Einbildungskraft, die nicht nur den Augensinn und den Geruch, sondern auch das Gehör beschäftigt, endet erst mit dem Erscheinen der erwarteten Angebeteten: Aber izt kömmt sie, die schöne Daphne! ich eil izt an ihre Seite, ihr Blumen, und ihr, ihr kleinen Bewohner; aber noch oft sollt ihr mir das sanfte Entzüken gewähren, das Entzüken, auch in der kleinsten Verzierung der Natur die Harmonie mit der Schönheit und dem Nuzen ins Unendliche hin in unauflöslicher Umarmung zusehn. Sie kömmt, sie ist schon nahe, die schöne Daphne; wie ihr leichtes grünes Gewand flattert! Wie lächelt ihr Mund, wie schön ist ihr Aug! Aber sie würden für mich nicht schön seyn, verriethen sie nicht die schöndenkende Seele und das edelste Herz.22

Am Schluss der Idylle werden so die einzelnen Sinnesreize und Empfindungen, die in der Natur gemacht werden, in ein umfassenderes Gefühl von Schönheit, Nützlichkeit und Harmonie der Natur transformiert. Geschmacks- und Seelenbildung vollziehen sich dabei im Gefühl für die Schönheit und Nützlichkeit der Natur.23 Das geschieht dadurch, dass die Aufmerksamkeit auf diese mit der Aktivierung und Temperierung der Einbildungskraft verbunden wird. _____________   21 22 23

Ebd., S. 63. Ebd., S. 65. Geßner sieht anders als Immanuel Kant die Kunst also nicht als ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘, sondern schließt Nützlichkeit und ‚Interesse‘ in die ästhetische Erfahrung mit ein. Entsprechend hat auch deshalb das Erhabene einen anderen Stellenwert bei ihm, es ist ermäßigt zum Pittoresken.

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Geschmacksbildung bedeutet dabei auch, dass der junge Hyacintus zur galanten Kontrastfigur wird. So heißt es unmittelbar vor dem Auftritt der Daphne: Verzeihen sie Hyacintus, verzeihen sie der Natur, die einem Wurm ein schöner Kleid gab, als keine Kunst ihnen liefern kan, ihnen der doch so ausnehmenden Wiz hat, Gewissen und Religion dem tummen Pöbel zu überlassen.24

Moraldidaktisch wird hier der Witz zu Gunsten der Pflege des Gewissens durch die religiöse oder religions-analoge Erfahrung der Natur abgewertet. Entsprechend ist die Natur hiermit gedeutete, kultivierte und religiös erhöhte, sakralisierte Natur. Sie lässt sich als antik-mythologisch durchformter Raum, aber indirekt auch als Abglanz des göttlichen Paradies-Gartens sehen. Diese beiden Formen der Stilisierung der Natur – als religiöse oder als mythologische – verdanken sich eigentümlicher Weise der grundlegenden Konzeption eines Natur-Raums, der als Thesaurus der Bilder der Natur gesehen wird.25 Er wird in der Idylle Lycas, oder die Erfindung der Gärten genauer beschrieben. Lycas, so besingt ihn der Ich-Erzähler für seine Daphne, ‚erfand‘ die Gärten, indem er in der Natur seiner Liebe gedachte und so den ganzen Frühling zu vereinen versuchte: [D]ie schöne Saat-Rose will ich hier bey der Lilie pflanzen. Ich will auf die Wiesen und Hügel gehen, und will ihnen die blumichten Pflanzen rauben; die Viole und die Nelke, und die blaue Gloken-Blume, und die braune Scabiose, alles, alles will ich sammeln.26

Diese Präsenz der Schönheiten der Natur in der phantasievollen Gestaltung der Gärten evoziert bei einem „Hirt[en], der vorüber geht“,27 die Erfahrung des Heiligen. Eingeführt wird die Idylle vom Gärten stiftenden Lycas mit einer Szene der Imagination. Dabei wird das Vermögen der Einbildungskraft als Re-Figuration des göttlichen Natur-Raums entworfen: _____________   24 25

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Geßner: „Als ich Daphnen auf dem Spaziergange erwartete“, S. 65. Die Konzeptionen der Landschaft und Gärten bei Geßner zeichnet detaillierter nach: Xiuli, Jin: „Schöne Landschaften. Zu Salomon Geßners Idyllen“. In: Literaturstraße 9 (2008), S. 19– 39. Siehe auch mit Blick auf Geßner: Schipperges, Thomas: „Wechselwirkungen von Idylle und Musik um 1800“. In: Landschaft am ,Scheidepunkt‘. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800. Hg. v. Markus Bertsch u. Reinhard Wegner. Göttingen 2010, S. 113–136, Zitat S. 118. Geßner, Salomon: „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 31988, S. 39–40, Zitat S. 40. Ebd. Die ästhetisch so fruchtbare Erfahrung des ‚Vorübergehens‘, des Passierens und Flanierens, die für Charles Baudelaire, Stefan George, die Moderne und die ästhetische Philosophie Walter Benjamins so wichtig werden wird, findet sich in dieser Wendung Geßners schon modelliert.

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LOTHAR VAN LAAK

Izt schließt uns der stürmende Winter ins Zimmer, und Wirbelwinde durchwühlen den silbernen Regen der Floken; Izt soll mir die Einbildungskraft den Schaz von Bildern öfnen, die sie in dem blumichten Lenz und in dem schwülen Sommer und in dem bunten Herbst sich gesammelt; aus ihnen will ich izt die schönsten wählen, und für dich, schöne Daphne! In Gedichte sie ordnen. So wählt ein Hirt seinem Mädchen zum Kranz nur die schönsten Blumen. O daß es dir gefalle! wenn meine Muse dir singt, wie in der Jugend der Tage, ein Hirt der Gärten Kunst erfand.28

Das Medium der Literatur, so Geßners Vorstellung, erschließt den Schatz der Bilder der Natur mit der Einbildungskraft. Sie versinnlicht die Gefühle für die Natur wieder und ahmt dazu die Natur nach, so wie Lycas mit seinem Garten die Natur nachgeahmt haben soll. In dieser Nachahmung durch die Einbildungskraft konstituieren sich Bilder des Gefühls und des Wissens. In ihnen sind die Bilder der Natur, die im Garten repräsentiert sind, versammelt. Sie werden darüber hinaus zu einer Ganzheit integriert. Die Einbildungskraft soll so Gefühl und Geschmack in eine Erfahrung von Schönheit vereinen. Diese Beschwörung von Ordnung aber, die mehr ist als die Erinnerung an das Schöne, die vielmehr ‚ein Gefühl für das Schöne‘ erst ermöglichen soll, erweist sich als Fantasma, demgemäß die Idylle als eine Form bildlicher Literatur die ‚bessere‘ Literatur sei, aber eben vor allem: doch Literatur sei und nicht Malerei. Stattdessen wird die folgenreiche Umstellung auf ein modernes Konzept der Einbildungskraft, das um 1800 die Imagination in ihrem Spiel frei setzt, auch die Vorstellung von der Schatzkammer der Fantasie durch eine neue Bildwelt des Imaginären ablösen. Dadurch wird die symbolische Unbestimmtheit, ja, Leere, die die Gattung der Idylle in ihrer weiteren Geschichte kennzeichnet, deutlich. Das vertraute allegorisch-emblematische Bildkonzept, das die Idylle so sehr geprägt hat, greift nicht mehr und die medientheoretisch reflektierte Frage nach der Gattung lässt diese selbst prekär werden. Die Kunsttheorie, die die medientheoretische Problematisierung, wie sie Lessing vorführte, verdrängen wollte, macht den Anspruch und die Produktion der Gattung Idylle so implizit selbst problematisch.

Literaturverzeichnis Aichele, Alexander u. Dagmar Mirbach (Hg.): Aufklärung, Bd. 20. Themenschwerpunkt: Alexander Gottlieb Baumgarten. Sinnliche Erkenntnis in der Philosophie des Rationalismus. Hamburg 2008.

_____________   28

Geßner: „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“, S. 39.

Salomon Geßners Kunsttheorie und Idyllenproduktion

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Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik. Aesthetica. Lateinisch – deutsch. Übers. u. hg. v. Dagmar Mirbach. 2 Bde. Hamburg 2007. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart ²1977. Frank, Manfred: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a.M. 2002. Franke, Ursula: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972. Geßner, Salomon: „Als ich Daphnen auf dem Spaziergange erwartete“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 31988, S. 63–65. Geßner, Salomon: „An den Leser“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 31988, S. 15–18. Geßner, Salomon: „Brief über die Landschaftsmahlerey“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 31988, S. 171–194. Geßner, Salomon: „Lycas, oder die Erfindung der Gärten“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 31988, S. 39–40. Jacob, Joachim: „ut-pictura-poesis“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 9. St–Z. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2009, Sp. 997–1006. Jacob, Joachim: Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense. Tübingen 2007. Laak, Lothar van: „Die Konzeption ästhetischer Erfahrung bei Alexander Gottlieb Baumgarten“. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hg. v. Christian Soboth u. Udo Sträter. Halle/Saale 2012, S. 505–512. Laak, Lothar van: „Der Wandel der Bildlichkeit bei Salomon Gessner“. In: EuphorionBeiheft zu „Salomon Gessner und die Kultur seiner Zeit“. Hg. v. Wolfgang Adam u. Maurizio Pirro. Heidelberg 2012, S. 61–78. Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Stuttgart 2012. Paetzold, Heinz: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer. Wiesbaden 1983. Robert, Jörg u. Friedrich Vollhardt (Hg.): Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings ‚Laokoon‘ zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Berlin, Boston 2013. Schipperges, Thomas: „Wechselwirkungen von Idylle und Musik um 1800“. In: Landschaft am ,Scheidepunktʻ. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800. Hg. v. Markus Bertsch u. Reinhard Wegner. Göttingen 2010, S. 113–136. Schneider, Helmut J. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a.M. 1991. Steigerwald, Jörn: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Heidelberg 2011. Thums, Barbara: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche. München 2008. Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Hg. v. Ludwig Uhlig. Stuttgart 1991. Xiuli, Jin: „Schöne Landschaften. Zu Salomon Geßners Idyllen“. In: Literaturstraße 9 (2008), S. 19–39.

 

Idylle und Gefährdung. Zwei Aspekte schweizerischer Landschaftsdarstellung im 18. und frühen 19. Jahrhundert YVONNE BOERLIN-BRODBECK Das Thema der Idylle ist durch das zeichnerische und malerische Werk des Zürcher Idyllendichters Salomon Geßner (1730–1788) unmittelbar mit dem Thema der schweizerischen Landschaftsdarstellung verbunden. Geßners bildliches Œuvre ist neben und nach seinen rasch europaweit rezipierten Dichtungen entstanden. Zwar scheinen in seinen literarischen Idyllen die Bilder flüchtiger und leichter daherzukommen als in seinen Zeichnungen, Illustrationsradierungen und Gouachen, aber im Gebiet der Bildkunst des 18. Jahrhunderts dürfen diese doch als Referenzwerk für die (aus dem Wort geborene) Gattung der Idylle gelten. Geßners Bildwerke sind gut aufgearbeitet: 2010 hat Bernhard von Waldkirch ein Maßstäbe setzendes Katalogbuch zu einer Geßner-Ausstellung im Kunsthaus Zürich herausgegeben.1 Beschäftigt man sich mit dem Thema der Idylle in Schweizer Landschaftsdarstellungen neben und nach Geßner, so scheint eine Orientierung an der Norm von Geßners komponierten Landschaften gegeben, obwohl seine gemalten, gezeichneten und radierten Idyllen mit ihrem antikisierenden Personal im schweizerischen Umkreis nur vereinzelte Nachfolge fanden. Und wenn auch die Vorstellung, die Schweizer Bauern- und Hirten-Landschaft sei eine Art erhalten gebliebenes Arkadien, unterschwellig bis ins 19. Jahrhundert hineingetragen wurde, so wird in _____________   1

Vgl. Waldkirch, Bernhard von: Idyllen in gesperrter Landschaft. Zeichnungen und Gouachen von Salomon Gessner (1730–1788). Zürich, München 2010; Bernhard, Klaus: Idylle. Theorie, Geschichte, Darstellung in der Malerei 1750–1850. Köln, Wien 1977; Klussmann, Paul Gerhard: „Ursprung und dichterisches Modell der Idylle“. In: Die Idylle. Eine Bildform im Wandel. Zwischen Hoffnung und Wirklichkeit, 1750–1930. Hg. v. Rolf Wedewer u. Jens Christian Jensen. Köln 1986, S. 33–65; Schipperges, Thomas: „Wechselwirkungen von Idylle und Musik um 1800“. In: Landschaft am Scheidepunkt. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800. Hg. v. Markus Bertsch u. Reinhard Wegner. Göttingen 2010, S. 113–136.

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neueren Darstellungen der Schweizer Malerei die Gattung der Idylle kaum diskutiert, es sei denn im Zusammenhang mit dem Thema Geßner.2 Geßners bildliches Œuvre besteht allerdings nicht nur aus seiner Spezialität der Idyllen-Kompositionen und Ideallandschaften: Es gibt bei ihm – abgesehen von Studienzeichnungen zu Pflanzen, Bäumen und Steinen etc. – auch topographisch bestimmbare Landschaften, wie sie in der Schweiz des 18. Jahrhunderts bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zahlreich zu finden sind. Bei einem Kuraufenthalt in Leukerbad im Wallis hat er Ansichten gezeichnet und in den 1780er Jahren 52 kleine Veduten – meist nach fremden Vorlagen – für den Helvetischen Calender radiert; darüber hinaus hat er Einzelstudien aus seiner Zürcher Umgebung angelegt. 3 Häufig aber – und Geßner bekennt dies 1770 in seinem Brief über die Landschaftsmahlerey – hat er sich bei der Komposition seiner Landschaften nicht nur der Vorbilder der klassischen idealen Landschaft des 17. Jahrhunderts, sondern auch der weit verbreiteten komponierten Landschaftsradierungen niederländischer Zeichner und Radierer des 17. Jahrhunderts wie Herman Van Swanevelt (um 1600–1655) oder Anthonie Waterloo (1609/1610– 1690) bedient. Dieses Erfolgsrezept haben auch andere angewandt: Kombination und Variation der Motive der niederländischen Landschafter _____________   2

3

Geßner selbst hat 1754 Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) gegenüber bemerkt: „ich getraute mir, auf unsern Alpen Hirten zu finden, wie Theokrit zu seiner Zeit, denen man wenig nehmen und wenig leihen dürfte, um sie zur Ekloge zu bilden“; Geßner, Salomon: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Theodor Voss. Stuttgart 1988, S. 17. Übersichtsdarstellungen: Gradmann, Erwin u. Anna Maria Cetto: Schweizer Malerei und Zeichnung im 17. und 18. Jahrhundert. Basel 1944, S. 27–31; Reinle, Adolf: Kunst der Renaissance, des Barock und des Klassizismus. Frauenfeld 1956, S. 368, 403–404; Bätschmann, Oskar: Malerei der Neuzeit. Disentis 1989, S. 109f. Zu den topographisch bestimmbaren Landschaften, die auch in Geßners literarischem Werk zu finden sind vgl. Geßner, Salomon: „Das hölzerne Bein. Eine Schweitzer Idylle“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Theodor Voss. Stuttgart 1988, S. 132–136. Zu den Zeichnungen aus dem Wallis und den Landschaftsstudien aus der Zürcher Umgebung: Bircher, Martin u. Bruno Weber: Salomon Gessner. Zürich 1982, Kat. Nr. 63, Abb. S. 53; Waldkirch: Idyllen in gesperrter Landschaft, Abb. S. 43, 49, 53, 60, 61, 66–69; Féraud, Christian: „Salomon Gessner als Vedutenstecher. Die Landschaften für den Helvetischen Calender, 1780–1788“. In: Helvetische Merkwürdigkeiten. Wahrnehmung und Darstellung der Schweiz in der Kunst- und Kulturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Hg. v. Edgar Bierende. Bern 2010, S. 63–77. Eine spannungsreiche Relation von topographisch bestimmbarer Landschaft und supponierter Idylle findet sich 1780 in Jakob Philipp Hackerts Gouachen-Folge Zehn Aussichten von dem Landhause des Horaz. Es sind Landschaften aus der näheren und weiteren Umgebung des nicht sichtbaren, nicht mehr existierenden ‚Kernpunktes‘, des ‚Sabinum‘ des Horaz in den Sabinerbergen, vgl. Rommel, Bettina u. Gregor Vogt-Spira: „Jakob Philipp Hackert und Horaz“. In: Europa Arkadien. Jakob Philipp Hackert und die Imagination Europas um 1800. Hg. v. Andreas Beyer, Lukas Burkart u. a. Göttingen 2008, S. 224–253.

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waren zum Beispiel in der Dresdner Schule beliebt und finden sich auch im schweizerischen Umkreis.4

Abb. 1: Salomon Geßner (1730–1788): Wasserfall mit bukolischer Staffage. 1779. Gouache, 38,7 x 28,2 cm. Zürich, Graphische Sammlung ETH, Inv. Z 64.

Für den Idyllencharakter der Geßner’schen Landschaften ist aber – abgesehen von der Hirten- und Nymphenstaffage – die Art und Weise ausschlaggebend, mit der er die zum Teil übernommenen Landschaftselemente ‚zusammenbaut‘ und akzentuiert. Zwar gibt es bei Geßner auch _____________   4

Vgl. Geßner, Salomon: „Brief über die Landschaftsmahlerey“. In: Johann Caspar Füssli: Geschichte der besten Künstler in der Schweitz, Bd. 3. Zürich 1770, Vorrede (unpaginiert); Waldkirch: Idyllen in gesperrter Landschaft, S. 21–31, Abb. S. 72, 73, 74, 116, 117; Wedewer u. Jensen (Hg.): Die Idylle. Eine Bildform im Wandel, S. 13–16; Boerlin-Brodbeck, Yvonne: „‚Angenehme Veränderung‘. Zu den Phantasielandschaften Emanuel Büchels (1705– 1775)“. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 64 (2007), H. 4, S. 259– 272.

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ideale Landschaften, weite, durch Baumgruppen, Wasserläufe oder klassische Architekturen gegliederte Räume, die von den Vorbildern Nicolas Poussin (1594–1665), Claude Lorrain (1600–1682) und Gaspard Dughet (1615–1675) bestimmt sind. Eine Vielzahl der Geßner’schen Landschaftskompositionen jedoch zeigt Merkmale der sogenannten ‚gesperrten Landschaften‘: Das ist ein Begriff, den Christian Ludwig von Hagedorn (1713– 1780) in seinen Betrachtungen über die Mahlerey 1762 als Fachausdruck der Landschaftsmaler überliefert.5 Wie die Orte der arkadischen Idylle sind Geßners ‚gesperrte Landschaften‘ geschlossene kleine Landschaftsräume, die seinem Idyllenpersonal ungestörte Verweilorte bieten, vor Profanierung geschützte Bereiche, nicht unähnlich jenem abgeschiedenen Sitzplatz Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) am Ufer der Petersinsel im Bielersee.6 Solchermaßen halbversteckte, nur gegen den Bildbetrachter zu offene kleine Landschaftsräume mit Hirten- und Nymphenstaffage arrangiert Geßner – wie zum Beispiel bei den Gouachen Wasserfall mit bukolischer Staffage von 1779 (Abb. 1) und Die Träumerin von 1780 – gerne vor einem hochgezogenen Felshorizont mit Wasserfall.7 Oder er setzt in baumreichen Landschaften kleine Staffagefiguren auf eine nach hinten zu uneingesehene Bachböschung wie in der Zeichnung Baumlandschaft mit Bach und drei badenden Mädchen von 1770.8 Auch Artefakte (Zäune, Gartentore und bewachsene Treillagen) schützen ländliche Verweilräume, so unter anderem im Zwiegespräch der Hirtinnen Phillis und Chloe (Abb. 2), eine Vorzeichnung zur seitenverkehrten Illustrationsradierung der gleichnamigen Idylle von 1777, wo Geßner die beiden Hirtinnen sich im Schutz eines Holzzauns austauschen lässt.9 _____________   5

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Vgl. Hagedorn, Christian Ludwig von: Betrachtungen über die Mahlerey. Leipzig 1762, S. 349– 357. „Vielmehr wird die Landschaft gesperrt, wie die Künstler reden, und das Feld der hirtenmässigen Handlung mit Bäumen und Gesträuch eingeschlossen“, zitiert nach Waldkirch: Idyllen in gesperrter Landschaft, S. 34. Vgl. Klussmann: „Ursprung und dichterisches Modell“, S. 54–60; Rousseau, Jean-Jacques: Les Rêveries du Promeneur solitaire. Cinquième Promenade. Hg. v. Henri Roddier. Paris 1960, S. 68: „Quand le soir approchait je descendais des cimes de l’île et j’allais volontiers m’asseoir au bord du lac, sur la grève, dans quelque asile caché; là le bruit des vagues et l’agitation de l’eau fixant mes sens et chassant de mon âme toute autre agitation, la plongeaient dans une rêverie délicieuse“. Vgl. Waldkirch: Idyllen in gesperrter Landschaft, Kat. Nr. 90, Abb. S. 100, Kat. Nr. 65, Abb. S. 99. Vgl. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: Zeichnungen des 18. Jahrhunderts aus dem Basler Kupferstichkabinett. Basel 1978, Kat. Nr. 104; Bircher u. Weber: Salomon Gessner, Kat. Nr. 99, Abb. S. 79. Vgl. Boerlin-Brodbeck: Zeichnungen des 18. Jahrhunderts, Kat. Nr. 106; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Hg.): Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner. 1730–1788. Wolfenbüttel 1980, Kat. Nr. 153, Abb. S. 142.

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Abb. 2: Salomon Geßner (1730–1788): Zwiegespräch der Hirtinnen Phillis und Chloe. Feder, Pinsel, laviert, 16,5 x 13,1 cm (Bild). Basel, Kupferstichkabinett, Inv. 1914.133.3.

Annähernd vergleichbare Idyllenräume in der Landschaft finden sich allerdings vereinzelt auch bei anderen Schweizer Landschaftern, die wahrscheinlich alle Geßners Werke gekannt haben. Renate BöschensteinSchäfers Definition der literarischen Gattung Idylle als eine Reihe von Motiven und Gestaltungszügen, die aber kaum je alle in einem Werk versammelt seien, lässt sich auf die Bildkunst übertragen: Einzelne Chiffren der Idylle dürften zum Beispiel auch in einem um 1775 entstandenen (also den Geßner’schen Idyllen zeitlich nahen) Aquarell des sieben Jahre älteren Berners Johann Ludwig Aberli (1723–1786) zu finden sein: Aberlis Ansicht Bei Kehrsatz. Blumenhof, Schloss und Lohn, von Süden (Abb. 3) zeigt die Gegend des Aaretals zwischen Bern und dem Thunersee, die er, im Auftrag von Berner Patriziern, die hier ihre Campagnes für Sommeraufenthalte auf dem Land errichtet hatten, in verschiedenen Studien und auch in Öl dargestellt hat.10 Im Aquarell mit der auf dem Geländeabsatz, im Schutz _____________   10

Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 1967, S. 2; Schaller, Marie-Louise: Annäherung an die Natur. Schweizer Kleinmeister in Bern 1750–1800. Bern 1990, S. 208–221, Abb. 246; Bieri, Susanne: „Le paysage trouvé – Helvetien als gemalter Landschaftsgarten –

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des waldigen Abhangs und des großen Parkbrunnens links gelagerten kleinen Gesellschaft, stellt sich die Assoziation ,Idylle‘ zwanglos ein: Eine elegante Gesellschaft hat die Stadt mit einem ländlich stillen Aussichtsplatz vertauscht. Zwar öffnet sich ihrem Blick eine weite Landschaft, aber die Landsitze mit ihren Baumreihen am Rand der ebenen Terrasse im Mittelgrund bezeichnen den temporären, engeren Lebenskreis und ziehen eine Grenze gegen die fernen Hügelzüge, hinter welchen unsichtbar die Stadt Bern liegt. Zwar scheint die antikisierende Zeitlosigkeit des Geßner’schen Idyllenraums hier auf einen Nachmittag beschränkt, und das Kostüm der gelagerten Gesellschaft verweist auf die Gegenwart der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dafür ordnet sich das Bild in die alte Idyllentradition der Muße ein, der Kontemplation, des Rückzugs aus dem Getriebe der Stadt in die Ruhe einer geschützten Ländlichkeit, zu dem sich auch Geßner 1756 bekennt – nicht ohne Grund, wie E. Theodor Voss im Nachwort der Idyllenausgabe von 1988 ausführt.11

Abb. 3: Johann Ludwig Aberli (1723–1786): Bei Kehrsatz. Blumenhof, Schloss und Lohn von Süden. Um 1775. Aquarell, 26,3 x 39,4 cm. Bern, Schweizerische Nationalbibliothek, Sammlung R. und A. Gugelmann.

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Johann Ludwig Aberli“. In: Jubiläum Graphica Helvetica. Beiträge zur Schweizer Kunst. Hg. v. Tobias Pfeifer-Helke. Bern 2009, S. 3–18. Vgl. Schaller: Annäherung an die Natur, S. 59–62; Geßner: Idyllen, S. 15, 334ff.

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Auch unter Aberlis komponierten Landschaften mit ländlicher Staffage finden sich (wie bei Geßner an niederländischen Landschaftsradierungen orientierte) idyllennahe Beispiele: Seine aquarellierte Federzeichnung Bauernhaus am Wasser postiert den am Ufer gelagerten Fischer und die Bäuerin mit den Kindern auf einem von Zaun, Bäumen, Teich und Haus begrenzten sonnigen Platz im Vordergrund.12 Später, bei dem eine Generation jüngeren, vom Klassizismus beeinflussten und Rom erfahrenen Basler Landschafter Peter Birmann (1758–1844) begegnen Geßners ‚Rezepte‘ des nach hinten geschlossenen Idyllenraums und der antikisierenden Staffage: In Peter Birmanns braun lavierter Federzeichnung mit der Ansicht des Giessen bei Zeglingen (Abb. 4) wird das bis zu Theokrit zurückzuverfolgende Motiv der Idylle am Fuße einer Felswand in einer nach der Wirklichkeit gezeichneten Wasserfall-Landschaft des Baselbieter Jura inszeniert: Vor einer hohen Felswand mit zwei Wasserfällen öffnet sich ein stilles Plätzchen am Ufer, ein geschützter Aufenthaltsort einer Gruppe antikisch gekleideter junger Leute.13

Abb. 4.: Peter Birmann (1758–1844): Der Giessen bei Zeglingen (Baselland) mit arkadischer Staffage. Feder, Pinsel, braun laviert, 64,9 x 83,6 cm. Basel, Kupferstichkabinett, Inv. Bi. 369.53.

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Vgl. Schaller: Annäherung an die Natur, Abb. 54; Pfeifer-Helke, Tobias: Natur und Abbild. Johann Ludwig Aberli (1723–1786) und die Schweizer Landschaftsvedute. Basel 2011, S. 69–74. Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 8; Kunstmuseum Basel (Hg.): Peter und Samuel Birmann. Künstler, Sammler, Händler, Stifter. Basel 1997.

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Keine antikisierende Staffage, aber drei junge Frauen im zeitgenössischen Empiregewand arrangiert 1804 Matthäus Bachofen (1776–1829), ein Basler Schüler Peter Birmanns, zu einer eigentlichen Idylle mit weidenden Schafen und einem kleinen Knaben an einem mit einer Pansherme geschmückten, von Eichen beschatteten Brunnen bei Schloss Wildenstein (Baselland) (Abb. 5). Zwar öffnen die schützenden Bäume in der Mitte den Blick auf den stillen Wildensteiner Weiher, der aber seinerseits Abstand zur Hintergrundslandschaft legt. In dieser Szene, in der möglicherweise drei Töchter des kunstverständigen Schlossherrn Peter VischerSarasin (1751–1823) idealisiert dargestellt werden, dürfte sich Bachofen tatsächlich auf Geßners Idyllen bezogen haben.14

Abb. 5: Matthäus Bachofen (1776–1829): Idyllische Szene unter einer grossen Eiche unweit des Wildensteiner Schlossweihers (Baselland). 1804. Feder, Aquarell und Deckfarben über Bleistiftspuren, 39,0 x 52,4 cm. Wien, Albertina, Inv. 14621.

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Vgl. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: „Der Basler Zeichner Matthäus Bachofen (1776–1829)“. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 112 (2012), S. 187–221. Peter VischerSarasin scheint die Werke Geßners geschätzt zu haben. Im Oktober 1815 berichtet ihm sein Schwiegersohn David Hess aus Zürich, dass er den österreichischen Kaiser Franz I., der 1814/15 wiederholt bei Peter Vischer im ‚Reichensteinerhof‘ in Basel logiert hatte, beim Besuch in Zürich in das ‚Gessnerische Kabinett‘ geführt habe, vgl. SchlumbergerVischer, Emilie: Der Reichensteinerhof zur Zeit der Allierten 1813–1815. Basel 1901, S. 150. Vgl. Gessner, Salomon: „Der arkadische Brunnen“. In: Waldkirch, Bernhard von: Idyllen in gesperrter Landschaft. Zeichnungen und Gouachen von Salomon Gessner (1730–1788). Zürich, München 2010, Kat. Nr. 70, Abb. S. 106.

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Die Idyllenlandschaften Geßners und ihre Verwandten in der schweizerischen Zeichnung und Malerei des späteren 18. Jahrhunderts zeigen vordergründig aber nur die halbe Wahrheit: Das Abschirmen eines idealen kleinen Lebensraumes setzt eine potentielle, von außen kommende Gefahr voraus, vor der es sich zu schützen gilt. Die Idylle ist das Resultat eines mentalen und künstlerischen Ausgrenzungsverfahrens von möglichen Gefährdungen einer imaginierten glücklichen Lebenswelt, ein ‚Geborgenheitsraum‘ in der Natur.15 Dabei ist klar, dass dieses Sich-Schützen und -Abschließen selbst Gefahren sozialer, psychischer und politischer Art birgt. In den Bildwerken Salomon Geßners geht es nun – wie von Waldkirch 1980 in seinen Ausführungen zu Geßners Beschäftigung mit dem auch in Einzelstudien bearbeiteten Thema der Kopfweide nachgewiesen hat – um entsprechende Grenzerfahrungen in der Natur. Die Weide, die am Übergang vom Festland zum Sumpf steht, ist als ein Baum des Übergangs gewählt: Er steht dort, wo sich der locus amoenus in den locus terribilis verwandelt. In der Idylle Daphnis und Micon thematisiert Geßner den Sumpf als Inbegriff des Verderbens,16 wobei Geßners trügerischer Sumpf der wilden, vom Menschen nicht bebauten und nicht bewohnten Natur entspricht, so wie sie der Comte de Buffon (1707–1788) in De la Nature (1764) beschreibt.17 Es ist also nicht nur das städtisch dekadente Leben, das Geßner ausgrenzt, es ist auch – in der Landschaft selbst – der ‚trügerische Sumpf‘, vor dem die gekrümmten, oft aufgerissenen und halb abgestorbenen Weidenstämme am Rande des Idyllenraums warnen. In der Gouache Apfellese von 1788 (Abb. 6) bezeichnen zwei Weidenstämme am Wasserlauf nahe dem rechten Bildrand (ohne die traditionelle formale Funktion eines Repoussoirs!) die Grenze zum Ungewissen, Gefährlichen.18 Zwar stehen solche geborstenen, halbtoten Bäume durchaus in der Tradi_____________   15 16 17

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Vgl. Bernhard: Idylle, S. 159; Neidhardt, Hans-Joachim: Caspar David Friedrich und die Malerei der Dresdner Romantik. Aufsätze und Vorträge. Leipzig 2005, S. 44; Waldkirch: Idyllen in gesperrter Landschaft, S. 11. Vgl. Waldkirch, Bernhard von: „Weidenstudien“. In: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Hg.): Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner. 1730–1788. Wolfenbüttel 1980, S. 130–135; Geßner: Idyllen, S. 116–118. Vgl. Waldkirch, Bernhard von: „Der Weidenstamm und die Idylle. Carl Wilhelm Kolbe in Zürich 1805–1808“. In: Ders.: Idyllen in gesperrter Landschaft. Zeichnungen und Gouachen von Salomon Gessner (1730–1788). Zürich, München 2010, S. 205–223. Eine überarbeitete Fassung des entsprechenden Artikels findet sich in: Anhaltische Gemäldegalerie Dessau (Hg.): Carl Wilhelm Kolbe d. Ä. (1759–1835). Künstler, Philologe, Patriot. Dessau 2009, S. 85–95. Bätschmann, Oskar: Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750–1920. Köln 1989, S. 21, 269f. Vgl. „Weidenstrünke“ und „Apfellese“, in: Waldkirch, Bernhard von: Idyllen in gesperrter Landschaft. Zeichnungen und Gouachen von Salomon Gessner (1730–1788). Zürich, München 2010, Kat. Nr. 4, Abb. S. 49, Kat. Nr. 82, Abb. S. 123.

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tion niederländischer Landschaftsdarstellung, aber es scheint so, als ob erst in der unheimlichen Mehrdeutigkeit der Baumkrüppel in den Zeichnungen und Radierungen des Geßner-Interpreten Carl Wilhelm Kolbe (1759–1835) das Gefährdungspotential, vor dem die älteren Geßner’schen Idyllengrenzen warnen, abschätzbar würde. 19 Ein spätes zürcherisches Echo haben Geßners Kopfweiden in Zeichnungen des jungen Gottfried Keller (1819–1890) gefunden, der sich auch im Grünen Heinrich mit dem Erbe Geßners auseinandergesetzt und noch 1849 idyllennahe Landschaftsaquarelle gemalt hat.20

Abb. 6: Salomon Geßner (1730–1788): Die Apfellese. 1788. Gouache, 28,1 x 39,4 cm. Kunsthaus Zürich, Grafische Sammlung, Leihgabe der Stadt Zürich, Inv. Z. A.B. 726.

Wenn solche ‚Mahnzeichen‘ wie die Kopfweiden in den Ideallandschaften bei Geßner auf Zonen verweisen, von denen eine mögliche Gefährdung _____________   19

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Vgl. Rembrandt (1606–1669), die Radierungen „Der Omval“ (1645) und „Der Hl. Hieronymus bei der Kopfweide“ (1648), in: White, Christopher u. Karel G. Boon: „Rembrandt van Rijn“. In: Hollstein’s Dutch and Flemish Etchings, Engravings and Woodcuts, XVIII–XIX. Amsterdam 1969, B 209 u. B 103 I; Kolbe, Carl Wilhelm: „Phantastischer, toter Weidenstamm“ (1807–1808). In: Bernhard von Waldkirch: Idyllen in gesperrter Landschaft. Zeichnungen und Gouachen von Salomon Gessner (1730–1788). Zürich, München 2010, Abb. S. 206; siehe auch Anm. 17. Vgl. Weber, Bruno: Gottfried Keller Landschaftsmaler. Zürich 1990, Abb. 10, 11, 64, 65; Keller, Gottfried: „Der Grüne Heinrich, Erste Fassung“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2. Hg. v. Thomas Böning u. Gottfried Kaiser. Frankfurt a.M. 1985, S. 236f.

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ausgeht, so hat das einen Bezug zu den realen Gegebenheiten, mit denen sich die schweizerischen Landschafter des 18. Jahrhunderts auseinanderzusetzen hatten: In weiten Teilen des Mittelland- und des Voralpengebiets, dort, wo die Berner, die Zürcher und die Genfer zeichneten, da erscheint von Südost bis Südwest – als Mahnmal aus Fels und Eis vor Unwirtlichkeit und Gefährdung – die Alpenkette im Hintergrund. Hatten schon Mitte des 15. Jahrhunderts Maler im schweizerischen Umkreis Schneegebirge im Hintergrund von Landschaften mit biblischen Historien aufscheinen lassen, so gehörte das in der Vedutenproduktion des 18. Jahrhunderts zur bedeutungsüberhöhenden topographischen Dokumentation.21 Johann Ludwig Aberli hat seinem idyllennahen Aquarell Kehrsatz von Süden (Abb. 3) ein Pendant gegeben mit der Ansicht der gleichen Örtlichkeit, aber von Norden her aufgenommen:22 Auch in diesem Aquarell gestaltet er einen kleinen abgegrenzten Bereich im Vordergrund, den er mit dem Ausblick auf die Campagnes der Familie Tscharner im Mittelgrund abrundet. Dahinter aber, hinter der Weite des Gürbe- und des Aaretals, schimmert am Horizont die Alpenkette: Die augenfällige, aber wie oft nur in der Ferne erscheinende Gefahrenzone des Hochgebirges beschreibt Aberli in seiner Collection de quelques vues dessinées (1782) selbst: „Da sind Wildnisse, die der gewaltigen Höhe unserer Gebirge wegen schrecklicher sind als sonst wo“.23 Diese Wildnisse gehörten für die Bewohner der Voralpen- und Alpenregion zur Grunderfahrung und haben sich auf ihr Denken und Tun ausgewirkt.24 Die Anpassung an die Gegebenheiten von Klima und Gebirgsnatur, die Tendenz, sich einen geschützten Lebensraum in der bedrohlichen Gebirgswelt zu schaffen, war eine Strategie der Existenzbewältigung, sie wurde in der Struktur der Besiedlung und der Verkehrswege sichtbar und prägte mittelbar schon dadurch die bildlichen Landschaftswiedergaben der Zeichner und Maler. Zwar galt die Alpenlandschaft seit Hannibals Alpenüberquerung als locus horribilis, aber im 16. Jahrhundert begann sich diese Wahrnehmung zu verändern: Bei Conrad Gessner (1516–1565), Josias Simler (1530–1576) und bei den Berner Humanisten Rhellicanus (1478–1542) und Aretius _____________   21

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Vgl. Witz, Konrad (Anf. 15. Jahrhundert – ca. 1446): „Der wunderbare Fischzug“ (1444) (Genfer Petrus–Altar, früheste topographisch benennbare Landschaft). In: Konrad Witz. Hg. v. Kunstmuseum Basel. Basel 2011, Kat. Nr. 17, Abb.; Meister des Jünteler–Epitaphs: „Kreuztragung und Kreuzigung“ (1449). In: Konrad Witz. Hg. v. Kunstmuseum Basel. Basel 2011, Kat. Nr. 79, Abb.; außerdem Pfeifer-Helke: Natur und Abbild, S. 53–56. Vgl. Schaller: Annäherung an die Natur, Abb. 247. Wozniakowski, Jacek: Die Wildnis. Zur Deutungsgeschichte des Berges in der europäischen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1987, S. 285, 447. Vgl. Lüps, Peter: „Hallers Gletscher damals“. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern N. F. 66 (2009), S. 139–150, Zitat S. 140.

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(1522–1574) finden sich positive Äußerungen zur Bergwelt, zunächst allerdings nur zur Voralpenregion. Die Eisgebirge blieben Schrecknis im Hintergrund.25 Im 17. Jahrhundert hat das wachsende topographische Interesse am Alpenraum die Zeichner bereits in Sichtnähe der Gletscher geführt: 1669 hat der Berner Maler Albrecht Kauw (1621–1681) ein Halbpanorama der Landschaft von Grindelwald (Abb. 7) aufgenommen: Dabei ruft er mit dem geschützten Bereich der menschlichen Heimstätten durch die weit geschwungene Mauer um Kirche und Kirchhof Topoi der Idylle auf, verweist aber mit den ins Tal vorstoßenden beiden Grindelwaldgletschern zugleich auf eine Zone der Gefährdung. 26

Abb. 7: Albrecht Kauw (1621–1681): Halbpanorama von Grindelwald (Ausschnitt). 1669. Feder und Aquarell, 27,5 x 79,8 cm. Bern, Bernisches Historisches Museum, Inv. 26093.

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Vergil hofft in der X. Ekloge, dass bei „Alpenschnee“ und „gefrorenem Rheinstrom“ der abtrünnigen Geliebten des Freundes „das scharfe Eis die zarte Zehe nicht schneide“. Vergilius Maro, Publius: Eklogen. Hg. v. Gottfried Preczov Frankenstein. Klosterberg u. a. 1950, S. 74–79, Zitat S. 77. Vgl. Gelzer, Thomas: „Die Stockhornias des Johannes Rhellicanus. Eine Bergbesteigung im Simmental 1536“. In: Lenk. Zehn Jahre Sommer-Universität Lenk. Hg. v. der Stiftung Kulturförderung Lenk, Ellen J. Beer u. Thomas Gelzer. Lenk 1997, S. 24–33; Rodewald, Raimund: „Landschaftswahrnehmung zu Hallers Zeiten und heute“. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern N. F. 66 (2009), S. 37–48. Vgl. Zumbühl, Heinz J.: Die Schwankungen der Grindelwaldgletscher in den Historischen Bild- und Schriftquellen des 12. bis 19. Jahrhunderts. Basel, Boston, Stuttgart 1980, K. 2, Abb. S. 185.

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Die literarische Tradition der Schilderungen von Voralpenbesteigungen aus dem 16. Jahrhundert mündete schließlich – rund 60 Jahre nach Kauws Grindelwald-Panorama – in das 1732 erstmals publizierte Gedicht Die Alpen des Berner Physiologen Albrecht von Haller (1708–1777). Bei Haller findet sich – 24 Jahre vor Geßners erster Idyllen-Publikation – bereits eine Art Idyllisierung einer fast geschichtslosen Alphirten-Welt: „Heut ist wie gestern war, und morgen wird wie heut“,27 eine Welt, welche Salomon Geßners ‚kleinen Gesellschaften‘, wie sie Gotthardt Frühsorge genannt hat, nahe kommt.28 Das Gebirge ist Schutzwall vor den Verderbnissen und Verlockungen der Stadt: „Sie [die Natur, B.-B.] warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen“, die Eisgebirge umschließen die Lebenswelt der Hirten: „Und ein verewigt Eis umringt das kühle Thal“.29 Die Verbindung der Zeichen von Idylle und potentieller Gefährdung durch das Grenzen setzende Hochgebirge, wie sie bei Haller erscheint, wird noch 1818 im Aquarell Jungfrau und Lauterbrunnental von Gabriel Lory père (1763–1840) (Abb. 8) thematisiert: Das Jungfraumassiv über dem steilwandigen Talkessel erhebt sich zugleich bedrohend und beschützend über dem kleinfigurigen Hirten-Idyll auf dem felsgesäumten Plätzchen unter den drei Bäumen im Vordergrund links.30 Eine Art Apotheose der Idee der geschlossenen Idylle in der Alphirtenwelt angesichts hochaufragender Bergmassive zeigt die Darstellung des Alphirtenfestes von 1808 bei der Ruine Unspunnen im Berner Oberland, wie es in einem Gemälde der französischen Malerin Elisabeth Vigée-Lebrun (1755–1842) überliefert ist (Abb. 9):31 In einer Talsenke, beschirmt von einer erfundenen Bergkulisse, ist als Kernstück – und als Metapher der Idylle – das geschlossene Oval des Platzes für die Wettspiele zu erkennen (Renate Böschenstein hat die Kreisform als „Grundfigur der Idylle“32 bezeichnet), _____________   27 28

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Haller, Albrecht von: Die Alpen. Bearbeitet v. Harold Betteridge. Berlin 1959, S. 10. Vgl. Frühsorge, Gotthardt: „‚Nachgenuss der Schöpfung‘. Über die Wahrheit des Gesellschaftsentwurfs Gessnerscher Idyllendichtung“. In: Maler und Dichter der Idylle. Hg. v. der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, S. 74–80; Mahlmann-Bauer, Barbara: „Die Alpen Albrecht von Hallers“. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern N. F. 66 (2009), S. 11–13. Haller: Die Alpen, S. 8–9; vgl. Gerber-Visser, Gerrendina u. Martin Stuber: „Brachliegende Ressourcen in Arkadien. Das Berner Oberland aus der Sicht Albrecht von Hallers und der Oekonomischen Gesellschaft Bern“. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern N. F. 66 (2009), S. 61–83, Zitat S. 61. Vgl. Ganz, Paul Leonhard: Gabriel Lory, Vater und Sohn. Ausstellungskatalog Schloss Schadau. Thun 1973, unpaginiert, Kat. Nr. 39, Abb. Vgl. Kuthy, Sandor: „Elisabeth Louise Vigée-Lebrun und das Alphirtenfest in Unspunnen“. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 33 (1976), H. 2, S. 158– 171, Abb. 2. Böschenstein: Idylle, S. 9.

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Abb. 8: Gabriel Lory père (1763–1840): Jungfrau und Lauterbrunnental. 1818Aquarell, 50,3 x 73 cm. Bern, Kunstmuseum Bern, Bernische Kunstgesellschaft, Inv. A 6400.

darum herum sind die verschiedenen Publikumsgruppen und die Festzelte angeordnet. Anlass dieses von zahlreichen ausländischen Gästen – darunter auch Germaine de Staël (1766–1817) – besuchten Festes von 1808 war das vermeintlich 500jährige Jubiläum der Eidgenossenschaft (der Rütlischwur wurde damals auf 1308 datiert).33 Europäische Ausstrahlung verschaffte ihm die Beschreibung unter dem Titel La fête d’Interlaken, welche Madame de Staël in ihrer Schrift De l’Allemagne publizierte. Das Alphirtenfest von 1808, das hier im Bild als Idylle überliefert ist, war in Wirklichkeit politisch instrumentiert und diente der Konstruktion des Mythos ‚Schweiz‘. Schiller hätte seine Freude daran haben können.34 Zu dieser grobmaschigen Übersicht über die einerseits als Idyllen ansprechbaren Landschaftsbeispiele und über Landschaftsbilder, in denen jeweils die Komponenten der Idylle und der Gefährdung zusammen auftreten, gehört aber auch ein Blick auf jene Landschaftsmalerei, die ausschließlich den _____________   33 34

Vgl. Reichler, Claude u. Roland Ruffieux: Le voyage en Suisse. Paris 1998, S. 741–748. Vgl. Staël, Germaine de: De l’Allemagne (erste Ausgabe 1810 auf Befehl Napoleons eingestampft), Paris 1813; vgl. Héger-Étienvre, Marie-Jeanne: „‚Le patriotisme du bonheur‘ selon Madame de Staël. A propos de la construction du mythe suisse“. In: La Suisse – une Idylle? Festschrift für Peter André Bloch. Hg. v. Peter Schnyder u. Philippe Wellnitz. Strasbourg 2002, S. 79–93; Schipperges: „Wechselwirkungen“, S. 131.

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Abb. 9: Elisabeth Louise Vigée-Lebrun (1755–1842): Alphirtenfest von Unspunnen. 1808. Öl/Leinwand, 84 x 114 cm. Bern, Kunstmuseum, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung, Inv. 90843.

Gegenpol der Idylle sucht, nämlich die Gefährdung, den Ausbruch aus der glücklichen Beschränkung.35 Tatsächlich hatte die Hochgebirgs- und Gletscherwelt bereits mit der Ansicht des Unteren Grindelwaldgletschers in Matthäus Merians d. Ä. (1593–1650) Topographia Helvetiae (Ausgabe Frankfurt 1654) Abbildungsstatus erreicht.36 Albrecht Kauws etwas spätere Ansicht von Grindelwald mit seinen Gletschern (1669) haben wir unter den Beispielen mit einer Zusammenschau von Gefährdung und Idylle erwähnt.37 Kurz nach 1700 ist das damals relativ leicht zu erreichende Zungenende des Unteren Grindelwaldgletschers in einem Gemälde des Winterthurers Felix Meyer (1653–1713) und in einer kleinen Ölstudie des _____________   35

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Aus den „frommen Lügen,/ Die du malest“, wie 1784 Joseph A. S. Freiherr von Beroldingen (Josef Anton von Beroldingen, 1750–1803?) die Idyllen Geßners bezeichnet hat; Lütteken, Anett: „Distanz durch Nähe – Goethe (v)erkennt Gessner“. In: Bernhard von Waldkirch: Idyllen in gesperrter Landschaft. Zeichnungen und Gouachen von Salomon Gessner (1730–1788). Zürich, München 2010, S. 203, Anm. 35. Vgl. Zumbühl: Die Schwankungen der Grindelwaldgletscher, S. 198, Abb. K. 1,11. Siehe oben Abb. 7.

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Basler Malers Johann Rudolf Huber (1668–1748) dargestellt worden.38 Wie Emanuel Handmann (1718–1781) und der deutsche Landschaftsmaler Christian Georg Schütz (1718–1791) ist in den 1760er Jahren auch Johann Ludwig Aberli zum rasch berühmt gewordenen Gletscher gepilgert.39 Der eigentliche Vorstoß in die Zone der Gefährdung, weit über die Gletscherenden hinauf, ist aber dem Aargauer Maler Caspar Wolf (1735– 1783) gelungen. Im Auftrag des Berner Verlegers Abraham Wagner (1734–1782) hat Wolf zwischen 1774 und 1778 in der Hochgebirgsregion selbst Ansichten in Ölstudien aufgenommen, die er dann im Atelier zu einer Gemäldefolge verarbeitete. Wolf wurde dabei beraten und zum Teil begleitet vom Berner Naturforscher Jakob Samuel Wyttenbach (1748– 1830), einem Freund Hallers; die Rolle der Naturwissenschaft in der malerischen Eroberung der Gefahrenzone ist in diesem späten 18. Jahrhundert führend geworden. Caspar Wolf hat unter anderem vom Felsabhang der Bänisegg aus (über dem Unteren Grindelwaldgletscher) die Aussicht auf das Ischmeer und das Fiescherhornmassiv in einer Ölstudie vor der Natur skizziert und dann zu einem Gemälde verarbeitet.40 In seinen Alpenlandschaften wird das gefährdende Potential des Hochgebirges auch in der bildlichen Wiedergabe nachvollziehbar: Ein bis dahin nicht Bild gewordenes Höchstmaß an Gefährdung im Gebirge vermittelt Wolfs Gemälde Gewitter und Blitzschlag am Unteren Grindelwaldgletscher (Abb. 10). Wie seines Pariser Lehrers Philippe Jacques de Loutherbourg (1740–1812) und wie Claude Joseph Vernets (1714–1789) Seesturm- und Schiffbruchgemälde erregt Wolfs Gewitternacht am Unteren Grindelwaldgletscher (mit den fliehenden Gämsen) visuellen Schrecken und entspricht damit Denis Diderots (1713–1784) Dictum in der Salon-Besprechung von 1767: „Tout ce qui

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Vgl. Zumbühl, Heinz J.: „‚Der Berge wachsend Eis‘. Die Entdeckung der Alpen und ihrer Gletscher durch Albrecht von Haller und Caspar Wolf“. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern N. F. 66 (2009), S. 105–132, Zitat S. 108, Abb. 3; Boerlin-Brodbeck, Yvonne: „Notizen zur Vorromantik in der Bildnismalerei und -zeichnung“. In: Préromantisme en Suisse? Hg. v. Ernest Giddey. Fribourg 1982, S. 139–168, Zitat S. 145; Zumbühl: „‚Der Berge wachsend Eis‘“, S. 106, Abb. 2; Kehrli, Manuel: ‚sein Geist ist zu allem fähig‘. Der Maler, Sammler und Kunstkenner Johann Rudolf Huber (1668–1748). Basel 2010, S. 123–125, Abb. 46. Vgl. Zumbühl: Die Schwankungen der Grindelwaldgletscher, K. 11,1, Abb. S. 186, K. 12, Abb. S. 204, K. 13,1, Abb. S. 205. Raeber, Willi: Caspar Wolf 1735–1783. Sein Leben und sein Werk. Zürich 1979, WV. 201, Farbabb. 13; Ölstudie dazu: Boerlin-Brodbeck, Yvonne: Caspar Wolf (1735–1783). Landschaft im Vorfeld der Romantik. Basel 1980, Kat. Nr. 104, Abb. 25.

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étonne l’âme, tout ce qui imprime un sentiment de terreur conduit au sublime.“41

Abb. 10: Caspar Wolf (1735–1783): Gewitter und Blitzschlag am Unteren Grindelwaldgletscher. Um 1774. Öl/Leinwand, 54 x 82 cm. Aarau. Aargauer Kunsthaus, Inv. 242.

Dass das wechselnde Verhältnis der Kategorien von Idylle und Gefährdung in der Landschaftsdarstellung der Schweiz nicht problemlos geblieben ist, zeigt sich in der Handhabung des kurz vor 1800 für das neue Publikum der Großstädte geschaffenen Mediums des Panoramas: Ein Großpanorama in einem eigenen Gebäude bietet eine Rundumansicht von 360º, versetzt den Bildbetrachter an den zentralen Standort des Zeichners und erlaubt – ohne seitliche Bildbegrenzung – eine vollkommene, Schwindel erregende Entgrenzung des Seherlebnisses: Ähnlich wie Caspar David Friedrichs (1774–1840) unbegrenzte Meer- und Strandlandschaft Mönch am Meer von 1808–1810 ist die Gattung des Panoramas von ihrer Bildanlage her also das Gegenteil einer Idylle, eines Geborgenheitsraumes in der Natur, wie er gemäß der Geßner’schen Norm zu definieren ist.42 _____________   41 42

Diderot, Denis: Ruines et paysages. Salons de 1767. Hg. v. Else Marie Bukdahl, Michel Delon u. Annette Lorenceau. Paris 1995, S. 233f.; vgl. Raeber: Caspar Wolf, WV 199, Abb. S. 217; Boerlin-Brodbeck: Caspar Wolf, Kat. Nr. 103, Farbtaf. 6 u. S. 26–31. Vgl. Neidhardt: Caspar David Friedrich, Abb. S. 43; Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums. Frankfurt a.M. 1980; Bätschmann: Entfernung der Natur, S. 83– 98.

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Abb. 11: Marquard Wocher (1760–1830): Das Panorama von Thun und dessen Umgegend. 1809–1814. Gesamtansicht. Öl auf Büttenpapier, 750 x 3800 cm. Thun, Kunstmuseum Thun, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung, Inv. 6617

Noch im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hat der Basler Maler Marquard Wocher (1760–1830) Bau und Rundbild eines Großpanoramas in Angriff genommen. 1814 vollendete er es mit einem Panorama von Thun in einer eigenen Panoramarotunde in Basel (Abb. 11).43 Nachdem Wocher 1830 verarmt gestorben war, wurde das Rundbild im späten 19. Jahrhundert magaziniert. Seit 1961 ist es (als ältestes erhaltenes Großpanorama) in einem modernen Rundbau im Schadaupark in Thun – also schließlich in der Landschaft, die es darstellt – wieder zu besichtigen. Marquard Wocher hat diese Rundumansicht von einem KaminHochsitz aus mitten in der Kleinstadt Thun in Zeichnungen skizziert. Im Rundgemälde wird die Lage von Thun am Ausfluss der Aare aus dem Thunersee minutiös geschildert, mit dem Aaretal im Mittelgrund, das von der Voralpenkette des Stockhorns begrenzt wird. Weit im Hintergrund schimmert ein weißes Stückchen Eisgebirge. Der Maler auf seinem Kaminsitz über den Dächern ist ringsum vom Städtchen mit Kirche und Schloss umgeben. Zwar weisen einzelne Dachfirste hinaus in die Landschaft, aber das Interesse des Betrachters wird auf das behagliche Innenleben der Kleinstadt gelenkt, nicht nur auf den belebten Platz vor dem Freienhof, wo sich Wocher selbst unter den Passanten darstellt, sondern auch auf die Gassen und zu den Fenstern, die Einblicke in das Leben der Bürger in ihren Wohnungen, am Frühstückstisch und beim Pfeifestopfen gewähren. Dem Betrachter des Rundbildes von Thun, der sich von diesem Stadtorganismus wohlig umschlossen sieht, öffnet sich zwar über die Dächer hinweg der Blick in die Weite der Landschaft, aber die Gefahrenzone des Hochgebirges bleibt in beruhigender Ferne. Während die Bildform des Panoramas den Besucher eigentlich ungeschützt der Weite aussetzen, ja preisgeben sollte, versetzt Wocher den Betrachter seines Rundbildes in die geschützte Idylle einer Kleinstadt, und das Mahnmal der Gefährdung am Horizont ist lediglich Garant der Idylle im Vordergrund. _____________   43

Vgl. Hirsch, Helen: Marquard Wocher. Das Panorama von Thun. Thun 2009.

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Diese Idyllisierung des Panoramas, eines Bild-Mediums, das nicht dafür bestimmt war, zeigt bereits biedermeierliche Enge und signalisiert eine dem Panorama fremde Gefahr des Sich-Abschließens.

Abb. 12: Samuel Birmann (1793–1847): Rigi-Panorama. 1814/1815. Ausschnitt mit den drei Männern am Abgrund. Feder, Aquarell, 100 x 69 cm (ganzes Panorama: 100 x 469 cm). Basel, Kupferstichkabinett, Inv. Bi. 410.

Wochers Idylle von Thun blieb aber nicht die einzige Auseinandersetzung der schweizerischen Landschaftsdarstellung mit der Form des Panoramas. Neben einer ganzen Anzahl von kleineren sogenannten Längspanoramen, die meist im handlichen Format der topographischen Information dienten, datiert aus dem gleichen Jahr wie Wochers Thuner Panorama ein großes Längspanorama, eine fast fünf Meter breite aquarellierte Federzeichnung mit der ebenfalls 360º umfassenden Rundsicht vom Gipfel der Rigi am Vierwaldstättersee (Abb. 12). Zeichner ist der damals 21jährige Basler Landschafter Samuel Birmann (1793–1847). Auch wenn hier auf dem Gipfelplateau verschiedene Gruppen von Touristen gezeigt werden, so stellt sich keine Idyllen-Sicherheit ein, denn ringsum ist die ungeschützte Kante des Gipfelplateaus vor der Weite der offenen Landschaft erkennbar. Und an prominenter Stelle im Mittelteil ist eine Gruppe von zwei Herren und einem Träger nahe an die Kante zum Abgrund getreten, der Mann rechts hat sich niedergekniet, um beim Blick in die Tiefe nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vier Jahre vor der vergleichbaren Figur in Caspar David Friedrichs (1774–1840) Kreidefelsen auf Rügen hat Birmann

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hier den Blick in die Gefährdung des Abgrunds, in die Vertikale vor der unbegrenzten Horizontalen des Panoramas gewagt.44 Am Eingang zum 19. Jahrhundert zeigen sich also in verschiedenen Gattungen der Schweizer Landschaftsdarstellung immer noch die zwei sich gegenseitig bedingenden Chiffren der Idylle und der Gefährdung. Natürlich ist sowohl die Tendenz zu den Bildzeichen der Idylle – zu geschützten Räumen, zu idealen kleinen Lebenswelten – als auch die Tendenz zum Hinausgehen ins Unbekannte, zur Darstellung der Gefahr, von den künstlerischen, sozialen und mentalen Bedingungen und Erfahrungen der einzelnen Malerpersönlichkeit abhängig. In unserer groben Übersicht ergibt sich immerhin die Vermutung, dass in der schweizerischen Landschaftsmalerei neben und nach Geßner da und dort seine Raum-Rezepte mit spezifisch indigenen Grunderfahrungen korrelieren, nämlich mit dem Leben abseits der großen Zentren in relativ kleinen Gesellschaften, kleinen Landschaftsräumen und in Sichtnähe der Alpen und der in ihnen lauernden Gefahren. Diesen gleichen Bedingungen ist auch die ergänzende Konstante, die seit dem 16. Jahrhundert von der Naturwissenschaft geförderte Gegenbewegung des Wissenwollens, der Erprobung der Gefahr jenseits der Mahnzeichen an der Idyllengrenze, verpflichtet. Die spezifischen Lebensbedingungen, die nur ein Aspekt der Problemstellung sind, könnten also in der schweizerischen Landschaftsdarstellung einerseits den Prozess der teilweisen Idyllisierung und andererseits das Ausbrechen aus der Idylle begünstigt haben. Tatsächlich haben schon Johann Jacob Bodmer (1698–1783) und Johann Jacob Breitinger (1701– 1776) im Vorwort der Zürcher Discourse der Mahlern von 1721 etwas maliziös einer solchen Gewichtung der Lebensbedingungen das Wort geredet: „Ob es je/ wahr wäre/ dass wir dunckel und kaltsinnig mahlen/ so dächten wir die Schuld auf unser Clima zu werffen. Man sagt allenthalben dass die Lufft des Schweitzerlandes die Lebhafftigkeit und das Feuer der Imagination nicht einblase“.45

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Vgl. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: „Frühe ‚Basler‘ Panoramen: Marquard Wocher (1760– 1830) und Samuel Birmann (1793–1847)“. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 42 (1985), H. 4, S. 307–314, Abb. 5 u. S. 313, Anm. 26, die Panoramen Samuel Birmanns, Nr. B 7 c. zu Caspar David Friedrich (ders.: „Kreidefelsen auf Rügen“. In: Peter Wegmann: Caspar David Friedrich to Ferdinand Hodler. A Romantic Tradition. Nineteenth-Century Paintings and Drawings from the Oskar Reinhart Foundation. Winterthur, Frankfurt a.M., Leipzig 1993, S. 84f., Abb.). Bodmer, Johann Jacob u. Johann Jacob Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Zürich 1721–1723. Hildesheim 1969, unpaginiert.

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Literaturverzeichnis Bätschmann, Oskar: Malerei der Neuzeit. Disentis 1989. Bätschmann, Oskar: Entfernung der Natur. Landschaftsmalerei 1750–1920. Köln 1989. Bernhard, Klaus: Idylle. Theorie, Geschichte, Darstellung in der Malerei 1750–1850. Köln, Wien 1977. Bieri, Susanne: „Le paysage trouvé – Helvetien als gemalter Landschaftgarten – Johann Ludwig Aberli“. In: Jubiläum Graphica Helvetica. Beiträge zur Schweizer Kunst. Hg. v. Tobias Pfeifer-Helke. Bern 2009, S. 3–18. Bircher, Martin u. Bruno Weber: Salomon Gessner. Zürich 1982. Bodmer, Johann Jacob u. Johann Jacob Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Zürich 1721–1723. Hildesheim 1969, unpaginiert. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: „Der Basler Zeichner Matthäus Bachofen (1776–1829)“. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 112 (2012), S. 187–221. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: „‚Angenehme Veränderung‘. Zu den Phantasielandschaften Emanuel Büchels (1705–1775)“. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 64 (2007), H. 4, S. 259–272. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: „Frühe ‚Basler‘ Panoramen: Marquard Wocher (1760–1830) und Samuel Birmann (1793–1847)“. In: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 42 (1985), H. 4, S. 307–314. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: „Notizen zur Vorromantik in der Bildnismalerei und Zeichnung“. In: Préromantisme en Suisse? Hg. v. Ernest Giddey. Fribourg 1982, S. 139–168. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: Caspar Wolf (1735–1783). Landschaft im Vorfeld der Romantik. Basel 1980. Boerlin-Brodbeck, Yvonne: Zeichnungen des 18. Jahrhunderts aus dem Basler Kupferstichkabinett. Basel 1978. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 1967. Diderot, Denis: Ruines et paysages. Salons de 1767. Hg. v. Else Marie Bukdahl, Michel Delon u. Annette Lorenceau. Paris 1995. Féraud, Christian: „Salomon Gessner als Vedutenstecher. Die Landschaften für den Helvetischen Calender, 1780–1788“. In: Helvetische Merkwürdigkeiten. Wahrnehmung und Darstellung der Schweiz in der Kunst- und Kulturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert. Hg. v. Edgar Bierende. Bern 2010, S. 63–77. Frühsorge, Gotthardt: „‚Nachgenuss der Schöpfung‘. Über die Wahrheit des Gesellschaftsentwurfs Gessnerscher Idyllendichtung“. In: Maler und Dichter der Idylle. Hg. v. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Wolfenbüttel 1980, S. 74–80. Ganz, Paul Leonhard: Gabriel Lory, Vater und Sohn. Ausstellungskatalog Schloss Schadau. Thun 1973, unpaginiert. Gelzer, Thomas: „Die Stockhornias des Johannes Rhellicanus. Eine Bergbesteigung im Simmental 1536“. In: Lenk. Zehn Jahre Sommeruniversität Lenk. Hg. v. der Stiftung Kulturförderung Lenk, Red. Ellen J. Beer u. Thomas Gelzer. Lenk 1997, S. 24–33. Gerber-Visser, Gerrendina u. Martin Stuber: „Brachliegende Ressourcen in Arkadien. Das Berner Oberland aus der Sicht Albrecht von Hallers und der Oekonomischen Gesellschaft in Bern“. In: Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft in Bern N. F. 66 (2009), S. 61–83. Geßner, Salomon: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Theodor Voss. Stuttgart 1988. Geßner, Salomon: „Brief über die Landschaftsmahlerey“. In: Johann Caspar Füssli: Geschichte der besten Künstler in der Schweitz, Bd. 3. Zürich 1770.

Idylle und Gefährdung

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YVONNE BOERLIN-BRODBECK

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Bildnachweise Aargauer Kunsthaus: Abb. 10. Albertina, Wien: Abb. 5. Bernisches Historisches Museum, Bern: Abb. 7. Graphische Sammlung ETH Zürich: Abb. 1. Kunsthaus Zürich, Grafische Sammlung, Leihgabe der Stadt Zürich: Abb. 6. Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett, Foto: Martin P. Bühler: Abb. 2, 4, 12. Kunstmuseum Bern, Bernische Kunstgesellschaft, Bern: Abb. 8. Kunstmuseum Bern, Depositum Gottfried Keller-Stiftung: Abb. 9. Kunstmuseum Thun, Depositum Gottfried Keller-Stiftung, Foto: Christian Helmle: Abb. 11. Schweizerische Nationalbibliothek, Graphische Sammlung: Sammlung Gugelmann: Abb. 3.

 

Wielands Idylle von Lampeduse KLAUS MANGER O! Meine Freunde, (läßt Diderot seinen enthusiastischen Philosophen Dorval ausrufen) wenn wir jemals nach Lampeduse gehen, um dort, ferne von der übrigen Welt, mitten unter den Wellen des Oceans, ein kleines Volk von Glücklichen zu pflanzen, – – –1

Sollte Christoph Martin Wieland (1733–1813) wirklich kein Idyllendichter gewesen sein, da er in Darstellungen zur Geschichte der Idylle kaum vorkommt?2 Ausgerechnet Wieland, der so bewusst die europäischen Gattungen und hierunter besonders die Verserzählung in die deutsche Literatur lenkte.3 Ausgerechnet er, der spätere (postume) Gegenschwieger von Salomon Geßner (1730–1788), dem die Begründung einer neuen Idylle zu danken ist4 und in dessen Teilhaberverlag der seit seiner Zürcher Zeit 1753 mit ihm befreundete Wieland seine epochale ShakespeareÜbersetzung in acht Bänden mit Geßners Radierungen (1762–1766) sowie die Geschichte des Agathon (1766/67) veröffentlichte.5 Die Verheiratung seines Sohnes Heinrich (1768–1813), des Geschäftserben, mit Wielands Tochter Charlotte (1776–1816) im Jahre 1795 hat Geßner nicht mehr erlebt. Sollte am Schöpfer des ‚Goldenen Zeitalters‘ um 1800, dem Erfinder Weimars6 und späteren Pegnitzschäfer7 wirklich ein Idyllendichter verloren gegangen sein? _____________   1

2 3 4 5 6

Wieland, Christoph Martin: „Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“. In: Ders.: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 9. Januar 1770–Mai 1772. 1. Text. Hg. v. Hans-Peter Nowitzki. Berlin, New York 2008, S. 107–305, Zitat S. 296. Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 1967. Vgl. dazu Heinz, Jutta (Hg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2008. Vgl. Bircher, Martin u. Bruno Weber unter Mitwirkung von Bernhard von Waldkirch: Salomon Gessner. Zürich 1982, S. 11–41. Aktuell dazu: Pirro, Maurizio (Hg.): Salomon Gessner als europäisches Phänomen. Spielarten des Idyllischen. Heidelberg 2012. Vgl. die aus den Briefen dokumentierte Entstehungsgeschichte des Romans in: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt a.M. 1986, S. 799– 858. Vgl. Manger, Klaus: Wielands Erfindung Weimars. Jena 2006.

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In Wielands Werk verselbständigt sich die Idylle nicht. Sie bleibt in Kontexte eingebettet, in Schilderungen angedeutet und wird, wo sie angedeutet erscheint, zwar nicht wie die moderne Idylle zerstört,8 wohl aber gern gestört. Seine Hochschätzung der Gattung tritt auch zutage, wenn Wieland sich im Brief vom 4.9.1766 auf Geßners Kopf bezieht, „aus dem die Idyllen hervorgegangen sind“,9 und ihm im April 1767 für das Geschenk von zehn radierten Landschaften dankt: Diese „rührende Bilder der einfältig schönen Natur […]. Nur ein Dichter, nur der Dichter der Idyllen konnte die Natur aus einem solchen Gesichtspunct ansehen!“10 Gegenüber „der naiven Unschuld“,11 die er in Geßners Idyllen findet, brechen in Wielands idyllennahe Entwürfe unvorhergesehene Begebenheiten ein, die beispielsweise eingangs der Geschichte des Agathon (I, 2) den an einer Quelle entschlummerten Titelhelden in Gestalt von lärmenden Bacchantinnen jäh aus seinen Träumen reißen. Oder in Musarion wird zu Beginn des Zweiten Buches die Idylle durch eine Philosophenbalgerei entweiht. Oder von der paradiesischen Birnbaumepisode im Oberon (VI, 80ff.) wird folgenreich eine Ehebruchgeschichte gestört. Oder Diagoras von Melos errichtet eine Anti-Idylle am Ende des Zweiten Buches des Aristipp (II, 46). Gegenüber diesem Typus der gestörten Idylle lassen sich das Ambiente des Agathodämon (z. B. IV, 5), in dem Apollonius von Tyana in Abgeschiedenheit seine Lebensgeschichte erzählt, oder das des Hexameron von Rosenhain als reflektierte, weil in ihren atmosphärischen Voraussetzungen mitbedachte Idylle verstehen. In der Geschichte des Agathon (V, 4) wird sogar, was sich idyllenhaft mit der schönen Jahreszeit auf dem Lande verbindet, mit einem intertextuellen Querverweis auf Tassos Befreites Jerusalem (16. Gesang) in die Vorstellungskraft des Lesers verwiesen. Selbstverständlich ist hier nicht der Ort, um Wielands reiches Gesamtwerk insbesondere in den Romanen und Verserzählungen auf Idyllen hin zu durchsuchen. Deshalb ist umgekehrt vom Einzelwerk her zu fragen: Kann es sein, dass ein so gattungsbewusster Autor wie Wieland aus_____________   7 8 9

10

11

Vgl. Bock, Heinrich u. Hans Radspieler (Bearb.): „Gärten in Wielands Welt“. In: Marbacher Magazin 40 (1986), S. 85–90. Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 109f. Wieland, Christoph Martin: Wielands Briefwechsel. In 20 Bänden, Bd. 3. Bearbeitet von Renate Petersmann u. Hans Werner Seifert, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin […], zuletzt ab 1993 v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Berlin 1974, S. 411. Ebd., S. 444; vgl. Wieland, Christoph Martin: Wielands Briefwechsel. In 20 Bänden, Bd. 6. Teil 1. Bearbeitet von Siegfried Scheibe, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin […], zuletzt ab 1993 v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Berlin 1995, S. 493. Wielands Briefwechsel, Bd. 3, S. 446.

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gerechnet im genus grande des Versepos in die kleine Form, in das genus humile der Idylle wechselt?12 Dieser Gedanke liegt weniger fern, wenn wir berücksichtigen, dass Wieland sich mit der Gattung befasst und seine Gedanken über die Idylle13 in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1770/1774) eingebracht hat.14 Der Beitrag zum ‚Naiven‘ steigert dieses bis zum erhabenen Naiven. Dabei geht es vorrangig um Wahrheit und Natürlichkeit der Empfindungen. Und die moralische Naivité bekunde sich darin, dass wir, je naiver erzählt werde, was so viel wie ungekünstelt und ungeziert heißt, desto lebhaftere Gestaltung in den Affekten antreffen. Das berührt schon eng das Thema der ‚künstlichen Natürlichkeit‘. Als Muster gelten, wie könnte das auch anders sein, Theokrit und Geßner. Sollte sich Wieland tatsächlich auf die kleine Abhandlung beschränkt und sonst kaum Idyllenspuren im dichterischen Werk hinterlassen haben? Die Frage aber, ob Wieland wirklich die hohe Gattung des Epos mit der niederen der Idylle verbindet, sei hier anhand des letzten Buches von Clelia und Sinibald überprüft. Im Untertitel heißt die zuerst im Teutschen Merkur 1783/1784 erschienene Verserzählung später Oder die Bevölkerung von Lampeduse. Die Gattungsbezeichnung weist sie als ‚Legende‘ aus. Für die Sämmtlichen Werke, die Werkausgabe letzter Hand (Bd. 21, 1796), hat Wieland das in der Rezeption und Forschung meist völlig übersehene Versepos zum letzten Mal überarbeitet. So kommt es, dass das hier näher zu betrachtende letzte Buch des Epos in der Fortsetzung im Teutschen Merkur 1784 das achte, in der zweiten selbständigen Druckfassung 1787 das neunte und in der bei Lebzeiten letzten erschienenen 1796 das zehnte Buch ist.15 Zu der nahezu ausgebliebenen Rezeption dieser Dichtung ist nur wenig zu sagen. Abgesehen von der Oper in drei Aufzügen Der Sanct Katharinentag in Palermo von Wilhelm Freudenberg und Gustav Gurski (Berlin 1883) spielt das Werk erst eine Rolle in den Beschreibungen des Biographen Friedrich Sengle (1949) und des Enthusiasten Arno Schmidt _____________   12 13 14 15

Zur Gattungsdifferenz vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 42. Wieland, Christoph Martin: „Gedanken über die Idylle“. In: Ders.: Wielands Gesammelte Schriften, Abt. 1. Wielands Werke. Bd. 4. Prosaische Jugendwerke. Hg. v. Fritz Homeyer u. Hugo Bieber. Berlin 1916, S. 702–704. Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 62. Vgl. Gelzer, Florian: „Klelia und Sinibald“. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart 2008, S. 242–247; vgl. auch Günther, Gottfried u. Heidi Zeilinger: Wieland-Bibliographie. Berlin, Weimar 1983, Nr. 37 u. 398. Zu Wielands Werkpolitik vgl. Haischer, Peter-Henning: Historizität und Klassizität. Christoph Martin Wieland und die Werkausgabe im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2011. Zur Quellenlage vgl. Köhler, Reinhold: „Zu Wielands Clelia und Sinibald“. In: Archiv für Litteraturgeschichte 5 (1876), S. 78–83 sowie den Kommentar in Wieland, Christoph Martin: Werke, Bd. 5. Hg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert. München 1968, S. 382–491 u. 800–810.

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(1958). Für den ersten ist es abgekürzt ein „Produkt der Zersetzung“,16 für den zweiten, dem Jan Philipp Reemtsma (1999) folgt,17 „formal wohl eine elegante Spitze“ sowie ein verkanntes Glanzstück der Verserzählung, in der Wunderbares und Übernatürliches zu einer eigenen Aussage finden.18 Clelia und Sinibald kommen wie die anderen an den Liebeswirren dieses Epos Beteiligten aus der Stadt, aus Palermo. Wieland rekurriert hier also nicht auf das Genre des Hirtengedichts, das für eine Idylle spräche, sondern schildert eine auf eine Minigesellschaft erweiterte Robinsonade mit utopischem Ausblick. Darauf ist zurückzukommen. Zudem setzt Wieland auf die „schönere Natur“ (1, 21);19 das Epos spielt wiederholt in Gärten, Gartensälen, freier Natur. Seine männlichen Helden gehören zu Tankreds Geschlecht, dem Ritterstand. Die Ritterzeit taugt seit Miguel de Cervantes indes nur für Märchen, womit ein neuzeitlicher Traditionsbruch markiert wird,20 weshalb der eine der beiden Herren, Guido von Ripalt, uns auch antagonistisch als Ritter von der fröhlichen Gestalt (2, 245) begegnet. Es ist jener, der, wie es ironisierend heißt, an „schönen Seelen“ (2, 256) nur den Leib liebt, der also einer gewissen Schwärmerei verhaftet bleibt. Gleichwohl verweisen die in den Erzählkontext eingestreuten Gattungsallusionen auf die Hirtendichtung (4, 58) und auch auf die Schäferdichtung (5, 124). Wer aber über idyllische Impressionen hinauskommen will, muss, wie unten versucht, eine klare Bestimmung anstreben. Im Vorfeld jenes als Idylle angedeuteten Epenschlusses sei knapp vergegenwärtigt, worum es in diesem kaum wahrgenommenen Werk geht. Die Geschichte entstammt, wie die Erzählfiktion das will, der Handschrift eines Mönchs und spielt im Palermo des 12. Jahrhunderts. Sinibald von Villador und Rosine begegnen sich am Namensfest der Heiligen Katharina (auch Katharine oder Kathrine) in einer Kirche und verlieben sich im ersten Augenblick. Das Fest der Heiligen, einer der Vierzehn Nothelfer, die als Märtyrerin gestorben und der Legende nach von Engeln auf Sinai bestattet worden ist, feiert die Katholische Kirche am 25. November, _____________   16 17 18 19

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Sengle, Friedrich: Wieland. Stuttgart 1949, S. 376. Reemtsma, Jan Philipp: „Die Kunst aufzuhören oder: Warum Wieland nach 1784 keine Verse mehr geschrieben hat“. In: Ders.: Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk Christoph Martin Wielands. Zürich 1999, S. 277–303. Schmidt, Arno: „Wieland oder die Prosaformen“ (1958). In: Ders.: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe 2. Dialoge. Bd. 1. Massenbach. Siebzehn sind zuviel! Nichts ist mir zu klein u. a. Bargfeld 1990, S. 275–304, Zitat S. 297. Clelia und Sinibald wird im Folgenden im Text unter Angabe von Buch und Vers zitiert nach: Wieland, Christoph Martin: „Klelia und Sinibald oder die Bevölkerung von Lampeduse. Ein Gedicht in zehn Büchern. 1783“. In: Ders.: C. M. Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 21. Leipzig 1796, S. 161–396, Format C1 (Wohlfeile Ausgabe im Oktav). Vgl. Jacobs, Jürgen: Don Quijote in der Aufklärung. Bielefeld 1992.

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so dass sich jener erste Augenblick wenigstens auf den Tag genau datieren lässt und mit dem Heiligenfest auch der im Untertitel intonierte Legendenkontext eröffnet wird. Gleichzeitig verliebt sich Rosines beste Freundin Clelia von Montapert in Sinibalds Freund Guido von Ripalt. Damit sind die vier Protagonisten genannt, deren auf das eine fremde Paar eingeengte Konstellation, wie die Zusammenfügung des Titels bereits verrät, sie in die verschiedensten Liebeswirren stürzt. Die Bediensteten der beiden Damen Rosine und Clelia kennen zudem nur die Namen der beiden Liebhaber, was obendrein zu Verwechslungen führt, die folgenschwere Missverständnisse auslösen. Wie kommen die Liebenden zueinander? Guido kann Clelia zur Flucht aus Sizilien überreden. Rosine aber bleibt Sinibalds Werben gegenüber unnachgiebig. Deshalb ersinnt er eine List, eine Art trojanisches Pferd in Gestalt eines Bildes der Heiligen Katharina, in dessen Hohlraum er sich zu ihr bringen lässt. Rosine wird von einer Vision der Heiligen geplagt, die dem listigen Sinibald Strafen androht. Deshalb trägt sie ihm auf, in einem neuntägigen Bußgang zu ihrem Kloster auf dem Katharinenberg auf der Sinai-Halbinsel zu pilgern. Doch folgt jetzt ein Zeitsprung von sechs, sieben Jahren, der erzähltechnisch damit begründet wird, dass das Manuskript „Bedrängter Klosterratten Beute“ (8, 32) geworden ist. Implizit wird hierdurch betont, wie getreu der Erzähler seiner mittelalterlichen Handschrift folgt. Guido und Clelia haben in der Zwischenzeit auf ihrer Überfahrt nach Salerno Schiffbruch erlitten und sind an den Strand von Tripolis gespült worden, wo sie, ehe sie wieder zusammenkommen, sechs Jahre getrennt voneinander leben. Sinibald hingegen ist in Kairo angelangt, hat die Wüste durchquert und, wie gefordert, im Katharinenkloster sein Bußwerk vollendet. Jetzt gerät er in Sklaverei, wird von einem Tempelherrn befreit und zieht mit ihm bis zu dessen Tod ins Abenteuer. Unterdessen hat sich Rosine auf die Suche nach ihm begeben, gerät allerdings in die Hände von Piraten und wie Sinibald und auch Clelia in Sklaverei. In Damaskus, so der legendenhafte Zufall, treffen sich Rosine und Clelia als Sklavinnen wieder. Gleichzeitig begegnen sich Guido und Sinibald. Die Verwechslungen klären sich. Die verwitwete Fürstin und Mutter Saladins ist angesichts ihres Wiedersehens gerührt und erwirkt ihre Freilassung, womit wie im Musiktheater oder in der Komödie sich ein heiteres Schlusstableau anschließen könnte. Doch zieht während der Heimreise ein Unwetter auf, und die Protagonisten erleiden erneut Schiffbruch. Ein Gebet zu Sankt Katharina scheint zu wirken. Sie schickt den „großen Christof“ (10, 102) zu ihrer Rettung. Das Schiff geht zu Trümmern, die Heiden gehen zugrunde. Doch die, zu deren Schutz sich Sankt Christoph geschürzt, können sich auf eine Insel retten. Hier, wo sie auf den Einsiedler Paul und dessen Neffen treffen, gründen die beiden Paare zusammen mit den beiden Ammen der Liebhaberin-

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nen eine Kolonie, eben die bereits im Titel bezeichnete ‚Bevölkerung von Lampeduse‘. Dadurch, dass sich die beiden Ammen mit Bruder Paul und dessen Neffen vermählen, gewinnt der Erzählschluss eine nun aus vier Paaren gebildete Kolonie. Mit ihr verbindet sich die Frage nach der Idylle. Sinibald fertigt nach Rosines Vorbild eine Statue der Heiligen Katharina, und – wie eingangs in Palermo – feiern sie zum guten Schluss das Katharinenfest auf der Insel. Wie im antiken Epos oder Roman liegen Jahre dazwischen und einige Irrfahrten und Wirrnisse außerdem. Doch gibt es den versöhnlichen Schluss von in gemeinschaftlicher Feier verbundenen vier Paaren, die – ohne weitere Anstrengungen für eine Rückkehr – auf der Insel eine humane Gemeinschaft als Gegenentwurf zur städtischen Zivilisation beispielsweise von Palermo bilden. Zu Beginn des letzten Buches deutet sich endlich eine Heimkehr der Liebenden an, die es schon weit verschlagen hat. Doch wird diese durch den neuerlichen Schiffbruch zu einer dauerhaften Entfernung. Zum Schluss wird die Muse angerufen, um der kleinen Kolonie den Namen ‚Lampeduse‘ zu geben. Dieser im Zeichen der Muse stehende Reim umrahmt endlich die „hier so glücklich“ angesiedelte kleine Kolonie (10, 202ff.). In der doppelten Doppelhochzeit, die sich auf der kleinen Mittelmeerinsel ereignet, kündigt sich, wie Jean Paul die Idylle nennt, eine epische Darstellung des „Vollglücks in der Beschränkung“21 an. Diesem Schluss aber geht ein doppelter „transitorischer Augenblick“,22 den jeweils eine unerhörte Begebenheit markiert, voraus. Und das geschieht in folgender Parallelität. Das sieben Jahre zuvor in Palermo sich vermittels von wirklichen Augenblicken, die den von Liebe Erfassten nicht wieder aus dem Sinn gehen, ankündigende Doppelpaar wird nach einer ziemlichen Odyssee aufgrund ungünstiger Verhältnisse in Damaskus zusammengeführt. Rosine war mitsamt ihrer Aufpasserin Frau Klare nach Salern geflüchtet, wurde vom Sturm nach Tripolis verschlagen und geriet, wie gesagt, in Sklaverei nach Damaskus. Die anderen vier, Clelia mit Laurette sowie Guido und Sinibald, gelangten von Kair (Kairo) nach Ormus, den persisch-arabischen Meerbusen, ins Land der Bramen bzw. Brahminen in Ostindien, nach Mosambik in Südostafrika und gerieten gleichfalls als Sklaven nach Damaskus. Hier will es nun das „seltsam Würfelspiel/ Des Zufalls“ (9, 128f.), dass zunächst die Freunde Sinibald und Guido im Gebüsch aufeinander_____________   21 22

Jean Paul: Werke, Bd. 5. Vorschule der Ästhetik. Hg. v. Norbert Miller. München 1963, S. 257–262, Zitat S. 258. Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie“. In: Ders.: Lessings Laokoon, Erster Theil, III. Hg. u. erläutert v. Hugo Blümner. Berlin 21880, S. 164–167.

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treffen. Sie wähnen sich, von der „Liebe“ (9, 100f.) hierhergeführt, mit einem Male jedoch getäuscht und plötzlich als Rivalen. Beide begehren das schönste Kind Siziliens und beziehen sich auf ein am Katharinentag vor sieben Jahren ausgelöstes Liebesverlangen (9, 121 u. 124). Sie können zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass es sich bei ihrer Favoritin in Wirklichkeit um zwei Frauen handelt. In erzählerischer Entsprechung dazu glauben die sich als Sklavinnen verständigenden Clelia und Rosine an ein und denselben Galan verraten, bis sie bemerken, dass es sich bei diesem gleichfalls um zwei handelt. An dieser Stelle entsteht große Wiedersehensfreude (9, 354), die überhaupt erst die wirklichen Verhältnisse herstellt. Mit einem Wort des Epos handelt es sich dabei um eine „Entknotigung“ (8, 45). Sie veranschaulicht, dass es dem Dichter weniger um die Originalität des Stoffes als vielmehr um die Originalität der Verknüpfung zu tun ist. Und was im Zeichen der ‚Legende‘ firmiert, entpuppt sich als launenvolles Spiel mit aus Erwartungen resultierenden Täuschungen und Zufällen. Es ist bekannt, wie sich solche frühen Trennungen von Liebenden erzählerisch inszenieren lassen. Von Apuleius’ Metamorphosen und Heliodors Aithiopika bis zu William Shakespeare lassen sie sich bereits durch die Odyssee begründet sehen. Wie Amor und Psyche oder Romeo und Julia scheint der Titel Clelia und Sinibald gleichfalls eine Paarfindung zu verheißen. Es sind jedoch die Namen der beiden gerade nicht zusammengehörigen Figuren, die das Doppelpaar über Kreuz verschränken, weil zu Clelia Guido und zu Rosine Sinibald gehört. Diese Doppelpaarkonstruktion, eine aemulatio par excellence, ist Wielands Erfindung, die über eine seiner Quellen, Giacopo Caviceos Roman Il peregrino (1508), weit hinauszielt, wohl keine sizilianische Sage zur Vorlage hat, einer ziemlichen Virtuosität im Umgang mit verwechselten Türen und verwechselten Mädchen bedarf und Wieland gegenüber seiner Vorlage auch einen eigenen Schluss entwerfen lässt. 23 Mit diesem Doppelpaar, den zugehörigen Bediensteten Frau Klare und Laurette sowie dem Eremiten Paul und seinem Neffen, auf die sie auf Lampeduse treffen, gelangt der Leser zu der voraussetzungsvollen Konstellation von vier Paaren, die uns in der Idyllenfrage beschäftigen. Sinibald von Villador (3,1f.) aus Salern (3,4) und Guido von Ripalt (2, 244; 3, 2) aus Padua (3, 4) verbindet „[e]in Herz in zweyen Busen“ (3, 5). Und Clelia von Montapert (2, 53) ist „mit Rosinen nah verwandt“ (2, 55). Beide verbindet die Sympathie leiblicher Geschwister (2, 65). Da wir dem Erzählerkalkül bereits über die inszenierte „Verwechslungskomödie“24 auf der _____________   23 24

Vgl. Köhler: „Zu Wielands Clelia und Sinibald“, S. 82f. sowie Sengle: Wieland, S. 374–377. Gelzer: „Klelia und Sinibald“, S. 245.

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Spur sind, die sich gattungsbedingt ‚legendenhaft‘25 in Wohlgefallen auflöst, lohnt sich die Überlegung, wer die zahlreichen, hier keineswegs detailliert mit zu reflektierenden Zufälle strategisch ins Werk setzt. Kaum ein Dichter hat so ein Verwirrspiel vor mediterraner und orientalischer Kulisse, gewissermaßen von den Säulen des Hercules bis zum Nil, wie es bei Ariost heißt,26 entfesselt wie Wieland. Dabei lag die Sammlung der verwirrspielreichen Feenmärchen Dschinnistan (1786–1789) zur Zeit von Clelia und Sinibald noch vor ihm.27 Ein eigener Spielwitz tritt dadurch zutage, dass sich der protestantische Autor in der katholischen Sphäre des Südens, in einem mediterranen Mittelalter, bewegt. Zur Zeit der Entdeckungen und der ‚Entknotigung‘ befinden wir uns im Rosengarten von Zoraide, der Mutter Saladins, die das Paradies der Welt zu ihrem Witwensitz erkoren hat (9, 17 u. 19). Literarhistorisch bliebe das orientalische Kolorit in Werken der Entstehungszeit, drei, vier Jahre nur nach dem Oberon (1780/1781) und fünf Jahre nach Gotthold Ephraim Lessings Nathan dem Weisen (1779), mitzubedenken. Für den Zufall des Wiedertreffens (9, 30) wird Horazens Ars poetica bemüht, derzufolge Unglaubliches zu erdichten unerlaubt sei (9, 23–25). Wörtlich heißt die Stelle in Wielands Übertragung 1782: „Was bloß zur Lust,/ erdichtet wird, sei stets der Wahrheit ähnlich,/ und um je weiter sich die Phantasie/ von ihr entfernt, je stärker sei die Täuschung!“28 Ein Märchen solle nicht fordern, dass ihm alles geglaubt werde. Für die Legende sind womöglich gerade auf gläubige Seelen bezogene Gattungsvoraussetzungen anzunehmen. Indessen scheint, die Wahrheit rund zu sagen, Ein Dichter, der mit solchem kalten Blut, Aus eigner Kraft und ohne Musenwuth, Zu Werke geht, sehr viel dabey zu wagen. (Einleitung, V. 37–40)

Der Dichter soll, wie die Einleitung zu Clelia und Sinibald im Unterschied zu einem Prooimion unmissverständlich deutlich macht, keine Muse, keinen Hippogryphen bemühen. Das heißt hier: Er fliehe nicht – wie beispielsweise im Oberon – ins Land des Wunderbaren, sondern ziehe sich mit seinem bisschen Witz, bitte schön, selbst aus der Sache (Einl., V. 5f.). Zu dieser Erzählfiktion gehört freilich auch der Hinweis, nur dann ex machina (Einl., V. 8) zu verfahren, wenn der Poet weder seinem Helden noch sich selbst weiterhelfen kann. Eine solche Lizenz steht ihm offensichtlich zu _____________   25 26 27 28

Vgl. den Untertitel des Epos sowie 1, 395 oder 3, 346. Allerdings auch schon darüber hinaus (plus ultra). Vgl. Ariost: Orlando furioso 6, 17 oder 15, 58 u. 65 oder 38, 12. Günther u. Zeilinger: Wieland-Bibliographie, Nr. 540. Wieland, Christoph Martin: Übersetzung des Horaz. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Frankfurt a.M. 1986, S. 544, V. 637–640; Horaz, ep. 2. Buch, 3. Brief, Vers 338.

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Gebote, als er, um die Uferlosigkeit des Erzählten einzudämmen, zu der Begründung greift, die wunderbaren Begebenheiten seien einer aufgrund von Rattenfraß lückenhaften Quelle nacherzählt, die allerdings zugleich einen frommen Sakristan zu erkennen geben (vgl. 10, 68ff.). In dieser Motivation werden ein quantitatives und ein qualitatives Argument verschränkt, weil die Verkürzung jetzt pointiert auf das Ende des „frommen Mönchs-Romans“ (8, 46) zuläuft. Es stützt zudem den Legendenanspruch insofern, als schon in jenem Sakristan ein Seelenhirte zutage tritt. Doch ungleich stärker verkörpert diesen verwandelten, weil spiritualisierten Hirtentypus der Eremit Paul auf Lampeduse. Die Glücklichen, die sich zu Damaskus in dem Rosengarten wiedergefunden haben, fliegen bereits ihrer Heimat zu. Der Erzähler will uns weder mit ‚warmen‘ noch ‚kalten‘ Abschilderungen aufhalten, die, wie es heißt, immer sich von selbst verstehen. Sein Erzählerkalkül nimmt Rücksicht auf seine Leser oder Zuhörer, die „ungeduldiger, als sie es selber waren,/ Sie angelangt zu sehn“ wünschen (10, 60f.). Er lässt sie mit gutem Wind bereits bei Euböa, „Negrepont“, vorüberfahren, als sich in das glücklich anbahnende Ende ein Ritardando in Gestalt einer „schwarze[n] Wolke“ (10, 65) schiebt. Diese verspricht allerdings den Leuten „wenig Trost“ (10, 64 u. 67). Mit Bezug auf die fingierte Vorlage singt der Erzähler dem Sakristan nach (10, 69), was die Bücher des Epos auch als Gesänge zu lesen erlaubt, der Sturm sei Asmodis Werk gewesen. Dieser gebe keine Ruhe, bis er sie alle samt dem Schiff im Abgrund begraben habe, „[u]nd schwört’s beym großen feur’gen Raben,/ Auf dem Beelzebub zu Sankt Walpurgis Nacht/ Zum Blocksberg fliegt“ (10, 77–79).29 Ein Höllensturm bricht los. Das Schiff ist zerstört. „Die Heiden schrieen laut zu ihrem Baffomet,/ Das Christenvolk zu Gott und seiner lieben Mutter“ (10, 92f.). In der Gefahr wird die Legende wichtig. Sankt Katharina erhört Rosines Gebet, schickt den „großen Christof“ (10, 102), und dieser stürzt in Entsprechung zum Höllensturz jenen Asmodi in den Pfuhl (10, 108). Die „Unsrigen“ aber, womit der Sänger die Partei auch seiner Zuhörer nimmt, werden auf „einer eignen Planke“ (10, 109)30 ans rettende Ufer einer Insel verschlagen. Damit ist Lampeduse erreicht. Mit einer kurzen Zwischenüberlegung ist, bevor wir endlich auf die Idylle blicken, festzuhalten: Der legendenhafte Stoff wird von Wieland legendenhaft behandelt. „Wenn wir den Wundern nur recht in die Augen _____________   29 30

Vgl. zum Bezug von Goethes Walpurgisnachtstraum (Faust I, V. 4223–4398) auf Wielands Oberon: Manger, Klaus: „Unvermindert aktuell: Wielands Digression im Oberon und Goethes Intermezzo im Faust“. In: Wieland-Studien 6 (2010), S. 179–194. Vgl. Rahner, Hugo: „Der Schiffbruch und die Planke des Heils“. In: Ders.: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter. Salzburg 1964, S. 432–472.

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sehen“ (9, 363), dann, so das Argument, löst sich der Verlauf der Verwicklungen „ganz natürlich“ (9, 361) auf. In Wielands, des Aufklärers, Narration gibt es aber keine Instanz, die das für den Leser klärt. Der ist ganz auf sich allein gestellt. Auch wenn dieser Autor dafürhält, dass es dem Menschen natürlich sei, an das Übernatürliche zu glauben, bleibt es seinem Ermessen, seiner Mündigkeit überlassen, für sich zu klären, ob er an Wunder glaubt. Handelt es sich bei dem Wunderbaren, um das im ZürichLeipziger-Literaturstreit des 18. Jahrhunderts hart gerungen wurde, um göttlichen Beistand, eine Chimäre oder um Erzählerkalkül? Greifen beispielsweise Sankt Katharina oder Asmodeus wirklich in das Geschehen ein? Wieso muss ein Gewitter eine Schickung sein? Solche Fragen waren im Jahrhundert der Aufklärung, in dem die Überlegung eine Rolle spielte, welche Funktion angesichts göttlicher Macht einem Blitzableiter zukomme, keineswegs unerheblich. Im Erzählen erläutert der Erzähler, wie das vermeintlich schicksalhafte Walten der Götter offenbar anthropologisch begründet ist. Der Dämon steckt in unsrer eignen Haut. Du selber bist dein Teufel oder Engel: Und Oberon sogar, mit seinem Lilienstängel Und seinem Horn, (das sonst sehr wohl zu brauchen ist) Hilft dir zu nichts, wenn du kein Hüon bist. (2, 192–196)

Nichts anderes ist angesichts der wunderbaren Ereignisse gefragt als der gesunde Menschenverstand.31 Auf Lampeduse beendet die Ankunft der sechs Schiffbrüchigen die Robinsonlage des Eremiten Paul und seines Neffen. Den Namen der Insel dürfte Wieland außer von Denis Diderot von Ariosts Orlando furioso (40, 55) bezogen haben, wo in der Nachbarschaft zu der Vorbildszene vom Eremiten Paul (41, 38–61) die Insel „Lipadusa“ heißt.32 Die Eremitage verwandeln sie in ein „Paradies“ (10, 146). Die „winzigste Gemeine/ Der Christenheit“ baut „dieß neue Eden“ (10, 176/178). Und damit das Glück vollkommen sei, wird das ganze Volk „vierfach“ noch in derselben Nacht getraut (10, 179–181). Bevor sich jedoch das mit Jean Paul schon einmal so charakterisierte ‚Vollglück in der Beschränkung‘ als Idylle erweisen wird, ist, damit der Schluss nicht vorschnell aus seinem Kontext isoliert wird, ein Blick auf die Erzählanlage zu werfen. _____________   31 32

Gelzer: „Klelia und Sinibald“, S. 246. Vgl. Diderot, Denis: Le fils naturel (1757), 2. Entretien; Gelzer, Florian: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007, S. 422–429; Ariosto, Lodovico: Rasender Roland, Fünfter Theil. Übers. v. J. D. Gries. Jena 21828, S. 52: 40, 55.

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Clelia und Sinibald ließe sich in seiner Multiperspektivität gewinnbringend für neuartige Erzählanalysen verwenden. Hier soll Weniges genügen. Die Manuskriptfiktion gibt im Sakristan einen auktorialen Erzähler zu erkennen, der der frommen Welt der erzählten Geschichte angehört, also einen intradiegetischen Standpunkt einnimmt. Diese Fiktion macht sich seinerseits der außerhalb jener Geschichte stehende Erzähler zunutze, der sich in Formen wie „unser Jüngling“ (1, 93) oder in Anreden wie „ihr Mädchen von Gefühl“ (1, 413) oder der schon bemerkten Rede von den „Unsern“ als extradiegetisch-homodiegetischer Erzähler zu erkennen gibt. Im Grunde vereint die Erzählanlage zwei Perspektiven, nämlich die nacherzählte des Sakristans und die der erzählten Gegenwart.33 Diese erlaubt dem Erzähler, das Erzählte immer wieder zu kommentieren. Ihm gehören folglich die Kommentare und Reflexionen zu, die, mitunter in Klammern stehend, in den Erzählverlauf integriert sind. Wenn dieser Ich-Erzähler beispielsweise einflicht: „Doch, ich besinne mich“ (1, 233), scheint er einerseits mit der alten intradiegetischen Erzählinstanz kongruent zu sein, anderseits aber das Erzählen nach Belieben steuern zu können. Vor allem jedoch reguliert er die Temporalstruktur, in der, von der direkten Rede abgesehen, das Erzählen zwischen Präteritum und Präsens hin- und herzuspringen vermag. Zum Schluss, als der extradiegetisch-homodiegetische Erzähler letztmalig auf den intradiegetischen Sakristan verweist, da erscheinen sie beide bemerkenswerterweise gleichfalls kongruent. Als es zum frohen Schmause geht, heißt es abschließend: Ein gleiches (ruft zum Schluß der gute Sakristan) Woll‘ uns der liebe Gott mit allen Frommen geben, Hier in der Zeit, und dort im ew’gen Leben! (10, 243–245)

Wie es die Einleitung programmatisch zum Ausdruck bringt, geht es Wieland bei der ästhetischen Gestaltung darum, gegen den „Frost der Kunst“ (Einl., 53) mit dichterischem Feuer das „Kunstwerk zu beseelen“ (Einl., 51) und wie Pygmalion „die Gruppe zu beleben“ (Einl., 83 u. 89). Diesem mit dem hohen Anspruch künstlicher Natürlichkeit verfolgten Ziel der Verlebendigung34 dient Wielands „freye Versart“,35 diese in dem Werk besonders praktizierte artistische Verskunst, die den Takt der Periode im Vers _____________   33 34 35

Eine Dissertation zu Erzählstrategien in Wielands Verserzählungen erarbeitet derzeit Sören Schmidtke, Jena. Vgl. Manger, Klaus: „Witz und Scharfsinn von Anfang an. Wielands Verlebendigungsästhetik“. In: Wieland-Studien 6 (2010), S. 195–206. Reemtsma: „Die Kunst aufzuhören“, S. 288, mit dem Zitat aus Wielands Vorbericht zur ersten Ausgabe des Neuen Amadis (1771); vgl. Wieland, Christoph Martin: Sämmtliche Werke, Bd. 4. Der neue Amadis. Erster Theil. Leipzig 1794 (C1 im Oktav), S. XI, sowie Reemtsma, S. 296.

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dem Prosatakt annähert. Freilich bleibt die Differenz, das erkennbar „doppelte continuum“36 von Vers und Satz, im Reim bewahrt. Die Wahrheit der Legende37 profitiert von der „Freiheit der erzählerischen Progression“,38 die in der Verknüpfung der zwei divergenten Zeiten von frommem Mönchsroman und ironisch distanzierender Gegenwart verwurzelt ist beziehungsweise aus der Verknüpfung von intra- und extradiegetischer Erzählebene resultiert. Endlich sei die insulare Idylle, die das Versepos beschließt und die sich auch als Epilog des Werkes lesen lässt, unter den folgenden drei Aspekten betrachtet und bestätigt. Sie gelten erstens dem in diesem Schluss zutage tretenden Ende des Bösen, zweitens dem Ende des Dogmatismus und drittens dem Ende des einseitig äußerlichen Glücks. Erstens: Das Ende des Bösen bewirkt Sankt Katharinas letzte Aktion, indem der von ihr geschickte Christophorus durch den Sturz des Asmodi, Hinke- oder Amor-Teufels die Macht des Bösen bricht. Damit endet auch ihre legendenhafte Wundertätigkeit. Zwar bleibt in der „winzigsten Kapelle/ Der ganzen Christenheit“ (10, 117f.) inmitten der Natur wohl die Frömmigkeit erhalten. Aber die kommt jetzt aus den Beteiligten. Die kleine Gemeinschaft wird selbst tätig und zeigt sich, wenigstens für die Dauer der nur mehr wenige Verse umfassenden Erzählung, fortan von Transzendentaleinwirkungen unbehelligt. Das anthropologisch zentrierte Inselgeschehen bedarf, wie es scheint, mit dem Sturz Asmodis auch keines Christophs mehr. Das abschließende „Te Deum“ (10, 240) entlässt das ‚glaub’ge Völkchen‘ zum frohen Schmaus nach Hause. Eine weitere Trübung oder Bestürmung ist ‚Hier in der Zeit, und dort im ew’gen Leben‘ nicht in Sicht. Wie gesehen, ist dieser Gebetswunsch der des Sakristans aus der Quelle, der, jetzt im Verein mit dem Ich-Erzähler, diesen Ausblick gibt, so dass beide Erzählhaltungen wenigstens zum Schluss kongruent geworden sind. Zweitens ist ein Ende des Dogmatismus zu erkennen. Wie bedeutsam für Wieland der Antidogmatismus ist, veranschaulicht das vorausgegangene Epos, das, dem Elfenkönig Oberon gewidmet, zeigt, wie dieser dogmatische Gnom eine Gegenhandlung zu Clelia und Sinibald initiiert. Hier schafft Sankt Katharina die Voraussetzungen für ein gutes Ende. Dort ist ein liebendes Menschenpaar gefordert, das entzweite Götterpaar gewissermaßen zu erlösen, damit Oberon und Titania, wie im Walpurgisnachtstraum des Faust I zum Ausdruck gebracht, goldene Hochzeit feiern kön_____________   36 37 38

Jünger, Friedrich Georg: Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht. Stuttgart 1952, S. 11. Vgl. Wieland: Clelia und Sinibald, Drittes Buch, insbes. V. 336ff. Preisendanz, Wolfgang: „Die Kunst der Darstellung in Wielands Oberon“. In: Christoph Martin Wieland. Hg. v. Hansjörg Schelle. Darmstadt 1981, S. 205–231, Zitat S. 223f.

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nen.39 Gegenüber seiner Gemahlin Titania nämlich stößt Oberon einen Trennungsfluch aus, durch den er sich von einem sich liebenden, einander Treue bewahrenden Menschenpaar abhängig macht und gewohnte Verhältnisse auf den Kopf stellt. Oberons Drohung allerdings wandelt sich in Clelia und Sinibald in das weiseste Gesetz der Natur: „Laß dich nicht gelüsten!“ (10, 195).40 Dort eine Warnung vor triebhafter Selbstvergessenheit, steht es hier für den mit seinem Los zufriedenen, guten Menschen. Vor diesem Hintergrund kommt es in der frommen Geschichte ausgerechnet dem Amt des Priesters zu, dem Dogmatismus etwas entgegenzusetzen. Der Sakristan sagt in der alten Geschichte, das Beste habe der Himmel tun müssen. Dagegen betont unser ‚moderner‘ Erzähler, indem er auf den musenbegünstigten Vates Bezug nimmt: „Wir hätten wenig in der Seherkunst gethan“ (10, 133), wenn wir, die Leser, nicht auf einen Blick errieten, wie es weitergehe und mit Sankt Katharinas Plan zusammenhänge. Das bringt nun ‚Vater Paul‘, der somit als pater gekennzeichnete Eremit, zum Ausdruck, der die längste Rede in diesem Schlusstableau hat. Er weiß mit antizölibatärem Affekt: „Es ist dem Mann nicht gut allein zu seyn/ Und sein Geschlecht im Keime zu ermorden;/ Um nicht zu brennen, sollt ihr frey’n!“ (10, 169–171) Er sei zwar ein Priester, anstatt aber nach Rom zu laufen, um dort die Erlaubnis zum Heiraten abzukaufen, gebe ihm Gott Vater selbst die „Dispensazion“ (10, 164ff.), nämlich vom Zölibat. Der Zölibat ist zwar kein Dogma, Pauls Folgerung jedoch gleichwohl insofern antidogmatisch, als er sich in Abkehr von der institutionalisierten Religion auf eine ‚natürliche‘ und damit für die Idylle voraussetzungsreiche Frömmigkeit bezieht. „Der liebe Gott, der uns (trotz ihren Schlüssen)/ So wie wir sind gemacht, muß das am besten wissen!“ (10, 173f.) Es hindert ihn folglich nichts an seiner glückvollen Verheiratung mit Frau Klare. So baut diese ‚winzigste Gemeine‘ ihr neues Eden auf natürliche Frömmigkeit. Wie innig das vonstatten geht und sich von äußerem Wohl oder Wehe ablöst, zeigt die Abkehr von solchen dogmatisierenden Verordnungen. Drittens kommt damit das Ende von Oberflächlichkeit und einseitig bedingtem äußerlichen Glück in den Blick. „Vollkommnes Glück ist nicht der Menschheit Loos./ Du gäbst es uns, Natur, wenn wir’s zu tragen wüßten!“ (10, 193f.) Darauf reimt sich das schon zitierte, aus dem Fluchkontext des Oberon hierher versetzte Maßhaltegebot, der Natur weisestes Ge_____________   39 40

Vgl. Anm. 29. Vgl. Oberon, Erster Gesang, 3. Stanze; Sechster Gesang, 9. u. 18. Stanze in: Wieland, Christoph Martin: Oberon. Ein romantisches Heldengedicht in zwölf Gesängen. Hg. v. Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1990, S. 7, 104 u. 106.

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setz: ‚Laß dich nicht gelüsten!‘ Im Raum der Natur sind es nicht Eremitendasein und Askese, sondern mitgefühltes Leid und mitgeteilte Freude, ein Gemeinschaftssinn, der zu einem vergnügten Leben beiträgt. Mit Bezug auf das extreme Böse oder Gute bedeutet das eine „relativierte Idylle“41 beziehungsweise, vom Maß geprägt, eine Idylle vernünftiger Koexistenz. Anders gesagt verlegt diese verwandelte Form den Ursprung idyllischer Verhältnisse ins Subjekt,42 von dem aus das Maß zu gewinnen ist. Gemäß dem Pygmalionanspruch, wie ihn die Einleitung vorgibt (V. 83ff.), verlebendigt Wieland den statischen Typus der Idylle durch ihre Refraktion in die Lebenswirklichkeit im Raum der Natur. Zwar bleiben den Insulanern von Lampeduse ihre Erinnerungen erhalten, aber jetzt bestimmen sie ihr Leben selbst. Sie haben das Glück in ihrer Hand. Am Ende treten Clelia und Guido zugunsten von Sinibald und Rosine in den Hintergrund, die unterdessen „ein klein Kathrinchen wieget“ (10, 208). Da ihr in den Sinn kommt, zur Heiligen Petronelle auf dem Altar des Kirchleins ein Bild der Heiligen Katharina zu gesellen, wird Sinibald zum Künstler. „Rosinen/ Wie aus dem Aug’ heraus geschnitzt“ (10, 220f.) entsteht unter seinen Händen eine Figur, der Geliebten getreulich nachgebildet. Von hier aus könnten Kunsthistoriker nach Bezügen fragen, die wohl eher in präraffaelitische als nazarenische Traditionen münden dürften und vielleicht solchen Ironisierungen wie der Heiligen Familie oder Sankt Joseph dem Zweiten in Wilhelm Meisters Wanderjahren (1821) nicht unverwandt sind. Am Katharinenfest jedenfalls wird die neue Heiligenfigur zur Rechten ihres Pendants aufgestellt. Mit diesem Katharinentag, an dem Rosine Geburtstag hat, schließt sich nach sieben in Palermo begonnenen Jahren der Ring der Legende. Sich ihrer Schuld gegenüber ihrer Schützerin (10, 206) entledigend, strahlt Rosine ein Gnadenblick in die Seele (10, 237). Mit dem Te Deum endet die Legende, die sich in eine Idylle glückvollen Zusammenlebens abseits von von außen hereingetragenen Vorschriften oder Fremdbestimmungen gewandelt hat, abseits jetzt auch von den Einwirkungen des Bösen und dogmatischer Beschränktheit. So eröffnet sich der Ausblick auf ein gutes Leben, wie zu Beginn dieses letzten Buches verheißen. Wie jeder Leser sehe, mögen die Dichter gern „[d]ie Leute, wenigstens in Versen, glücklich machen./ In Prosa, freylich, geht’s so leicht nicht immer an!“ (10, 25f.) Die zum Glück verhelfende Instanz ist der Dichter. Sein Adressat ist jedermann. Unmittelbarer lässt sich schwerlich ein Impuls zur Aufklärung geben. Allerdings ist nicht zu _____________   41 42

Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 88. Vgl. ebd., S. 91.

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verkennen, welch virtuoser Aufwand zu treiben ist, um über einen vermeintlichen Nebenweg künstlicher Natürlichkeit den beherzigenswerten Hauptweg zu verfolgen.43

Literaturverzeichnis Ariosto, Lodovico: Rasender Roland. Übers. v. J. D. Gries. Fünf Theile. Jena 21828. Bircher, Martin u. Bruno Weber unter Mitwirkung v. Bernhard von Waldkirch: Salomon Gessner. Zürich 1982. Bock, Heinrich u. Hans Radspieler (Bearb.): Gärten in Wielands Welt. Marbacher Magazin 40 (1986), S. 85–90. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 1967. Gelzer, Florian: „Klelia und Sinibald“. In: Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Jutta Heinz. Stuttgart 2008, S. 242–247. Gelzer, Florian: Konversation, Galanterie und Abenteuer. Romaneskes Erzählen zwischen Thomasius und Wieland. Tübingen 2007. Günther, Gottfried u. Heidi Zeilinger: Wieland-Bibliographie. Berlin, Weimar 1983. Haischer, Peter-Henning: Historizität und Klassizität. Christoph Martin Wieland und die Werkausgabe im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2011. Heinz, Jutta (Hg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2008. Jacobs, Jürgen: Don Quijote in der Aufklärung. Bielefeld 1992. Jean Paul: Werke, Bd. 5. Vorschule der Ästhetik. Hg. v. Norbert Miller. München 1963. Jünger, Friedrich Georg: Rhythmus und Sprache im deutschen Gedicht. Stuttgart 1952. Köhler, Reinhold: „Zu Wielands Clelia und Sinibald“. In: Archiv für Litteraturgeschichte 5 (1876), S. 78–83. Lessing, Gotthold Ephraim: Lessings Laokoon. Hg. u. erläutert v. Hugo Blümner. Berlin 21880. Manger, Klaus: „Unvermindert aktuell: Wielands Digression im Oberon und Goethes Intermezzo im Faust“. In: Wieland-Studien 6 (2010), S. 179–194. Manger, Klaus: „Witz und Scharfsinn von Anfang an. Wielands Verlebendigungsästhetik“. In: Wieland-Studien 6 (2010), S. 195–206. Manger, Klaus: Wielands Erfindung Weimars. Jena 2006. Michelsen, Peter: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts. Göttingen 21972. Pirro, Maurizio (Hg.): Salomon Gessner als europäisches Phänomen. Spielarten des Idyllischen. Heidelberg 2012. Preisendanz, Wolfgang: „Die Kunst der Darstellung in Wielands Oberon“. In: Christoph Martin Wieland. Hg. v. Hansjörg Schelle. Darmstadt 1981, S. 205–231. Rahner, Hugo: „Der Schiffbruch und die Planke des Heils“. In: Ders.: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter. Salzburg 1964, S. 432–472. Reemtsma, Jan Philipp: „Die Kunst aufzuhören oder: Warum Wieland nach 1784 keine Verse mehr geschrieben hat“. In: Ders.: Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk Christoph Martin Wielands. Zürich 1999, S. 277–303.

_____________   43

Vgl. Michelsen, Peter: Laurence Sterne und der deutsche Roman des 18. Jahrhunderts. Göttingen

21972.

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Schmidt, Arno: „Wieland oder die Prosaformen“. In: Ders.: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe 2. Dialoge, Bd. 1. Massenbach. Siebzehn sind zuviel! Nichts ist mir zu klein u. a. Bargfeld 1990, S. 275–304. Sengle, Friedrich: Wieland. Stuttgart 1949. Wieland, Christoph Martin: Wielands Briefwechsel in 20 Bänden. Hg. [zuletzt ab 1993] von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. Berlin 1963-2007. Wieland, Christoph Martin: „Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens“. In: Ders.: Wielands Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 9. Januar 1770–Mai 1772. Hg. von Hans-Peter Nowitzki. Berlin, New York 2008, S. 107-305. Wieland, Christoph Martin: Oberon. Ein romantisches Heldengedicht in zwölf Gesängen. Hg. v. Sven-Aage Jørgensen. Stuttgart 1990. Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Hg. v. Klaus Manger. Frankfurt a.M. 1986. Wieland, Christoph Martin: Übersetzung des Horaz. Hg. v. Manfred Fuhrmann. Frankfurt a.M. 1986. Wieland, Christoph Martin: Werke, Bd. 5. Hg. v. Fritz Martini u. Hans Werner Seiffert. München 1968. Wieland, Christoph Martin: „Gedanken über die Idylle“: In: Ders.: Wielands Gesammelte Schriften, Abt. 1. Wielands Werke. Hg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4. Prosaische Jugendwerke. Hg. v. Fritz Homeyer u. Hugo Bieber. Berlin 1916, S. 702–704. Wieland, Christoph Martin: „Klelia und Sinibald oder die Bevölkerung von Lampeduse. Ein Gedicht in zehn Büchern. 1783“. In: Ders.: C. M. Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 21. Leipzig 1796 (C1 im Oktav), S. 161–396. Wieland, Christoph Martin: „Der neue Amadis“. In: Ders.: C. M. Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 4 und 5. Leipzig 1794.

 

‚Aber freilich, wenn alle Menschen Schafe gehütet hätten, so wären sie zwar an sich wohl ganz glücklich gewesen. Aber was wäre denn aus unsrer Geschichte geworden?‘ Idylle, Theodizee und Geschichtsphilosophie bei Karl Philipp Moritz ALESSANDRO COSTAZZA

I. Demaskierung der Idylle als empfindsame Flucht aus der Wirklichkeit Im Kontext einer umfangreicheren, ironischen und oft beißenden Kritik an der Empfindsamkeit demaskiert Moritz in seinem Roman Anton Reiser (1785–1790) die Suche nach der natürlichen Ursprünglichkeit der Idylle als bloß modische, empfindsame Erscheinung.1 Die wiederholten Beschreibungen der von Anton Reiser immer wieder aufgesuchten Wiese vor den Toren Hannovers,2 die auch auf dem Titelkupfer zum dritten Teil des Romans abgebildet ist (I, S. 203), weisen Merkmale auf, die eindeutig an die Landschaftsstaffagen von Geßners Idyllen erinnern.3 Während die Türme der Stadt im Hintergrund bleiben, schlängelt sich im Vordergrund _____________   1 2

3

Vgl. Costazza, Alessandro: Genie und tragische Kunst. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern u. a. 1999, S. 202–216. Verweise auf die Wiese vor den Toren Hannovers befinden sich an mehreren Stellen im Roman, vgl. Moritz, Karl Philipp: „Anton Reiser“. In: Ders.: Werke, Bd. 1. Autobiographische und poetische Schriften. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 35–399, hier S. 201, 231f., 243, 244f., 246, 290. Moritz’ Texte werden künftig nach dieser Edition zitiert und mit Angabe der Band- und Seitenzahl in Klammern im Text nachgewiesen. Dass Moritz Geßners Idyllen sehr genau kannte, zeigt vor allem seine Deutsche Sprachlehre für die Damen (1782), in der er alle seine sprachlichen und stilistischen Überlegungen am Beispiel der Geßner’schen Idylle Amyntas entwickelt. Auf diese Idylle bezieht sich auch das Titelkupfer des Werkes, vgl. Moritz, Karl Philipp: Deutsche Sprachlehre für die Damen. Berlin 1782.

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ein klarer Bach durch ein angenehmes „künstlich angelegtes ganz kleines Wäldchen“ (I, S. 290) und bildet „einen künstlichen Wasserfall“ (I, S. 236): Die feierliche Stille, welche in der Mittagsstunde auf dieser Wiese herrschte; die einzelnen hie und da zerstreuten hohen Eichbäume, welche mitten im Sonnenschein, so wie sie einsam standen, ihren Schatten auf das Grüne der Wiese hinwarfen, – ein kleines Gebüsch, in welchem man versteckt das Rauschen des Wasserfalls in der Nähe hörte – am jenseitigen Ufer des Flusses, der angenehme Wald, […] – in der Ferne weidende Herden; und die Stadt mit ihren vier Türmen, und dem umgebenden mit Bäumen bepflanzten Walle, wie ein Bild in einem optischen Kasten. (I, S. 243)

Es fehlt bei diesem Landschaftsbild wirklich keines der traditionellen Elemente der Idyllenlandschaft, weder der Rahmenblick noch Pans Mittagsstunde oder die einzelnen Eichbäume (vgl. auch I, S. 244),4 weder die durch das Gesträuch gebildete Laube (I, S. 246) noch die weidenden Herden. Ähnlich wie für Geßner5 bedeutet auch für Moritz’ Protagonisten die ausgesprochen ‚künstliche Natürlichkeit‘ der idyllischen Landschaft eine Flucht aus „den kleinlichen Verhältnissen, die ihn in jener Stadt mit den vier Türmen, einengten, quälten und drückten“ (I, S. 231): In der freien Natur lässt er „das lärmende Gewühl, das Rasseln der Wagen […], die Blicke der Menschen, die er scheute“ (I, S. 232), hinter sich und findet dort „eine Heimat“ (I, S. 237). Auf diesen einsamen Spaziergängen in der idyllischen Landschaft, die ihm sein Selbstgefühl zurückgeben, ihn aber zur gleichen Zeit mit melancholischen Empfindungen erfüllen, liest Anton Reiser nun aus Horaz, Vergil, Homer (I, S. 237, 246, 317) und später vor allem aus dem Werther (I, S. 244, 246f.). Diese Lektüren im Freien, die eine damals modische, empfindsame Zeiterscheinung darstellten,6 entlarven aber unmissverständlich die äußerst künstliche, literarisch vermittelte Natur von Reisers Flucht in die Idylle. Obwohl der Erzähler seine Figur im ersten Moment vor dem Vorwurf der „Affektation“ (I, S. 317) ausdrücklich in Schutz nimmt, wird die literarische Vermitteltheit der idyllischen Naturszenerie vom Protagonisten selbst indirekt zugegeben, indem er die Ähnlichkeiten zwischen der _____________   4 5

6

Bekanntlich führt die falsche, aber wirkungsstarke Etymologie die Bedeutung des Wortes ‚Idylle‘ auf ‚Bildchen‘ bzw. ‚kleines Bild‘ zurück, vgl. Böschenstein, Renate: Idylle. Stuttgart 1967, S. 2f. Vgl. Geßner, Salomon: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 1973, S. 15: „Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König.“ Vgl. Koebner, Thomas: „Lektüre in freier Landschaft. Zur Theorie des Leseverhaltens im 18. Jahrhundert“. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Hg. v. Reiner Gruenter. Heidelberg 1977, S. 40–57, über den Anton Reiser S. 54ff.

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idyllischen Landschaft seiner Ausflüge und Werthers „Beschreibungen von Wahlheim“ (I, S. 290; vgl. auch I, S. 244) erkennt. Erst an einer späteren Stelle demaskiert dann auch der Erzähler durch bittere Ironie den künstlichen und affektierten Charakter von Reisers Idyllensuche. Als dieser nämlich eines Tages einen Brief an einen Freund „im Tone der Wertherschen Briefe“ schreiben will und zu diesem Zweck die „patriarchalischen Ideen“7 wieder aufleben lassen möchte, versucht er – in deutlicher Werther-Imitation –8 „in seinem Stübchen, in dem kleinen Öfchen seinen Tee zu kochen“ und wird dabei durch den vom brennenden Stroh verursachten „Rauch beinahe erstickt“ (I, S. 392). Durch diese Werther-Persiflage wird die Idylle als empfindsame Projektion kenntlich gemacht – eine Kritik, die implizit schon in Goethes Werk angelegt ist. Werther behauptet zwar selbst, wenn er sich z. B. mit dem heimgekehrten Odysseus identifiziert und die selbstgepflückten Zuckererbsen auf dem Herd kocht, dass er „die Züge patriarchalischen Lebens […], Gott sei Dank, ohne Affektation in meine Lebensart verweben kann“;9 doch in Wirklichkeit richtet sich sein Verhalten oft nach literarischen Vorlagen und seine Landschaftsbeschreibungen, die seine jeweilige Gemütsverfassung widerspiegeln, orientieren sich an literarischen Mustern. So steht seine Beschreibung der Idylle von Wahlheim und vom ‚schönen Tal‘, das man von dort überblickt,10 ganz im Zeichen Homers.11 Im Gegensatz dazu erinnern Werthers spätere furchterregende Landschaftsbeschreibungen, in denen die für die Idylle charakteristische ‚Won_____________   7

8 9 10 11

Schon bei seiner ersten Lektüre des Werther empfindet Anton Reiser eine Übereinstimmung mit seinen „damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart“ (I, S. 244). Im Werther kommt der Begriff ‚patriarchalisch‘ zweimal vor, nämlich im Brief vom 12. Mai und im Brief vom 21. Junius, vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: „Die Leiden des jungen Werther“. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6. Romane und Novellen 1. Hg. v. Erich Trunz. München 1982, S. 7–124, Zitat S. 8 u. 29. Dass dieser Begriff ein Signal für die Idylle darstellt, bezeugt Geßners Einführung zu seinen Idyllen, in der er, neben der „Einfalt der Sitten, die uns Homer schildert“, auf „die Geschichte der Patriarchen“ als Beweis für die Existenz eines „goldenen Zeitalters“ hinweist, welches wiederum den Gegenstand der Idyllen ausmachen soll, vgl. Geßner: Idyllen, S. 15. Bereits Gottsched verweist in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst auf die „Vorstellung des Standes der Unschuld, oder doch wenigstens der patriarchalischen Zeit, vor und nach der Sündfluth“, als Nachahmungsvorlage des Schäfergedichtes, vgl. Gott– sched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751. Reprographischer Nachdruck. Darmstadt 1982, S. 582. Vgl. Goethe: „Werther“, Brief vom 21. Junius, S. 29. Ebd. Vgl. ebd., S. 14f., 28ff., 51f. Nicht von ungefähr liest Werther an diesem Ort Homer oder verweist auf Odysseus, vgl. ebd., S. 15, 29.

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ne‘ der ‚Einschränkung‘12 der erhabenen Angst vor der unendlichen Ferne und dem Unbekannten weicht, an Ossian.13 Diese Zerstörung der Idylle findet jedoch nicht nur in Werthers Seele, sondern auch in der Wirklichkeit der Erzählung statt: Beispiele davon sind etwa die Zerstörung des an den Landpriester von Wakefield erinnernden idyllischen Pfarrhofs,14 oder aber die Überflutung des lieben Tals in einer stürmenden Dezembernacht.15 Wie im Werther wird die Idylle auch in Moritz’ Roman als empfindsame Projektion dekuvriert, hier allerdings ironisch gebrochen, als WertherPersiflage. Moritz’ Absage an die Idylle lässt sich jedoch nicht nur auf seine Kritik an der Empfindsamkeit zurückführen, sondern hat viel tiefere, sozusagen ‚metaphysische‘ Gründe, wie etwa sein kleines, uneinheitliches und von ihm infolge seines Aufbruchs nach Italien unfertig zurückgelassenes Werk Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers (1787) zeigt.

II. Der metaphysische Grund der Zerstörung der Idylle in den Fragmenten aus dem Tagebuch eines Geistersehers 1. Die Idylle als voluntaristische Projektion in (selbst-)therapeutischer Absicht Vor allem am Anfang der Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers werden wiederholt idyllische Kleinbilder geschildert, die alle wichtigen Topoi der Gattung aufweisen:16 Das durch ein „kleines Fenster“ eingerahmte Bild zeigt etwa die „lieblich“ scheinende, auf- und niedergehende Sonne, die „einzelnen Eichen“, eine hängende Birke und eine hohe Fichte, „die _____________   12 13 14

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Vgl. ebd., S. 29, 51. Es sei hier an Jean Pauls Definition der Idylle als „epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“ erinnert, vgl. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“. In: Ders.: Werke, Bd. V. Hg. v. Norbert Miller. München 51987, S. 5–456, Zitat S. 258. Vgl. Goethe: „Werther“, S. 52f. Ebd., S. 31ff. u. S. 80f. Der Roman von Oliver Goldsmith The Vicar of Wakefield ist wenige Seiten zuvor ausdrücklich erwähnt worden, vgl. ebd., S. 23. Man vergleiche auch Werthers „Wahlfahrt“ in seine Heimat und den Vergleich zwischen der Idylle der Kindheit und der Entzauberung der Gegenwart, ebd., S. 72f. Nicht von ungefähr erwähnt Werther auch hier „die herrlichen Altväter“ und „Ulyß“, vgl. ebd., S. 73. Ebd., S. 98f. Vgl. zu diesem Werk immer noch die ausführliche Behandlung im VIII. Kapitel von: Rau, Peter: Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion. Studien zum Werk von Karl Philipp Moritz. Frankfurt a.M. 1983, S. 246–285. Fast auf jeder Seite verwendet Rau die Begriffe ‚Idylle‘ bzw. ‚idyllisch‘ oder ‚bukolisch‘, ohne jedoch auf die Gattungsproblematik einzugehen.

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ohngeachtet der Verschiedenheit ihrer Natur, ihre Zweige von oben gesellig zusammenflechten“ (III, S. 275), während auf der grünen Wiese Herden weiden und der „arme Hirt“ mit seinem Blick „Wiese und Berg und Tal umfaßt, und dann wieder sein Auge auf ein kleines goldnes Würmchen fallen läßt, das unter Kräutern und Blumen lebt“ (III, S. 273).17 Die „arbeitsamen Landleute“ leben dort in Übereinstimmung mit der sie umgebenden harmonischen Natur und erfüllen in jedem Augenblick den Zweck ihres Daseins, indem sie nie weiter als über ihr gegenwärtiges Leben nachdenken (vgl. III, S. 276 u. v. a. III, S. 294). Dieses Bild einer idyllischen Natur ist jedoch von Anfang an durch den Blick des zuschauenden Tagebuch- bzw. Briefschreibers gebrochen: Der ‚Geisterseher‘ – womit hier ein Phantast, ein zur Schwärmerei bzw. zum melancholischen Nachdenken neigender Mensch gemeint ist – unterbricht nämlich die Harmonie des Geschauten durch seine „Fragesucht“ (III, S. 279), durch die ständigen Zweifel seiner „verwundete[n]“ oder „trübe[n] Seele“, durch seine „kranke“ oder verstimmte Phantasie (vgl. III, S. 275), die ihn grundsätzlich alle Beruhigungen der Theodizee über den Sinn des Lebens bzw. über das Leben nach dem Tod, über den Glücksanspruch des Einzelnen und über die Ursache des Übels und des Leides in der Welt in Frage stellen lässt. Bald wird deutlich, dass die harmonischen Naturbilder nichts anderes als Projektionen des melancholischen Subjekts in selbsttherapeutischer Absicht sind:18 Der Anblick der wollichten Herde unter dem Schatten eines Baumes, in das grüne Grase gelagert, hat etwas Aug’ und Herz Erquickendes für mich, das zugleich die Seele unvermerkt erhebt, und sie für jeden Eindruck aus der Natur empfänglicher macht – die weiße weiche Wolle – das sanfte Grün – die ovalgeründeten Blätter – der zierliche gekräuselte Schatten – vereinigen sich zusammen, um in der Seele ein Bild auszumalen, wodurch jede Nerve harmonisch vibriert, und indem auf die Weise unser Blick das Weltall, auch nur in einem einzigen seiner Punkte, gleichsam von der rechten Seite faßt, von welcher es der höchste Verstand selbst mit Wohlgefallen durchschaut, wo sich alle anscheinende Disharmonie in Harmonie auflöset. (III, S. 275)

Jedes Mal, wenn der Geisterseher von Zweifeln geplagt wird, nimmt er sich vor, sich an solche idyllischen Bilder der Natur zu halten:

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Vgl. ähnlich Geßner in der Idylle Als ich Daphnen auf dem Spaziergang erwartete, Geßner: Idyllen, S. 65. Natürlich denkt man bei diesem Passus auch an Klopstocks Frühlingsfeier oder an Werthers Brief vom 10. Mai. Allerdings hat auch dieser Werther’sche Brief in Geßners Idyll Damon. Daphne ein mögliches Vorbild, vgl. Geßner: Idyllen, S. 33. Vgl. Rau: Identitätserinnerung, S. 248.

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Wer rettet mich von dieser Fragesucht, die mich so unwillkürlich anwandelt – warum führen meine Gedanken mich in unübersehbare Labyrinthe? – Nie werde ich auf diese Art einen Ausweg finden. […] So will ich denn den Lauf meiner Gedanken hemmen, und meine Sinne dem Genuß der schönen Natur eröffnen – ich will meine große Lehrerin fragen, und auf ihre sanfte Stimme horchen. […] Ich will sie am Wasserfall, in der Dunkelheit des Waldes und in ihren Höhlen und Felsengrotten belauschen – ich will sie beschwören, mir das undurchdringliche Geheimnis meines Daseins aufzuschließen – So lange will ich aus ihrem reinen Lichtstrom schöpfen, bis meine Gedanken klar genug sind, um den milden Strahl der Wahrheit aufzufassen. (III, S. 279. Hervorhebungen A. C.)

Ein unmittelbares Produkt dieses voluntaristischen Harmoniebedürfnisses scheint auch der Hirtenknabe zu sein. Im folgenden Brief erzählt der Geisterseher, ihn auf dem Gipfel eines Berges getroffen zu haben, wo er im Gras gelegen und in der Sonne das Gesicht seines verstorbenen Vaters Sonnenberg zu erblicken versucht habe (III, S. 280). Nicht von ungefähr gesteht der Briefschreiber, dass er sich nach einem „stundenlange[n] Gespräch über einige der erhabensten Gegenstände des Denkens“ zu fürchten begonnen habe, „daß dieser Hirtenknabe kein wirklicher Hirtenknabe, sondern ein bloßes Geschöpf meiner Einbildungskraft, und seine Reden vielleicht das bloße Echo meiner eigenen Gedanken sein“ (III, S. 285) könnten. Nicht anders scheinen ihm auch die vom Hirtenknaben aufbewahrten Papiere seines Vaters „das Resultat meines eigenen langen Nachdenkens“ zu enthalten und nicht das Werk eines Bauern zu sein (III, S. 281). Kurz darauf entdeckt er in der Tat, dass Sonnenberg kein Bauer und auch kein Hirte, sondern eine Art Seelenverwandter, ein „Geisterseher von der edlern Art“ (III, S. 283) gewesen ist, der in seiner Bibliothek Homer, Ossian, Milton, Horaz, Rousseaus Emil und auch Geßners Idyllen besaß (III, S. 282), d. h. die wichtigsten Quellen der in diesem kleinen Werk von Moritz enthaltenen Gedanken und Vorstellungen. Durch den Verweis auf die literarischen Quellen wird die dargestellte Idylle auf einen Schlag jeder Unmittelbarkeit und Natürlichkeit beraubt. 19 Weit davon entfernt, reine und ursprüngliche Natur zu sein, ist sie nur die therapeutische Projektion eines „sentimentalischen“ Schwärmers, der voluntaristisch und nach literarischen Mustern in der Natur jene Harmonie und Vollkommenheit sucht, die er in der eigenen, von „Verwirrung und Unordnung, Unglück und Jammer“ (III, S. 276) beherrschten Gegenwart nicht mehr findet. Indem die Idylle das Weltall „gleichsam von der rechten Seite faßt, von welcher es der höchste Verstand selbst mit Wohlgefallen durchschaut, _____________   19

Andererseits haftet der Gattung der Idylle bereits seit ihrem Ursprung eine gewisse sentimentalische Künstlichkeit an.

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wo sich alle anscheinende Disharmonie in Harmonie auflöset“ (III, S. 275), soll sie eine Antwort auf die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer massiver werdenden Anfechtungen des Glaubens an die Theodizee darstellen.20 Die Entlarvung ihres voluntaristischen Projektionscharakters vereitelt jedoch diese Strategie und zwingt den Geisterseher – und mit ihm Moritz –, auf andere Erklärungen für die nun durch die Flucht in die Idylle nicht mehr wegzuleugnende Existenz der Übel und des Leidens auf der Welt zu rekurrieren. 2. Die Theodizee nach dem Muster des Sündenfalls Ein Erklärungsmuster für die Existenz des Übels und des Leids, das zugleich die Idee der Idylle retten kann, ist die Geschichte des Sündenfalls, also die Vorstellung einer selbstverschuldeten Entfernung der ganzen Menschheit von ihrer ursprünglichen, idyllischen Naturverbundenheit. Es wundert daher nicht, wenn der Geisterseher ganz rousseauistisch nach der „verbotenen Frucht“ fragt, die diese negative Entwicklung und den Verlust des idyllischen Ursprungs eingeleitet hat: Welches ist denn nun die verbotene Frucht, von welcher wir gekostet haben, und die Erkenntnis des Guten und Bösen dadurch erlangt haben? Sind es die Künste und Wissenschaften? Ist es der Handel, ist es der Ackerbau? Sind dies Abweichungen von der Natur, die sich durch sich selbst bestrafen? Oder sind diese Abweichungen eben so natürlich, wie die Natur selbst? Wenn sie es sind, warum ist denn in allen menschlichen Einrichtungen so viel Schiefes und Verkehrtes? Warum ist in die menschlichen Einrichtungen wirkliches Elend verwebt? (III, S. 299f.)

Die zunächst kultur- und sozialgeschichtlichen Überlegungen weichen der metaphysischen Frage nach dem Grund für das Leiden auf der Welt. Daraufhin rekurriert Moritz nicht zufällig auf Epikur und dessen aporetische Gedanken zur Willensfreiheit:21 Ist es denn dem freien Willen des Menschen möglich, in dieser schönen Schöpfung Gottes etwas zu verderben, so ist er ja wirklich Gott gleich. So läßt sich da wirkliche Empörung der Geschöpfe gegen den Schöpfer, der endlichen Wirkung

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Schon bei Geßner erkennt Böschenstein „halbunterdrückte Theodizee-Zweifel“, Böschenstein, Renate: „Idyllisch/Idylle“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Harmonie – Material. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. Stuttgart, Weimar 2001, S. 119–138, Zitat S. 125. Vgl. Epikur: „Fragment 374“. In: Ders.: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlungen, Fragmente. Eingeleitet und übertragen von Olaf Gigon. Zürich, Stuttgart ²1968, S. 136.

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gegen die unendliche Ursach denken? Oder vielmehr die Ursach ist denn selbst nicht mehr unendlich, weil sie durch ihre eignen Wirkungen wiederum eingeschränkt wird. Oder ist die Freiheit der endlichen Wesen nur anscheinend? So wäre denn dies wunderbare Ganze eine aufgezogene Uhr, die von selber abläuft, und Krieg, Unterdrückung, und alle die mißtönenden Zusammenstimmungen der menschlichen Verhältnisse woraus das wirkliche Elend erwächst, wären also dem Schöpfer ein wohlgefälliges Spiel. Und was wäre das für ein Schöpfer? Wer bebt nicht mit Schaudern vor diesem Abgrunde zurück! (III, S. 300)

Moritz ist nicht bereit, Gott die Verantwortung für das ‚wirkliche Elend‘ in den menschlichen Einrichtungen zuzuschreiben; er weigert sich aber zugleich auch, die Schuld bei den Menschen allein zu suchen. Diese Position ist Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland nicht singulär; man denke etwa an Johann Gottfried Herder, Jakob Michael Reinhold Lenz, Immanuel Kant oder Friedrich Schiller, die trotz ihrer großen RousseauVerehrung dessen angebliche Aufforderung zu einer Umkehrung der geschichtlichen Entwicklung nicht teilen konnten und dementsprechend auch den Sündenfall als die Geburtsstunde der menschlichen Freiheit ins Positive uminterpretiert haben.22 3. Dynamisierung der Kette der Wesen Wenn aber auch die Sündenfallgeschichte als Erklärung des Übels und des Leids auf der Welt nicht mehr funktioniert, so muss Moritz auf ein anderes Deutungsmuster zurückgreifen. Und er geht dabei den gleichen Weg, der schon von Herder und Kant eingeschlagen worden ist und bis zu Hegels Begründung der Geschichtsphilosophie führt, indem er die Theodizee als Historiodizee begreift und das Leiden als notwendige Folge der geschichtlichen Entwicklung interpretiert.23 _____________   22

23

Vgl. etwa Kant, Immanuel: „Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte“. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1972, S. 83–102, v. a. S. 92ff., 100f.; Schiller, Friedrich: „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe, Bd. XVII. Historische Schriften. Erster Teil. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, S. 398–413, insbes. S. 399–401. Vgl. hierzu Costazza: Genie und tragische Kunst, S. 361–364. Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Costazza: Genie und tragische Kunst, S. 341ff. Allgemein zur Krise der Theodizee und zu deren Fortsetzung durch die idealistische Geschichtsphilosophie: Marquard, Odo: „Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts“. In: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1991, S. 39–66.

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Wie schon Kant in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) geht auch Moritz von einem biologistischen Gesetz aus,24 das eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den heutigen physikalischen Bestimmungsversuchen des Lebens aufweist. Nach diesen Theorien unterscheidet sich nämlich das Lebendige vom Leblosen dadurch,25 dass ersteres scheinbar dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widerspricht, nach dem in jedem System die Entropie (die Unordnung) zunimmt, während der Organismus seine eigene Ordnung aufrechterhält. Das vermag dieser aber, als offenes System, nur auf Kosten des Gesamtsystems (also seiner Umgebung), indem er weitere organisierte Stoffe (mit niedrigerer Entropie) aufnimmt und diese mit höherer Entropie an die Umwelt zurückgibt. Dieser Prozess, der durch Essen, Trinken, Atmen und im Falle der Pflanzen durch Assimilation geschieht, ist der Stoffwechsel, den man auch als Austausch von Energie oder Ordnung verstehen kann. Nicht anders versteht auch Moritz das Leben – er hat dies in Sonnenbergs Aufsatz Über Zusammenhang, Zeugung und Organisation in den Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers ausgeführt – als das Produkt eines Zwanges – d. h. freier Energie oder negativer Entropie –, „der die Teile der Körper zusammenhält“, während sie ihrer „innigste[n] Natur“ nach – nach dem Entropiegesetz – danach streben, „aufgelöst, außereinander, nicht mehr zu einem Ganzen untergeordnet, sondern sich gleich zu sein“: Die Zusammensetzung ist gleichsam ein Zwang, eine Unterjochung der Teile, die wieder in ihrer natürlichen Freiheit zu sein streben, so wie die in einen Staat zusammengezwängten Menschen, dies natürliche Freiheitsgefühl nie ganz unterdrücken können. Das Zusammengesetzte läßt sich nie ohne Streit, Krieg, Gegeneinanderstreben denken, die Ruhe ist in der Auflösung, in der Gleichwerdung, in der Absonderung der Teile. Allein, wenn Leben, Organisation, und Bewegung sein soll, so kann sie nicht anders, als durch diesen Zwang der widerstrebenden Teile zu einem Ganzen erhalten werden. (III, S. 287f.)

Moritz führt alsdann auf diesen negentropischen „Zusammenhangstrieb“ auch den Trieb zur Fortpflanzung zurück, der durch die innigste „Vereinigung zweier sich ähnlicher außereinander bestehenden körperlichen Wesen“ (III, S. 288f.) zur Entstehung neuen Lebens führt. Obwohl dieser „höchste Grad des Zusammenhangs“ auch den „höchste[n] Grad des Vergnügens, _____________   24 25

Vgl. Kant, Immanuel: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1972, S. 33–50, insbes. S. 35. Vgl. zum Folgenden Schrödinger, Erwin: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. München 1951, S. 95–104.

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welcher Wollust heißt“ (III, S. 287), mit sich bringt, hört das entropische Streben nie endgültig auf. Dies erklärt auch, warum gerade das Geformte und Zusammengesetzte desto zerstörbarer ist, weil nämlich seine Teile wieder nach der Vereinzelung streben, in der allein Ruhe und Erleichterung gegeben sind: Das voneinander Abgesonderte hat einen Hang, eine Tendenz, ein Streben, zusammenzusein. Diese Tendenz oder dies Streben bleibt demohngeachtet immer etwas Zwangvolles, welches durch die Fortpflanzung immer aufs neue wieder erweckt und aufgefrischt werden muß, wenn es fortdauern soll. Es ist leichter voneinander als aneinander lose als fest – – zu sein. – Man könnte sagen, daß es leichter sei, Staub, als eine Blume oder Pflanze zu sein, wo jedes Staubteilchen seinen bestimmten angewiesenen Platz einnehmen und behalten muß, wenn die Ordnung und Schönheit des Ganzen nicht zerstört und zerrüttet werden soll. Das Zusammenhalten ist immer mit Anstrengung, das Loslassen mit Erleichterung verbunden. (III, S. 290)

Im letzten Teil der Bildenden Nachahmung des Schönen wird Moritz dieses Gesetz weiter ausführen und es auf die im ganzen 18. Jahrhundert populäre Vorstellung von einer dynamisierten „Kette der Wesen“26 anwenden. Demnach greift jedes natürliche Wesen in den Zusammenhang der Teile der niedrigeren Organismen ein, löst sie in ihre Bestandteile auf und gibt diesen neue Bildung und Form, indem es sie in sich aufnimmt und somit auf eine höhere Stufe der Leiter der Wesen erhebt (II, S. 569). Die höhere Organisation büßt alsdann aber für die angerichtete Zerstörung durch eine größere Zerstörbarkeit, die sie ihrerseits zum Opfer höherer Wesen macht (II, S. 573). Dieses Gesetz der Bildung durch Zerstörung geht durch alle natürlichen Bereiche hindurch, von den Mineralien zu den Pflanzen, den Tieren und bis zu den Menschen und ihrer Kultur (III, S. 569): Jede wenn auch notwendige Erhöhung wird mit Anstrengung und Leiden bezahlt, so

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Vgl. zu dieser Idee: Lovejoy, Arthur: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a.M. 1985, zur Verbreitung dieser Idee im 18. Jahrhundert und zur Dynamisierung der Idee insbesondere die Kapitel VI–IX, S. 221–345. Vgl. zur Idee der ‚Kette der Wesen‘ und zu ihrer Verbreitung v. a. in Deutschland auch: Saine, Thomas P.: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühaufklärung mit der neuen Zeit. Berlin 1987, S. 37–67. Saine gebührt zweifellos der Verdienst, die Moritz’schen Vorstellungen über die natürliche Entwicklung auf diese Tradition zurückgeführt zu haben, vgl. Saine, Thomas P.: Ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts. München 1971, S. 52ff.

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dass dieses leidvolle und trotzdem unausweichliche Gesetz der Bildung wohl als ,tragisch‘ bezeichnet werden kann.27 4. Bejahung der Geschichte Bereits in den Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers wird der Zusammenhang zwischen diesem ,tragischen‘ biologischen Gesetz und der menschlichen Geschichte angedeutet, wenn der Staat und die menschliche Kultur metaphorisch als zwanghaft zusammengesetzte „Staats-Körper“ beschrieben und mit dem Bedürfnis des Einzelnen nach Ruhe, Erleichterung und Glückseligkeit kontrastiert werden (vgl. III, S. 290, 298). Auf der einen Seite bedauert Sonnenberg im Rekurs auf Kant,28 dass er das von Generationen mühevoll geschaffene ‚Gebäude‘ der menschlichen Kultur nicht endlich bewohnen und genießen kann, statt immer weiter daran zu arbeiten (III, S. 290); auf der anderen Seite weiß er, dass eine Rückkehr in den Naturzustand weder möglich noch wünschenswert ist, selbst wenn die „höchstmögliche Vereinzelung der Menschen, vielleicht der einzige Zustand [ist], worin sie noch glücklich sein könnten“ (III, S. 298): Und doch, würde ich, wenn die Menschen in dem Zustande geblieben wären, in diesem Augenblick über Glückseligkeit denken und schreiben können? Ich dürfte dann, weder darüber denken, noch schreiben; denn was ich suchte, wäre schon da; es böte sich mir von selber in jedem Augenblick meines Lebens dar; es wäre mit meiner Natur verwebt. Was ist denn nun wahre Glückseligkeit: über die Glückseligkeit denken zu können weil man sie einmal verloren, und mit der Unglückseligkeit verglichen hat? oder die Glückseligkeit bloß zu genießen, ohne darüber denken zu können? Ist der ungetrübte Genuß so viel wert, daß ich darüber auf das Denken gern Verzicht tue, oder ist das Denken so viel wert, daß ich darüber auf den ungetrübten Genuß Verzicht tue? Wenn ich einmal gedacht habe, so kann ich mich nie wieder in den Zustand des Nichtdenkens versetzen – – (III, S. 298)

Der Geisterseher bejaht hier die kulturgeschichtliche Entwicklung der Menschheit und ist sogar bereit, dem paradiesischen Naturzustand zu entsagen, um auf das Denken nicht verzichten zu müssen. Diese Position zeigt deutlich, dass Moritz nie an die Möglichkeit einer Rousseau’schen Rückkehr zum „verlorene[n] Paradies“, zum „goldene[n] Zeitalter der Vergangenheit“ geglaubt hat.29 Noch in ΑΝΘΟΥΣΑ oder Roms _____________   27 28 29

Vgl. ausführlicher: Costazza: Genie und tragische Kunst, S. 347ff. Vgl. Kant: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, S. 37. So interpretiert dagegen Saine Moritz’ Auffassung der Geschichte, vgl. Saine: Ästhetische Theodizee, S. 86.

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Alterthümer (1787) wird Moritz diese Unmöglichkeit ausdrücklich unterstreichen: Denn so angenehm auch „die Vorstellung von einer solchen Unschuldswelt in der Phantasie [ist], die nichts aufzuopfern brauchte, um sich ganz in solche Zeiten zu versetzen“, so wird sich jeder Mensch, der „einmal die Begriffe von den großen Dingen und Ereignissen“ der späteren Geschichte besitzt, doch nur ungern „in ein solches goldenes Zeitalter, wo nichts war, das Aufsehen machte“, wirklich zurückversetzen wollen (II, S. 500). Noch radikaler bejaht der Geisterseher die Geschichte, wenn er auf die Idylle zurückgreift, um ihr, ähnlich wie später Hegel, das heroische Gedicht entgegenzusetzen: Aber freilich ist das Weiden der Schafe das Allerunschuldigste Geschäft eines Sterblichen: So daß auch die Dichtkunst hier ihren Stoff hernehmen mußte, da sie vollkommen glückliche, zufriedene und unschuldige Menschen schildern wollte. Aber freilich, wenn alle Menschen Schafe gehütet hätten, so wären sie zwar an sich wohl ganz glücklich gewesen. Aber was wäre denn aus unsrer Geschichte geworden? Wo hätten wir von Schlachten zu Land’ und zur See, von eroberten Städten, von Feldherrntugenden, von Heldenmut und Tapferkeit, von Bündnissen und Staatsverfassungen zu hören und zu lesen bekommen? Dieser Welt von Ereignissen, die nun auf dem Schauplatz und in der Geschichte eine so angenehme Wirkung auf unsre Einbildungskraft tut, wären wir dann verlustig gegangen. Wo hätte dann der Stoff zu einer Iliade, zu einer Aeneide herkommen sollen? […] Wahrlich um so viele große und majestätische Dinge, sich zusammenzudenken, verlohnt es sich doch wohl noch der Mühe, unglücklich zu sein. (III, S. 301)

Genauso wie Bernard de Fontanelle das in der Idylle dargestellte pastorale Leben als Ausdruck der Ruhe (tranquillité) bzw. der natürlichen Faulheit (paresse) des Menschen und des Müßigganges (oisiveté) auffasst,30 so ist auch für Moritz das idyllische Leben der Hirten das gesellschaftliche Analogon jener Ruhe und jener ‚Erleichterung‘ des entropischen Loslassens, der Gleichwerdung aller Teile, in der allein das Glück stattfinden kann. Dieses Glück steht aber zur ‚Organisation‘ und ‚Bewegung‘, genauer zum ‚Leben‘ selbst im Widerspruch, das notwendig ‚Zwang‘, ‚Streit‘ und ‚Krieg‘ voraussetzt. Aus diesem allgemeinen biologischen Gesetz leitet also Moritz eine Absage an die Idylle und eine dezidierte Bejahung der Geschichte ab, die in die Nähe von Hegels Auffassung der Geschichtsphilosophie als Historiodizee führt. Die Argumentation des Geistersehers bedient sich jedoch auch eines ästhetischen Arguments zur Rechtfertigung des Übels und des _____________   30

Vgl. Fontenelle, Bernard de: „Discours sur la nature de l’églogue“. In: Œuvres de Monsieur de Fontenelle. Nouvelle Édition, Tome quatrième. Paris 1758, S. 125–169, besonders S. 136–140.

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Leids auf der Welt, welche „in der Geschichte, im Trauerspiel, und in Gedichten […] mit Wohlgefallen“ betrachtet werden (III, S. 302), eine Position, die Moritz den Vorwurf des ‚Zynismus‘ oder gar ‚inhumanen‘ Ästhetizismus eingebracht hat.31 In Wirklichkeit bewegt sich jedoch der Diskurs an dieser Stelle, wie die vielen Anspielungen auf Topoi der damaligen Diskussion über das Erhabene und der wiederholte Verweis auf den ‚Schauplatz‘, auf das ‚Schauspiel‘, auf das ‚Trauerspiel‘ und allgemein auf die Dichtung verraten, auf einer poetologischen Ebene, indem die Kunst der ungestörten und glücklichen Idylle durch eine Auffassung der Tragödie ersetzt wird, die ihrerseits nicht nur Hegel, sondern auch Nietzsche vorwegnimmt.32 5. Geschichtsphilosophie als Historiodizee bei Kant und Hegel Bereits Kants schon erwähnte Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht enthält eine entschiedene Absage an die Idylle, die bezeichnenderweise mit einer historischen Erklärung der Übel und Leiden der Welt einhergeht. Kant weist dort das im schönen Bild eines arkadischen Lebens enthaltene Glücksversprechen ausdrücklich zurück und opfert es auf dem Altar einer mit „Anspannung der Kräfte“, „Arbeit und Mühseligkeiten“ verbundenen Fortschrittsidee:33 Ohne jene, an sich zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen notwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben, bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe, alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen.34

Alle „ungeselligen Leidenschaften“ wie „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht“, alle menschlichen Laster und alle Übel auf der Welt werden somit als Ansporn zur Überwindung des menschlichen „Hang[s] zur Faulheit“ und für die Entwicklung der menschlichen Anlagen, demnach für die Verbreitung einer als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst _____________   31

32 33 34

Von „bitterer Ironie“ schreibt Saine, ders.: Ästhetische Theodizee, S. 81, während Rau von „Satire“ redet, ders.: Identitätserinnerung, S. 263f. Als Ausdruck eines inhumanen „Ästhetizismus“ interpretiert hingegen Scheible diesen Passus, vgl. Scheible, Hartmut: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern, München 1983, S. 215f. Vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst, S. 397ff. Vgl. Kant: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, S. 38f. Ebd., S. 38.

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verschuldeten Unmündigkeit“35 verstandenen „fortgesetzte[n] Aufklärung“ betrachtet. Weit davon entfernt, gegen die Weisheit Gottes zu sprechen und die „Hand eines bösartigen Geistes zu verraten, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischer Weise verderbt habe“, bezeugen die Übel in der Welt „die Anordnung eines weisen Schöpfers“, da sie den Menschen „zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu mehrerer Entwickelung der Naturanlagen antreiben“.36 Wie Kant in der Kritik der Urteilskraft weiter ausführt, stellen nämlich der Mensch und seine „Glückseligkeit auf Erden“37 keinesfalls den Endzweck der Natur, sondern nur ein Werkzeug, ein Mittel auf dem Weg der geschichtlichen Entwicklung, dar. Eine ähnliche Auffassung der Geschichte vertritt auch Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. „Die Weltgeschichte“ bezeichnet er dort ausdrücklich als „Schlachtbank, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht“38 werden. Sie „ist nicht der Boden des Glücks“,39 weil sich der Weltgeist durch die „List der Vernunft“40 der partikulären Interessen und Leidenschaften, der Selbstsucht, der Gewalttätigkeit und des Unverstandes der Menschen bedient,41 um alles Einzelne – die Individuen genauso wie die einzelnen Staaten oder Völker – als bloße „Mittel und Werkzeuge“42 zur Realisierung seines Zweckes zu gebrauchen. Aus diesem Grund ist nach Hegel auch das Schicksal der „großen Menschen“ bzw. der „welthistorischen Individuen“ oder der „Heroen“ „kein glückliches“: „Zum ruhigen Genusse kamen sie nicht, ihr ganzes Leben war Arbeit und Mühe“.43 Gerade eine solche Auffassung der Weltgeschichte, zu der die Aufopferung des Einzelnen und seines Glückanspruchs notwendig gehört, bildet aber nach Hegel „eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes“, weil

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Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ In: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1972, S. 53–61, Zitat S. 53. Auch in diesem Aufsatz sieht Kant in der ‚Faulheit‘ eine der wichtigsten Ursachen der menschlichen Unmündigkeit. Kant: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, S. 39. Kant, Immanuel: „Kritik der Urteilskraft“. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. X. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1972. S. 387ff. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Redaktion Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1970, S. 35. Ebd., S. 42. Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 34f. Ebd., S. 41. Ebd., S. 45f.

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sie „das Übel in der Welt“ begreifen lehrt und den „denkende[n] Geist mit dem Bösen versöhnt“.44 Einer solchen Historiodizee kann aber offensichtlich nicht mehr die poetische Form der Idylle entsprechen, die per definitionem keine geschichtliche Entwicklung geschweige denn geschichtliche Konflikte kennt. Dies mag auch der tiefere Grund dafür sein, dass Hegel in seinen ästhetischen Vorlesungen das „Idyllische“ stets als „langweilig“ und „von geringfügigem Interesse“ aus dem Bereich des „Kunstschönen“ ausgeschlossen hat.45 In der Einführung zur Philosophie der Geschichte sagt er nämlich unmissverständlich, dass er an die Existenz eines ursprünglichen Zustandes der Freiheit und Glückseligkeit nicht glaubt, weil „der Naturzustand vielmehr der Zustand des Unrechts, der Gewalt, des ungebändigten Naturtriebs, unmenschlicher Taten und Empfindungen“ war, während die Freiheit „erworben und erst gewonnen werden [muss], und zwar durch eine unendliche Vermittlung der Zucht des Wissens und des Wollens“.46 Die in der „Vorstellung eines sogenannten Goldenen Zeitalters oder auch eines idyllischen Zustandes“ enthaltene Idee der Unabhängigkeit des Menschen von allen natürlichen Bedürfnissen und das Fehlen aller „Leidenschaften des Ehrgeizes oder der Habsucht“ sind für ihn Zeichen einer Flucht aus der Wirklichkeit und einer „beschränkten Lebensart“, die „auch einen Mangel der Entwicklung des Geistes voraus[setzt]“, weswegen „der Mensch […] nicht in solcher idyllischen Geisterarmut hinleben“47 darf, sondern sich aktiv durch die Arbeit mit seiner Umwelt auseinandersetzen muss. Aus diesem Grund zieht Hegel der ‚langweiligen‘ Idylle die heroische Dichtung vor, in der auch „das Üble und Böse, Krieg, Schlachten, Rache nicht ausgeschlossen“48 sind. Noch mehr entspricht jedoch die Tragödie mit ihrer dialektischen Struktur, die das Allgemeine gerade durch die Aufopferung bzw. Aufhebung des Individuellen sichtbar macht,49 einer solchen ‚heroischen‘ Auffassung der Geschichte.50 _____________   44 45

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Ebd., S. 28. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13. Vorlesungen über die Ästhetik. Frankfurt a.M. 1970, S. 250, 335f. Böschenstein spricht von „Hegels verständnislose[m] Urteil über die Gattung“, ohne jedoch auf die Gründe dieses Urteils einzugehen, vgl. Böschenstein: „Idyllisch/Idylle“, S. 131f. An anderer Stelle definiert sie „Hegels negatives Urteil [als] eine Sache des Zeitgeschmacks“, Böschenstein: Idylle, S. 14. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 58f. Ebd., S. 335f. Ebd., S. 252f., 337f. Vgl. Hölderlin, Friedrich: „Die Bedeutung der Tragödien“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 4. Der Tod des Empedokles. Teil 1. Text und Erläuterungen. Hg. v. Friedrich Beißner. Stuttgart 1961, S. 274. Vgl. zur dialektischen Struktur der idealistischen Auffassung der Tragödie: Szondi, Peter: „Versuch über das Tragische“. In: Ders.: Schriften I. Theorie des modernen Dramas (1880–1950).

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III. Ästhetische Rechtfertigung: Idylle vs. Tragödie in der Götterlehre Genauso wie Hegel distanziert sich auch Moritz von der Idylle zu Gunsten der Tragödie, und zwar nicht nur implizit im zitierten Passus aus den Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers, in dem er die Notwendigkeit des Leidens in der geschichtlichen Entwicklung ästhetisch als Inhalt der künstlerischen Darstellung gerechtfertigt hatte, sondern noch viel eindeutiger in seiner Götterlehre. Da dieses Werk die ganzen „mythologischen Dichtungen der Alten“ als beschwerlichen, mit Anstrengung und Leid verbundenen Übergang vom „Unförmlichen und Ungebildeten“ (II, S. 617) zur Form und Bildung interpretiert,51 nimmt es kein Wunder, dass darin das „goldene Zeitalter unter die Regierung des Saturns“ fällt, der noch zu den vorolympischen, unförmigen Gottheiten gehörte: Wie die Götter, lebten die Menschen damals, als noch Freiheit und Gleichheit herrschte, in Sicherheit, ohne Mühe und Sorgen, und von den Beschwerlichkeiten des Alters unbedrückt. Die Erde trug ihnen Früchte, ohne mühsam bebaut zu werden; unwissend, was Krankheit war, starben sie, wie von sanftem Schlummer übermannt; und wenn der Schoß der Erde ihren Staub aufnahm, so wurden die Seelen der Abgeschiedenen, in leichte Luft gehüllt, die Schutzgeister der Überlebenden. So schilderten die Dichter jene goldenen Zeiten, worauf die Phantasie, von den geräuschvollen Szenen der geschäftigen Welt ermüdet, so gern verweilt. (II, S. 632)

Erst mit dem Anbruch der Form, unter der Herrschaft des Jupiter, treten dagegen auch Mühe und Zwang an den Tag, so dass „die Sterblichen die Mühebeladensten unter allen Geschöpfen [wurden] und die Dichter […] die Arbeit und die Beschwerden des kummervollen Lebens der Menschen immer im Gegensatz gegen den sorgenfreien Zustand der seligen Götter“ (II, S. 632) schildern. Nicht etwa in der Idylle, in einer poetischen Erinnerung an jenen früheren glücklichen Zustand, suchen jedoch die Menschen nach Moritz Trost, sondern ganz umgekehrt in den „tragischen Dichtungen“, welche „die schmerzlichsüße Teilnehmung an dem Jammer der Vorwelt weckten und ein ganzes mitempfindendes Volk zur höhern Bildung veredelten“ (II, S. 809). Diese tragischen Schauspiele vermögen sie _____________  

51

Frankfurt a.M. 1978, S. 149–260. Nicht von ungefähr dient etwa Sophokles’ Antigone im vierten Kapitel von Hegels Phänomenologie des Geistes sozusagen als Muster von den wichtigsten Konflikten und deren dialektischen Überwindungen, die der Geist auf seinem Weg zur Selbsterkenntnis zurücklegen muss. Vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst, S. 385–396.

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nämlich mit ihrem eigenen unvermeidlichen Schicksal zu versöhnen und ihnen über ein als sympathetisches Einswerden verstandenes Mitleid das Gefühl ihrer eigenen Würde zu vermitteln, indem sie die Götter selbst der dunklen Gottheit des Fatums oder des Schicksals unterwerfen (vgl. II, S. 632, 808).52 Ähnlich wie für Kant und später für Hegel lässt sich also Moritz’ Absage an die Idylle im Rahmen der allgemeinen Krise der Theodizee gegen Ende des 18. Jahrhunderts und als Folge ihrer Ersetzung durch eine Historiodizee interpretieren. Während die Idylle in ihrer geschichtslosen Harmonie ein Analogon und eine ästhetische Bestätigung des traditionellen Theodizeegedankens darstellt, kann die dynamisierte Version der Theodizee, die in eine Historiodizee mündet, keinen Platz mehr für sie finden. Aus diesem Grund wird die Idylle durch die ‚heroische‘ Dichtung und noch mehr durch die Tragödie ersetzt, die dank ihrer dialektischen Struktur eine zweifellos angemessenere ästhetische Begründung des notwendig mit Leid, Zerstörung und Untergang des Einzelnen verbundenen historischen Prozesses darstellt.

Literaturverzeichnis Böschenstein, Renate: „Idyllisch/Idylle“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Harmonie – Material. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. Stuttgart, Weimar 2001, S. 119–138. Böschenstein, Renate: Idylle. Stuttgart 1967. Costazza, Alessandro: Genie und tragische Kunst. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern u.a. 1999. Epikur: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlungen, Fragmente. Eingeleitet und übertragen von Olaf Gigon. Zürich, Stuttgart ²1968. Fontenelle, Bernard de: „Discours sur la nature de l’églogue“. In: Œuvres de Monsieur de Fontenelle. Nouvelle Édition, Tome quatrième. Paris 1758, S. 125–169. Gessner, Salomon: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Theodor Voss. Stuttgart 1973. Goethe, Johann Wolfgang von: „Die Leiden des jungen Werther“. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6. Romane und Novellen 1. Hg. v. Erich Trunz. München 1982, S. 7–124. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 41751. Reprographischer Nachdruck. Darmstadt 1982. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13. Vorlesungen über die Ästhetik. Redaktion Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1970. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Redaktion Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M. 1970.

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Vgl. ausführlicher zu Moritz’ Auffassung der Tragödie und insbesondere ihrer ‚erhebenden‘ Funktion durch das Mitleid: Costazza: Genie und tragische Kunst, S. 429–464.

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Hölderlin, Friedrich: „Die Bedeutung der Tragödien“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 4. Der Tod des Empedokles. Teil 1. Text und Erläuterungen. Hg. v. Friedrich Beißner. Stuttgart 1961, S. 274. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“. In: Ders.: Werke, Bd. V. Hg. v. Norbert Miller. München 51987, S. 5–456. Kant, Immanuel: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1972, S. 33– 50. Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ In: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1972, S. 53–61. Kant, Immanuel: „Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte“. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1972, S. 83–102. Kant, Immanuel: „Kritik der Urteilskraft“. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. X. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1972, S. 387 ff. Koebner, Thomas: „Lektüre in freier Landschaft. Zur Theorie des Leseverhaltens im 18. Jahrhundert“. In: Leser und Lesen im 18. Jahrhundert. Hg. v. Reiner Gruenter. Heidelberg 1977, S. 40–57. Lovejoy, Arthur: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a.M. 1985. Marquard, Odo: „Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts“. In: Ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1991, S. 39–66. Moritz, Karl Philipp: „Fragmente aus dem Tagebuch eines Geistersehers“. In: Ders.: Werke, Bd. 3. Erfahrung, Sprache, Denken. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 271–322. Moritz, Karl Philipp: „ΑΝΘΟΥΣΑ oder Roms Alterthümer“. In: Ders.: Werke, Bd. 2. Reisen, Schriften zur Kunst und Mythologie. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 487–526. Moritz, Karl Philipp: „Über die bildende Nachahmung des Schönen“. In: Ders.: Werke, Bd. 2. Reisen, Schriften zur Kunst und Mythologie. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 549–578. Moritz, Karl Philipp: „Götterlehre oder Mythologischen Dichtungen der Alten“. In: Ders.: Werke, Bd. 2. Reisen, Schriften zur Kunst und Mythologie. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 609–842. Moritz, Karl Philipp: „Anton Reiser“. In: Ders.: Werke, Bd. 1. Autobiographische und poetische Schriften. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 33–399. Moritz, Karl Philipp: Deutsche Sprachlehre für die Damen. Berlin 1782. Rau, Peter: Identitätserinnerung und ästhetische Rekonstruktion. Studien zum Werk von Karl Philipp Moritz. Frankfurt a.M. 1983. Saine, Thomas P.: Von der Kopernikanischen bis zur Französischen Revolution. Die Auseinandersetzung der deutschen Frühaufklärung mit der neuen Zeit. Berlin 1987. Saine, Thomas P.: Ästhetische Theodizee. Karl Philipp Moritz und die Philosophie des 18. Jahrhunderts. München 1971. Szondi, Peter: „Versuch über das Tragische“. In: Ders.: Schriften I. Theorie des modernen Dramas (1880–1950). Frankfurt a.M. 1978, S. 149–260. Scheible, Hartmut: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern, München 1983.

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Schiller, Friedrich: „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe, Bd. XVII. Historische Schriften. Erster Teil. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, S. 398–413. Schrödinger, Erwin: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. München 1951.

 

Klassizistische Ansichten vom Volk. Überlegungen zu Idyllen von André Chénier und Eduard Mörike MARKUS WINKLER

I. Der Weg zu den klassizistischen Ansichten vom Volk Der Titel des vorliegenden Beitrags scheint paradox. Denn bekanntlich hat der europäische Klassizismus, solange er vom französischen Geschmack bestimmt blieb, eine Kunst hervorgebracht, in der die konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen, die Überlieferungen, Sitten und Gebräuche der Hirten, Bauern und Fischer nicht vorkommen. Am Ende des 17. Jahrhunderts muss der große Moralist Jean de La Bruyère sein Publikum noch daran erinnern, dass die fremden, elenden Wesen beiderlei Geschlechts, die man jenseits der Zivilisation auf dem Lande antreffe, nur äußerlich wilde Tiere, „des animaux farouches“, in Wahrheit aber Menschen seien: „[I]ls ont comme une voix articulée, et quand ils se lèvent sur leurs pieds, ils montrent une face humaine, et en effet ils sont des hommes.“1 Subhuman-barbarische Wesen scheinen sie zu sein, weil sie, wie La Bruyère beobachtet, isoliert in dreckigen Behausungen wohnen und für diejenigen, die im zivilisierten Gemeinwesen leben, harte körperliche Arbeit leisten, ohne die sich, wie er behutsam zu bedenken gibt, das Leben nicht reproduzieren könnte. Die Attribute des Tierischen, Sklavischen und aus dem Gemeinwesen Ausgeschlossenen sind seit der Antike konstante Merkmale der Semantik des Barbarischen; sie finden sich z. B. in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik _____________   1

La Bruyère, Jean de: Les Caractères de Théophraste traduits du grec avec Les Caractères ou les Mœurs de ce siècle. Hg. v. Robert Garapon. Paris 1962, S. 339, Abschnitt „De l’Homme“, Kap. 128. „Sie scheinen artikulierte Laute zu sprechen, und wenn sie sich auf ihren Füßen aufrichten, zeigen sie ein menschliches Gesicht, und tatsächlich sind es Menschen“, Übersetzung hier und im Folgenden von M. W.

Überlegungen zu Idyllen von André Chénier und Eduard Mörike

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und in seiner Politik.2 Seit dem späten Mittelalter werden sie auch auf die Landadligen und ihre Bauern übertragen. Denn diese Teile der Bevölkerung lebten aus Sicht der Städter jenseits der civilitas und ihrer Gesetzgebung.3 Es ist also nicht verwunderlich, dass die barbarisch anmutende Landbevölkerung sogar aus dem genus humile der Idylle ausgeschlossen bleibt: Unter Berufung auf Theokrit und Vergil pocht der Ancien Nicolas Boileau im zweiten Gesang seines Art poétique (1674) darauf, dass die Idylle nicht zur unbeschönigten Evokation des konkreten Landlebens erniedrigt werden dürfe.4 Der Bruch mit dieser Ausschließung des konkreten Landlebens aus der Idylle vollzieht sich im Laufe der Bemühungen, die Gattung rationalistisch zu rekonstruieren.5 Ausgangspunkt ist die Frage nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit, den Idyllen haben können, d. h. nach der Art ihres mimetischen Bezugs auf außertextliche Realität. Für Bernard le Bovier de Fontenelle, den ‚Modernen‘, ist die Idylle die Gattung, die Wunschbilder von „paresse“ und „amour“ vermittelt. Diese mächtigsten menschlichen „passions“ könne man am ehesten auf dem Lande ausleben. Eben deshalb dürfe die Idylle nur die angenehmen Seiten des Landlebens nachahmen; sie könne die Regel mimetischer Wahrscheinlichkeit also nur bedingt befolgen und begnüge sich mit einem „demi-vrai“, einer halben Wahrheit.6 An Theokrit, den von den Anciens gepriesenen Schöpfer der Gattung, _____________   2

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Vgl. Aristoteles: Ethica nicomachea. Hg. v. I[ngram] Bywater, Oxford 1975, S. 130 (VII, 1, 1145a 30) und S. 140 (VII, 5, 1149a 10); Aristoteles: Politique, Bd. 1. Hg. v. Jean Aubonnet. Paris 1991, S. 13 (1252b). Dazu und zur historischen Semantik des Barbarischen von der Antike bis zum frühen 19. Jahrhundert vgl. Winkler, Markus: Von Iphigenie zu Medea. Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. Tübingen 2009, S. 20–63, Zitat S. 31 u. 38. Vgl. Borst, Arno: „Barbaren. Geschichte eines europäischen Schlagworts“. In: Ders.: Barbaren, Ketzer und Artisten. München, Zürich 1988, S. 19–31, Zitat S. 25; Fisch, Jörg: „Zivilisation, Kultur“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7. Verw–Z. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u.a. Stuttgart 1992, S. 679–774, Zitat S. 694. Vgl. Boileau, Nicolas: „L’art poétique“. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. Georges Mongrédien. Paris 1961, S. 159–188, Zitat S. 165f. Zum Folgenden vgl. Schneider, Helmut J.: „Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie“. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74; Winkler, Markus: „De Gottsched à Voss, Chénier et Crabbe. Tradition pastorale et réalisme social: l’idylle en question“. In: Antiquitates Renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wirkung der Antike in der europäischen Literatur. Festschrift für Renate Böschenstein zum 65. Geburtstag. Hg. v. Verena Ehrich-Haefeli, Hans-Jürgen Schrader u. a. Würzburg 1998, S. 83–98. Fontenelle, Bernard le Bovier de: „Discours sur la nature de l’Églogue“ [1688]. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. 3. Hg. v. Georges-Bernard Depping. Genf 1968, Nachdruck der Ausgabe Paris 1918, S. 51–69, Zitate S. 56, 57, 59.

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ergeht der Vorwurf, den kruden Details und Mühseligkeiten des Landlebens noch viel zu viel Platz eingeräumt zu haben.7 Ähnlich wie Fontenelle äußert sich Alexander Pope in seinem Discourse on Pastoral Poetry (1717): „We must therefore use some illusion to render a Pastoral delightful; and this consists in exposing the best side only of a shepherd’s life, and in concealing its miseries.“8 Bei Johann Christoph Gottsched soll die Idylle dann wieder ein Ganzes nachahmen, nämlich das Schäferdasein des Goldenen Zeitalters, in dem die „Landleute“ noch nicht „armselige, gedrückte und geplagte Leute“ gewesen seien.9 Als Mimesis der historischen Idealzeit stellt die Idylle die erste, ursprüngliche Natur des Menschen dar. Salomon Geßner versieht in der Vorrede zu seinen Idyllen (1756) Gottscheds zugleich rationalistische und heilsgeschichtliche Rekonstruktion der Gattung mit einem empfindsamen Akzent: Die Idyllen seien „Scenen […] aus der unverdorbenen Natur“, die durch die Versetzung „in ein entferntes Weltalter“, eben das „goldene“, einen höhern Grad der Wahrscheinlichkeit [erhalten], weil sie für unsre Zeiten nicht passen, wo der Landmann mit saurer Arbeit unterthänig seinem Fürsten und den Städten den Überfluß liefern muß, und Unterdrükung und Armuth ihn ungesittet und schlau und niederträchtig gemacht haben.10

Keineswegs aber sollte der Dichter, wie Geßner in seinem Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim vom 29.11.1754 betont, „die Bilder und Gemälde aus dem wirklichen Landleben wegweisen, und die Schäferwelt nur zu einer poetischen machen wollen“.11 Auch die Idylle soll sich auf die außertextliche Wirklichkeit beziehen, aber sie kann es im Allgemeinen nur mittelbar. Dem entspricht das antikisierende Kolorit der überwiegenden Mehrzahl von Geßners Prosaidyllen (wichtige Ausnahmen sind in den Idyllen von 1756 Der Wunsch und in den Neuen Idyllen von 1772 Das hölzerne Bein. Eine Schweitzer Idylle). Zu diesem Kolorit tragen unter anderem die _____________   7 8 9 10 11

Vgl. Fontenelle: „Discours“, S. 58f. Pope, Alexander: „A Discourse on Pastoral Poetry“. In: Pastoral Poetry and An Essay on Criticism. Hg. v. Émile Audra u. Aubrey Williams. London u. a. 1961, S. 23–33, Zitat S. 27. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig 1730, S. 382. Geßner, Salomon: „An den Leser“. In: Ders.: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 1973, S. 15–18, Zitat S. 15f. Zitiert nach Geßner: Idyllen, S. 16, Anm. 1. Lächerliche Realitätsferne ist es jedoch, die Geßner schon von seinem Zeitgenossen Maler Müller vorgeworfen wird: „wo giebts dann Schäfer wie diese?“ fragt in Müllers „Die Schaaf-Schur. Eine pfälzischer Idylle“ (1775) der Bauer Walter, in: Müller, Friedrich, genannt Maler Müller: Idyllen. Hg. v. Peter-Erich Neuser. Stuttgart 1977, S. 65–98, Zitat S. 70. Vgl. auch Goethes 1772 erschienene Rezension von Geßners Idyllen. Abgedruckt in: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Hg. v. Helmut J. Schneider. Tübingen 1988, S. 169–172.

Überlegungen zu Idyllen von André Chénier und Eduard Mörike

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Figur des arkadischen Hirten und die retrospektive Orientierung an Vergils und vor allem Theokrits Idyllen bei: Am Ende der Vorrede von 1756 wird Theokrits angebliche „Einfalt der Natur“ und „Naivität“ gegen die „falsch-ekle Galanterie“ und den „Witz“ (im Sinne von esprit) der Franzosen ausgespielt.12 Es ist Johann Heinrich Voß, der als erster eine genuin klassizistische Ansicht vom Volk vermittelt, indem er in seinem Leibeigenen-Diptychon (1775) die traditionellen arkadischen Hirten durch Bauern seiner Zeit ersetzt, die in deutschen Hexametern sprechen und Topoi des locus amoenus verwenden, als handele es sich um natürliche Ausdrucksmittel des ungebildeten Volks. Diese kühne Aktualisierung der antiken Eklogenform schafft semantische Kontraste, die nicht etwa komisch wirken sollen. Vielmehr soll das Lesepublikum nun die Einfalt, Unverdorbenheit und Naivität, die Geßner in die antiken Modelle projiziert hat, unmittelbar als Norm erfahren, die wieder soziale Wirklichkeit werden muss; das ist die utopische Tendenz dieser klassizistischen Ansicht vom Volk.13 Sie ist insofern selbst naiv, als sie von den Ergebnissen der Querelle des anciens et des modernes und vom Gedanken der Perfektibilität absieht. Voß’ Bauern (die ausgebeuteten Leibeigenen und die unentfremdet arbeitenden Freigelassenen) sind im Gegenteil als direkte Nachfahren der vermeintlich naiveinfältigen Hirten Theokrits und Vergils konzipiert. Folglich soll der Glanz ursprünglicher, unverdorbener Humanität auf sie fallen. Merkmale des Subhuman-Barbarischen (erinnert sei an die eingangs zitierten Worte von La Bruyère) gehen nun auf die adeligen Unterdrücker über.14 Hingegen wird das Merkmal des göttlichen Heilsbringers, den Tityrus in Vergils erster Ekloge preist, nun dem Feudalherren zuteil, „de[m] lieben Baron“,15 der aus Einsicht seinen Leibeigenen die Freiheit schenkt und damit die Wiederkehr der goldenen Zeit bewirkt. Von Geßners empfindsamer Verklärung und Voß’ klassizistischer Überhöhung ländlicher Einfachheit heben sich die beiden Idyllen, von _____________   12 13

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Geßner: „An den Leser“, S. 17. Vgl. Schneider, Helmut J.: „Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder“. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423, Zitat S. 396f.; Schneider, Helmut J.: Bürgerliche Idylle. Studien zu einer literarischen Gattung des 18. Jahrhunderts am Beispiel von Johann Heinrich Voß. Diss. Bonn 1975, S. 24ff. Einer der beiden Leibeigenen porträtiert sie, naivem Volksglauben entsprechend, als Räuber und menschenfresserische Dämonen: „Sie fressen/ Blutiges Menschenfleisch, und trinken siedende Tränen“, Voß, Johann Heinrich: „Die Leibeigenschaft“. In: Ders.: Idyllen und Gedichte. Hg. v. Eva D. Becker. Stuttgart 1967, S. 5–18, Zitat S. 10. Zum hier sich manifestierenden Volksglauben vgl. Winkler: „De Gottsched à Voss, Chénier et Crabbe“, S. 89f. Voß: „Die Leibeigenschaft“, S. 14.

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denen im Folgenden die Rede sein soll, in dreifacher Hinsicht ab: Erstens kommen sie den antiken Modellen der Gattung insofern näher, als sie die Spannungen akzentuieren, die für diese Modelle charakteristisch sind, vor allem die Spannung zwischen Mimesis des vermeintlich Naiven und betonter Künstlichkeit; zweitens revidieren sie das unter anderem von Geßner und Voß ins einfache Volk projizierte, zugleich evasive und utopische Konzept ursprünglicher, unverdorbener Humanität; und drittens problematisieren sie das konstitutive Strukturmerkmal des Idyllischen, seine anthropologische Konstante, d. i. das Wunschbild eines, wie Renate Böschenstein-Schäfer hervorhebt, „eingegrenzten Raums, der vor Aggression von außen weitgehend geschützt ist“, so dass „Kunstübung, insbesondere Gesang, und erotische Leidenschaft“ im Zentrum stehen können.16 Die folgende Analyse der beiden Idyllen orientiert sich an diesen drei Aspekten.

II. André Chéniers Idylle La Liberté17 Diese Idylle, die 1787 entstand, aber erst 1819 – also 25 Jahre nach der Guillotinierung Chéniers – veröffentlicht wurde, variiert die Figurenkonstellation von Vergils erster Ekloge: Den Part des begünstigten Tityrus, der seine „libertas“ in Rom hat kaufen können,18 übernimmt hier ein Ziegenhirt (chevrier), der offenbar immer schon frei war, und den Part des enteigneten und von seinen Gütern vertriebenen Meliboeus ein zwar nicht verbannter, aber versklavter Schafhirt (berger). Gleich zu Beginn wird dieser von jenem als verstörend düsterer, unruhiger Fremdling angesprochen, jener von diesem als blonder Hirt, der sich Ruhe und Muße leisten kann. Dementsprechend erweist sich auch der locus amoenus als ein exklusives Privileg des Besitzenden. Dem Ziegenhirten, der den Schafhirten erstaunt fragt, wieso er die Einsamkeit des von der Sonne versengten, felsigen Berglands vorziehe, wird die Antwort zuteil: „Que m’importe? est-ce à moi qu’appartient ce troupeau? Je suis esclave.“ (V. 21f.).19 Mit derselben _____________   16 17 18 19

Böschenstein, Renate: „Idyllisch/Idylle“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2. Dekadent–Grotesk. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. Stuttgart, Weimar 2001, S. 119–138, Zitat S. 121. Chéniers Idylle wird im Folgenden nur mit Angabe der Verszahlen im fortlaufenden Text zitiert nach: Chénier, André: „La Liberté“. In: Ders.: Œuvres complètes. Hg. v. Gérard Walter. Paris 1958, S. 49–53. Vergil: „Bucolica I“, V. 27. In: Ders.: Landleben (Catalepton. Bucolica. Georgica). Hg. v. Johannes u. Maria Götte. Beigefügtes Werk: Vergil-Viten. Lateinisch und deutsch. Hg. v. Karl Bayer. Darmstadt 51987, S. 28–33, Zitat S. 28. „Was geht mich das an? Gehört mir diese Herde? Ich bin Sklave.“

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bitteren Feststellung weist der Schafhirt die Aufforderung zum bukolischen Flötenspiel zurück. Unter Berufung auf seine ‚Sklavenaugen‘ („des yeux d’esclave“, V. 74) spricht er sich sogar die Fähigkeit ab, den locus amoenus, der sich in den Worten des Ziegenhirten zum Bild des goldenen Zeitalters weitet, überhaupt als solchen wahrzunehmen; ihm zeigt er sich vielmehr als locus terribilis: Je n’y vois qu’un sol dur, laborieux, servile, Que j’ai, non pas pour moi, contraint d’être fertile; Où, sous un ciel brûlant, je moissonne le grain Qui va nourrir un autre, et me laisse ma faim. (V. 75–78)20

Der besitzlose Schafhirt erzwingt mit jeder seiner Repliken einen Wechsel der Perspektive: Durch die Schilderung seines Elends negiert er mit unerbittlicher Konsequenz die vom Ziegenhirten hymnisch gepriesene Schönheit und gottgegebene Fruchtbarkeit der Landschaft. Von der Zweiteilung der Einstellung zum Raum werden auch Religion, Eros, Moral und Recht erfasst: Der Ausgebeutete kann die Götter nur fürchten, nicht lieben wie der Besitzende, das Glück erotischer Erfüllung bleibt ihm versagt und er kennt nur das Gesetz des Stärkeren, das ihm sein barbarischer Herr aufzwingt, so dass er selbst nichts anderes sein kann als ein Barbar: Chaque jour, par ce maître inflexible et barbare, Mes agneaux sont comptés avec un soin avare. Trop heureux quand il daigne à mes cris superflus N’en pas redemander plus que je n’en reçus! O juste Némésis! si jamais je puis être Le plus fort à mon tour, si je puis me voir maître, Je serai dur, méchant, intraitable, sans foi, Sanguinaire, cruel, comme on l’est avec moi! (V. 123–130)21

So verwundert es nicht, dass der Schafhirt am Ende den Ziegenhirten, der ihn beschenkt, um ihn zu trösten, verflucht, denn sein Herr selbst wird ihm, wie er weiß, das Geschenk – eine Ziege und ihre Jungen – rauben: „C’est à moi que lui-même il viendra les ravir.“ – „Er selbst wird sie mir

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„Ich sehe hier nichts als einen harten, schwer zu pflügenden, knechtischen Boden, den ich – nicht für mich – gezwungen habe, fruchtbar zu sein, und auf dem unter glühend heißem Himmel ich das Korn ernte, das einen anderen ernährt und meinen Hunger nicht stillt.“ „Jeden Tag zählt dieser unbeugsame und barbarische Herr meine Schafe mit kleinlichem Geiz nach. Ich muss mich schon überglücklich schätzen, wenn er so gut ist, von mir nicht mehr Schafe zurückzuverlangen, als er mir mitgegeben hat, mag ich auch noch so sehr dagegen protestieren! Oh gerechte Nemesis! Wenn ich je selbst der Stärkere sein kann, wenn ich mich je selbst als Herr aufführen kann, dann werde ich hart, böse, unerbittlich, falsch, blutrünstig und grausam sein, genau so wie man es jetzt mir gegenüber ist.“

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rauben.“ (V. 158) Das Sklavendasein des Schafhirten,22 sein Redestil,23 seine Bejahung von Grausamkeit, gesetzloser Gewalt als Merkmal der Beziehung zwischen Herr und Knecht,24 seine Leugnung jenes Naturrechts, das ein Zusammenleben der Menschen in Freiheit und Frieden ermöglicht, und schließlich sein Hinweis auf den Raub als Weise der Subsistenz25 – all das sind traditionelle, auf die griechische Antike zurückgehende Merkmale der Semantik des Barbarischen. Der human gesinnte Ziegenhirt versucht nun zwar, die Kluft zwischen seinem Lebensraum und dem des barbarischen Schäfers zu überbrücken, doch gibt er dabei gleichsam en passant zu verstehen, dass er selbst über Knechte herrscht. Er beteuert nämlich, dass die Schar seiner Untergebenen, die er als Diener, nicht als Sklaven, bezeichnet („de mes serviteurs la cohorte fidèle“, V. 132), in ihm immer einen humanen, mitfühlenden und entgegenkommenden Herrn („maître“, V. 135) finden werde. Daraus ist zu folgern, dass der locus amoenus, den er mit Merkmalen des Goldenen Zeitalters ausgestattet hat, kein ursprünglicher, natürlich-gottgegebener ist, wie es seine Sprache suggeriert, sondern ein gewordener, aus der arbeitsteiligen Zivilisation hervorgegangener; tatsächlich gebraucht er das Wort „culture“ (V. 59) im Sinne des lateinischen cultura: ‚Bearbeitung‘, ‚Bebauung‘, ‚Anbau‘. In diesem Widerspruch verbirgt sich eine poetische Petitio principii, eine Erschleichung des Beweisgrundes (hier des Ursprungs):26 Der Topos des Goldenen Zeitalters soll die Muße und den Wohlstand des Ziegenhirten als natürlichen, idealen Ursprung der Gesellschaft erscheinen lassen; er verdeckt aber nur, dass beide in Wahrheit das Produkt der Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft sind. Der humane, gütige „maître“, dem die von ihm gepriesenen Herden und vermutlich auch die _____________   22 23 24

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Vgl. den bereits oben (Anm. 2) erwähnten Passus aus Aristoteles’ Politik, 1252b 1, 4: die Barbaren seien Sklaven „von Natur aus [physei]“, schreibt Aristoteles dort unter Berufung auf das einschlägige Diktum der Euripideischen Iphigenie in Aulis. Im Prosaentwurf der Idylle notiert Chénier, die Redeweise („style“) des Ziegenhirten sei sanft und blumig („doux et fleuri“), die des Schafhirten hart und wild („dur et sauvage“), Chénier: Œuvres complètes, S. 859. Als „Gewalt ohne Freiheit und Gesetz“ definiert Kant in seiner Anthropologie die Barbarei, vgl. Kant, Immanuel: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. In: Ders.: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 7. Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1968, S. 117–334, Zitat S. 331. Vgl. Winkler: Von Iphigenie zu Medea, S. 3f., 23f., 53–57 u. öfter. Vgl. Winkler, Markus: „The Poetics of the Enlightenment and Salomon Gessner’s Idylls“. In: Reconceptualizing Nature, Science and Aesthetics. Contribution à une nouvelle approche des Lumières helvétiques. Hg. v. Patrick Coleman, Anne Hofmann u. a. Genf 1998, S. 185–197, Zitat S. 195.

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Gärten und Kornfelder gehören, lebt müßig, weil jenseits des Paradieses, das er selbst dichtet, andere für ihn den Boden bewirtschaften. Die Naivität, mit der er das Elend des anderen Hirten kommentiert, wirkt daher künstlich, ja verlogen. Als Besitzender unterscheidet er sich in nichts von dem barbarischen Herrn des Schafhirten. Darauf deutet auch der bereits erwähnte Schluss hin: Der Schafhirt verflucht den Ziegenhirten, weil dessen Geschenk sein Leid nicht mindern, sondern nur vergrößern kann: Sein barbarischer Herr, das Alter Ego des Ziegenhirten, wird ihm das Geschenk rauben. Die Worte des Trostes, mit denen ihm das Geschenk überreicht worden ist, erweisen sich also als Heuchelei, so wie sich der locus amoenus bereits als Privileg des Besitzenden erwiesen hat. Diese Perspektivierung, ja Demontage des locus amoenus wird in Chéniers Idylle möglich, weil hier zwei Semantiken des Hirtendaseins, also auch zwei Ansichten des ‚Volks‘, aufeinandertreffen: Die eine, vom Ziegenhirten vertretene und uns bereits durch Geßner und Voß vertraute, speist sich aus den teils evasiven, teils heilsgeschichtlich-utopischen Erwartungen, die von der aufklärerisch-empfindsamen Gattungspoetik erneut in die Idylle projiziert worden sind; sie lässt den schlechten, barbarischen Zustand nur als Verschlechterung des ursprünglich guten, paradiesischen zu. Die andere begegnet nicht in der Gattungspoetik, sondern in der anthropologischen Geschichtsdeutung des Aufklärungszeitalters.27 Dort gilt der Raub als barbarische Weise der Subsistenz, und als solche bildet er, dem Gesetz der Perfektibilität entsprechend, eine Stufe in der fortschreitenden Entwicklung des Menschengeschlechts, die auf die primitivere Stufe der Jagd folgt und die Stufe der Zivilisation vorbereitet, für die die Subsistenzweisen von Ackerbau, Handel und Gewerbe kennzeichnend sind. Dabei werden – das ist in vorliegendem Zusammenhang von besonderem Interesse – Hirtenvölker der barbarischen Stufe zugeteilt, so z. B. bei Montesquieu, Anne Robert Jacques Turgot und den Vertretern der schottischen conjectural history (Adam Smith, Adam Ferguson und William Robertson).28 In seiner Idylle kontrastiert Chénier dieses zeitgenössische anthropologisch-historische Wissen von der ökonomisch-kulturellen Entwicklung des Menschengeschlechts mit der idyllischen Ansicht vom einfachen Volk, die Geßner schuf, indem er seine Hirten ins Goldene Zeitalter versetzte, und die Voß realitätsmimetisch und klassizistisch umbildete. Aus der Perspektive dieses Wissens befindet sich Chéniers kultivierter Ziegenhirt _____________   27 28

Dazu vgl. Gisi, Lucas Marco: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2007. Vgl. Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal 2004, S. 236–250; Winkler: Von Iphigenie zu Medea, S. 52ff.

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schon auf der dritten Subsistenzstufe: der des Ackerbaus. Sein Hirtentum hat, so gesehen, nichts Naiv-Ursprüngliches, sondern es weist bereits Merkmale arbeitsteiliger Zivilisation auf, zu denen auch das Privateigentum zählt. Zugleich partizipiert es durchaus noch an der vorangehenden Entwicklungsstufe der räuberischen Barbarei, wie der Auftritt und anklägerische Redegestus des geknechteten Schafhirten verdeutlichen. Als das wahre Substrat der Idylle erweist sich das Barbarische, nicht etwa ein unverdorbener, unentstellter Anfang. Deshalb kann der Barbar als Figur hier nicht nur eine Bedrohung am Horizont der Idylle sein, wie es in Vergils erster Ekloge der Fall ist: Dort sieht der von seinem Land vertriebene, flüchtige Meliboeus voraus, dass ein Soldat aus der Fremde, ein „miles […] barbarus“,29 seine Äcker rauben wird. Bei Chénier hingegen hat der Raub bereits stattgefunden. Denn Züge des Barbaren hat, wie wir sahen, nicht nur der versklavte Hirt, der den locus amoenus betritt, sondern auch der freie, der ihn bewohnt. Von den Geßner’schen ‚Szenen aus der unverdorbenen Natur‘ bleibt daher am Ende nur ein Schein übrig, der keinen noch so mittelbaren mimetischen Bezug auf die ländliche Realität hat, sondern als dichterische Fiktion entlarvt wird. Folglich kippt bei Chénier die Idylle in die Anti-Idylle um, während sie bei Eduard Mörike aus demselben Grund zum Paradigma der Autonomie des literarischen Feldes wird.

III. Eduard Mörikes Wald-Idylle (Idylle) Der Weg von Chéniers vorrevolutionärer Idylle La Liberté zu Mörikes biedermeierlicher, vermutlich 1829 entstandener Wald-Idylle mag weit anmuten, und doch lassen sich beide im Hinblick auf das paradoxe Strukturmerkmal der klassizistischen Ansicht vom Volk vergleichen. Halten wir zunächst fest, dass der Text bis zur dritten Auflage (1856) von Mörikes Gedichten unter dem Titel Idylle erschien.30 Die Wahl der Gattungsbezeich_____________   29 30

Vergil: „Bucolica I“, V. 70–71, S. 32. Vgl. Meyer-Guyer, Katharina: Eduard Mörikes Idyllendichtung. Diss. Zürich 1977, S. 58f.; Heydebrand, Renate von: Eduard Mörikes Gedichtwerk. Beschreibung und Deutung der Formenvielfalt und ihrer Entwicklung. Stuttgart 1972, S. 209 u. Anm. 61, Anm. 358. Zitiert wird Mörikes Gedicht im Folgenden nur mit Angabe der Verszahlen im fortlaufenden Text nach: Mörike, Eduard: „Wald-Idylle“. In: Ders.: Sämtliche Werke in zwei Bänden, Bd. 1. Maler Nolten (Erstfassung), Erzählungen, Gedichte, Idylle vom Bodensee, Wispeliaden, Dramatisches. Textredaktion: Jost Perfahl. Mit einem Nachwort von Benno von Wiese sowie Anmerkungen, Zeittafel und Bibliographie von Helga Unger. Darmstadt 1985, S. 751–753. Diese Ausgabe druckt den Text nach der vierten Auflage der Gedichte (1867). Abgesehen vom Gedichttitel tangieren die Änderungen, die Mörike seit der ersten Auflage an dem Text des Gedichts vor-

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nung als Gedichttitel bringt zweifellos den Willen zum Ausdruck, einen für das Gattungsverständnis signifikanten Text vorzulegen. Bei der Bestimmung dieser Signifikanz muss bedacht werden, dass der Gattungshorizont 1829 ein gänzlich anderer war als vier Jahrzehnte zuvor bei Chénier: Für Mörike erübrigte sich die Auseinandersetzung mit dem Geßner’schen Idyllenmodell, das in Deutschland schon früh von Maler Müller und Johann Wolfgang Goethe diskreditiert31 und von Voß durch eine genuin klassizistische Idylle, später durch das bürgerliche idyllische Epos ersetzt worden war. Trotz dieser Neuerungen galt die Gattung Idylle im biedermeierlichen Deutschland als epigonal; zumindest in der Ästhetik, Poetik und Literaturtheorie wurde sie abgewertet, ja verworfen (besonders wirkungsmächtig von Georg Wilhelm Friedrich Hegel).32 Die Idylle bzw. Wald-Idylle und Mörikes spätere Idyllendichtungen sind demnach Versuche, die Gattung in glaubwürdiger Weise zu erneuern. Ein Indiz dafür sind die Abweichungen von der traditionellen Form der deutschen Hexameteridylle: Es fällt auf, dass die Wald-Idylle aus elegischen Distichen besteht. Mörike akzentuiert also die lyrische Komponente der Gattung und reduziert den Anteil der epischen und der dramatischdialogischen Elemente. Diese im metrischen Sinne elegische Idylle nimmt in ihrem zweiten Teil, der vom ersten durch eine Leerzeile abgesetzt ist, Züge einer Epistel an, da das Ich des Gedichts sich dort an Johannes Mährlen wendet, dem das Gedicht gewidmet ist.33 Man kann also von einer höchst artifiziellen klassizistischen Mischform sprechen, die an das artifizielle Moment der antiken Idyllenform erinnern und es variieren soll. Am artifiziellsten aber wirkt zweifellos die Art, wie diese klassizistische Mischform dazu benutzt wird, Ansichten vom Volk zu vermitteln: Unter die Eiche gestreckt, im jung belaubten Gehölze Lag ich, ein Büchlein vor mir, das mir das lieblichste bleibt. Alle die Märchen erzählt’s, von der Gänsemagd und vom MachandelBaum und des Fischers Frau; wahrlich man wird sie nicht satt. Grünlicher Maienschein warf mir die geringelten Lichter Auf das beschattete Buch, neckische Bilder zum Text. Schläge der Holzaxt hört ich von fern, ich hörte den Kuckuck, Und das Gelispel des Bachs wenige Schritte vor mir.

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nahm, dessen Semantik nicht; vgl. Schneider, Helmut J.: „Vom Zünden der Tradition. Märchen, Idylle und lyrisches Subjekt in Mörikes Wald-Idylle“. In: Eduard Mörike. Ästhetik und Geselligkeit. Hg. v. Wolfgang Braungart u. Ralf Simon. Tübingen 2004, S. 221–238, Zitat S. 224, Anm. 9. Vgl. Anm. 11. Vgl. Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. 2. Die Formenwelt. Stuttgart 1972, S. 744ff.; Böschenstein: „Idyllisch/Idylle“, S. 131. Vgl. Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk, S. 213.

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Märchenhaft fühlt ich mich selbst, mit aufgeschlossenen Sinnen Sah ich, wie helle! den Wald, rief mir der Kuckuck wie fremd! (V. 1–10)

Das literarisch gebildete Ich des Gedichts spricht hier zunächst nicht vom Volk selbst, sondern von der damals so genannten Volkspoesie, konkret von den Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen. Diese und die Deutschen Sagen wurden von der spätromantischen deutschen Mythologie bekanntlich als mündlich überlieferte Naturpoesie klassifiziert, der schriftlichen ‚Kunstpoesie‘ der Gebildeten entgegengesetzt und als bedrängte Residuen des verlorenen Ganzen, des heiligen Ursprungs der Nation, gedeutet.34 Die Kinder- und Hausmärchen sind also die romantische Variante der Geßner’schen, aber auch Voß’schen ‚Szenen aus der unverdorbenen Natur‘ und ihrer vermeintlich naiven antiken Bezugstexte. Indem Mörike die Märchen in einer der Form nach klassizistischen Idylle zitiert, travestiert er sie. Dadurch macht er auf die Topik des idyllischen Rahmens aufmerksam, den die Brüder Grimm den Märchen verliehen haben unter anderem durch den von ihnen gewählten Titel und die vermeintlich mündliche Überlieferungsform. So hat der typische Ort, an dem die, wie es in der Grimm’schen Vorrede von 1819 heißt, „unschuldigen Hausmärchen“ zu finden gewesen seien, die Züge eines locus amoenus: Die Plätze am Ofen, der Küchenherd, Bodentreppen, Feiertage noch gefeiert, Triften und Wälder in ihrer Stille, vor allem die ungetrübte Phantasie sind die Hecken gewesen, die sie [die Märchen] gesichert und einer Zeit aus der andern überliefert haben.35

Mörikes artifizielle klassizistische Idyllenform akzentuiert die Künstlichkeit dieses romantisch-idyllischen Bilds der Märchen, die ihrem Inhalt nach ja ganz und gar nicht idyllisch sind; erinnert sei an die barbarische Menschenfresserei im plattdeutschen Machandelboom-Märchen, das zu Beginn der Wald-Idylle erwähnt wird, und an die im Folgenden „ausführlich“ nacherzählten „Leiden des unvergleichlichen Mädchens“ (V. 17), nämlich Schneewittchens. Zugleich wird mit dem Hinweis auf das ‚lieblichste Büchlein‘ die Literarizität der Märchenüberlieferung hervorgehoben. An dem lauschigen Lese-Ort im Walde, den das Ich mit Zügen des klassischen locus amoenus versieht, ist der Text – nicht die Natur – das Primäre; die Natur liefert nur „Bilder zum Text“ (V. 6) – einem Text, der das Medium eines zugleich idyllischen und ‚märchenhaften‘ (V. 9) Naturerlebens ist. Die travestierende Verschränkung von Märchen und Idylle restituiert also die Literarizität sowohl der Märchenüberlieferung als auch der Idylle. _____________   34 35

Vgl. Winkler, Markus: Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus. Zur Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines. Tübingen 1995, S. 35–45. Grimm, Jacob u. Wilhelm: „Vorrede“. In: Dies.: Kinder- und Hausmärchen, Bd. 1. Märchen Nr. 1-86. Hg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart 1980, S. 15–27, Zitat S. 15.

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Und doch bezieht sich diese komplexe Textlandschaft schon hier punktuell auf die außertextuelle Arbeitswelt des einfachen Volks. Die „Schläge der Holzaxt“ (V. 7) können gewiss als Zitat des Hänsel und GretelMärchens verstanden werden,36 aber sie verweisen zugleich auf die schwere und gefährliche Arbeit eines Waldbauern, die den idyllischen Rahmen sprengt.37 Das „Nachbarskind aus dem Dorf“ (V. 13), das gleich darauf erscheint, gehört dieser Arbeitswelt an, nicht der idyllischen Märchenwelt. Als jüngere Tochter des Waldbauern verkörpert es nicht die kindliche ‚Reinheit‘, die die Brüder Grimm in ihrer Vorrede den Märchen zuschreiben.38 Bezeichnenderweise hat es auch keine besonders innige Beziehung zu den Märchen (vielleicht kennt es sie nicht einmal). Jedenfalls bleibt ungewiss, ob und wie die Geschichte von Schneewittchen, die das Ich dem Mädchen erzählt, auf es wirkt. Es zeigt sich vielmehr, dass im Zuge der Erzählung (vgl. V. 17–34) die dichterische Welt des Erzählers und die Arbeitswelt des Volks auseinander treten. Denn der Märchenvortrag inspiriert nicht das Mädchen, sondern den Vortragenden selbst, und zwar an der Stelle, an der Schneewittchen eingesargt wird: Ein kristallener Sarg schließet die Ärmste nun ein, Frei gestellt auf dem Berg, ein Anblick allen Gestirnen; Unverwelklich ruht innen die süße Gestalt. – So weit war ich gekommen, da drang aus dem nächsten Gebüsche Hinter mir Nachtigallschlag herrlich auf einmal hervor, Troff wie Honig durch das Gezweig und sprühte wie Feuer Zackige Töne; mir traf freudig ein Schauer das Herz, Wie wenn der Göttinnen eine, vorüberfliehend, dem Dichter Durch ambrosischen Duft ihre Begegnung verrät. (V. 32–40)

Gewiss ist dies, wie zuletzt Helmut Schneider hervorgehoben hat, „der wunderbare Augenblick poetischer Inspiration“;39 aber der Augenblick ist ungesellig, rein innerlich (das zuhörende Mädchen hat daran keinen An_____________   36 37

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Vgl. Rölleke, Heinz: „Grimms Märchen in Eduard Mörikes Wald-Idylle“. In: Wirkendes Wort 53 (2003), S. 369–372, Zitat S. 370. Es kann zwar ausgeschlossen werden, dass es sich hier um Holzdiebstahl handelt, wie das in Droste-Hülshoffs Judenbuche der Fall ist; festzuhalten ist aber, dass die Schläge der Holzaxt keineswegs per se „eine märchenhafte Atmosphäre […] evozieren“, Meyer-Guyer: Eduard Mörikes Idyllendichtung, S. 60. „Darum geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen: sie haben gleichsam dieselben bläulichweißen makellosen glänzenden Augen, die nicht mehr wachsen können, während die andern Glieder noch zart, schwach und zum Dienste der Erde ungeschickt sind“, Grimm: Kinder- und Hausmärchen, S. 16. Schneider: „Vom Zünden der Tradition“, S. 229; vgl. Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk, S. 212.

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teil),40 und er setzt auch nicht unmittelbar die poetische Produktion in Gang: „Leider verstummte die Sängerin bald“ (V. 41), heißt es im nächsten Vers. Vielmehr erschöpft sich der Augenblick in der Intuition der unüberbrückbaren Kluft, die das autonome Schöne – darauf verweist das Bild des eingesargten Schneewittchens41 – vom Leben und seiner biologischen und ökonomischen Reproduktion trennt. Dieses Leben tritt dem Ich visuell mit den Figuren des Mädchens und seiner gleich darauf erscheinenden erwachsenen Schwester und akustisch mit den Axtschlägen des tiefer im Wald arbeitenden Vaters der beiden gegenüber. Der wunderbare Augenblick hingegen, mit dem die Märchennacherzählung abbricht, zeigt dem Ich, und nur ihm, ein Arkadien der Poesie. Rückblickend evoziert das Ich dieses Paradies, indem es das „Kernemblem romantischer Poesie“,42 die Nachtigall, mit dem Bild vom Honig, der aus dem Baum quillt, verbindet – einem Bild, das z. B. in Vergils vierter Ekloge begegnet und das zur Topik des goldenen Zeitalters gehört.43 Der Märchenerzähler begnügt sich nun aber nicht mit dieser Selbstpositionierung im, ‚bourdieusch‘ gesprochen, literarischen Feld, aus dem er ein Dichter-Arkadien gemacht hat. Vielmehr sucht er dieses Arkadien mit der außertextuellen Realität der arbeitenden Landbevölkerung zu verbinden. Denn er begehrt insgeheim die erwachsene Schwester, die vorbeikommt, um dem arbeitenden Vater die stärkende Milch zu bringen (sie hat also mütterliche Züge).44 Gemeinsam mit der jüngeren Schwester schließt er sich ihr an; er verlässt also den gedichteten locus amoenus: „wir folgten dem Schalle der Holzaxt“ (V. 51). Im zweiten epistelartigen Teil des Gedichts sucht das Ich nach dem Mittleren der beiden Welten, der dichterischen und der außertextuellen Welt der Arbeit. Das Mittlere soll nun doch in der zuvor ironisierten Grimmschen Volkspoesie-Idylle zu finden sein. _____________   40

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Anders Mayer, Mathias: „Wald-Idylle. An J. M.“. In: Mörike-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Inge u. Reiner Wild. Stuttgart, Weimar 2004, S. 122f., Zitat S. 123: „Nicht der Rückzug in die einsame Lektüre, sondern die mündliche Vermittlung des Gelesenen in die alltägliche Welt des Nachbarskindes lässt den Waldaufenthalt zur Idylle werden.“ Die eingehende Analyse des Textes lässt diese Deutung m. E. nicht zu. Vgl. auch Dallet, Joseph B.: „Transparent Symmetry: the Case of Wald-Idylle“. In: Mörike’s Muses. Critical Essays on Eduard Mörike. Hg. v. Jeffrey Adams. Columbia, SC 1990, S. 193– 217, insbes. S. 213: Das Bild von Schneewittchen im Sarg „becomes an emblem for Mörike’s vision of formal beauty as realized through a more or less severe symmetry.“ Schneider: „Vom Zünden der Tradition“, S. 229. „et durae quercus sudabunt roscida mella“ – „und aus knorrigen Eichen quillt tauperlender Honig“, Vergil: „Bucolica IV“, V. 30, S. 46f. Zu diesem Bild und seiner Tradition vgl. Petriconi, Hellmuth: „Die verlorenen Paradiese“. In: Romanistisches Jahrbuch 10 (1959), S. 167–199, Zitat S. 190. Vgl. Calhoon, Kenneth S.: „Reading and the Art of Leisure in Mörike’s Wald-Idylle“. In: Modern Language Notes 116 (2001), S. 536–550, Zitat S. 542.

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Denn die Muse des Augenblicks der einsamen Inspiration, „der Göttinnen eine“ (V. 39), erscheint nun als die Muse der idyllischen VolkspoesieEnklaven: Freund! du ehrest die Muse, die jene Märchen vor alters Wohl zu Tausenden sang; aber nun schweiget sie längst, Die am Winterkamin, bei der Schnitzbank, oder am Webstuhl Dichtendem Volkswitz oft köstliche Nahrung gereicht. (V. 55–58)

Schon das Kompositum „Volkswitz“ wirft ein ironisches Licht auf den hier und im Folgenden artikulierten Wunsch, das eigene Dichter-Arkadien im Volk wiederzufinden: „Volkswitz“ bedeutet laut Grimm’schem Wörterbuch den „in unteren volksschichten verbeitete[n] scharfe[n] verstand in satirischer, humoristischer bethätigung“;45 er steht dem Grimm’schen Konzept der naiv-idyllischen Volkspoesie diametral entgegen, zumal ‚Witz‘ damals immer noch an den verpönten französischen esprit denken lässt;46 erinnert sei an die oben zitierte Stelle aus Geßners Vorrede. Demnach wird nun ganz im Sinne des aufklärerisch-frühromantischen, intellektualistischen Witz-Begriffs und nicht des spätromantischen mythisierenden Volkspoesie-Begriffs das Tun der Märchenmuse beschrieben: „leichtfertig verknüpft sie/ Jedes Entfernteste“ (V. 57f.). Somit wird der „brünstige Wunsch“ (V. 62), den sich das Ich im Folgenden „zu Ehren“ (V. 60) dieser Muse, die doch längst verstummt ist,47 eingesteht (und der, wie gesagt, die Verbindung der getrennten Welten meint), selbstironischhumoristisch ad absurdum geführt: Wär ich ein Jäger, ein Hirt, wär ich ein Bauer geboren, Trüg ich Knüttel und Beil, wärst, Margarete, mein Weib! Nie da beklagt ich die Hitze des Tags, ich wollte mich herzlich Auch der rauheren Kost, wenn du sie brächtest, erfreun. O wie herrlich begegnete jeglichen Morgen die Sonne Mir, und das Abendrot über dem reifenden Feld! Balsam würde mein Blut im frischen Kusse des Weibes, Kraftvoll blühte mein Haus, doppelt, in Kindern empor. Aber im Winter, zu Nacht, wenn es schneit und stöbert am Ofen, Rief’ ich, o Muse, dich auch, märchenerfindende, an! (V. 63–72)

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Grimm, Jacob u. Wilhelm: „Volk“. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 12. II. Abteilung. Vesche – Vulkanisch. Bearb. v. Rudolf Meiszner. Leipzig 1951, Sp. 453–511, Zitat Sp. 504. Im Original kursiv. Vgl. dazu Winkler, Markus u. Christine Goulding: „Witz“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 6. Tanz–Zeitalter/Epoche. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius u. a. Stuttgart, Weimar 2005, S. 694–729, hier insbes. S. 700f., 712f. Vgl. Heydebrand: Eduard Mörikes Gedichtwerk, S. 213: Der „Anruf der Märchenmuse aus der Stuben-Idylle“ nehme sich „eher komisch aus, zumal es eben noch hieß, daß diese Muse […] ja längst schweigt!“

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Das irreal-komische Selbstbild mit Knüppel und Beil, Frau und Kind, das vom literarisch gebildeten Ich hier entworfen wird, lässt wiederum an die Subsistenz-Stufen des Wilden und Barbarischen denken, die von der aufklärerischen wie auch noch von der evolutionistischen Anthropologie des 19. Jahrhunderts postuliert wurden. Man mag sich auch an Jean-Jacques Rousseaus naiven homme sauvage erinnern. Es handelt sich jedenfalls um eine Welt ohne schriftlich überlieferte ‚Kunstpoesie‘. Doch auch diese Welt trägt noch Züge poetischer Verklärung und bezieht sich nicht mimetisch auf die Welt des holzfällenden Waldbauern. Das Ich sucht also vergeblich aus seiner autonomen dichterischen Welt hinaus in eine Welt zu gelangen, in der sich das Leben auf einfache Weise reproduziert; beide Welten sollen miteinander versöhnt werden, können es aber nicht, wie der abschließende Anruf der „märchenerfindende[n]“ Muse, die längst verstummt ist, unterstreicht. Am Ende gesteht das dichtende Ich also humoristisch-elegisch den Preis ein, den es für seine Positionierung im literarischen Feld, das seine Autonomie durch die Selbstausschließung aus dem Feld der Ökonomie erlangt,48 zahlen muss: Die poetische Welt der Muse („Ihr Feld ist das Unmögliche“ [V. 57], heißt es von der Muse) und die Welt der arbeitenden Landbevölkerung müssen sich fremd bleiben. Der Weg von Chéniers La Liberté zu Mörikes Wald-Idylle ist also weniger weit als es zunächst schien. Zur Beziehung zwischen beiden Dichtungen ist rückblickend festzustellen: Chénier verabschiedet mit seiner klassizistischen Ansicht vom Volk die Gattung Idylle, indem er die aufklärerisch-historische Semantik des Hirtendaseins gegen die idyllensemantische, vor allem von Geßner geprägte, ausspielt. Mörikes Wald-Idylle hingegen setzt ein als klassizistische Ansicht, genauer Travestie des spätromantischen idyllischen Bildes der Volkspoesie. Diese Travestie ist nicht nur eine witzig-verspielte Negation der gängigen romantischen Antithesen von mündlich tradierter Volks- oder Natur- und schriftlich tradierter Kunstpoesie, von romantischer und klassischer Tradition. Vielmehr wird sie zum Medium einer Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen der Gattung Idylle und darüber hinaus der Dichtung schlechthin, insofern diese sich als autonome Kunst versteht und zugleich den Preis ihrer Autonomie selbstkritisch mitbedenkt. Das Paradigma der Autonomie ist hier der poetisch vermittelte locus amoenus im Wald und das ihn potenzierende Märchenbild des eingesargten schönen Schneewittchens. In beiden ist für das körperlich hart arbeitende Volk, von dem doch auch die Rede ist, kein Platz. _____________   48

Das hat bekanntlich Pierre Bourdieu im Hinblick auf die französische Literatur des 19. Jahrhunderts nachgewiesen, vgl. Bourdieu, Pierre: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1998.

Überlegungen zu Idyllen von André Chénier und Eduard Mörike

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Überlegungen zu Idyllen von André Chénier und Eduard Mörike

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Idyllik, Anti-Idyllik, Aufklärung und Selbstaufklärung. Zur ästhetischen und philosophischen Kritik des Arkadien-Topos YORK-GOTHART MIX Welches ist denn nun die verbotene Frucht, von welcher wir gekostet, und die Erkenntnis des Guten und Bösen dadurch erlangt haben?

Sind es die Künste und Wissenschaften? Ist es der Handel, ist es der Ackerbau? Sind es die Abweichungen von der Natur, die sich durch sich selbst bestrafen? Oder sind diese Abweichungen eben so natürlich, wie die Natur selbst. Wenn sie es sind, warum ist denn in allen menschlichen Einrichtungen so viel Schiefes und Verkehrtes?1

I. Idyllik, Arkadien und Utopia Die Dialektik von Verlust und Utopie ist eine klassische europäische Denkfigur. Von ihrem Ursprung her ist sie mit der auf die Eidyllia von Theokrit (um 310–250 v. Chr.) zurückgehenden lyrisch-epischen Gattung der Idylle verbunden. Wie in der Einleitung zu diesem Band erläutert, schildern Idyllendichtungen mit expliziter oder impliziter Zivilisationskritik rurale, meist pastorale Existenzformen und bleiben seit der Spätaufklärung auch in der ironisch-parodistischen Transformation oder satirischen Travestie, ja mitunter selbst in der ostentativen Negation einem normativen Ideal unentfremdeter humaner Existenz verpflichtet. Das aufklärerische Gattungsverständnis zeigt sich von Salomon Geßners Idyllen (1756) beeinflusst, die in ganz Europa rezipiert werden und eine intensive Dis_____________   1

Moritz, Karl Philipp: „Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers“. In: Ders.: Werke, Bd. 3. Erfahrung, Sprache, Denken. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 271–322, Zitat S. 299.

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kussion initiieren. Vor allem in Frankreich gelten Geßners Idyllen als sensible Synthese zwischen dem Tugendethos der Aufklärung und einer ebenso empfindsam wie zivilisationskritisch akzentuierten Idealisierung des naiven Menschen. Gattungsgeschichtlich prägend und aus der klassischen Tradition deduzierbar sind ursprünglich die überschaubare, unheroische, von grundsätzlichem Unfrieden freie, als Binnenraum organisierte ästhetisch typisierte Szenerie, die numerische Begrenztheit der in der Regel nichtständischen Agierenden, die Projektion von Konflikten in einen gedanklich evozierten, nicht unmittelbar präsenten Außenraum, die gläubige, oft evasive Fixierung auf gesellschaftliche Harmonieideale, die besondere Bedeutung der liedhaften Komposition in der Idylle selbst sowie die Momente der Freundschaft und erotischen Attraktion. Diese Charakteristika werden im Rekurs auf Vergil als ‚arkadisch‘ begriffen und weisen den locus amoenus aus, der für die Idyllentradition als konstitutiv angesehen wird. Diese Aspekte können bei einer begriffsgeschichtlichen Konkretisierung der Idylle sowie des ‚Idyllischen‘ unter kulturwissenschaftlichen Prämissen nicht ausgeblendet werden. Um 1800 entwickelt sich die Idylle jedoch von einem den antiken Mustern verpflichteten Genre zu einem ‚Denkbild‘. Die Negation der Regelpoetik seitens des Sturm und Drang, die konsequente Annäherung des Genres an die Lebenswirklichkeit der Ständegesellschaft, die geschichtsphilosophische Kritik von Immanuel Kant, Schiller und Karl Philipp Moritz sowie Friedrich Schlegels ironische Transformation relativieren die Gattungskonventionen so nachhaltig, dass ein zukunftsweisendes, den Stand der Diskussion reflektierendes Paradigma zunächst nicht mehr möglich scheint. Wie differenziert sich die Vorstellung des Idyllischen nach der Diskussion um Geßners Werke darstellt, belegen Oliver Goldsmiths The Deserted Village (1770), Die Leibeigenen (1774) von Johann Heinrich Voß, Johann Gottfried Herders Neger-Idyllen (1797), Samuel Taylor Coleridges Fire, Famine and Slaughter (1797) sowie Kants Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) und Schillers Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde (1790). Vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Frankreich und einer neoklassizistischen Antikebegeisterung radikalisiert sich die aufklärerische Arkadienkritik zu einer Tradition ostentativer Anti-Idyllik, die bis in das 20. Jahrhundert führt und nicht allein die Realitätsferne, sondern den antiken Topos in toto problematisiert, ja, partiell als illusionär klassifiziert. An dieser ästhetischen und philosophischen Entzauberung der Idylle haben Kant, Schiller, Moritz, aber auch schon ältere Theoretiker wie Jean Baptiste Dubos mit seiner Abhandlung Quelques remarques sur la Poësie Pastorale et sur les Bergers des Eglogues entschei-

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denden Anteil. Die Argumente einer Radikalkritik dieser bis heute populären Denkfigur sollen im Folgenden skizziert werden.

II. Idyllenkritik zwischen Aufklärung, Klassik und Frühromantik In der überarbeiteten Fassung seiner 1751 veröffentlichten Abhandlung Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie beschreibt Johann Adolf Schlegel die idyllische Gattung als „gefährliche Klippe“, an der Kritiker und Poeten „verunglückt“ seien, da sie sich von Vorurteilen „fehlführen“2 ließen. Vor allem die „schlechten Dichter“ hätten im „poetischen Arkadien die meiste Verwirrung verursacht,“ klagt Schlegel und unterstreicht, dass es kaum eine „größere Uneinigkeit unter den Kunstrichtern“ gäbe als bei den vielen vergeblichen Versuchen, „die Regeln“ eines „Schäfergedichtes festzusetzen.“3 De facto könne niemand präzisieren, was die Spezifika dieses Genres seien: Was ein Kunstrichter für schön anpreist, das dünken dem andern unverzeihliche Fehler zu seyn, und Bilder, welche dieser durch seine Regeln ganz daraus verbannt hatte, will jener nicht nur wieder darein aufgenommen wissen, sondern er setzt wohl gar in dieselben den wesentlichen Charakter der Idyllen. Eben so weicht ein Poet solchen Gedanken und Ausdrücken sorgfältig aus, denen der andre ängstlich nachjagt, über die er als über eine besondre Gunst des Glückes sich freuet, wenn es ihm gelungen ist, sie zu erhaschen.4

„Wie kömmt es,“ fragte Schlegel lapidar, „daß von dieser Dichtungsart fast jeder sich seinen eignen Begriff gemacht hat?“5 Gleichermaßen grundsätzlich und zur gleichen Zeit fragt der durch die Herausgabe der Belustigungen des Verstandes und des Witzes renommierte Publizist Johann Joachim Schwabe: Wo zeiget aber izt die Natur das alte Schäferleben? Wo herrschet die Unschuld, die darinnen vorkommen soll? Wo ist die güldene Freyheit, die reine Liebe und die tugendhafte Einfalt, die das Wesen derselben sind? Wie darf nur ein Dichter das wieder vorstellen, was er nirgends mehr erblicket?6

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3 4 5 6

[Schlegel, Johann Adolf]: „Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie“. In: Batteux, [Charles]: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Leipzig ²1759, S. 460–517, Zitat S. 460. Ebd., S. 461. Ebd. Ebd., S. 463. Schwabe, Johann Joachim: „Vorrede“. In: Gottsched, Johann Christoph: Gedichte. Leipzig ²1751, unpaginiert.

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Schwabe begreift die Idylle schlichtweg als realitätsfernes „Spielwerk“ der „Phantasie“ und sieht deshalb im Fehlen der Rubrik „Schäfergedichte“7 in der von ihm redigierten Werkausgabe seines Mentors Johann Christoph Gottsched kein Manko. Dieses Verdikt folgt der Einschätzung von Joseph Trapp. In seiner 1722 in London publizierten Poetikvorlesung De Poemate Pastorali erklärt der in Oxford tätige Professor Trapp, das Landleben kenne „extra plebem miseram atque inhonestam“8 gar keine glücklichen Hirten. Trapps Überzeugung nach muss jeder Annäherungsversuch an die Wirklichkeit unglaubwürdig bleiben oder in unauflösbare Widersprüche führen: De facto hæc omnia veritati esse contraria, universis notissimum est; ideoque nullus fictioni restat locus: Ac proinde ipsum hujus Poematis fundamentum tolli videtur, prout nostris quidem temporibus accomodatur.9

Trapp führt ganz ähnliche Argumente an wie Dubos. Bereits 1719 verwirft der Franzose in seiner Betrachtung Quelques remarques sur la Poësie Pastorale et sur les Bergers des Eglogues die Eklogendichtung als realitätsfern und tituliert die galanten Schäfer als „êtres chimériques.“10 Dubos teilt Trapps Kritik, der Alltag des Landmanns sei alles andere als possierlich: Er betont die krasse Differenz zwischen der arbeitenden Landbevölkerung und der stilisierten Kunstfigur der just in Mode gekommenen Rokokohirten: Ils ne ressemblent en rien aux habitans de nos campagnes & à nos bergers d’aujourd’hui: malheureux Paysans, occupez uniquement à se procurer par les travaux pénibles d’une vie laborieuse, de quoi subvenir aux besoins les plus pressans d’une famille toujours indigente.11

Die hier angedeuteten Prämissen lassen die Ausgangspunkte einer theoretischen Diskussion erkennen, die im deutschen Sprachraum nach der Publikation der Idyllen Geßners forciert wird. Vor allem Herder betont in seinem Aufsatz Theokrit und Gessner, dass die ästhetisierten Hirten des Schweizers ein „moralisches Ideal“ erkennen ließen, das ihnen die „Bestimmtheit der Charaktere“12 nehme. Geßners Hirten seien nicht aus einer „Unschuld“ ihrer „Bildung“ heraus unschul_____________   7 8 9 10 11 12

Ebd. Trapp, Joseph: „De Poemate Pastorali“. In: Ders.: Prælectiones Poeticae: in Schola Naturalis Philosophiæ Oxon. London ²1722, S. 196–211, Zitat S. 210. Ebd., S. 211. Dubos, [Jean Baptiste]: Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture. Première partie. Paris 51746, S. 171. Ebd., S. 171f. Herder, Johann Gottfried: „Theokrit und Gessner“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a., Bd. 1. Frühe Schriften. 1764–1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 351–360, Zitat S. 358.

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dig, sondern weil sie der Dichter in einen höchst artifiziellen Zustand der Unschuld versetzt habe: „Lauter Schäferlarven, keine Gesichter: Schäfer, nicht Menschen. Statt zu handeln, beschäftigen sie sich, singen und küssen, trinken und pflanzen Gärten.“13 Aber auch Johann Wolfgang Goethe reagiert trotz positiver Urteile von Christoph Martin Wieland, Johann Joachim Winckelmann oder Jean-Jacques Rousseau eher ablehnend und charakterisiert Geßners Idyllen als unwirklich ausstaffierte „Gemälde.“14 Die Frage, wie eine „Theorie der Idylle“ 15 die Dialektik von Verlust und Utopie realitäts- und zukunftsbezogen wenden kann, wird auch in Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung nicht umfassend beantwortet. In der „sentimentalischen Dichtkunst“ sei die Idylle „das schwürigste Problem“,16 schreibt Schiller 1795 an Wilhelm von Humboldt und kündigt an, ein auf seinen Überlegungen fußendes Muster der Gattung zu liefern. Schillers Plan einer elysischen Idylle bleibt jedoch unvollendet, da auch die von ihm skizzierte „Scene im Olymp“17 der mythologisch-retrospektiven Dialektik verpflichtet bleibt. Schillers Forderung, den Leser „nicht rückwärts in unsere Kindheit“, sondern „vorwärts“ nach „Elysium“18 zu führen, rekurriert unübersehbar auf Kants Absage an die Vision einer „Rückkehr in jene Zeit der Einfalt und Unschuld.“19 Hinter derartigen Vorstellungen stehe, so Kant in seinem Beitrag Mutmaßlicher Anfang der _____________   13 14

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Ebd., S. 346. Goethe, Johann Wolfgang: „Moralische Erzählungen und Idyllen von Diderot und S. Geßner“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus u. a., Abt. I, Bd. 18. Hg. v. Friedmar Apel. Frankfurt a.M. 1998, S. 46–49, Zitat S. 47. Schiller, Friedrich: „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen. Hg. i. A. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, Bd. 20. Philosophische Schriften, Teil 1. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 413–503, Zitat S. 473. „Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt, 29.–30.11.1795“. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen. Hg. i. A. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und SchillerArchiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, Bd. 28. Briefwechsel. Schillers Briefe 1.7.1795–31.10.1796. Hg. v. Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 115–122, Zitat S. 119. „Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt, 29.–30.11.1795“, S. 120. Schiller: „Über naive und sentimentalische Dichtung“, S. 472. Kant, Immanuel: „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. In: Ders.: Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 8. Abhandlungen nach 1781. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1968, S. 107–124, Zitat S. 122.

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Menschengeschichte, die „leere Sehnsucht“ nach einem „in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten“ Leben, die zwar das „Dasein der „Robinsone“ und auch „die Reisen nach den Südseeinseln so reizend“ erscheinen lasse, letztlich aber nur ein Synonym für den „Überdruß“ am „zivilisierten Leben“20 sei. Kants Einschätzung, der Mensch habe den Zustand der Ursprünglichkeit als völlig unzureichend empfunden, wird von Schiller 1790 in seinem Aufsatz Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde als Abschied vom „Paradies der Unwissenheit und Knechtschaft“21 unter Bezugnahme auf die Schrift des Königsbergers beschrieben. Die Bedeutung der Einlassungen Kants und Schillers für die Gattung wird anhand von Friedrich Schlegels Romanfragment Lucinde, Goethes idyllisch-epischem Gedicht Hermann und Dorothea sowie dem 1795 in Buchform publizierten Bürgerepos Luise von Voß erkennbar. Mit der Idylle über den Müßiggang unternimmt Schlegel in seinem Roman Lucinde den Versuch, die literaturtheoretischen Einsichten, die aus der Diskussion über das Genre resultieren, provokativ umzumünzen und in ironischer Verkehrung gegen die Idyllenkritik Kants, aber auch Schillers, zu wenden. Dieses ganz auf die plakative Demonstration frühromantischer Differenzqualität zielende Vorhaben gelingt ihm, indem er auf Platon und vor allem auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik rekurrierend, das aufklärerische Dogma der Utilität negiert und dem Lob der Muße den Primat einräumt. Er lässt Kants Kritik am ‚in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten‘ Leben ins Leere laufen, denn gerade der „Fleiß und der Nutzen“ verhindere, so Schlegel, die „Rückkehr“ des Menschen „ins Paradies“.22 Der Verzicht auf jede Archaik ergibt sich nicht nur aus den von Dogmatikern wie Friedrich Nicolai enragiert investigierten subjektivautobiographischen Implikationen des Romanfragments, sondern auch als Konsequenz des geschichtsphilosophischen Diskurses über die Gattung. Das noch vom Vater des Frühromantikers, Johann Adolf Schlegel, in seiner Abhandlung Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie gerühmte _____________   20 21

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Ebd. Schiller, Friedrich: „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen. Hg. i. A. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, Bd. 17. Historische Schriften, Teil 1. Hg. v. KarlHeinz Hahn. Weimar 1970, S. 398–413, Zitat S. 399. Schlegel, Friedrich: „Lucinde“. In: Ders.: Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler unter Mitw. v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, Bd. 5. Dichtungen. Hg. v. Hans Eichner. München u. a. 1962, S. 1–82, Zitat S. 27.

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Bild ursprünglicher „Zufriedenheit und Fröhlichkeit“ 23 ist nach der Kritik Goethes und Herders an Geßner, nach Voß’ klassischer Nobilitierung bürgerlichen Lebens sowie den Wortmeldungen Kants und Schillers einer deutlich skeptischeren Einschätzung gewichen. Ein Jahr nach der Publikation von Kants Aufsatz Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte fragt einer der Verfechter der Selbstaufklärung der Aufklärung, Karl Philipp Moritz, in einem Aus Miltons verlornem Paradiese betitelten Fragment: Aber freilich ist das Weiden der Schafe das Allerunschuldigste Geschäft eines Sterblichen: So dass auch die Dichtkunst hier ihren Stoff hernehmen musste, da sie vollkommen glückliche, zufriedene und unschuldige Menschen schildern wollte. Aber freilich, wenn alle Menschen Schafe gehütet hätten, so wären sie zwar an sich wohl ganz glücklich gewesen. Aber was wäre denn aus unsrer Geschichte geworden?24

Mit seiner Frage nach der „Frucht des Wissens“25 stellt Moritz einen direkten Zusammenhang zwischen der Willensfreiheit, dem Sündenfall der Genesis und einem Bewusstsein für Historizität her und fragt nach einer Lösungsperspektive, ohne wohlfeile Dogmen anzubieten. Die in der neueren Literaturwissenschaft in Abrede gestellte Nähe zwischen der Idyllik, der Frage nach dem Sinn der Geschichte und „christlichen Seligkeitsvorstellungen wie dem Paradies“26 ist bei Moritz und Friedrich Schlegel offenkundig. Die für die Idylle charakteristische Gegenwelt zum dominanten zivilisatorischen Erscheinungsbild beschwört Friedrich Schlegel in seinem Romanfragment Lucinde, indem er die programmatische Kritik am Müßiggang von Christian Wolff bis Kant verwirft, der aufklärerischen Pflichtethik eine Absage erteilt und die aristotelische Vorstellung eines kontemplativen Lebens zum Ideal erklärt. Diese Intention wird durch eine Szenerie konkretisiert, die die Prometheus-Sage aktualisiert und die Idylle über den Müßiggang beschließt. Dieser Prometheus, an eine „Kette“ gefesselt und mit der „größten Hast und Anstrengung“ arbeitend, wird vom Erzähler in der Rolle eines kommentierenden Satanikus als „Erfinder der Erziehung und Aufklärung“27 apostrophiert. Provokativ und programmatisch heißt es: Von ihm habt ihr es, daß ihr nie ruhig sein könnt, und euch immer so treibt; daher kommt es, daß ihr, wenn ihr sonst gar nichts zu tun habt, auf alberne Weise

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[Schlegel]: „Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie“, S. 490. Moritz: „Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers“, S. 301. Ebd., S. 299. Böschenstein-Schäfer, Renate: „Idyllisch/Idylle“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Harmonie – Material. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart, Weimar 2001, S. 119–138, Zitat S. 121. Schlegel: „Lucinde“, S. 28, 29.

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nach Charakter streben müßt, oder euch einer den anderen beobachten und ergründen wollt.28

Schlegels Idylle über den Müßiggang überführt die Debatte der Aufklärung und Klassik über die Gattungsproblematik somit in einen frühromantischen Gegenentwurf und radikalisiert die Kritik am Arkadien-Topos auf ironische Weise. Die literaturtheoretischen Implikationen dieser, so Gerhard Kaiser, „aufklärerischen Umdeutung des Sündenfalls“ 29 werden in der Idyllenforschung meist ausgeblendet, da Friedrich Schlegels Negation der Tradition immer wieder voraussetzungslos als „reine Reflexion“30 apostrophiert wird.

III. Anti-Idyllik zwischen Aufklärung, Klassik und Romantik. Herders Neger-Idyllen, Coleridges Fire, Famine, and Slaughter und Goldsmiths The Deserted Village Herders 1797 in den Briefen zu Beförderung der Humanität veröffentlichte Neger-Idyllen gelten seit jeher aufgrund ihrer Kolonialismuskritik und Einbettung in einen komplexen philosophischen und pädagogischen Entwurf als Grenzfall der Gattung. Herders wie ein Motto vorangestelltes Diktum, der „Neger malt den Teufel weiß“31 scheint wenig mit der in der Idyllik beschworenen sozialen Harmonie zu tun zu haben. Obwohl den NegerIdyllen für Herders Sicht der außereuropäischen Welt, für sein Humanitätskonzept, seine in der Auseinandersetzung mit Immanuel Kant formulierte Geschichtsphilosophie und die Diskussion über das idyllische Genre eine außerordentliche Bedeutung zukommt, sind die Texte von der Forschung kaum gewürdigt geworden.32 Herder verwirft den Arkadienmythos und entwickelt in der Zeitschrift Adrastea 1801 ein eigenständiges Konzept zeitgemäßer Idyllik. Hier fordert er, „neue Situationen, neue Farben“ und _____________   28 29 30 31 32

Ebd., S. 29. Kaiser, Gerhard: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 85. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart ²1977, S. 113. Herder, Johann Gottfried: „Briefe zu Beförderung der Humanität“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a., Bd. 7. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a.M. 1991, S. 674. Vgl. Mix, York-Gothart: „‚Der Neger malt den Teufel weiß.‘ J. G. Herders Neger-Idyllen im Kontext antiker Traditionsgebundenheit und zeitgenössischer Kolonialismuskritik“. In: Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Hg. v. Hans-Jürgen Lüsebrink. Göttingen 2006, S. 193–207; Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 100.

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„einen neuen Ausdruck“ in die Idylllik einzubringen, und propagiert die radikale Abkehr vom „Kram einer uns fremden Bilderwelt.“33 In Abgrenzung zur sterilen Topik der altbekannten Dialektik von Verlust und Utopie schlägt er eine Ausweitung auf Themen und Motive vor, die schon in Vergils Bucolica, wie beispielsweise der Krieg, als Negation des Idyllischen begriffen worden sind: Auf dem „Schlachtfelde,“ so Herder, „gibt es zwischen Menschen und Menschen herzdurchschneidende Situationen der Klage und des Erbarmens, Idyllenszenen. So sonderbar der Name klingt; Lager-, Kriegs-, Schlachtidyllen; Dank dem Menschengefühl! so wahr ist er.“34 Diese Vorstellung findet sich in nuce auch in der dritten Sammlung der Briefe zu Beförderung der Humanität unter dem Titel Von der Humanität Homers in Ansehnung des Krieges und der Kriegführenden seiner Iliade. Für ihn „dachte Homer über Krieg und Frieden menschlich,“ die kriegerischen Szenen in der Ilias sind, so Herder, weit „entfernt von der barbarischen Kleinmut,“ die „Feinde verunglimpfend zu belügen.“35 Summa summarum: „Tote lässt er nie als Tiere fallen; er bezeichnet, so viel er kann […] als Menschenfreund ihr trauriges Schicksal.“36 In seinem Urteil, Homer beschreibe die Trojaner als „eine Herde Schafe, die von Wölfen angefallen wird“,37 offenbart sich eine differenzierte anthropologische Sichtweise Herders. Mit dem Verweis auf das Schaf und den Wolf ist das Problem der Aggression, des Räubers und Opfers, benannt. Auch Geßner hat diesen Aspekt, wie seine Illustration zum blutigen „Ende des Friedensvertrags zwischen Schäfern und Wölfen“ zeigt, reflektiert, aber in seinen Idyllen die „Aggression“ dem herkömmlichen Gattungsverständnis gemäß „ausgespart oder weitgehend eingeschränkt“, obwohl das Brachiale des Krieges und der Knechtschaft bereits in der Ecloga prima der Bucolica Vergils im Dialog zwischen Meliboeus und dem ehemaligen Sklaven Tityrus demonstrativ thematisiert wird und somit die kontrastive Potenz des Anti-Idyllischen von Anfang an präsent ist: „neque servitio me exire licebat nec tam praesentis alibi cognoscere divos.“38 Herders Kritik an Geßner setzt an diesem Punkt ein, für ihn ist _____________   33 34 35 36 37 38

Herder, Johann Gottfried: „Idyll“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a., Bd. X. Adrastea (Auswahl). Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt a.M. 2000, S. 276–283, Zitat S. 283. Herder: „Idyll“, S. 281. Vgl. in diesem Zusammenhang P.[ublius] Vergilius Maro: „Ecloga decima“. In: Ders.: Bucolica. Hirtengedichte. Studienausgabe. Hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 2001, S. 84–89, S. 86. Herder: „Briefe zu Beförderung der Humanität“, S. 192. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192. Böschenstein-Schäfer, Renate: „Gessner und die Wölfe. Zum Verhältnis von Idylle und Aggression“. In: Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner 1730–1788. [Katalogbearb.

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die Antike keine harmonische Norm, er nennt die Sklavenhaltergesellschaft beim Namen und setzt dem idealisierten Griechenbild der Klassiker einen eschatologischen, aber undogmatischen Aufklärungsoptimismus entgegen. Herders Negation einer „Angelität im Menschen“ und sein Idyllenkonzept in den Briefen zu Beförderung der Humanität resultiert aus seiner Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution und seiner kritischen Antikesicht: „Humanität ist der Charakter unsres Geschlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren, und muß uns eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die Welt mit.“ 39 Wie zeitgemäß Herders Überlegungen sind, offenbart die fast gleichzeitig mit den Neger-Idyllen publizierte Dichtung Fire, Famine, and Slaughter von Samuel Taylor Coleridge. Diese Kriegsidylle Coleridges imaginiert in unidyllischer Drastik die Gräuel bei der Niederschlagung des Aufstands in der Vendée 1796 durch General Louis-Lazare Hoche. Bei ihrem Zusammentreffen in einem „desolated Tract in La Vendée“ überbieten sich die drei, an die Hexen in William Shakespeares Drama Macbeth erinnernden Schwestern Fire, Famine und Slaughter in ihren Schilderungen menschlichen Elends, ein Wolf und eine Aaskrähe fallen auf dem sumpfigen Schlachtfeld über die herumliegenden Toten her: Famine. Thanks, sister, thanks! The men have bled, Their wives and their children faint for bread. I stood in a swampy field of battle; With bones and skulls I made a rattle, To frighten the wolf and carrion-crow And the homeless dog – but they would not go.40

Im Gegensatz zu Herders Neger-Idyllen kennt die Kriegsidylle von Coleridge, der nach der Französischen Revolution die Gründung einer kommunistischen Sozietät Pantisocracy am Susquehanna in Nordamerika plante, keinen humanitären Optimismus. Coleridges Fire, Famine, and Slaughter stellt sich als Anti-Idylle dar, die konsequent mit allen Gattungskonventionen bricht. Der Rekurs auf die _____________  

39

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Martin Bircher]. Wolfenbüttel ²1982, S. 71–73, Zitat S. 71; P.[ublius] Vergilius Maro: „Ecloga prima“. In: Ders.: Bucolica. Hirtengedichte. Studienausgabe. Hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 2001, S. 6–15, S. 10. Herder: „Briefe zur Beförderung der Humanität“, S. 148; Vgl. auch „Johann Gottfried Herder an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 28.5.1792“. In: Ders.: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Unter Leitung v. Karl-Heinz Hahn hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und SchillerArchiv), Bd. 6. August 1788 – Dezember 1792. Bearb. v. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold. Weimar 1981, S. 270–272, hier insbes. S. 272. Coleridge, Samuel Taylor: „Fire, Famine, and Slaughter“. In: Poetical Works, Part I. Hg. v. James C. C. Mays. London 2001, S. 428–444, Zitat S. 442.

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Antike, der im Untertitel „A War Eclogue“41 demonstriert wird, ist Programm: ein Plädoyer für die aus romantischer Sicht durch den Klassizismus gemaßregelte dichterische Imagination und als Manifest schmerzlicher Desillusionierung. Coleridges Parallelisierung der verheerenden Verwüstung der Vendée mit der von William Pitt zu verantwortenden Zerstörung ganzer Landstriche in Ulster 1797 zeigt seinen Blick für die namenlosen Opfer der Geschichte, die Abkehr von seiner ursprünglichen Revolutionsbegeisterung und seine skeptische Distanz gegenüber den Exekutionen politischer Macht: Fire. Sisters! I from Ireland came! Hedge and corn-fields all on flame, In triumphed o’er the setting sun! […] By the light of his blazing cot Was many a naked Rebel shot: The house-stream met the flame and hissed, While crash! Fell in the roof, i wist, On some of those old bed-rid nurses, That deal in discontent and curses.42

Die Furie der Gewalt ähnelt sich, ganz gleich, ob sie vom Direktorium der Französischen Republik oder der britischen Krone entfesselt wird. Seine Distanz gegenüber der Entwicklung im revolutionären Frankreich macht der englische Romantiker immer wieder publik: Coleridge „condemned ‚the horrors of La Vendée‘“43 nicht nur in der Idylle Fire, famine, and Slaughter, sondern auch schon 1796 in mehreren Nummern seines politischen Journals The Watchman. Das von Percy Bysshe Shelley gefeierte Gedicht France: An Ode artikuliert das Befremden über den Angriff Napoleon Bonapartes gegen die Schweizer Eidgenossenschaft nach der Eroberung Oberitaliens. Ähnliches gilt für das Poem Fears in Solitude, das Naturschönheit als psychosoziales Refugium en face politischer Bedrohungen feiert. 1798 beschäftigt sich Coleridge in Göttingen intensiv mit deutscher Aufklärungsphilosophie. Vor allem die Lektüre der Schriften Kants forciert seine Abwendung vom englischen Empirismus, eine Entwicklung, die sich bereits 1794 in der den Schöpfungsmythos reflektierenden, visionären Dichtung Religious Musings ankündigt. Die hier ästhetisierte Vorstellung einer wiedergewonnenen Einheit des aus dem Paradies vertriebenen Menschen mit der Schöpfung und Gott verweist auf John Miltons Epen Paradise Lost und Paradise Regain’d. _____________   41 42 43

Ebd., S. 428. Ebd., S. 443. Ebd., S. 428.

Idyllik, Anti-Idyllik, Aufklärung und Selbstaufklärung

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Miltons Epen stehen auch am Ende des 18. Jahrhunderts noch im Zentrum poetologischen Interesses. Coleridges Vortragsreihe The Principles of Poetry an der London Philosophical Society wird 1808 mit dem Untertitel A Course of Lectures on Shakespeare and Milton angekündigt. Für die deutsche Idyllendichtung der Aufklärung sind vor allem Milton, Goldsmith, aber auch Alexander Pope, John Gay und andere englische Autoren stilbildend. Die „Identifikation von Goldenem Zeitalter und biblischer Patriarchenwelt“44 begünstigt eine Umorientierung der Dialektik von Verlust und Utopie zu einem Dualismus von Verlust und Verheißung. Johann Jacob Bodmers an Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias anknüpfende ‚Patriarchaden‘ fördern die Tendenz „der Idylle zu alttestamentarischen Vorwürfen.“45 Auch die Patriarchalischen Idyllen des Hainbündlers Ernst Theodor Johann Brückner können den Einfluss von Milton und Klopstock nicht leugnen. Die von Moritz unter der Überschrift Aus Miltons verlorenem Paradiese aufgeworfene Frage, ob „der Handel“,46 die Ökonomie, für die Vertreibung aus dem Paradies und den Verlust der Naivität verantwortlich zu machen ist, wird von Herder in seinen Neger-Idyllen auf besonders drastische Weise thematisiert. Der Sklavenhandel als die radikalste Form der Ausbeutung und Unterdrückung ist für Herder das Sinnbild einer totalen Denaturierung des Menschen. Konsequent wendet er sich gegen die juristische und ökonomische Verfügbarkeit menschlichen Lebens. Schon im zweiten Teil der 1785 publizierten Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit verweist Herder auf eine ursprüngliche und grundsätzliche Einheit des Menschengeschlechts und tritt dem für die Legitimierung der Kolonialisierung so folgenschweren Begriff der Rasse entgegen, indem er erklärt, es existiere kein Argument, diese Klassifizierung „in die systematische Naturgeschichte“ oder in die „physisch-geographische Geschichte der Menschheit“47 einzuführen. „Kurz“, so resümiert Herder, „weder vier oder fünf Rassen, noch ausschließende Varietäten gibt es auf der Erde.“ 48 Die vehemente Kritik an der Missachtung menschlicher Egalität und Freiheitsrechte durchzieht wie ein Leitgedanke Herders Werk. Bereits 1774 spricht er in der Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschhheit den Zusammenhang zwischen Xenophobie, der Negation _____________   44 45 46 47 48

Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 84. Ebd., S. 57. Moritz: „Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers“, S. 299. Herder, Johann Gottfried: „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a., Bd. 6. Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1989, S. 256. Ebd.

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sozialer Egalität und ökonomischer Ausbeutung an und konfrontiert die Europäer mit dem Vorwurf, „drei Weltteile als Sklaven zu brauchen“ und ihre Bewohner „in Silbergruben und Zuckermühlen zu verbannen“.49 Herders Erwähnung der Zuckermühlen ist als Hinweis auf eine inhumane wirtschaftliche Praxis zu verstehen, die zu dieser Zeit mehrfach in der Literatur kritisiert wird und im Hintergrund der Neger-Idyllen steht: der atlantische Dreieckshandel.50 Die Muster von Herders kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung korrelieren, in der Regel resultieren die Übel der außereuropäischen Welt aus denen der europäischen Zivilisation und potenzieren diese wiederum in einem reziproken Wirkungsverhältnis. Für Herder ist Europa der „anmaßende, zudringliche“ und „übervorteilende Teil der Erde“, der, so in den Briefen zu Beförderung der Humanität, durch „ungerechte Kriege, Geiz, Betrug, Unterdrückung“ und Krankheiten der „unbewehrten, zutrauenden Menschheit“51 in Übersee horrenden Schaden zufügt. Aus dieser Schuld erwachse, so Herder, eine Verpflichtung für die Kolonialmächte, das zu „ersetzen“, was „verschuldet“ und „verbrochen“ worden ist, da ein Eintreten für das „Allgemeingute“ auch „das Allgemeinnützlichste wäre.“52 Herder will die moraldidaktische Funktion der Idylle in der Gegenwart, jenseits von „Utopien“,53 sichern und nähert sein poetologisches Konzept der Affektpsychologie Gotthold Ephraim Lessings und der im Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes entwickelten Mitleidslehre Rousseaus an. Wie Rousseau integriert Herder seinen Mitleidsbegriff in eine radikale Kritik der europäischen Zivilisation, die Fähigkeit zum Mitleiden bewertet er als eine naturgegebene Empfindung, die den meisten Mitmenschen im Prozess der kulturellen Entwicklung abhanden gekommen ist. Im Anschluss an die Neger-Idyllen heißt es: Nur können, haben, herrschen, genießen will der verdorben-kultivierte Mensch […]. In Romanen beweinen wir den Schmetterling, dem der Regen die Flügel netzt; in Gesprächen kochen wir vor großen Gesinnungen über; und für jene moralische

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Herder, Johann Gottfried: „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a., Bd. 4. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum. 1774–1787. Hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994, S. 9–107, Zitat S. 74. Vgl. Degn, Christian: Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen. Neumünster 1974; Mix, York-Gothart: „Zucker, Menschenglück und Peitsche. Friedrich Schillers Mäzen Heinrich Ernst von Schimmelmann als Sklavenhalter und redlicher Mann am Hofe“. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Alberto Martino. Tübingen 1989, S. 317–336, hier insbes. S. 321ff. Herder: „Briefe zur Beförderung der Humanität“, S. 672. Ebd., S. 741. Herder: „Idyll“, S. 282.

Idyllik, Anti-Idyllik, Aufklärung und Selbstaufklärung

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Verfallenheit unsres Geschlechts, aus der alles Übel entspringt, haben wir kein Auge. Dem Geiz, dem Stolz, unsrer trägen Langenweile schlachten wir tausend Opfer, die uns keine Träne kosten.54

„Unschuld“ und „Mitleid“ sind denn auch die Begriffe, mit denen die Charakterdispositionen der Sklaven in den Neger-Idyllen umschrieben werden, während es über die weißen Herren heißt: Ihr Weiße habt nur eine halbe Seele, Die nicht zu lieben, nicht zu hassen weiß. Nur Gold ist eure Leidenschaft.55

Die bereits in den Moral Weeklies vertretene und durch Goldsmiths Idylle The Deserted Village wirkungsvoll ästhetisierte Botschaft, die Prätention nach Pomp und Luxus lasse auf „innere Unwahrheit“56 schließen, wird von Herder ethnokulturell pointiert. Auch in Goldsmiths Dorfidylle sind es Luxus, Heimtücke und menschliche Schwäche, die für die Zerstörung ursprünglicher Glückseligkeit verantwortlich sind: O, luxury! thou curst by Heaven’s decree, Ho will exchang’d are things like these for thee! How do thy potions, with insidious joy, Diffuse their pleasures only to destroy!57

Ungeachtet der en face einer herrschenden Lehre der mercantile school formulierten Kritik sind Goldsmiths Idyllenverse, über die Herder in Straßburg mit Goethe debattiert hat,58 dennoch der genretypischen Klage über den Verlust verpflichtet: „Written as an anti-pastoral it came to be read as a pastoral.“59 Herder schätzt Goldsmiths Idyllenkonzeption, zeigt sich aber in seinen Neger-Idyllen bemüht, den elegischen Grundton der 1770 erschienenen Versdichtung The Deserted Village zu vermeiden, der trotz des demonstrativen Gegenwartsbezugs und des Verzichts auf jede antikisierende Szenerie offenkundig ist. Die Neger-Idyllen lösen die Prämissen der in seinen Beiträgen Theokrit und Gessner sowie Idyll formulierten Kritik ein und umgehen die von Kant und Schiller kritisierte nostalgische Orientierung, ohne den humanitären Anspruch und die Grundsatzfrage der Gleichheit des Men_____________   54 55 56 57 58

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Herder: „Briefe zur Beförderung der Humanität“, S. 686. Ebd., S. 676, 678, 681, 682. Martens, Wolfgang: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 347. Goldsmith, [Oliver]: The Deserted Village. Manchester 1793, S. 13. Vgl. Haym, Rudolf: Herder, Bd. 1. Berlin 1954, S. 414ff.; Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 109; Goethe, Johann Wolfgang: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, Bd. 9. Autobiographische Schriften 1. Hg. v. Erich Trunz. München 71974, S. 7–598, S. 427ff. Gifford, Terry: Pastoral. London 1999, S. 122.

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schen in ein utopisches Elysium zu projizieren. Entsprechend ihrem Publikationskontext, den Briefen zu Beförderung der Humanität, sind sie eine Anleitung zum tätigen Handeln. Die Indifferenz der Gattung, die im oft kolportierten Paradox, Geßners Idyllen seien ebenso die Lieblingslektüre von Marie Antoinette wie von Maximilien de Robespierre gewesen, auf bizarre Weise deutlich wird, ist im 115. Brief zu Beförderung der Humanität zugunsten einer klaren Parteinahme gewendet. Hier heißt es: Eine Geschichte des aufgehobenen Negerhandels und der abgestelleten Sklaverei in allen Weltteilen wird einst ein schönes Denkmal im Vorhofe des Tempels allgemeiner Menschlichkeit sein, dessen Bau künftigen Zeiten bevorstehet.60

Herders Neger-Idyllen müssen de facto als ein substantieller Beitrag zur Selbstaufklärung der Aufklärung angesehen werden. Rudolf Hayms voreiligem Urteil ist entschieden und grundsätzlich zu widersprechen.61 Haym ignoriert die Genese des Anti-Idyllischen bei Vergil und wird der Komplexität der Gattung nicht gerecht. Die bei Herder konkretisierte Kritik des Arkadienmythos ist ebenso wie die Idyllen Fire, Famine, and Slaughter und The Deserted Village als Revolutionierung eines Genres einzustufen, das Schiller seinem Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung im Rekurs auf Kant als ‚das schwürigste Problem‘ angesehen hat.

Literaturverzeichnis Böschenstein-Schäfer, Renate: „Idyllisch/Idylle“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Harmonie – Material. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart, Weimar 2001, S. 119–138. Böschenstein-Schäfer, Renate: „Gessner und die Wölfe. Zum Verhältnis von Idylle und Aggression“. In: Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner 1730–1788. [Katalogbearb. Martin Bircher]. Wolfenbüttel ²1982, S. 71–73. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart ²1977. Coledridge, Samuel Taylor: „Fire, Famine, and Slaughter“. In: Poetical Works, Part I. Hg. v. James C. C. Mays. London 2001, S. 428–444. Degn, Christian: Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen. Neumünster 1974. Dubos, [Jean Baptiste]: Reflexions critiques sur la poesie et sur la peinture. Première partie. Paris 51746. Gifford, Terry: Pastoral. London 1999.

_____________   60 61

Herder: „Briefe zur Beförderung der Humanität“, S. 696. Vgl. Haym, Rudolf: Herder, Bd. 2. Berlin 1954, S. 820.

Idyllik, Anti-Idyllik, Aufklärung und Selbstaufklärung

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Goethe, Johann Wolfgang: „Moralische Erzählungen und Idyllen von Diderot und S. Geßner“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hg. v. Friedmar Apel, Hendrik Birus u. a., Abt. I, Bd. 18. Hg. v. Friedmar Apel. Frankfurt 1998, S. 46–49. Goethe, Johann Wolfgang: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, Bd. 9. Autobiographische Schriften 1. Hg. v. Erich Trunz. München 71974, S. 7–598. Goldsmith, [Oliver]: The Deserted Village. Manchester 1793. Haym, Rudolf: Herder, Bd. 1. Berlin 1954. Haym, Rudolf: Herder, Bd. 2. Berlin 1954. Herder, Johann Gottfried: „Idyll“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold, Martin Bollacher u. a., Bd. X. Hg. v. Günter Arnold. Frankfurt a.M. 2000, S. 276– 283. Herder, Johann Gottfried: „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a., Bd. 4. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum. 1774–1787. Hg. v. Jürgen Brummack u. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994, S. 9–107. Herder, Johann Gottfried: „Briefe zu Beförderung der Humanität“. In: Ders. Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a., Bd. 7. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt a.M. 1991. Herder, Johann Gottfried: „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a., Bd. 6. Hg. v. Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1989. Herder, Johann Gottfried: „Theokrit und Gessner“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Martin Bollacher, Jürgen Brummack u. a., Bd. 1. Frühe Schriften. 1764–1772. Hg. v. Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 351–360. Herder, Johann Gottfried an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, 28.5. 1792. In: Ders.: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Unter Leitung v. Karl-Heinz Hahn hg. v. den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv), Bd. 6. August 1788 – Dezember 1792. Bearb. v. Wilhelm Dobbek u. Günter Arnold. Weimar 1981, S. 270–272. Kaiser, Gerhard: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977. Kant, Immanuel: „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. In: Ders.: Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 8. Abhandlungen nach 1781. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1968, S. 107–124. Martens, Wolfgang: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968. Mix, York-Gothart: „‚Der Neger malt den Teufel weiß.‘ J. G. Herders Neger-Idyllen im Kontext antiker Traditionsgebundenheit und zeitgenössischer Kolonialismuskritik“. In: Das Europa der Aufklärung und die außereuropäische koloniale Welt. Hg. v. Hans-Jürgen Lüsebrink. Göttingen 2006, S. 193–207. Mix, York-Gothart: „Zucker, Menschenglück und Peitsche. Friedrich Schillers Mäzen Heinrich Ernst von Schimmelmann als Sklavenhalter und redlicher Mann am Hofe“. In: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–

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YORK-GOTHART MIX

1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Alberto Martino. Tübingen 1989, S. 317–336. Moritz, Karl Philipp: „Fragmente aus dem Tagebuche eines Geistersehers“. In: Ders.: Werke, Bd. 3. Erfahrung, Sprache, Denken. Hg. v. Horst Günther. Frankfurt a.M. 1981, S. 271–322. Schiller, Friedrich: „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde“. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen. Hg. i. A. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, Bd. 17. Historische Schriften. Teil 1. Hg. v. Karl-Heinz Hahn. Weimar 1970, S. 398–413. Schiller, Friedrich an Wilhelm von Humboldt, 29.–30.11.1795. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen. Hg. i. A. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, Bd. 28. Briefwechsel. Schillers Briefe 1.7.1795–31.10.1796. Hg. v. Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 115–122. Schiller, Friedrich: „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen. Hg. i. A. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und SchillerArchiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, Bd. 20. Philosophische Schriften, Teil 1. Hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 413–503. Schlegel, Friedrich: „Lucinde“. In: Ders.: Kritische Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler unter Mitw. v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner, Bd. 5. Dichtungen. Hg. v. Hans Eichner. München u. a. 1962, S. 1–82. [Schlegel, Johann Adolf]: „Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie“. In: Batteux, [Charles]: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt, und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen. Leipzig ²1759, S. 460–517. Schwabe, Johann Joachim: „Vorrede“. In: Gottsched, Johann Christoph: Gedichte. Leipzig ²1751, unpaginiert. Trapp, Joseph: „De Poemate Pastorali“. In: Ders.: Prælectiones Poeticae: in Schola Naturalis Philosophiæ Oxon. London ²1722, S. 196–211. P.[ublius] Vergilius Maro: „Ecloga prima“. In: Ders.: Bucolica. Hirtengedichte. Studienausgabe. Hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 2001, S. 6–15. P.[ublius] Vergilius Maro: „Ecloga decima“. In: Ders.: Bucolica. Hirtengedichte. Studienausgabe. Hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 2001, S. 84–89.

 

Herr und Knecht in der (Anti-)Idyllik von Johann Heinrich Voß und Fritz Reuter NINA BIRKNER 1783 publiziert George Crabbe sein Gedicht The Village – eine AntiIdylle,1 in der die Gattungskonvention bewusst negiert und die literarische Tradition mit der ländlichen Realität kontrastiert wird. Im Unterschied zur klassischen Schäferdichtung, in der die realen sozialen Missstände hinter „tinsel trappings of poetic pride“ – hinter ‚poetischem Flitterwerk‘ – verschwinden, zielt Crabbe darauf, „the real picture of the poor“2 zu zeichnen. Daher setzt er in seinem Gedicht den „ländlichen Spielen den Schmuggel, der Gesundheit die Zerrüttung durch die Arbeit“ und „dem friedlichen Alter das Elend im Armenhaus“ entgegen.3 Wie in der englischen Literatur ist die Differenz zwischen der arkadischen Schäferwelt und dem realen ländlichen Leben auch im deutschsprachigen Raum vielfach thematisiert worden. In der Gattungstheorie des 18. Jahrhunderts hat sich zuerst Johann Christoph Gottsched mit der Frage auseinandergesetzt, „wie das Verhältnis der Hirtenfiktion zur Wirklichkeit zu bestimmen und zu rechtfertigen sei“.4 In seiner Critischen Dichtkunst vor die Deutschen konstatiert er: „Unsre Landleute sind mehrenteils armselige, gedrückte und geplagte Leute“ und fordert daher: „Es müssen ganz andre

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Als Anti-Idyllen werden im Folgenden solche Texte bezeichnet, die im Paratext als ,Idylle‘ bezeichnet werden oder durch den Rekurs auf substantielle idyllische Topoi einen deutlichen Bezug zur Gattungstradition besitzen, in denen aber keine sozialutopische Gegenwelt, sondern Missstände geschildert werden. In solchen Texten wird die literarische Tradition bewusst negiert und das Denkbild des Idyllischen destruiert. Crabbe, George: „The Village“. In: The poetical works of George Crabbe. Complete in one volume. Paris 1829, S. 5. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 1967, S. 68. Schneider, Helmut J.: „Einleitung. Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie“. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–76, Zitat S. 16.

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Schäfer seyn, die ein Poet abschildern […] soll“.5 Ähnlich wie Gottsched argumentieren auch Salomon Geßner oder Johann Adolf Schlegel. Anstatt das Genre wegen seiner Realitätsferne zu problematisieren, distanzieren sich die Autoren von dem Anspruch einer mimetischen Darstellung der sozialen Realität und begreifen die Idylle als ‚idealisches Muster‘6 einer nicht entfremdeten humanen Existenz, als vermeintlich natürliches Gegenbild und Korrektiv der Zivilisation. Zu den wenigen deutschsprachigen Dichtern des 18. und 19. Jahrhunderts, die das Genre der Idylle ähnlich wie Crabbe dazu genutzt haben, Kritik an den sozialen Missständen ihrer Zeit zu üben, zählen Johann Heinrich Voß und Fritz Reuter. Beide Autoren befassen sich mit den inhumanen Lebensbedingungen der Landbevölkerung in ihrer Heimat Mecklenburg.7 Voß schildert das Elend der geknechteten Bauern in seiner Anti-Idylle8 Die Leibeigenen (1775). In der Erstausgabe der Sammlung seiner Idyllen von 1801 folgen dem Text Die Erleichterten (1800) und Die Freigelassenen (1776). Die erste Idylle zeigt, wie sich die adligen Herrn entscheiden, ihr Gut an die ihnen untergebenen Bauern zu verpachten; und in der zweiten, die die Zeit zwölf Jahre nach der Freilassung der Bauern in den Blick nimmt, werden die ökonomischen, moralischen und gesellschaftspolitischen Vorzüge der von den Adligen veranlassten Reform dargestellt. Im Unterschied zu Voß fokussiert Reuter in seiner Erzählung Kein Hüsung von 1857 die Lebensbedingungen der Tagelöhner in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts,9 die sich – trotz der formaljuristischen Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1820 – kaum verändert haben. Im Folgenden sollen die genannten Anti-Idyllen vergleichend analysiert werden. Dabei wird erstens auf thematischer Ebene das für die Texte konstitutive Verhältnis von Herr und Knecht untersucht. Zweitens wird auf literarästhetischer Ebene nach den von den Autoren verwendeten idyllischen Topoi und ihrer Funktion gefragt. _____________   5 6 7 8

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Gottsched, Johann Christoph: „Critische Dichtkunst vor die Deutschen“. In: Ders.: Ausgewählte Werke, Bd. 6. Versuch einer Critischen Dichtkunst. Teil 2. Anderer besonderer Theil. Hg. v. Joachim Birke u. Brigitte Birke. Berlin, New York 1973, Zitat S. 76. Vgl. Schneider (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert, insbes. S. 128. Vgl. Boll, Ernst: Geschichte Meklenburgs mit besonderer Berücksichtigung der Culturgeschichte. Zweiter Theil. Neubrandenburg 1859, S. 606. Voß hat seine Idyllen Die Pferdeknechte und Der Ährenkranz 1775 fertiggestellt und beide unter dem Titel Die Leibeigenschaft publiziert. Seine Idylle Die Erleichterten ist später entstanden und in der Ausgabe seiner Gedichte von 1801 zwischen den beiden genannten Idyllen platziert worden. Man kann also von einer Idyllentrilogie sprechen. Vgl. Spiewok, Wolfgang: „Kein Hüsung – Epos und Film“. In: Fritz Reuter. Eine Festschrift zum 150. Geburtstag. Hg. v. Fritz-Reuter Komitee der DDR. Rostock 1960, S. 64–85, Zitat S. 69.

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I. Zu Voß’ Idyllentrilogie In Die Leibeigenen rekurriert Voß auf die antike Idyllentradition. Er führt zwei Landleute vor, die sich am Abend vor dem Pfingstfest10 an einem locus amoenus befinden11 und über zwei für das Genre zentrale Themen sprechen – die Liebe und den Gesang.12 Das „klassische Gattungsmuster der theokritischen und vergilischen Idylle“13 wird außerdem durch die Verwendung des Hexameters als klassischem antiken Idyllenvers aufgerufen. Schon durch den Idyllentitel wird das arkadische Bild aber gebrochen, handelt es sich doch bei den Protagonisten Michel und Hans nicht um freie Hirten, sondern um Leibeigene, denen das Singen angesichts ihres Elends vergangen ist. Während die Hirten der traditionellen Idylle im Einklang mit der Natur leben, werden die beiden Bauern aus der harmonischen Naturordnung ausgeschlossen. Auch wenn der Mond „heitere Pfingsten“14 verkündet, können sie sich auf das anstehende ‚heilige‘ Fest angesichts ihrer Not nicht freuen. Willkürlich hat der Gutsherr die Michel in Aussicht gestellte Freiheit und Heirat versagt. Im Kontrast zu der versagten Verbindung steht das Zwitschern der Nachtigall, die seit dem Mittelalter als Symbol der Liebe gilt. Um die Inhumanität des Gutsbesitzers zu illustrieren, konzipiert ihn Voß als bösartige und sadistische Figur. Aus den Gesprächen der Knechte geht hervor, dass ihr Lohn unter dem Existenzminimum liegt. Geringe, aus materieller Not begangene Vergehen werden mit harten Strafen belegt und vom Herrn als besonderer ‚Kitzel‘ empfunden. Auch im privaten Bereich kann der Gutsbesitzer über seine Knechte „wie über Sachen“ 15 verfügen. Er ist in der Lage, ihnen die Heirat zu verweigern oder junge Männer an „landfremde Werber zum Militärdienst“ 16 zu verkaufen. Wie Hans konstatiert, werden die Jungen des Dorfs wie „Lastvieh“17 behandelt und die Mädchen missbraucht – ein Motiv, das in zahlreichen Texten zur Herr- und Knecht-Problematik eine zentrale Rolle spielt, so auch in Reu_____________   10 11 12 13 14 15 16 17

Bei dem Fest handelt es sich um ein beliebtes Idyllenmotiv, vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 10. Auf den locus amoenus verweist die idealisierte Naturlandschaft, die Nähe zu einer ‚kühlen Quelle‘, das Singen der Nachtigall, das Quaken der Frösche und das Rauschen des Kornes. Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 9. Kaiser, Gerhard: Wandrer und Idylle. Goethe und die Phänomenologie der Natur in der deutschen Dichtung von Geßner bis Gottfried Keller. Göttingen 1977, S. 27. Voß, Johann Heinrich: „Die Leibeigenen“. In: Ders.: Idyllen. Reutlingen 31802, S. 15–28, Zitat S. 15. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 108. Ebd. Voß: „Die Leibeigenen“, S. 20.

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ters Kein Hüsung. Man denke außerdem an Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais’ Hochzeit des Figaro (1778) oder an Johann Christian Krügers Die Candidaten (1748), wo die illegitimen sexuellen Übergriffe des Herrn in komödiantischer Form problematisiert werden. Eine Handhabe gegen die Willkür ihres Herrn besitzen die Knechte nicht, auch wenn sie durch den Einbezug in die ordentliche Gerichtsbarkeit de jure geschützt sind. De facto fehlt ihnen aber das notwendige Kapital, um einen Prozess gegen den Gutsherrn anzustrengen. Zudem werden alle Missstände durch den adligen Richter gedeckt. Hoffnung auf Veränderung besitzen die beiden Knechte nicht. Das zeigt sich in Michels Tagtraum von einer Heirat mit Leonore, der zum Hohn gerinnt, wenn er phantasiert: Bald wird der Hochzeitsreigen getanzt […] Unter Geschrei und Jauchzen der lang hinschwärmenden Jugend, Aecker und Wiesen hinab! … nach dem Takt, den der Prügel des Vogts schlägt!18

Die Resignation der Knechte kommt außerdem in der von Hans erzählten Gespenstergeschichte zum Ausdruck. Statt der eigenen Freiheit imaginiert er die ewige „Hölle der Unterdrücker“,19 die wie in der Realität – nun aber unter Zwang und mit „rothglühende[n] Ketten“20 behängt – ein ausschweifendes Leben führen. Auf diese Weise wird die Grenzenlosigkeit des Elends sowie die fehlende Hoffnung auf Strukturveränderungen illustriert. Literarästhetisch wird die Ausweglosigkeit der Situation durch den Rekurs auf idyllische Topoi veranschaulicht. Wie Renate BöschensteinSchäfer deutlich gemacht hat, handelt es sich bei der Idylle um eine rein statische Dichtung, in der die Zeit als handlungstreibendes Element keine Rolle spielt. Das Räumlich-Zuständliche des Genres zeigt sich etwa in der zyklischen Zeitvorstellung der Figuren, die Kreisform gilt als Grundfigur der Gattung.21 Sie findet sich auch in Voß’ Leibeigenen, so in dem Hochzeitsreigen und dem „Höllenreigen der adligen Gespenster“.22 Durch die Abwesenheit von Zeit wird das Idyllische in zahlreichen Texten des 19. Jahrhunderts mit einem „Todesraum“23 assoziiert, man denke an die be_____________   18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 22. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 108. Voß: „Die Leibeigenen“, S. 26. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 9. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 111. Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle, Todesraum und Aggression. Beiträge zur DrosteForschung. Bielefeld 2007; Böschenstein-Schäfer, Renate: „Todesraum und agrarische

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wohnte Insel in Adalbert Stifters Hagestolz (1844) oder an die Katzenmühle in Wilhelm Raabes Abu Telfan (1868). Das Gleiche gilt auch für Voß’ Anti-Idylle, erscheint doch Michel das Läuten der Kirchenglocken zum Pfingstfest wie „Todtengeläut“24 und die „schimmernden Lacken“,25 die Leonore im Mondschein bleicht, erinnern weniger an ein Braut- als an ein Totenhemd. Während der „idyllische Todesraum“ in den Texten des 19. Jahrhunderts in der Regel „eine Sphäre innerhalb der lebendigen Welt“ darstellt, „deren todesanaloger Charakter nicht als Bedrohung, sondern als Lockung wirkt“,26 verweist das Todesmotiv bei Voß auf das menschliche Leid, auf die inhumanen Lebensbedingungen der Bauern. Als ihre einzige Handlungsmöglichkeit wird die Selbstjustiz thematisiert, wenn Michel erwägt, dem Gutsherrn einen „röthlichen Hahn auf das Dach“27 zu setzen. Die Glut- und Feuer-Symbolik durchzieht die gesamte Anti-Idylle und ist Zeichen für den unterdrückten Widerstand der Bauern gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse.28 Der Plan der Brandlegung wird aus christlich-moralischen Gründen aber sofort wieder verworfen, schließlich ist Michel klar: Gott will vergelten![…] Nun in Geduld denn Ausgeharrt!29

Anstatt aktiv gegen die herrschenden Missstände zu kämpfen, entscheidet er sich im Sinne des Autors dafür, der himmlischen Gerichtsbarkeit zu vertrauen. Voß plädiert in seiner Anti-Idylle nicht für ein offenes Aufbegehren der Geknechteten, sondern für eine politische Reform von oben. Inwiefern? Während Aristoteles die Leibeigenen in seiner staatsphilosophischen Schrift Politik als „lebendige Werkzeuge“30 definiert, die im Unterschied zu ihren Herren keine Vernunft besitzen, sondern nur die Befriedigung _____________  

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Utopie. Zwei Gestaltungsformen des Idyllischen in der erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts“. In: Dies.: Verborgene Facetten. Studien zu Fontane. Würzburg 2006, S. 135–153. Voß: „Die Leibeigenen“, S. 15. Ebd., S. 16. Böschenstein-Schäfer: „Todesraum und agrarische Utopie“, S. 151. Voß: „Die Leibeigenen“, S. 23. „Die Glutröte der untergehenden Sonne, scheinbar lediglich Bestandteil eines friedvollen Naturbildes, deutet vor auf Michels Wunsch, einen rötlichen Hahn auf das Dach des Adelshofes zu setzen; sie deutet gleichfalls vor auf die Höllenglut der Gespenstergeschichte in der alten ‚wüsten Burg‘ […], und der Bogen rundet sich in der Schlußwendung, wenn die Knechte, beisammenhockend, einander Feuer für die Pfeife geben“, Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 111. Voß: „Die Leibeigenen“, S. 24. Aristoteles: Politik. Reinbek bei Hamburg 32009, S. 49.

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ihrer physischen Begierden im Blick haben, ist Voß von der Gleichheit der Menschen überzeugt. Für ihn sind alle menschlichen Wesen zu vernünftigem Handeln fähig. Wie etwa Jean-Jacques Rousseau ist er der Auffassung, dass die Menschen im „Naturzustand“31 gleichrangig und frei gewesen sind. Die gesetzliche Verankerung der Leibeigenschaft „in früherer Zeit“ sei daher ein „Unrecht“,32 eine Folge des Zivilisationsprozesses. Konsequenz der sozialen Ungleichheit ist für Voß die Verrohung der Knechte; der Mensch wird „entmenscht durch […] unmenschliche Herrschaft“,33 heißt es in den Erleichterten. Die Entfremdung des geknechteten Menschen von der Natur könne durch vorbildliches Handeln des Gutsbesitzers aber rückgängig gemacht werden, so Voß. Dieser solle für das materielle Wohl seiner Untergebenen sorgen, ihnen Bildung und christliche Werte vermitteln und sie auf diese Weise zur ‚Vernunft‘ erziehen. Nach Erreichen des Erziehungsziels ist den Knechten die Freiheit zu schenken. Das sei ihr „göttliches Recht“.34 Dass sich Voß mit seiner Idyllentrilogie nicht an die Bauern, sondern an den „Adel“ richtet, „der aus Einsicht seine Bauern freigeben soll“,35 geht auch aus einem Brief an Ernst Theodor Brückner vom 20.4.1775 hervor, in dem Voß konstatiert: Ich habe […] eine Idylle gemacht, die zum Gegenstand einen Mecklenb. Baron hat, der seine Bauern frei gegeben. […] Ich denke unterweilen so stolz, daß ich durch diese Gedichte Nuzen stiften könnte. Welch ein Lohn, wenn ich etwas zur Befreiung der armen Leibeigenen beigetragen hätte!36

Als Vorbild für solch einen aufgeklärten Gutsherrn dient Voß der holsteinische Hans Graf zu Rantzau auf Ascheberg, der seinen Leibeigenen 1739 die Freiheit geschenkt und sie zu Erbpächtern gemacht hat. Die Erziehung der adligen Gutsherrn, die Voß als Autor in der außerliterarischen Wirklichkeit leisten will, wird innerliterarisch von den Pfarrerfiguren übernommen, die als Vertreter von Vernunft, Recht, Frömmigkeit und Nächstenliebe fungieren. So wird dem Pfarrer in den Leibeigenen _____________   31 32 33 34 35 36

Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Stuttgart 1998, S. 35. Voß, Johann Heinrich: „Die Erleichterten“. In: Ders.: Idyllen. Reutlingen 31802, S. 29–46, Zitat S. 37. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 29. Voß, Johann Heinrich u. Ernestine Boie: „Doppelbrief an Ernst Theodor Johann Brückner vom 22. Februar und vom 20. März 1775“. In: Johann Heinrich Voß 1751–1826. Idylle, Polemik, Wohllaut. Hg. v. Elmar Mittler u. Inka Tappenbeck. Göttingen 2001, S. 209–214, Zitat S. 212f.

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zugetraut, den Gutsherrn durch seine Pfingstpredigt „zur Besinnung“37 zu bringen; auch in den Erleichterten wird ihm attestiert, für „geistliche[s]“ und „leibliche[s]“38 Wohl zu sorgen. Die größte Bedeutung kommt dem Prediger aber in den Freigelassenen zu. Hier wird die Entscheidung des Barons, den Leibeigenen die Freiheit zu schenken, auf seinen Einfluss zurückgeführt.39 Um die Gutsherrn zur Abschaffung der Leibeigenschaft zu bewegen, führt Voß moralische Gründe ins Feld. Er hält es für ein menschliches Gebot, die Untergebenen als freie Individuen sozial anzuerkennen.40 Diese Forderung lässt sich mit Axel Honneth auf die drei Anerkennungsformen Liebe, Recht und Wertschätzung beziehen.41 In den Idyllen wird erstens die persönliche Beziehungsebene zwischen Herr und Knecht thematisiert, die nicht von Zwang, sondern von „Liebe“42 geprägt sein soll. In den Freigelassenen wird eine patriarchalische (Herrschafts-)Ordnung imaginiert, in der sich Gutsherr und Pächter wie Vater und „Kinder“ 43 zueinander verhalten. Die hierarchisch flache, emotionale Beziehung zwischen Baron und Bauern manifestiert sich beispielsweise in gemeinsamen Mahlzeiten oder der empfindsamen Anteilnahme des Herrn an den Heiratsplänen seines Pächters.44 Zweitens fordert Voß „Gerechtigkeit“.45 Statt willkürlicher Herrschaft sollen die Bauern als Rechtssubjekte anerkannt werden. Drittens soll ihre Arbeit – als funktionale, für das gemeinsame Gute förderliche Leistung – durch eine adäquate Entlohnung anerkannt werden. Dabei hängt der Grad der sozialen Wertschätzung von den individuellen Fähigkeiten und Leistungen der Bauern ab. So werden in den Erleichterten die Fertigkeiten einzelner, namentlich genannter Knechte und Mägde besonders hervorgehoben.46 _____________   37 38 39 40

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Voß: „Die Leibeigenen“, S. 24. Voß: „Die Erleichterten“, S. 46. Vgl. Voß, Johann Heinrich: „Die Freigelassenen“. In: Ders.: Idyllen. Reutlingen 31802, S. 47–64, Zitat S. 53. Ebenso argumentiert Hans Graf zu Rantzau auf Ascheberg, wenn er erklärt, dass die Leibeigenschaft „den natürlichen und positiven Rechten zuwider“ sei und „als Pflicht des Menschen und des Staatsbürgers“ fordert, „daß man den unterdrückten und ganz zum Ackerwerkzeug herabgewürdigten Baurenstand wiederum hebe und beglücke“, zitiert nach: Der Göttinger Hainbund, Erster Teil. Johann Heinrich Voss. Hg. von August Sauer. Darmstadt 1966, S. 155, Anm. Vgl. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M. 1992. Vgl. u. a. Voß: „Die Erleichterten“, S. 44. Ebd., S. 39. Vgl. Voß: „Die Freigelassenen“, S. 54f. Ebd., S. 32. Vgl. Voß: „Die Erleichterten“, S. 31.

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Die soziale Anerkennung der Bauern durch den Gutsherrn ist für Voß die Voraussetzung für eine wechselseitige Wertschätzung, die für den Herrn von ökonomischem Vorteil ist, lassen sich durch motivierte Arbeitskräfte doch höhere Arbeitsleistungen erzielen als mit „verletzende[r] Aktionsmacht“.47 So heißt es in den Freigelassenen: Wir ackern tief, und dröschen aus, […] Kein Schweiß ist uns zu theuer! Kein harter Vogt steht hinter uns; Ein Wink vom lieben Herrn: wir thuns! Und liefen durch das Feuer!48

Gehörten Glut und Feuer in den Leibeigenen noch zur Symbolik des „unterdrückten […] Aufbegehrens“49 der Pferdeknechte, ist das Feuer hier Zeichen ihrer bedingungslosen Loyalität. Die Freilassung der Bauern sichert dem Gutsbesitzer außerdem unsterblichen Nachruhm. In den Idyllen wird die Abschaffung der Leibeigenschaft als ‚Erlösung‘ geschildert. Während der Mensch, dem christlichen Heilsverständnis nach, nur durch die Gnade Gottes von der „Sklaverei der Sünde“50 befreit werden kann, werden die Bauern bei Voß durch die Barmherzigkeit ihres Gutsherrn von der Knechtschaft befreit. Die Stilisierung der vorbildlichen Adligen zu Erlösern zeigt sich in den Erleichterten, wenn die Gutsbesitzer imaginieren, dass ihr Name zukünftig in der Predigt des Pfarrers, in „Red’ und Gesang, und in segnender/ Mütter Erzählung“51 genannt werden wird. In den Freigelassenen ist der noch lebende Gutsherr bereits seliggesprochen worden. So konstatiert der Bauer Henning: _____________   47

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Unter ‚Aktionsmacht‘ wird mit Heinrich Popitz die Macht verstanden, andere Menschen physisch zu verletzen. „Zur kreatürlichen Verletzbarkeit kommt die ökonomische Verletzbarkeit, die zahlreichen Möglichkeiten des Entzugs von Subsistenzmitteln, von Raub und Zerstörung und von Beschränkungen des Zugangs zu Ressourcen […]. Schließlich die Verletzbarkeit durch den Entzug sozialer Teilhabe“, Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. Tübingen 21992, S. 24f. Über die ökonomischen und moralischen Vorzüge der Aufhebung der Leibeigenschaft berichtet auch Rantzau in seiner Schrift Antwort eines alten Patrioten, wie der Baurenstand zu verbessern sei (Plön 1766), wenn er konstatiert: „die Bevölkerung werde unglaublich befördert; die Menschen werden klüger, fleißiger, vermögender und sittlicher, die Kinder werden besser erzogen; die Felder und Wiesen werden auf eine erstaunende Weise verbessert, neue Wohnungen und Scheuren gebaut, und jeder habe in seinem Hause eine beträchtliche Pflanzung von hartem und weichen Holz“, zitiert nach: Sauer (Hg.): Der Göttinger Hainbund, S. 79. Voß: „Die Freigelassenen“, S. 60. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 111. Reuter, Hans-Richard: „Versöhnung“. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35. Vernunft III – Wiederbringung aller. In Gemeinschaft mit Horst Balz hg. v. Gerhard Müller. Berlin 2003, S. 16–43, Zitat S. 23. Voß: „Die Erleichterten“, S. 38.

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Selig alhier schon ist er fürwahr! […] Alles nennt ihn Vater, geheim und öffentlich; alles Segnet ihn, kommt er zu sehen die Feldarbeit und den Haushalt; Alles betet für ihn und die Seinigen, Morgen und Abend!52

II. Zu Reuters Kein Hüsung Wie Voß befasst sich auch Reuter in seiner etwa achtzig Jahre später entstandenen niederdeutschen Verserzählung Kein Hüsung mit den existenziellen Nöten der mecklenburgischen Landbevölkerung. Trotz der formaljuristischen Aufhebung der Leibeigenschaft hat sich ihre soziale Situation kaum verändert, wie Reuter in Kenntnis von Ernst Bolls Standardwerk zur Geschichte Mecklenburgs von 1856 deutlich macht.53 Als Gründe dafür werden die Patrimonialgerichtsbarkeit und die nach der Abschaffung der Leibeigenschaft eingeführte ‚Heimatgesetzgebung‘ genannt. De jure benötigten die formal freien mecklenburgischen Bauern einen Niederlassungsschein von ihrem Gutsherrn, um eine Familie gründen und nicht ins Landarbeitshaus abgeschoben werden zu können. Um solch eine Genehmigung zu bekommen oder nicht zu verlieren, mussten sie sich, so Boll, „unbedingt dem Willen und den Launen […] des Herrn und seiner Wirthschafter unterwerfen“.54 Infolge dieser Gesetzgebung wurden nichteheliche Lebensgemeinschaften zur Regel. Zahlreiche Tagelöhner, denen Heimatrecht und Heirat verwehrt wurde, wanderten nach Amerika aus.55 Solch ein Heiratsverbot macht Reuter – ähnlich wie Voß in den Leibeigenen – zum Ausgangspunkt seiner Erzählung: Da sich die Tagelöhnertochter Mariken den Nachstellungen ihres Gutsherrn entzieht, verweigert _____________   52 53 54 55

Voß: „Die Freigelassenen“, S. 57. Zum Einfluß von Boll auf Reuter, vgl. Batt, Kurt: Fritz Reuter. Leben und Werk. Rostock 1967, S. 189ff. Boll: Geschichte Meklenburgs, S. 607. Vgl. Bunners, Christian: „Das Urteil des Berliner Pfarrers Adolf Thomas über Fritz Reuters Kein Hüsung“. In: Ders.: Fritz Reuter und der Protestantismus. Theologische Beiträge zu Fritz Reuter, seinem Werk und dessen Rezeption. Berlin 1987, S. 32–52; Dahnke, Hans-Dietrich: „‚Fri sall hei sin!‘ Das Thema Amerika in Reuters Kein Hüsung“. In: Die Auswanderung von Norddeutschland nach Amerika im Spiegel der Literatur. Hg. v. Christian Bunners. Rostock 2008, S. 49–62; Ihde, Horst: „Fritz Reuter und die Neue Welt. Der Einfluß der USA auf den Dichter“. In: Fritz Reuter und die Reformbestrebungen seiner Zeit. Hg. v. Christian Bunners. Rostock 2002, S. 79–98.

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dieser seinem Knecht Jehann den ‚Heimatschein‘, für die Schwangere ein existenzielles Problem, weil ihr als uneheliche Mutter die soziale Ausgrenzung droht. Die Situation verschärft sich, als Jehann seinen Herrn im Affekt ersticht. Während es dem Knecht mit Hilfe des alten Tagelöhners Daniel gelingt, nach Amerika zu fliehen, bleibt Mariken im Dorf zurück. Von ihrer Herrin vertrieben und unter der Androhung, gewaltsam von ihrem Kind getrennt zu werden, begeht sie – in geistiger Umnachtung – Selbstmord. Die Erzählung endet zehn Jahre später, als Jehann zurückkehrt, um seinen Sohn zu sich zu nehmen. In Amerika will er ihm das freie Leben ermöglichen, das Mariken und ihm verwehrt worden ist. Zahlreiche Einflüsse auf Reuters Dichtung lassen sich nachweisen. Zum einen bezieht er sich auf historisch belegte Ereignisse – auf die Lynchjustiz der Landarbeiter am Gutsherrn Georg Haberland auf Matzdorf bei Friedland im Jahr 1839.56 Zum anderen lassen sich literarische und publizistische Quellen, etwa Gustav Lierows Gedicht Die Heimatlose (1848), John Brinckmanns Fastelabendpredigt för Jehann (1855),57 politische „Äußerungen mecklenburgischer Liberaler“, der Kanon der „Volkserzählungen“58 oder Voß’ Idyllentrilogie anführen. Inwiefern rekurriert Reuter aber auf die Idyllentradition? Wie Heinz Christiansen hervorhebt, gibt es in Bezug auf die Frage, welcher Gattung Kein Hüsung zuzuordnen sei, keinen Forschungskonsens. Der Text ist als Epos, Novelle oder „Erzählung mit Elementen der Ballade“59 kategorisiert worden, Böschenstein-Schäfer nennt ihn eine „realistische Idylle“.60 Auch in zahlreichen zeitgenössischen Rezensionen ist von einem ‚Idyll‘ oder einer ‚idyllischen Erzählung‘ die Rede, so in den Blättern für literarische Unterhaltung,61 im Norddeutschen Correspondenten oder in der Illustrirten Zeitung, in der Kein Hüsung von Friedrich Hebbel rezensiert worden ist. _____________   56 57 58

59 60 61

Vgl. Schneidewind, Gisela: „Der Sagenkreis um den mecklenburgischen Gutsherrn Georg Haberland“. In: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde 5 (1959), Teil 1, S. 8–43, insbes. S. 12–15 u. S. 24–25. Vgl. Batt: Fritz Reuter, S. 194. Bunners: „Das Urteil des Berliner Pfarrers Adolf Thomas über Fritz Reuters Kein Hüsung“, S. 34. In seiner Monographie Fritz Reuter verweist Heinz C. Christiansen außerdem auf Matthias Claudius’ Gedicht Des alten lahmen Invaliden Görgel sein Neujahrswunsch und auf Ernst Moritz Arndts Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen, vgl. Christiansen, Heinz C.: Fritz Reuter. Stuttgart 1975. Christiansen: Fritz Reuter, S. 58. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 68. Blätter für literarische Unterhaltung vom 12.5.1859, zitiert nach: Fritz Reuter im Urteil der Literaturkritik seiner Zeit. Ausgewählt und kommentiert von Arnold Hückstädt. Rostock 1983, S. 88.

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Trotz dieser Positionen von Forschung und Literaturkritik muss konstatiert werden, dass sich Reuter nicht wie Voß an der den antiken Mustern verpflichteten Gattungstypologie orientiert. Kein Hüsung kann daher nicht im engen Sinn als Idylle definiert werden. Allerdings hat das literarische Genre in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts bereits an Bedeutung verloren, die Idylle hat sich von einer „literarische[n] Form“ zu einer „Idee“62 gewandelt. Dass die Idylle als Denkfigur auch in Reuters Text präsent bleibt,63 manifestiert sich vor allem in seiner Huldigung der Natur als harmonischer, vernünftig organisierter Schöpfung Gottes – für Christian Bunners ein „Nachklang physikotheologisch gestimmter Aufklärungsfrömmigkeit, eingefärbt mit Elementen aus Klassik und Romantik“.64 Ein Leben im Einklang mit der göttlichen Schöpfung scheint für Reuter nur auf dem Land möglich zu sein. So kontrastiert er das ‚natürliche‘ Leben der einfachen, moralisch integren Landbevölkerung mit der sittenlosen Lebensweise in der Stadt – der „zivilisierten Gesellschaft“.65 Das unentfremdete Dasein der Bauern kommt in ihrer zyklisch-traditionalen Zeitvorstellung zum Ausdruck, die für die Idylle konstitutiv ist. Ihnen erscheint die Zeit nicht als lineare Kontinuität, sondern als wiederkehrender Zyklus des Kirchenjahres, gegliedert durch Feiertage.66 Zyklisch geprägt _____________   62 63

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Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 97. Diese Position teilt Bichel, wenn er konstatiert: „Allerdings wird Kein Hüsung kaum von der für die Idyllentradition typischen Situationsschilderung bestimmt. Zwar ist sie vorhanden, z. B. in der Naturschilderung am Anfang oder in der Zeichnung der mit einer Wiege beschenkten jungen Mutter und ihrem Kind. Aber diese Versdichtung ist trotz aller Traditionsstränge, die sie mit der Idylle, insbesondere mit dem Leibeigenengedicht von Voß verbindet, als Ganzes wahrhaftig keine Idylle, allerdings auch kein Epos im typischen Sinne“, Bichel, Ulf: „Johann Heinrich Voß, Fritz Reuter und die Idylle“. In: Fritz Reuter, Neubrandenburg, 1848. Hg. v. Christian Bunners, Ulf Bichel u. Jürgen Grote. Hamburg 2000, S. 77–87, Zitat S. 84. Bunners, Christian: „Fritz Reuters Auftreten auf dem Protestantentag im Spiegel der Publizistik“. In: Ders.: Fritz Reuter und der Protestantismus. Theologische Beiträge zu Fritz Reuter, seinem Werk und dessen Rezeption. Berlin 1987, S. 19–31, Zitat S. 30. Tatsächlich finden sich Elemente der Romantik in Reuters Text, so Verweise auf Joseph von Eichendorffs Mondnacht. Lauten Eichendorffs erste Zeilen „Es war, als hätt’ der Himmel/ die Erde still geküsst,“ heißt es bei Reuter: „Dat is en Kuß, de hett de Hewen/ De Ird in Leiw un Andacht gewen“, Reuter, Fritz: „Kein Hüsung“. In: Ders.: Gesammelte Werke und Briefe, Bd. 3. De Reis’ nah Belligen, Kein Hüsung, Nanne Nüte un de lütte Pudel. Hg. v. Kurt Batt. Bearbeitet v. Arnold Hückstädt. Rostock 21995, S. 207–327, Zitat S. 232. Sengle, Friedrich: „Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen Thema der neueren deutschen Literatur“. In: Europäische Bukolik und Georgik. Hg. v. Klaus Garber. Darmstadt 1976, S. 432–460, Zitat S. 439. Einen Umzug in die Stadt lehnt Mariken daher ab, vgl. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 211. Die zyklische Zeitauffassung kommt etwa im fünften Kapitel zum Ausdruck, wenn der Erzähler erklärt: „Micheli is’t, dat Feld is klor,/ De Aust tau Schick, und wedder denkt/ De Minsch all up dat negste Johr“, Reuter: „Kein Hüsung“, S. 244.

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erscheint den Landleuten auch ihre eigene Lebenszeit. Wie den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten begreifen sie ihr eigenes Werden und Vergehen als Teil eines überindividuellen, zeitlosen Kreislaufs, wodurch Leid und Tod an Schrecken verlieren. Auch ihre Arbeit wird durch den Rhythmus der Natur strukturiert. Ihre Freude am Landbau ist als Zeichen ihres Einklangs mit der Schöpfungsordnung zu werten,67 die Kultivierung der Natur wird als gottgewolltes Gebot verstanden. Schließlich müssen die himmlischen Gaben verwaltet werden. Die arkadische Harmonie zwischen Mensch und Natur wird in Kein Hüsung allerdings durch den Gutsherrn massiv gestört. Um seine Vergehen und die daraus resultierende Entfremdung der Menschen von der Natur zu illustrieren, rekurriert Reuter auf idyllische Motive, die er mit der kläglichen Wirklichkeit kontrastiert, so im ersten Kapitel – De Noth –, in dem er das Bild eines locus amoenus entwirft und den existenziellen Nöten des Liebespaares gegenüberstellt. Ähnlich verfährt er im elften Kapitel, wenn er das Pfingstfest als ein von Gott gesegnetes Hochzeitsfest zwischen Himmel und Erde beschreibt und damit das Heiratsverbot des Herrn kritisch kommentiert. Hervorgehoben sei außerdem der im zehnten Kapitel geschilderte Weihnachtsabend, der auf die Geburt Jesu Christi und dessen „Liebesbotschaft“68 verweist, wird Mariken – die niederdeutsche Namensform von Maria – doch hier zur Madonna stilisiert. So heißt es bei Reuter: Sei geiht an’t Bedd; voräwer bögt Süht s’ in de ollen Kissen rin; Un’t is, as wenn en warmen Strahl Von Gottes Leiw un Gottes Sünn Hell schint in’t düst’re Hart hendal. De Nacht möt wiken vör dat Licht, Un all’t unheimlich Schummern flüggt; […] De Leiw, de wirkt, de Leiw, de wewt Dörch’t Hart den Hoffnungsfaden ehr, Von’n Himmel hoch, dor kümmt sei her Un bringt ok ehr den heil’gen Christ, Un Wihnacht-Heiligabend is’t.69

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Zur Arbeitslust der Bauern, vgl. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 243. Bunners, Christian: „Fritz Reuters Kein Hüsung – befreiungstheoretisch gelesen“. In: De Kennung: Zeitschrift für plattdeutsche Gemeindearbeit 12 (1989), H. 1, S. 1–21, Zitat S. 14. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 294. Übersetzt lautet die Textpassage: „Sie geht ans Bett, beugt sich darüber/ sieht in die alten Kissen rein;/ Und es ist, als wenn ein warmer Strahl/ von Gottes Liebe und Gottes Sonne/ Hell in das düstere Herz hinab scheinen würde./ Als wenn die Nacht vor dem Licht weichen müsste/ und all die unheimlichen Schatten wegflögen; […] Die Liebe, die wirkt, die Liebe, die webt/ den Hoffnungsfaden durch ihr Herz/ Vom Himmel hoch, da kommt sie her/ Und bringt auch ihr den ‚heil’gen Christ‘,/

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Das Glück der jungen Mutter wird im Folgenden durch die Gutsbesitzerin zerstört. Während die Heilige Familie am Weihnachtsabend im Stall unterkommt, wird Mariken aus ihrer Behausung vertrieben; ihrer mütterlichen Liebe wird die Hartherzigkeit der Hausherrin gegenübergestellt. Wie die idyllischen Topoi steht auch die Figurenkonzeption im Dienst der Gesellschaftskritik. Reuter führt die sozialen Fronten ähnlich wie Voß als moralische Gegensätze vor. Schematisch zeigt er die Tagelöhner als solidarisch, moralisch, empfindsam und fleißig, während die Gutsbesitzer als rachsüchtige, missgünstige, bigotte und verlogene „Minschenschinner“70 dargestellt werden. Wie in den Leibeigenen werden die Mägde des Dorfes vom Herrn zu sexuellen Handlungen genötigt und die Bauern werden als bloße ‚Arbeitswerkzeuge‘ betrachtet. Reuters Parteinahme für die ‚kleinen Leute‘ kommt auch darin zum Ausdruck – und auch in diesem Punkt folgt er Voß – „daß von den Gutsleuten nur als von ‚de Herr‘ und ‚de Fru‘ berichtet wird.“71 Die Dorfleute werden dagegen namentlich genannt und so zu Identifikationsfiguren. Trotz dieser Parallelen unterscheiden sich die Anti-Idyllen von Voß und Reuter gravierend in ihrer Haltung zur institutionalisierten Religion. Während Voß seinen aufgeklärten Pfarrerfiguren die Aufgabe zuweist, die adligen Gutsherrn zu humanem Handeln zu erziehen, übt Reuter massive Kritik an der Amtskirche. Realitätsfern verbiete sie die Sonntagsarbeit oder uneheliche Lebensgemeinschaften, obwohl diese Gebote angesichts der hohen Arbeitsbelastung und des Heiratsverbots nicht eingehalten werden könnten. Dennoch würden Zuwiderhandlungen mit aller Härte – mit Kirchenbuße oder dem Sitzpranger 72 – bestraft. Zudem richte sich die „Kasualpraxis“ der Pfarrer „ganz unchristlich“73 nach der sozialen Situation der Gläubigen, könnten sich die Besitzenden doch von ihren Sünden freikaufen.74 Zuletzt wirft Reuter den Predigern vor, die bestehenden Herrschaftsstrukturen durch ihre Aufklärungsfeindlichkeit zu stabilisieren. Angesichts dieser Missstände differenziert Jehann zwischen „de Preisteri“ und „Gotts Gebot“.75 Dass sich Reuter dezidiert von Voß’ optimistischem Vertrauen in die Landpfarrer und ihre Reformversuche distanziert, kommt am deutlichsten _____________  

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Und Weihnacht-Heiligabend ist.“ Die Bezeichnung ‚heil’gen Christ‘ kann im Niederdeutschen auch die Bedeutung von ‚Weihnachtsgeschenk‘ haben. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 214. Bunners: „Fritz Reuters Kein Hüsung – befreiungstheoretisch gelesen“, S. 5. Vgl. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 265. Bunners: „Das Urteil des Berliner Pfarrers Adolf Thomas über Fritz Reuters Kein Hüsung“, S. 34. Vgl. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 251, 265. Ebd., S. 252.

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in der von ihm geschilderten Kontroverse zwischen Jehann und Daniel zum Ausdruck, die als kritischer Kommentar zu den Leibeigenen zu lesen ist. Auf Jehanns Frage, warum er sich gegen die Repressionen seines Herrn noch nie zur Wehr gesetzt habe, antwortet Daniel ähnlich wie der Pferdeknecht Michel in Voß’ Anti-Idylle: Min Sähn, min Sähn, uns’ Herrgott lewt. ‚Mein is die Rache!‘ hett hei seggt; […] ‚Mein is die Rache!‘ Denk doran, Dat is en Trost för uns, Jehann‘.76

Die christlich-moralische Position des Alten, die in den Leibeigenen proklamiert wird, lehnt Jehann, der als Sprachrohr des Autors fungiert,77 aber ab. Er entgegnet dem Freund: ‚Mein is die Rache!‘ spreckt de Herr. Dat is recht gaud. Ja! Äwer wer Lett sick sin ein un all’ns verdarben Un leggt dorbi de Hän’n in’n Schot? So tautauseihn? Ne! Leiwerst dod!78

Im Unterschied zu dem in „christlicher Demut“79 verharrenden, auf „jenseitige Gerechtigkeit“80 hoffenden Daniel entscheidet sich Jehann dafür, aktiv für „irdische Gerechtigkeit“81 zu kämpfen und sich gegen seinen Herrn aufzulehnen. Vor diesem Hintergrund bewerten die Figuren auch den Mord am Gutsbesitzer divergent. Während Daniel Jehanns Tat als _____________   76 77

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Ebd., S. 228f. Übersetzt lautet die Textpassage: „Mein Sohn, mein Sohn, unser Herrgott lebt./‚Mein ist die Rache!‘ hat er gesagt; […] ‚Mein ist die Rache!‘ Denk daran,/ Das ist ein Trost für uns, Jehann.“ Laut einem Brief an Theodor Kunike vom 17.7.1857 hat Reuter die von seinen Figuren propagierten Positionen gleichberechtigt einander gegenüberstellen wollen. So schreibt er: „Als Gegensatz von ihm [Jehann, N. B.] dient mir Daniel, der, alleinstehend, längst in Zufriedenheit und Ergebung mit sich abgeschlossen hat und in stiller Frömmigkeit sein Leben zu beschließen wünscht. Für beide wird der Leser sich interessieren und wird bei sich die Frage zu entscheiden haben, ob es besser ist, demütig zu dulden oder tätig zu handeln – selbst in den Augen der Welt ein Verbrechen zu begehen“, Reuter, Fritz: „Brief an Theodor Kunike vom 17. Juli 1857“. In: Ders.: Gesammelte Werke und Briefe, Bd. 8. Briefe. Hg. v. Kurt Batt. Bearbeitet von Hans Heinrich Leopoldi. Rostock 1967, S. 308–309, Zitat S. 309. Trotzdem wird im Text Jehanns Position favorisiert. Diese Auffassung teilt Batt, wenn er konstatiert: „Dennoch wird man die Überlegenheit Johannes […] nicht verkennen können: auf seiner Seite steht das Leben, und nicht zufällig fällt ihm das letzte Wort im Werk zu“, Batt: Fritz Reuter. Leben und Werk, S. 206. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 229. Übersetzt lautet die Textpassage: „‚Mein ist die Rache!‘ spricht der Herr./ Das ist recht gut. Ja! Aber wer/ lässt sich sein ein und alles verderben/ und legt dabei die Hände in den Schoß?/ So zuzusehen? Ne! Lieber tot!“ Batt: Fritz Reuter. Leben und Werk, S. 201. Ebd., S. 198. Ebd., S. 200.

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„Fluch“82 bezeichnet und ohne Berücksichtigung der Tatumstände verurteilt, zeigt Jehann keine Reue. Er wertet sein Verbrechen als „Selbsthilfe“,83 als Konsequenz der inhumanen Herrschaft. Wie Voß ist er von der Freiheit und Friedfertigkeit des Subjekts im ‚Naturzustand‘ überzeugt und wie Voß führt er seine Verbrechen auf die mit dem Zivilisationsprozess einhergehenden sozialen Ungleichheiten – auf Willkür, Geiz84 und „bitt’re Nod“85 – zurück. Obwohl Reuter seinem Protagonisten nur eine Teilschuld an dem Mord zuweist, kann sein Text nicht als Plädoyer für eine gewaltsame Revolte gelesen werden. Jehann wird für seine Tat zwar nicht gerichtlich verurteilt, allerdings muss er für sein Verbrechen mit dem Verzicht auf sein Lebensglück – auf seine Familie und seine innere Ruhe – büßen. Als einziger Ausweg aus der Misere wird die Auswanderung nach Amerika vorgestellt.86 Die ‚Neue Welt‘ verspricht ‚Hüsung‘, gewährleistet ökonomische, politische und geistige Freiheit und garantiert „die persönlichen und bürgerlichen Rechte des einzelnen“.87 Bei der Vorstellung von Amerika als Inbegriff der Freiheit, des Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit handelt es sich um einen „zentrale[n] Topos sowohl in der Literatur als auch in politischen und sozialen Debatten“88 des 19. Jahrhunderts. Seit den vierziger Jahren wird dieses idealistische Amerikabild aber zunehmend demontiert, indem es „in zahlreichen Reiseberichten und Romanen […] mit der Realität vor Ort“89 kontrastiert wird. Auch Reuter entwirft von dem Land kein arkadisches Bild. Im Gespräch mit Daniel berichtet Jehann zunächst von den zahlreichen gescheiterten Auswanderern. Ihr Unglück führt er aber weniger auf das politische System Amerikas als auf die Sozialisation der Tagelöhner in Mecklenburg zurück. Da die Gutsbesitzer „ihre ehemaligen ‚Knechte‘ in Unterdrückung und Unwissenheit gehalten“ hätten, sei ihnen „die Möglichkeit verstellt“, „jenseits des Ozeans die Chance der Freiheit zu ergreifen und zu nutzen.“ _____________   82 83 84 85 86

87 88 89

Reuter: Kein Hüsung, S. 318. Reuter: „Brief an Theodor Kunike vom 17. Juli 1857“, S. 309. Vgl. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 288. Ebd., S. 282. Wie Dahnke deutlich macht, ist Reuters Thematisierung der Auswanderung nach Amerika als kritischer Kommentar zu Brinckmanns Fastelabendpredigt zu lesen. In dem Gespräch der beiden Tagelöhner führt Daniel dieselben Argumente wie Brinckmann gegen die Auswanderung ins Feld, vgl. Dahnke: „‚Fri sall hei sin!‘“, S. 59. Ihde: „Fritz Reuter und die Neue Welt“, S. 86. Conter, Claude: Jenseits der Nation – Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2002, S. 292. Ebd., S. 298.

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Diesen Bildern tragischen Scheiterns setzt Jehann dann aber Bilder des Bestehens im harten Kampf ums Überleben […] entgegen. Er hat eben auch jene gesehen, die für sich und ihre Kinder in […] schwerer Arbeit eine neue Heimat […] geschaffen haben.90

III. Fazit Voß und Reuter stellen ihre Anti-Idyllen in den Dienst der Sozialkritik. Beide gehen von der Freiheit und sozialen Gleichheit des Menschen im ‚Naturzustand‘ aus und werten die inhumane Herrschaft der Gutsbesitzer als Unrecht, als Störung der harmonischen, vernünftig organisierten Natur, die zur Denaturierung des Subjekts führe. Allerdings ist zu betonen, dass die Autoren nicht für eine totale Nivellierung der Machtstrukturen, sondern für eine christlich-patriarchalische Gesellschaftsordnung plädieren. So fordert Voß, die Leibeigenen zu Erbpächtern zu machen und Reuters Protagonist Jehann erklärt, dass er den Gutsbesitzern „Macht un Rikdauhm“91 gönnen würde, wenn er von ihnen sozial anerkannt und adäquat entlohnt werden würde. Beide Autoren weisen ihren Texten eine appellative Funktion zu. Wie gezeigt worden ist, setzt sich Voß mit seinen Idyllen Die Erleichterten und Die Freigelassenen für die Realisierung eines „erneuete[n] Erdparadies[es]“92 ein. Durch diese Zukunftsperspektive – das triadische Geschichtsmodell mit den Bezugspunkten Arkadien und Elysium – erinnert das Idyllenpaar an Friedrich Schillers geschichtsphilosophischen Entwurf zur Idylle in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung. In seiner Studie Wandrer und Idylle räumt Gerhard Kaiser ein, dass sich Voß an „geschichtlich versinkenden Vorstellungen“ orientiere. Sein „rückwärts gewandte[r] Zug“93 zeige sich am deutlichsten in seinem Plädoyer für eine patriarchalische Ordnung, eine Herrschaftsform, die in der Literatur der Zeit – insbesondere von Goethe und Schiller – als anachronistisch vorgeführt werde, so etwa im Wilhelm Tell oder im Egmont. Voß’ Texte seien daher als „arkadische Idylle[n]“ zu kategorisieren, „die sich als elysische“ 94 ausgeben. Dagegen ist einzuwenden, dass sich Voß mit Blick auf die Prinzipien des aufgeklärten Absolutismus um Reformen bemüht hat, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts tatsächlich durchgesetzt worden sind. So ist die Leibei_____________   90 91 92 93 94

Dahnke: „‚Fri sall hei sin!‘“, S. 59f. Reuter: „Kein Hüsung“, S. 229. Voß: „Die Erleichterten“, S. 39. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 122. Ebd.

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genschaft in Schleswig und Holstein 1804 und in Mecklenburg 1820 abgeschafft worden. Insofern kann Voß durchaus als fähiger Aufklärer gelten. Wie von Schiller gefordert, beschreibt er nicht das ‚goldene Alter‘ in mythischer Vorzeit, sondern zielt auf den Entwurf eines Ideals unter den Bedingungen der Gegenwart. Im Gegensatz dazu weicht Reuter der Frage aus, „wie die soziale Misere in Mecklenburg verändert werden“95 könnte. Anstatt ein zukunftsgerichtetes Gesellschaftsideal zu entwerfen, beschränkt er sich auf die Schilderung des Elends. Als einzige Handlungsmöglichkeit der Tagelöhner nennt er die Auswanderung in die ‚freie‘, allerdings nicht arkadische ‚Neue Welt‘. Bemerkenswert ist das Spannungsverhältnis zwischen der Statik des Genres Idylle und der auf Veränderung zielenden Wirkungsabsicht beider Texte. Voß und Reuter beschwören „bäuerliches Elend und bäuerliches Glück in kritischen oder idealen Zukunftsbildern“,96 können aufgrund der für die Gattung konstitutiven Vorherrschaft des Räumlich-Zuständlichen aber keinen Entwicklungs- oder Veränderungsprozess vorführen. So wird die Freiheit in beiden Texten „als Zustand, nicht als Vorgang des Freiwerdens“97 dargestellt. Zudem fehlt es beiden Anti-Idyllen an analytischer Schärfe. Da die narrativen Mittel der Gattung begrenzt sind, können die Gesellschaftsstrukturen und die möglichen Perspektiven sozialer Reformen in ihrer Komplexität kaum beleuchtet werden. Vor diesem Hintergrund bleibt fraglich, ob sich der arkadische Guckkasten für sozialkritische Gesellschaftsanalysen oder die Darstellung utopischer Gesellschaftsvisionen wirklich eignet. Eine Idylle, die – wie von Schiller gefordert – die „Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt“,98 ist mir jedenfalls nicht bekannt.

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Töteberg, Michael: Fritz Reuter in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 93. Kaiser: Wandrer und Idylle, S. 28. Ebd., S. 116. Schiller, Friedrich: „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5. Erzählungen. Theoretische Schriften. Auf Grund der Originaldrucke hg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Darmstadt 91993, S. 694–780, Zitat S. 750.

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Wi(e)derschein der goldenen Kindheit. Jean Pauls Idyllen-Experimente ALEXANDER KLUGER Jetzt aber, meine Freunde, müssen vor allen Dingen die Stühle um den Ofen, der Schenktisch mit dem Trinkwasser an unsre Knie gerückt und die Vorhänge zugezogen und die Schlafmützen aufgesetzt werden, und an die grand monde über der Gasse drüben und ans Palais royal muß keiner von uns denken, bloß weil ich die ruhige Geschichte des vergnügten Schulmeisterlein erzähle.1

Jean Pauls erste große Idylle – das Schulmeisterlein Wutz (1793) – beginnt mit der Thematisierung ihres Konstruktcharakters. Der Erzähler fordert den Leser auf, durch die Verengung des Kreises, das Zuziehen der Vorhänge, das Vergessen des „Palais royal“ und der „grand monde“ jene ‚Beschränkung‘ zu inszenieren, die Jean Paul zwanzig Jahre später in der zweiten Auflage der Vorschule der Ästhetik (1804/1813) als Bedingung für das ‚Vollglück‘ der Idyllenhelden definiert. Diese Selbstreflexivität ist programmatisch. Die Texte, die man gemeinhin als Jean Pauls ‚Idyllen‘ bezeichnet, sind eigentlich keine Idyllen im konventionellen Sinne: Sie sind nicht nur metafiktional, sondern auch hybrid, kippen sie doch häufig ins Tragische, Lächerliche oder Satirische. Die Forschung reflektiert diese narrativen Grenzüberschreitungen, wenn sie von „gefährdeten“2 oder „gestörten“3 Idyllen, von Idyllensatiren4 oder der „Selbstparodie der Idylle“5 spricht. Dahinter steht jedoch, wie im Folgenden gezeigt werden soll, mehr als nur das Spiel mit Gattungskonventionen. Jean Pauls Idyllen _____________   1 2 3 4 5

Jean Paul: „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Wutz in Auenthal“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 1. Die unsichtbare Loge. Hesperus. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 422–462, Zitat S. 422. Wuthenow, Ralph-Rainer: „Gefährdete Idylle“. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1 (1966), S. 79–94. Tismar, Jens: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. München 1973, S. 12–42. Vgl. ebd., S. 34ff. Espagne, Geneviève: „Die blaue Blume im Ton-Töpfchen. Selbstparodie der Idylle und literarische Satire im Leben Fibels“. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 17 (1982), S. 31–45.

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sind als avancierte Experimente zu bewerten, die mit verschiedensten Kunstgriffen die Grenzen und Potentiale der Gattung ausloten.

I. Die Idylle als Gratwanderung zwischen Grenzziehung und Grenzverwischung Wie bereits Jens Tismar in seiner Studie Gestörte Idyllen bemerkt, beginnt Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz mit einem Bruch.6 Denn der Text steht nicht für sich, er ist der Unsichtbaren Loge angehängt. Diese endet abrupt mit einem Brief, der berichtet, dass der Protagonist Gustav verhaftet worden sei und sein Freund Ottomar sich daraufhin das Leben nehmen wollte. Der letzte Satz, „Er lebt aber noch“,7 beruhigt zwar die schlimmsten Befürchtungen, danach reißt der Text aber ab – Seitenwechsel – und die Geschichte des Schulmeisterleins Wutz hebt an mit dem Satz: „Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstille, du vergnügtes Schulmeisterlein Wutz.“8 Die Idylle wird in dem Moment geschildert, in dem der Roman ins Schreckliche abzugleiten droht. Der Seitenwechsel fungiert dabei gleichsam als Grenze, indem er (auch physisch) das sanfte, vergnügte Leben des Schulmeisterleins von der sich andeutenden Gewalt des (Beinahe-)Todes im Haupttext der Unsichtbaren Loge trennt. Grenzziehungen haben immer etwas Gewaltsames an sich. Sie dienen nicht nur dazu, ein Anderes, meist potentiell Bedrohliches, auszuschließen, sondern sind selbst Ausdruck eines Gewaltakts, durch den diese Ausgrenzung erst gewährleistet wird. Bei Jean Paul wird dieser Umstand in den Idyllen, vor allem aber in den zugehörigen, sie begleitenden Texten reflektiert. Die Unsichtbare Loge etwa, in die das Schulmeisterlein Wutz eingebettet ist, beginnt mit einem Erziehungsexperiment: Der kleine Gustav wird die ersten acht Jahre seines Lebens in ein Kellergewölbe eingesperrt, sein einziger Umgang sind ein schwarzer Pudel und ein Erzieher, der ihm erzählt, dass er beim Verlassen des Gewölbes sterbe. Gustav erlebt hier das ‚Vollglück in der Beschränkung‘, denn „seine Wünsche langten nicht über seine Kenntnisse hinaus, und weder Zank noch Furcht rissen seine stille Seele auseinander.“9 Dennoch wird es dem Leser schwerfallen, dieses unterirdische Leben als ‚idyllisch‘ zu empfinden. Vielmehr wird er es für _____________   6 7 8 9

Vgl. Tismar: Gestörte Idyllen, S. 13f. Jean Paul: „Die unsichtbare Loge“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 1. Die unsichtbare Loge. Hesperus. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der HanserAusgabe], S.7–469, Zitat S. 421. Jean Paul: „Schulmeisterlein Wutz“, S. 422. Jean Paul: „Die unsichtbare Loge“, S. 56.

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grausam halten, ein Kind acht Jahre lang in einer Höhle einzusperren, so dass sich eher ein „Mitleiden“ als jenes „Mitfreuen“ einstellt, das Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik für die Idylle fordert.10 Die Unsichtbare Loge beginnt also mit einem Zerrbild der Idylle, das deren latenten Gewaltcharakter an die Oberfläche bringt. Auch die dem Quintus Fixlein (1796) vorangehenden Texte problematisieren die für die Idylle konstitutive Grenzziehung zwischen geschütztem Innen- und bedrohlichem Außenraum, diesmal jedoch unter anderen Vorzeichen. In der freilich erst später (1801) beigefügten Geschichte der Vorrede zur zweiten Auflage bricht der Erzähler angesichts einer jungen Braut in die Klage aus, dass diese nun in das „übermauerte Burgverlies der Ehe“11 gesperrt werde, in dem das „ganze weite Sprachgewölbe des Ewigen, die blaue Rotunda des Universums […] zu [einem] Wirthschaftsgebäude“12 verschrumpfe. Der sich anschließende Text Tod eines Engels variiert das Motiv der schmerzenden Einschränkung: Der Engel des Todes, der aus seiner überzeitlich-himmlischen Perspektive auf die Welt blickt, wird zum Menschen und verspürt die drückende Enge des menschlichen Lebens, der menschlichen Triebe und Gedankengänge, so dass ihm der Tod zur Erlösung wird. Schließlich folgt noch Der Mond. Phantasierende Geschichte. Diese Erzählung ist in der Tat ‚phantasierend‘, ein instabiles, von abrupten Wendungen und Perspektivwechseln gekennzeichnetes Gebilde. Eugenius und Rosamunde wollen mit ihrem „siechen Kind“ aus „dem Strudel der Menschen gehen, der so hart und kalt an ihrem Herzen anschlug“. 13 Sie steigen auf eine Alpe, auf deren Höhe die beiden in einen Zustand der Erhabenheit versetzt werden. Unmittelbar darauf wird aus dem imposanten Alpenausblick eine Idylle, in der Eugenius vor einer Sennenhütte Harmonika spielt, während das Kind, wie es heißt, „in einem Ring von Blumen eingefasset“14 spielt. Dieses Glück währt indes nur einen Wimpernschlag – zwei Sätze später ist das Kind tot und Eugenius stirbt ihm vor Trauer sogleich nach. Abermals verschiebt sich die Perspektive: Eugenius wird mit seinem Kind auf den Mond als „Vorhof der zweiten _____________   10 11 12 13 14

Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 5. Vorschule der Ästhetik. Levana. Politische Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBGLizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S.7–514, Zitat S. 258. Jean Paul: „Leben des Quintus Fixlein“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 4. Kleinere Erzählungen. Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S.7–259, Zitat S. 34. Ebd., S. 33. Jean Paul: „Der Mond. Phantasierende Geschichte“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 4. Kleinere Erzählungen. Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBGLizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 50–62, Zitat S. 53. Ebd., S. 55.

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Welt“15 entrückt und sieht aus der Distanz die Erde zunächst „wie eine weiße dünne Wolke im blauen Himmel“16 schweben. Rosamunde bleibt alleine auf der Erde zurück, die ihr nun als ein Gefängnis erscheint. Ihr Wunsch, den Geliebten nach zu sterben, bleibt unerhört, bis endlich Eugenius von oben in ihr Bitten mit einstimmt und sie gemeinsam das Herz des Friedensengels erweichen. Alle diese Texte führen Situationen vor Augen, in denen Beschränkung eben nicht als beglückend, sondern als beengend, bedrückend, als Quelle von Schmerz und Leiden empfunden wird. Sie werfen somit die Frage auf, wie ein ‚Vollglück in der Beschränkung‘ überhaupt möglich sein kann. Eine Antwort scheint der Aufsatz Über die natürliche Magie der Einbildungskraft – ein weiterer Begleittext des Quintus Fixlein – zu geben (im Folgenden sei dieser als ‚Magie-Aufsatz‘ bezeichnet). Über die Phantasie heißt es dort: Alle Personen, die bloß auf dem Zauberboden der Phantasie stehen, verklären sich unbeschreiblich vor uns […]. Daher stehet der Landmann auf dem elektrischen Isolatorium des Idyllendichters strahlend und mit einem Heiligenschein umzogen; […] So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das gelobte Land der Zukunft.17

Das Fernrohr fungiert hier als Metapher für die verklärende Phantasie, zu der explizit auch die Idylle gerechnet wird, weil in beiden Fällen mit eingeschränktem Sichtfeld weit entfernte Gegenstände in den Blick genommen werden. Ähnlich wie beim Fernglas, das die Ränder oft unscharf und verzerrt abbildet, verschwimmen in der Imagination die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Diese Technik der Grenzziehung und Grenzdiffusion ist für Jean Pauls Idyllik charakteristisch. Wutzens „Kunst, stets fröhlich zu sein“18 – der Erzähler selbst wählt diesen Ausdruck und verweist damit einmal mehr auf die Artifizialität des Textes – beruht zum großen Teil auf der Schaffung solcher Diffusionsräume. Im Winter, wenn die Fenster mit Schnee bedeckt sind, rekapituliert Wutz abends seine Kindheit und lässt bei geschlossenen Augen „auf die gefrornen Wiesen den längst vermoderten Frühling niedertauen.“19 Auch wenn die beschlagenen Fenster einen Blick auf die Schneefelder verhindern, kann Wutz die Grenze zwischen Innen- und Außenraum mit Hilfe seiner Phantasie überwinden _____________   15 16 17 18 19

Ebd., S. 59. Ebd., S. 60. Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 4. Kleinere Erzählungen. Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBGLizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 195–205, Zitat S. 196f. Jean Paul: „Schulmeisterlein Wutz“, S. 431. Ebd., S. 423.

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und das ausgesperrte Draußen mit den inneren Bildern anfüllen. Auf ähnliche Weise verfährt er auch bei seiner Schriftstellerei. Regelmäßig liest er den Messkatalog, aber nicht, um die dort angekündigten Bücher zu bestellen, sondern um sie – wie etwa Friedrich Schillers Räuber oder Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft – selbst zu schreiben. Er verfasst dabei jedoch nicht (wie zu erwarten wäre) Schriften ähnlichen Stils oder Inhalts, sondern wählt die fremden Titel für seine eigene Autobiographie. Statt die Welt der Bücher, des Wissens und der Literatur in seine kleine Behausung zu lassen, schirmt er sich von ihr ab und füllt die nicht bestellten Bücher mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Fibel wird diesen Weg später invertieren, indem er mit seinem Abc-Buch die Grundlage allen Wissens schreibt und sich als Autor aller möglichen anonymen Bücher ausgibt. Das Schulmeisterlein Wutz ist in der Tat eine besondere Idyllenfigur. Seine ‚Kunst‘ besteht in dem ans Schizophrene grenzenden Talent, die eigene Idylle zu inszenieren, ohne sich dieses Konstruktcharakters allzu sehr bewusst zu werden. Wenn der Erzähler meint, Wutzens „äußere und […] innere Welt“ würden „sich wie zwei Muschelschalen aneinander löten“ und ihn „als ihr Schaltier einfassen“,20 so ist das kein Ausdruck einer prästabilierten Harmonie. Vielmehr weiß Wutz sich durch die Technik von Grenzziehung und -diffusion das Außen dort, wo es unangenehm wird, vom Leib zu halten, um es mit dem eigenen Innen zu überlagern. Die „herkulische Arbeit“,21 die er dabei leisten muss, führt dem Leser die Künstlichkeit dieses Zustandes immer wieder vor Augen. Bei dieser Eigenleistung des Wutz könnte man beinahe die Rolle des Erzählers für die Konstitution der Idylle vergessen. Dieser wird freilich nie müde, seine Eingriffe überall durchscheinen zu lassen und den Konstruktcharakter der Erzählung zu betonen, etwa wenn er seine Abschweifungen kurz vor Wutzens Tod mit der Bemerkung kommentiert: „Ich habe meine Absicht klug erreicht, mich und meine Zuhörer fünf oder sechs Seiten von der traurigen Minute wegzuführen, in der vor unser aller Augen der Tod vor das Bett unsers kranken Freundes tritt“.22 Während solche Kommentare im Wutz noch eher ein augenzwinkerndes Spiel mit dem Leser sind, wird ein externes Eingreifen in den anderen idyllischen Texten Jean Pauls immer nötiger, da die Protagonisten jener Fähigkeit, sich selbst eine Idylle zu konstruieren, zusehends entbehren. Da Fixleins fixe Idee, er müsse mit zweiundreißig Jahren sterben, die Heiterkeit der Erzählung bedroht, sind seine Mutter und schließlich auch die Erzählerfi_____________   20 21 22

Ebd., S. 435. Ebd., S. 429. Ebd., S. 458.

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gur ‚Jean Paul‘23 ständig damit beschäftigt, sein wahres Alter vor ihm geheim zu halten und damit die Spuren des vermeintlich nahenden Todes zu verwischen. Im Jubelsenior wird die Idylle plötzlich dadurch gefährdet, dass der Anspruch des Protagonisten auf eine Pfarrei, die die materielle Basis für seine Hochzeit darstellt, zweifelhaft wird. Auch hier tritt ein Erzähler ‚Jean Paul‘ – bezeichnenderweise in einem Kapitel mit dem Titel deus ex machina – auf den Plan und erwirkt beim Fürsten die Stelle für seinen Helden. Jean Pauls Idyllen gleichen so häufig einer Theateraufführung für den Idyllenhelden, hinter deren Kulissen andere Akteure permanent damit beschäftigt sind, die Illusion aufrecht zu erhalten, indem sie Hindernisse ausräumen und heitere Momente inszenieren. Der ungeheure Aufwand, der dabei betrieben wird, verweist auf eben das, was andauernd verwischt, verdrängt und sublimiert werden muss. Auf diese Weise erkundet Jean Pauls Idyllik das Prinzip von Grenze und ‚Diffusionsraum‘ und legt damit die nahezu unmögliche Gratwanderung der Idylle offen: Sie bedarf der Grenzziehung, muss diese jedoch zugleich wieder verschleiern und obendrein noch darauf achten, dass sie letzteres nicht zu offensichtlich macht. Denn sobald Beschränkung zur Einschränkung oder Verklärung zum offenkundigen Aufwand wird, schlägt die Idylle um ins Tragische oder Satirische.

II. Wi(e)derschein – Die Bedeutung der ästhetischen Distanz in der Konstitution der Idylle Der Leser wird sich vielleicht fragen, warum im Titel dieses Beitrags ‚Wiederschein‘ mit ‚ie‘ geschrieben wurde. Zunächst ist dies einfach ein Zitat: Jean Paul verwendet diese Schreibweise im Originaldruck der zweiten Auflage der Vorschule der Ästhetik.24 Dies entspricht durchaus der zeitgenössischen Orthographie, Johann Christoph Adelungs Grammatischkritisches Wörterbuch erlaubt sowohl ‚ie‘ als auch einfaches ‚i‘. Das von den Brüdern Grimm begründete Deutsche Wörterbuch erklärt im freilich erst später (1960) erschienenen 29. Band diese Varianz als ein „schwanken in der auffassung des ersten kompositumgliedes“:25 Während ‚wider‘ ein _____________   23 24 25

Jean Paul lässt in vielen seiner Texte eine Figur ‚Jean Paul‘ auftreten, die sich gleichzeitig als der Erzähler der Geschichte ausgibt. Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, Zweite Abteilung. Stuttgart, Tübingen ²1813, S. 561. Grimm, Jacob u. Wilhelm: „Widerschein“. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14. I. Abt. Teil 2. Wenig – Wiking. Bearbeitet von der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs. Leipzig 1960, S. 1176.

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‚entgegen‘, eine Reflexion bezeichne, hebe ‚wieder‘ auf ein ‚erneut‘ ab. Jean Paul differenziert in seiner Orthographie nicht zwischen diesen beiden Bedeutungen, die Ambiguität des Begriffs dürfte ihm aber bewusst gewesen und wohl auch entgegengekommen sein, da beide Konnotationen für sein Idyllenkonzept von Bedeutung sind. Um dies zu vertiefen, sei hier noch einmal die ganze Passage über den ‚Widerschein der goldenen Kindheit‘ zitiert: Ja ihr leihet dem idyllisch dargestellten Vollglück, das ja immer ein Widerschein eueres früheren Kindlichen oder sonst sinnlich engen ist, jetzo zugleich die Zauber euerer Erinnerung und euerer höheren poetischen Ansicht;26

Die Idylle bedarf für Jean Paul, wie hier deutlich wird, der aktiven Teilnahme des Rezipienten. Das wird auch schon durch den eingangs zitierten Beginn des Schulmeisterlein Wutz deutlich. Die Wiederschein-Passage der Vorschule beschreibt nun die Konstitution der Idylle als eine doppelte Bewegung: Im Spiegel (Konnotation ‚wider‘) des dargestellten ‚Vollglücks‘ erinnert sich der Leser an seine eigene glückliche Kindheit (Konnotation ‚wieder‘), die er nun seinerseits dem poetischen Text ‚leiht‘. Erst diese Wechselwirkung zwischen dem Text und der Erinnerung des Lesers vermag aus dem dargestellten ‚Vollglück‘ eine Idylle zu machen. Was das genau bedeutet und was es mit der im gleichen Satz genannten „höheren poetischen Ansicht“ auf sich hat, erhellt eine Passage aus dem bereits genannten ‚Magie-Aufsatz‘. Dieser beginnt bezeichnenderweise mit der Thematisierung der Erinnerung: Erinnerung ist nicht die bloße Wahrnehmung der Identität zweier Bilder, sondern sie ist die Wahrnehmung der Verschiedenheit des räumlichen und zeitlichen Verhältnisses gleicher Bilder. Folglich breitet sich die Erinnerung über die Verhältnisse der Zeit und des Orts und also über Reih und Folge aus; aber bloßes Ein- und Vorbilden stellet einen Gegenstand nur abgerissen dar.27

Ulrike Hagel konnte in ihrer Studie Elliptische Zeiträume des Erzählens zeigen, dass die Phantasie für Jean Paul ein Produkt der Retrospektion ist.28 Im oben genannten Zitat wird Hagel zufolge eine Stufenfolge der Phantasie vorgeführt, auf deren unterster Ebene das bloße „Ein- und Vorbilden“ steht, das „einen Gegenstand nur abgerissen“ darstellt.29 Dieser ist also zunächst nur in der Einbildung präsent, ohne Verortung in Zeit und Raum.30 Letzteres leistet erst die nächste Stufe, die Erinnerung. Zum Bild _____________   26 27 28 29 30

Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“, S. 260. Jean Paul: „Quintus Fixlein“, S. 196. Kursive Hervorhebungen in der Quelle. Vgl. Hagel, Ulrike: Elliptische Zeiträume des Erzählens. Jean Paul und die Aporien der Idylle. Würzburg 2003, S. 213. Jean Paul: „Quintus Fixlein“, S. 196. Vgl. Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 39.

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in der Einbildung findet sie ein korrespondierendes in der Vergangenheit und beide werden zueinander in Beziehung gesetzt, so dass eine RaumZeit-Ordnung entsteht. Diese „Reih und Folge“, wie sie das obige Zitat bezeichnet, besteht jedoch zunächst nur in einer Kette einzelner, voneinander isolierter Teile. Wie in der Vorschule betont wird, verbindet erst die Phantasie diese Fragmente zu einem Ganzen: „aus eben diesem Grunde glänzt jedes erinnerte Leben in seiner Ferne wie eine Erde am Himmel, nämlich die Phantasie drängt die Teile zu einem abgeschlossenen heiteren Ganzen zusammen.“31 Wie kommt aber nun das dabei entstehende idealische Glänzen des „erinnerte[n] Lebens“ zustande? Indem die Phantasie dem „Sinne des Grenzenlosen“32 schmeichelt, antwortet der ‚MagieAufsatz‘.33 Jean Paul bestimmt diesen Sinn, Arthur Schopenhauer vorwegnehmend, als den „Willen“, den „[e]inen großen unendlichen Wunsch jedes Menschen“, von dem „alle unsere Begierden nur Unterabteilungen“ sind. Diesem unstillbaren Verlangen begegnet die Idylle mit einem Trick: Stelle dir ein Arkadien vor: in dem, worauf du trittst, halten überall HerkulesSäulen deine Genüsse auf und lassen bloß deine Wünsche über die Säulen fliegen; aber in einem dichterischen kann ja dein Wunsch nicht größer sein als dein Bezirk, und das, was du wünschest, hast du ja eben vorher erschaffen. 34

Und nur wenige Zeilen später heißt es: Die Kindheits-Erinnerungen können aber nicht als Erinnerungen, deren uns ja aus jedem Alter bleiben, so sehr laben: sondern es muß darum sein, weil ihre magische Dunkelheit und das Andenken an unsere damalige kindliche Erwartung eines unendlichen Genusses, mit der uns die vollen jungen Kräfte und die Unbekanntschaft mit dem Leben belogen, unserem Sinne des Grenzenlosen mehr schmeicheln.35

Die Besonderheit der Kindheit ist also, dass es in ihr, wie es im Quintus Fixlein heißt, „für unsere grenzenlosen Wünsche noch grenzenlose Hoffnungen gab“, während uns die Wirklichkeit im Erwachsenenalter „nichts gelassen hat als die Wünsche“.36 Allerdings ist gerade die Härte der Realität überhaupt die Voraussetzung dafür, dass wir Idyllen als ‚idyllisch‘ empfinden können: Das Kind, das noch auf die Erfüllung seiner Wünsche hofft, verspürt nur Glück. Erst der Erwachsene, der durch die ihm aufge_____________   31 32 33

34 35 36

Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“, S. 49. Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, S. 202. Der Magie-Aufsatz spricht hier noch nicht explizit von ‚Phantasie‘, aber ich folge hier der Interpretation von Hagel, dass an dieser Stelle letztlich eben das gemeint ist, was später in der Vorschule der Ästhetik als ‚Phantasie‘ oder ‚Bildungskraft‘ bezeichnet wird, vgl. Hagel: Elliptische Zeiträume, S. 33ff. Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, S. 201. Ebd., S. 202. Jean Paul: „Quintus Fixlein“, S. 92.

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zeigten Grenzen desillusioniert worden ist, kann sich durch das WiederErscheinen der kindlichen Harmonie im Text ‚geschmeichelt‘ fühlen. Eine Schmeichelei ist aber keine Bedürfnisbefriedigung, denn dem Leser bleibt die Vergangenheit des Kindheitsglücks immer präsent. Den hier beschriebenen Prozess im Rezipienten könnte man wie folgt zusammenfassen: Im Spiegel des idyllischen Textes erinnert er sich an einen Zustand in der eigenen Kindheit, in dem sich die Wünsche noch mit den Hoffnungen deckten. Diese Erinnerung projiziert er seinerseits in den Text, hat aber zugleich die „höhere poetische Ansicht“, dass es sich um Vergangenes, nicht um Gegenwärtiges handelt. Er behält auf diese Weise eine ästhetische Distanz oder bleibt, wie es in der Vorschule der Ästhetik heißt, auf einem konzentrischen „höheren Freudenkreise“.37 Diese Distanz fehlt den Idyllenhelden, und so ist es nicht verwunderlich, dass für sie Momente, in denen ihnen der ‚Spiegel‘ ihrer eigenen Idylle vorgehalten wird, bisweilen bedrohlich wirken. Denn der Spiegel ist Symbol der Selbstreflexion, und während diese beim Leser durch die genannte Distanz ein Schmeicheln hervorruft, kann sie den Protagonisten durch Enthüllung des Konstruktcharakters der Idylle irritieren. In einer noch recht milden Form zeigt sich dies etwa bei Wutz in jener häufig zitierten Stelle im Schulmeisterlein, in der er die Fensterläden zukettet: [A]ber er war so klug, daß er sich erst in der dritten Stunde darauf besann, wie er sonst abends sich aufs Zuketten der Fensterläden freuete, weil er nun ganz gesichert vor allem in der lichten Stube hockte, daher er nicht gern lange in die von abspiegelnden Fensterscheiben über die Stube hinausgelagerte Stube hineinsah; 38

Wutz schaut nicht gerne zu lange in die „über die Stube hinausgelagerte Stube“, da er dabei sich selbst in seinem (selbstgeschaffenen) Idyllenglück betrachten müsste. Die Spiegelung in den Fenstern beunruhigt ihn, weil sie ihm den Scheincharakter seiner eigenen Situation vor Augen führt. Für Wutz, der das bemerkenswerte Talent besitzt, sein ‚Vollglück‘ selbst zu inszenieren, ohne sich dessen allzu bewusst zu sein, birgt die Reflexion im Fenster die Gefahr, zur Selbstreflexion zu führen. Im Quintus Fixlein kehrt dieses Motiv des gefährlichen Spiegels potenziert wieder: Als Fixlein von der Idee besessen ist, er müsse mit 32 Jahren sterben, gaukelt man ihm vor, er sei wieder ein Kind. Dazu muss aber vor allem der große Spiegel über seinem Bett verhängt werden,39 denn dieser würde die Illusion sofort zerstören. Die durch den Spiegel symbolisierte Selbstreflexion ist für ihn im buchstäblichen Sinne lebensbedrohlich und nur durch ein zumindest _____________   37 38 39

Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“, S. 260. Jean Paul: „Schulmeisterlein Wutz“, S. 424. Vgl. Jean Paul: „Quintus Fixlein“, S. 182.

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vorübergehendes Aufrechterhalten des Gaukelspiels gelingt es schließlich, Fixlein von seiner ‚fixen Idee‘ zu befreien, die ihn beinahe ins Grab bringt. Den Idyllenhelden ist damit gerade das nicht vergönnt, was für den Leser erst zur Voraussetzung der Idylle wird: Die Erkenntnis des Konstruktcharakters der Idylle, deren Darstellung eines „Vollglück[s]“40 unserem „Sinne des Grenzenlosen“ eben nur „schmeichel[t]“,41 weil wir uns der Unvereinbarkeit dieser Darstellung mit unserer alltäglichen Erfahrung bewusst sind. Dass Jean Paul es in seinen Idyllen immer wieder darauf anlegt, dass seine Figuren beinahe hinter die Kulissen ihrer scheinbar heilen Welt blicken können, ist ein geschickter Kunstgriff, um diese Konstruiertheit, aber auch das komplexe Wechselspiel in der Rezeption des Lesers zu reflektieren.

III. Die Zeit als Grundproblem der Idylle Die Zeit, die, wie wir gesehen haben, für die Konstitution der Idylle bei Jean Paul zentral ist, ist zugleich ein Grundproblem idyllischen Erzählens. Denn die Idylle zielt auf Zeitlosigkeit,42 greift mit der Dichtung aber auf ein Medium zurück, das spätestens seit Gotthold Ephraim Lessings Laokoon als eine sich in der Zeit entfaltende Kunstform gilt. Jean Paul verschärft diesen Konflikt, indem er seine Idyllen stets als Biographien konzipiert. Denn der Lebenslauf, der durch stetige Veränderung gekennzeichnet ist und für Jean Paul auf ein zunehmendes Ungleichgewicht von Wunsch und Hoffnung und schließlich den Tod hinausläuft, scheint sich erst recht nicht mit den Anforderungen der Idylle zu vertragen. Diese Engführung von Biographie und Idylle vollzieht der Autor ganz bewusst, nicht umsonst definiert er die Idylle in der Vorschule der Ästhetik als „epische Darstellung“43 und als „Nebenblüte […] des Romans“.44 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Jean Paul auch dies wieder als Kunstgriff nutzt, um die Gattung an ihre Grenze zu führen. Wie aber lässt sich nun eine Lebensgeschichte als Idylle erzählen? Auch hier kommt die Technik der Grenzziehung und -diffusion zum Einsatz. Die Biographien von Wutz, Fixlein und Fibel bestehen fast aus_____________   40 41 42 43 44

Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“, S. 260. Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, S. 202. Vgl. u. a. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart. ²1977, S. 9: „Der dahinter sich verbergende Versuch, die Zeit aus der menschlichen Existenz auszuschließen, ist wohl der interessanteste Gesichtspunkt, unter dem die Idylle betrachtet werden kann.“ Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“, S. 258. Ebd., S. 257.

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schließlich aus Freudenmomenten – etwa Geburtstagen, Feiertagen oder Amtseinführungen – und Perioden der Vorfreude auf diese Momente. Charakteristisch für alle diese Zeitpunkte und Zeiträume ist, dass sie die vorhin genannte Bedingung erfüllen, Wünsche und Hoffnungen in ein harmonisches Verhältnis zu setzen, indem entweder – in der Vorfreude – Hoffnung auf Erfüllung der Wünsche besteht oder – im Freudenmoment – eben diese Hoffnung erfüllt wird. Der Erzähler bemüht sich dabei um zweierlei: Erstens versucht er, die Zeit zwischen den an sich eindeutig begrenzbaren Zeitabschnitten auszublenden, so dass sich die Illusion einer stetigen Bewegung von Glück zu Glück ergibt. Hier kommt ihm das Genre der Biographie entgegen. Denn der Leser einer solchen erwartet ja, dass ihm ein fremdes Leben als eine Folge bedeutsamer, exemplarischer Ereignisse präsentiert wird. Der Erzähler kann somit auf den Umstand zurückgreifen, dass der Rezipient durch seine Erwartungshaltung geradezu prädisponiert ist, durch seine Phantasie aus den ihm präsentierten Momentaufnahmen ein zusammenhängendes Ganzes zu machen. Zweitens ist er bemüht, die Glücksmomente und -perioden seiner Helden künstlich zu verlängern, indem er die Erzählzeit dehnt. Minutiöse Schilderungen alltäglicher Handlungen, Digressionen, Anekdoten und eingeschobene Landschaftsbeschreibungen dienen dem Aufschub. Der Erzähler macht aus diesem Bestreben keinen Hehl, im Schulmeisterlein Wutz freut er sich immer wieder, wenn ihm eine solche Verzögerung gelungen ist.45 Das funktioniert freilich nicht auf Dauer, denn die Geschichte, die ja immerhin eine Biographie sein will, muss voranschreiten. Der Gipfel solcher Entschleunigung scheint am Schluss des Leben Fibels erreicht: In seinem 101. Lebensjahr hat Fibel eine Palingenesie erlebt, während der ihm neue Zähne nachgewachsen sind. Nun, mit 125, lebt er zurückgezogen und abgeschottet in einem Waldstück. Seine bevorzugten Gefährten sind Tiere und zwar die Ur-Ur-Enkel der Haustiere seiner Eltern. Alles steht im Zeichen der Wiederkehr des ewig Gleichen, was nicht zuletzt in dem von Fibel gespielten Leierkasten seinen Ausdruck findet. Das einzige Indiz einer Entwicklung hin auf einen Endpunkt ist Fibels Glauben, er sterbe, sobald er die Bibel zu Ende lese – aber als er ans Ende der Offenbarung kommt, tritt der Tod nicht ein, und so fängt die Lektüre von Neuem an. Ein Still-Leben als ewige Wiederholung wird vorgeführt – bezeichnenderweise kann aber der Erzähler nicht stehen bleiben. Denn ein stetiges Wieder-Erzählen desselben wäre redundant; ein perpetuum mobile, in dem sich die Erzählinstanz letztlich in eine mechanisch reproduzie_____________   45

Vgl. u.a. die weiter oben bereits zitierte Stelle in Jean Paul: „Schulmeisterlein Wutz“, S. 458.

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rende Endlosschleife auflösen würde. Nahezu programmatisch endet das Leben Fibels daher mit dem Satz: „Dann zog ich meine Straße langsam weiter.“46 In ihrer Rastlosigkeit markiert die Erzählerfigur damit eine weitere Grenze der Idylle: Sie kann den Idealzustand, einen status quo des Glücks, kaum aufrechterhalten. Mit dem Erzählen muss die Zeit voranschreiten, die Zeit aber bringt Veränderung, und damit auch Unglück und Tod. Ist dies nicht gewünscht, so muss – dies scheint der Abgang der Erzählerfigur im Leben Fibels anzudeuten – das Erzählen selbst aufhören. Mit seinem Kunstgriff, Idylle als Biographie zu erzählen, weiß Jean Paul diese dem Genre inhärente Zeit-Aporie zu potenzieren, und kann sie dadurch umso deutlicher hervortreten lassen.

IV. Idylle und Autobiographik bei Jean Paul Es ist bekannt, dass Jean Pauls Idyllenhelden Züge des empirischen Autors besitzen, und dass umgekehrt die autobiographischen Texte eine auffällige Nähe zu den Idyllen aufweisen. Hier wäre insbesondere die Selberlebensbeschreibung zu nennen, in der sich Jean Paul gleichsam als Fibel stilisiert. Weitgehend unbekannt ist hingegen, dass die Verbindung von Idylle und Autobiographie bei Jean Paul noch viel weiter reicht: Die Handschriften des Leben Fibels zeugen davon, dass der Autor während der Entstehungszeit des Romans (1806–1811) stellenweise kaum noch zwischen sich und seiner Figur unterschieden hat. So werden Passagen aus dem sogenannten ‚Vita-Buch‘ – den seit 1804 geführten Notizen als Vorarbeiten zu seiner Autobiographie – in die Konzepthefte des Fibels kopiert, es wandern auch Beschreibungen des Fibels in die Sammlung zur eigenen Lebensbeschreibung. Entsprechend notiert Jean Paul auch 1818 während der Arbeit an der Selberlebensbeschreibung in seinen Merkblättern: „Alle meine Schreiberei ist eigentlich innere Selbstbiographie; und alle Dichtwerke sind Selblebenbeschreibungen, denn man kennt und lebt eben kein anderes Leben als das eigene.“47 _____________   46 47

Jean Paul: „Leben Fibels, des Verfassers der bienrodischen Fibel“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 6. Späte Erzählungen. Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 365–562, Zitat S. 546. Jean Paul: „Merkblatt 1818“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begr. v. Eduard Berend. Abt. 2. Nachlass, Bd. 6. Dichtungen, Merkblätter, Studienhefte, Schriften zur Biographie, Libri Legendi. Hg. auf Veranlassung der Deutschen Schillergesellschaft Marbach am Neckar v. Götz Müller unter Mitarb. v. Janina Knab. Teil 1. Text. Weimar 1996, S. 169– 208, Zitat S. 192.

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Diese Amalgamierung ist durchaus konsequent, denn die Wirkung von Biographie und Autobiographie beruht für Jean Paul auf demselben Vorgang im Rezipienten, der, wie wir oben gesehen haben, auch für die Idylle so wichtig war: einzelne Erinnerungsfragmente werden von der Phantasie zu einem Ganzen verschmolzen. Idylle und Autobiographie sind somit gleichermaßen Fiktion.48 An Jean Pauls Idyllen-Biographien ist nun besonders, dass sie auf einer weiteren Metaebene genau das permanent dekonstruieren, was oben als eine der Hauptanstrengungen der Erzählinstanz beschrieben worden ist. Während diese permanent versucht, Grenzen aufzuweichen und die Narration als ein zusammenhängendes ‚Vollglück‘ erscheinen zu lassen, ist sie zugleich ständig gezwungen, die Lebensgeschichte der Protagonisten zu rekonstruieren und damit eben die Brüche, die verschleiert werden sollen, aufzudecken. Denn die Vita der Protagonisten ist in allen großen Idyllen Jean Pauls fragmentiert: Wutzens Autobiographie erstreckt sich über alle seine selbstgeschriebenen Werke. Fixlein hat seine Biographie nach den Erinnerungen seiner Mutter auf verschiedenen Zetteln notiert und bewahrt sie in zeitlich geordneten Zettelkästen auf. Fibels Leben ist nun gar von drei Biographen beschrieben worden, deren Werk jedoch von französischen Marodeuren zerrissen und in alle Winde verstreut wurde. Vom Wutz zum Fibel wird so nicht nur die Quellensituation immer prekärer, es schieben sich auch immer mehr Vermittlungsebenen zwischen den Erzähler und seinen Gegenstand. Ein zusammenhängendes Leben lässt sich nur noch durch ‚Zusammenleimen‘, wie es im Fibel heißt,49 herstellen, eine Verfahrensweise, die immer Nahtstellen produziert, die auf den Konstruktcharakter des Ganzen verweisen. Jean Paul gibt seinen Idyllen-Erzählinstanzen somit eine aporetische Aufgabe: Sie müssen die Illusion des Vollglücks zugleich sicherstellen und durch ihre Rekonstruktion der Lebensgeschichten der Protagonisten wieder entlarven. Aber gerade dieses Spannungsfeld taugt wie kaum ein anderes für eine Reflexion auf die Grundbedingungen der Idylle. In diesem Zusammenhang spielt, wie bereits erwähnt, auch die Vita des empirischen Autors Jean Paul eine Rolle. Besonders Helmut Pfotenhauer hat auf die enge Verflechtung von Leben und Schreiben im Werk _____________   48

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Der ‚Magie-Aufsatz‘ macht ganz deutlich, dass er auch die Biographie zu den Produkten der Phantasie zählt, vgl. Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, S. 196f.: „Der Held einer Biographie sei uns noch so treu vorgezeichnet: gleichwohl fängt ihn unsere metamorphotische Einbildung größer auf, als unsere plane Netzhaut ihn malen würde […].“ So leimt die Erzählerfigur ‚Jean Paul‘ im Leben Fibels die Lebensgeschichte des Protagonisten aus einzelnen gefundenen Blättern zusammen, vgl. Jean Paul: „Leben Fibels“, S. 375.

Jean Pauls Idyllen-Experimente

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Jean Pauls immer wieder hingewiesen.50 Seine Selberlebensbeschreibung lässt sich letzten Endes als ein Versuch lesen, das eigene Leben als Idylle zu erzählen. Doch was in der Dichtung funktionierte, die haarscharfe Idealisierung und die Darstellung eines ‚Vollglücks‘, stößt bei der eigenen Autobiographie an unüberwindliche Grenzen. Die Selberlebensbeschreibung bricht just nach dem Abendmahl, der Initiation ins Erwachsenenleben, ab51 – in dem Moment also, in dem sich die kindliche Illusion einer Harmonie von Hoffnungen und Wünschen nicht mehr aufrechterhalten lässt. Wie Pfotenhauer herausarbeiten konnte, münden diese Versuche, das Leben wo immer es geht in Schrift zu verwandeln, letztlich in die traurige Erkenntnis, dass das eigene, gelebte Leben hinter dem erschriebenen zurückbleibt.52 Jean Paul scheint dies bereits früh in der Arbeit an seiner Autobiographie aufgefallen zu sein, denn schon ganz am Anfang der Vorarbeiten zur Selberlebensbeschreibung heißt es: „Ich bin nicht der Mühe werth gegen das was ich gemacht.“53

V. Fazit Jean Pauls Idyllen lassen sich, wie sich gezeigt hat, als ‚Idyllen-Experimente‘ betrachten. In verschiedenen Anordnungen werden gleichsam Belastungstests durchgeführt, in denen zentrale Spannungen der Gattung – Grenzziehung und -verwischung oder Zeitlosigkeit im zeitlichen Medium – sichtbar werden. Die daraus resultierenden Brüche eröffnen die Möglichkeit zur Reflexion: über das eigene Schreiben, die Bedingungen poetischer Wirkung und schließlich über gattungstheoretische Fragen. Jean Pauls Idyllik erprobt so Grenzen und Potentiale des Genres an der Schwelle zur Moderne.

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Vgl. hierzu u.a. Pfotenhauer, Helmut: „Das Leben schreiben – Das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit“. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 35/36 (2000/2001), S. 46–58. Vgl. Pfotenhauer, Helmut: „Die Bedenken des Romanautors vor dem Ich. Jean Pauls Autobiographik“. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 20 (1985), S. 33–47, Zitat S. 45. Vgl. hierzu Pfotenhauer, Helmut: Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Biographie. München 2013, S. 15. Jean Paul: „Vorarbeiten zur Selberlebensbeschreibung“. In: Ders.: Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften. Hg. v. Helmut Pfotenhauer unter Mitarbeit von Thomas Meißner. München, Wien 2004, S. 141–156, Zitat S. 147.

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ALEXANDER KLUGER

Literaturverzeichnis Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart. ²1977. Espagne, Geneviève: „Die blaue Blume im Ton-Töpfchen. Selbstparodie der Idylle und literarische Satire im Leben Fibels“. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 17 (1982), S. 31–45. Grimm, Jacob u. Wilhelm: „Widerschein“. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 14. I. Abt. Teil 2. Wenig – Wiking. Bearbeitet von der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs. Leipzig 1960, S. 1176. Hagel, Ulrike: Elliptische Zeiträume des Erzählens. Jean Paul und die Aporien der Idylle. Würzburg 2003. Jean Paul: „Vorarbeiten zur Selberlebensbeschreibung“. In: Ders.: Lebenserschreibung. Veröffentlichte und nachgelassene autobiographische Schriften. Hg. v. Helmut Pfotenhauer unter Mitarbeit von Thomas Meißner. München, Wien 2004, S. 141–156. Jean Paul: „Die unsichtbare Loge“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 1. Die unsichtbare Loge. Hesperus. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 7–469. Jean Paul: „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Wutz in Auenthal“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 1. Die unsichtbare Loge. Hesperus. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 422–462. Jean Paul: „Leben des Quintus Fixlein“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 4. Kleinere Erzählungen. Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 7–259. Jean Paul: „Der Mond. Phantasierende Geschichte“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 4. Kleinere Erzählungen. Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBGLizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 50–62. Jean Paul: „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 4. Kleinere Erzählungen. Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 195–205. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 5. Vorschule der Ästhetik. Levana. Politische Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBGLizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 7–514. Jean Paul: „Leben Fibels, des Verfassers der bienrodischen Fibel“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 6. Späte Erzählungen. Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Darmstadt 2000 [WBG-Lizenzausgabe der Hanser-Ausgabe], S. 365–562. Jean Paul: „Merkblatt 1818“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begr. v. Eduard Berend. Abt. 2. Nachlass, Bd. 6. Dichtungen, Merkblätter, Studienhefte, Schriften zur Biographie, Libri Legendi. Hg. auf Veranlassung der Deutschen Schillergesellschaft Marbach am Neckar v. Götz Müller unter Mitarb. v. Janina Knab. Teil 1. Text. Weimar 1996, S. 169–208. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit, Zweite Abteilung. Stuttgart, Tübingen ²1813. Pfotenhauer, Helmut: „Das Leben schreiben – Das Schreiben leben. Jean Paul als Klassiker der Zeitverfallenheit“. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 35/36 (2000/2001), S. 46–58. Pfotenhauer, Helmut: „Die Bedenken des Romanautors vor dem Ich. Jean Pauls Autobiographik“. In: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 20 (1985), S. 33–47. Pfotenhauer, Helmut: Jean Paul. Das Leben als Schreiben. Biographie. München 2013.

Jean Pauls Idyllen-Experimente

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Tismar, Jens: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. München 1973. Wuthenow, Ralph-Rainer: „Gefährdete Idylle“. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1 (1966), S. 79–94.

 

Idylle als poetologischer Kommentar. Thomas Manns Erzählung Herr und Hund und die Literatur der Moderne JENS EWEN „Im Folgenden ist ausschließlich von meinem Hunde Bauschan die Rede“, schreibt Thomas Mann in einem Vorwort zu seiner Erzählung Herr und Hund, die erstmals 1919 erschien.1 Darauf wolle er den Leser aufmerksam machen, damit niemand getäuschte Erwartungen einklagen könne, sondern jeder, den die Beschäftigung mit einem so nebensächlichen Gegenstand unter seiner geistigen Würde dünkt, diese Blätter sogleich und ohne unersetzlichen Zeitverlust wieder beiseite werfe. (GKFA 15.1, S. 229)

Mit starkem Nachdruck rückt der Autor seinen Text in die Nähe der Belanglosigkeit, wenn er weiter schreibt: „Weder werden höhere Probleme der Sittlichkeit darin aufgeworfen noch bedeutende Charaktere zergliedert, geschweige denn, daß die gesellschaftliche Frage ihrer Lösung nähergeführt würde“; er habe den Text in Angriff genommen „ohne jeden Hintersinn durchaus um seiner selbst und seines erquicklichen Gegenstandes willen“ (GKFA 15.1, S. 230). An anderer Stelle wird die These von der ästhetischen und thematischen Bedeutungslosigkeit durch die Bemerkung plausibilisiert, dass die Erzählung geschrieben worden sei, um nach dem Abschluss der rein diskursiven Arbeit an den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) „für neue dichterische Aufgaben erst einmal wieder das Handge_____________   1

Mann, Thomas: „Vorsatz [zur Luxusausgabe von Herr und Hund]“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Briefe, Tagebücher, Bd. 15.1. Essays II. 1914–1926. Hg. v. Hermann Kurzke. Frankfurt a.M. 2002, S. 229–230, Zitat S. 229. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle GKFA abgekürzt und mit Seitenangabe im Haupttext nachgewiesen. Die Erzählung selbst ist noch nicht im Rahmen der GKFA erschienen und wird deshalb nach folgender Ausgabe zitiert: Mann, Thomas: „Herr und Hund. Ein Idyll“. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. VIII. Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen. Frankfurt a.M. 1974, S. 526–617. Im Folgenden mit der Sigle GW abgekürzt und mit Seitenangabe im Haupttext nachgewiesen.

Thomas Manns Idyll Herr und Hund und die Literatur der Moderne

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lenk zu üben“.2 – Das alles klingt nicht danach, als handele es sich um einen für Germanisten besonders interessanten Text, und tatsächlich ist die literaturwissenschaftliche Forschung den Selbstkommentaren des Autors lange gefolgt.3 Nur wenige Beiträge finden sich zu dieser Erzählung und auffällig ist, dass dort die Frage nach der Gattungszuordnung, die im Untertitel „Ein Idyll“ (GW VIII, S. 526) enthalten ist, kaum eine Rolle spielt. Das ist besonders deshalb bemerkenswert, weil sich im Werk Thomas Manns gerade einmal zwei Idyllen finden: Neben Herr und Hund wird nur noch die Hexameterdichtung Gesang vom Kindchen, die unmittelbar im Anschluss an Herr und Hund entstand, dieser Gattung zugeordnet und mit dem Untertitel „Idylle“ (GW VIII, S. 1068)4 versehen. Naheliegend sind deshalb folgende Fragen: Wie kann dieser für Thomas Mann ungewöhnliche Bezug auf die Gattung Idylle gedeutet werden und welche Stellung kommt der Erzählung Herr und Hund im Gesamtwerk zu? Dabei möchte ich die angedeutete werkbiographische mit einer gattungshistorischen Fragerichtung verbinden: Was bringt den Autor Thomas Mann dazu, noch in den letzten Monaten des Ersten Weltkrieges eine Idylle zu schreiben? Diese Frage setzt freilich voraus, dass der Stellenwert der Gattung Idylle innerhalb der literarischen Moderne problematisiert wird. Welche Funktion kommt der Gattung unter den Bedingungen der Moderne zu? Welche Aktualisierungen und Transformationen gattungstypischer Merkmale sind dafür notwendig? Ich gehe in diesem Zusammenhang problemgeschichtlich vor, frage also danach, welche Problemstellungen der Gattungsgeschichte der Idylle zugrunde liegen und welche Lösungen sie dafür bereithält.5 _____________   2 3

4 5

Mann, Thomas: „On Myself“. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 13. Nachträge. Frankfurt a.M. ²1974, S. 127–169, Zitat S. 161. So heißt es in einer Überblicksdarstellung zu Thomas Manns Erzählungen: „Thomas Manns […] Bemerkungen über die Hundepsychologie sind Spiel, liebevolles Spiel aus Freude über die Entdeckungen bei Bauschan, Ausdruck der Sympathie für einen achtenswerten Charakter, mehr nicht! Nein, Hintersinnigkeiten über die BauschanGeschichte anzustellen, ist nicht angebracht.“ Wiegmann, Hermann: Die Erzählungen Thomas Manns. Interpretationen und Realien. Bielefeld 1992, S. 208. Mann, Thomas: Gesang vom Kindchen. Idylle. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. VIII. Erzählungen, Fiorenza, Dichtungen. Frankfurt a.M. 1974, S. 1068–1101. Dass es sich lohnen kann, Literaturgeschichte als Problemgeschichtliche zu betreiben, hat Dirk Werle jüngst zu bedenken gegeben und damit eine ältere, nämlich auf die 1930er Jahre zurückgehende Diskussion wieder ins literaturwissenschaftliche Rampenlicht gerückt, vgl. Werle, Dirk: „Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 478–498; ders.: „Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie“. In: Scientia Poetica 13 (2009), S. 255–303. Die Zeitschrift Scientia Poetica veranstaltete zwei Diskussionsrunden zur Problemgeschichte, die in den Nummern

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Meine These lautet, dass sich Herr und Hund als Reaktion auf poetologische Orientierungsversuche lesen lässt, die das gesamte Frühwerk Thomas Manns prägen und für die er in den ebenfalls 1918 abgeschlossenen Betrachtungen eines Unpolitischen eine theoretische Lösung formuliert hat. Die Erzählung Herr und Hund ist aus dieser Sicht der erste literarische Text, der auf der Basis einer neuen poetologischen Sicherheit entsteht und die theoretischen Einsichten dieser Jahre in die literarische Praxis überführt. Die Idylle, wie sie Thomas Mann hier vorführt, wird vor dem Hintergrund seiner Annahmen gerade ‚nicht‘ zu einem Rückzugsort, in dem der Mensch mit der Natur in Einklang leben kann, der unberührt ist von den Beschädigungen zivilisatorischen Fortschritts, denn in der Textwelt existieren die Widersprüche und Spannungen des modernen Lebens fort. In Herr und Hund wird die Idylle von der klassischen Funktionalisierung als Moderne- und Zivilisationskritik freigehalten und gerade gegenteilig konturiert: Sie kann als Gegenkonzept zu denjenigen Konzepten von Kunst und Literatur gedeutet werden, die mit einem starken Wahrheitsanspruch, mit einer eindimensionalen sozialen bzw. politischen Wirkungsabsicht verknüpft sind und gegen deren zeitgenössische Dominanz in Form einer littérature engagée sich Thomas Mann glaubte zur Wehr setzen zu müssen. Die Idylle Herr und Hund ist demnach ein poetologischer Kommentar zur dominanten Poetik ihrer Entstehungszeit.

I. Die Probleme der Gattung Die Erzählung Herr und Hund entsteht in einer Zeit, in der die Lebenswelt im Zuge des Ersten Weltkriegs wenig Idyllisches zu bieten hat und in der auch die Gattung keine große Rolle mehr spielt. Auch deshalb muss zunächst geklärt werden, ob der Rückgriff auf die Idyllentradition überhaupt evident ist, ob mit dem Untertitel der Erzählung „Ein Idyll“ (GW VIII, S. 526) also die Gattungsbezeichnung im engeren Sinne gemeint ist oder schlicht ein außerliterarischer Begriff, der beschreibt, wie eine bestimmte räumliche, figurative und/oder persönliche Konstellation wahrgenommen wird – nämlich das Idyllische. Hier ist ein kurzer Blick in die Geschichte der Gattung hilfreich, um darstellen zu können, warum der Idylle im späteren 19. und im 20. Jahrhundert nur noch eine marginale Bedeutung zukam, warum aber gerade diese Entwicklung sie am Ende des Ersten _____________   13 (2009) und 14 (2010) erschienen sind. Die kontroversen Beiträge innerhalb dieser Debatte verdeutlichen die Relevanz und Anschlussfähigkeit dieser Heuristik, aber auch ihre Strittigkeit.

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Weltkriegs für Mann so attraktiv machte. Die folgenden Bemerkungen hierzu können die komplexe Geschichte der neuzeitlichen Idylle freilich nicht erschöpfend nachvollziehen, ich konzentriere mich auf die Darstellung der problem- und funktionsgeschichtlich relevanten Aspekte der Gattungsgeschichte, die für meine Fragestellung wichtig sind. Gattungstheoretischer Bezugspunkt sind dabei die Überlegungen von Wilhelm Voßkamp, der die Entwicklung von Gattungen als Reaktion auf sozial, kulturell und historisch wandelbare Problemlagen und Bedürfnisse ansieht.6 Der Vorteil einer problemgeschichtlich orientierten Betrachtung liegt meines Erachtens darin, dass die Geschichte der Gattung damit nicht nur beschrieben, sondern ein Erklärungsansatz für ihre Entwicklung formuliert werden kann. Die Idylle erfreute sich im 18. Jahrhundert großer Beliebtheit, das trifft sowohl auf die theoretische Reflexion der Gattung als auch auf die poetische Praxis zu. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurde dabei die auf antike Wurzeln zurückgehende, humanistisch-klassizistische Tradition der meistens pastoralen Idylle zunehmend als erstarrt und unzeitgemäß angesehen, so dass ein komplexer kritischer Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen der Gattung einsetzte.7 Im Horizont aufklärerischer Konzepte sollte die Idylle aktualisiert und damit für die Frage- und Problemstellungen der Zeit anschlussfähig gemacht werden8 – ein Phänomen, das besonders für gattungstheoretische Entwicklungen des 18. Jahrhunderts _____________   6

7

8

Vgl. Voßkamp, Wilhelm: „Gattungsgeschichte“. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin, New York 1997, S. 655–658; ders.: „Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie“. In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hg. v. Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27–44. Die literaturgeschichtliche Entwicklung der Gattung im 18. Jahrhundert sowie deren ideengeschichtliche Voraussetzungen werden sehr anschaulich dargestellt von Schneider, Helmut J.: „Einleitung: Antike und Aufklärung. Zu den europäischen Voraussetzungen der deutschen Idyllentheorie“. In: Ders. (Hg.): Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Tübingen 1988, S. 7–74. Auch wenn sich die Darstellungen Schneiders auf das 18. Jahrhundert konzentrieren, so ist seine problemgeschichtlich orientierte Perspektive dazu geeignet, auch die weitere Entwicklung der Gattung im 19. Jahrhundert plausibel zu deuten. Ohne diesen Anspruch explizit zu verfolgen, leistet Schneider damit erheblich mehr als die bis heute einzige Überblicksdarstellung zur Gattung der Idylle von BöschensteinSchäfer, Renate: Idylle. Stuttgart ²1977. Einen historisch umfassenden und detaillierten, aber problemgeschichtlich weniger zugespitzten Überblick über die Gattungsgeschichte liefert Schneider, Helmut J.: „Die sanfte Utopie“. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen. Frankfurt a.M. 1978, S. 353–423. Der Versuch, das aufklärerische Naturideal mit dem für die Gattung traditionellen Antikebezug zu verknüpfen, ist besonders an Salomon Geßners Idyllen abzulesen, vgl. Mix, York-Gothart: „Idylle“. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 393–402, Zitat S. 393.

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charakteristisch ist.9 Die Selbstverständlichkeit, mit der in der humanistischen Gattungstradition die Autorität der antiken Vorbilder bestanden hatte, wurde nun in Frage gestellt, „ohne doch damit den Blick von der antiken Gattung abzuwenden noch den prinzipiellen Gedanken einer Vorbildlichkeit der Antike preiszugeben; ja, letzterer stand zu neuer Begründung an.“10 Dass die in der pastoralen Dichtung ausgedrückte Vorbildfunktion der Antike zum Problem werden konnte, kann auf eine allgemeine Aufwertung der Natur im Rahmen der Philosophie der Aufklärung zurückgeführt werden, aus der sich Folgen für das Literaturverständnis der Zeit ergaben: Zur wichtigsten Anforderung an die Literatur entwickelte sich das Postulat der Naturnachahmung, das nun in Konkurrenz stand zur normativen Orientierung an antiken Vorbildern.11 Helmut J. Schneider deutet die aus dieser Konstellation hervorgehende Spannung als die Triebfeder des intensiven gattungstheoretischen Diskurses über die Idylle in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der sich um die Frage gedreht habe, in welchem Verhältnis die Aufklärung zur Antike steht. Die Dynamik dieses Prozesses habe sich folgerichtig erschöpft, als „es mit dem einen Pol, eben der gültigen Norm der Antike, zuende war.“12 Für die neuzeitliche Idylle kann gelten, dass die idealisierende Darstellung antiker Lebenswelten in der frühneuzeitlichen bis hin zur Literatur des 18. Jahrhunderts als Gegenentwurf zu einer als defizitär empfundenen Gegenwart verstanden werden kann. Bei aller Harmlosigkeit, die den Idyllen häufig attestiert wird,13 besitzen sie demnach eine politische Dimension und einen kritischen Gestus. Aus problemgeschichtlicher Perspektive kann man nun folgendermaßen argumentieren: Auch wenn die Orientierung am normativen Vorbild der Antike nicht aufgegeben werden soll, so ist sie doch nicht mehr unhinterfragt plausibilisierbar, – ein Diskurs darüber setzt in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Insofern verliert die Gattung folgerichtig an Bedeutung, als sie in ihrer traditionellen Form keine überzeugenden Lösungen mehr für das Problem anbietet, der als defizitär empfundenen Gegenwart ein ästhetisch konstruiertes Modell gegenüberzustellen. Die Lösungsversuche von Johann Gott_____________   9 10 11 12

13

Vgl. Schneider: „Einleitung“, S. 13f. Ebd., S. 26. Dieser Zusammenhang wird auf philosophie- und problemgeschichtlicher Ebene am überzeugendsten dargestellt von Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002, insbes. S. 36–41 u. S. 59–119. Schneider: „Einleitung“, S. 15. Problemgeschichtlich gesprochen kann man ergänzen, dass die philosophischen Debatten des 18. Jahrhunderts die normsetzende Autorität der Antike in Frage gestellt und unter Legitimationszwang gesetzt hatten; die Orientierung an der Antike war demnach zum Problem geworden. Vgl. ebd., S. 7–10.

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fried Herder, Moses Mendelssohn u. a. sind vor diesem Problemhorizont zu sehen. Friedrich Schillers Idyllentheorie nimmt in der Gattungsgeschichte zwar eine Sonderstellung ein, lässt sich aus problemgeschichtlicher Sicht aber ebenfalls in das vorgeschlagene Modell integrieren: Sein geschichtsphilosophisch orientiertes Idyllenkonzept, in dem nicht mehr ein Vergangenheitsbezug dominiert, sondern die Idylle auf eine elysische Zukunft verweisen soll, kann als sein Lösungsvorschlag für das Problem gesehen werden, wie sich Antikebezug und ein an den Idealen der Aufklärung orientiertes Literaturverständnis vereinbaren lassen. Die an der pastoralen Tradition orientierten Idyllen führen aus Schillers Sicht das Problem mit sich, dass sie „unglücklicherweise das Ziel hinter uns [stellen], dem sie uns doch entgegenführen sollten“.14 Eine sentimentalische Idylle in seinem Sinne beziehe dagegen den sogenannten ,Kulturzustandʻ mit ein; der sentimentalische Idyllendichter führe uns nicht rückwärts in unsre Kindheit, […] sondern führe uns vorwärts zu unsrer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kämpfer belohnet, die den Überwinder beglückt. Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, […] der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche […] den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt. 15

Auch für die Literatur des 19. Jahrhunderts gilt, dass eine kritische Perspektive auf Erscheinungen des Modernisierungsprozesses dominant war, auch hier bestand also Bedarf an Gegenentwürfen zur zeitgenössischen Lebenswelt. Die Angebote, die die Idylle in dieser Hinsicht unterbreiten konnte, waren aber nicht mehr überzeugend, da sie in ihrem Gattungssystem zu starr mit der Antike und den dort geltenden sozialen, moralischen und ästhetischen Normen verknüpft war. Auch wenn die Gattung der Idylle im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts erheblich an Bedeutung verliert und fast ganz aus der literarischen Produktion verschwindet, so ist es evident, dass Denkformen des Idyllischen weiterhin Bestand haben und literarisch produktiv bleiben.16 Die Forschung spricht hier von Transformationsprozessen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts so umfassend sind, dass „andere Gattungs- und Typenbezeichnungen (z. B. Regionalroman, Naturdichtung, exotische Kunst) verwendet werden, um der veränderten Thematik und Struktur Rechnung _____________   14 15 16

Schiller, Friedrich: „Über naive und sentimentalische Dichtung“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. V. Erzählungen, theoretische Schriften. Hg. v. Wolfgang Riedel. München 2004, S. 694–780, Zitat S. 747 (Hervorhebungen im Text). Ebd., S. 750 (Hervorhebungen im Text). Dazu gehört auch die enorme Popularität von Goethes Idyll Hermann und Dorothea im Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts.

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zu tragen.“17 Will man auch aus pragmatischen Gründen am Begriff der Idylle festhalten, so ist der Terminus nur dann plausibel auf die Zeit nach ca. 1830 anzuwenden, wenn seine inhaltlichen Implikationen deutlicher herausgestellt werden. Das in dieser Frage überzeugendste Modell hat Wolfgang Preisendanz vorgeschlagen: Er stellt zunächst eine gegenläufige Entwicklung fest, in der die Produktion der literarischen Gattung „seit Mitte des 19. Jahrhunderts so gut wie ausgestorben“ sei. Wegen des zivilisationskritischen Potentials der Idylle lasse sich im Verlauf der Moderne aber „eine stetig zunehmende Konjunktur“18 des außerliterarischen Begriffs, des ,Idyllischenʻ beobachten. Weil die Idylle aber nicht mehr an die Schäfer- und Hirtendichtung der antiken bzw. barocken Tradition gebunden sei, könne der Begriff nur noch über das jeweils geltende und an sich variable Oppositionsverhältnis semantisiert werden, das in der Idylle zum Ausdruck komme. Preisendanz argumentiert hier strukturalistisch in Anlehnung an Juri M. Lotman: Die Idylle bilde einen ‚semantischen Raum‘ im Wirklichkeitsmodell des narrativen Texts, der in ‚semantischer Opposition‘ zu einem anderen semantischen Raum im Gesamtraum des Texts steht und dem mithin ein besonderer Typ von Lokalitäten, Milieus, Situationen und menschlichen Beziehungen entspricht. […] Daraus folgt, dass die inhaltliche Besetzung der Idylle als semantischer Raum nicht mehr vorgegeben ist […]. Die inhaltliche Konkretisierung des Idyllischen ergibt sich vielmehr dialektisch aus/mit dem jeweiligen Oppositionsverhältnis.19

Weil das bloße Vorhandensein eines Oppositionsverhältnisses in einem Text aber kein hinreichendes Kriterium zur Bestimmung von Idyllik sein kann, muss beim Leser mindestens eine von vielen möglichen inhaltlichen Assoziationen geweckt werden, „die im Wort Idylle virulent sein können […], die im Prozess der Begriffsgeschichte und des Wortgebrauchs gespeichert worden sind.“20 Diese strukturalistisch orientierte Bestimmung lässt sich sehr gut mit problemgeschichtlichen Ansätzen verbinden,21 denn _____________   17 18

19 20 21

Seeber, Hans Ulrich: „Einleitung“. In: Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Hans Ulrich Seeber u. Paul Gerhard Klussmann. Bonn 1986, S. 7– 12, Zitat S. 8. Preisendanz, Wolfgang: „Reduktionsformen des Idyllischen im Roman des 19. Jahrhunderts (Flaubert, Fontane)“. In: Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Hans Ulrich Seeber u. Paul Gerhard Klussmann. Bonn 1986, S. 81–92, Zitat S. 81. Ebd., S. 82. Ebd., S. 83. Durch diese Verknüpfung mit problemgeschichtlichen Fragestellungen kann man die Defizite, die die formalistische Beschreibung von Gattungen und ihrem Wandel mit sich bringt, vermeiden. Denn auf diese Weise wird ein diachroner Aspekt berücksichtigt, für den sich der Formalismus zunächst nicht interessiert hatte. Die in dieser Tradition stehenden Vorschläge zur diachronen Betrachtung des Gattungswandels setzen wiederum

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die Inhalte der Assoziation können problemgeschichtlich rekonstruiert werden, wenn man davon ausgeht, dass das Idyllische eine Lösung anbieten kann für ein nach wie vor virulentes Problem: das Bedürfnis, in der Literatur Darstellungen von Einfachheit und Zufriedenheit, von Natürlichkeit und überschaubaren Zusammenhängen zu finden, die die Komplexität der modernen Welterfahrung für den Moment des Kunstgenusses reduzieren.

II. Motivik als Gattungsbezug Wie aktiviert Thomas Mann nun in seiner Erzählung Herr und Hund den Assoziationskomplex des Idyllischen? Neben dem paratextuellen Signal, das im Untertitel enthalten ist, geschieht das über eine erstaunliche Fülle an konkreten Bezugnahmen auf die Gattungstradition der Idylle – ein tatsächlich typisches Merkmal, denn die Gattung lässt sich (darauf wird in der Idyllenforschung immer wieder hingewiesen) besonders dadurch bestimmen, dass ein Text eine Reihe von gattungstypischen Motiven enthalten müsse, dass aber eine spezifische Struktur auf der Darstellungsebene nicht beobachtet werden könne.22 Dass der Text reich an solchen Anspielungen ist, hat schon Eckart Goebel herausgestellt,23 an dessen Analyse ich mich in den folgenden Absätzen orientiere. Gegenstand der Erzählung ist das Zusammenleben des Herrn mit seinem Hühnerhundhybriden Bauschan,24 beide unternehmen Streifzüge _____________  

22 23

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ein stark hierarchisiertes Modell voraus, in dem Gattungsveränderungen aus der Verschiebung der Relationen zwischen den einzelnen, hierarchisch angeordneten Elementen des Gattungssystems resultieren und das in problemgeschichtlicher Perspektive nicht mehr zwingend ist. Vgl. dazu: Gymnich, Marion: „Theorien generischen Wandels“. In: Handbuch Gattungstheorie. Hg. v. Rüdiger Zymner. Stuttgart 2010, S. 156–158. Dazu z. B.: Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 2. Vgl. Goebel, Eckart: „Tierische Transzendenz: Herr und Hund“. In: Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne. Hg. v. Stefan Börnchen u. Claudia Liebrand. München 2008, S. 307–327, hier insbes. S. 314–321. Dieser philologisch sehr genauen und eindrucksvollen Analyse ist mit Blick auf den hier gerade vollzogenen Argumentationsschritt nichts hinzuzufügen. Wie häufig in Manns Erzählungen und Romanen ist der starke autobiographische Bezug nicht zu übersehen: Der Erzähler ist an Thomas Mann angelehnt, was besonders an der Schilderung seiner Tätigkeit, seiner Lebensumstände und Gewohnheiten deutlich wird. Und den Hühnerhundhybriden Bauschan hat es im Hause Mann tatsächlich gegeben, darauf machen die Tagebücher aufmerksam, vor allem aber ein kleiner Text mit dem Titel An Jack (1922), in dem Thomas Mann fiktiv einem Hund antwortet, dessen Besitzerin Bauschan in seinem Namen einen Brief geschrieben hatte; in An Jack identifiziert der Autor den Bauschan der Erzählung Herr und Hund mit dem aus dem Hause Mann (vgl. GKFA 15.1, S. 501). Auch die Gegend, in der die beiden ihre Streifzüge unternehmen, ist

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durch das sogenannte ‚Revier‘, ein außerhalb der Stadt liegender Landschaftsabschnitt, der unmittelbar vor dem Haus des Ich-Erzählers beginnt. Nach einer ausführlichen Charakterisierung Bauschans folgt im Kapitel „Das Revier“ (GW VIII, S. 561–584) eine sehr genaue Beschreibung der geographischen und topographischen Struktur dieser Gegend, die sich in drei Zonen gliedert und die als idyllische Landschaft markiert ist: Im Westen wird das Revier begrenzt durch die Zone des Flussufers, im Osten durch die Zone des Hanges, von dem ein Bach herabfließt. Zwischen Fluss und Hang erstreckt sich schließlich die Zone des Waldes, ein ungefähr 500m breiter Streifen, der von tropisch anmutenden Schlingpflanzen bewachsen ist. Im Norden wird das Revier begrenzt durch eine Ortschaft, an deren Eingang ein Wirtshaus mit einem Teich davor liegt. Goebel hat nun gezeigt, dass es besonders die Art und Weise der Beschreibung dieser Landschaft ist, die zumindest diesen Textabschnitt sehr klar der Gattung der Idylle zuweist.25 Mann weckt durch zahlreiche klassisch-idyllische Elemente beim Leser die Assoziation, ein idyllisches Landschaftsgemälde vor sich zu haben: Er beginnt mit der Aufzählung der verschiedenen im Revier vorhandenen Pflanzenarten, er erzählt davon, wie die beiden Protagonisten unbeabsichtigt ein Liebespaar in seinem ‚Nest‘ stören, er wendet den Blick dann der Landschaft des Hanges zu, die von einem Bach durchzogen ist und der ihr das „idyllisch-landschaftliche Gepräge“ (GW VIII, S. 570) gibt. In dieser Zone gibt es weite baumbestandene Wiesen mit Maulwurfshügeln darauf, es weiden Schafe dort, sie „rupfen den Klee“ (GW VIII, S. 571), ein kleines Mädchen im roten Rock hütet sie, und wenn doch einmal eines ausbüxt, wird es von einer Magd des dort ansässigen Bauernhofs eingefangen, die ihm mit eiligem Schritt hinterherläuft, in einer Hand die Mistgabel, in der anderen „die unbefestigte Brust, die im Laufen allzusehr schwankte“ (GW VIII, S. 573). Nach der Beschreibung des Baches folgt die Charakterisierung der nördlichen Landschaftsgrenze, wo sich das Wirtshaus befindet sowie ein Teich, in dem die Frauen des Dorfes ihre Wäsche waschen. Am Schluss wird von einem Fährmann, seinem Kahn und seinem Haus berichtet, vor dem sich der Erzähler schließlich niederlässt und wo er von den dort ansässigen Hühnern und dem stolzen Hahn betrachtet wird. Nicht zuletzt sind in _____________  

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ganz deutlich als die unmittelbare Umgebung von Thomas Manns Haus im Münchner Herzogpark zu erkennen, das die Familie im Jahr 1914 bezogen hatte und das unmittelbar an den Isarauen lag, vgl. dazu besonders: Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biografie. München 2001. Für meine Interpretation des Textes spielt dieser autobiographische Aspekt nur insofern eine Rolle, als er dessen poetologische Lesart stützen kann, denn dieser autobiographische Bezug rückt die intentionale Ebene des Textes noch stärker in die Nähe der empirischen Person Thomas Mann. Vgl. Goebel: „Transzendenz“, S. 316f.

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dieser Aufzählung von idyllischen Motiven die Jagdszenen mit Herr und Hund zu nennen, bei denen in der Regel kein Tier zu Schaden kommt, abgesehen von der einen oder anderen Feldmaus. Und auch das Motiv des Todes in Arkadien kommt vor, wenn der Erzähler einen Gärtner dabei beobachtet, wie er „sein neun Schuh großes Gemüseäckerchen“ umgräbt, „so daß es aussieht, als grabe er sich sein eigenes Grab“ (GW VIII, S. 573). Die Landschaft bzw. ihre Schilderungen deutet der Erzähler selbst als ‚typisch‘, d. h. typisierend idyllisch, indem er die von ihm beschriebenen Landschaftselemente mit klassischen Idyllendarstellungen aus der Bildenden Kunst verknüpft. So fühlt er sich bei der Betrachtung einer Baumgruppe an die Landschaftsmalerei Claude Lorrains (1600–1682) erinnert: Es ist ein Baumschlag, wie jener lothringische Landschaftsmeister vor dreihundert Jahren ihn malte … Aber was sage ich, – wie er ihn malte? Diesen hat er gemalt! Er war hier, er kannte die Gegend, er hat sie sicher studiert“ (GW VIII, S. 570, Hervorhebungen im Text).

Ein weiteres Element der Idyllik ist Bauschan selbst. Der keineswegs reinrassige Hühnerhund, der ein wenig zu klein geraten ist, hat einen „Ausdruck verständigen Biedersinns“ (GW VIII, S. 529), seine ganze Erscheinung spricht von „Wackerkeit und viriler Tugend, […] von bäurischem Jägerblut“ (ebd.). Er ist in diesem Sinn das genaue Gegenbild zu Perceval, dem Hund aus Thomas Manns Roman Königliche Hoheit (1909), auf den der Erzähler – auch hier mit den Fiktionsebenen spielend – verweist. Percy sei ein Aristokrat gewesen, in höchstem Maße kultiviert, aber eben auch degeneriert, dem ursprünglichen Charakter seiner Rasse entfremdet, er sei zeitlebens ein Narr gewesen, „verrückt, das Musterbild überzüchteter Unmöglichkeit“ (GW VIII, S. 551). Bauschans Charakter beschreibt der Erzähler dagegen als ruhig, verständig und herzlich, er neige keineswegs zu nervösen und hysterischen Ausbrüchen, sei aber auch nicht phlegmatisch, sondern in einer ursprünglichen, naiven und robusten Art lebendig (vgl. ebd.). Der Vergleich wird dadurch verkompliziert, dass der adelige Percy eine „stolzere Seele“ in sich getragen, dass er eine größere Leidensfähigkeit gehabt habe als Bauschan, der „derb ist, wie das Volk, aber auch wehleidig wie dieses“ (ebd.). Die Anthropomorphisierung, die in dieser Charakterisierung des Hundes steckt, ordnet ihn dem Personal der Idylle zu. Er ist ein im Schiller’schen Sinn naiver Charakter, der ein von Kultur und Bewusstsein ungebrochenes Leben führt, er ist eins mit der Natur und gehört deshalb zu dieser idyllischen Landschaft wie die Schäfer und die Wäscherinnen, wohingegen Perceval als Verkörperung des sentimentalischen Charakters gesehen werden kann. Für die Rekonstruktion des Sinnmodels der Erzählung ist es dabei nicht uninteressant, dass Mann diese über den Gegensatz von ‚naiv‘ und ‚sentimentalisch‘ hervorgerufene

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Anspielung auf Schillers Idyllen-Konzeption und die damit verbundene Kulturkritik mit einem Hund in Verbindung bringt. Denn auf diese Weise wird ihrer kulturkritischen Implikation der Ernst genommen, kann die aufgerufene Konstellation gerade nicht als positiv konnotiertes Gegenbild zu einer durch Kultur und Reflexion bestimmten Existenz gelesen werden. An Bezügen zur Gattungstradition besteht, wie gezeigt wurde, kein Mangel, die Frage, wie sich dieser deutliche Bezug interpretieren lässt, ist dadurch freilich noch nicht beantwortet.

III. Idylle plus Industrie und Technik Um diesem Ziel etwas näher zu kommen, ist der Frage nachzugehen, in welcher Weise der Gattungsbezug semantisiert wird, ob seine Bedeutung darin liegt, lediglich im ästhetischen Sinn auf die Gattungstradition oder auch auf die zivilisations- und kulturkritischen Implikationen der Idylle zu rekurrieren mit dem Zweck, ein Gegenbild zur sozialen und historischen Realität der Moderne zu entwerfen. Diese Frage ist schnell zu beantworten, wenn man die idyllische Motivik des Textes näher betrachtet, denn sie ist von Anfang an mit Elementen der modernen Lebenswelt vermischt, die bezeichnenderweise nicht selten aus dem technischen und industriellen Bereich stammen. Die Welt der Moderne ist also ausdrücklich in die Welt der Idylle integriert.26 Gleich am Anfang wird dieses Nebeneinander geschildert: Auf der anderen Seite des Flusses, an dem Herr und Hund entlangspazieren, befindet sich eine Lokomotivenfabrik, deren „hohe Hallenfenster zu jeder Nachtstunde durch das Dunkel glühen. Neue und schön lackierte Maschinen eilen dort probeweise hin und her, aus mehreren Turmschloten quillt der Rauch, den aber ein günstiger Wind hinwegtreibt“ (GW VIII, S. 530); und der Erzähler stellt fest: „So mischen sich in der vorstädtisch-halbländlichen Abgeschiedenheit dieser Gegend die Laute in sich selbst versunkener Natur mit denen menschlicher Regsamkeit“ (ebd.). Ein kleines, aber sehr deutlich herausgestelltes Detail markiert einen doppelten Bezug zur Tradition der Idylle und zur Welt der Moderne; es bezieht sich auf die Schilderung des Fährbetriebs am Ende der Flusslandschaft: Der Fährmann gehört hier zum idyllischen Personal und scheint _____________   26

Auch auf diese Vermischung macht Eckart Goebel aufmerksam, allerdings akzentuiert er eher die Frage nach der Gattungsgeschichte, wenn er betont: „Nur durch Einbezug der Moderne kann die Idylle des 20. Jahrhunderts konstruiert werden, nicht durch deren Verdrängung“, Goebel: „Transzendenz“, S. 317. Ich möchte mit meiner Deutung Thomas Manns Haltung zur modernen Welt herausstellen, die u.a. durch den hier beschriebenen Umgang mit der Gattung Idylle zum Ausdruck kommt.

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ein angenehmes Leben zu führen, denn er hat sich um einen eher ruhigen Betrieb zu kümmern. Die idyllisierende Darstellung der Szene am Fährhaus wird unterstützt durch Assoziationen des Erzählers: Er berichtet von seiner Vorfreude, wenn sich am anderen Ufer jemand einstellt und über den Fluss gesetzt zu werden verlangt, denn – so begründet er das – „die Poesie des ‚Holüber‘ bleibt menschlich anziehend wie in den ältesten Tagen“ (GW VIII, S. 580). Allerdings wird dieser ‚Holüber‘-Ruf in moderner Zeit in eher profaner Form vorgebracht: Da erscheint denn ein Mann dort drüben am anderen Ufer, steht still und blickt über das Wasser her. Er ruft nicht mehr, wie einst, durch die hohlen Hände. Er geht auf den Klingelknopf zu, streckt den Arm aus und drückt. Schrill klingelt es in der Villa des Fährmannes: das ist das ‚Holüber‘; auch so und immer noch ist es poetisch. (GW VIII, S. 580)

Das Ineinandergreifen von natürlich-urtümlich anmutender Landschaft und zivilisatorisch-technisierter Moderne wird an einzelnen Attributen, mit denen die moderne Welt im Text versehen ist, besonders deutlich: Die Rede ist etwa von „schön lackierte[n] Maschinen“, die Welt der Technik wird positiv konnotiert und als Ausdruck „menschlicher Regsamkeit“ (GW VIII, S. 530) gekennzeichnet. Aber auch die gesamte Topographie der Gegend ist kulturell geprägt: Denn das Areal war bis etwa fünfzehn Jahre vor der Erzählgegenwart ein reines Sumpfgebiet, „ein wahres Mückenloch“ (GW VIII, S. 561), das erst durch das Absenken des Flussspiegels urbar gemacht werden konnte. Es ist von zahlreichen Flussbegradigungen die Rede, von Kiesdämmen und -wegen, die an den Rändern des Reviers erkennbar sind. All das gehört zu einem umfangreichen Investitions- und Bauprojekt, das die Ansiedlung einer Villenkolonie zum Ziel hatte. Zu diesem Zweck wurden Straßen angelegt, die das Gelände ausdrücklich kreuz und quer durchziehen, an denen aber keine Häuser stehen, weil das Projekt missglückte. Hier ist die Durchdringung von idyllischer Natur und kapitalistisch-industriell geprägter Moderne überdeutlich markiert, denn die gesamte Lebenswelt wird als Kulturlandschaft mit modernem Charakter erkennbar. Die Landschaft des Reviers bietet zwar die „Illusion eines stetigen, einfachen, unzerstreuten und beschaulich in sich gekehrten Lebens, die Illusion, ganz dir selbst zu gehören“ (GW VIII, S. 531), aber sie kann wegen der starken und unübersehbaren kulturellen, genauer gesagt technischen Eingriffe nicht mehr als idyllischer Gegenort fungieren. Dementsprechend haben die Ausflüge des Erzählers in die Sphäre der Natur die Funktion, den von der Arbeit angestrengten Kopf durchzulüften und für Entspannung zu sorgen, aber nur zu dem Zweck, die Arbeit umso erfrischter wieder aufnehmen zu können. Die Landschaft des Reviers, das Ineinander von Natur und Kultur, ist durch diese Funktionalisierung auf die Welt der Arbeit bezogen, steht ihr

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nicht kontrastiv gegenüber (vgl. etwa GW VIII, S. 531). Wie so häufig in Thomas Manns Texten sind die auf den ersten Blick kontrastierenden Pole nur scheinbare Gegensätze, das Sinnmodell des Textes lässt eine unbezweifelte Auf- oder Abwertung der zivilisatorischen gegenüber der natürlichen Sphäre nicht erkennen. Zwar wird betont, welche Nachteile die Teilhabe am Leben der Stadt mit sich bringt: nämlich einen Verlust an Autonomie, wenn der Erzähler „erhitzt, umnebelt und leidenschaftlich unterhalten“ (GW VIII, S. 532) nach Hause zurückkehrt, nicht mehr Herr eines „stetigen, einfachen, unzerstreuten und beschaulich in sich gekehrten Lebens“ ist (GW VIII, S. 531). Aber die Welt der Natur, mit der die autonome Lebensführung verknüpft wird,27 ist den menschlichen, kulturellen Hervorbringungen nicht ausschließlich freundlich gesonnen: Beim Gang durch die mit Dichternamen bezeichneten Straßen fällt dem Erzähler auf, wie sich die Natur den ihr abgerungenen Raum wieder zurücknimmt: das Gehölz aber ruht nicht, es läßt die Straßen nicht jahrzehntelang unberührt, bis Ansiedler kommen; es trifft alle Anstalten, sich wieder zu schließen […]: es ist kein Zweifel, die Parkstraßen mit den poetischen Namen wuchern zu, das Dikkicht verschlingt sie wieder, und ob man es nun beklagen oder beifällig begrüßen will, in weiteren zehn Jahren werden die Opitz-, die Fleming-Straße nicht mehr gangbar und wahrscheinlich so gut wie verschwunden sein. (GW VIII, S. 569f.)

Der Text artikuliert deshalb nicht ein im gesellschaftlichen Sinn generalisierbares Gegenmodell, in dem ein besseres Leben möglich wäre, die Natur ist hier vielmehr gekennzeichnet als Sphäre der Freiheit und Freizeit neben der notwendigerweise vorhandenen Welt der Arbeit. Deshalb lässt sich behaupten, dass die Grundkonstellation des Textes auf allen Ebenen durch die Welt der Moderne bestimmt ist. Schon die topographische Konstellation der Landschaft rund um das Haus des Erzählers ist davon betroffen. Michael Mann deutet sie gar als politische Allegorie, wenn es „links“ des Hauses in Richtung der Stadt, also der Zivilisation geht, während „rechts“ die Sphäre der Natur beginnt.28 _____________   27

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„Es ist gut, so am Morgen zu gehen, die Sinne verjüngt […], Herr einer außerordentlichen, unbeanspruchten und unbeschwerten Zeitspanne zwischen Traum und Tag […]. So glaubst du auch jetzt, die Morgenluft einziehend, an deine Freiheit und Tugend“ (ebd.). Diese Gleichsetzung von persönlicher Autonomie mit einem Leben im Einklang mit der Natur knüpft an ein Modell an, das aus der Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts bekannt ist, erinnert an die „barocke Gleichung von Autonomie und Autarkie, von Selbstbesitz und Grundbesitz“, Lohmeier, Anke-Marie: Beatus ille. Studien zum ,Lob des Landlebens‘ in der Literatur des absolutistischen Zeitalters. Tübingen 1981, S. 408. Vgl. Mann, Michael: „Allegorie und Parodie in Thomas Manns Idyll Herr und Hund“. In: Monatshefte 57 (1965), S. 336–342, S. 337f. Michael Mann deutet die Erzählung demzufolge vor dem Hintergrund des politischen Koordinatensystems, in dem sich Thomas Mann zur

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IV. Idylle als ernst genommener Stilpluralismus Weil der Text sich nicht plausibel als Darstellung einer Gegenwelt zur Moderne lesen lässt, deute ich ihn mit Blick auf die gewählte Gattung als Reaktion auf poetologische Überlegungen, die Manns gesamtes Frühwerk bestimmen und die er in den Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 zu einem theoretischen Endpunkt führt. Genauer gesagt ist das Idyll Herr und Hund unmittelbarer Ausdruck einer dort formulierten poetologischen Position. Die Ursprünge dieser ästhetischen Reflexionen Manns lassen sich bis zu den frühesten literarischen und essayistischen Texten vom Anfang der 1890er Jahre zurückverfolgen. Und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs bearbeitet er immer wieder das Problem, sein ästhetisches Selbstverständnis genauer zu bestimmen und die Frage zu beantworten, wo er seine Kunst im Feld der ästhetischen Moderne verorten will. Thomas Manns Frühwerk ist, so meine These, das Dokument einer Suche nach Funktion und Möglichkeiten künstlerischer Aussagen unter den Bedingungen der sozialen und wissensgeschichtlichen Moderne. Die folgenden Überlegungen sollen deshalb auch ein bescheidener Vorschlag sein, die Frage nach Thomas Manns Modernität, nach seinem Verhältnis zur gesellschaftlichen und ästhetischen Moderne zu beantworten.29 Wenn man behaupten will, dass sich Thomas Manns Frühwerk als Versuch lesen lässt, die Kunst im Spannungsfeld der Moderne zu verorten, um zu einem gefestigten poetologischen Selbstverständnis zu kommen, dann ist damit eine Schematisierung verbunden, denn dieses Spannungsfeld muss markant konturiert werden. Für das Frühwerk, das mit den Betrachtungen eines Unpolitischen im Jahr 1918 endet, kann aus meiner Sicht gelten, dass sich die allermeisten Texte, literarische wie diskursive, auf diese Problemstellung zurückführen lassen. Mann sieht die ‚Kunst‘ irgendwo zwischen den Polen ‚Geist‘ und ‚Leben‘; und es stellt sich für ihn die Frage, wo genau sie zu verorten ist. Damit ist das Problemfeld mit _____________  

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Entstehungszeit bewegt. Dass hier Natur politisch ‚rechts‘, die Zivilisation dagegen politisch ‚links‘ eingeordnet wird, verdeutlicht lediglich den engen Bezug zur politischkulturellen Situation der Zeit. Eine politische Haltung des Autors lässt sich daraus noch nicht ablesen, sie ließe sich erst im Rahmen der Interpretation dieser hier beschriebenen Konstellation formulieren. Dass der Text der kulturellen Moderne eher aufgeschlossen gegenüber steht, dafür sprechen die oben angeführten Indizien, etwa wenn kulturelle und natürliche Welt untrennbar miteinander verknüpft und Elemente aus dem Bereich der Technik positiv konnotiert werden. Die These, Thomas Manns Frühwerk als Ausdruck der Suche nach einem der modernen Welt angemessenen Kunstverständnis zu deuten, habe ich an anderer Stelle ausführlicher entwickelt. Vgl. Verf.: Ein Spiel zwischen Geist und Leben. Thomas Manns Ironie als Sprache der Moderne. Diss. phil. Saarbrücken 2011 (unveröffentlicht).

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Manns Begriffen benannt. Metasprachlich lässt sich diese Konstellation so explizieren, dass hier zwei unterschiedliche Weltzugänge einander gegenübergestellt, zwei epistemische Kategorien unterschiedlich akzentuiert werden. Auf der Seite des ‚Geistes‘ wird ein kritisch-reflexives Weltverhältnis betont. Kunst, die ihre Weltdeutung an dieser Kategorie orientiert, denkt menschliche Kultur und Gesellschaft von einer rationalen Seite her und sieht ihre Aufgabe darin, eine kritische Betrachtung der gesellschaftlichen Realität anzubieten, also ein reflexives, dem ‚Leben‘ distanziert gegenüberstehendes Verhältnis einzunehmen. Verbunden ist damit die Hoffnung auf eine unmittelbare gesellschaftliche Wirkung. Das ist ein Kunstverständnis in klassisch-romantischer Tradition. Auf der anderen Seite, der Seite des ‚Lebens‘, wird die Möglichkeit eines rational-reflexiven Weltzugangs in Frage gestellt. Es ist ein letztlich ästhetizistisches Kunstverständnis, das die Kunst als Rückzugsraum betrachtet bzw. in ihr ein Medium eines irrationalen Weltverhältnisses sieht, in dem metaphysische Strukturen zur Geltung kommen können und mit dem die Funktion verbunden sein kann, die Lasten von Individualisierungsprozessen zurückzunehmen. Wichtig ist, dass Mann alle markanten Positionen, die in diesem Spannungsfeld denkbar sind, im Lauf seines Frühwerks einnimmt und sein künstlerisches Selbstverständnis mit ihnen verknüpft. Er entscheidet sich einmal für eine synthetische Verschmelzung von Kunst und Geist, ein anderes Mal wird die Kunst mit dem Leben verknüpft. In allen Fällen bemüht er sich um eine argumentativ tragfähige Lösung für das Problem, vor das er sich als Künstler in der Moderne gestellt sieht. Innerhalb des Frühwerks ergibt sich also eine beträchtliche Dynamik. Entscheidend ist hier zweierlei. Erstens sind die allermeisten poetischen Texte Manns von einer ironischen Struktur geprägt, die eine eindeutige Parteinahme verhindert, wobei dieses ironische Verfahren zu diesem Zeitpunkt vom Autor poetologisch kaum reflektiert wird. Zweitens kann man zeigen, dass er seine Festlegungen zugleich immer wieder verwirft und neu auf die Suche geht. Und das zeigt sich, wie ich meine, an der ständigen, im Frühwerk immer und immer wiederkehrenden Beschäftigung mit dem gleichen Problem, nämlich der Suche nach dem Ort der Kunst in der Moderne. Ein Erklärungshorizont für dieses moderne Künstlerproblem, die Antwort also auf die Frage, warum dieses Problem für Thomas Mann so interessant ist, ist in der Forschung in der Regel nur beiläufig angeboten worden. Man kann einflussgeschichtlich argumentieren, indem man behauptet, dass die Fragestellungen, die er bei wichtigen Gewährsmännern, etwa bei Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer, findet, letztlich dieselben sind; auch sie stellen die Frage, was eigentlich die Funktion von Kunst in der Moderne ist und wie das künstlerische Weltverhältnis unter

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den Bedingungen der Moderne aussieht. Diese Perspektive ist aber nicht befriedigend, weil sie keinen Begründungszusammenhang herstellt. Vielversprechender ist hingegen der Versuch, die Bedingungen der Moderne, von denen hier schon viel die Rede war, zu erläutern, also einen Begriff von Moderne zu bilden, vor dessen Hintergrund die Probleme der Kunst, die sich in diesem Kontext ergeben, gedeutet werden können. Moderne ist in diesem Sinn ein Langzeitzusammenhang der europäischen Geschichte, dessen Beginn dort gesehen werden kann, wo ein gebündeltes Auftreten von Modernisierungsprozessen zu beobachten ist, die dazu führen, dass ein spezifisches Mischungsverhältnis von Alt und Neu entsteht und eine allmähliche Umstrukturierung gesellschaftlicher Normen auf der Grundlage dieser Prozesse beschrieben werden kann. Wichtige Faktoren der Modernisierung sind dabei Rationalisierungs-, Ausdifferenzierungs-, Individualisierungs- und Emanzipationsprozesse, die das kulturelle Umfeld, das in der Vormoderne existierte, in je verschiedener Intensität, aber im Ganzen entscheidend veränderten. In der Geschichtswissenschaft wird der Zeitpunkt, ab dem dieses gebündelte Auftreten zu beobachten ist und von dem an eine Umkehr dieser Prozesse unwahrscheinlich ist, auf das späte 18. Jahrhundert datiert.30 Für das Verständnis der Rolle, die die Kunst unter diesen Bedingungen spielen kann, ist als ein Bereich besonders die funktionale Ausdifferenzierung von Bedeutung, wie sie die Systemtheorie beschrieben hat.31 Funktionale Differenzierung als Teil des Modernisierungsprozesses meint – so die zentrale Annahme – die Ausbildung selbstständiger, funktional bestimmter Teilsysteme, deren Normativität von heteronomen Zusammenhängen freigesetzt wird, für die es also keine übergeordnete sinnstiftende Instanz mehr gibt. Die Autonomisierung des Kunstsystems in der Moderne ist demnach die Voraussetzung dafür, dass über Normen diskutiert wird, die für das Kunstsystem gelten sollen. Das vollzieht sich etwa im sogenannten ästhetischen Diskurs der Moderne, der mit Schillers ästhetischen Schriften beginnt, mit Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Schopenhauer und Nietzsche weitere prominente Beiträger findet und bis ins _____________   30

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Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1700-1990, 5 Bde. 1987–2008. Hier besonders die Einleitung zu Bd. 1: „Vom Feudalismus des Alten Reichs bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1770-1815“. München 1987, S. 7–31. Modernisierungstheoretische Positionen werden auch von einer jüngeren Historikergeneration verfolgt und weiter gedacht, wobei die Grundannahmen vergleichbar bleiben, vgl. hierzu Mergel, Thomas: „Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne“. In: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. Hg. v. Thomas Mergel u. Thomas Welskop. München 1997, S. 203–232. Vgl. die Darstellung der zentralen Annahmen in: Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 2006 (zuerst 1984).

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20. Jahrhundert hineinreicht.32 Die allen gemeinsame Problemstellung ist es, Aufgabe und Funktion von Kunst zu bestimmen, in anderen Worten das Verhältnis des Teilsystems Kunst zum Gesamtsystem bzw. zu anderen Teilsystemen zu beschreiben. Wenn man den ästhetischen Diskurs der Moderne betrachtet, wird deutlich, dass die Festlegung der Kunst auf eine kritische Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Entwicklungen der Moderne eine erstaunliche Langlebigkeit und Dominanz hat. In diesem Verständnis richten sich starke Hoffnungen auf die Kunst, sie soll Verlustund Dissoziationserfahrungen, die Modernisierungsprozesse mit sich gebracht haben, heilen, sie soll – so heißt es z. B. im Schiller’schen Modell – den Menschen aus dem Kulturzustand heraus- und einem ästhetischen Zustand zuführen, in dem er wieder ganz bei sich sein, im Einklang mit sich selbst und der Welt leben kann.33 Damit ist ein Allgemeingültigkeitsanspruch verbunden, der im Rahmen der wissensgeschichtlichen Konstellationen, die das 18. und frühe 19. Jahrhundert prägten, nicht mehr so ohne weiteres zu legitimieren ist. Denn die erkenntnistheoretischen Debatten dieser Zeit hatten zu der Überzeugung geführt, dass jegliche Aussagen über die Welt an die Perspektive des Subjekts gebunden und die Generalisierbarkeit dieser Aussagen deshalb problematisch ist. Die Transzendental- und Subjektphilosophie Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes hatte zu dieser Erkenntnis geführt und damit in letzter Konsequenz – auch wenn Kant das so selbst nicht gedeutet hat – zur Begründung eines Wahrheitspluralismus. Auch Manns Texte können als Auseinandersetzung mit der so beschriebenen kulturellen Konstellation der Moderne gelesen werden. In einigen Phasen zeigt er sich davon überzeugt, dass sich das Problem, welche Funktion der Kunst in der Moderne zufällt, mit Hilfe eindeutiger Positionierungen lösen lässt. Konzentriert findet sich das im Material zu dem geplanten, aber nicht ausformulierten Essay Geist und Kunst (1909/1910), in dem Manns Positionen stark schwanken.34 Zunächst for_____________   32 33

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Einen Überblick über die ästhetischen Diskurse der Moderne bietet Plumpe, Gerhard: Ästhetische Kommunikation der Moderne. 2 Bde. Opladen 1993. Welche Folgen das einerseits für die Literatur der Moderne und andererseits für die literaturwissenschaftliche Modernebegrifflichkeit hatte, stellt Anke-Marie Lohmeier dar: „Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 31 (2007), H. 1, S. 1–12; vgl. außerdem die auf diesen Beitrag reagierende Debatte in den Heften 33, 34 und 37 derselben Zeitschrift. Eine Erklärungshypothese für das Scheitern dieses Projekts kann darin bestehen, dass sich wegen dieser Grundspannung und wegen der unbedingten Zielsetzung, diese Spannungen

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muliert der Autor dort ein rational orientiertes Verständnis von Kunst, dem er folgende Aufgaben zuweist: „Erweckung des Verständnisses für alles Menschliche, Sittigung, Veredelung, Besserung. Schwächung dummer Überzeugungen und Werturteile. Skeptisierung.“35 Im Gegensatz dazu stehe die Tempelkunst Richard Wagners, die „lallend aus orphischen Tiefen“36 komme und eine anti-intellektuelle Renaivisierung betreibe. Dieses ausschließlich kritisch-reflexive Kunstverständnis wird aber schon bald verworfen, weil der ‚Geist‘, den Thomas Mann hinter dieser Haltung sieht, eigentlich lebensfeindlich sei und „das reine Nichts“37 wolle. Daran sei die Reflexivität schuld, sie verhindere die Synthese von Kunst und Leben. Kunst und Künstlertum sollen deshalb durch eine möglichst starke Anbindung an die Lebenspraxis legitimiert werden, der Künstler soll eins werden mit der Welt und die trennende Sphäre der Reflexion hinter sich lassen. Eine solche Lösung sieht Thomas Mann etwa im Vitalitätskult der Jugendbewegung, die eine neue Einfachheit vorlebt und von der er schreibt: „Alles ist um seiner Selbst willen da, reine unverhunzte Gefühlsintensität. Ich rieche Morgenluft.“38 Vor dem Hintergrund starker persönlicher und ästhetischer Verunsicherungen entstehen schließlich während des Ersten Weltkrieges die Betrachtungen eines Unpolitischen, von denen er sich eine Klärung der eigenen poetologischen Grundlagen erhofft. Es ist eine Art Generalinventur aller poetologischen Positionen, die der Autor bis dato vertreten hat. Der Text ist zu komplex, um ihn auf einen Nenner bringen zu können, wichtig für den hier verfolgten Zusammenhang ist vor allem das letzte Kapitel, das den Titel Ironie und Radikalismus trägt. Mit dieser Überschrift werde, so schreibt Thomas Mann, ein Gegensatz zwischen zwei ästhetischen Konzepten zum Ausdruck gebracht, die im Spannungsfeld der Moderne eingenommen werden können (vgl. GKFA 13.1, S. 617). Die Ironie stellt nun seine Lösung des modernen Künstlerproblems dar, denn mit ihr kann jede Vereindeutigung vermieden und auf einer höheren Ebene aufgelöst werden. Es geht ihm nun also nicht mehr um Synthesen, sondern um die Aufrechterhaltung von Gegensätzen, die zur Lebenswelt der Moderne gehören, und um ihre ironisch-heitere, spielerische Behandlung. Die Ironie reagiert in diesem Sinne in erster Linie auf die wissensgeschichtlichen _____________  

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in einer eindeutigen, programmatisch fassbaren Positionierung aufgehen zu lassen, letztlich kein kohärenter Text herstellen ließ. Mann, Thomas: „Geist und Kunst. Thomas Manns Notizen zu einem ‚Literatur-Essay‘“. Ediert u. kommentiert v. Hans Wysling. In: Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Hg. v. Paul Scherrer u. Hans Wysling. Bern, München 1967, S. 123–233, Zitat S. 164. Mann: „Geist und Kunst“, S. 158. Ebd., S. 164. Ebd., S. 207.

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Bedingungen der Moderne, denn sie stellt eine Möglichkeit dar, Wahrheitspluralismus zum Ausdruck zu bringen und zugleich zu reflektieren. Im Modus ironischer Rede werden die Positionen offen gehalten, sie ist ein Versuch zur „Versprachlichung der Welt in Form einer gleichzeitigen Gegenrede.“39 Dadurch wird der Geltungsanspruch von Aussagen mit einem Vorbehalt versehen und in seiner Reichweite beschränkt. Insofern führt die theoretische Reflexion der Ironie in den Betrachtungen die poetologischen Selbstfindungsversuche Thomas Manns zu einem Ende. Dieses ironische Kunstverständnis enthält zugleich die Absage an ein radikalistisches Konzept. Konkreter Anlass hierfür ist die Auseinandersetzung mit dem sogenannten ‚Zivilisationsliteraten‘, womit vor allem der Bruder Heinrich gemeint ist, der Kunst auf ein kritisch-reflexives Weltverhältnis festlegt und von ihr eine unmittelbare gesellschaftliche Wirkung, nämlich Zivilisierung, verlangt. Thomas Mann sieht darin eine unzulässige Vereindeutigung und Vereinseitigung der Kunst. Sie ist aus seiner Sicht nicht auf eine interventionistische Funktion festzulegen, weil eine littérature engagée nur die Schäden des Modernisierungsprozesses betont, dessen Chancen aber ausblendet. Aus dieser Haltung heraus entstehen die Betrachtungen, deren Aufgabe es ist, die eigene Perspektive im Rekurs auf zahlreiche Kronzeugen aus der Literaturgeschichte zu rechtfertigen. Dabei wird ein liberales und pluralistisch orientiertes Verständnis von Kunst deutlich: Mann ist davon überzeugt, „daß man der Zeit auf mehr als eine Weise dienen kann und daß die meine nicht unbedingt die falsche, schlechte und unfruchtbare zu sein braucht“ (GKFA 13.1, S. 22f.). Wie zum Beweis dieser These schreibt der Autor die Erzählung Herr und Hund. Der Rekurs auf die Idylle sieht zunächst nach einer Flucht aus wenig erfreulichen Lebenszusammenhängen aus: Sowohl die soziale und lebenspraktische Realität der Kriegsjahre als auch die isolierte Stellung Manns im literarischen Betrieb dieser Phase hätten zu einer eskapistisch funktionalisierten Idylle ausreichend Anlass geboten, was der Autor auch selbst so einschätzt: Die beiden Idyllen, Herr und Hund und das im selben Jahr erschienene Gedicht Gesang vom Kindchen, seien „Erzeugnisse eines tiefen Bedürfnisses nach Abkehr, Frieden, Heiterkeit, Liebe und herzlicher Menschlichkeit […], nach dem Bleibenden, Unberührbaren, Ungeschichtlichen, Heiligen“.40 Im selben Brief findet sich aber bereits die Einschränkung, dass diese Texte nicht als ernsthafte Beiträge zur Gattungstradition der Idylle zu gelten hätten: „Trotzdem wird man kaum das Gefühl gehabt haben, daß der Glaube an die heutige Möglichkeit des Idylls in diesen Idyl_____________   39 40

Japp, Uwe: Theorie der Ironie. Frankfurt a.M. 1983, S. 279. Mann, Thomas: „Brief an einen unbekannten Adressaten, 25.03.1921“. In: Ders.: Briefe. Hg. v. Erika Mann. Teil 1. 1889–1936. Frankfurt a.M. 1979, S. 186–187.

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len auf festen Füßen stünde“.41 Hierzu sind zwei Beobachtungen heranzuziehen: Erstens spielt die im Text in mehreren Passagen eingesetzte Komik eine wichtige Rolle. Sie bezieht sich im Wesentlichen auf Elemente, die typischerweise zum Inventar der Gattung Idylle zählen, und ihre Funktion liegt darin, dem Bezug auf die Gattung die Ernsthaftigkeit zu nehmen. Die Komik ist damit das rhetorische Mittel, mit dessen Hilfe der Text eine ironische Gesamtstruktur erhält, durch die er in die Poetik der Betrachtungen eingereiht werden kann. Als Beispiel hierfür kann man auf die Episode hinweisen, in der von einem Schaf erzählt wird, das sich in Bauschan verliebt hat. Dieses Schaf, von dessen Mundform der Erzähler berichtet, dass sie ihm den „Ausdruck fast hämischer Dummheit“ (GW VIII, S. 572) verleihe, folgt Bauschan bei einem der Streifzüge durchs Revier auf Schritt und Tritt, so dass sich bei diesem ein Gefühl von „Unmut und Verlegenheit“ einstellt und er „Scham über die Ehrlosigkeit seines Zustandes“ empfindet (ebd.). Der Situation kann schließlich nur dadurch abgeholfen werden, dass die Beteiligten – Herr und Hund sowie das Schaf und die herbeigeeilte Magd des Hofes – in einer Art Prozession in den Schafsstall einziehen, um das Schaf dort gefangen zu setzen (vgl. GW VIII, S. 573). Zur Komik dieser Szene tragen dabei die übermäßigen Anthropomorphisierungen Bauschans und des Schafs bei sowie die situativen Inkongruenzen, wenn auf eine Prozession angespielt wird.42 Zweitens wurde bereits nachgewiesen, dass in die Idyllik der Landschaft Elemente der industrialisierten und technisierten Welt eingezogen sind, deren Existenz gerade nicht beklagt, sondern als fester Bestandteil der Lebenswelt des frühen 20. Jahrhunderts vorgeführt wird. Man kann den Gattungsbezug deshalb so deuten, dass die Idylle für den Autor programmatisch und anschaulich eine Funktion von Kunst erfüllt, die im dominanten literarischen Diskurs der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts als besonders problematisch galt: nämlich die bloße Darstellung von Kunst- und Naturschönheit, von Glücks- und Zufriedenheitsmomenten unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Moderne, ohne damit einen Rückzug in ästhetizistisch oder lebensphilosophisch kontu_____________   41 42

Ebd., S. 187, Hervorhebung im Text. Zum gegenwärtigen Stand der literaturwissenschaftlichen Komiktheorie: vgl. Kindt, Tom: Literatur und Komik. Zur Theorie literarischer Komik und zur deutschen Komödie im 18. Jahrhundert. Berlin 2011. Die Inkongruenztheorie ist dabei im Wesentlichen nach wie vor die Grundlage für die Wahrnehmung sprachlicher und damit auch literarischer Komik. Für den vorliegenden Fall ist in Kindts Typologie ein Oppositionsverhältnis auf der extratextuellen Ebene anzunehmen: Die Textelemente rufen hier literarisches Wissen und Weltwissen auf, das mit ihnen dann in einem Inkongruenzverhältnis steht, da der jeweils verknüpfte Aussagemodus nicht kongruent ist, vgl. Kindt: Literatur und Komik, insbes. S. 146–154.

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rierte Gegenwelten zu verknüpfen. Der Text ist in diesem poetologischen Horizont das Gegenprogramm zur Forderung des sogenannten ‚Zivilisationsliteraten‘ nach einer Literatur, die ihre soziale Relevanz über einen politischen Wirkungsanspruch formuliert. Diese Deutung lässt sich noch ausweiten, wenn man sie mit den wissens- und sozialgeschichtlichen Debatten der Moderne, wie sie oben knapp skizziert worden sind, relationiert: Vor dem Hintergrund der subjektphilosophischen Grundannahmen einerseits und einer nach funktionalen Kriterien differenzierten Sozialstruktur der Moderne andererseits ist es als Problem wahrzunehmen, dass im Literatursystem der Moderne eine normative Festlegung auf einen bestimmten Literaturbegriff, nämlich denjenigen, dessen Grundlage die kritische Intervention gegen gesellschaftliche Modernisierungserscheinungen ausmacht, zu beobachten ist.43 Die Tatsache, dass Mann eine Idylle schreibt, die aufgrund der oben beschriebenen Strukturmerkmale nicht in die moderne-kritische Gattungstradition eingeordnet werden kann, lässt sich plausibel als Reaktion auf diesen stark normativen Literaturbegriff deuten, der für die Zeit um 1900 als dominant angesehen werden kann.44 Manns Verhältnis zur gesellschaftlichen Moderne ist am Ende des Ersten Weltkriegs von einer prinzipiellen Offenheit gegenüber denjenigen Erscheinungen der Moderne geprägt, die heute als deren Basisprozesse beschrieben werden und zu denen auch die Vorstellung von einer plural organisierten Kultur gehört, in der etwa unterschiedliche Literaturauffassungen gleichberechtigt nebeneinander existieren. Durch den scheinbaren Anachronismus ihrer Form vollzieht sie gerade einen Teil des kulturellen Modernisierungsprozesses, nämlich die Pluralisierung von Ausdrucksweisen.

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Vgl. hierzu nochmals: Lohmeier: „Was ist eigentlich modern?“, insbes. S. 1–3; sowie dies.: „Normative Modernebegriffe in Literatur und Literaturwissenschaft“. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 37 (2012), H. 1, S. 79–97. Von dem in der Forschung vielbeschworenen Stilpluralismus der Literatur um 1900 darf man sich dabei nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass die normativen Leitlinien, auf denen die Vielzahl der Texte dieser Zeit beruht, wenig mit pluralistischen Konzepten gemein haben.

Thomas Manns Idyll Herr und Hund und die Literatur der Moderne

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Gestörte und umgekippte Idyllen. Zum Komplex ‚See‘ in Adalbert Stifters Hochwald und Elfriede Jelineks Gier RITA SVANDRLIK

I. Keine schöne Natur: Jelineks Stifterbild „So ist der See leider nicht ein dunkler Edelstein, in Berge eingefasst“:1 ein solches, eher abgeschmacktes, pathetisches Bild für einen Bergsee klingt sehr untypisch für Elfriede Jelinek, selbst in der von ihr gewählten negativen Form; als Jelinek-Leserin und Leser erwartet man, dass es im Textzusammenhang zumindest eine ironisch-satirische Funktion erfüllt – und man wird nicht enttäuscht. Das Bild wird bemüht, um auf einen banalen Baggersee anzuspielen, „eingefasst“ in einer eher unscheinbaren Landschaft, Schauplatz der Handlung in Jelineks Roman Gier (2000). Das Bild des dunklen Edelsteins erinnert an die umfangreiche Literatur, die das Land der Berge (und keine Berge ohne einen kleinen oder größeren See) und des großen Stromes, das vielgerühmte Österreich,2 preist und seine idyllische Naturschönheit überhöht. Eigentlich kommen solche ungebrochenen Bilder der schönen Natur im 20. Jahrhundert hauptsächlich in der Trivialliteratur und in der Tourismuswerbung vor. Die Aufdeckung der ökonomischen Mechanismen und der Gewinnsucht, die hinter dieser Naturtümelei stecken, bildet ein Hauptanliegen in Jelineks Schreiben. In einer Zeit, in der es so gut wie noch keinen Tourismus in den österreichischen Bergen und Wäldern gab, hat sich ein österreichischer Autor mit seinen Landschaftsbeschreibungen schon bei seinen Zeitgenos_____________   1 2

Jelinek, Elfriede: Gier. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 75 (von nun an Seitenangaben mit der Sigle G im Fließtext). „Land der Berge, Land am Strome“ heißt der erste Vers der österreichischen Bundeshymne; der letzte Vers der ersten Strophe lautet „vielgerühmtes Österreich“, der Text wurde 1947 von Paula Preradović verfasst.

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sen großen Ruhm erworben, insbesondere mit seiner Erzählung Der Hochwald.3 Adalbert Stifter gilt seither in der österreichischen Literatur als das implizite oder explizite, das musterhafte oder das abgelehnte Vorbild einer jeden Naturbeschreibung. Seine „Inszenierung von Raum und Landschaft in Sprache“4 hat dank seiner herausragenden Rolle im schulischen Unterricht und somit im Kulturverständnis des Bildungsbürgertums eine unumstrittene Kanonisierung erfahren.5 So ist es kaum verwunderlich, dass Jelinek im Roman, dessen Hauptfiguren Gymnasiasten sind, mit dem ,Mythos Stifter‘ aufräumt: In Die Ausgesperrten (1980) werden sowohl Anna als auch Rainer Witkowski im Unterricht zu Stifter befragt;6 während Anna Stifters Naturauffassung dekonstruiert, indem sie ihre Antwort mit Verweisen auf einen Stifter so gegensätzlichen Autor wie den Marquis de Sade untermauert,7 unterwirft ihr Zwillingsbruder Rainer das in Lehrbüchern gängige Stifterbild einer radikalen Revision, mit Bezug auf den Hochwald: Der Selbstmörder Stifter erhebt seine Stimme über die unruhige Deutschstunde, Opfer eigener verfehlter Lebensplanung und einer kaputten Ehe, hat er nichts Besseres zu tun als über ein hohes Pfingstfest zu salben, an dem er hinausgeht zum stillen Waldesrand, nein, nicht wo munter ein Rehlein steht (bleibt sich schon wurscht, was ihm steht oder nicht, frei nach Anna), sondern wo er spazierengeht in etwas, das er für eine sozusagen unendliche Landschaft hält, was weiß der schon von der Unendlichkeit. Sein Geist kann sie gar nicht erfassen. Rainer

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Aber schon Friedrich Hebbel hat 1849 ein Epigramm gegen Stifter als Landschaftsschilderer verfasst, vgl. Doppler, Alfred: „Adalbert Stifter: Landschaft, Schicksal und Geschichte“. In: Vierteljahresschrift des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich 40 (1991), F. 1/2, S. 8–14, Zitat S. 8f. Doppler unterstreicht insbesondere am Beispiel der Hochwald-Erzählung, wie die Naturbeschreibung mit der Schilderung von „Geschichte als Kriegsgeschichte, als Machtgeschichte“ (ebd., S. 10) ineinander spielt. Duschlbauer, Werner u. Peter Klimitsch: „Vorwort“. In: Dies. (Hg.): natur.ereignis – Idylle nach Stifter. Linz 2005, S. 6–8, Zitat S. 6. Auch hier nehmen die Autoren vor allem auf den Hochwald Bezug. Vgl. die Parodie in Thomas Bernhards: Alte Meister. Frankfurt a.M. 1988, S. 86: „Stifter, der den geistlosen und kopflosen Kitsch in die große und hohe Literatur eingeführt und der mit einem kitschigen Selbstmord geendet hat, ist jetzt höchste Mode, sagte Reger. Es ist gar nicht so unverständlich, daß jetzt, wo das Wort Wald und das Wort Waldsterben so in Mode gekommen sind und überhaupt der Begriff Wald der am meisten gebrauchte und mißbrauchte ist, der Hochwald von Stifter so viel gekauft wird, wie noch nie. Die Sehnsucht der Menschen ist heute, wie nie zuvor, die Natur und da alle glauben, Stifter habe die Natur beschrieben, laufen sie alle zu Stifter: Stifter hat aber die Natur gar nicht beschrieben, er hat sie nur verkitscht.“ In der Verfilmung des Romans Die Ausgesperrten (1982) hat der Filmregisseur Franz Novotny die Rolle der Oberlehrerin mit Jelinek selbst besetzt. Zur Funktion der de Sade-Zitate, vgl. Anna Majkiewicz: „Elfriede Jelinek und Adalbert Stifter im intertextuellen Dialog (Die Ausgesperrten in der polnischen Übersetzung)“. In: Stifter-Jahrbuch 25 (2011), S. 109–123, hier insbes. S. 112–117.

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fühlt die Unendlichkeit eines Schriftstellers in sich, der alle Fesseln sprengt. Er und nicht Stifter spürt sie, Stifter bewies das mit seinem verpfuschten Leben, in dem er sich nichts getraut hat. Adalbert Stifter hält wieder Heerschau über irgendwelche Schönheiten, nicht nur über lebende, sondern auch über unbelebte. Die Natur hat die Tendenz, in Unbelebtheit zu sinken, denkt Rainer, wir helfen ihr nur dabei nach.8

Wie Rainers Absicht, der Natur nachzuhelfen und „in Unbelebtheit zu sinken“, konkret aussieht und in die Tat umgesetzt wird, zeigen die zahlreichen Gewaltszenen (deshalb auch die de Sade-Zitate), in denen er ein Hauptakteur ist, mit dem Höhepunkt am Romanende: Rainer bringt auf brutale Weise seine ganze Familie um. In Jelineks Œuvre wird deutlich gemacht, wie auf den unterschiedlichsten Ebenen Menschen es fertiggebracht haben, der Natur nachzuhelfen, „in Unbelebtheit zu sinken“, indem sie sie zu Tode ausgebeutet haben.9 Auch die Inbesitznahme Stifters durch das Bildungsbürgertum hat dazu ihren Beitrag geleistet, indem sie den Blick weg von der sozioökonomischen Realität des Landlebens und der brutalen Naturbeherrschung durch den Menschen gelenkt hat. Während Stifters Texte als Höhepunkt der Naturbeschreibung in der deutschen Literatur gelten und die in seinen Werken dargestellte Welt oft mit dem Begriff des Idyllischen assoziiert worden ist, sind Jelineks Landschaftsbeschreibungen häufig als Anti-Idyllen gewertet worden. Eine nähere Untersuchung und ein Vergleich von entsprechenden Textstellen mit ähnlichen Naturbeschreibungen, zum Beispiel einer Seelandschaft, können nicht nur die zu erwartenden Unterschiede erhellen, sondern auch dazu beitragen, über eine zu vereinfachende Gegenüberstellung Idyll vs. AntiIdyll hinauszugehen.

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Jelinek, Elfriede: Die Ausgesperrten. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 52. Darüber hinaus ist Natur bei Jelinek „ein äußerst vielfältiger ideologischer Verhandlungsgegenstand“, Steeg, Christian van der: „Natur“. In: Jelinek-Handbuch. Hg. v. Pia Janke. Stuttgart 2013, S. 282–285, Zitat S. 282.

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II. Gestörte und umgekippte Idyllen Adalbert Stifters Texte als ‚gestörte‘ Idyllen zu kategorisieren, wirkt sicher nicht überraschend,10 in der Sekundärliteratur ist auch schon verschiedentlich auf die Brüchigkeit seiner Erzählwelt voller Aporien hingewiesen worden;11 das ‚Idyllische‘ trifft ja nur auf einzelne Textpassagen zu. Hier steht die Zeit für einen kurzen Moment still, bevor das Idyll am Ende des Handlungsverlaufs durch eine Katastrophe zerstört wird.12 Die Aufhebung der Zeit und der Geschichte ist ein Merkmal der Gattung Idyll, ist aber in Stifters Erzählungen von kurzer Dauer. Für die Texte von Elfriede Jelinek dagegen ist die Bezeichnung ,zerstörte‘ Idyllen oder Anti-Idyllen fast zu banal. Ihr Schreibverfahren scheint treffender durch den Begriff des ,Zerschreibens‘ tradierter Muster und Topoi erfasst zu werden;13 für die so entstehenden Brechungen, die Gegenstand dieser Untersuchung sind, schlage ich die Bezeichnung ,umgekippte‘ Idyllen vor.14 Da nach Jelinek das Material, mit dem ein _____________   10

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Den Begriff hat Jens Tismar geprägt und so definiert: „‚Gestörte Idyllen‘ sind meiner Ansicht nach Dokumente einer humanen Verhaltensweise, die, indem sie die Illusion vorschneller, unbedachter Versöhnung zerstört, eine realistischere Haltung zur Natur, zur Gesellschaft und den menschlichen Möglichkeiten in beiden Sphären provoziert“, Tismar, Jens: Gestörte Idyllen. Eine Studie zur Problematik der idyllischen Wunschvorstellungen am Beispiel von Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. München 1973, S. 10. Vgl. beispielsweise Begemann, Christian: Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektüren. Stuttgart, Weimar 1995; Geulen, Eva: Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion in der Prosa Adalbert Stifters. München 1992; Schiffermüller, Isolde: Buchstäblichkeit und Bildlichkeit bei Adalbert Stifter. Dekonstruktive Lektüre. Bozen 1996; und den Sammelband Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hg. v. Sabina Becker u. Katharina Grätz. Heidelberg 2007. Vgl. Meyer-Sickendiek, Burkhard: „Vollglück in der Beschränkung. Bedingungen moderner Idyllik bei Jean Paul und Stifter“. In: Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hg. v. Sabina Becker u. Katharina Grätz. Heidelberg 2007, S. 287–314; Diekkämper, Birgit: Formtraditionen und Motive der Idylle in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. Bemerkungen zu Erzähltexten von Joseph Freiherr von Eichendorff, Heinrich Heine, Friedrich de la Motte Fouqué, Ludwig Tieck und Adalbert Stifter. Frankfurt a.M., Bern u. a. 1990, S. 298–355. Lücke, Bärbel: Elfriede Jelinek. Eine Einführung in das Werk. Paderborn 2008, S. 83: „Die Schwierigkeit, Elfriede Jelineks Texten ‚beizukommen‘, liegt in ihrer konsequenten Aufhebung des metaphysisch-rationalistisch-dichotomischen Denkens von entweder-oder […]. Sie verwischt, verflüssigt, hybridisiert diese hierarchisch-binäre Logik […] durch ihre jede Eindeutigkeit verweigernden Sprachverfahren (Wortwörtlichmachen von Bedeutungen, Theorie, psychoanalytische Archaismen, Kalauer, Wortspiele etc.) und ihr konsequent ‚unzuverlässiges Erzählen‘, d.h. dass die Ironie immer explizite und implizite Botschaften erzeugt, mit anderen Worten, dass das ‚Erzählen‘ selbst widersprüchlich ist: Es entsteht die Doppel-Helix der Sowohl-als-auch Logik.“ Im Roman Gier ist das ‚umgekippte‘ Wasser im Baggersee als Metapher zu werten; darüber hinaus werden in der Sekundärliteratur und auch von der Autorin selbst Ausdrücke

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Schriftsteller arbeitet, also die Sprache, immer schon aus Vorgefertigtem und aus Zitaten besteht, weil alles schon einmal gesagt wurde, sieht die Autorin ihre Aufgabe darin, dieses Vorgefertigte zu dekuvrieren, indem sie es neu disponiert in einem offenen, fragmentierten Textgewebe, das den hierarchischen, vorgegebenen Sinnstrukturen Widerstand leistet und seine Offenheit auch daraus bezieht, dass keine ‚Wahrheit‘ außerhalb der Sprache angestrebt wird. Jelinek wendet also programmatisch das Verfahren der Collage aus ganz unterschiedlichen Texten an, so auch in den Landschaftsbeschreibungen mit den dazugehörigen Gewässern. In diesem Bereich ist das Angebot an sprachlichem Material üppig: In der österreichischen Literatur kann man auf eine besonders reiche Tradition des Wassermotivs und des Fließens zurückblicken,15 wobei die neuere Literatur im Motiv der Stauseen und Kraftwerke häufig die Ausbeutung und den Raubbau an der Natur denunziert.16 Bei Jelinek, die die Natur nur mehr als diskursives Konstrukt sieht, geht es öfter um das Wasser und das Fließen, auch um ein ‚flüssiges‘ Erzählen, und es geht um Katastrophen wie Murabgänge und Überflutungen, so am eindringlichsten im Roman Die Kinder der Toten.17 Bei Stifter, dem Dichter der Wiederholung,18 steht nicht das Fließen im Mittelpunkt, sondern eher Naturkatastrophen, die vom Blitz und den festeren Formen des Wassers, nämlich dem Hagel und dem Schnee, herbeigeführt werden. _____________  

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verwendet, in denen das Wort ‚kippen‘ vorkommt, um den Stil und/oder die Figuren ihrer Texte zu beschreiben; vgl. z. B. Fliedl, Konstanze: „Natur und Kunst. Zu neueren Texten Elfriede Jelineks“. In: Das Schreiben der Frauen in Österreich seit 1950. Hg. v. der WalterBuchebner-Gesellschaft. Wien, Köln 1991. S. 95–104, insbes. S. 97. Jelinek selbst verwendet auch die Variante ,überschreiben‘: „Was ich erfahre, erfahre ich aus mir selbst, und zwar aus meinem Schreiben […] Oder schreibe ich über das Schreiben drüber? Überschreibe ich nur? Vielleicht. Ich übertreibe und überschreibe“, Jelinek, Elfriede: „Die Welt, an der ich schreibe, Mist, wo ist die jetzt wieder hin, vorhin hab ich sie doch schon angefangen!“. In: Die Welt, an der ich schreibe. Ein offenes Arbeitsjournal. Hg. v. Kurt Neumann. Wien 2005, S.101–106, zit. nach Gürtler, Christa: „Elfriede Jelineks Roman Gier – ein unterhaltsamer Kriminalroman“. In: Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. Hg. v. Thomas Eder u. Juliane Vogel. München 2010, S. 143–152, Zitat S. 143. Verwiesen sei auf die verschiedenen Beiträge in dem Band Wassersprachen. Flüssigtexte aus Österreich. Hg. v. Klaus Kastberger. Linz 2006, außerdem auf das Vorwort des Herausgebers, S. 9, und auf die reiche Textanthologie. So auch bei Bernhard, Thomas: Frost. Frankfurt a.M. 1972, S. 77. Vgl. Klettenhammer, Sieglinde: „,Das Nichts, das die Natur auch istʻ. Zur Destruktion des Mythos ,Naturʻ in Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten“. In: Literatur und Ökologie. Hg. v. Axel Goodbody. Amsterdam, Atlanta 1996, S. 317–339. Vgl. u. a. Wedekind, Martina: Wiederholen – Beharren – Auslöschen: zur Prosa Adalbert Stifters. Heidelberg 2005.

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In den hier zu untersuchenden Texten werden zwei sehr unterschiedliche, zum Teil abwegige Varianten eines locus amoenus skizziert: Bei dem Waldsee in Stifters Erzählung Der Hochwald (1841) handelt es sich um einen Zufluchtsort vor der Geschichte, und zwar vor dem Dreißigjährigen Krieg; bei Jelineks Baggersee in dem Roman Gier (2000) um eine in die totale Negation des Lebens ‚umgekippte‘ schöne Landschaft. Die zum Topos gewordene Schönheit der österreichischen Landschaft war schon immer Zielscheibe von Jelineks satirischem Impetus.19 Ihr Verfahren verfolgt das Ziel der Aufdeckung der Machtverhältnisse, die von mythisierenden, geschichtsenthobenen Sublimationen der Natur bemäntelt werden. Die bedrückende und trostlose Beschreibung der Dorfbewohner ist typisch für Jelineks Erzählweise.20 Doch hat sich der berühmte ‚böse Blick‘ der Autorin inzwischen als ein schlicht und einfach realistischer Blick erwiesen; die spätestens nach dem Fall Fritzl nun auch in den Medien breitgeschlagene Wirklichkeit hat die Literatur der ‚Nestbeschmutzerin‘ bestätigt.21 Die ‚künstliche Natürlichkeit‘ der Idylle und des Idyllischen, um die es im vorliegenden Band geht, ist durchweg ein zentrales Thema bei Jelinek; sie unterstreicht, wie in unserer postindustriellen Gesellschaft die Natur zum Artefakt geworden ist; als gezähmte Natur ist sie ein historisches und kulturelles Produkt. Sie ist zum Luxusgegenstand geworden, den sich diejenigen leisten, die für ihre Zerstörung verantwortlich sind. Dies ist _____________   19

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Der Beginn des Romans Die Liebhaberinnen (1975) evoziert ein schönes Land, in dem friedliche Menschen von ,gutenʻ Fabrikbesitzern ausgebeutet werden. Wie ,friedlich‘ es in den – österreichischen – Häusern zugeht, wird nicht verschwiegen. So werden z. B. die Dorfbewohner wie folgt beschrieben: „debiler sohn, vater sitzt wegen kinderschändung, mutta ausgeräumter unterleib, vatta vom baum erschlagen, mutta weggerannt und in die fabrik hinein, kind in der schule zum zweitenmal hockengeblieben, führerscheinentzug wegen trunkenheit, absturz in den bergen, nagelneuer stuhl vom sohn zerschnitten etc.“, Jelinek, Elfriede: Die Liebhaberinnen, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 95. Vgl. Hoffmann, Yasmin: Elfriede Jelinek. Sprach- und Kulturkritik im Erzählwerk. Opladen, Wiesbaden 1999, S. 83ff.; zu dem Anti-Heimatroman gibt es eine reiche Sekundärliteratur, auf die auch in Monika Szczepaniaks Aufsatz „‚kennen Sie dieses SCHÖNE land?‘ Elfriede Jelineks Anti-Idyllen“ verwiesen wird; Szczepaniak unterstreicht unter anderem, dass Jelinek auch in ihrer Rede beim Empfang des Böll-Preises In den Waldheimen und auf den Haidern (1986) „das österreichische eidyllon“ dekonstruiert, vgl. Szczepaniak, Monika: „,kennen Sie dieses SCHÖNE land?ʻ Elfriede Jelineks Anti-Idyllen“. In: Positionen der Jelinek Forschung. Beiträge zur Polnisch-Deutschen Elfriede Jelinek-Konferenz Olsztyn 2005. Hg. v. Claus Zittel u. Marian Holona. Bern 2008, S. 219–237. Zum Thema ,Naturʻ vgl. Zeyringer, Klaus: „Natur-Kulisse. Zu einem Natur-Bild österreichischer Gegenwartsliteratur“. In: Was. Zeitschrift für Kultur und Politik 81 (1995), S. 11–24. Dazu Wendelin Schmidt-Dengler: „Wer den bösen Blick hat, der ist ein guter Mensch. Wo man böse blickt, da lasse ruhig dich nieder, denn böse Blicke sehen oft sehr gut.“, SchmidtDengler, Wendelin: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945–1990. Salzburg, Wien 1995, S. 460.

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auch das Thema des Prosatextes aus dem Jahre 1985, Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr, in dem die Vereinnahmung des Diskurses über die Natur durch die Ökologen und die Umweltschützer ironisiert wird. Die Natur wird hier als ein Kunstprodukt präsentiert, das Intaktheit nur vortäuscht, so dass es zur ironischen Umkehrung kommt, wenn Natürlichkeit da festgestellt wird, wo sie nicht sein kann, nämlich am Bahnhofsvorplatz: „Nur der Bahnhofsvorplatz ist noch halbwegs natürlich geschnitten. Ein Güterwagen ist gütiger zum Vieh als der natürliche Besitzer […]“.22 Und die Reichen vergießen heiße Tränen über das Sterben ihres Waldes. Im Roman Lust heißt es dann: „Die Natur schafft es nicht einmal heute, frisch gestrichen auszusehen“23 oder: Ja, die Mächtigen und ihre Forstbeamten verfertigen gern künstliche Paradiese, in die die Natur dann, ungeschickt und plump sich überall anstoßend, eintreten darf. Und den Frauen wird das Paradies versprochen, wenn sie es ihren Männern und Kindern auf Erden zuzubereiten und richtig zu würzen verstehen.24

Die Mächtigen sind also für die Erschaffung ‚künstlicher Paradiese‘ zuständig (während den Frauen für ihre diesseitigen Entbehrungen ein Paradies im Jenseits zugesichert wird). Für diese Paradiese wird mit Bildern einer idyllischen Natur geworben, die es nicht gibt; selbst als Stoff für die Kunst taugt die Natur nicht mehr: „Wo sieht man hier noch Natur? Nicht einmal genügend für die Dichtkunst ist vorhanden.“25 Es ist also nicht verwunderlich, dass Stifter, für den Natur als Stoff für die Dichtkunst noch selbstverständlich war, nicht zu den Autoren gehört, auf die Jelinek immer wieder Bezug nimmt:26 Ingeborg Bachmann, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, Karl Kraus, Robert Walser, Elias Canetti, Heinrich Heine, Johann Nepomuk Nestroy.27 Doch gerade da, _____________   22 23 24 25 26

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Jelinek, Elfriede: Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr. Reinbek bei Hamburg 1985, S. 43. Jelinek, Elfriede: Lust. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 60. Jelinek, Elfriede: Lust, S. 101. Jelinek: Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr, S.121. Wie schon oben ausgeführt, kommt Stifter vor allem im Roman Die Ausgesperrten vor: „Stifter spechtelt wohlwollend auf den Glanz von glänzenden Lüften und [sic] wunderliche Aprilwolken voll Sonnenblicken und die schönen grünen Streifen der Wintersaat dazwischen“, Jelinek, Elfriede: Die Ausgesperrten. Reinbek bei Hamburg 1980, S. 53, aber auch an anderen Textstellen kann man Stifter-Bezüge entdecken, zum Beispiel anspielend auf die berühmte Vorrede zu den Bunten Steinen: „Alles ist Laune an der Natur. Nichts ist Gesetz und schon gar nicht sanft“, Jelinek: Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr, S. 24. Diesen Autoren fühlt sich Jelinek verwandt, wenngleich in ihren Werken verballhornende Zitate und Parodien fast aller ‚großen Klassiker‘ vorkommen: Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Friedrich Gottlieb Klopstock, Heinrich von Kleist, Rainer Maria Rilke und vor allem Friedrich Hölderlin (am meisten in Lust und Wolken.Heim); was die Zitate in Gier betrifft, vgl. Müller-Dannhausen, Lea: „Die intertextuelle Verfahrensweise Elfriede Jelineks. Am Beispiel der Romane Die Kinder der Toten und Gier“. In: Zwischen Trivialität und

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wo Jelinek und Stifter weit auseinander zu liegen scheinen, in der Naturbeschreibung nämlich, weisen ihre Texte Parallelen auf:28 Beide verwenden in auffälligem Maße Anthropomorphismen, für Stifter sind sie geradezu ein Markenzeichen. Während dieses Stilmerkmal bei Jelinek eine ironisierende und entlarvende Funktion hat (im oben angeführten Zitat tritt die Natur „ungeschickt und plump sich überall anstoßend“ in die künstlichen Paradiese ein), dient es bei Stifter der Reflexion über die kulturelle Konstruiertheit unseres Naturbildes; der Natur werden menschliche, moralische Kategorien wie Tugend und Keuschheit aufgesetzt, sie wird als moralisch höheres Wesen imaginiert, das Leitbild für den Menschen sein soll, „und doch“ handelt es sich dabei nur um eine mentale Projektion, die ein inneres Erlebnis nach außen verlegt: Es liegt ein Anstand, ich möchte sagen ein Ausdruck von Tugend in dem von Menschenhänden noch nicht berührten Antlitze der Natur, dem sich die Seele beugen muß, als etwas Keuschem und Göttlichem, – – und doch ist es zuletzt wieder die Seele allein, die alle ihre innere Größe hinaus in das Gleichniß der Natur legt.29

Das Zitat stammt aus der hier zu untersuchenden Erzählung Der Hochwald. Um Stifters brüchige Idyllen zu illustrieren, möchte ich aber kurz noch auf eine andere Erzählung aus derselben Schaffensperiode eingehen,30 in der eine ‚heile Welt‘ durch den Verweis auf zahlreiche idyllische Topoi heraufbeschworen wird: In der Erzählung Die Narrenburg (1842) kommen sie fast lehrbuchartig vor und zwar in der Rahmenerzählung, in der ein Sonntagmorgen in der grünen Fichtau, einem abgelegenen Tal, beschrieben wird: Es war ein Klingeln und Läuten und ein freudiges Brüllen und Meckern durcheinander, als am andern Tage die Morgensonne aufging, die Bergthäler rauchten, und die Heerde wieder zu den Triften hinaufstieg. […] die einzigen zwei Wesen,

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Postmoderne. Literatur von Frauen in den 90er Jahren. Hg. v. Ilse Nagelschmidt, Alexandra Hanke u. a. Frankfurt a.M. 2002, S. 185–206. Als Kuriosum sei erwähnt, dass in einer übrigens sehr kritischen Leserrezension zu Gier auf der Homepage des Internet-Buchvertriebs amazon.de eben diese Verwandtschaft festgestellt wird: „Elfriede Jelinek ist wichtig. Ihre Romane sind es leider nicht. Auch Gier ist nichts anderes als ein weiterer Versuch, darüber hinwegzutäuschen, dass die Autorin nicht erzählen kann, keine Charaktere hat, sondern nur Schablonen. […] Allenfalls kann man ihr ein gewisses, beinahe stifterisches Geschick in den Landschaftsbeschreibungen nachsagen, aber das reicht halt nicht, einen Roman zu schreiben“, zit. nach Bayer, Klaus: „Zur Sprache von Elfriede Jelineks Gier“. In: Wirkendes Wort 55 (2005), H. 2, S. 265–280, Zitat S. 268. Stifter, Adalbert: „Der Hochwald“. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1.4, Studien, Buchfassungen, Bd. 1. Hg. v. Helmut Bergner u. Ulrich Dittmann. Stuttgart u. a. 1980, S. 209–318, Zitat S. 241 (im Folgenden unter Angabe der Sigle HKG, Bd. 1.4 und der Seite im Text zitiert). In der Buchfassung der Studien folgt Die Narrenburg direkt auf den Hochwald.

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welche heute arbeiten mußten; denn alles Andere ging der Feier und Ruhe nach. […] Die warme Sonntagssonne stand bereits am Himmel und warf eine freudenreiche Strahlenmenge in das Thal. An den Bergen blitzte der Thau, und die Pernitz rollte lauter Gold und Silber durch die Felsen. In allen Häusern rührte und rüstete es sich sonntäglich, und die Waldhöhen standen in einem wahren Lauffeuer von Singen und Schreien der Vögel.31

Durch optische Elemente (die ‚Strahlenmenge‘, der ‚blitzende Tau‘, ‚lauter Gold und Silber‘) und akustische Eindrücke, hervorgerufen von wohlklingenden Naturlauten (das ‚freudige Brüllen und Meckern‘ der Herden, das ‚Lauffeuer von Singen und Schreien der Vögel‘), wird ein gänzlich harmonischer Sonntagmorgen auf dem Lande beschrieben. Ein junger Mann und eine junge Frau finden nicht durch unkontrollierbare Leidenschaft, sondern ‚natürlich‘ zueinander, ähnlich wie der Bach, der in den Fluss mündet. Mit folgenden Worten wendet sich der junge Heinrich an seine geliebte Anna: Gegen die Natur, geliebtes Herz, kann man nicht falsch sein, man ist es nur gegen Wiederfalsches – man verlässt nur d e n , der uns verließ, noch ehe er uns fand, weil er in uns nur s e i n e Freude suchte. Du liebst, wie die Sonne scheint; du siehst mich an, wie sich das gränzenlose Himmelblau der Luft ergießt; du kommst, wie der Bach zum Flusse hüpft, und wandelst, wie der Falter flattert: und gegen den schönen Falter, gegen den Bach, die Luft, und gegen das goldne Sonnenlicht bin ich nie falsch gewesen, und gegen dich vermöcht’ ich’s nicht zu sein um alle Reiche dieser Erde. (HKG, Bd. 1.4, S. 348)

Der verliebten Anna entgeht anscheinend manches Schiefe in den Vergleichen Heinrichs, der sie auch sofort zur Treue bis in den Tod verpflichtet. Die Landschaft der Fichtau wird explizit der ‚Welt draußen‘ entgegengesetzt und ist dem Laufe der Welt, d. h. der Zeit, entzogen; das Idyll kann als solches auch nur momentan bestehen, weil es nur den Rahmen für die viel düstere (anti-idyllische) Binnenerzählung über das närrische Geschlecht der Scharnast bildet, dessen Angehörige ja gerade von den Trieben und der Leidenschaft ins Unglück gestürzt werden. Am Ende der Rahmenhandlung wird die Hochzeit des ‚reinen‘ Liebespaares Heinrich und Anna gefeiert. Idyll und Anti-Idyll sind hier verschränkt und bedingen einander, obwohl sie von der Erzählstrategie her getrennt sind.32 _____________   31

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Stifter, Adalbert: „Die Narrenburg“. In: Ders.: Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1.4. Studien, Buchfassungen, Bd. 1. Hg. v. Helmut Bergner u. Ulrich Dittmann Stuttgart u. a. 1980, S. 319–436, Zitat S. 353 (im Folgenden unter Angabe der Sigle HKG, Bd. 1.4 und der Seite im Text zitiert). Über die Dynamik von Idylle und Anti-Idylle in dieser Erzählung, vgl. Svandrlik, Rita: „La Narrenburg di Stifter come idillio di formazione“. In: Idillio e anti-idillio nella letteratura tedesca moderna. Hg. v. Rita Svandrlik. Bari 2002, S. 165–188.

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1. Der Hochwald Im Gegensatz zur Narrenburg endet die Erzählung Der Hochwald, deren zentrales Kapitel die Überschrift Waldsee trägt, mit der tragischen Zerstörung des artifiziell konstruierten Idylls.33 Auch hier haben wir es mit einer Gegenüberstellung zweier Schauplätze zu tun, einem Schloss, in dem der Schlossherr mit seinen drei Kindern residiert, und einem Haus in einer sehr abgeschiedenen Gegend des Hochwaldes („so einsam, so abseits alles menschlichen Verkehrs“, HKG, Bd. 1.4, S. 228), das genauso möbliert ist wie das Schloss. Dahin schickt der Edelmann Heinrich von Wittinghausen seine beiden Töchter, um sie vor den herannahenden Wirren des Dreißigjährigen Krieges in Sicherheit zu bringen. Am Ende werden die beiden Mädchen zwar mit heiler Haut davonkommen, das Schloss wird aber zerstört, Vater, Bruder und Geliebter der älteren Tochter Clarissa verlieren dabei ihr Leben.34 Auslöser der Katastrophe ist aber nicht der Krieg, also die Konfrontation mit den feindlichen schwedischen Truppen, sondern der familieninterne Konflikt zwischen dem Vater und dem Geliebten der älteren Tochter. Nicht das Faktum, dass der junge Mann ein Schwede ist – wenn auch nur väterlicherseits – verursacht den zerstörerischen Zorn des Herrn von Wittinghausen, vielmehr ist der Grund in den komplexen Familienverhältnissen zu suchen. Da Clarissa für ihren Vater und ihre jüngere Schwester die soziale Rolle der verstorbenen Mutter übernommen hat, kann er ihr Bedürfnis, aus der Familie auszubrechen, um ihre eigenen Wünsche zu realisieren, nicht akzeptieren.35 Die dunkle Seite der Leidenschaften des Vaters und der älteren Tochter, aber auch der anderen Figuren, wird dabei durch das dunkle Wasser des Sees, um das sich zahlreiche Sagen ranken, symbolisiert. Diese Unfähigkeit, mit der eigenen Sinnlichkeit umzugehen, also eine Entfremdung von der eigenen inneren Natur, die sich in der familiären Konstellation widerspiegelt, verunmöglicht eine nicht vereinnahmende Wahrnehmung der äußeren Natur, obwohl Clarissa _____________   33 34

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Das Besondere an dieser Erzählung ist, dass eben die Landschaftsbeschreibungen die Rezeption Stifters als Idyllendichter begründet haben. Beide Erzählungen, Der Hochwald und Die Narrenburg, kreisen um das Thema des zerstörten Schlosses, des Schlosses als Ruine, ein Spezialfall der „zentrifugalen Architekturen“, die zahlreiche Texte Stifters prägen, vgl. Haag, Saskia: „Zentrifugale Architekturen – Adalbert Stifters Häuser“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85 (2011) H. 2, S. 208–232. Diese komplexe Familienstruktur steht im Zentrum der neueren Untersuchungen zu Stifters Erzählung, vgl. dazu Kim, Hee-Ju: „Natur als Seelengleichnis. Zur Dekonstruktion des Natur-Kultur-Dualismus in Adalbert Stifters Hochwald“. In: Ordnung – Raum – Ritual. Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hg. v. Sabina Becker u. Katharina Grätz. Heidelberg 2007, S. 69–100; und Dawidowski, Christian: „Die Tiersymbolik und der Mutter-VaterKomplex in Stifters Hochwald“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 126 (2007), S. 526–546.

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in der ‚unberührten‘ Natur des Hochwaldes einen zweiten Anlauf nimmt, aus ihrer Herkunftsfamilie auszubrechen. Der Hochwald wird mit der für Stifter üblichen Detailfreudigkeit beschrieben, am eindringlichsten aus der Perspektive des alten Gregors; das Naturleben des Waldes wird aber nicht zum Leitbild für ein unentfremdetes, schuldloses Leben, so wie es nach Gregor, der von einigen Interpreten als Sprachrohr des Autors Stifter gesehen wird, wünschenswert wäre. Die Annäherung der Menschen an die Natur ist problematisch, wenn sie auch zeitweilig gelingt. Sowohl für die Erzählinstanz als auch für die Figuren der Erzählung und den IchErzähler des Textanfangs wird die Natur erst über die Kultur, d. h. erst durch Akkulturation (zum Beispiel durch die Züge des Märchenhaften und des Sagenhaften, die dem Wald und dem See ,angedichtet‘ werden) wahrnehmbar und somit zum Lebensraum für den Menschen. Sprachlich wird dieser Prozess durch die häufige Verwendung von Anthropomorphismen vollzogen: Ein „Urstamm“ wird mit einer „alterthümlichen Säule“ (HKG, Bd. 1.4, S. 213) verglichen, der Wasserspiegel mit einer „versteinerte[n] Thräne“ (HKG, Bd. 1.4, S. 214). Allerdings bleibt die Natur den Figuren trotz dieser Aneignungsversuche fremd. Die Darstellung der Natur erfolgt aus ihrer Perspektive, sie dient der indirekten Wiedergabe ihres Innenlebens.36 Schon am Textanfang wird der See vom vermeintlich ‚objektiven‘ Ich-Erzähler, der nach Beginn aus dem Text verschwindet, mit Zügen des Ungeheuerlichen ausgestattet: Ein Gefühl der tiefsten Einsamkeit überkam mich jedes Mal unbesieglich, so oft und gern ich zu dem märchenhaften See hinaufstieg: Ein gespanntes Tuch ohne eine einzige Falte liegt er weich zwischen dem harten Geklippe, gesäumt von einem dichten Fichtenbande, dunkel und ernst, daraus manch einzelner Urstamm den ästelosen Schaft emporstreckt, wie eine einzelne alterthümliche Säule. […] Da in diesem Becken buchstäblich nie ein Wind weht, so ruht das Wasser unbeweglich, und der Wald und die grauen Felsen und der Himmel schauen aus seiner Tiefe heraus, wie aus einem ungeheuern Glasspiegel. (HKG, Bd. 1.4, S. 213)

Wie das Zitat zeigt, wird der Ich-Erzähler durch den „ungeheuren Glasspiegel“ emotionalisiert und zu Reflexionen angeregt. Auch wenn er die von dem „märchenhaften“ See ausgehende Ruhe hervorhebt, schreibt er ihm zugleich eine Unheimlichkeit zu, die nur mit Anthropomorphismen zu fassen ist (da das Unheimliche eben in der menschlichen Psyche seinen Ursprung hat): Der See wird zum „unheimlichen Naturauge“, das den Ich-Erzähler anblickt, wobei das Wasser so unbeweglich daliegt wie eine „versteinerte Thräne“ (HKG, Bd. 1.4, S. 214). Im Folgenden fordert der _____________   36

Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 164f.; und Schneider, Roland: Naturgestalten. Zum Problem von Natur, Kultur und Subjekt in den Erzählungen Joseph von Eichendorffs und Adalbert Stifters. Marburg 2002.

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Ich-Erzähler den Leser auf, mit ihm in seiner Phantasie eine Reise um zweihundert Jahre zurück in eine Zeit zu machen, als Schloss Wittinghausen noch keine Ruine war. Damals lebte in diesem Schloss der verwitwete Heinrich von Wittinghausen mit seinen drei Kindern, einem Sohn, der vierzehnjährigen Johanna und der achtzehnjährigen Clarissa. Ein Familienidyll wird uns präsentiert, bevor der Leser dann den Umzug der beiden Mädchen vom Schloss in das Blockhaus am Waldsee verfolgen kann. Es ist auch der Beginn eines Bildungsweges, eines Lernprozesses, in dem die beiden vom alten Gregor, einem Jugendfreund und Bediensteten des Vaters, in die Geheimnisse des Hochwaldes und der Natur eingeweiht werden. Am Ende einer Wanderung durch den Wald erblicken sie den See: So mochte die Wanderung noch eine halbe Stunde gedauert haben, und eine dichtere Finsterniß blickte schon aus den Tiefen der Fichtenzweige, die sich so dicht drängten, daß sie häufig die Sänfte streiften – da blitzte es sie mit einem Male durch die Bäume, wie glänzendes Silber an, sie stiegen einen ganz kleinen Hang nieder, und standen an der weitgedehnten Fläche eines flimmernden Wassers, in dessen Schoße bereits das zarte Nachbild des Mondes wie ein blödes Wölklein schwamm. Ein leises Ach des Erstaunens entfuhr den Mädchen, als sie den schönen See erblickten, da sie derlei in dieser Höhe, die sie erstiegen zu haben meinten, gar nicht vermutheten – ein flüchtig Schauer rieselte durch Johannas Glieder, da dieß ohne Zweifel jener Zaubersee sei, von dem sie gehört hatte. – Die hohen Tannen, die dem Ufer entlang schritten, schienen ihr ordentlich immer größer zu werden, da sie gemach und feierlich den einfärbigen Talar der Abenddämmerung angethan und von ihren Häuptern fallen ließen, wodurch sie massenhafter und somit größer wurden, – die jenseitige Felsenwand zeichnete sich schwach silbergrau, wie ein zartes Phantasiebild, in die Luft, zweifelhaft, ob sie nicht selbst aus Luft gewoben sei; denn sie schien zu schwanken, und sich rhythmisch zu neigen, aber es waren nur die Wasser, die sich abendlich bewegten. (HKG, Bd. 1.4, S. 247–248)

Diese Waldlandschaft gewinnt gerade durch die Personifikation (die Tannen ‚schritten‘, den ‚Talar angethan‘, die ‚Häupter‘) romantische und unheimliche Züge, der See ist eben auch als Zaubersee ein Kulturprodukt, der Felsenwand werden Gefühle und Zweifel zugeschrieben, sogar Zweifel an der eigenen Wirklichkeit. Vielfach ist in der Sekundärliteratur darauf hingewiesen worden, dass die verklärenden Naturbeschreibungen an die Wahrnehmungsperspektive der Figuren gebunden sind, jedoch wechselt die Perspektive oft, so auch in dieser Passage, von den verschiedenen Figuren zur Natur selbst und wieder zur Erzählinstanz. In diesem Sinne ist auch die noch unberührte Natur des Hochwaldes Menschenwerk, weil sich schon in ihr menschliche Gefühle spiegeln, sie also Projektionsfläche ist.37 Von dieser Position ausgehend, ist auch der alte ‚Waldsohn‘ Gregor _____________   37

Vgl. Begemann: Die Welt der Zeichen, S. 181.

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nicht frei, da er die Natur in den Dienst eines Erziehungsprogramms stellt: Bösartigkeit und Zerstörungswille, also auch Schuld, kommen in der Natur nicht vor, deshalb sollten die Menschen von ihr lernen, ihre destruktiven Leidenschaften zu kontrollieren. Er sieht es als seine Aufgabe, den beiden Schwestern seine Naturauffassung zu vermitteln. Der Lernprozess ist nicht ganz erfolglos: Stellenweise glückt die Wechselwirkung zwischen den Menschen und der Natur, beispielsweise in der Austauschbarkeit der Perspektive (die Natur sieht den Menschen an, die Schwestern werden zum Märchen für die „staunende Wildniß“) und in der geglückten Kommunikation:38 Aber vielmehr sie [die beiden Schwestern, R. S.] waren ein Märchen für die ringsum staunende Wildniß. Wenn sie zum Beispiel an dem See saßen, lange weiße Streifen als flatternde Spiegel ihrer Gewänder in ihn sendend, der gleichsam seine Wasser herandrängte, um ihr Nachbild aufzufassen – so glichen sie eher zwei zartgedichteten Wesen aus einer nordischen Runensage als menschlichen Bewohnern dieses Ortes – – […] Oder noch märchenhafter war es, wenn eine schöne Vollmondnacht über dem ungeheuren dunklen Schlummerkissen des Waldes stand, und leise, dass nichts erwache, die weißen Traumkörner ihres Lichtes darauf niederfallen ließ, und nun Clarissens Harfe ertönte – […]. (HKG, Bd. 1.4, S. 259)

Der See wird hier als aktiver Partner dargestellt, der das Spiegelbild der Mädchen in sich fassen möchte – ein Partner, der im Unterschied zu den gewalttätigen Menschen keine Gefahr darstellt. Am See nimmt auch die tragische Entwicklung des Geschehens ihren Anfang und zwar mit der Erschießung eines wunderschönen ‚unschuldigen‘ Geiers (eigentlich eines Schreiadlers).39 Der getroffene Vogel fällt in den See, Gregor fischt ihn heraus: Eben für Gregor soll der tote Vogel eine Botschaft sein, die Mitteilung, dass sich Clarissas Freier Ronald, der sich unverwechselbarer kleiner Kugeln bedient, in der Nähe ist. Auch Clarissa erfährt es, es kommt zu einem einzigen Treffen mit dem von Wittinghausen abgelehnten Ronald am Seeufer, das Schicksal nimmt seinen Gang. Clarissas Vater und Ronald werden sich bei dem Angriff der Schweden auf Schloss Wittinghausen gegenüberstehen, der alte Wittinghausen wird beim Anblick des jungen Ronald so von Zorn ergriffen, dass kein Raum bleibt für Verhandlungen, die das Unheil abwenden könnten. Er, sein Sohn und Ronald sterben in der Kriegshandlung, das Schloss wird zerstört. Die mit dem toten Vogel überbrachte Botschaft hat sich als eine Ankündigung des Todes herausge_____________   38 39

Vgl. Svandrlik, Rita: „Aurora – kein Aufbruch in die Idylle (Goethe; Stifter)“. In: Aurora – Indikator kultureller Transformationen. Hg. v. Elisabeth Tiller u. Christoph Oliver Mayer. Heidelberg 2007, S. 251–262. Vgl. Dawidowski: „Die Tiersymbolik und der Mutter-Vater-Komplex in Stifters Hochwald“, S. 543.

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stellt, der Versuch eines harmonischen Einklangs zwischen Menschen und Natur wurde ‚gestört‘, für die Menschen bedeutete es die Wendung zur Katastrophe. Die Natur bleibt dabei unbeteiligt, der Hochwald wird mit der Zeit die Zeichen löschen, die die Menschen hinterlassen haben.

2. Gier Wie für Jelinek typisch, werden die Lesererwartungen schon durch den Untertitel des Romans – Ein Unterhaltungsroman –40 enttäuscht. Die Erzählerfigur im Text selbst mahnt: „Doch täuschen Sie sich nicht, auch wenn ich solche Täuschungen immer wieder versuche, um es mir einfacher zu machen“ (G, S. 91). Der Roman spielt in der Gegend zwischen Mürzzuschlag und Mariazell in der Steiermark; dazu meint die Erzählerfigur: „Ich komme von dieser Gegend seit Ewigkeiten nicht mehr los“ (G, S. 80). 41 Die Protagonisten sind ein Mann, Kurt Janisch, und zwei Frauen: die in mittleren Jahren stehende ehemalige Fremdsprachenkorrespondentin Gerti und die noch nicht sechzehnjährige Gabi. Der Landgendarm Kurt Janisch ist verheiratet und hat einen erwachsenen, selbst schon verheirateten Sohn. Beide Protagonistinnen, Gerti und Gabi, haben ein Verhältnis mit dem Gendarmen Janisch. Der Titel Gier verweist auf eine der Todsünden, die die gegenwärtige Gesellschaft in Jelineks Augen besonders prägt: „Alle wollen _____________   40

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„Ich würde sagen, es ist überall eine Zeit der Unterhaltung. Wobei ich nichts dagegen sagen möchte und auch nichts dagegen habe. Aber ich habe schon mit meinem Sportstück versucht, diese Vergötzung der körperlichen Leistung und die Verachtung der künstlerischen, intellektuellen Leistung zu zeigen. Und jetzt habe ich es sozusagen umgedreht und geb’ dem Affen Zucker. Und denk’ mir, wenn ihr Unterhaltung wollt, dann sollt ihr sie haben“, SWR, 31.12.2000, zitiert nach Zeitler, Ulrike: Autor, Erzähler, Figur. Zur Erzählkonstruktion von Elfriede Jelineks ,Gier‘. München 2001, S. 5. In Jelineks Text fehlt zur Gänze die unterhaltende Spannung, denn der Mörder Gabis und die Umstände des Mordes sind von Anfang an bekannt. Der Leser kann im Prinzip nichts Neues entdecken, obwohl man doch stellenweise gespannt ist, wie der Gendarm handeln wird. „Seltsamerweise hat mich die Landschaft, in der ich immer meine Schulferien verbracht habe, also die Steiermark, beinahe stärker angeregt als die Großstadt, in der ich aufgewachsen bin. Die Steiermark ist oft der Ort meiner Texte, beinahe öfter als Wien, nein, sicher sogar. Wahrscheinlich weil ich in diesen Ferien die sozialen Unterschiede stärker studieren konnte, das Landproletariat vor allem, aber auch ‚die Wildnis‘, das Unbehauste. Man zehrt auch sein Leben lang am gierigsten aus den Eindrücken der Kindheit.“, Staub, Anita C.: FrauenSchreiben. Abenteuer, Privileg oder Existenzkampf? Gespräche mit 17 österreichischen Autorinnen. Maria Enzersdorf 2004; darin E-Mail-Interview mit Elfriede Jelinek, S. 92–97, Zitat S. 95.

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immer nur mehr, egal wovon“ (G, S. 308).42 Die Gier wird als ,Todsünde‘ thematisiert, nicht weil ihr Begehen der katholischen Doktrin gemäß in die Hölle führt, sondern weil sie Leben tötet. Der Roman kreist um das Thema der Negation und (gewaltsamen) Vernichtung des Lebens und damit verbunden um den allgegenwärtigen Mangel an Geist und Menschlichkeit. Kurt Janisch und sein Sohn sind zur Gänze von der Gier nach Geld und vor allem nach Immobilien erfasst; dabei nutzt der Gendarm seinen Beruf aus, um sich reifere alleinstehende Frauen mit Besitz auszusuchen und mit ihnen ein Verhältnis zu beginnen. Sein Ziel sind aber nicht die Frauen selbst, sondern ihr Eigentum; dass er bereit ist, über Leichen zu gehen, ist in seinem Fall keine bloße Redensart. Die Frauen ihrerseits sind beherrscht von der Gier nach Männern oder nach einem einzigen Mann, wobei sie sich auf Sex mit Kurt Janisch einlassen, obwohl sie eigentlich die große Liebe suchen – die alternde Gerti noch stärker als das Mädel Gabi, die von dem Gendarmen umgebracht und in den Baggersee geworfen wird, da sie seine Pläne durchkreuzen könnte. Gerti, die sehr wohl verstanden hat, wer Gabis Mörder ist, bringt sich selbst um, nachdem sie ihr Haus Kurt Janisch vermacht hat. Für das vordergründig unverständliche Verhalten dieser Figur hat sich Jelinek von Elisabeth Pfisters Reportage Unternehmen Romeo inspirieren lassen. Darin wird von Stasi-Agenten berichtet, die in den sechziger Jahren auf westdeutsche Frauen angesetzt worden sind und diese für ihre Spionageabsichten instrumentalisiert haben. Die Frauen, alle durch ein eher geringes Selbstbewusstsein gekennzeichnet, trauten ihnen aus Liebe.43 Dass in Gier vor allem Frauen getötet oder in den Tod getrieben werden, muss insbesondere vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse in der Entstehungszeit gesehen werden: Der Roman ist nach der Bildung der ersten schwarzblauen Regierung Österreichs im Februar 2000 ge_____________   42

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In einem Interview mit Joachim Lux meint die Autorin: „Gier hat mich immer schon sehr interessiert, ich habe ja auch einen Roman mit diesem Titel geschrieben. Die Erfahrung, schon etwas zu haben, scheint zu genügen, um immer mehr davon haben zu wollen. Man macht sich ununterbrochen auf den Weg zu dem, was einem endlich genügen soll, aber das gibt es nicht, weil einem eben nie etwas genügt“, Programmheft zur Uraufführung des Stücks ‚Die Kontrakte des Kaufmanns‘. Hamburg, Thalia-Theater 2009, S. 16. In Bezug auf die Figur der Gerti und ihre Rolle als Mittäterin im patriarchalen System diagnostiziert Alexandra Pontzen: „Zeigt der ‚Eheroman‘ Lust die Innenperspektive der Ehe als sexuelles Schreckenszenario, so zitiert Gier das Stereotyp der Frau, die glaubt, ihre Existenzberechtigung erst als Teil eines (Ehe-)Paares zu finden, anders als in Die Liebhaberinnen ist weibliche Ehefixierung in Gier nicht mehr Folge finanzieller Notwendigkeit, sondern psychischer Defizienz“, Pontzen, Alexandra: „Beredte Scham – Zum Verhältnis von Sprache und weiblicher Sexualität im Werk von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz“. In: Weiblichkeit als politisches Programm? Sexualität, Macht und Mythos. Hg. v. Bettina Gruber u. Heinz-Peter Preußer. Würzburg 2005, S. 21–40, Zitat S. 29.

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schrieben worden; diese historische ‚Wende‘ wird sehr oft im Text thematisiert. Durch die Konzentration auf ‚weibliche Todesarten‘ versucht Jelinek nun ganz im Sinne Ingeborg Bachmanns zu illustrieren, dass faschistische Machtverhältnisse zuerst in der Beziehung zwischen Mann und Frau entstehen.44 Das wird auch durch die Figurenkonzeption des Sexualmörders Kurt Janisch deutlich: Er – der eigentlich homosexuell ist und die Frauen zutiefst verachtet – ist ein Anhänger der FPÖ (G, S. 267–268, auch S. 144). Jelinek hat sich intensiv mit Bachmann und mit dem einzigen zu Lebzeiten Bachmanns veröffentlichten Roman aus dem TodesartenProjekt, nämlich Malina (1971), auseinandergesetzt. Außerdem hat sie das Drehbuch für Werner Schröters Verfilmung des Romans verfasst (1991). Erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass auch „der Friedhof der ermordeten Töchter“ aus dem sogenannten Traumkapitel in Malina an einem See liegt; es handelt sich um einen größeren See, gesäumt „von den vielen Friedhöfen“.45 In Gier geht es dagegen um einen ganz gewöhnlichen, nicht sehr großen ‚modernen‘ Baggersee,46 an dem keine Friedhöfe ermordeter Töchter liegen, sondern der selbst zum Friedhof wird. Er wird im zweiten Kapitel des Romans vorgestellt: _____________   44

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Elfriede Jelinek hat mehrmals die Nähe ihrer Themen zu denen Ingeborg Bachmanns betont, insbesondere im Hinblick auf die Darstellung der Gewalt in der österreichischen Kleinbürgerfamilie, so in ihrem 1984 geschriebenen Essay über Bachmann Der Krieg mit anderen Mitteln oder im Interview mit der Übersetzerin, die den Roman Die Ausgesperrten ins Französische übertragen hat: „Wir Nachkriegskinder mußten das sozusagen rekonstruieren, daß die Verbrechen der Nazis, wie Bachmann sagt, ja von irgendwoher gekommen sein und irgendwohin gegangen sein mußten, sie konnten ja 45 nicht einfach verschwinden. Und Bachmann […] gibt die Antwort: In die und aus der Familie, in der die Frauen und die Kinder Parias, Neger sind. Und der Mann (Vater) der Täter“, Hoffmann: Elfriede Jelinek, S. 48. Auf Bachmann kommt Jelinek mehrmals zurück, so im Interview mit Rita Thiele 1997 über Ibsens Nora und über ihre eigene Verarbeitung, die sie aus folgendem Grund in den zwanziger Jahren angesiedelt hat: „Gleichzeitig können die ökonomischen Gegensätze gezeigt werden, die Zeit des beginnenden Faschismus, der ja auch, wie Ingeborg Bachmann sagt, in der Kleinfamilie und im Privaten entsteht“, Thiele, Rita: „Ich bin Nora aus dem gleichnamigen Theaterstück von Ibsen“. In: Programmheft des Wiener Burgtheaters zu Henrik Ibsens ‚Nora oder ein Puppenheim‘. Wien 1997. Der Schlusssatz des Romans Gier „Es war ein Unfall“ kommt schon in den letzten Zeilen von Jelineks Prosatext Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr vor und wird allgemein als Verweis auf den letzten Satz von Bachmanns Malina gelesen: „Es war Mord“. Bachmann, Ingeborg: „Malina“. In: Dies.: Werke, Bd. 3. Todesarten. Malina und unvollendete Romane. Hg. v. Christine Koschel. München 1978, S. 9–337, Zitat S. 174–175. Ein unvollendeter Erzähltext aus Bachmanns Todesarten-Projekt trägt auch den Titel Gier, vgl. Szczepaniak, Monika: „‚Todesarten – Todesraten‘. Der weibliche Tod bei Bachmann und Jelinek am Beispiel der Gier-Projekte“. In: Die Architektur der Weiblichkeit. Identitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Literatur von österreichischen Autorinnen. Hg. v. Joanna Drynda. Poznañ 2007, S. 41–52.

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Da liegt der Baggersee, ein Standgewässer, das, wie jedes Wasser, dauernd unter von Gott ausgeübtem Oberflächendruck platt daliegt, dunkel und doch offen, vor uns, wie ein unüberblickbarer Wert. Ach, wäre das Wasser darin nur nicht biologisch umgekippt. So ist der See leider nicht ein dunkler Edelstein, in Berge eingefasst, die manchmal ihre Nerven, die Wasserkrampfadern des Gebirgs, wegschmeißen und ihre eignen vollgesoffenen Hänge hinunterwerfen, der Mensch und seine Untaten sind schuld, jaja, die Muren – es rutscht den Hängen über ihren Hüften alles hinunter, die Berghose, die Erdsohle, dieses übergesaugte, eingetränkte Grün, das sich dort nicht mehr halten kann. (G, S. 75)

Während die Landschaftsdarstellungen bei Stifter der Verherrlichung der Schöpfung als Leitbild für das Verhalten der Menschen dienen, werden sie bei Jelinek zum ironischen Versatzstück. Die Ironie entsteht zum Beispiel hier über eine eigentümliche, wortwörtliche Umkehrung der physischen Gesetze. Die platte Oberfläche des Sees wird nicht der Schwerkraft (also den ,von unten wirkenden‘ Kräften), sondern dem von Gott ausgeübten Druck (einer ,von oben wirkenden‘ Kraft) zugeschrieben. Dass er einen (höheren) Wert hat, wird zwar behauptet, der Wert ist aber „unüberblickbar“.47 In Wahrheit ist der See biologisch umgekippt, nur ein nicht näher zu bestimmendes Schlingengewächs ist darin vorhanden, das Wasser ist zu einer geleeartigen Masse geworden; die Erklärung dafür ist in dem respektlosen und gewinnsüchtigen Umgang der Menschen mit der Natur zu suchen: Da fällt schon früh der Nachmittagsschatten über das Gewässer, das sich in seine Wanne kauert. Es ist nicht durch Tektonik, Vulkanismus, Erosion oder Akkumulation gebildet worden, sondern jemand hat einfach eine sehr große Wanne in den Boden gesprengt, damit er den Schutt vom Straßenbau hineinwerfen konnte, und dann hat ein anderer es sich wieder überlegt und die Wanne lieber mit Wasser gefüllt. (G, S. 77)

Die Wanderer und die sehr anspruchslosen Touristen, die die günstigen Preise der Gegend wahrnehmen, lassen sich nicht stören. Für die Naturverschmutzungen haben sie keine Augen, so wie die Bewohner der nahegelegenen Ortschaft keine Augen haben für das verbrecherische Handeln des Landgendarmen Janisch. Alle Erwartungen, die man mit einem See in den Alpen verbindet, werden im Text sprachlich negiert: „So ist der See leider nicht ein dunkler _____________   47

Ähnlich wie Stifters Waldsee sein unheimliches Naturauge, so hat auch der Baggersee Augen und Lippen, jedoch in ironischer Variation: „Von diesem Wasser her dringen also keine kosenden oder keifenden Stimmen, sogar das Schimpfen eines Familienvaters, die Beschwerden einer überlasteten Mutter, das Kreischen eines Geohrfeigten wären mir noch lieber als diese unheimliche Seele des Wassers, diese Augen des Wassers, die mich fixieren, diese Lippen des Wassers, die mich verschlingen wollen, na, da haben sie sich aber viel vorgenommen! Ich wiege inzwischen sechzig Kilo.“ (G, S. 96)

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Edelstein“; „nie“ erreicht ihn die Sonne; „dieses Wasser schaut überhaupt nicht wie Wasser aus“ (G, S. 78); es ist ihm nicht „gegönnt“, was allen anderen Seen gegönnt ist, „diese[m] zu Schreck erstarrte[n], nachgiebige[n] Nichts“ (G, S. 81): Dieser See befindet sich nie im Einstrahlungsbereich der Sonne, das ist sein und der Touristen Unglück, doch die Bäume am Bergufer müssten sich eigentlich spiegeln können. Warum tun sie es dann nicht? Warum sind sie so faul? In den Fels gehauen ein kleines Wegerl, auf dem man öfter Wanderer sieht. Sie kommen uns nicht aus, das Lied geht so: vorwärts oder zurück oder vergessen sein. Diese Menschen gehen nicht in der unüberblickbaren Welt der Reichen herum. (G, S. 82–83)

Wasser, Berge und Bäume sollen die Initiative ergreifen, sollen sich zur Sonne recken und im Wasser spiegeln. Durch das reichlich verwendete Stilmittel der Personifikation („Hätte das Wasser Geschicklichkeit, es würde hier von selbst herausklettern“, G, S. 84) wird Ironie erzeugt und durch das für Jelinek charakteristische Verfahren der Aufspaltung von Erzählperspektive und Redepositionen48 um ein Vielfaches potenziert. Den Bäumen, dem Wasser und dem Berg werden nicht etwa menschliche Tugenden zugeschrieben, die als Vorbild dienen sollen wie bei Stifter, sondern eher Untugenden, beispielsweise ein Mangel an Geschicklichkeit und Beweglichkeit (die Faulheit der Tannen). Eine Erzählerin-Stimme stellt Fragen wie aus dem Bewusstsein der doch ein wenig enttäuschten Touristen; über die Personifikation wird zugleich auch die die Menschen anklagende Perspektive des Sees dargestellt: Nichts für frohbunte Badeanzüge, Wasserbälle, Schwimmtiere, Schlauchboote; das alles ist diesem See nicht gegönnt, er hat keine Abwechslung und bietet daher auch keine. Er kann sich keine hoch aufrauschenden Roben aus Gischt anziehen, denn dieses Metallwasser lässt sich nicht aufrühren und nicht rühren. (G, S. 85– 86)

Und: „Nur lebloses Leben ist hier gestattet“ (G, S. 87).49 Selbst das Wasser in den Keramikröhren der Wasserleitungen wird als dürftig beschrieben („keine Spiegelung mehr, keine sprudelnde Fröhlichkeit“, G, S. 89). Dass auch die idyllentypische Kommunikation zwischen Mensch und Natur nicht zustande kommen kann, wird von der Erzählerin-Stimme reflektiert: „Die Frage ist, wie kann man eine solche Wasserlandschaft wie die des Sees schildern, ohne wirklich ihre Sprache zu kennen?“ (G, S. 81). _____________   48 49

Vgl. Fliedl, Konstanze: „Narrative Strategien“. In: Jelinek-Handbuch. Hg. v. Pia Janke. Stuttgart 2013, S. 56–61, Zitat S. 59. Es kommen auch leichtere, ironische Varianten einer Negation der Seeidylle vor: „Grüßgott, herein, du lieber Bergsee mit in Berge gefasstem Diamant, wie gut kenne ich dich, leg dich nur her da!, nein, doch nicht auf meine Zehen!“ (G, S. 97).

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Am idyllischen Topos des Waldsees wird somit die Zerstörung des Lebens selbst durch ‚die Untaten der Menschen‘ dargestellt. Der See der ermordeten Töchter aus Malina hat sich hier in einen undurchdringlichen Baggersee voller pflanzlicher und anderer Leichen verwandelt. Diese Undurchdringlichkeit ist nicht nur im Hinblick auf die Darstellung des Sees zentral, sondern kennzeichnet auch die Entwicklung der Handlung: Eine (positive) Wende im Geschehen wird nämlich nicht herbeigeführt, als die nicht ausreichend beschwerte Leiche Gabis wieder auftaucht und aufgefunden wird, weil der Mörder und Gendarm Kurt Janisch selbst an der ‚Aufklärung‘ des Mordes mitarbeitet und so alle Spuren verwischen kann. Auf dem Weg zu einer solchen Spurenbeseitigung überfährt er mit seinem Wagen einen riesengroßen Hirsch: Das gibts doch nicht, sehen Sie, was ich sehe?, dort vorn, auf der Straße, eine große dunkle Masse, ein hitziger Haufen, der rasch näher kommt, aber keine glühenden Scheinwerfer, die an ihm befestigt sind, wieso denn nicht. Nichts, das Flügel bekommen und sich in die Luft erheben könnte, und doch wie seltsam, genau das tut es jetzt […] (G, S. 344).

Wie das Zitat zeigt, wird das Lebewesen Hirsch hier vergegenständlicht und als entgegenkommendes Auto imaginiert, eben weil ihm die Würde und der Wert eines Lebewesens nicht zugestanden werden. Nach der Anrede des Lesers, ein tradiertes Stilmittel, das im Roman zum strukturierenden und immer wieder variierten Element wird, wird der Hirsch weiter mit einer Litotes vorgestellt: „Nichts, das Flügel bekommen und sich in die Luft erheben könnte“: Ein Vogel könnte sich retten, der Hirsch kommt unter die Räder. In all den verschiedenen, im Roman vorkommenden Formen der Negation, besonders in der Verbindung mit einem Konjunktiv II wie hier, schwingt jedoch die Alternative eines weniger gewaltsamen Umgangs der Menschen mit den Tieren mit – ein roter Faden, der sich durch das ganze Werk Jelineks zieht. Zu betonen ist, dass sich die Ermordung Gabis und die beinahe Tötung des Hirsches an derselben Stelle am See ereignen. In beiden Fällen spielt das Auto als männliches Statussymbol eine Rolle. Natur (als Baggersee), Mensch und Tier werden also von den Menschen getötet. Jede Möglichkeit eines konfliktfreien Miteinanders der Menschen untereinander sowie der Menschen mit der Natur wird auf radikale Weise negiert, nicht weil die Menschen an dem Versuch scheitern, wie bei Stifter, sondern weil es die Natur „ja nicht mehr“ gibt (vgl. G, S. 221). Wichtig erscheint mir hierbei, dass die Negation gerade da, wo sie überraschend auftritt, das Gegensätzliche implizit mitmeint, sodass der geneigte und aufmerksame

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Leser sich am Ende vielleicht umorientiert und imaginieren kann,50 was ‚sein sollte‘, um einen Ort des Lebens zu ermöglichen. Der Baggersee als Negation eines Alpensees, der Hirsch als ,NichtAuto‘ oder ,Nicht-Flieger‘ sowie das Wasser als lebloses Leitungswasser sind Beispiele für eine entnaturalisierte Welt. Sie wird beklagt – und die Klage zugleich ironisiert –, um uns doch ‚etwas zu sagen‘: Anders kann man es nicht sagen, denn die Natur gibt es ja nicht mehr […]. Die Natur ist das Gegenteil von etwas, das uns etwas zu sagen hat, obwohl sie uns oft sehr zusagt (G, S. 221).

Wie am Beispiel des Baggersees deutlich geworden ist, prägen Tod und Zerstörung die im Roman geschilderten Orte in der Natur. Sie können als ‚U-topoi‘ beschrieben werden, als Orte, die den Figuren zwar keine (Über-)Lebensmöglichkeiten bieten, dem Leser aber eine Umorientierung ermöglichen, denn – so Harald Weinrich über die Funktion der Negation: „Es ist nun wieder alles offen für neue Bedeutungen und neue Feststellungen“.51 In seinem Aufsatz über ‚polemische Idyllen‘ (Lucinde, Leonce und Lena u. a.) meint Viktor Žmegač etwas Ähnliches: „Im Verharren in der Negation sind jedoch diese anti-utopischen Gebilde zugleich dialektische Zeugnisse wahrhaftig reiner Utopie“.52 Vielleicht führt die Hypothese einer „reinen Utopie“ in Bezug auf Jelinek etwas zu weit, doch eröffnet ihre totale Negation den Blick auf den ersehnten Frieden mit der Natur, auf den Verzicht auf ihre Domestizierung und Unterjochung. Bei Theodor W. Adorno, einem Autor, der die Gesellschaftskritik Jelineks stark beeinflusst hat, findet man im kleinen Aufsatz Sur l’eau ein ‚idyllisches‘ Bild, das die Muße am oder auf dem Wasser beschreibt „Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen…“.53 Kann das Bild des Auf-dem-Wasser-Liegenden, der in den Himmel schaut, dazu führen, den Blick von dem begrenzten Raum der Idylle in das Unbegrenzte zu lenken, weg von der Unheimlichkeit eines Waldsees oder eines toten Baggersees? Während der See bei Stifter der Ort der Unheimlichkeit der inneren Natur ist, die der Mensch vergeblich zu meistern versucht, so ist es bei _____________   50 51 52 53

„Jede Negation erhebt Einspruch gegen eine bestehende Erwartung und setzt diese außer Kraft. Durch den ‚Erwartungsstopp‘ wird das Sprachspiel umorientiert“, Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim 1993, S. 86. Weinrich: Textgrammatik, S. 864. Žmegač, Viktor: „Polemische Idyllen. Utopische Vorstellungen vom Müßiggang in der deutschen Literatur“. In: Ders.: Tradition und Innovation. Studien zur deutschsprachigen Literatur seit der Jahrhundertwende. Wien u. a. 1993, S. 152–165, Zitat S. 165. Adorno, Theodor W.: „Sur l’eau“. In: Ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1951, S. 295–298, Zitat S. 297–298.

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Jelinek die Habgier, die See und Menschen, vor allem Frauen, zerstört. Dabei inszeniert sich die Autorin/Erzählerin als ‚wortgierig‘, zugleich aber als nicht in der Lage, ihren Text zu beherrschen. 54 An mehreren Stellen des Romans wird diese Inkompetenz angesprochen; die Wassermetaphorik wiederaufnehmend distanziert sie sich etwa vom ‚Erzählwasser‘, das den Nachbarn der jungen Gabi und den Dorfbewohnern im Zuge des Versuchs, den Mord aufzuklären, mühelos aus dem Mund sprudelt: Jetzt fließt das Erzählwasser, auch unter den Kollegen; fast alle Erscheinungsformen des Wassers erscheinen mir hübsch, vor allem die hochprozentigen, auch das Eis ist nett zum Anschauen, vielleicht noch zum Essen oder zum Eislaufen, aber nicht zum drauf Gehen. Und auch den Dampf mag ich nicht so recht leiden, da stolpere ich lieber weiter durch das Erzählgeröll, da weiß ich, wo und woran ich bin, das rutscht mir zwar auch öfter als mir lieb ist unter den Füßen weg, aber es ist nicht so tückisch wie Dampf, der vernebelt, und Eis, das mir von unten entgegenkommt und mich unversehens in die Fresse haut. (G, S. 415–416)

Die ‚tückischen‘ Erscheinungsformen des Wassers, Eis und Dampf, also die nicht flüssigen Formen, werden als Formen des Erzählens verworfen, ein lebendiges Fließen ist nicht möglich, genauso wenig wie das Leben im Baggersee. Was bleibt, ist ein Sich-Abmühen mit dem Geröll drum herum, also mit etwas Unfestem und Nicht-Konstruiertem. Das bewegliche, ungeordnete Geröll, das den Boden unter den Füßen instabil macht, bei dem man ins Stolpern, ins Umkippen kommt, ist ein Bild der Bewegung des ‚Zerschreibens‘, in diesem Fall des ‚Zerschreibens‘ oder ‚Überschreibens‘ der mit dem locus amoenus verbundenen idyllischen Topoi.

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Vgl. Bayer: „Zur Sprache von Elfriede Jelineks Gier“, S. 271: „Jelinek gibt als Autorin zu erkennen, dass ihr angesichts der Realität, wie sie sie wahrnimmt, sicheres, eindeutiges, widerspruchsfreies Erzählen und Urteilen nicht mehr möglich ist; Autorin, Erzählerin und Erzählung passen insofern also durchaus zusammen“; und Konstanze Fliedl äußert über die in der Nobelpreisrede angesprochene Poetologie: „Die Aporie, dass noch die emphatischste Beschreibung eines Opfers dessen Opferstatus befestigt, wird hier zum Ausgangspunkt einer Reflexion, welche auf alles verzichtet hat, was noch eine erkenntnistheoretische Superiorität des Schreibenden begründen könnte“, Fliedl, Konstanze: „Im Abseits. Elfriede Jelineks Nobelpreisrede“. In: Elfriede Jelinek. Sprache, Geschlecht und Herrschaft. Hg. v. Françoise Rétif u. Johann Sonnleitner. Würzburg 2008, S. 19–31, Zitat S. 24.

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W. G. Sebalds verstörende Idyllen in seiner Dichtung und seinem Prosawerk ELENA AGAZZI Mit dem Namen W. G. Sebald (1944–2001) verbindet man gewöhnlich das Thema der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sowie eine melancholische Weltsicht,1 die sich auf seine Beschäftigung mit Walter Benjamins theoretischen Schriften und den in den siebziger Jahren im Mittelpunkt der Debatten stehenden Klassikern der Psychoanalyse und der Anthropologie (in erster Linie Sigmund Freud, Claude Lévi-Strauss und Michel Foucault)2 zurückführen lässt. Sämtliche Studien aus seiner Jugendzeit, von der Monografie Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära (1969)3 bis zu Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins (1980),4 stehen außerdem unter dem starken Einfluss der Frankfurter Schule, insbesondere der von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung geäußerten Kritik am kapitalistisch-technologischen Fortschritt der westlichen Welt. Im Konzept einer Naturgeschichte der Zerstörung, das Sebald 1997 in seinen Vorlesungen darlegt,5 tritt Adornos Vorstellung, der zufolge der Zivilisationsprozess vom fatalen Prinzip der ‚Äquivalenz‘ _____________   1

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Vgl. u. a. Mosbach, Bettina: Figurationen der Katastrophe. Ästhetische Verfahren in W. G. Sebalds ,Die Ringe des Saturn‘ und ,Austerlitz‘. Bielefeld 2008; Jonathan J. Long gibt ausführliche Informationen über die Forschung zu Sebalds Werk in: „W. G. Sebald. A Bibliographical Essay on Current Research“. In: W. G. Sebald and the Writing of History. Hg. v. Jonathan J. Long u. Anne Fuchs. Würzburg 2007, S. 11–29. Vgl. zu Sebalds Rezeption von Foucaults Werk: Long, Jonathan J.: „Disziplin und Geständnis. Ansätze zu einer Foucaultschen Sebald-Lektüre“. In: W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Hg. v. Michael Niehaus u. Claudia Öhlschläger. Berlin 2006, S. 219–239. Sebald, W. G.: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära. Stuttgart 1969; vgl. dazu Durzak, Manfred: „Sebald – der unduldsame Kritiker. Zu seinen literarischen Polemiken gegen Sternheim und Andersch“. In: W. G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing. Hg. v. Gerhard Fischer. Amsterdam, New York 2009, S. 435–445. Sebald, W. G.: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins. Stuttgart 1980. Die Züricher Vorlesungen finden sich in: Sebald, W. G.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München, Wien 1999.

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beherrscht sei, klarer zutage. Dieses Prinzip äußert sich bekanntlich darin, dass jeder Schritt in Richtung auf die Erlangung einer vernunftgemäßen Autonomie mit einer zunehmenden Repression bezahlt wird, die einerseits die herrschenden Schichten auf die Gesellschaft ausüben, die andererseits aber auch vom Individuum sich selbst gegenüber ausgeübt wird. Adornos und Horkheimers Argumentation hat die Beobachtung der verschiedenen Erscheinungsformen der Selbstdisziplinierung zum Ausgangspunkt. Diese gestatten es dem Menschen, sich den alten Ritualen zu entziehen, um eine moderne Form der Organisation ausbilden zu können. Angesichts der repressiven Verfasstheit der äußeren Welt ist das Anpassungsvermögen des Subjekts jedoch einem Degenerationsprozess ausgesetzt, schlimmer noch: Er kehrt sich gegen das Subjekt selbst. Vom Geist der Selbsterhaltung getrieben, bildet es regressive Handlungsmuster aus, die offen aggressive Züge wie beispielsweise den Antisemitismus anzunehmen vermögen. Hieraus entspringt Sebalds eigene Reflexion über die Shoah und die Notwendigkeit, auch nach Auschwitz literarisch tätig zu sein.6 Dabei übernimmt er die Aufgabe eines Vergleichs mit dem kulturellen Gedächtnis, wobei er dem tragischen Register der Trauer die ganze Leichtigkeit seines eigenen Erzählmodells gegenüberstellt. Die Suche nach dieser Leichtigkeit geht bereits aus seinen ersten kritischen Texten hervor; vor allem in der Verurteilung der Monumentalisierung der epischen Handlung im Werk Alfred Döblins zeigt sich dies,7 in der Sebald dem Berliner Autor eine selbstgefällige Haltung bei der Darstellung der Katastrophe unterstellt. Odysseus, der, wie in der Dialektik der Aufklärung zu lesen ist, sich auf der Insel der Lotophagen nicht vom Vergessen umgarnen lässt, das ihm seinen freien Willen geraubt hätte, ist Sebalds Modell sehr dienlich. Denn durch seinen Verzicht auf die Glückseligkeit am Zufluchtsort einer fiktiven Welt (in diesem Fall die des Romans oder des apokalyptischen Epos) versucht er, sich zugunsten einer für die ganze Gesellschaft moralisch vorteilhaften Mission zu engagieren, indem er mit einer historischen Dokumentation arbeitet, die mit einer stark reflexiven Prosa verwoben ist. _____________   6

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Vgl. u. a. Dunker, Axel: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München 2003; Fuchs, Anne: Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebald. Köln u. a. 2004; Denham, Scott u. Mark Mc Culloh (Hg.): W. G. Sebald. History-Memory-Trauma. Berlin 2006; Holdenried, Michaela: „Zeugen – Spuren – Erinnerung. Zum intertextuellen Resonanzraum in der Literatur jüdischer Überlebender. Jean Améry und W. G. Sebald“. In: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. Autobiographisches Schreiben in der deutschen Gegenwartsliteratur, Bd. 2. Hg. v. Christoph Parry u. Edgar Platen. München 2007, S. 74–85. Vgl. Sebald, W. G.: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins, S. 46f. u. 138f.

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Obgleich das erzählerische und theoretische Werk des 2001 vorzeitig verstorbenen Schriftstellers in den letzten fünfzehn Jahren zur Genüge behandelt worden ist, wurden erst in den jüngsten Studien die äußerst zahlreichen intertextuellen Bezugnahmen seiner Werke aufgegeben, um auf der Grundlage der am häufigsten wiederkehrenden Motive die Schritte einer soliden poetischen Methodologie nachvollziehen zu können. Ben Hutchinsons Studie, W. G. Sebald – Die dialektische Imagination (2009),8 unterscheidet sich von den ihr vorausgehenden Monografien durch das Beharren auf der Dimension einer ‚ethischen Ästhetik‘, die über Sebalds Verbundenheit mit dem kritischen Gedankengut der Frankfurter Schule Aufschluss gibt. Diese versucht, eine ideologisch konstruktive Antwort auf die tief desillusionierende Atmosphäre zu finden, die das Werk des Germanisten beherrscht. Dazu bedarf es einer aufmerksameren Lektüre von Sebalds Essays, die längere Zeit nur selten analysiert worden sind: Es sei hier vor allem auf die in den Bänden Die Beschreibung des Unglücks (1985) und Unheimliche Heimat (1991) publizierten germanistischen Aufsätze verwiesen; außerdem auf den Band Logis in einem Landhaus (1998), in dem sich Sebald mit der Literatur des 19. Jahrhunderts auseinandersetzt, sowie auf einige in seinen letzten Lebensjahren verfasste Schriften über Korsika. Der Zusammenhang zwischen Hutchinsons Schlüssel zur Interpretation und dem Thema dieses Beitrages ergibt sich aus zwei Elementen: der Poetik der Leichtigkeit9 und dem Konzept der Miniatur.10 Auch scheint es angebracht, einige Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen zu berücksichtigen, die die Natur ins Blickfeld rücken: vor allem jene Beispiele aus Logis in einem Landhaus, die die ländliche Gegend und die Gebirgslandschaft thematisieren. Darüber hinaus wären ebenso Bezugnahmen zur Natur aus anderen Texten aufzugreifen, wie etwa aus seiner ersten Publikation im Jahr 1988, das Gedicht Nach der Natur. Diese stellen eine ästhetische Alternative zu den in der Prosa der neunziger Jahren zahlreich vorhandenen Schwarzweiß-Fotografien in Sebalds Werken dar. Solche beziehen sich auf eine durchaus elegischere als auf eine idyllische Dimension und halten – privaten oder öffentlichen Archiven entnommen – kurze Momentaufnahmen aus dem Leben, Übergangsorte oder Ziele von Pilgerschaften fest. _____________   8

9 10

Hutchinson, Ben: W. G. Sebald – Die dialektische Imagination. Berlin, New York 2009. Ich weise auch auf eine andere Monografie hin, die Sebalds Bezug zur Frankfurter Schule und zu Benjamins Œuvre stark berücksichtigt: Seitz, Stephan: Geschichte als Bricolage – W. G. Sebald und die Poetik des Bastelns. Göttingen 2011, insbes. Kapitel 1, S. 31–59. Vgl. Hutchinson, Ben: W. G. Sebald – Die dialektische Imagination, S. 145–158. Vgl. ebd., S. 158–162.

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I. Das Gedicht der Natur nach der Natur In seinem ‚Elementargedicht‘ Nach der Natur (1988),11 das sich mit der von Vitus Bering geleiteten Alaska-Expedition im Jahr 1741 befasst, eröffnen die von Bering dem Entdecker Wilhelm Steller zugestandenen zehn Stunden zur Durchführung einer wissenschaftlichen Erkundung in Alaska einen tief gehenden Einblick. Der graue Vorhang der düsteren Vorhersagen, der über den Schiffen Sankt Petrus und Sankt Paulus hing, wird zerrissen. Von Anfang an befinden sich diese Schiffe auf der Suche nach dem legendären Land von Joao de Gama, das nach Ansicht des Astronomen der Akademie von Sankt Petersburg, Joseph-Nicolas Delisle, im Nordpazifik liegen musste. Die Expedition verlief nicht reibungslos. Am 20.6.1741 brach der Kontakt zwischen den beiden Schiffen ab und sie setzten ihre Reise getrennt voneinander fort. Auf der Rückreise wurde eines der beiden Schiffe von einem Hurrikan erfasst und strandete schließlich auf einer Insel, die daraufhin nach Bering benannt wurde. Der Mangel an Süßwasser und Nahrungsmitteln ließ die Besatzung erkranken, die größtenteils an Skorbut starb. Bering selbst verstarb jämmerlich am 19.12.1741. Wie der Heilige Franziskus wird Steller von wilden Tieren umringt, wobei er sich in der Dunkelheit fast lautlos fortbewegt. Obgleich ihn das Verlangen nach einem noch tieferen Vordringen in diese wilden Gebiete gepackt hat, wird es von der Vernunft gezügelt, oder wie Sebald schreibt, von den „Konstruktionen/ der Wissenschaft in seinem Kopf,/ ausgerichtet auf eine Verringerung/ der Unordnung in der Welt“.12 Aber er kann auch das Glück der Entdeckung einfacher Utensilien genießen und sie als kostbare Fundstücke der noch wenig bekannten Gemeinschaft, Bewohner der Aleuten, sammeln. Als Forscher ist er bestrebt, sämtliche Gegenstände aufzubewahren, die der Dokumentation von Sitten und Gebräuchen der im Eis lebenden Völker dienlich sein könnten. Dieser Drang ist so stark, dass er, der Überlebende des schrecklichen Hurrikans und der Krankheit, durch die ein Großteil der Besatzung elendig ums Leben gekommen war, noch sechs Jahre nach der Unternehmung und in Erwartung seiner Rückkehr nach Sankt Petersburg das unstillbare Verlangen verspürt, sich wieder in die Weite Sibiriens zu begeben. Sebald schreibt: Memoranda zur Verteidigung/ der von der Marinekommandantur in Bolscheretsk/ malträtierten und in ihrem Recht verkürzten/ eingeborenen Stämme, was dazu führt,/ daß ein Brief gegen ihn ausgestellt wird,/ daß Verhöre stattfinden,/

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Sebald, W. G.: Nach der Natur. Ein Elementargedicht. Frankfurt a.M. 32004. Ebd., S. 64.

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daß sich Mißverständnisse ergeben,/daß Verhaftungen erfolgen und daß Steller/ jetzt vollends den Unterschied begreift/ zwischen Natur und Gesellschaft.13

In diesem Gedicht schildert Sebald den Traum von der wiederhergestellten privilegierten Beziehung zur Natur, den sich nur die Völker zu bewahren vermögen, die kein politisch-wirtschaftliches Verhältnis zu den hegemonialen Staaten pflegen. Auch der in Abschnitt XII des Gedichts erwähnte Adelbert von Chamisso hat später mit dem Schiff Rurik (ausgelaufen am 30.7.1815) Stellers Ziele aufgesucht, wobei er auch seinen eigenen Wissenshorizont an den Atlantik- und Pazifikküsten während seiner dreijährigen Expedition erweitert hat. In seiner Reise um die Welt führt er ideell einen Dialog mit den Schriften Jean-Jacques Rousseaus, dem er vorwirft, er habe nicht recht zwischen einfachen und komplexen Gemeinschaften zu unterscheiden gewusst und auf die Umsetzung pädagogischerzieherischer Modelle der Zivilgesellschaft gebaut, die doch nur auf die bürgerliche Kultur der westlichen Gesellschaft anwendbar seien.14 Laut Sebald fühlen sich Steller und Chamisso nicht so sehr vom exotischen Fremden angezogen; beide sehnen sich vielmehr nach vermeintlich ursprünglichen ‚idyllischen‘ Orten: Walfische umkreisten/ das Schiff und sprühten/ in allen Richtungen des Gesichtskreises/ Wasserfontänen hoch in die Luft./ Chamisso, der später mit der Romanzoffischen Entdeckungs-Expedition dasselbe/ Riesengemälde bestaunte, trug sich dabei/ mit dem Gedanken, daß man diese Tiere/ vielleicht zähmen und – nicht anders als Gänse/ auf einem Brachfeld – auf dem Meer/ sozusagen mit einer Gerte würde treiben können.15

Während man auf der Schwelle zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert allmählich wahrnimmt, wie das Diktat der Zeit um sich greift und dem Raum das Recht nimmt, sich als eine Dimension zu legitimieren, die die Beschleunigung der Zivilisationsprozesse noch umgehen kann, weist Sebald darauf hin, dass Chamisso seine eigene Reflexion über jene ungewöhnliche Art der „Viehzucht“ mit dem Bild „von der Dampfmaschine/ als dem ersten aus den Händen/ des Menschen hervorgegangenen/ warmblütigen Tier“16 eingeleitet habe.

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Ebd., S. 70. Chamisso, Adelbert von: Reise um die Welt. Berlin 31985. Sebald, W. G.: Nach der Natur. Ein Elementargedicht, S. 52. Ebd., S. 53.

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II. Wanderung und Poetik der Leichtigkeit In ihrem Kommentar zur Poetik der Idylle bei Johann Wolfgang Goethe verweist Renate Böschenstein-Schäfer auf die Figur des Wanderers. Diese liefert die perspektivische Position, von der aus Sebald stets in seinen Prosawerken die Erzählung von Geschichten vornimmt, wobei er in dieser Figur ein Alter Ego seiner selbst sieht: [Bei Goethe] entsteht ein Bild der vossischen Welt, der von ihm dargestellten ‚Zustände‘, um ein in allen drei Rezensionen [zu den Gedichtsammlungen von Voss, Hebel und dem Nürnberger Dialektdichter Grübel] auftauchendes Lieblingswort Goethes zu gebrauchen. Bedeutsam für Goethes Verständnis der Idylle ist es, daß diese Skizze in der Frage endet, ob nicht dieses heitere Leben ‚öfter von außen bestürmt, verletzt und zu leidenschaftlicher Bewegung aufgeregt‘ werde. Im Falle Vossens findet sich die Bedrohung in der Auseinandersetzung seines freiheitlich-aufklärerischen Geistes mit der starren Umwelt. Zugleich sind solche Schatten aber eine Konstante von Goethes Auffassung der Idylle, die deren Zerstörung stets einzuschließen scheint […]. Das Vertrauen auf eine Natur, welche die Zerstörung überwindet, in ihrer Gleichgültigkeit aber auch erschreckt, verschlingt die Pole von Goethes Leben: er selbst verweist auf das dem gleichen Motiv gewidmete Jugendgedicht: ‚Der Wanderer‘ (1772).17

Der Wanderer zeigt Freude über die unverhoffte Entdeckung antiker Ruinen, aber auch Verwunderung über den Zustand der Relikte und die ungebrochene Kraft der Natur. Gleichzeitig wird an die in der ersten Ekloge Vergils artikulierte Weigerung des verbannten Meliboeus erinnert, die Nacht bei Tityrus, dem mit einem glücklicheren Schicksal gesegneten Schäfer, zu verbringen. Der Abschied von Goethes Wanderer stellt sich als Anliegen dar, den Weg fortzusetzen, heimzukehren und die Erinnerung an eine große untergegangene Epoche, von der nur noch Ruinen geblieben sind, zu bewahren. Es ist der Wunsch erkennbar, nicht der nördlichen Kälte, wohl aber der angenehmen Wärme seiner eigenen Hütte zu begegnen. Die Ablehnung der Gastfreundschaft seitens Meliboeus ist von der Angst des kleinen Landbauern gekennzeichnet, der um seine eigenen Felder gebracht wurde. Die Haltung des Wanderers entspringt einer Sehnsucht, welche weitgehend Homers Begriff des Nostos ähnelt. In Sebalds Gesamtkonzept nimmt der Wanderer verschiedene Konnotationen an: Wie bereits erwähnt, ist er hauptsächlich ein Alter Ego des Schriftstellers, das einigen Weggefährten die Gelegenheit bietet, durch Erzählen den Rahmen der unterschiedlichsten historischen Ereignisse, bei denen sich das Leben entwirrt, zu vergegenwärtigen. Aber auch diejenigen _____________   17

Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 21977.

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Personen sind Wanderer, die sich als Exilanten verstehen, sei es um einer besseren Zukunft willen, sei es um politischer Verfolgung zu entkommen – die ‚Ausgewanderten‘ eben, wie der Titel des Werks von 1992 verrät. Wanderer sind darüber hinaus jene, die sich zur Flucht in eine Art Parallelwelt veranlasst sehen, in der die Bezugnahmen zu den gewöhnlichen räumlich-zeitlichen Koordinaten fremd erscheinen. Bei Letzteren wird das Vergessen der Realität durch eine zufriedenstellende Selbstverwirklichung im künstlerischen Bereich kompensiert. Unter den Schriftstellern dieser Art seien Robert Walser und der österreichische Dichter Ernst Herbeck, der Künstler und Sebalds Freund Jan Peter Tripp, ein Meister des effet du réel,18 angeführt. Die Typologien des Wanderers indessen, die in Logis in einem Landhaus vorkommen, sind Ausdruck einer Epoche, die sich vom laus ruris des 18. Jahrhunderts an bis zur ‚Dorfgeschichte‘ des Realismus erstreckt: Hier resultiert die Suche nach einer ‚ländlichen Heimat‘ nunmehr aus der Konfrontation mit einer von den zeit- und sozialhistorischen Rahmenbedingungen tiefgreifend veränderten Realität. Es werden Orte herbeigesehnt, die vor den historischen und politischen Umwälzungen Schutz bieten. Dieser Dimension sind beispielsweise auch die Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel zuzuordnen, ferner etwa Eduard Mörikes lyrische und prosaische Texte aus dem Biedermeier, die zwei Versionen des Grünen Heinrich von Gottfried Keller sowie die Werke von Adalbert Stifter. Rousseau rückt im zweiten Kapitel von Logis in das Blickfeld. Er erhofft sich, auf der Insel Saint-Pierre am Bieler See Asyl zu finden, um dort die ihn bedrückenden Sorgen vergessen zu können: Diese betreffen in erster Linie die Verurteilung wegen umstürzlerischen Gedankengutes und die in Paris beschlossene Konfiszierung seines pädagogischen Werkes Émile. Der Ich-Erzähler versucht, die Erfahrung der Rousseau’schen Idylle voll und ganz zu erfassen, indem er sich an den Ort begibt, an dem sich der Philosoph 1765 aufhielt und nun Logis nimmt. In dem Bewusstsein, dass sich der Versuch, den Zauber dieses Ortes noch einmal zu erleben, als schmerzliche Illusion erweisen könnte, beschwört der Wanderer jedoch demokratische Ideale herauf, die dann in der nach dem Aufstand von 1830 stattfindenden Suche der polnischen Rebellen nach einem Landeplatz auf dieser Insel relevant werden: Und als zwanzig Jahre später, nach der gewaltsamen Niederwerfung ihres Aufstands, die Polen in die Schweiz kamen, wurde die Insel mehr als einmal zum Versammlungsort, an dem die von vielen bewunderten Flüchtlinge und die mit

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Vgl. Ohlschläger, Claudia: Beschädigtes Leben. Erzählte Risse. W. G. Sebalds poetische Ordnung des Unglücks. Freiburg 2006.

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ihnen sympathisierenden Liberalen Gedenkfeiern veranstalteten für die im Kampf um die Freiheit Gefallenen.19

Auch wenn die Freude Rousseaus über seinen schönen Zufluchtsort, seine programmatische Suche nach Ablenkung – etwa beim Botanisieren, beim gedankenverlorenen Dahindümpeln auf den Wogen des Sees oder bei der müßig-kontemplativen Betrachtung des Himmels – zentral ist, verfasst Rousseau in dieser Zeit das Projet de constitution pour la Corse: Die Zufluchtsinsel beweist sich als ein Ort, wo die politische Leidenschaft für eine andere Insel thematisiert werden kann. Aber konkreter, wie der Ich-Erzähler anführt, [sah] er in Korsika die Möglichkeit zur Verwirklichung einer Ordnung, die die Übel der Gesellschaft, in der er sich gefangen fühlte, vermied. Seine Abneigung gegen die städtische Zivilisation bewog ihn, den Korsen den Landbau als die einzige Grundlage für ein wahrhaft gutes und freies Leben vorzustellen […]. Darüber hinaus empfahl Rousseau den Korsen (während Paoli in Corte eine eigene Münze schon einrichtete) die Abschaffung der Geldwirtschaft zugunsten des Gütertauschs. Das Ganze auf der Peterinsel umrissene Korsikaprojekt ist somit ein Traum, in welchem der immer mehr auf Warenproduktion, Handel und die Akkumulation von Privateigentum sich ausrichtenden bürgerlichen Gesellschaft in Europa die Rückkehr in unschuldigere Zeiten verheißen wird.20

Hier ist die Resonanz von Theodor W. Adornos Überlegungen in seinem Aufsatz Die Wirtschaftskrise als Idyll nicht zu übersehen,21 wobei „die idyllische Dimension sich auf ihr Gegenteil zu stützen scheint, fast als ob ihre schützende Hülle jederzeit durch irgendein im Hintergrund drohendes Unwetter zerreißen könnte“.22 Wenn Sebald das ‚Schreiben‘ als eine stets weiter sich forttreibende Zwangshandlung Rousseaus begreift, gesteht er – eine Diagnose Jean Starobinskis über die Persönlichkeit des französischen Philosophen zitierend23 – ihm implizit die beiden Seelen zu, die Walter Benjamin in seinem Aufsatz von 1932 über Nikolai Leskow dem Erzähler zuschreibt:24 die des sesshaften Ackerbauern und die sich stets in Bewe_____________   19

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Sebald, W. G.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. Frankfurt a.M. 42003, S. 48. Zu diesem Essay-Band vgl. Agazzi, Elena: „Spuren von Johann Peter Hebel und Ernst Bloch. W. G. Sebalds Logis in einem Landhaus“. In: Schwerpunkt W. G. Sebald. Hg. v. Paul Michael Lützeler u. Stephan Schindler. Tübingen 2007, S. 91–117. Sebald, W. G.: Logis in einem Landhaus, S. 59. Adorno, Theodor W.: „Wirtschaftskrise als Idyll“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11. Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1974, S. 637–639. Vivarelli, Vivetta: „Idillio e sconfinamento in Goethe, Hölderlin e Jean Paul“. In: Idillio e anti-idillio nella letteratura tedesca moderna. Hg. v. Rita Svandrlik. Bari 2002, S. 41–82, Zitat S. 45. Vgl. Sebald, W. G.: Logis in einem Landhaus, S. 61–62. Vgl. Benjamin, Walter: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1977, S. 385–410.

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gung befindliche Seele des Seemanns. Letzteres könnte hier auf den Wanderer zutreffen. Beiden Erzählern obliege die Aufgabe, zu verhindern, dass die ‚epische Seite der Wahrheit, die Weisheit‘ – so Benjamin – sich erschöpfe. Rousseaus ‚unterbrochene‘ Idylle hängt von jenem ständig in Bewegung befindlichen inneren Räderwerk des Intellekts ab, das einen Schriftsteller unentwegt dazu antreibt, seine ganze Energie aufzubringen, auch in der Stunde der größten Niederlage vor der Realität (sei diese moralisch, geistig oder körperlich sowie als letzte Stunde vor dem Tod), und diese Niederlage in einen Vorteil umzukehren. Daher zeigt sich bei Rousseau, der die Entwicklung vorausahnt, die ihn in eine noch sorgenschwerere Phase bringt, Müßiggang im Zusammenspiel mit Augenblicken der Freude nur zum Schein. Benjamin versichert, dass der Erzähler seine Autorität gerade aus dem Sinn für das Ende schöpft. Denn diese stimmt mit der ‚Naturgeschichte‘ überein, in der seine Geschichten angesiedelt sind, die zu erzählen er verpflichtet ist, um das Gedächtnis der Vergangenheit zu ehren und die Erzähltradition fortzuführen. Das von Benjamin angeführte Beispiel ist Unverhofftes Wiedersehen (1811),25 eine Kalendergeschichte von Hebel, in der die Mikrogeschichte vom zufälligen Tod eines jungen Bergmanns am Vorabend seiner Hochzeit innerhalb der Chronik der Geschichte Europas im 18. und 19. Jahrhundert angesiedelt ist. Dadurch kreiert Hebel eine Art Monade, die ein Universum von Ereignissen widerspiegelt, in welchem Raum und Zeit so weit wie möglich zusammengezogen sind. An die Einteilung der Zeit denkt der Tod, wie eine jener Figuren mit der Sichel, die zur vorgesehenen Stunde erscheinen und sich um die Uhr der Kathedrale drehen.26 Ben Hutchinson erläutert zutreffend: Der Begriff [Naturgeschichte] bildet also ein breiteres Verständnis des benjaminischen ‚Todesgedankens‘, als die Reduzierung auf die spezifischen Umstände des Holocausts erahnen ließe: In der Zusammensetzung der animalischen ‚Natur‘ (oder nature morte) und der ‚menschlichen‘ Geschichte kommen sowohl ein barockes memento mori als auch eine implizite Kritik am Fortschrittsglauben der Aufklärung zum Ausdruck. Denn ,Natur‘ kann man sowohl physiologisch als auch psychologisch verstehen: Die Hoffnung auf ‚Fortschritt‘ wird immer wieder von der ‚Natur‘ des Menschen unterminiert, von seiner Sterblichkeit aber auch von seiner Bosheit, von seiner Neigung zur Selbstzerstörung.27

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Hebel, Johann Peter: „Unverhofftes Wiedersehen“. In: Ders.: Kalendergeschichten. Hg. v. Ernst Bloch. Frankfurt a.M. 1973, S. 72–75. Vgl. Benjamin, Walter: „Der Erzähler“, S. 397. Hutchinson, Ben: W. G. Sebald – Die dialektische Imagination, S. 39; mit Hinweis auf Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1969, S. 19.

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Sebald besteht auf der Beziehung zwischen der idyllischen Dimension, von der Rousseau ganz eingenommen ist – einer Dimension, ‚in der man alles vergißt, auch sich selber‘ –, und der Verbindung zwischen der ‚vollkommsten Rheinheit der Landschaft‘ und der ‚seelischen Transparenz‘ seiner Persönlichkeit, die nach Starobinski den charakteristischen modernen autobiographischen Stil des französischen Philosophen darstellt. Dem Ideal der Transparenz folgend, sehe Rousseau im Kristall die perfekte Synthese der drei Reiche der Natur und lote darüber hinaus das Geheimnis der intimen Komposition aus – wie den ‚Körper im Reinzustand‘ oder die ‚erstarrte Seele‘, worüber Rousseaus Institutions Chimiques (1746) Aufschluss geben. Sebald, der den Philosophen zitiert, hat leichtes Spiel bei dem ideellen Verweis auf seine bevorzugte Kalendergeschichte, nämlich Unverhofftes Wiedersehen, wo der Bräutigam fünfzig Jahre nach dem Einsturz der Mine konserviert durch Vitriol wieder aufgefunden wird. Signifikant sind in diesem Zusammenhang auch Geschichten wie jene, die Napoleon gewidmet sind. Rousseaus mikroskopische Aufmerksamkeit gegenüber der Natur, die sich in Biel auch im Interesse für ein Herbarium konkretisiert, ist vergleichbar mit den Dispositionen anderer dilettantischer Naturalisten, die in Sebalds Büchern vorkommen: Alphonso Fitzpatrick, dessen Aquarellbilder mit fragmentarischen Zügen und verschwommenen Farben und dessen Leidenschaft für das Verhalten der Motten deutliche Anzeichen des Vergänglichen aufweisen (Austerlitz),28 oder Dr. Selwyn in den Ausgewanderten, der einen Großteil seiner Zeit im Kontakt mit der sein Haus umgebenden, verwilderten Natur verbringt und der sich in eine Ecke seines Gartens zurückzieht, die ihm zu einem Exil im Bereich seines eigenen Grundstücks wird. Die Situation, in der der Ich-Erzähler in Begleitung seiner Frau zum ersten Mal dieser Figur begegnet, ist vielsagend: Sprachlos betrachteten wir lange diese in abfallenden und ansteigenden Stufen den Blick in die Ferne ziehende Anlage und glaubten ganz allein zu sein, bis wir in dem Halbschatten, der von einer hohen Zeder in der südwestlichen Ecke des

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„Während der Schulferien besucht der junge Austerlitz mehrmals seinen Schulfreund Gerald Fitzpatrick [Neffe von Alphonso Fitzpatrick, E. A.]. In direktem Gegensatz zu Austerlitz’ eigener Kindheit bei den Zieheltern herrscht bei Gerald eine Atmosphäre von Harmonie, eine Art utopische Zeitlosigkeit. Und was diese Idylle kennzeichnet, ist eben eine Mischung der beiden Motive des ‚Kleinen‘ und des Fliegens, vereint vor allem in den Motten, Schmetterlingen und Vögeln, die von Geralds Familie gesammelt werden. (Motten und Schmetterlinge haben ihren eigenen Symbolismus im Werk Sebalds, nicht zuletzt, weil sie uralte Symbole der Verwandlung sind, indem sie sich von häßlichen Insekten des Bodens zu prächtigen Kreaturen der Luft verwandeln)“, Hutchinson, Ben: „Die Leichtigkeit der Schwermut. W. G. Sebalds ‚Kunst der Levitation‘“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 457–477, Zitat S. 471–472.

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Gartens auf den Rasen gebreitet wurde, eine regungslose Gestalt liegen sahen. Es war ein alter Mann, der den Kopf auf den angewinkelten Arm gestützt hatte und ganz versunken schien in den Anblick des Fleckchens Erde unmittelbar vor seinen Augen. Wir gingen quer über die Rasenfläche, die uns jeden unserer Schritte mit einer wunderbaren Leichtigkeit machen ließ, auf ihn zu. Aber erst als wir uns ihm bis auf weniges genährt hatten, bemerkte er uns und erhob sich nicht ohne eine gewisse Verlegenheit. Obzwar groß gewachsen und breit in den Schultern, wirkte er untersetzt, ja, man hätte sagen können, wie ein ganz kleiner Mensch.29

Wurde die Bergidylle, in die sich Selwyn als Jugendlicher während eines Aufenthaltes im Berner Oberland ein Jahr vor Ausbruch der Ersten Weltkrieges begeben hatte, um sich dem Bergsteigen zu widmen, durch den in dieser Dimension zeitlosen Konflikt erschüttert, so wird die scheinbare Ruhe, mit der er sich in seiner eigenen Wohnung umgeben hat, vom Selbstmord unterbrochen. Ob es sich nun um einen Diskurs über das schnelle Vergehen unbeschwerter Stunden oder um den Übergang der Idylle in die Elegie handelt, Sebald lässt im Grunde nie die Illusion einer gefällig-kontemplativen Hingabe an die Natur zu.30 Inwiefern in Sebalds emotionaler Sphäre das Vergessen und das Gedächtnis, die Leichtigkeit des Augenblicks und die Aufgabe des Festhaltens der Ereignisse und des Wiedererinnerns ein Palimpsest darstellen, auf dem sich eine Geschichte in die andere fügt, geht sehr deutlich aus den in Korsika gesammelten Eindrücken des Schriftstellers hervor, die folgendermaßen in Kleine Excursion nach Ajaccio geschildert werden: Es war ein schöner, strahlender Tag, die Zweige der Palmen auf der Place Maréchal-Foch bewegten sich leicht in einer vom Meer hereinkommenden Brise, im Hafen lag wie ein großer Eisberg ein schneeweißes Kreuzfahrtschiff, und ich wanderte in dem Gefühl, daß ich frei sei und ledig, in den Gassen herum […] versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich in einer dieser steinernen Burgen wohnte, bis an mein Lebensende mit nichts beschäftigt als dem Studium

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Sebald, W. G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt a.M. 62001, S. 10. Zur Beziehung zwischen Idylle und Elegie im Licht von Schillers Essay Über naive und sentimentalische Dichtung: vgl. Niehaus, Michael: „W. G. Sebalds sentimentalische Dichtung“. In: W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Hg. v. Michael Niehaus u. Claudia Öhlschläger. Berlin 2006, S. 173–187, Zitat S. 175f.: „Formale Voraussetzung für sentimentalische Dichtung ist, daß sich der Dichter – linguistisch gesprochen – als ‚Subjekt des ausgesagten Aussagevorganges‘ bemerkbar macht. Ex negativo zeigt sich der Modus sentimentalischer Dichtung, nämlich die Idylle, insofern es zu ihrem Wesen gehöre, ‚daß die Natur der Kunst und das Ideal der Wirklichkeit entgegen gesetzt werde‘. Nun kommt diese Entgegensetzung in der Idylle im Werk selbst aber nicht vor, da die Idylle ihrem Begriff nach eine Einheit präsentiert. Daher fährt Schiller fort: ‚Geschieht diese Entgegensetzung‚ auch nicht ausdrücklich von dem Dichter, und stellt er das Gemählde der unverdorbenen Natur oder des erfüllten Ideales rein und selbständig vor unseren Augen, so ist jener Gegensatz doch in seinem Herzen und wird sich, auch ohne seinen Willen, in jedem Pinselstrich verrathen“.

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der vergangenen und der vergehenden Zeit. Weil aber keiner von uns wirklich still nur für sich sein kann und wir alle immer etwas mehr oder weniger Sinnvolles vorhaben müssen, wurde das in mir aufgetauchte Wunschbild von ein paar letzten, an keinerlei Verpflichtung gebundenen Jahren bald schon verdrängt von dem Bedürfnis, den Nachmittag irgendwie auszufüllen, und so fand ich mich, kaum daß ich wußte, wie, in der Eingangshalle des Musée Fesch mit Notizbuch und Bleistift und einem Billet in der Hand.31

Einen Großteil der intellektuellen Energie seiner letzten Schaffensperiode verwendet Sebald auf seine Forschungen über die Kultur des korsischen Volkes, sei es um die mutige Verteidigung ihrer eigenen Autonomie zunächst gegen die Genoveser, dann gegen die Franzosen zur Geltung zu bringen, sei es um die Verbindung Napoleons, des ‚großen Verwüsters‘, zu seinem eigenen Herkunftsland zu erforschen.32 Korsika vermittelt dem Schriftsteller, der sich in den neunziger Jahren nach Piana und Ajaccio begibt, um Material über die lokalen Traditionen und die alltäglichen Gewohnheiten der Einwohner zu sammeln, ein „Gefühl der Befreiung“ und den Eindruck, über die „Kunst der Levitation“ zu verfügen.33 Summa summarum erscheint Hutchinsons Hypothese sehr überzeugend, der zufolge diese Schwindelgefühle, die den Ich-Erzähler oder seine Figuren überkommen, aus der Geschichte und der Erinnerung resultieren. In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass Sebald seine Kenntnisse über Jean Pauls Werke dahingehend instrumentalisiert, als er die Person von Maria Wutz mit der Figur seines Grundschullehrers Paul Bereyter verbindet,34 so wie er auch in anderen Texten eine Vielzahl an Bezügen zu verschiedenen Werken des Schriftstellers hergestellt hat. Bei seinem Bemühen, die Glückseligkeit mit der Vorstellung der Levitation in Verbindung zu bringen, hat er offensichtlich die Anspielung auf die Idylle aus dem Anfang vom Leben des Quintus Fixlein vor Augen: Ich konnte nie mehr als drei Wege, glücklicher (nicht glücklich) zu werden, auskundschaften. Der erste, der in die Höhe geht, ist: so weit über das ganze Gewölke des Lebens hinauszudringen, daß man die ganze äußere Welt mit ihren Wolfsgruben, Beinhäusern und Gewitterableitern von weitem unter seinen Füßen nur wie ein eingeschrumpftes Kindergärtchen liegen sieht. – Der zweite ist: – gerade herabzufallen ins Gärtchen und da sich so einheimisch in eine Furche einzunisten, daß, wenn man aus seinem warmen Lerchennest heraussieht, man ebenfalls

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Sebald, W. G.: „Kleine Exkursion nach Ajaccio“. In: Ders.: Campo Santo. Hg. v. Sven Meyer. München, Wien 2003, S. 7–18, Zitat S. 7f. Dazu sei verwiesen auf meinen Aufsatz: „Riti antichi e persistenza del passato. Il percorso interrotto nell’opera-testamento Campo Santo di W. G. Sebald“. In: W. G. Sebald. Storia della distruzione e memoria letteraria. Hg. v. Walter Busch. Rom 2005, S. 145–161. Sebald, W. G.: „Campo Santo“. In: Ders.: Campo Santo. Hg. v. Sven Meyer. München, Wien 2003, S. 19–38, Zitat S. 20f. Vgl. Sebald, W. G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, S. 39–93.

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keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren erblickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und Regenschirm ist. – Der dritte endlich – den ich für den schwersten und klügsten halte – ist der, mit den beiden andern zu wechseln.35

Allein die teleskopische und die mikroskopische Perspektive garantieren anscheinend die Glückseligkeit, denn wenn man sie wählt, entfernt man sich von den Feindseligkeiten seinesgleichen (Wolfsgruben), von der Angst vor dem Tod (Beinhäuser) und den Naturgewalten (Blitzableitern).

III. Die ‚kleine Dimension‘ als seelischer Zufluchtsort Jean Pauls bekannter Ausdruck aus der Vorschule der Ästhetik, wonach sich die Idylle als „Vollglück in der Beschränkung zeige“,36 ist, wie schon erwähnt, am besten in der Darstellung der handwerklichen Arbeit an den Texten, einer regelrechten ‚Bastelei‘ umgesetzt, die sich auf das literarische Schaffen Robert Walsers bezieht. Dennoch ist Walser in allzu weiter Ferne von den Stereotypen der Heimatliteratur von einer anthropologischen Universalität beflügelt, die die Bewunderer der landschaftlichen Schönheiten und der moralischen Tugenden seiner Heimat nicht kennen […]. Falls man den unterschiedlichen Tonarten in seinem Bericht des Wanderers Gehör schenkt,

– womit Sebald sich hauptsächlich in Logis beschäftigt – „so hört man auch schrille Akkorde heraus, wenn nicht gar schmerzvolle Noten“.37 Sebald assoziiert die Figur Walser nur am Rande mit der Idylle und dem privilegierten Zugang zur Natur. Dabei spielt er das Moment einer seltsamen Ähnlichkeit aus, die er auf den Fotografien des alten Schriftstellers mit der des Großvaters entdeckt, der im selben Jahr, 1956, verstorben ist; ihre gemeinsame Gewohnheit, lange Spaziergänge im Gebirge zu machen, scheint diese Ähnlichkeit zu bestätigen. Der Rückzug von der Konditionierung des gesellschaftlichen Lebens muss durch eine Façon des Schreibens kompensiert werden, die Sprache und Stil in eine Art Arabeske und die Form der Kurzprosa in eine obsessive Erkundung der phänomenologischen Wirklichkeit wandelt. Hier sind die Anzeichen einer geistigen _____________   35 36 37

Jean Paul: „Leben des Quintus Fixlein“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. 1. Erzählende und theoretische Werke, Bd. 4. Kleinere erzählende Schriften 1796–1801. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt a.M. 21996, S. 7–259, Zitat S. 10. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. 1. Erzählende und theoretische Werke, Bd. 5. Vorschule der Ästhetik, Levana oder Erziehlehre, Politische Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt a.M. 21996, S. 7–456, Zitat S. 260. Beretta, Stefano: Una sorta di racconto. La scrittura poetica e l’itinerario dell’esperienza di Robert Walser. Pasian di Prato 2008, S. 22.

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Umnachtung erkennbar, von denen Walser in den dreißiger Jahren befallen wurde, als man ihn mit der Diagnose der Schizophrenie in eine psychiatrische Klinik einwies. Sebald skizziert Walsers Persönlichkeit wie folgt: Sein Ideal war die Überwindung der Gravitation. Darum hielt er nichts von den großen Tönen, mit denen damals die von ihm sogenannten ‚Dilettanten der äußersten Linken‘ die Revolution in der Kunst inszenierten. Er ist kein expressionistischer Visionär, der den Weltuntergang prophezeit, sondern […] ein Hellseher im Kleinen. Von seinen ersten Versuchen an steht ihm der Sinn nach einer möglichst radikalen Minimalisierung und Abbreviatur beziehungsweise danach, eine Erzählung hinzulegen in einem einzigen, von keinem Zögern unterbrochenen Schwung […]. Das spielerische, bisweilen auch verbohrte Auspinseln absonderlicher Details gehört zu den auffälligsten Eigenheiten der Walserschen Sprache.38

„Walsers Figuren“, schreibt Benjamin in einem ihm gewidmeten kurzen Aufsatz, „sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreißenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit bleiben“.39 Die Wahl der kleinen Form stellt bei Walser – wie auch bei Hebel oder Mörike – ein Moment dar, das die Fragwürdigkeit der kausalen Zusammenhänge zum Vorschein bringt, indem die Ebenen der erwarteten und unvorhergesehenen Situationen sich vermischen. Auch Ernst Bloch hat zur Bekräftigung der Vorstellung beigetragen, dass der Erzählablauf in der Selbstgenügsamkeit der kleinen Form fokussiert werden könne.40 Die Theorie vom Riss in der Oberfläche wendet Sebald auch auf die Kunst von Jan Peter Tripp an, auf den sich das letzte Porträt von Logis bezieht. Während er im Jahr 1973 einige Monate in der psychiatrischen Klinik Weissenau bei Ravensburg verbringen musste, gibt Tripp noch unter dem Einfluss des Surrealismus, des phantastischen Realismus und Fotorealismus seinen bisherigen Stil auf und wendet sich dem Genre des Stilllebens und den Techniken des Trompe-l’œil zu. Der Realismus seiner künstlerischen Objekte – Porträts, Fauna und Flora, einzelne Naturelemente, Gegenstände – ist keinesfalls der Ausdruck eines Zusammentreffens zwischen Kunst und Natur, sondern verweist mit nur geringer Relativierung auf die Erfahrung, den Lebenszyklus, in den alles eingefügt ist, und auf die Nähe des Lebewesens zum Tod. Sebald bedient sich des kritischen Zitats von Benjamin in Bezug auf Walsers Schreibstil: „Je länger ich die Bilder Jan Peter Tripps betrachte, desto mehr begreife ich, daß sich _____________   38 39 40

Sebald, W. G.: Logis in einem Landhaus, S. 141f. Benjamin, Walter: „Robert Walser“. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1977, S. 349–352, Zitat S. 351. Vgl. Bloch, Ernst: Spuren. Hg. v. Paul Cassirer. Frankfurt a.M. 1969, S. 60.

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hinter dem Illusionismus der Oberfläche eine furchterregende Tiefe verbirgt. Sie ist sozusagen das metaphysische Unterfutter der Realität“.41 Für Momente sind die Dinge der Zeit und dem Fluss der Geschichte enthoben, aber die sie umgebende Aura nimmt doch wieder die Erinnerung an frohe oder traurige Stunden auf. In Logis in einem Landhaus kommen wenige Fotografien vor, dafür aber einige Bilder vom Land, von Seen- und Gebirgslandschaften, einige künstlerische Stiche und Handzeichnungen der in dieser Galerie literarischer Porträts vertretenen Schriftsteller. Das ungewöhnliche Vorkommen von farbigen Bildern in Sebalds Büchern enthüllt das amateurhafte Gefallen am Landschaftsbild als Ergebnis der Inspiration durch nicht besonders bekannte Künstler. Der Genuss kontemplativ verbrachter Zeit wird somit greifbarer, da er nicht über das Klischee eines bekannten und vielfach reproduzierten Werkes generiert wird. Dadurch entsteht zwischen der Landschaft und dem Auge des Lesers ein besonders intimes Verhältnis. Eine dieser Landschaften versetzt den Betrachter indessen besonders in Erstaunen. Wie Sebald erzählt, handelt es sich um ein Aquarell von Gottfried Keller – Ideale Baumlandschaft von 1849 –, das Keller einer der von ihm geliebten Frauen schenkte, obwohl seine Gefühle nicht erwidert wurden. Die Geschichte der psychisch kranken Schauspielerin Johanna Knapp, die ein Landschaftsbild von ihm geschenkt bekam, steht für eine Ver- und Zerstörung. Links in der im Buch gezeigten Landschaft ist am äußersten Rand des zerstörten Bildes die Silhouette eines Engels mit ausgebreiteten Flügeln zu erkennen, für den uns Sebald allerdings keine weiteren Erklärungen gibt. Tatsache ist, dass diese Figur im Gegensatz zur Komposition des Gemäldes durch Reduktion entstanden ist, deren weißer Leinwandhintergrund ausgefüllt zu werden verlangt. Die Synthese zwischen dem literarischen Moment und der Malerei,42 in der die Malerei an einer der generativen Maßnahmen teilhat, derer sich Sebald bei der Erzählung seiner Geschichten bedient, wird hier durch einen neuen Faktor ‚gestört‘, der mit der Verstörung der Landschaftsidylle übereinstimmt und symbolisch auf die Zerstörung der gefühlsbetonten Beziehung zwischen Keller und der geliebten Frau verweist. Überraschenderweise kam Keller wieder in den Besitz seines Werkes, vielleicht weil er möglicherweise gar dessen Rückgabe verlangt hatte. In _____________   41 42

Sebald, W. G.: Logis in einem Landhaus, S. 181. Ich verweise auf einen interessanten Artikel von Luca Arnaudo, der eine originelle Interpretation von Sebalds Beziehung zur Malerei und zur Landschaft liefert: Arnaudo, Luca: „Pittura e paesaggio nella scrittura di W. G. Sebald“. In: Il Ponte 66 (2010), H. 1, S. 102–109.

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der weißen Fläche, die die künstlerische Arbeit durchzieht, manifestiert sich eine Abweichung von der Norm – genauso wie in dem Riss, der durch ein Selbstbildnis von Tripp geht, das Sebald einige Seiten später eingefügt hat. Gerade auf diese Weise verdeutlicht jedoch die Problematisierung des rein kontemplativen Moments etwas, worüber der Schriftsteller sich mehrfach geäußert hat: den Umstand nämlich, dass die Dinge, die unseren Tod überleben, mehr über uns verraten, als wir über sie wissen, und dass sie voller Erfahrungen stecken von dem, was sie mit uns verbindet. Sie sind wie ein Buch, das vor unseren Augen aufgeschlagen liegt und über die uns betreffende Geschichte Auskunft gibt. Nur durch sie lässt sich die Idylle der unbeschwerten Stunden wieder heraufbeschwören, auch wenn ihr Augenblicke der Melancholie und der Erinnerung an eine nunmehr für immer vorübergegangene Zeit immanent sind: Was [Johanna Kapp] zu diesem drastischen Eingriff veranlaßte, wissen wir nicht, noch, wie es Keller zumute war, als er das verstümmelte Werk, nachdem es aus Johannas Nachlaß zurückgekommen war an ihn, wieder in Händen hielt. Aber vielleicht dünkte es auch ihn, daß die schneeweiße Leere, die sich da hinter der beinahe transparenten Landschaft auftut, schöner ist noch als das Farbenwunder der Kunst.43

Literaturverzeichnnis Adorno, Theodor W.: „Wirtschaftskrise als Idyll“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11. Noten zur Literatur. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1974. Adorno, Theodor W. u. Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M. 1969. Agazzi, Elena: „Spuren von Johann Peter Hebel und Ernst Bloch. W. G. Sebalds Logis in einem Landhaus“. In: Schwerpunkt: W. G. Sebald. Hg. v. Paul Michael Lützeler u. Stephan Schindler. Tübingen 2007, S. 91–117. Agazzi, Elena: „Riti antichi e persistenza del passato. Il percorso interrotto nell’operatestamento Campo Santo di W. G. Sebald“. In: W. G. Sebald. Storia della distruzione e memoria letteraria. Hg. v. Walter Busch. Rom 2005, S. 145–161. Arnaudo, Luca: „Pittura e paesaggio nella scrittura di W. G. Sebald“. In: Il Ponte 66 (2010) H. 1, S. 102–109. Benjamin, Walter: „Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows“. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1977, S. 385–410. Benjamin, Walter: „Robert Walser“. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. 1977, S. 349–352. Beretta, Stefano: Una sorta di racconto. La scrittura poetica e l’itinerario dell’esperienza di Robert Walser. Pasian di Prato 2008. Bloch, Ernst: Spuren. Hg. v. Paul Cassirer. Frankfurt a.M. 1969.

_____________   43

Sebald, W. G.: Logis in einem Landhaus, S. 123.

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Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 21977. Chamisso, Adelbert von: Reise um die Welt. Berlin 31985. Denham, Scott u. Mark Mc Culloh (Hg.): W. G. Sebald. History-Memory-Trauma. Berlin 2006. Dunker, Axel: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München 2003. Durzak, Manfred: „Sebald – der unduldsame Kritiker. Zu seinen literarischen Polemiken gegen Sternheim und Andersch“. In: W. G. Sebald. Schreiben ex patria / Expatriate Writing. Hg. v. Gerhard Fischer. Amsterdam, New York 2009, S. 435–445. Fuchs, Anne: Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebald. Köln u.a. 2004. Hebel, Johann Peter: „Unverhofftes Wiedersehen“. In: Ders.: Kalendergeschichten. Hg. v. Ernst Bloch. Frankfurt a.M. 1973, S. 72–75. Holdenried, Michaela: „Zeugen – Spuren – Erinnerung. Zum intertextuellen Resonanzraum in der Literatur jüdischer Überlebender. Jean Améry und W. G. Sebald“. In: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. Autobiographisches Schreiben in der deutschen Gegenwartsliteratur, Bd. 2. Hg. v. Christoph Parry u. Edgar Platen. München 2007, S. 74– 85. Hutchinson, Ben: W. G. Sebald – Die dialektische Imagination. Berlin, New York 2009. Hutchinson, Ben: „Die Leichtigkeit der Schwermut. W. G. Sebalds ‚Kunst der Levitation‘“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 457–477. Jean Paul: „Leben des Quintus Fixlein“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. 1. Erzählende und theoretische Werke, Bd. 4. Kleinere erzählende Schriften 1796–1801. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt a.M. 21996, S. 7–259. Jean Paul: „Vorschule der Ästhetik“. In: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. 1. Erzählende und theoretische Werke, Bd. 5. Vorschule der Ästhetik, Levana oder Erziehlehre, Politische Schriften. Hg. v. Norbert Miller. Frankfurt a.M. 21996, S. 7–456. Long, Jonathan J.: „W. G. Sebald. A Bibliographical Essay on Current Research“. In: W. G. Sebald and the Writing of History. Hg. v. Jonathan J. Long u. Anne Fuchs. Würzburg 2007, S. 11–29. Long, Jonathan J.: „Disziplin und Geständnis. Ansätze zu einer Foucaultschen SebaldLektüre“. In: W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Hg. v. Michael Niehaus u. Claudia Öhlschläger. Berlin 2006, S. 219–239. Mosbach, Bettina: Figurationen der Katastrophe. Ästhetische Verfahren in W. G. Sebalds ‚Die Ringe des Saturn‘ und ,Austerlitz‘. Bielefeld 2008. Niehaus, Michael: „W. G. Sebalds sentimentalische Dichtung“. In: W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Hg. v. Michael Niehaus u. Claudia Öhlschläger. Berlin 2006, S. 173–187. Ohlschläger, Claudia: Beschädigtes Leben. Erzählte Risse. W. G. Sebalds poetische Ordnung des Unglücks. Freiburg 2006. Sebald, W. G.: Nach der Natur. Ein Elementargedicht. Frankfurt a.M. 32004. Sebald, W. G.: „Kleine Exkursion nach Ajaccio“. In: Ders.: Campo Santo. Hg. v. Sven Meyer. München, Wien 2003, S. 7–18. Sebald, W. G.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. Frankfurt a.M. 42003. Sebald, W. G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt a.M. 62001. Sebald, W. G.: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. München, Wien 1999. Sebald, W. G.: Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins. Stuttgart 1980.

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Sebald, W. G.: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära. Stuttgart 1969. Seitz, Stephan: Geschichte als bricolage – W. G. Sebald und die Poetik des Bastelns. Göttingen 2011. Vivarelli, Vivetta: „Idillio e sconfinamento in Goethe, Hölderlin e Jean Paul“. In: Idillio e anti-idillio nella letteratura tedesca moderna. Hg. v. Rita Svandrlik. Bari 2002, S. 41–82.

 

Inhumane Idyllen. Das ästhetische Intervall des Idyllischen in der Lyrik Louise Glücks CARLOS SPOERHASE „Life is simple“1

I. Fragestellung Louise Glück, 1943 in New York als Tochter europäischer Immigranten geboren und für ihr nunmehr die letzten 40 Jahre überspannendes, mittlerweile auf zwölf Lyrikbände und einen Essayband angewachsenes Werk mit allen wichtigen amerikanischen Literaturpreisen ausgezeichnet, ist eine der zentralen englischsprachigen Gegenwartslyrikerinnen.2 In ihrem Werk haben Momente der Landschaftsdichtung immer wieder eine Rolle gespielt, ohne dass allerdings der idyllische oder pastorale Charakter dieser Landschaften bisher so deutlich thematisiert worden wäre, wie in ihrem vorletzten Gedichtband. _____________   1

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Die im Folgenden im Haupttext in Klammern wiedergegebenen Seitenangaben beziehen sich allesamt auf: Glück, Louise: A Village Life. Manchester 2010, die US-Ausgabe bereits New York 2009, Zitat S. 6. Für wichtige Hinweise danke ich Dr. Undine Ruge (Berlin) und Prof. Dr. Markus Winkler (Genf). Vgl. die jüngeren Studien zu Glück: Diehl, Joanne Feit (Hg.): On Louise Glück. Change What You See. Ann Arbor 2005; Harrison, DeSales: The End of the Mind. The Edge of the Intelligible in Hardy, Stevens, Larkin, Plath, and Glück. New York, London 2005, S. 137–225; Upton, Lee: Defensive Measures. The Poetry of Niedecker, Bishop, Glück, and Carson. Lewisburg 2005, S. 80– 98; Morris, Daniel: The Poetry of Louise Glück. A Thematic Introduction. Columbia, London 2006; Chiasson, Dan: One Kind of Everything. Poem and Person in Contemporary America. Chicago, London 2007, S. 136–167. Vgl. für einen kritisch-wertenden Werküberblick: Simic, Charles: „The Power of Ruins“. In: Ders.: The Renegade. Writings on Poetry and a Few Other Things. New York 2009, S. 113–124.

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Ihr vorletzter Gedichtband – der 2010 in Großbritannien erschienene, noch nicht ins Deutsche übersetzte Band A Village Life3 – gibt sich bereits durch den Titel als ein ‚Dorfleben‘ zu erkennen. Weitere paratextuelle Merkmale erhärten diesen Eindruck: Einerseits verweist der Rückumschlag darauf, dass die Handlung des Erzählgedichts sich in einer dörflichen mediterranen Welt ohne bestimmbare temporale oder lokale Verankerung abspielt,4 andererseits wird durch den blauen japanischen, aus den dreißiger Jahren stammenden Farbholzschnitt auf der Vorderseite des Umschlags eine ländliche (wenn auch offensichtlich nicht mediterrane) Szenerie evoziert, die ebenfalls keine präzise temporale oder lokale Situierung zulässt.5 Wichtiger aber als diese für sich genommen schon aussagekräftigen Paratexte scheint mir, dass die Titel einzelner in A Village Life enthaltener Gedichte auf die Gattung idyllischer Dichtung verweisen – allen voran das zweite des insgesamt 41 Gedichte umfassenden Bandes, das programmatisch Pastoral (S. 4–5) betitelt ist, damit also auf die ‚Idylle‘ oder das ‚Landleben‘ verweist.6 Auf den folgenden Seiten möchte ich ausgehend von diesen auffälligen paratextuellen Markierungen die Frage stellen, ob es sich bei Glücks A Village Life tatsächlich um eine Sammlung von Idyllen und idyllenähnlichen Texten handelt; anschließend an die jüngere anglophone Gattungsforschung möchte ich prüfen, ob dieser Gedichtband als eine ‚Idylle‘ (pastoral), eine ‚Anti-Idylle‘ (anti-pastoral) oder eine ‚Post-Idylle‘ (post-pastoral) charakterisiert werden sollte. Wie sich herausstellen wird, entwickelt Glück in A Village Life eine Vielfalt von teilweise idyllenaffirmativen, teilweise idyllenkritischen Perspektiven, die in ihrem wechselseitigen Verweisungsverhältnis geradezu eine ‚Dialektik‘ des Idyllischen entfalten. Wie sich darüber hinaus feststellen lässt, entwirft Glück ein eigenes Konzept des Idyllischen, das hier als ‚ästhetisches Intervall‘ charakterisiert werden soll.

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Ulrike Draesner hat bisher zwei Lyrikbände von Louise Glück ins Deutsche übertragen: Glück, Louise: Averno. München 2007; dies.: Wilde Iris. München 2008. Vgl. Glück: A Village Life, Rückumschlag: „a village, a Mediterranean world of no definite moment or place“. Vgl. ebd. Vgl. zu A Village Life auch das Interview mit Yvonne Green: „A Conversation with Louise Glück“. In: PN Review 196 (2010), S. 49–51.

Das ästhetische Intervall des Idyllischen in der Lyrik Louise Glücks

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II. Idyllenaffine Gattungsmerkmale Wie immer wieder festgestellt wurde, sind die Definitionsprobleme, die sich hinsichtlich des Idyllenbegriffs stellen, gerade wenn man sich nicht an ein bestimmtes historisches Gattungsparadigma binden will (seien es antike Paradigmen wie die von Theokrit und Vergil oder moderne wie die von Geßner und Schiller), erheblich. Die letzten Versuche, eine allgemeine (Nationalsprachen und Kunstformen übergreifende) Theorie der Idylle zu entwickeln, liegen zudem schon wieder mehrere Jahrzehnte zurück.7 Ausgehend von den Merkmalsgruppen, die gewöhnlich in gattungstheoretisch orientierten Überblicksdarstellungen für die ,Idylle‘ bzw. das ,Idyllische‘ vorgeschlagen werden,8 lassen sich eine ganze Reihe von Textmerkmalen in A Village Life als idyllenaffin bestimmen: Die Entgegensetzung von Landleben und Stadtleben, eine (mehr oder weniger) abgeschlossene landschaftliche Szenerie, eine (mehr oder weniger) geschlossene ahistorische ‚Vorzeit‘, die Abwesenheit von sozialen Hierarchien oder gesellschaftlichen Konflikten, die Fokussierung auf ein ‚niederes‘ Personal; schließlich eine liebliche Szenerie (locus amoenus), die als ein naturnaher Ort der Freundschaft und der erotischen Begegnung dargestellt wird.9 _____________   7

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9

Die Monographie von Alpers (Alpers, Paul J.: What is pastoral? Chicago 1996) basiert auf Arbeiten, die zum Teil in die späten siebziger Jahre zurückreichen, vgl. dort die Bestimmung der Idylle als „Genre“ oder „Modus“, S. 44–78. Vgl. davon ausgehend die Bestimmung der Idylle als ‚Tradition‘ bei Haquette, Jean-Louis: Échos d’Arcadie. Les transformations de la tradition pastorale des Lumières au romantisme. Paris 2009, S. 11–19. Vgl. vor allem auch die jüngste, auf die englischsprachigen Literaturen fokussierte Überblicksdarstellung von Gifford, Terry: Pastoral. London, New York 1999, die neben drei Idyllentypen (S. 1– 12) auch die ,Anti-Idylle‘ (S. 116–145) und die ,Post-Idylle‘ (S. 146–174) behandelt. Vgl. zur spezifisch amerikanischen Idyllentradition u. a. Buell, Lawrence: The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture. Cambridge, Mass. 1995, hier v. a. S. 31–52 („Pastoral Ideology“). Congleton, J. E. u. T. V. F. Brogan: „Pastoral“. In: The New Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Hg. v. Alex Preminger u. T. V. F. Brogan. Princeton 1993, S. 885–888; Ecker, Hans-Peter: „Idylle“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4. Hu–K. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1998, Sp. 183–202; Häntzschel, Günther: „Idylle“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2. H–O. Hg. v. Harald Fricke u. a. Berlin, New York ³2000, S. 122–125; Böschenstein, Renate: „Idyllisch/Idylle“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3. Harmonie–Material. Hg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart, Weimar 2001, S. 119–138; Vignes, Jean: „Pastorale“. In: Le dictionnaire du littéraire. Hg. v. Paul Aron u. a. Paris 2008, S. 443–444; Mix, York-Gothart: „Idylle“. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. v. Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 393–492. Mit ‚Idyllenaffinität‘ ist hier gemeint, dass idyllenspezifische Momente in A Village Life auf komplexe Weise ins Spiel kommen, ohne dass sich der Gattungsbezug der Gedichte aber auf eine strenge Definition von ‚Idylle‘ festlegen ließe. In A Village Life spielen meines Erachtens auch die Tradition der Landleben-Dichtung und die amerikanische Tradition der

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A Village Life wird strukturiert von dem Gegensatz zwischen Dorf und Stadt. Das dörfliche Leben ist von einer agrarischen Daseinsform geprägt: von der Sorge um die Aussaat (S. 10) und die Ernte (S. 41–42, 67–68), vom Hüten der Schafe und Böcke (S. 10), von der Arbeit in der Mühle (S. 3) und vom Sammeln des Brennholzes (S. 69). Die topographische Ordnung des Dorflebens wird von dem Dorfplatz (samt des Brunnens) bestimmt (S. 6–7, 16), auf dem auch der Markt und die Feste stattfinden (S. 18, 41–42, 71). Diese ländliche Lebensweise wird immer wieder von einer städtischen abgegrenzt (S. 4, 48, 57, 65). Das Dorf, dessen Umfeld eine landschaftlich abgeschlossene, „ästhetisch typisierte Szenerie“ bildet,10 liegt in einer von Pappeln (S. 3), Obst- und Olivenbäumen (u. a. S. 3, 43–44, 47–49, 54–56, 64) gesäumten hügeligen Weidelandschaft, die von einem schneegekrönten Berg überragt wird (S. 10, 57–58). Das Alltagsleben in dieser ländlichen Szenerie wird vom Wetter bestimmt, von Sonnenschein, Hitze, Nebel, Regen und Gewitter (S. 10–11, 52). Das Landleben fügt sich auf unterschiedlichen Skalen in eine ‚vorhistorische‘, zyklische Naturzeit. Die Gedichte verweisen konsequent, häufig sogar schon in den Gedichttiteln, auf die zyklische Strukturierung des Dorflebens; einerseits auf der Ebene der Tageszeiten: „Morgenröte“ (S. 17–18), „Sonnenaufgang“ (S. 57–58), „Mittagsstunde“ (S. 8–9, 25), „Abenddämmerung“ (S. 3), „Sonnenuntergang“ (S. 12) und „Nacht“ (S. 27–28); andererseits auf der Ebene der Jahreszeiten: „Frühling“ (S. 36– 40, 46), „Sommer“ (S. 27–34, 65–68), „Herbst“ (S. 41–44, 64) und schließlich der „erste Schnee“ des Winters (S. 19, 42).11 Der zyklische Wechsel der Jahreszeiten stellt das Landleben in einen temporalen Bereich jenseits aller geschichtlichen Progression.12 Was auch immer passiert, es wird sich (auf der entsprechenden Zeitskala) wiederholen: And if you missed a day, there was always the next, and if you missed a year, it didn’t matter, the hills weren’t going anywhere, the thyme and rosemary kept coming back, the sun kept rising, the bushes kept bearing fruit— (S. 57)

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Naturlyrik eine wichtige Rolle; Traditionen also, an die man den europäischen Gattungsbegriff der ,Idylle‘ nur mit einer gewissen Vorsicht annähern kann. Vgl. zur Abgrenzung von Idylle und Landleben-Dichtung unter anderem: Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 21977, S. 5. So Mix: „Idylle“, S. 394 über ein zentrales Merkmal der Idyllendichtung. Wobei der Winter hier im Gegensatz zu Glücks vorangehendem Gedichtsband (dies: Averno. Manchester 2006) eine untergeordnete Rolle spielt; beim „Schnee“ in dies: A Village Life, S. 19, handelt es sich eher um eine Metapher für Schlaf. Vgl. Glück: A Village Life, S. 3: „The seasons change,/ […] Green things followed by golden things followed by whiteness“.

Das ästhetische Intervall des Idyllischen in der Lyrik Louise Glücks

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Das Landleben ist eines der unentwegten Wiederkehr; dieser ‚vorhistorische‘ Charakter, diese „Dominanz des Räumlich-Zuständlichen“ über das Geschichtliche ist häufig als ein zentrales Moment von Idyllen benannt worden.13 Der auf der Ebene des Dargestellten hinsichtlich der Tagesund Jahreszeiten auffällige rekursive Charakter des Landlebens wird zudem auf der Ebene der Darstellung durch die rekursive Struktur der Idyllendichtung unterstrichen: Vier kürzere Gedichte, die das Verbrennen der (gefallenen) Blätter (S. 6, 26, 35, 61) thematisieren, unterteilen den gesamten Gedichtband (grob) in fünf Abschnitte, womit die Rekursivität und Zirkularität des Landlebens (S. 26) die formale Gesamtanlage des Gedichtbandes prägt.14 Die elementare Rhythmisierung der Natur findet ihren Niederschlag auch in der Darstellung der menschlichen Lebensalter: Die Abfolge von Kindheit, Adoleszenz, Erwachsenenalter und Greisenalter (S. 6–9) wird in A Village Life nicht im Sinne einer Dynamik individueller (d. h. persönlicher) Entwicklungsvorgänge aufgefasst, sondern als sprunghafte Abfolge ebenso determinierter wie disparater menschlicher ‚Jahreszeiten‘.15 Die Dorfbewohner unterschiedlichen Alters leben in einem harmonischen Nebeneinander, das einerseits von familiären und andererseits von freundschaftlichen, nachbarschaftlichen Beziehungen geprägt ist (u. a. S. 59–60, 69–71). Die ländlichen Protagonisten sind allesamt einer ‚niederen‘ Gesellschaftsschicht zuzuordnen, was bereits daran deutlich wird, dass der Gedichtband mit einem Mühlenarbeiter (S. 3) beginnt und mit einer Dorfbewohnerin endet, die auf dem Markt ihre Salate verkauft (S. 71; vgl. auch die Beschreibung des Markts, S. 41–42). Auffällig ist aber, dass die Gedichte, die einen Ort empfindsamer Freundschaft oder erotischer Attraktion entwerfen, sich allesamt auf das Lebensalter der Adoleszenz beziehen (S. 8–9, 21–23, 65–66); ein Liebesglück zwischen Erwachsenen ist nicht vorgesehen (S. 21–25, 45). Idyllenaffin ist hier die Darstellung der frühen Jugendzeit auch deshalb, weil es sich um einen Zustand handelt, den sich alle später wieder zurückwünschen.16 Die liebliche Szenerie in A Village Life ist klar bestimmt: Es handelt sich um den Fluss im nächtlichen Wald, genauer: um den ‚erinnerten‘ _____________   13 14

15 16

Vgl. z. B. Häntzschel: „Idylle“, S. 123. Eine weitere (in diesem Zusammenhang nicht näher untersuchte) bemerkenswerte rekursive Struktur ergibt sich aus den Gedichten, die eine Tierperspektive (Regenwurm, Fledermaus) auf das menschliche Landleben entwickeln, vgl. Glück: A Village Life, S. 11, 20, 31, 37. Die Personendarstellung in A Village Life ist insofern anti-individualistisch, als sie sich meist auf die Zuordnung zu einer Alters- und Geschlechtergruppe beschränkt und auf die Nennung distinkter Persönlichkeitszüge verzichtet. Glück: A Village Life, S. 8: „being very young […]/ [t]hey have this thing everyone wants“.

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Fluss im nächtlichen Wald (S. 21–23, 65–66). Die glühende Neugierde der ersten Liebe (S. 66) wird immer aus der Retrospektive geschildert;17 damit erweist sich die Idylle als eine Form der (gedanklich-imaginativen) Rückkehr.

III. Idyllische Empfindungsweise Das Idyllische erweist sich in erster Linie nicht als ein Ort, sondern als subjektive Gestimmtheit, als Zustand einer wehmütigen Subjektivität, die sich in einer elegischen Tonlage nach der „Intensität“ der eigenen Jugendzeit sehnt.18 Die in A Village Life in weitgehend umgangssprachlicher Form evozierte Idylle wird immer im Modus einer imaginativen Rückkehr dargestellt; die Sprechinstanz, über deren spezifische ‚Position‘ anfangs nicht viel in Erfahrung zu bringen ist, lässt die (eigene) idyllische Vergangenheit imaginativ wiederaufleben. Dass es sich immer wieder um Versuche einer Vergegenwärtigung der (eigenen) idyllischen Vergangenheit durch die poetische Vorstellungskraft handelt, wird besonders in den Gedichten deutlich, die gleich in der ersten Gedichtzeile einen Modus der Retrospektion markieren.19 Die spezifische Zeitform dieser poetischen Vergegenwärtigungsversuche ist eine ‚abgeschlossene‘ Vergangenheitsform: Die dargestellte, imaginativ evozierte Vergangenheit reicht nicht in die Gegenwart der Sprechinstanz hinein. Die frisch verliebten Paare, die sich im Sommer am Dorfbrunnen treffen,20 sind für die Sprechinstanz „Bilder einer fernliegenden Zeit“.21 Eine der einprägsamsten Vergegenwärtigungen einer als idyllisch erinnerten, abgeschlossenen Vergangenheit betrifft das alljährlich am Erntedank gefeierte Dorffest in At the Dance. Musik, Gesang, Wein und Tanz verwandelten, so die retrospektive imaginative Vergegenwärtigung einer nostalgischen Sprechinstanz, den abendlich erleuchteten und geschmückten Dorfplatz in eine erotische Szenerie. Für die jungen Frauen und Männer sei das Fest ein von Geruchssinn und Tastsinn, von verfliegendem _____________   17 18 19 20 21

Vgl. ebd., S. 65: „On nights like this we used to swim“. Ebd., S. 6: „the intensity we all had when we were young“, S. 14: „the intensities of the fountain“. Ebd., S. 21: „One night that summer my mother decided“, S. 47: „My mother made figs in wine“, S. 50: „Twice a year we hung the […] lights“, S. 65: „On nights like this we used to swim in the quarry“. Ebd., S. 6: „In summer, couples sit at the pool’s edge./ […] by some miracle/ all the amorous young men are always free—/ they sit at the edge of the fountain, splashing their sweethearts/ with fountain water“. Ebd., S. 7: „The couples are like an image from some faraway time“.

Das ästhetische Intervall des Idyllischen in der Lyrik Louise Glücks

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Parfum und körperlicher Berührung verzauberter Tanz gewesen.22 Das Tanzen unter den Lichtern des Dorfplatzes habe – idyllisch – als Liebe unter den Sternen des Nachthimmels geendet. Die Sprechinstanz, die nichts davon vergessen haben will, 23 beschreibt das Dorffest: For the young, it was everything. Your life was made here–what was finished under the stars started in the lights of the plaza. Haze of cigarettes, the women gathered under the colored awnings singing along with whatever songs were popular that year, cheeks brown from the sun and red from the wine. I remember all of it—my friends and I, how we were changed by the music, and the women, I remember how bold they were, the timid ones along with the others— […] And it seemed at the time such a game, really—lighthearted, casual, dissipating like smoke, like perfume between a woman’s breasts, intense because your eyes are closed. […] —a man would approach a woman, ask her to dance, but what it meant was will you let me touch you, and the woman could say many things, ask me later, she could say, ask me again. Or she could say no, and turn away, as though if nothing but you happened that night you still weren’t enough, or she could say yes, I’d love to dance which meant yes, I want to be touched. (S. 50–51)

Die idyllische Szenerie des Dorffests, deren spielerische Dimension betont wird,24 findet in Midsummer ihre Fortsetzung unter dem nächtlichen Sternenhimmel.25 Die jungen Frauen und Männer, so die retrospektive Vergegenwärtigung der Sprechinstanz, badeten nachts nackt in einem abgeschirmten und geschützten lieblich-idyllischen Natur-Raum: der Flusslandschaft bei einem Marmorsteinbruch. Auch hier habe das Spielerische im Vordergrund gestanden;26 wieder bildeten sich, wie schon auf dem Dorffest, Paare, die den nächtlichen Wald zeitweise in eine liebliche Szenerie verwandelten: _____________   22 23 24 25 26

Ebd., S. 50: „[a] spell was on us“. Ebd.: „I remember all of it“. Ebd.: „game“. Ebd.: „finished under the stars“. Ebd., S. 65: „making up games“.

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On nights like this we used to swim in the quarry, the boys making up games requiring them to tear off the girls’ clothes and the girls cooperating, because they had new bodies since last summer and they wanted to exhibit them, the brave ones leaping off the high rocks—bodies crowding the water. The nights were humid, still. The stone was cool and wet, marble for graveyards, for buildings that we never saw, buildings in cities far away. (S. 65)

Die Sinnlichkeit der „glühenden“ und „glitzernden“ Sommernacht (S. 66) übertrug sich auch auf die sinnliche Wahrnehmung des Tages, wovon die Erinnerung an den morgendlichen Genuss einer Frucht zeugt (S. 65). Die gesamte Adoleszenz gewinnt auf diese Weise rückblickend den Charakter einer glücklich verbrachten sinnlichen Sommernacht: the next day, we were kids again, sitting on the front steps in the morning, eating a peach. Just that, but it seemed an honor to have a mouth. And then going to work, which meant helping out in the fields. […] And then the day faded. We were dreaming, waiting for night. Standing at the front door at twilight, watching the shadows lengthen. […] And you thought of the boy or girl you’d be meeting later. And you thought of walking into the woods and lying down, practicing all those things you were learning in the water. And though sometimes you couldn’t see the person you were with, there was no substitute for that person. The summer night glowed; in the field, fireflies were glinting. (S. 65–66)

Die liebliche Szenerie der Sommernächte in der bewaldeten Flusslandschaft am Marmorsteinbruch verweist aber bereits auf das ihr Entgegengesetzte: auf die Stadt. Der „kühle“ und „nasse“ Marmor der erotischen Szenerie dient der Herstellung von „Grabsteinen“ und „Gebäuden“ in fremden Städten;27 aus der Perspektive der verliebten Jugendlichen sind diese Städte noch „weit weg“. Die Sprechinstanz, die die idyllische Szenerie im Rückblick entwirft, beansprucht aber zu wissen, dass die Fremde bereits damals ganz nah gerückt war: for those who understood such things, the stars were sending messages: You will leave the village where you were born and in another country you’ll become very rich, very powerful,

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Ebd.: „marble for graveyards, for buildings that we never saw,/ buildings in cities far away“.

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but always you will mourn something you left behind, even though you can’t say what it was, and eventually you will return to seek it. (S. 66)

Schon in der rückblickend imaginierten idyllischen Szenerie weissagen die ‚Sterne‘, dass die Jugendlichen das Dorf verlassen werden und dass sie, was immer ihnen auch gelingt, etwas Zurückgelassenem nachtrauern und schließlich zurückkehren werden, um es ausfindig zu machen. Die imaginierte Weissagung der ‚Sterne‘, von der die Jugendlichen nichts wissen, ist eigentlich die rückblickende Weissagung der Sprechinstanz, die den (in der von ihr selbst evozierten idyllischen Szenerie situierten) Jugendlichen in einem prophetischen Gestus von ihrer Zukunft kündet.28 Weil die Sprechinstanz die Zukunft der Jugendlichen bereits kennt, die von ihr (in einer längst vergangenen Zeit) beschworene Zukunft aber selbst wiederum ‚vollendet‘ ist, mischt sich in den prophetischen Gestus eine elegische Tonlage, die das gesamte Gedicht rückwirkend tingiert. Denn die zuvor erfolgte Darstellung der jugendlichen Idylle erweist sich, vom Ende des Gedichts betrachtet, nunmehr als der Vollzug ‚genau der‘ Gedankenbewegung, die in den letzten beiden Versen des Gedichts beschrieben wird: „always you will mourn something you left behind […] / and eventually you will return to seek it“ (S. 66).29 Die Trauer ob des einst Zurückgelassenen und die Rückkehr, die das Zurückgelassene wiederaufzufinden trachtet, wird von diesem Gedicht selbst im Medium der Imagination vollzogen. Das Gedicht selbst vollzieht nichts anderes als die darin geschilderte imaginative Bemühung der suchenden ‚Rückkehr‘. Eine präzisere Lokalisierung des Ortes, von dem aus die nostalgische Sehnsucht nach dem Dorf formuliert wird, findet sich in dem Gedicht Sunrise: Der Geruch des Thymians und des Rosmarins in der Enge der städtischen Blumenkästen erinnert die Sprechinstanz an den Thymian und den Rosmarin in der Weite der heimatlichen Berge und weckt die Sehnsucht nach der dörflichen Heimat. Diese nostalgische Sehnsucht operiert mit der Entgegensetzung von Land und Stadt: Die einst verlassene heimatliche Landschaft wird mit den städtischen Blumenkästen kontrastiert; während auf dem Land Morgenröte und Abenddämmerung den Tag rahmten, würden diese in der Stadt durch das Aus- und Anschalten der _____________   28 29

Ebd., S. 66: „You will leave […] and […] you’ll become […] but always you will […] and eventually you will […]“. Vgl. die treffende Beobachtung von Bonnie Costello, dass Glück sich immer wieder am (anglophonen) Traditionsbestand der idyllischen Elegie abarbeitet. „[S]he does work deeply within the conventions of pastoral elegy“, Costello, Bonnie: „Fresh Woods. Elegy and Ecology Among the Ruins“. In: The Oxford Handbook of the Elegy. Hg. v. Karen Weisman. Oxford 2010, S. 324–342, Zitat S. 339.

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Straßenbeleuchtung ersetzt; während Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auf dem Land noch der kontemplativen Betrachtung wert seien, würden sie von den Städtern, die den Blick nie nach oben richteten, gar nicht erst wahrgenommen. Der Geruch des Thymians und des Rosmarins im städtischen Blumenkasten evoziert für die Sprechinstanz den Geruch einer Vergangenheit, die alles durchströmt: This time of year, the window boxes smell of the hills, the thyme and rosemary that grew there, crammed into the narrow spaces between the rocks […] The streetlight’s off: that’s dawn here. It’s on: that’s twilight. Either way, no one looks up. Everyone just pushes ahead, and the smell of the past is everywhere, the thyme and rosemary rubbing against your clothes, (S. 57)

Die vom Geruch des Thymians und des Rosmarins motivierte imaginative Rückkehr in die heimatliche Landschaft30 dient hier nicht nur der Darstellung einer okkasionellen wehmütigen Sehnsucht nach dem dörflichen Herkunftsort: durch sie soll vielmehr die nostalgische Sensibilität selbst als eine unablässige Bewegung des imaginativen Rückkehrens charakterisiert werden.

IV. Anti-Idylle Hätte man, so ließe sich die kontrafaktische Imagination aus Midsummer befragen, damals die ‚Botschaften‘ der ‚Sterne‘ richtig deuten und sich dafür entscheiden können, die liebliche Szenerie gar nicht erst zu verlassen? Nein: Das Verlassen des Dorfes, so legt das Pastoral betitelte Gedicht nahe (S. 4), ist ebenso unausweichlich gewesen wie die nach einer anfänglichen Überschwänglichkeit angesichts des Stadtlebens31 einsetzende Sehnsucht nach dem Heimatdorf und der dort verbrachten, in Midsummer evozierten Jugendidylle. Die nostalgische Sensibilität, die im Modus der imaginativen Rückkehr eine idyllische Heimatlandschaft aufruft, steht, wie in mehreren Gedichten hervorgehoben wird, aber in einem problematischen Verhältnis zur heimatlichen Realität. Die in der Stadt empfundene _____________   30 31

Glück: A Village Life, S. 57: „beautiful, like the hills, the rocks above the tree line/ webbed with sweet-smelling herbs,/ the small plants glittering with dew“. Ebd., S. 4: „people flee—and for awhile, away from here,/ they’re exuberant, surrounded by so many choices—“.

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Nostalgie für die imaginierte heimatliche Berglandschaft wird in dem Gedicht Sunrise, das sich auf zwei Druckseiten verteilt, auf der ersten Seite (recte) kunstvoll evoziert. Mit dem Umblättern, mit dem Seitenwechsel auf die folgende Seite (verso), vollzieht sich aber ein abrupter Wechsel der Tonlage. Die Nostalgie, die ein ‚imaginatives‘ Rückkehren war, motiviert hier nun die ‚faktische‘ Rückkehr in das Dorf. In fast brutal anmutender Kürze heißt es in der ersten Zeile der zweiten Gedichtseite: „I went back but I didn’t stay“ (S. 58). Die Enttäuschung der Erwachsenen, die tatsächlich (und nicht allein im Modus der sehnsüchtigen Imagination) in das Dorf zurückkehren, ist unausweichlich,32 da sich die als harmonisch erinnerte Kindheit und Jugend33 – das Sehnsuchtsobjekt der nostalgischen Imagination34 – nicht wiedergewinnen lässt.35 Auch die ehemalige liebliche Szenerie, die in Midsummer sehnsüchtig beschworen wurde, ist mittlerweile verschwunden: Weil die Flusslandschaft aufgrund ausbleibender Regenfälle seicht geworden ist, ist das einstmals anmutige Flussufer nun auch im Sommer menschenleer.36 Doch es bedarf nicht erst der persönlichen Heimkehr, um festzustellen, dass die sehnsuchtsvoll aufgerufene Jugendidylle unwiederbringlich verloren ist. Schon die zuvor interpretierten Gedichte (vor allem At the Dance und Midsummer), in denen eine von Wehmut geschlagene Subjektivität imaginativ eine Dorfidylle evoziert, enthalten immer wieder kleine Hinweise, die die ‚Legitimität‘ dieses idyllischen Sehnens in Frage stellen. Selbst die (bereits kommentierten) idyllischen Szenen, die eine „glühende“ und „glitzernde“ Adoleszenz in einer lieblichen Nachtlandschaft beschwören, sind durch knappe relativierende, wenn man so will: anti-idyllische Einschübe ‚unterbrochen‘. So ist die jugendliche Partnerfindung von einer merkwürdigen Wahllosigkeit geprägt;37 manche von allen bemitleidete Jugendliche finden keinen Partner;38 und diejenigen, die einen finden, riskieren eine Schwangerschaft, die das gesamte „Spiel“ jugendlicher Liebe

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Vgl. ebd.: „When they come back, they’re worse./ They think they failed in the city,/ […] They blame their upbringing: youth ended and they’re back, silent, like their fathers“. Ebd., S. 48: „whatever happend […],/ we were in harmony with it“. Ebd.: „When we were young, it was different“. Ebd., S. 4: „youth ended“. Ebd., S. 27: „The young people used to gather not far from here/ but now the river’s grown shallow form lack of rain, so/ the bank’s deserted—“. Ebd., S. 50: „A spell was on us, but it was a sickness too,/ the men and women choosing each other almost by accident, randomly,/ and the lights glittering, misleading“. Ebd., S. 65: „always there were a few left at the end/ […] No one wanted to be them“.

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sofort abbricht39 und umgehend in ein Eheleben führt, das in dunklen Farben ausgemalt wird.40 Aus der Perspektive der Gedichte in A Village Life, die sich um die ‚Gegenwart‘ des Dorflebens bemühen, stellt sich die entbehrungsreiche Lebensform einer von Landarbeit abhängigen Bevölkerung noch um einiges drastischer dar als aus der Perspektive der Gedichte, die das Landleben im Modus sehnsüchtiger Erinnerung aufrufen. Lakonische Beschreibungen von Armut,41 Hunger42 und von männlichem Alkoholismus43 verleihen dem Dorfleben die Züge einer Anti-Idylle.44 Hinzu kommt die Darstellung der körperlichen Härte der Landarbeit (S. 25, 67–68), die kaum Ruhepausen kennt: he has to work all day to prove he deserves what he has. Midday: he’s tired, he’s thirsty. But if he quits now he’ll have nothing. The sweat covering his back and arms is like his life pouring out of him with nothing replacing it. (S. 25)

Das drastische Bild des Landarbeiters, der in der Sonnenhitze seine Lebenskraft „ausschwitzt“, verweist auf die Entbehrungen eines agrarischen Lebens, in dem es durch Feldarbeit den eigenen Lebensunterhalt zu gewinnen gilt.45 Auch die Tatsache, dass Maschinen in die dörfliche Landwirtschaft Einzug gehalten haben,46 scheint die schwierige Lage der Landarbeiter nicht zu verbessern.47 Diese (und andere) Hinweise auf die Austerität der agrarischen Lebensweise und auf die „Grausamkeit“ des _____________   39 40

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Ebd.: „for those two, it was terrible, as terrible as being alone./ The game was over“. Auch wenn die nostalgisch herbeigerufene Jugendzeit streng genommen keine ungebrochene Idylle gewesen sein mag: Im Vergleich zu dem in A Village Life beschriebenen Erwachsenenalter nimmt sie sich durchaus ‚idyllisch‘ aus; vgl. Glück: A Village Life, S. 21– 25, S. 45, S. 47. Ebd., S. 29–30. Ebd., S. 57: „Whatever we ate smelled of the hills,/ even when there was almost nothing“; nur im Herbst sei sichergestellt, dass „nobody goes hungry“ (S. 64); „the bread, if there’s bread“ (S. 67). Ebd., S. 21–24, S. 67. Vgl. zum Begriff der ,Anti-Idylle‘ (,anti-pastoral‘): Gifford: Pastoral, S. 116–145. Das gattungsspezifische Problem, inwiefern sich die Landarbeit als Moment der Idylle etablieren lässt, wird in komparatistischer Perspektive analysiert von Winkler, Markus: „De Gottsched à Voss, Chénier et Crabbe. Tradition pastorale et réalisme social: l’idylle en question“. In: Antiquitates Renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wirkung der Antike in der europäischen Literatur. Hg. v. Verena Ehrich-Haefeli, Hans-Jürgen Schrader u. Martin Stern. Würzburg 1998, S. 83–98. Glück: A Village Life, S. 68: „The machines stand where they were left“. Ebd., S. 67–68.

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Landlebens legen nahe,48 A Village Life eine anti-idyllische Perspektive zuzuschreiben. Man machte es sich meines Erachtens aber zu leicht, wenn man A Village Life nun tout court als eine Anti-Idylle charakterisieren würde, denn durch diese Kategorisierung geriete die spezifische ‚Dialektik‘ zwischen subjektiver retrospektiver Idyllensehnsucht einerseits und (mehr oder weniger) objektiver anti-idyllischer Gegenwartsbeschreibung andererseits aus dem Blick. Unklar bliebe dann auch, worin genau das für A Village Life charakteristische Spannungsverhältnis von retrospektiv imaginierter Naturidylle und ‚realem‘ Landleben bestünde. Denn die Kritik an der Idyllensehnsucht besteht in dem Gedichtband in weit mehr als dem ‚realistischen‘ (alles in allem: etwas banalen) anti-idyllischen Einwand, tatsächlich verhalte es sich auf dem Land ganz anders (und habe sich auch schon immer anders verhalten), als man es sich, von einer wehmütigen Imagination getragen, rückblickend eingestehen wolle. Vor dem Hintergrund einer modernen Gattungsdiskussion, die im Hinblick auf die Idylle immer wieder das problematische Verhältnis von Realismus und Idealisierung des fiktionalisierten Landlebens artikuliert hat, werden bei Glück vielmehr idyllische Sensibilität und anti-idyllischer (‚realistischer‘) Impuls auf intrikate Weise ‚dialektisch‘ verknüpft und mit der Problematisierung des naturhaften Schönen verbunden; der künstlerische Höhepunkt dieses Verfahrens findet sich in Olive Trees, dem argumentativ anspruchsvollsten Gedicht in A Village Life.

V. Dialektik der Idylle Olive Trees weist eine komplexe ‚dialektische‘ Struktur auf. Aus der Perspektive der Sprechinstanz – eines aus dem Dorf stammenden, nun in der Stadt lebenden und arbeitenden Mannes – wird ein argumentativer Gegensatz zwischen zwei (wertenden) Betrachtungsweisen der dörflichen Heimatlandschaft entwickelt: seiner eigenen Betrachtungsweise und der seiner ebenfalls aus dem Dorf stammenden Frau. Die ersten Verse von Olive Trees schildern das Leben außerhalb des Dorfes als ein von sozialen Hierarchien geprägtes; im Gegensatz zum Dorf gebe es hier „Bosse“ und „Eigentümer“.49 Doch obwohl das Leben _____________   48 49

Ebd., S. 4: „the savagery of this place,/ the way it kills people for no reason,/ just to keep in practice“. Ebd., S. 54: „bosses“; S. 55: „owners“.

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außerhalb des Dorfes „hart“ ist,50 wendet sich der Blick der Sprechinstanz in den Arbeitspausen (überraschenderweise) nicht wehmütig den in der Ferne sichtbaren heimatlichen Bergen zu: The building’s brick, so the walls get warm in summer. When the summer goes, they’re still warm, […] I take my breaks here, leaning against the wall, smoking cigarettes. The bosses don’t mind […] But you can’t eat—they don’t want rats here, looking for scraps. Some of the others don’t care about being warm, feeling the sun on their backs from the warm brick. They want to know where the views are. To me, it isn’t important what I see. I grew up in those hills; I’ll be buried there. In between, I don’t need to keep sneaking looks. (S. 54)

Dass die Abwendung von den Bergen in den Arbeitspausen charakteristisch für das gesamte Verhältnis der Sprechinstanz zu seiner dörflichen Heimatlandschaft ist, wird im Fortlauf des Gedichts dort deutlich, wo die bereits erwähnte Dialektik zwischen Mann und Frau entfaltet wird. Der Frau gelinge es (dem Bericht der männlichen Sprechinstanz zufolge) im Gegensatz zum Mann nämlich nicht, das heimatliche Dorf aus dem eigenen Gesichtskreis zu rücken. Ihr sehnsuchtsvoller Blick richte sich (immer noch) auf das Heimatdorf ihrer Jugend. Sie vermisse das Dorf und seine Bewohner, die dort verlebte Adoleszenz und die jugendliche Verliebtheit zwischen ihr und ihrem Mann (also die in At the Dance und Midsummer geschilderten erotischen Idyllen): She loves the village—every day she misses her mother. She misses her youth—how we met there and fell in love. How our children were born there. She knows she’ll never go back but she keeps hoping— At night in bed, her eyes film over. She talks about the olive trees, the long silver leaves shimmering in the sunlight. And the bark, the trees themselves, so supple, pale gray like the rocks behind them. She remembers picking the olives, who made the best brine. (S. 54)

Die Sehnsucht nach dem heimatlichen Dorf verdichtet sich hier im Symbol des Olivenbaums.51 Die Erinnerung an die „Oliven“, an die in der _____________   50 51

Ebd., S. 55: „I know things are hard here. And the owners—I know they lie sometimes“. Vgl. Ferber, Michael: „Olive“. In: Ders.: A Dictionary of Literary Symbols. Cambridge 1999, S. 144–145; Meineke, Eva: „Olive/Ölbaum“. In: Metzler Lexikon literarischer Symbole. Hg. v.

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Sonne schimmernden „silbernen Blätter“ und an das „biegsame“ Holz der Olivenbäume evozieren das verlorene naturnahe und ‚heile‘ Dorfleben.52 Der Olivenbaum wird in Olive Trees als ein komplexes literarisches Symbol der Nostalgie konstruiert, anhand dessen sich sowohl die Position der Frau als auch die Gegenposition des Mannes entfalten lassen. Der Gegensatz zwischen den beiden Perspektiven ergibt sich aus den unterschiedlichen Vorstellungen von einem angemessenen Verhältnis zwischen gegenwärtiger (städtischer) und vergangener (idyllischer) Natur. Er manifestiert sich – und auch hierin zeigt sich die bemerkenswerte symbolische Komplexität des Gedichts – innerhalb des ,Dialogs‘ als Deutungsgegensatz im Hinblick auf den Olivenbaum. Der Mann reagiert auf die Erinnerungen seiner Frau53 mit der Formulierung eigener, widerstreitender Erinnerungen,54 in denen sich eine abweichende Deutung der Olivenbäume manifestiert: I remember her hands then, smelling of vinegar. And the bitter taste of the olives, before you knew not to eat them fresh off the tree. And I remind her how useless they were without people to cure them. Brine them, set them out in the sun— And I tell her all nature is like that to me, useless and bitter. It’s like a trap—and you fall into it because of the olive leaves, because they’re beautiful. You grow up looking at the hills, how the sun sets behind them. And the olive trees, waving and shimmering. And you realize that if you don’t get out fast you’ll die, as though this beauty were gagging you so you couldn’t breathe— (S. 54–55)

Die Sprechinstanz nimmt das zuvor nostalgisch funktionalisierte Symbol des „geschmeidigen“ Olivenbaums auf und nutzt es argumentativ, um eine anti-nostalgische Deutung nicht nur des Olivenbaums, sondern des gesamten Verhältnisses von menschlicher Kultur und idyllischer Natur zu formulieren. Die Oliven seien, wenn man sie frisch vom Baum pflücke, „bitter“ und als natürliche, d. h. unbearbeitete und unkultivierte Früchte ungenießbar und „nutzlos“. Dass die Olivenbäume hier (d. h. aus der _____________  

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Günter Butzer u. Joachim Jacob. Stuttgart, Weimar 2008, S. 257–258. Vgl. auch Vergil: Georgica, II, 420, hier zitiert nach Ders.: P. Vergili Maronis Opera. Hg. v. R. A. B. Mynors. Oxford 1969, S. 59 („Contra non ulla est oleis cultura“); die Frage, inwiefern der Olivenbaum der menschlichen Pflege bedarf, wird in Olive Trees diskutiert. Vgl. auch die Erwähnung der Olivenbäume in Glück: A Village Life, S. 7. Ebd., S. 54: „She talks about the olive trees“, „She remembers“. Ebd., S. 54–55: „I remember“, „I remind her“.

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Perspektive der Sprechinstanz) metonymisch für die Natur insgesamt stehen, wird im übernächsten Vers deutlich: Die Natur als solche erweise sich für den Menschen als „nutzlos“ und „bitter“. – Nur lasse uns die (täuschende) Schönheit der Natur (die Schönheit der Olivenbäume) diesen Sachverhalt nicht angemessen wahrnehmen. Die Sprechinstanz konzediert dem Adressaten des ‚Dialogs‘ (d. h. der eigenen Frau) jedoch, dass nicht nur die Natur, sondern auch die menschliche ‚Zivilisation‘ eine „Falle“ sei. Aber es sei doch immer noch besser in die „Falle“ der Menschen als in die der Natur zu geraten: I tell her I know we’re trapped here. But better to be trapped by decent men […] than by the sun and the hills. When I complain here, my voice is heard—somebody’s voice is heard. There’s dispute, there’s anger. But human beings are talking to each other, the way my wife and I talk. Talking even when they don’t agree, when one of them is only pretending. In the other life, your despair just turns into silence. The sun just disappears behind the western hills. When it comes back, there’s no reference at all to your suffering. So your voice dies away. You stop trying, not just with the sun, but with human beings. And the small things that made you happy can’t get through to you anymore. (S. 55)

Der Unterschied zwischen der menschlichen Kultur und der ‚natürlichen‘ Idylle, der hier den Ausschlag gibt, betrifft die Ansprechbarkeit des ‚Gegenübers‘: Menschen lassen sich adressieren. Dort, wo Menschen sind, hat man eine „Stimme“. Die Natur sei dagegen nicht adressierbar. Das „andere Leben“, das Dorfleben, sei geprägt von der Natur, die aufgrund ihrer grundsätzlichen Unansprechbarkeit und ihrer gedächtnislosen Gleichgültigkeit hinsichtlich des menschlichen Leides ihr humanes ‚Gegenüber‘ verstummen lasse.55 Die Stimme ersterbe schließlich nicht nur der gleichgültigen Natur gegenüber, sondern auch gegenüber den Mitmenschen. Das „andere Leben“ auf dem Land sei von der unansprechbaren Natur wie „geknebelt“; es sei in einen stimmlosen Fatalismus gesperrt.56 Daraus ergibt sich auch, dass das naturnahe Dorfleben nicht als eine zivilisationskritisch funktionalisierbare Instanz dienen kann. Im Gegensatz zu dem fatalistischen, weil von einer dem Menschen gegenüber gleichgültigen, _____________   55 56

Vgl. Glück: Averno, S. 69; dort wird die Natur als ein ‚Ort‘ dargestellt, der sich an den Menschen und sein Leid nicht ‚erinnert‘: „the earth/ didn’t know how to mourn“. Vgl. Glück: A Village Life für weitere Thematisierungen der dörflichen Sprachlosigkeit: Die aus der Stadt zurückgekehrten Bewohner sind ‚sprachlos‘ („they’re back,/ silent, like their fathers“, S. 4), auch das Verhältnis von Mann und Frau ist von ‚Sprachlosigkeit‘ geprägt („the silence between them is ancient“, S. 45).

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vom Menschen nicht erreichbaren Natur geprägten Landleben zeichnet sich das nicht weniger „harte“ (zivilisatorische) Stadtleben dadurch aus,57 dass sich die dort herrschenden ‚Gewalten‘ wenigstens grundsätzlich adressieren lassen, d. h. im Gegensatz zur Natur einer Ansprache überhaupt zugänglich sind. Diese naturpessimistische Einschätzung führt in Olive Trees aber nicht zu einer Revision der zuvor von der Frau konstatierten Schönheit der Natur. In einer beachtlichen ‚dialektischen‘ Wendung bestätigt die Sprechinstanz durch einen konzessiven Sprechakt, der sich an die Frau richtet, vielmehr deren ‚ästhetische‘ Position;58 die Olivenbäume (und die hügelige Heimatlandschaft) seien ‚tatsächlich‘ schön:59 „—it is true, the hills are beautiful./ And the olive trees really are like silver“ (S. 56). Die idyllische Schönheit der unansprechbaren, dem Menschen gegenüber unempfindlichen Natur bleibt unangetastet; nur scheint in dieser Idylle samt ihrer Schönheit kein Ort für den Menschen vorgesehen zu sein. Die Schönheit der Natur, so das implizite Argument, verführt eine nostalgische, idyllenbedürftige Sensibilität dazu zu glauben, der Mensch könne einen eigenen Ort in dieser naturhaften Schönheit finden, sich also in einer schönen und harmonischen Natur irgendwie (wieder) einrichten. Die Schönheit der Natur ‚verspricht‘ einem wehmütigen Subjekt, das die Natur mit einer nostalgisch eingefassten Sensibilität wahrnimmt, etwas, das sie nicht einzulösen vermag.60 Die poetische Kritik der idyllisierten Heimatlandschaft erweist sich aus dieser Perspektive als eine Kritik an der Neigung, sich von der „Schönheit“ der Natur eine „Falle“ stellen,61 sich von ihr „belügen“ zu lassen.62 Wie bereits in The Seven Ages – einem der A Village Life unmittelbar vorangehenden Gedichtbände Glücks – _____________   57 58

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Glück: A Village Life, S. 4: „no signal from earth/ will ever reach the sun“. Spiegelman, Willard: „Poetry in Review“. In: The Yale Review 98 (2010), S. 171–191, S. 182, weist bereits darauf hin, dass in Olive Trees sowohl die Position der Frau als auch die des Mannes gestützt werden (allerdings handelt es sich meines Erachtens letztlich nicht um ein argumentatives Gleichgewicht). Diese Stelle ist auch insofern zentral, als sie zeigt, dass die Frau trotz ihrer nostalgischen Sensibilität ‚zuverlässig‘ spricht; vgl. dagegen das Gedicht „Untrustworthy speaker“ in Glück, Louise: Ararat. New York 1999, S. 34–35. Wer das Dorf gar nicht erst verlasse, stehe laut Pastoral am wenigsten in Gefahr, sich im nostalgischen Modus der sehnsuchtsvollen Retrospektion etwas von der Rückkehr in die heimatliche Landschaft zu versprechen und derart von den eigenen Imaginationen „beschädigt“ zu werden; Glück: A Village Life, S. 5. Glück: A Village Life, S. 55: „It’s like a trap—and you fall into it because […] they’re beautiful“. Ebd., S. 58: „the sun telling the same lies about how beautiful the world is“. ‒ Das Meer lügt (im Gegensatz zur Sonne) nicht: „The sea […]/ […] doesn’t lie./ You ask the sea, what can you promise me/ and it speaks the truth; it says erasure“; ebd., S. 37; vgl. ebd. auf S. 36–38 auch die vielschichtige Entgegensetzung von Land und Meer.

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deutlich wurde, lässt die „Verführungskraft“63 des naturhaften Schönen das wehmütige Subjekt seine fundamentale „Vernachlässigung“ durch die Natur vergessen: Das „Versprechen“ der naturhaften Schönheit erweist sich deshalb als ‚lügenhaft‘, weil die Natur sich gerade nicht des Menschen annimmt („it will not minister“), der Mensch der Natur vielmehr gleichgültig („indifferent“) ist.64

VI. Ästhetik der Idylle Die spezifische Divergenz von retrospektiver idyllischer Sehnsucht einerseits und ‚realistischer‘ anti-idyllischer Kritik andererseits lässt sich nur angemessen rekonstruieren, wenn man die abweichenden Begriffe der Natur, vor allem der schönen Natur in den Blick bekommt, die beiden ‚dialektisch‘ aufeinander bezogenen Positionen zugrunde liegen. Die Sprechinstanz von Sunrise beschließt den (bereits erwähnten, von Enttäuschung getragenen) Bericht der persönlichen Rückkehr in die dörfliche Landschaft mit der fast sentenzartigen Einsicht, dass es letztlich überall dort, wo Menschen lebten, gleich sei. Die nostalgische Erwartung, auf dem Land etwas ganz anderes als in der Stadt vorzufinden, sei grundsätzlich verfehlt: Das Landleben könne gar keine Idylle sein, weil dort Menschen lebten. Die idyllenaffine (aber auch für die Landleben-Dichtung charakteristische) Differenz von Land und Stadt wird damit (wieder) aufgehoben: „all you need to know of a place is, do people live there./ If they do, you know everything“ (S. 58). Das bewohnte Land ist, weil auch dort Menschen leben, nicht idyllentauglich. Eine Idylle kann, wenn man diesen Gedanken weiterverfolgt, nur der menschenleere Naturraum sein – d. h. genau der Raum, der sich von dem ‚bewohnten Raum‘, innerhalb dessen die Differenz ‚Land/Stadt‘ überhaupt erst maßgeblich ist, nochmals als gänzlich ‚unbewohnter Raum‘ unterscheiden lässt. Das ‚Andere‘, worauf sich die Sehnsucht eigentlich richten müsse, finde sich nicht auf dem bewohnten Land, sondern nur dort, wo man eine ‚reine‘, unbevölkerte Natur vorfinde. Diese unbewohnte Idylle (aus der Perspektive der Gattungstradition eine contradictio in adiecto) wird in A Village Life immer wieder beschrieben. So imaginiert die Stimme von Sunrise in den letzten Versen des Gedichts _____________   63 64

Glück, Louise: The Seven Ages. Manchester 2001, S. 6: „Earth will seduce you, slowly, imperceptibly,/ subtly, not to say with connivance“. Ebd., S. 7: „You will want the earth, then more of the earth —// Sublime, indifferent, it is present, it will not respond,/ […] it will not minister.// Meaning, it will feed you, it will ravish you,/ it will not keep you alive.“

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eine ferne Zukunft, in der die von den Dorfbewohnern bevölkerte Landschaft unbewohnt sein wird: Der Himmel und die Hügel, die den gesamten „Raum“ unter sich aufteilen, haben dem Menschen (wenn man die im Gedicht evozierte naturhistorische Zeitskala anlegt)65 allenfalls für eine kurze Zwischenzeit zwischen ‚Oben‘ und ‚Unten‘ einen schmalen Zwischenraum überlassen. Sunrise schließt mit einer idyllischen Szenerie, die von der ursprünglichen und nun wiederhergestellten Abwesenheit des Menschen geprägt ist. Diese Abwesenheit ist auch eine des poetischen Blicks; der sich im Fluss reflektierende Himmel verweist auf eine sich in ihrer Schönheit selbst beobachtende, nicht einmal mehr auf das ‚reflektierende‘ Bewusstsein des Menschen angewiesene Natur: Between them, the hills and sky took up all the room. Whatever was left, that was ours for a while. But sooner or later the hills will take it back, give it to the animals. And maybe the moon will send the seas there and where we once lived will be a stream or river coiling around the base of the hills, paying the sky the compliment of reflection— Blue in summer. White when the snow falls. (S. 58)

Die beschriebene Natur ist, so lässt sich Sunrise verstehen, ‚tatsächlich‘ eine Idylle, nur eben keine ‚für den Menschen‘. Ihre Selbstgenügsamkeit und Gleichgültigkeit gegen den Menschen, die sie als Instanz einer Zivilisationskritik untauglich machen (da sich der Mensch in die Natur auch nicht harmonischer als in die Zivilisation ‚einfügt‘), desavouieren die Idylle in A Village Life interessanterweise nur ‚in ihrer Relation zum Menschen‘ – d. h. als bewohnte idyllische Landschaft. Eine idyllische Natur, eine ‚reine‘, nicht (mehr) anthropozentrisch verstandene Natur erweist sich als eine menschenfremde Idylle. Die Natur ist, wie sich schon den A Village Life vorangehenden Gedichtbänden Glücks entnehmen lässt, weder auf den Menschen angewiesen noch für ihn ‚gemacht‘.66 Gleichwohl vermag sie ihm als das radikal Nicht-Menschliche „Trost“67 und „lindernde Ruhe“68 zu spenden auf_____________   65 66

67 68

Vgl. auch Glück: A Village Life, S. 46. In Averno heißt es: „Nature, it turns out, isn’t like us […]“, Glück: Averno, S. 68. In The Seven Ages wird eine klare Entgegensetzung von Mensch („human life“) und Natur („nature“) formuliert, wenn es im Hinblick auf das „drama of human life“ heißt: „for that, you don’t go to nature“, Glück: The Seven Ages, S. 66; die verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens gehören nicht in die Natur: „don’t belong/ to the […] panorama of hills and stars“, ebd., S. 66. Glück: The Seven Ages, S. 66: „solace of the natural world“. Ebd.: „soothing“.

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grund ihrer „gütigen“ (oder doch wenigstens gütig erscheinenden) „Gleichgültigkeit“.69 Überzeugend dargestellt wird dies in Pastoral: At dusk, you sit by the window. Wherever you live, you can see the fields, the river, realities on which you cannot impose yourself— To me, it’s safe. The sun rises; the mist dissipates to reveal the immense mountain. You can see the peak, how white it is, even in summer. And the sky’s so blue, punctuated with small pines like spears— When you got tired of walking you lay down in the grass. When you got up again, you could see for a moment where you’d been, the grass was slick there, flattened out into the shape of a body. When you looked back later, it was as though you’d never been there at all. Midafternoon, midsummer. The fields go on forever, peaceful, beautiful. Like butterflies with their black markings, the poppies open. (S. 5)

Die Felder und Flüsse, der gewaltige Berg mit seiner weißen Schneespitze, der blaue Himmel, die Kiefernbäume und Mohnblumen seien Realitäten, denen sich der Mensch nicht „aufdrängen“ könne. Die Unversehrtheit der Idylle, die „Schönheit“ und „Friedlichkeit“ der endlosen und ewigen Felder sei dem Sachverhalt geschuldet, dass der Mensch es nicht vermöge, sich ihnen „aufzuzwingen“. Die Idylle ist deshalb friedvoll, weil es dem Menschen nicht gelinge, in ihr Spuren zu hinterlassen. 70 Gerade dort, wo Glück in A Village Life die naturhafte Schönheit am überzeugendsten poetisch reflektiert, wird deutlich, dass die Natur für den Menschen keinen Platz vorsieht,71 dass der Mensch in die Natur nicht wirklich ‚gehört‘ – wie Glück unter anderem auch in ihrer Auseinandersetzung mit der Lyrik von Robinson Jeffers feststellt.72 Man könnte hier von _____________   69 70

71 72

Ebd.: „indifference that appeared benign“. Es handelt sich um eine friedvolle Spurenlosigkeit, die eine Affinität von naturhafter Idylle und menschlichem Tod herstellt und damit die humane Beobachtung der menschenfremden Idylle zu einer Einübung in die eigene Sterblichkeit werden lässt; vgl. Glück: A Village Life, S. 69. Ebd., S. 58: „the hills and sky took up all the room“. Vgl. Glück, Louise: „Obstinate Humanity“. In: Dies.: Proofs & Theories. Essays on Poetry. New York 1994, S. 65–71, Zitat S. 67: „Into these worlds, human beings, men and women,

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einer transhumanen oder, die etwas missverständliche Begriffsprägung Jeffers’ aufgreifend, von einer ,inhumanen‘ Idylle sprechen, die durch eine Abwesenheit des Menschen charakterisiert ist. 73 Glück entwirft, so ließe sich das Argument zusammenfassen, in A Village Life eine Idylle der Menschenferne, stärker noch: eine Idylle der naturhaften Menschenfremdheit.74 Diese Naturidylle der Menschenfremdheit lässt sich kaum mit Naturvorstellungen vereinbaren, die eine menschlich bewohnte Landschaft als Nostalgieressource ausweisen. Gegen eine idyllische Landschaft, die der Gegenstand einer wehmütigen Sehnsucht ist und die der Erfüllung eines Rückkehrwunsches dient (sei es zu einem harmonischen Miteinander naturnah lebender Menschen oder zu einem ursprungsnäheren und deshalb friedlicheren individuellen Lebenswandel), wendet sich die bereits geschilderte anti-idyllische Kritik. Nichts wäre aber so verfehlt wie der Versuch, aus dieser (wenn man so will: anti-anthropozentrischen) Geste den Schluss ziehen zu wollen, Glück wolle mit A Village Life einen „postpastoral“,75 d. h. eine „Post-Idylle“ schreiben, die sich um eine „biozentrische“ Perspektive auf die Natur bemühe.76 Die Tatsache, dass Mensch und ‚reine‘ Natur für Glück inkommensurabel sind,77 verhindert auch, _____________  

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76 77

come as intrusions.“ Eine weitere relevante Bezugsgröße, die Glück in diesem Rahmen nennt, ist Robert Hass, dessen bukolische Dichtung bisher noch keine angemessene literaturwissenschaftliche Würdigung erfahren hat, vgl. unter anderem die „Berkeley Eclogue“ in Hass, Robert: Human Wishes. New York 1989, S. 60–66. Glück: „Obstinate Humanity“, S. 67: „absence of the human“. Die Tiere werden in A Village Life als Teil der ‚reinen‘ Natur beschrieben: „But sooner or later the hills will take it back, give it to the animals“, Glück: A Village Life, S. 58. Vgl. dazu vor allem die Gedichte über Regenwürmer und Fledermäuse ebd., S. 11, 20, 31, 37. Vgl. zur ‚Unzugehörigkeit‘ des Menschen zur Natur bei Glück auch Bonnie Costellos treffenden Hinweis zu „man’s ambivalent attachment to the earth“ in Glücks Gedichtband Averno, Costello: „Fresh Woods“, S. 339. Vgl. zum Begriff der „Post-Idylle“ („post-pastoral“) Gifford: Pastoral, S. 146–174 (dort dann auch Hinweise zu den sechs „Elementen“ der „Post-Idylle“); Gifford versteht das „post-pastoral“ vor allem als ‚ökologische Dichtung‘. Interessanterweise wird das Verhältnis von Mensch und Natur von Glück weder in A Village Life noch in den vorangehenden Gedichtbänden so gefasst, dass die Natur von zivilisatorischer Zerstörung bedroht wird (bzw. bedroht sein könnte) oder dass der Natur im Vergleich zur menschlichen Zivilisation eine eigene moralische Dignität zukäme, die sich der zivilisatorischen entgegensetzen ließe. Auch steht ein harmonischer Lebenszusammenhang von Mensch und Natur in A Village Life außer Frage: Der Mensch kann sich der Natur nicht harmonisch ‚einfügen‘; er kann sich ihr nur ‚fügen‘. Gifford: Pastoral, S. 165: „biocentric point of view“. In der Darstellung dieses Bruchs vermutet Paul de Man (im Rahmen seiner Interpretation von William Empsons Some Versions of Pastoral) auch das Movens der Idylle; vgl. De Man, Paul: „The Dead-End of Formalist Criticism“. In: Ders.: Blindness and Insight. Essay in the Rhetoric of Contemporary Criticism. Minneapolis ²1983, S. 229–245, hier S. 238–241.

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dass es dem Menschen möglich wäre, in irgendeiner sinnvollen Weise den Standpunkt der Natur einzunehmen.78 Die von einer Abwesenheit alles Menschlichen geprägte schöne Natur in A Village Life erlaubt es dem Menschen gerade nicht, sich die Welt ausgehend von einem vermeintlichen Blickwinkel der Natur zugänglich zu machen. Bei diesem Versuch handelte es sich nämlich um einen imaginativen Perspektivenwechsel, der selbst wiederum von der (idyllenaffinen) Vorstellung zehren würde, man könne wenigstens imaginativ zu einem vorkulturellen Zustand zurückkehren und es ließe sich möglicherweise doch eine außerzivilisatorische poetische Position wiedergewinnen.79 Aus der Vielfalt der (männlichen und weiblichen) Stimmen, die in A Village Life unterschiedliche idyllische und anti-idyllische Perspektiven auf das Landleben und die ‚reine‘ Natur entwerfen (eine bemerkenswerte Stimmenvielfalt, die sich in den vorangehenden Gedichtbänden Glücks nur selten finden lässt), kristallisiert sich vielmehr eine Idyllenkonzeption heraus, die aus der gelungenen ästhetischen Konfrontation mit der menschenfremden Natur einen Zustand subjektiver Ruhe erwachsen lässt, der durchaus (im affirmativen und emphatischen Sinne) als ‚idyllisch‘ bezeichnet zu werden verdient. Die oben ausführlicher kommentierte, aus Pastoral angeführte Stelle setzt ein mit: „At dusk, you sit by the window“ (S. 5). Nicht nur in Pastoral, auch in Twilight, dem Eingangsgedicht von A Village Life, ist die Naturidylle eine ‚gerahmte‘ Darstellung: „he always sits at this one window“ (S. 3). Durch das Fenster hindurch wird die abendliche Betrachtung der idyllischen Natur zur Kontemplation eines ‚Natur-Bildes‘: „In the window […] a squared-off landscape/ representing the world“ (S. 3). Der nach allen Seiten offene und ungeschützte Natur-Raum wird durch die Rahmungsleistung einer ästhetischen Betrachtungsweise zu einem idyllischen tableau. Das Fenster, das hier eine ästhetisierende Funktion erfüllt,80 forciert ein ‚Aussetzen‘ der von verschiedensten Bedürfnissen geprägten _____________   78 79

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Vgl. vor allem in Gifford: Pastoral, S. 156–163 die Hinweise auf das dritte und das vierte „Element“ der „Post-Idylle“, die beide eine Kommensurabilität von Mensch und Natur voraussetzen. Ebenso wenig plausibel erschiene mir, das Verhältnis von Mensch und Natur in A Village Life mit dem Begriff des „idyllischen Erhabenen“ zu charakterisieren, weil die Dialektik von (körperlicher) Unterlegenheit und (geistiger) Überlegenheit, die für den Begriff des Erhabenen maßgeblich ist, in A Village Life keine wichtige Rolle spielt. Diehl, Joanne Feit: „Introduction“. In: Dies. (Hg.): On Louise Glück, S. 6, spricht im Hinblick auf den Gedichtband Wild Iris (Manchester 1992) von einem „idyllischen Erhabenen“ („pastoral sublime“). Vgl. auch Glück: A Village Life, S. 70–71.

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alltäglichen Lebensvollzüge.81 Die ästhetische Rahmung erlaubt, die Naturidylle in ihrer menschenfremden Schönheit zu würdigen; sie erlaubt, die naturhafte Schönheit interesselos wahrzunehmen, d. h. nichts mehr von ihr zu erwarten, sich nichts mehr von ihr versprechen zu lassen. Die menschenfremde Natur-Schönheit ist Gegenstand einer ‚reinen‘ ästhetischen Kontemplation, die im Gegensatz zur Haltung eines nostalgischen Subjekts eines Naturversprechens nicht mehr bedarf. Die Kontemplation der menschenfremden Natur-Schönheit ermöglicht vielmehr die Freisetzung eines ästhetischen Subjekts, das nun im Modus interesseloser Naturbeobachtung innere Ruhe zu finden vermag: I sit at the bedroom window, watching the snow fall. The earth is like a mirror: calm meeting calm, detachment meeting detachment. (S. 42)

Die nicht-menschliche Natur ist dem Betrachter „wie ein Spiegel“: nicht, weil sich der Mensch in ihr wiedererkennen könnte; nicht, weil der Mensch in der Natur ein vergangenes Selbst wiedererkennen würde (und die Natur einen Platz für seine Rückkehr freihielte); auch nicht, weil der Mensch in der Natur sein zukünftiges Selbst vorgeprägt fände (ein ideales Selbst vielleicht sogar, dem eine Versöhnung von Natur und Kultur gelingen könnte). Die nicht-menschliche Natur ist dem Betrachter „wie ein Spiegel“, weil in dieser Konfrontation naturhafte Gleichgültigkeit und (menschliche) ästhetische Interesselosigkeit aufeinander treffen („detachment meeting detachment“). Die ‚gelungene‘ Konfrontation von Mensch und Natur ist hier mit einer ästhetischen Distanzierungsbewegung verbunden, die mit der Möglichkeit einer umfassenden Selbstdistanzierung und, wenn man so möchte, Selbstfreistellung des Betrachters einherzugehen scheint. Der (emphatische) idyllische Moment, die idyllische Ruhe („calm meeting calm“), so lässt sich die in A Village Life entworfene Idyllenauffassung verstehen, ereignet sich allein im Rahmen einer ästhetisch formatierten Betrachtung des menschenfremden Natur-Schönen. Das Idyllische erweist sich bei Glück als ein zwischen Mensch und menschenfremder Natur aufgespanntes Intervall. Unter der Voraussetzung einer ästhetisch disponierten Wahrnehmungshaltung bietet dieses _____________   81

Daneben wären auch temporale Formen des ästhetischen ‚Aussetzens‘ zu analysieren. Das Äquivalent der (räumlichen) Aussetzung durch Rahmung ist die (zeitliche) Aussetzung durch ein ‚freigestelltes‘ Intervall. Dort, wo sich das (emphatische) Idyllische einstellt, inszeniert Glück immer wieder Ruhepausen: die Mittagspause während der Landarbeit, Glück: A Village Life, S. 67; die nachmittägliche Pause am Dorfbrunnen, ebd., S. 6; die abendliche Ruhe nach dem Arbeitstag, ebd., S. 3; der sonntägliche Spaziergang, ebd., S. 69. Die Idylle ließe sich hier möglicherweise als ästhetisches Korrelat eines ‚freigestellten‘ Ruhe-Intervalls beschreiben.

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Intervall dem Betrachter die Möglichkeit einer poetischen Selbstreflexion im ‚Spiegel‘ einer menschenfremden Natur-Schönheit – und damit eine (wenn auch immer nur intermittierende) Aussicht auf den ‚naturanalogen‘ idyllischen Status menschlicher Unbedürftigkeit. Das Reservat der Idylle ist die menschenleere Natur: Die Ruhe des Idyllischen findet der Mensch nunmehr allein in den affektiven Rückzugsräumen seines ästhetischen Vermögens.

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Personenregister Aberli, Johann Ludwig 134ff., 140, 145 Abschatz, Hans Aßmann von [eigentl. Abschatz, Johann Erasmus von] 87f. Ackermann, Statius 80, 87 Adelung, Johann Christoph 247 Adorno, Theodor W. 300, 305f., 312 Aemilius Lepidus, Marcus 39 Agazzi, Elena 12 Albert Anton von SchwartzburgRudolstadt 90 Alberti, Leon Battista 112 Alfonso II. d’Este 82 Anton Ulrich von BraunschweigWolfenbüttel 97 Appolonios Rhodios [auch Appolonios von Rhodos] 22 Apuleius 159 Ariosto, Ludovico [dt. Ariost] 160, 162 Aristoteles 188, 194, 211, 227 Augspurger, August 90, 93 August II. von BraunschweigWolfenbüttel 97 Augustus, römischer Kaiser [geb. als Gaius Octavius] Siehe Octavian Bachmann, Ingeborg 287, 296 Bachofen, Matthäus [auch Bachofen, Matthias] 137 Bätschmann, Oskar 111 Baudelaire, Charles 127 Baumgarten, Alexander Gottlieb 122 Bellori, Giovanni Pietro 109f., 112 Benedictus Aretius [auch Benedictus Marti] 140 Benjamin, Walter 127, 305, 307, 312f., 318 Bering, Vitus 308 Berlepsch, Eberhard von 85 Berns, Jörg Jochen 99 Beroldingen, Joseph Anton Siegmund von 144 Bioardo, Matteo Maria 50 Birken, Sigmund von [auch Birken, Sigismund von] 7, 56, 59, 62, 95 Birkner, Nina 10 Birmann, Peter 136f. Birmann, Samuel 148f.

Bloch, Ernst 5, 318 Boccaccio, Giovanni 55 Bodin, Jean 51 Bodmer, Johann Jacob 149, 217 Boerlin-Brodbeck, Yvonne 8 Böhme, Jakob 51 Boileau, Nicolas 189 Boll, Ernst 231 Böschenstein, Renate [auch BöschensteinSchäfer, Renate] 5, 16, 19f., 36, 69, 134, 142, 175, 183, 192, 226, 232, 261, 310 Bourdieu, Pierre 200, 202 Brandt, Reinhard 107f., 108 Brecht, Bertolt 287 Breitinger, Johann Jacob 149 Brockes, Barthold Heinrich [auch Brokkes, Barthold Hinrich] 124 Brückner, Ernst Theodor Johann 217, 228 Buchner, August 98 Bunners, Christian 233 Caemmerer, Christiane 7 Caesar [eigentl. Gaius Iulius Caesar] 39, 44 Canetti, Elias 287 Carracci, Annibale 110 Castiglione, Baldassare 81, 83 Cats, Jacob 90 Caviceo, Jacopo [auch Caviceo, Giacopo] 159 Cervantes, Miguel de 51, 156 Chamisso, Adelbert von 309 Chantelou, Paul Fréart de 113 Chaucer, Geoffrey 50 Chénier, Marie-Joseph Blaise de 10, 188f., 192, 194, 195ff., 202 Christiansen, Heinz C. 232 Cicero [eigentl. Marcus Tullius Cicero] 95 Claudia Felicitas von Österreich-Tirol 94 Colbert, Jean-Baptiste [eigentl. Jean Baptiste Colbert, Marquis de Seignelay] 117 Coleridge, Samuel Taylor 10, 207, 213, 215ff. Contarini, Francesco 85 Corneille, Thomas 91, 93

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Personenregister

Costazza, Alessandro 10 Crabbe, George 223f. Dach, Simon 94 Dante Alighieri 50, 55 Delisle, Joseph-Nicolas 308 Derrida, Jacques 113, 115f. Diderot, Denis 145, 153, 162 Döblin, Alfred 305f. Donatus, Aelius 39 Droste-Hülshoff, Annette von 199 Dubos, Jean-Baptiste 207, 209 Dughet, Gaspard 133 Elisabeth Charlotte von der Pfalz 79, 87 Elisabeth von Hessen-Kassel 84 Epikur [eigentl. Epikouros] 175 Ewen, Jens 11 Fantuzzi, Marco 18 Félibien, André [eigentl. André Félibien, Sieur des Avaux et de Javerey] 109f., 117 Fichte, Johann Gottlieb 274 Fischart, Johann Baptist 51 Fleißer, Marieluise 287 Fleming, Paul 87, 270 Flintoff, Everard 34, 36 Fontenelle, Bernard le Bouvier de 189f. Franz II./I., römisch-deutscher und österreichischer Kaiser 137 Franziskus von Assisi 110, 308 Freud, Sigmund 305 Freudenberg, Wilhelm 155 Friedrich, Caspar David 146, 148 Frühsorge, Gotthardt 142 Gallus, Gaius Cornelius 35, 45f. Garber, Klaus 7, 79 Gauguin, Paul 118 Gay, John 217 Georg II. von Hessen-Darmstadt 94 George, Stefan 127 Gessner, Conrad 140 Geßner, Salomon [auch Gessner, Salomon] 3f., 7f., 10, 68–71, 120-128, 131–139, 142, 144, 149, 153ff., 169f., 174, 190ff., 195–198, 202., 207., 209f., 212ff., 220, 224, 261, 325 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 131, 190 Glück, Louise 12, 323f., 326, 331, 335, 339, 342–345. Goebel, Eckart 266f., 269 Goethe, Johann Wolfgang von 5, 9, 68, 71, 84, 118, 171, 197, 210ff., 219, 238, 263, 287, 310

Goldsmith, Oliver 10, 172, 207, 213, 217, 219 Gottsched, Johann Christoph 171, 190, 209, 223f. Gracián, Baltasar 51 Grimm, Jacob 199–201, 247 Grimm, Wilhelm 198–201, 247 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 51 Grosz, George 1f., 33 Gryphius, Andreas 91ff. Guarini, Giovanni Battista 80ff., 87f., 93, 98 Gurski, Gustav 155 Haberland, Georg 232 Hackert, Jakob Philipp 131 Hagedorn, Christian Ludwig von 133 Hagel, Ulrike 248f. Haller, Albrecht von 9, 142, 145 Hallmann, Johann Christian 93, 94, 98 Handmann, Emanuel 145 Harsdörffer, Georg Philipp 58, 59, 96f. Haym, Rodolf 220 Hebbel, Friedrich 323, 382 Hebel, Johann Peter 310f., 313, 318 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 176, 180–185, 197, 273 Heidenreich, Daniel Elias 90 Heine, Heinrich 287 Heliodoros [dt. Heliodor] 159 Herbeck, Ernst 311 Herder, Johann Gottfried 1, 3, 10, 176, 207, 209, 212–215, 217–220, 263 Herodas 17 Hesiod [griech. Hēsíodos] 18 Hess, David 137 Hesse, Hermann 3, 11 Hildebrandt, Andreas 84 Hobbes, Thomas 117 Hoche, Louis-Lazare 215 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 87f. Holzberg, Niklas 6 Homburg, Ernst Christian 89ff., 93 Homer 17, 23, 71, 170f., 174, 214, 310 Honneth, Axel 229 Horaz [eigentl. Quintus Horatius Flaccus] 43, 160, 170, 174, 310 Horkheimer, Max 305f. Höschele, Regina 47 Huber, Johann Rudolf 145 Humboldt, Wilhelm von 3, 210 Hunter, Richard 18, 31

Personenregister Hutchinson, Ben 307, 313, 316 Il Guercino [eigentl. Barbieri, Giovanni Francesco] 105, 107, 109ff. Jandl, Ernst 3 Jean Paul [eigentl. Richter, Johann Paul Friedrich] 3, 5, 11, 118, 158, 162, 172, 242–248, 251, 253ff., 316f. Jeffers, Robinson 342f. Jelinek, Elfriede 11f., 281–288, 294–301 Jenkyns, Richard 46 Johann Friedrich von Württemberg 84 Johann Georg I. von Sachsen 94 Jones, Frederick 36f. Kafka, Franz 287 Kaiser, Gerhard 213, 238 Kallimachos von Kyrene 37 Kant, Immanuel 2, 10, 126, 176f., 179, 181f., 182, 185, 194, 207, 210–213, 216, 219f., 246 Kauw, Albrecht 141f. Keller, Gottfried 3, 139, 144, 147, 311, 319f. Kleist, Heinrich von 3, 287 Kleopatra VII., ägyptische Königin 43 Klopstock, Friedrich Gottlieb 174, 217, 287 Kluger, Alexander 11 Kolbe, Carl Wilhelm 139 Kraus, Karl 287 Krul, Jan Harmensz. [auch Krul, Jan Harmens] 89 La Bruyère, Jean de 188, 191 La Mothe le Vayer, François de 118 Laak, Lothar von 8 Le Brun, Charles 117 Leclerc, Georges-Louis, Comte de Buffon 138 Lenz, Jakob Michael Reinhold 176 Leopardi, Giacomo 3 Leopold I., römisch-deutscher Kaiser 94 Leskow, Nikolai Semjonowitsch [auch Lesskow] 312 Lessing, Gotthold Ephraim 120, 124, 126, 160, 218, 251 Lévi-Strauss, Claude 305 Lorrain, Claude 133, 267 Lory, Gabriel [genannt Lory père] 142f. Lotman, Juri Michailowitsch 264 Loutherbourg, Philippe Jacques de 145 Ludwig XIII., französischer König 89 Luise von Anhalt-Dessau 93f. Luise zu Pfalz 79 Mairet, Jean 89

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Maisak, Petra 110 Manger, Klaus 9 Mann, Heinrich 276 Mann, Michael 270 Mann, Thomas 3, 11, 258–280 Mannlich, Eilger 85, 87 Manzoni, Alessandro 3 Marie Antoinette, Königin von Frankreich 220 Marin, Louis 111, 112, 115 Mark Anton [eigentl. Marcus Antonius] 6, 34, 39, 42f. Mendelssohn, Moses 263 Merian, Matthäus (der Ältere) 144 Meyer, Felix 145 Michelangelo Buonarotti 50 Milton, John 174, 216f. Mix, York-Gothart 10 Monet, Claude 118 Montaigne, Michel de 51 Montchrestien, Antoine de 90, 93 Montesquieu [eigentl. Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu] 195 Mörike, Eduard 3, 10, 188, 196ff., 200, 202, 311, 318 Moritz von Hessen-Kassel [gen. der Gelehrte] 84 Moritz, Karl Philipp 10, 169f., 172, 174181, 184f., 185, 207, 212, 217 Müller, Friedrich [gen. Maler Müller] 190, 197 Musil, Robert 3 Napoleon Bonaparte 143, 216, 314, 316 Naudé, Gabriel 118 Negri, Niccolo 96 Nestroy, Johann Nepomuk 287 Nicolai, Friedrich 211 Nietzsche, Friedrich 3, 181, 272f. Oktavian 6, 34–44 Opitz, Martin 55, 84f., 94, 98, 270 Ovid [eigentl. Publius Ovidius Naso] 42 Panofsky, Erwin 110f. Payne, Mark 31 Petrarca, Francesco 55 Pfister, Elisabeth 295 Pfotenhauer, Helmut 254f. Philipp II. von Pommern 84 Piscator, Erwin 1 Pitt, William 216 Platon 211 Plinius [eigentl. Gaius Plinius Caecilius Secundus] 15

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Personenregister

Pope, Alexander 190, 217 Poussin, Nicolas 8, 106–118, 133 Preisendanz, Wolfgang 264 Raabe, Wilhelm 3, 227 Rabelais, François 51 Rantzau auf Ascheberg, Hans zu 228f. Rau, Peter 172, 181 Reemtsma, Jan Philipp 156 Reinhardt, Thomas 18, 20, 25 Reitz, Tilman 7f. Reuter, Fritz 10, 231–239, 327 Rhellicanus, Johannes 140 Richelieu, Armand Jean du Plessis Duc de 89 Ripa, Cesare 112 Robertson, William 195 Robespierre, Maximilien de 220 Rousseau, Jean-Jacques 133, 174ff., 179, 202, 210, 218, 228, 309, 311–314 Sade, Donatien Alphonse François, Marquis de 282f. Saine, Thomas P. 178f., 181 Sallust [eigentl. Gaius Sallustius Crispus] 95 Sannazaro, Jacopo 34ff., 38, 50, 81, 83, 85, 110f. Scaliger, Julius Caesar 80 Scher, Hermann Heinrich, gen. von Jever 88ff. Schiller, Friedrich 3, 8, 10, 105, 116, 143, 176, 207, 210ff., 219f., 238f., 246, 263, 267f., 274, 287, 315, 325 Schlegel, Johann Adolf 3, 207f., 211ff., 224 Schmidt, Arno 155 Schmidt, Ernst A. 35f. Schmidt-Dengler, Wendelin 286 Schmidtke, Sören 163 Schneider, Helmut 8, 199, 261, 262 Schneider, Michael 86, 90 Schopenhauer, Arthur 249, 272f. Schröter, Werner 296 Schütz, Christian Georg 145 Schütz, Heinrich 94 Schwabe, Johann Joachim 208f. Sebald, Winfried Georg 12, 305–312, 314–320 Sengle, Friedrich 155 Shakespeare, William 51, 153, 159, 215 Shelley, Percy Bysshe 216 Sidney, Philip 58, 86 Sigismund III. Wasa, polnischer König und Großfürst von Litauen 95

Simler, Josias 140 Smith, Adam 195 Snell, Bruno 33ff., 46 Sophie Eleonore von Sachsen 94 Sophokles 184 Spenser, Edmund 51 Spoerhase, Carlos 12 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de [gen. Madame de Staël] 143 Stanzel, Karl-Heinz 6 Starobinski, Jean 312, 314 Steller, Wilhelm 308f. Stieler, Kaspar 90, 93 Stifter, Adalbert 11, 136, 227, 242, 281304, 311 Stolberg-Stolberg, Christian zu 71 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold zu 71 Storm, Theodor 3 Sueton [eigentl. Gaius Suetonius Tranquillus] 39 Svandrlik, Rita 11 Swanevelt, Hermann van 131 Tasso, Torquato 81, 82ff., 88, 93, 98, 154 Tetens, Johann Nikolaus 124 Theokrit [eigentl. Theokritos] 3f., 6f., 9, 14–32, 54, 68f., 80f., 106ff., 111, 113, 124f., 131, 136, 155, 189, 191, 206, 209, 219, 225, 325 Tismar, Jens 242f., 284 Trapp, Joseph 209 Tripp, Jan Peter 311, 318, 320 Turgot, Anne Robert Jacques 195 Urfé, Honoré d’ 91 Vergil [eigentl. Publius Vergilius Maro] 1, 4ff., 12, 19, 33–48, 52ff., 60, 68f., 73ff., 78, 81, 105ff., 111, 113, 141, 170, 189, 191f., 196, 200, 207, 214f., 220, 225, 310, 325, 337 Vernet, Claude Joseph 145 Vigée-Lebrun, Marie Louise Élisabeth 142, 144 Virgilio, Giovanni di 55, 68 Vischer, Rüdiger 20 Vischer-Sarasin, Peter 137 Vollhardt, Friedrich 120 Voss, Ernst Theodor 69, 71, 73, 121, 124f., 127, 131, 135, 170, 190, 229 Voß, Johann Heinrich [auch Voss, Johann Heinrich] 5, 7, 9f., 68, 71ff., 191f., 195, 197f., 207, 211f., 223–241 Voßkamp, Wilhelm 35, 78, 92, 100ff., 261 Wagner, Abraham 145

Personenregister Wagner, Richard 275 Waldkirch, Bernhard von 130, 132f., 137ff., 144 Walser, Robert 3, 287, 311, 317f. Walther von der Vogelweide 50 Waterloo, Anthonie 131 Wedewer, Rolf 5, 130 Weinrich, Harald 300 Wieland, Charlotte Wilhelmine 153 Wieland, Christoph Martin 9, 153–168, 210 Winckelmann, Johann Joachim 123, 210

 

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Winkler, Markus 10 Winther, Georg Valentin von [auch Winther, Jurga Valentin] 84 Wladislaw IV. Wasa, polnischer König und Großfürst von Litauen 94f. Wocher, Marquard 147-151 Wolf, Caspar 145f. Wolff, Christian 212 Wyttenbach, Jakob Samuel 145 Zesen, Philipp von 86 Žmegač, Viktor 300